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German Pages 250 Year 2010
Vollkommenheit
Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 13
De Gruyter
Vollkommenheit Ästhetische Perfektion in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit
Herausgegeben von
Verena Olejniczak Lobsien, Claudia Olk, Katharina Münchberg
De Gruyter
Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 "Transformationen der Antike" hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Vollkommenheit : ästhetische Perfektion in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit / herausgegeben von Verena Olejniczak Lobsien, Claudia Olk, Katharina Münchberg. p. cm. -- (Transformationen der Antike, ISSN 18645208 ; Bd. 13) Chiefly in German with one contribution in English. Papers presented at a conference held at the HumboldtUniversität zu Berlin, Feb. 1-3, 2008. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022236-4 (hardcover : alk. paper) -- ISBN 978-3-11-022237-1 (e-bk.) 1. European literature--Renaissance, 1450-1600--History and criticism--Congresses. 2. Perfection in literature-Congresses. I. Lobsien, Verena Olejniczak. II. Olk, Claudia. III. Münchberg, Katharina. PN724.V65 2010 809'.93384--dc22 2010015669
ISBN 978-3-11-022236-4 e-ISBN 978-3-11-022237-1 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York. Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer – SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorbemerkung Der vorliegende Band versammelt Originalbeiträge, die aus der Tagung »Vollkommenheit. Ästhetische Perfektion in Mittelalter und Früher Neuzeit« hervorgangen sind. Die Tagung, zu der das Teilprojekt A3 des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs TRANSFORMATIONEN DER ANTIKE eingeladen hatte, fand vom 1. bis 3. Februar 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Luisa Banki und Alexander Klaudies haben die Texte in Zusammenarbeit mit den Herausgeberinnen eingerichtet und die Druckvorlage erstellt. Ihnen sei für ihre Sorgfalt und ihren großen Einsatz an dieser Stelle besonders gedankt. Unser herzlicher Dank gilt darüberhinaus allen, die an der Tagung teilgenommen, zu ihrem Gelingen beigetragen und dieses Buch möglich gemacht haben. Für gleichwohl verbleibende Unvollkommenheiten des Bandes, wie sie allem Menschenwerk anhaften und von den Herausgeberinnen verantwortet werden, können wir nur um Nachsicht bitten. Berlin, im Februar 2010 Verena Lobsien
Claudia Olk
Katharina Münchberg
Inhalt Vorbemerkung ...................................................................................................... V CLAUDIA OLK Vollkommenheit und Transformation. Eine Einleitung .........................................1 KATHARINA BRACHT Vollkommenheit und Schönheit in der altkirchlichen Theologie ....................... 13 FRANZISKA KÜENZLEN Erzählen von vollkommener Liebe. Die Tristan-Romane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg .............................................. 45 ANDREW JAMES JOHNSTON (Un)sichtbare (Un)vollkommenheit: Zahlensymbolik und Antikenbezug in Sir Gawain and the Green Knight ................................................................... 75 KATHARINA MÜNCHBERG Dante auf der Suche nach Vollkommenheit ....................................................... 91 JOACHIM KÜPPER Petrarcas Replik auf Dantes Versuch einer Annäherung an Perfektion: Absage an Kunstmetaphysik ............................................................................. 109 MARIA MOOG-GRÜNEWALD Formar con parole il perfetto cortegiano – Zum Verhältnis von Dialog und Vollkommenheit in Baldassare Castigliones Buch vom Hofmann ................................................ 125 MATEI CHIHAIA Deus artifex – Zur Funktion eines Topos bei Fray Luis de León ..................... 137 CLAUDIA OLK Transformation als Vervollkommnung in Antony and Cleopatra .................... 163 RICHARD WILSON »To excel the Golden Age«: Shakespeare’s Voyage to Greece ........................ 181
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Inhalt
VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN Die Vollkommenheit des Unvollkommenen. Marvells neuplatonisch-biblisches Bild der Seele: »On a Drop of Dew« ......... 205 Über die Autoren .............................................................................................. 233 Namenregister ................................................................................................... 237
Vollkommenheit und Transformation. Eine Einleitung CLAUDIA OLK (Berlin) Vollkommenheit und Transformation – die Begriffe bezeichnen vordergründig ein Paradox, schließen sich gar grundsätzlich aus. Ist das Vollkommene, z. B. im scholastisch-aristotelischen Sprachgebrauch als jenseitiges, in sich selbst begründetes ens perfectissimum verstanden, nicht von der Kontingenz transformatorischer Prozesse dispensiert? Verharrt es nicht vielmehr unwandelbar, jeglicher Veränderung enthoben, in selbstgenügsam statischer Transzendenz? Wie aber lässt sich demgegenüber die ungebrochene Faszination der so weltimmanenten wie transformatorischen Künste mit dem Vollkommenen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erfassen? Wie verhält sich ein Vollkommenheitsideal zur Reflexion der Reichweite der Sprache, zur poetischen Diesseitigkeit literarischer Texte und ihrer Strukturen? Kaum ein Dichter hat den Zusammenhang von Poesie, Vollkommenheit und Transformation konsequenter formuliert als der englische Renaissancepoet Sir Philip Sidney um 1580 in seiner Defence of Poetry. In Sidneys Poetik enthält die Dichtung stets den produktiven Aspekt der Neuschöpfung sowie des Hervorbringens, Veränderns und Verbesserns: »the Poet, disdayning to be tied to any such subiection, lifted up with the vigor of his owne invention, dooth growe in effect another nature, in making things either better than Nature bringeth forth, or, quite a newe, formes such as neuer were in Nature«.1 Die Dichtung ist nach Sidney in der Lage, Vollkommenheit vorzustellen, gar zu erfinden und durch die poetische Sprache zur Wirkung zu bringen. Sie zielt nicht nur auf die Transformation der Natur im Sinne einer second nature oder natura naturata, sondern auch auf die Perfektionierung des Menschen, wie Sidney unter Aufruf eines in protestantischer Rhetorik überformten Bescheidenheitstopos formuliert: »the final end is to lead and draw us in to as high a perfection as our degenerate soules, made worse by theyr clayley lodgings, can be capable of« (81, 13–15). Dichtung entfaltet in der Affirmation ihrer ephemeren Immanenz eine transformative Energie, die das Vollkommene nur in ihr und durch sie darstellbar werden lässt. Sie steht damit nicht im Widerspruch zur Theologie, wenngleich sie ohne die Prätention auf die Metaphysik oder den Anspruch an Wahrheit auskommt, sondern sie bezeichnet einen schöpferischen Vollzug, der das, worauf er sich _____________ 1
Sidney, Defence, (78, 22–26).
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bezieht, selbst hervorbringt. Dichterische Mittel gelangen so, wie Sidney ausführt, auch in biblischen Texten wie den Psalmen Davids zu besonderer Evidenz: »his notable prosopopeias, when he maketh you, as it were, see God coming in His Maiestie« (77, 19–29). Die Dichtung beschreibt mithin eine Vollkommenheit, die gleichzeitig Ideal und konstitutiver Bestandteil des Kunstwerks ist. Ihr sind die Idee, der Vollzug wie auch die Wirkung inhärent. Die Vollkommenheit der Kunst situiert sich gleichermaßen zwischen Unmöglichkeit und Vermögen, zwischen telos und der Notwendigkeit permanenter Transformation. Die Vollkommenheit der Kunst ist keine abstrakte, statische Entität, die gleichbleibend in ihrer eigenen Perfektion erstarrt ist, sondern sie bezeichnet ein reflexiv-transformatorisches Bezogensein von Immanenz und Idee. Die in diesem Band versammelten Beiträge aus den Fächern Theologie, Romanistik, Anglistik und Germanistik widmen sich diesen Reflexions- und Transformationsprozessen der Vollkommenheit. Sie gehen von einem Begriff der Vollkommenheit aus, der nicht indifferent ist gegen die Materialität von Transformationsvorgängen, sondern sich durch diese konstituiert. Das Vollkommene, so ließe sich ein diesem Band zugrunde liegender Gedanke formulieren, ist notwendig produktiv und kreativ und besitzt einen immanent dynamischen Charakter. Vollkommenheit setzt in Bewegung. Sie bezeichnet mithin nicht nur das telos einer Handlung, sondern wirkt transformierend auf die Versuche seiner Realisierung und Reflexion zurück. Der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zur Diskussion um die Bedeutung der Künste in Mittelalter und Früher Neuzeit, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt literatur- und kunstwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Er geht aus einer Tagung hervor, die im Wintersemester 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Transformationen der Antike« stattgefunden hat. Leitend für diesen Band ist das im Sonderforschungsbereich entwickelte differenzierte Transformationskonzept, das sich auf die Dynamiken kultureller Produktion bezieht und alle kulturellen Praktiken im Umgang mit antiken Überlieferungsbeständen – von Prozessen der Übernahme und Assimilation bis hin zur Ablehnung – einschließt. Grundlegend ist darüber hinaus die Arbeit des Teilprojekts »Konfigurationen des Neuplatonismus«. Die Begriffs- und Transformationsgeschichte der Vollkommenheit ist nicht ohne den Dialog des Christentums mit antiken Philosophemen, insbesondere mit dem Neuplatonismus, denkbar. Neuplatonisches Denken bietet nicht nur strukturell mit der Beschreibung der Dynamik aus Emanation und Epistrophé ein Paradigma des Zusammenhangs von Transformation und Vollkommenheit, sondern leistet in seinen unterschiedlichen historischen Konfigurationen, z. B. in der Rezeption Proklos’ und Dionysius Areopagitas,2 die _____________ 2
Beierwaltes (1998).
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Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Vollkommenheit und Schönheit.3 In diachroner Perspektive bildet insbesondere die Tradierung des Neuplatonismus in der Florentiner Philosophie Marsilio Ficinos und Giovanni Pico della Mirandolas, die die Universalität des menschlichen Geistes sowie das Einswerden der menschlichen Seele mit ihrem göttlichen Ursprung betont,4 für den Gedanken der Vollkommenheit eine figurative Dimension, die sich bereits durch das Mittelalter hindurch manifestiert. Die Hinwendung zur Antike in der Aufnahme platonischneuplatonischer Philosopheme ist stets kennzeichnend für eine Gegenwart, die sich ihrer Vergangenheit nicht nur durch neue theoretische Paradigmen wie das der Transformation nähern kann, sondern gleichzeitig ein Verständnis der Antike enthält, das diese nicht als selbstgenügsame, ideale Vergangenheit, sondern als inhärent wandelbare – als Resultat und Agentin transformatorischer Prozesse – begreift. Als Entwurf eines Idealbildes, das seine Unerreichbarkeit stets mitreflektiert, bleibt Vollkommenheit, wie Hans Robert Jauß in seinem grundlegenden Aufsatz gezeigt hat, ein produktives telos der Imagination.5 Die Bewegung von Annäherung und Entzug, des Ausgreifens in die Vollkommenheit, im Bewusstsein, diese nicht final zu erreichen, eröffnet der Literatur und Kunst einen symbolischen Raum, in dem sie das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen Immanenz und Idealität, zwischen Einheit und Trennung konfiguriert. Kennzeichnend für Jauß’ Ansatz ist es, neben dem »Versuch, die eigentümliche Kraft des Imaginären – sein Faszinosum – anthropologisch aus dem Bedürfnis nach dem Vollkommenen abzuleiten und historisch als Prozess der Ablösung der ästhetischen von der religiösen Erfahrung zu erläutern«6 gleichfalls den Transformationsprozess von der ontologischen Vorordnung des Vollkommenen hin zum Schönen als vorrangiger ästhetischer Kategorie nachzuzeichnen. Bestimmungen des Vollkommenen erfahren mithin im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit eine zunehmend weltimmanente Verdichtung, in der ihr Bezug zur Ästhetik hervortritt und die Idee der Vollkommenheit die Reflexion der Kunst, ihrer Vermögen und ihrer Möglichkeiten mit einschließt.7 Innerhalb seines Untersuchungszeitraums verfolgt dieser Band zwar eine chronologische, nicht jedoch teleologische Ausrichtung und stellt so die Heterogenität symbolischer Formationen der Vollkommenheit in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Beiträge betrachten Inszenierungen von Vollkommenheit und fragen, in welcher Relation das Vollkommene zum dynamischen Wesen der Literatur steht und welche Bedeutung ihm für den ästhetischen Anspruch der Künste im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zukommt. Sie reflektieren aus _____________ 3 4 5 6 7
Lobsien/Olk (2007). Zur Rezeption dieser Aspekte der Florentiner Philosophie im Humanismus siehe Kinney (1986), 4. Jauß (1983), 443–461. Jauß (1983), 444. Zum Verhältnis von Fiktionalität und Vollkommenheit siehe Ridder (2003), 23–25.
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ihrer je spezifischen fachlichen Perspektive Berührungspunkte, Überlagerungen, Abgrenzungen und Wechselwirkungen der Vollkommenheit mit theologischen, philosophischen und anthropologischen Diskursen. Der Begriff der Vollkommenheit bezeichnet eine Anthropologie der Differenz, die auf eine Transformation des Individuums sowie der Gesellschaft zielt. Die Dynamik zwischen anzustrebender, aber allenfalls nur näherungsweise erreichbarer Vollkommenheit hat insbesondere in anthropologischen, ethischen und theologischen Diskursen eine zweifache Deutung erfahren: eine utopische sowie eine tragische. Geht die zumeist tragische Deutung von der ererbten Unfähigkeit des Menschen, Vollkommenheit zu erlangen, aus, so hält die utopische Variante Vollkommenheit nicht nur für erstrebenswert, sondern für grundsätzlich erreichbar. Verbindet sich im ersten Fall die Furcht vor der Unverbesserlichkeit und der unhintergehbaren Permanenz der Mängel und Fehler mit dem Imperativ der Perfektion als gleichsam moralischer Bürde, so durchdringt im zweiten Fall die der Vollkommenheit implizite Möglichkeit potentiell unbegrenzter Spielräume zur individuellen Verbesserung und Steigerung bis in die Gegenwart nicht nur die Bereiche der Ethik und Ästhetik, sondern auch die Instrumentarien und Methoden der Technik, Pädagogik und Medizin. Als besonders wirkungsmächtig hat sich ein mitunter distanzloses Pathos der Vervollkommnung erwiesen, das von evangelikal wie orthodox geprägten Vorstellungen sittlich-moralischer Perfektion bis hin zu Systematiken genetischer Manipulation reicht. Während die westlichen Traditionen das finale Erreichen von Vollkommenheit im Diesseits aufgrund der Begrenzungen und der Vergänglichkeit der menschlichen Natur für unmöglich halten, so liegt die Realisierung menschlicher Vollkommenheit in antiken, altkirchlichen sowie östlichen philosophischen Traditionen durchaus im Bereich irdischer Möglichkeiten und ist z. B. in der vedantischen Philosophie je nach karmischer Disposition in der Möglichkeit der Wiedergeburt realisierbar.8 In historischer Perspektive seien im Rahmen dieser Einleitung einige Stationen sowie Grundzüge der Transformationen des Vollkommenheitsparadigmas skizziert. Antike Konzeptionen der Vollkommenheit sind von der Fokussierung auf den Aspekt der Unerreichbarkeit des Vollkommenen weitestgehend entlastet.9 Das Vollkommene ist in der Antike durch seinen Bezug auf ein höheres Vollkommenes sowie auf ein Ende und Ziel gedacht.10 Platon hat diese Interdependenz des Erstrebenswerten, des vollständig Guten sowie des Vollkommenen im Philebos paradigmatisch formuliert.11 Auch bereits im ersten Buch der Politeia diskutiert Sokrates mit dem Sophisten Thrasymachus über die _____________ 8
Coward (2008), 3. Der Band Vollkommenheit, hg. v. Aleida Assmann/Jan Assmann (München 2010) lag den Herausgeberinnen zum Zeitpunkt der Drucklegung leider noch nicht vor. 9 Bracht (1999). 10 Früchtl/Mischer (2005), 367–372. 11 Platon, Phil 20c–21e; 29b–30d, 61a.
Vollkommenheit und Transformation. Eine Einleitung
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Künste (techne) und ihre Spezifika, die darin bestehen, dass nicht alle Künste die gleiche Idee der Perfektion anstreben, sondern dass jede von ihnen das ihr eigene Potential bestmöglich verwirklicht. Ein solch differenzielles Verständnis der Perfektion impliziert Verbesserung und Steigerung sowie das Erreichen des je bestmöglichen Zustands.12 Wie Platon beschreibt auch Plotin eine Auffassung von Perfektion als jeweils relationale, in der sich das Unvollkommene im Verhältnis zu einem je spezifischen Vollkommenen definiert. Bei Plotin ist das Modell wie das telos der Perfektion Gott selbst. In seinem Traktat über die Tugenden verbindet sich die Selbstperfektionierung des Menschen mit einer metaphysisch ausgerichteten Ethik, und so beschreibt Plotin den Prozess der Rückkehr des wahren Selbst zum Intellekt durch Reinigung sowie intellektuelle und moralische Disziplin.13 In der Darstellung Plotins ist es dem Menschen grundsätzlich möglich, Perfektion zu erlangen. Sie ist überdies notwendig, um letztlich nach Zurücklassung der zivilen Tugenden im Aufstiegsprozess gradueller Selbstvervollkommnung das Leben der Götter zu wählen, denen zu gleichen die Menschen geschaffen sind.14 Die platonische Vorstellung einer diversifizierten Vervollkommnung der Lebensbereiche wird bei Aristoteles durch die Konzeption einer teleologischeschatologischen Vollkommenheit ergänzt. Im fünften Buch der Metaphysik definiert Aristoteles vier Kennzeichen des Vollkommenen: seine Vollständigkeit, die Fehlerlosigkeit und professionelle Exzellenz im Erfüllen eines Anspruchs sowie in Ausübung einer Handlung. Vollkommenheit wird bei Aristoteles in Bezug auf ein Ziel gedacht und bezeichnet Dinge und Handlungen, die ihr Ziel erreicht haben und abgeschlossen sind. Wenngleich Aristoteles das Gute als Form der Vollkommenheit ansieht, so ist diese für ihn nicht moralisch konnotiert, sondern vielmehr mit der Realisierung eines Vermögens in einer Handlung, wie z. B. einem perfekten Diebstahl oder sogar dem perfekten Untergang, verknüpft.15 Im Christentum hingegen befähigt der Gedanke der Vollkommenheit seit dem Sündenfall zur Einsicht in eine konstitutive Differenz, die die Entfernung des Einzelnen vom Ideal der Perfektion sichtbar macht und Imperfektion als Schlüsselbedingung menschlicher Existenz definiert. In der Theologie des Mittelalters gewinnt der Begriff der Vollkommenheit mithin eine eschatologische Dimension und beschreibt eine Spannung zwischen dem ›schon jetzt‹ der Verheißung und dem ›noch nicht‹ ihrer Erfüllung. Die darin vollzogene Entrückung des Vollkommenen in die Transzendenz wird durch ein gesteigertes Bewusstsein von der weltimmanenten Unvollkommenheit begleitet. Im Rahmen der christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike hat sich insbesondere Augustinus in intensiver Rezeption des christlichen Neuplatonismus der Beschaffenheit der menschlichen Natur und den Möglichkeiten ihrer Vervoll_____________ 12 13 14 15
Platon, Politeia I, xv. Plotin, Enneade I 2, 7, 8 f. Plotin, Enneade I 2, 27, 27 f. Aristoteles, Metaphysik V, XVI.
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kommnung zugewendet. Als paradigmatisch für die Konfrontation eines stoisch geprägten Optimismus mit einem auf der paulinischen Gnadenlehre und Hamartiologie basierenden Menschenbild kann die prominente Auseinandersetzung Augustinus’ mit Pelagius gelten.16 In der Nachfolge Augustins nimmt Thomas von Aquin im Rahmen seiner umfassenden Aristotelesrezeption den Aspekt der eschatologischen Zielgerichtetheit auf, wenn er die Realisierung der visio dei in Bezug auf Mt 5, 18 als Ziel der Perfektionierung der menschlichen Natur beschreibt.17 Wenngleich die uneingeschränkte Perfektion auch bei Thomas dem Eschaton vorbehalten bleibt, so ist die visio dei dem Menschen durch das Zusammenwirken seiner Natur mit der Offenbarung und Gnadenwirkung Gottes möglich.18 Die Vereinbarkeit von metaphysischer Vollkommenheit und anthropologischdiesseitiger Unvollkommenheit bezeichnet eine Grundaporie der abendländischen Theologie, die insbesondere im Horizont der Christologie deutlich wird. Die Dialektik des Vollkommenen, in der Vollkommenheit und Unvollkommenheit aufeinander bezogen bleiben und einander wechselseitig problematisieren, lässt ein mit der perfectio divina verbundenes metaphysisches Vollkommenheitsverständnis problematisch erscheinen. Wenngleich es nicht der Metaphysik entspricht, Gott als ens perfectissimum mit menschlicher Unvollkommenheit in eins zu denken, so wird Vollkommenheit als metaphysische Größe nicht zuletzt deshalb virulent, weil der Mensch gerade nicht vollkommen ist und mithin eines Vollkommeneren über sich bedarf. Ein solches Vollkommenheitsverständnis bleibt paradox, da in ihm der metaphysische Gedanke der Absolutheit des göttlichen Seins rückbezogen, gar abhängig bleibt vom Standpunkt eines unvollkommenen Wesens. Es beschreibt eine Vollkommenheit, die sich aus der Begrenztheit des Diesseits artikuliert und sich nach den Erkenntnisbedingungen des Menschen strukturiert. Diese Polarität von göttlicher Vollkommenheit und menschlicher Unvollkommenheit beherrscht das mystische Denken, das über den christlichen Neuplatonismus, insbesondere des Dionysius Areopagita und Augustinus, in einer auf Platon zurückzubeziehenden Tradition steht. Ermöglichte die für die theologische Anthropologie des Mittelalters prägende visio dei bereits bei Thomas von Aquin wie auch bei Bernhard von Clairvaux einen Berührungspunkt zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit, der auf die Menschwerdung Christi zurückgeht, so beschreiben mystische Erfahrungsmodelle und Kontemplationsanleitungen wie Walter Hiltons Scale of Perfection (entstanden zwischen 1380 und 1396) oder Teresa de Jesús’ Camino de perfección (ca. 1566) eine _____________ 16 Während der Mensch nach Augustinus qua Erbsünde von der Perfektion im Diesseits ausgeschlossen und auf die Gnade Gottes angewiesen bleibt, so argumentierte Pelagius, dass das Erlangen der Perfektion dem Menschen durch Ausübung seines freien Willens möglich sei. (Augustinus, »De perfectione iustitiae hominis«; vgl. Augustinus, Answer to the Pelagians). 17 Thomas von Aquin, S. th. II–I q. 4, art. 5–6. 18 Thomas von Aquin, S. th. II–II q. 24, art. 2. Schwann (1999), 83–86.
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Durchbrechung und Aufhebung teleologischer Strukturen in der punktuellen Erfüllung der Hoffnung auf Einswerdung mit Gott in der unio mystica.19 Sie leistet die temporäre Antizipation und sogar eine proleptische Vorwegnahme des Eschatons. Diese Vollkommenheit der Erfahrung vollzieht sich jedoch an den Grenzen der Sprache und wird begleitet von einer Hermeneutik der Unsagbarkeit. Was letztlich in der unio geschieht, kann nicht ausgesprochen werden und scheint inkommunizierbar außer für diejenigen, die bereits durch Erfahrung transformiert sind. Im Kontext der heterogenen frühneuzeitlichen Rationalisierungsprozesse wird Perfektion seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem dominierenden Diskurs, der den Humanismus, die Bereiche der Erziehung und Bildung, die Religion, die Künste sowie die Jurisprudenz durchdringt. Als Ideal humanistischer Wissenschaftlichkeit verbindet sich der Gedanke der Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten mit einer optimistischen Ethik. Neben der wachsenden Dominanz der Rhetorik im Bildungssystem20 stellt die Herausbildung des Typus des Hofmanns in Baldassare Castigliones einflussreichem Werk Il libro del Cortegiano (1528) eine Inszenierung des Höfischen als imitierbares Verhaltensideal sowie eine modellhafte Vorstellung der Perfektion dar.21 Dieses Potential für die Freiheit zur Selbstinszenierung, die Stephen Greenblatt als »Self-Fashioning« bezeichnet,22 bewirkt innerhalb einer auf Akte der Performativität zielenden kulturellen und politischen Öffentlichkeit der Renaissance eine zunehmende Ästhetisierung der Ethik, in der sich Vollkommenheit in künstlerische Formationen differenziert. Die Ablösung des Vollkommenheitsparadigmas von seinen metaphysischen Prämissen und seine Applikation auf kunstimmanente Vermögen berührt sich mit der von Hans Blumenberg entwickelten These, dass die Neuzeit sich nicht allein durch einen stetig fortschreitenden Prozess der Säkularisierung begründet, sondern als Folge eines metaphysischen Absolutismus gesehen werden muss, der gleichsam die Bedingung für die Eigenständigkeit des Diesseitigen darstellt.23 Im Zentrum der Beiträge dieses Bandes steht nicht der Versuch, teleologische Gesamttendenzen zu postulieren oder gar eine lückenlose Imaginationsgeschichte des Vollkommenen zu erzählen. Ihre Interpretationen machen vielmehr die Transformation eines transzendent hypostasierten Ideals der Vollkommenheit anschaulich. Sie zeigen, dass und wie die Dichtung die Prämissen der metaphysischen Überlieferung überschreitet, die die Trennung von Transzendenz und Immanenz erst möglich werden ließ.
_____________ 19 20 21 22 23
Siehe den Beitrag von Matei Chihaia in diesem Band. Kinney (1986), 6–20. Lobsien (2005), 108 f. Siehe auch den Beitrag von Maria Moog-Grünewald in diesem Band. Greenblatt (1980). Blumenberg (1983), insbesondere 185–211.
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Allgemeine Schwerpunkte, denen sich alle Beiträge in je unterschiedlicher Gewichtung und aus fachlich spezifischer Perspektive widmen, bilden: 1. der Topos des Vollkommenen 2. der Prozess der Vervollkommnung 3. die Vollkommenheit des Unvollkommenen
1. Der Topos des Vollkommenen Im Zentrum dieses Bereiches steht die Reflexion des Begriffs des Vollkommenen und die Bestimmung seiner grundlegenden Strukturmerkmale, die im Kontext theologischer und philosophischer Entwürfe aufgewiesen24 und in ihrer Relevanz und Funktion in literarischen Texten bestimmt werden. Modellierungen der Vollkommenheit werden im Rahmen reflexiver Kategorien wie der Temporalität, Dialektik oder Kausalität betrachtet, vor allem aber in Hinsicht auf ihre ästhetische Potentialität. Sie operieren als dialektische Verknüpfungen sowie als Modelle des Aufstiegs und der approximativen Realisierung. Ästhetische Annäherungen an das Vollkommene vollziehen sich z. B. in den narrativen Strukturen und der poetischen Bildlichkeit des höfischen Romans, die eine ideale Rezipientenhaltung mitbedingen und Vollkommenheit als Effekt der Erzählung ausweisen, der den Lesern eine Weise der Teilhabe an der im Text entworfenen Vollkommenheit ermöglicht.25 Vollkommenheit erfährt als aptum der Literatur, z. B. als vollkommener Stil oder harmonische Rede, vielfältige Bestimmungen, die den Gedanken der Einheit in Mannigfaltigkeit, der metrischen wie rhythmischen Ordnung und Proportion einschließen und auf die Form und innere Struktur des Gegenstandes zielen. Die Reflexion des Bewusstseins künstlerischer Perfektion, z. B. im Topos des deus artifex, transformiert darin zugleich das mystische Ideal der einmaligen perfectio.26 Sie begegnet einem metaphysisch geprägten Vollkommenheitsbegriff mit der Suche nach Vollkommenheit als diesseitigem Ideal, das z. B. in Dantes Commedia die Kunst nicht ausschließt, sondern in der Konstitution immanenter Vollkommenheit besteht.27 Die Abkehr von einem holistischen Vollkommenheitsbegriff bedingt in der ›Nachfolge‹ Dantes insbesondere bei Petrarca und Boccaccio die Konzentration auf das Partielle, die
_____________ 24 Der Beitrag von Katharina Bracht erläutert den Vollkommenheitsbegriff im frühchristlichen Werk des Methodius von Olympus. 25 Dieser Zusammenhang wird von Franziska Küenzlen in ihrem Beitrag zum Begriff der vollkommenen Liebe im höfischen Roman entfaltet. 26 Der Topos des deus artifex in den Schriften von Fray Luis de León steht im Zentrum des Beitrags von Matei Chihaia. 27 Der Beitrag von Katharina Münchberg widmet sich dieser Annäherung von ethischer und ästhetischer Vollkommenheit in der Commedia.
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Exponierung des Irdischen und Vergänglichen sowie eine Absage an die autoritäre Unausweichlichkeit der Entelechie.28
2. Der Prozess der Vervollkommnung Vollkommenheit hat für die Literatur und Kunst nicht nur thematische und strukturelle Relevanz, sondern wird in der Tradierung antiker und höfischer Verhaltensideale sowie in Bezug auf die Kategorien des Theaters, der perfekten dissimulatio in der Annahme einer Rolle in der dramatischen Handlung, zugleich performativ. Darin werden Verwandlung, Schauspiel und Metamorphose als Modi der Transformation sowie Gestaltungsprinzipien der Vervollkommnung bestimmbar, durch die Vollkommenheit nicht repräsentiert, sondern in der Kunst gestiftet wird. Die Aufnahme antiker Stoffe wird z. B. im Theater Shakespeares zu einem Maßstab der Perfektionierung in der Rollenbeherrschung. Als Prozess der Transformation wird Perfektion weder als a priori abgeschlossene noch als abschließbare Handlung verstanden, sondern im Vollzug des Spiels erzeugt.29 Gleiches gilt für die Rolle der Sprache in der Herausbildung höfischen Verhaltens, wie es z. B. in Castigliones Il libro del Cortegiano präsentiert wird. Im ausgestellten Kunstcharakter einer sich dialogisch formierenden Existenz vollzieht sich eine Annäherung von Ethik und Ästhetik.30 Diese beschreibt eine sich vervollkommnende ästhetische Existenz, die immer zugleich in der Unvollendetheit des Werdens liegt.
3. Die Vollkommenheit des Unvollkommenen Die Bedeutung des Vollkommenen für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit kann nicht ohne die Reflexion des Unvollkommenen erschlossen werden. Das Unvollkommene erhält nicht nur als Negativfolie für das Vollkommene seine Relevanz, sondern modifiziert Dichotomisierungen und verweist auf Ambivalenzen im Perfektionsdenken z. B. der Utopie, der ein potentiell totalitärer Charakter innewohnen kann,31 wie auch einer idealisierten höfischen Kultur,32 in _____________ 28 Zu der insbesondere im Werk Petrarcas vollzogenen Absage an eine Kunstmetaphysik siehe den Beitrag von Joachim Küpper. 29 Zur Vervollkommnung als performativer Kategorie siehe den Beitrag von Claudia Olk zu Shakespeares Antony and Cleopatra. 30 Maria Moog-Grünewald stellt die Durchdringung von ästhetischer und ethischer Perfektion in Il libro del Cortegiano in den Mittelpunkt ihres Beitrags. 31 Richard Wilsons Beitrag verdeutlicht die inhärenten Ambivalenzen utopischen Denkens, die im Werk Shakespeares und dessen Rezeption präsentiert werden und der Machtförmigkeit der Diskurse eines perfekten Staates – gleichsam zwischen Arcadien und der Tyrannis – die Unbedingtheit der Kunst entgegenstellen.
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der Vollkommenheit auch und gerade im Modus der Verwandlung und Verhüllung darstellbar wird.33 Selbst in der Hervorhebung ihrer Unvollkommenheit eröffnet die Dichtung mithin den Raum für eine Erfahrung von Perfektion, die durch das Kunstwerk erzeugt wird.34 Die Negation der Endgültigkeit bedingt die Erschaffung neuer Möglichkeiten imaginärer Präsenz, in der die Infinitheit wie die Indefinitheit des Vollkommenen in der Pluralität ästhetischer Erscheinungsformen anschaulich werden können. Die perfekte Unvollkommenheit z. B. von Andrew Marvells Gedicht »On a Drop of Dew« positioniert sich kritisch gegenüber einer apodiktisch als totalisierend unveränderlich gedachten Vollkommenheit. Sie befähigt zu einer Zusammenschau des scheinbar Widersprüchlichen und beschreibt einen Transformationsprozess, der durch ein wechselseitiges, gar synekdochisches Durchdringen der Vollkommenheit im Unvollkommenen gekennzeichnet ist und es vermag, eine Weise des Vollkommenen zur Erscheinung zu bringen, die in der Immanenz liegt. Diese wird im 18. Jahrhundert begrifflich als Korrelat der Schönheit fassbar und erfährt in der anhaltenden Diskussion um die Souveränität der Kunst ihre weitere Extension.
Primärliteratur Aristoteles, Metaphysics I, transl. by Hugh Tredennick, London/Cambridge, Mass. 1947. Augustinus, Aurelius, »De perfectione iustitiae hominis«, hg. v. C. F. Vrba/J. Zycha, Wien 1902 (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 42) 1–48. Augustinus, Aurelius, Answer to the Pelagians, intr., transl. and notes by Roland J. Teske, ed. by John E. Rotelle, New York 1997. Platon, The Collected Dialogues of Plato. Including the Letters, ed. by Edith Hamilton/Huntington Cairns, Princeton 1973 (= Bollingen Series, LXXI). Plotin, Ausgewählte Schriften, hg. u. übers. v. Christian Tornau, Stuttgart 2001. Plotin, Ennead I, ed. by G. P. Goold, Cambridge, Mass./London 1966, repr. 1995. Sidney, Sir Philip, A Defence of Poetry, in: Miscellaneous Prose of Sir Philip Sidney, ed. by Katherine Duncan-Jones/J. van Dorsten, Oxford 1973, 59–121. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, in: Opera Omnia II, hg. v. Roberto Busa, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1980, 184–926.
_____________ 32 Lobsien/Lobsien (2003). Für den hier dargelegten Problemzusammenhang siehe insbesondere das Kapitel »Schwierige Perfektion«, 203–230. 33 Andrew James Johnston beschreibt in seinem Beitrag die Unterschiede in der Überlieferung einer idealisierten ritterlicher Kultur, die zwischen der südenglischen Tradition und dem Gawain-Dichter und ihrer jeweiligen Antikerezeption bestehen, und analysiert die Strategien der Verhüllung und inszenierten Medialität in den ambivalenten zahlensymbolischen Strukturen des Gedichts. 34 Siehe den Beitrag von Verena Olejniczak Lobsien in diesem Band.
Vollkommenheit und Transformation. Eine Einleitung
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Vollkommenheit und Schönheit in der altkirchlichen Theologie KATHARINA BRACHT (München) 1. Einleitung »Ästhetische Perfektion«: Der Untertitel der Tagung, deren Beiträge in dem vorliegenden Band der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, lässt sich sowohl als Vollkommenheit des Ästhetischen als auch als Ästhetik des Vollkommenen verstehen. In dem letzteren Sinne soll hier eine Einführung zum Thema Vollkommenheit in der Alten Kirche unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Vollkommenheit und Schönheit gegeben werden. Das Thema wird unter systematischen Gesichtspunkten und exemplarisch behandelt. »Seid ihr nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!«1 Dieser Satz aus dem Matthäusevangelium (Mt 5, 48; ca. 80–100 n. Chr.) gehört zur Bergpredigt und schließt »einen der zentralsten christlichen Texte« ab,2 nämlich die Perikope von der Feindesliebe (Mt 5, 43–48). Die Interpretation dieses Verses soll der Annäherung an das Thema dienen: Hier ist von zwei Arten von »vollkommen« (gr. IJȜİȚȠȢ) die Rede:3 Auf der einen Seite steht die Vollkommenheit Gottes. Sie ist im Indikativ formuliert; es handelt sich um einen Ist-Zustand. Matthäus betont, dass von der Vollkommenheit des himmlischen Vaters die Rede ist; damit ist die Transzendenz, die metaphysische Qualität dieser Vollkommenheit, im Blick. Gleichwohl soll sie das Maß sein, an dem die menschliche Vollkommenheit bereits in diesem Leben, also weltimmanent gemessen werden soll. Diese hingegen ist futurisch mit imperativem Sinn im Plural formuliert: »Seid vollkommen […]!« (»ıİıșİ […] IJȜİȚȠȚ«). Bei der Vollkommenheit der Menschen geht es um einen Soll-Zustand. Vollkommen zu sein, so wie Gott vollkommen ist, ist das Ziel (gr. IJȜȠȢ), das _____________ 1 2 3
Mt 5,48: »ıİıșİ ȠȞ ਫ਼ȝİȢ IJȜİȚȠȚ ੪Ȣ ʌĮIJȡ ਫ਼ȝȞ ȠȡȞȚȠȢ IJȜİȚંȢ ਥıIJȚȞ« (neutestamentliche Texte zitiert nach Nestle-Aland, 1ovum Testamentum Graece, 27. Aufl. 1993). Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin. Luz (1985), 307. Luz (1985), 312 f. weist darauf hin, dass in Mt 5,48 eine matthäische Modifikation des QSpruches Lk 6, 36 vorliegt, in der ȠੁțIJȡȝȦȞ durch IJȜİȚȠȢ ersetzt wurde, um die grundsätzliche Bedeutung der Feindesliebe als »Mitte und Spitze aller Gebote, die zur Vollkommenheit führen« (313) hervorzuheben.
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Matthäus seiner Leserschaft vor Augen stellt.4 Ein solches Ziel generiert Bewegung und impliziert eine gewisse Dynamik. Damit ist schon die Spannung markiert, die der Begriff des Vollkommenen in der frühchristlichen und altkirchlichen Theologie umfasst: die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, göttlicher und menschlicher Vollkommenheit, Indikativ und Imperativ, Schon-Jetzt und Noch-Nicht, Zielpunkt und Aufgabe, In-sich-Ruhen und Bewegung. Ein weiteres Nachdenken über diesen Vers wirft Fragen auf: 1. Was ist eigentlich unter Vollkommenheit zu verstehen? 2. Wie kommt es, dass der Mensch – wie der Text impliziert – nicht vollkommen ist? 3. Wie kann er vollkommen werden? 4. Kann man alleine vollkommen werden, oder ist das nur in Gemeinschaft möglich? 5. Wann kann der Mensch vollkommen werden? Geschieht das allmählich oder plötzlich? Steigert sich der Mensch in seiner Vollkommenheit, bis er irgendwann vollkommen vollkommen ist? Antworten auf diese Fragen sind im Neuen Testament angelegt und wurden in der Alten Kirche ausgearbeitet. Im Folgenden werde ich zunächst die neutestamentlichen Anlagen bzw. Grundlagen beleuchten (2), um dann zu zeigen, wie diese Anlagen in der Alten Kirche entfaltet werden konnten, nämlich zum einen theoretisch in einer theologischen Konzeption von Vollkommenheit, wie ich sie exemplarisch anhand der Anthropologie des Methodius von Olympus darstellen möchte (3), zum anderen praktisch in spezifischen Formen des Lebensvollzugs wie dem Martyrium und dem Mönchtum (4). Abschließend werde ich auf die oben genannten Fragen zurückkommen (5). Wo es sich anbietet, sei dabei jeweils ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Vollkommenheit und Schönheit gerichtet.
2. Neutestamentliche Grundlagen 2.1 IJȜİȚȠȢ in der Bedeutung »ganz, ungeteilt« Der Begriff IJȜİȚȠȢ hat im Neuen Testament zwei Bedeutungen. In den meisten Fällen bedeutet er »ganz, ungeteilt« und schließt damit an den üblichen Sprachgebrauch sowohl im klassischen Griechisch als auch in der Septuaginta
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Die deutschen Wörter »vollkommen« und »vollendet« implizieren wie die griechische Wortfamilie um IJȜİȚȠȢ das Erreichen eines Ziels (Ende/IJȜȠȢ); darauf macht Wainwright (2003), 273 aufmerksam.
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an.5 In Mt 5, 48 verbirgt sich hinter dem griechischen Wort ein jüdischer Hintergrund, der mit dem Begriff »vollkommen« (hebr. tammim) die Ungeteiltheit des Herzens bezeichnet:6 Matthäus ruft dazu auf, seine Feinde mit ganzem, ungeteiltem Herzen zu lieben, so wie Gott seine Güte ungeteilt und unbeschränkt den Menschen zuwendet, nämlich – so ist dem unmittelbaren Kontext zu entnehmen – den Guten wie den Bösen, den Gerechten wie den Ungerechten (Mt 5, 45).7 Aus der Differenz von göttlichem Indikativ und menschlichem Imperativ ergibt sich die Dynamik, die in Mt 5,48 mit dem Begriff IJȜİȚȠȢ verbunden ist. Die gleiche Dynamik kommt in Phil 3, 12–14 zum Ausdruck, wo Paulus beschreibt, wie er, der sich selbst nicht als bereits vollkommen einschätze, sich dem Ziel (ıțȠʌંȢ) entgegenstrecke und ihm »nachjage« (įȚઆțȦ V. 12, 14 in der aussagestarken Übersetzung Luthers). Mit dem »Ziel« meint Paulus die Berufung nach oben durch Gott in Jesus Christus (V. 14)8 bzw. die Erkenntnis Christi, die es ihm ermöglichen soll, die Auferstehung von den Toten zu erlangen (V. 10 f.)9. Damit macht diese Stelle aus dem Philipperbrief auf eine weitere Dimension des frühchristlichen Vollkommenheitsbegriffs aufmerksam: auf den Zusammenhang mit der Endzeit. Das Ziel, das Paulus verfolgt, ist über die Auferstehung von den Toten mit der Endzeit verbunden und von der Transzendenz Gottes bestimmt. Der Begriff des Vollkommenen hat an dieser Stelle also deutlich teleologischeschatologischen Charakter. Dieser Befund wird durch eine Passage aus der Didache unterstützt, der ältesten erhaltenen Kirchenordnung, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den neutestamentlichen Schriften um 100 n. Chr. verfasst wurde. Im Rahmen des eschatologischen Schlusskapitels steht die Paränese: Ihr sollt zahlreich zusammenkommen und in euren Herzen danach suchen, was sich für euch gebührt! Denn die ganze Zeit eures Glaubens wird euch nichts nützen, wenn ihr nicht in der Endzeit vollkommen werdet (ਥȞ ȝ ਥȞ IJ ਥıȤIJ țĮȚȡ IJİȜİȚȦșોIJİ). Denn in den letzten Tagen (ਥȞ Ȗȡ IJĮȢ ਥıȤIJĮȚȢ ਲȝȡĮȚȢ) werden die Lügenpropheten
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Siehe Delling (1969), 68–79, da 74, 17–78, 27 zum Neuen Testament sowie für die Stellenangaben 68, 28–69, 13 (klassisches Griechisch bei Homer, Platon, Aristoteles, Philo u. a.); 72, 49–73, 17 (Septuaginta). Siehe Luz (1985), 313 mit Verweis auf Noah und Abraham, die in jüdischen Texten wegen ihrer Frömmigkeit und ihres Gehorsams als Vollkommene bezeichnet werden (für Abraham verweist Luz auf bNed 32a; TanchB § 23 (40a) = Bill. I 386, für Noah auf Gen 6,9; Sir 44, 17); vgl. Kretschmar (1964), 53–59 zur Verwendung des Wortes IJȜİȚȠȢ im Neuen Testament; 53: die Zuordnung der matthäischen Verwendung zur hebräischen Tradition im Sinne der Ganzheit und des Ungeteiltseins. Vgl. Delling (1969), 74, 28–75, 5; Luz (1985), 313; Sabourin (1980), 268: »The ›more‹ demanded of the disciples […] does not consist in the observing of a larger number of precepts, but mainly in an intensifying of the love of God and of neighbour.« Phil 3, 14: »țĮIJ ıțȠʌઁȞ įȚઆțȦ İੁȢ IJઁ ȕȡĮȕİȠȞ IJોȢ ਙȞȦ țȜıİȦȢ IJȠ૨ șİȠ૨ ਥȞ ȋȡȚıIJ ȘıȠ૨«. Phil 3, 10 f.: »İ ʌȦȢ țĮIJĮȞIJıȦ İੁȢ IJȞ ਥȟĮȞıIJĮıȚȞ IJȞ ਥț ȞİțȡȞ«.
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und die Verderber zahlreich werden, und die Schafe werden sich in Wölfe verwandeln und die Liebe in Hass. (Did 16, 2 f.)10
Auch in dieser Passage kommt der Bezug der christlichen Vollkommenheit zur Endzeit deutlich zum Ausdruck: Das Vollkommen-Werden (nicht: das Vollkommen-Bleiben) in den Bedrängnissen der letzten Tage wird ausschlaggebend sein für das Heil. Dem Didachisten zufolge kommt es allein auf den letzten Augenblick an, wenn Christus wiederkommt (Did 16, 1). In diesem Augenblick muss man bereit sein, ihm entgegenzugehen, wie die Jungfrauen dem Bräutigam im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25, 1–13). Das ständige Bemühen, Tag für Tag ein Leben in Vollkommenheit zu führen, das in der Aufforderung »Wacht über euer Leben!« (ȖȡȘȖȠȡİIJİ ਫ਼ʌȡ IJોȢ ȗȦોȢ ਫ਼ȝȞ; Did 16, 1) zum Ausdruck kommt, ist allein darin begründet, dass dieser letzte Augenblick jederzeit völlig unerwartet hereinbrechen kann (Did 16, 1).11 In den letzten Tagen werden die Anfechtungen, die vom Glauben, d. h. von der Zuwendung zu Gott wegführen können, zunehmen, indem die Lügenpropheten und die Verderber sich mehren, aus Harmlosen gleichsam Raubtiere werden. Die Liebe, die sich dann in Hass verwandeln wird bzw. zu verwandeln droht, ist die Liebe zu Gott im Sinne von fides und die Liebe zu den Nächsten im Sinne der caritas. Nur wer in den Prüfungen der Endzeit im Glauben feststeht und Gott liebend zugewandt ist, wird vollkommen sein.12 2.2 IJȑȜİȚȠȢ in der Bedeutung »erwachsen, reif« Doch der Begriff IJȜİȚȠȢ kommt im Neuen Testament auch in der Bedeutung »erwachsen, reif« vor, womit der neutestamentliche Sprachgebrauch an einen anderen Bedeutungsstrang des zeitgenössischen außerbiblischen Sprachgebrauchs anschließt.13 Im Hebräerbrief heißt es im Kontext einer Scheltrede an die Adressaten, sie müssten sich wohl wieder in den Anfangsgründen der christlichen Lehre unterweisen und gewissermaßen mit Milch statt mit fester Speise füttern lassen: »Wem man noch Milch geben muss, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein kleines Kind (ȞʌȚȠȢ). Feste Speise aber ist für die Vollkommenen (IJİȜİȦȞ), die […] Gutes und Böses unterscheiden können.«14 _____________ 10 Vgl. Mt 24, 11 f. Text der Didache zitiert nach der Ausgabe von Rordorf/Tuilier. 11 Vgl. Mt 24, 42.44; 25, 13. – Hier liegt ein ganz anderer Gedanke vor als in dem Bild des Jüngsten Gerichts in Apk 20, 12 (vgl. Dan 7, 10), wo die Taten der Menschen in Büchern aufgezeichnet sind und aufgrund dieser Aufzeichnungen, die, so ist zu interpretieren, das ganze Leben des Betreffenden berücksichtigen, Gericht gesprochen wird. 12 Siehe Niederwimmer (1993), 259. 13 Delling (1969), 74, 17–78, 27 und 69, 46–51 mit Belegstellen; vgl. Kretschmar (1964), 53: die Zuordnung des Gebrauchs von IJȜİȚȠȢ bei Paulus und im Hebräerbrief im Sinne des Erwachsenen im Gegensatz zum Kind zur griechischen Tradition. 14 Hebr 5, 13 f.; Übersetzung: Luther 1984. Vgl. ebenso 1Kor 14, 20: »ʌĮȚįĮ [...] IJĮȢ ijȡİıȞ – IJĮȢ [...] ijȡİıȞ IJȜİȚȠȚ«; vgl. auch Kol 1, 28.
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Hier werden Kinder und »Vollkommene« im Sinne von reifen Erwachsenen einander gegenüber gestellt. Diese Bedeutung konnotiert einen Entwicklungsgedanken: Vollkommenheit als Endpunkt einer Entwicklung, zu dem der Mensch allmählich heranwächst. In diesem Sinne klingt hier auch die Bedeutung »vollendet« mit im Sinne einer Klimax von dem Anfänger über den Fortschreitenden bis hin zum Vollendeten im Lernen.15 2.3 Vollkommenheit und Schönheit im Neuen Testament? Im Neuen Testament lässt sich kein spezifischer Zusammenhang von Vollkommenheit und Schönheit feststellen. Das Substantiv țȜȜȠȢ (Schönheit) kommt überhaupt nicht vor. Das Adjektiv țĮȜંȢ begegnet in insgesamt 100 Vorkommen, jedoch nie in unmittelbarem Zusammenhang mit IJȜİȚȠȢ țIJȜ. Vielmehr ist es nahezu bedeutungsgleich mit ਕȖĮșંȢ.16 Vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte in der Alten Kirche ist an dieser Stelle jedoch auf die Wendung ʌȠȚȝȞ țĮȜંȢ (»der gute Hirte«, Joh 10, 11.14) hinzuweisen. Zwar bringt das Adjektiv țĮȜંȢ an dieser Stelle keineswegs die Schönheit des Hirten bzw. Christi zum Ausdruck; vielmehr sei Jesus der »gute Hirte«, der sich im Unterschied zu Schafshütern, die für Lohn angestellt sind, durch seine Fürsorge für seine Schafe17 bis zur Lebenshingabe18 auszeichnet. Doch in der Alten Kirche wird diese Stelle möglicherweise als ein Hinweis auf die Schönheit Christi rezipiert, wie die Darstellungen des »Guten Hirten« in den Katakomben und auf Goldgläsern nahe legen.19 In diesen Darstellungen greift die frühchristliche Kunst ein traditionsreiches paganes antikes Motiv auf und füllt es mit neuem Inhalt, indem es in einem christlichen sepulkralen Kontext verwendet wird. So zeigen die Fresken der römischen Katakomben gemäß der paganen Tradition einen jugendlichen, schönen Hirten,20 der als Christus in seiner Funktion als Retter und Spender himmlischen Friedens zu deuten ist.21 So könnte es sein, dass die Rezeptionsgeschichte von Joh 10, 11.14 in den altkirchlichen Darstellungen des Guten _____________ 15 16 17 18 19 20
Siehe Delling (1969), 69, 14–29 für Belegstellen bei Platon, Aristoteles und Philon. Siehe Wanke (1992), 602 f. Siehe Schnackenburg (1971), 370–375. Vgl. Wanke (1992), 604. Siehe Bertram (1938), 557, 38–558, 11. Dagegen ist in einer Vision der Märtyrerin Perpetua (gest. 203), von der hier unten ausführlich die Rede sein wird, von einem altersgrauen Hirten die Rede, der Perpetua nach ihrem Aufstieg in den Himmel in einem großen Garten empfängt (pass. Perp. Felic. 4, 8); vgl. pass. Perp. Felic. 11, 3, wo in einer ähnlichen Vision des Saturus der Mann, der die verstorbenen Märtyrer im Garten empfängt, zwar nicht als Hirte, aber in der Variante eines altersgrauen Mannes mit jugendlichem Antlitz skizziert wird. 21 Siehe Kollwitz (1968), 358 (ebd. Angabe der einschlägigen Denkmäler und weiterer Literatur); Legner (1970), 290 zur Verbindung vorchristlicher mit biblisch-christlicher Motivik in den frühchristlichen Darstellungen des Guten Hirten.
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Hirten eine Verbindung von Christus als demjenigen, der die eschatologische menschliche Vollendung nach dem leiblichen Tod wirkt, einerseits und ästhetischer Perfektion der künstlerischen Darstellung Christi andererseits zeigt.22 2.4 Zusammenfassung Die frühesten Christen verwenden den Begriff IJȜİȚȠȢ, vollkommen, in Anknüpfung an den Sprachgebrauch ihrer Zeit und Tradition, sowohl der griechischen wie auch der jüdischen. ȉȜİȚȠȢ bedeutet vor allem »ganz, ungeteilt«, aber auch »erwachsen, reif« im Gegensatz zum Kind; dabei kann eine teleologische, auch eschatologische Dimension damit verbunden sein. Sowohl Gott als auch Menschen können als IJȜİȚȠȢ bezeichnet werden, wobei jedoch stets die Spannung von Transzendenz und Immanenz bzw. Ist- und Soll-Zustand besteht. Der Begriff IJȜİȚȠȢ kann in ethischen Kontexten verwendet werden (wie im Zusammenhang des Gebots der Feindesliebe Mt 5, 48), aber auch in erkenntnistheoretischen Kontexten, wobei die Erkenntnis sich jeweils auf Christus bzw. die christliche Wahrheit bezieht (Phil 3, 9–14; Kol 1, 28 bzw. Hebr 5, 13 f.). Ein spezifischer Zusammenhang von Vollkommenheit und Schönheit lässt sich im Neuen Testament nicht nachweisen.
3. Vollkommenheit in der altkirchlichen Theologie am Beispiel des Methodius von Olympus Wie das im Neuen Testament angelegte Verständnis des Vollkommenen in der Alten Kirche theoretisch entfaltet werden konnte, zeige ich am Beispiel des Methodius von Olympus, denn der Begriff des Vollkommenen ist für seine Theologie von besonderer Bedeutung. Der Vollkommenheitsgedanke, der bei vielen Kirchenvätern des 2. bis 6. Jahrhunderts vorkommt,23 ist bei Methodius ins Zentrum seiner Theologie, insbesondere seiner Anthropologie gerückt und bildet geradezu eine Schlüsselkategorie dafür. Methodius war Bischof der lykischen Stadt Olympos. Er starb wohl in der letzten großen Christenverfolgung um 311 n. Chr.. Da er neben Euseb von Caesarea der einzige Schriftsteller der östlichen Kirche dieser Zeit ist, dessen Werke erhalten sind, bieten seine Schriften einen einzigartigen Einblick in die Theologie und Frömmigkeit der kleinasiatischen Christen vor dem Konzil von Nizäa. Methodius denkt in heilsgeschichtlichen _____________ 22 Die altkirchliche Vorstellung von der Schönheit Christi wurzelt darüber hinaus in dem Christusbild der apokryphen Apostelakten, das eine allgemeine Vorstellung des Göttlichen als des Schönen wiedergibt, siehe Kollwitz (1968), 357; Bertram (1938), 557 mit Stellenangaben. 23 An dieser Stelle sei nur eine kleine Auswahl bedeutender altkirchlicher Schriftsteller mit jeweils einem Literaturhinweis genannt: Zu Origenes siehe Völker (1931); zu Gregor von Nyssa siehe Heine (1975); zu Johannes Chrysostomus siehe Meyer (1933).
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Kategorien, d. h. er nimmt Geschichte wahr als die Geschichte Gottes mit den Menschen. Diese Geschichte vollzieht sich in seinen Augen in einem Dreischritt von Verlust, Wiedergewinnung und Vollendung menschlicher Vollkommenheit.24 3.1 Voraussetzung: Erschaffung als vollkommener Mensch Nach Methodius wird der Mensch von Gott vollkommen geschaffen. Methodius betont: Der Mensch ist vollkommen, weil der Schöpfer vollkommen ist25. Um zu erkennen, was Methodius unter menschlicher Vollkommenheit versteht, ist also zunächst sein Gottesverständnis in den Blick zu nehmen. Wie Methodius in Übereinstimmung mit der paganen und christlichen Antike ausführt, ist Gott selbst bedürfnislos (ਕʌȡȠıįİȢ),26 in sich selbst ruhend (ਕȞĮʌĮȣંȝİȞȠȢ), unwandelbar (ਙIJȡİʌIJȠȢ), kennt weder Anfang noch Untergang (ȝIJİ ਕȡȤંȝİȞȠȢ ȝIJİ ijșȞȠȢ).27 Diese Eigenschaften machen Gottes Vollkommenheit aus. Dabei betont Methodius, dass Gott aufgrund seiner selbst vollkommen ist.28 Gerade in dieser Hinsicht liegt der Unterschied zwischen Gott und Mensch. Der Mensch ist zwar in vollkommener Weise von dem vollkommenen Gott geschaffen und trägt deshalb Züge des Vollkommenen an sich. Aber er ist doch wesentlich Geschöpf, und seine Vollkommenheit leitet sich von der göttlichen Vollkommenheit ab. Der Mensch ist vollkommen aufgrund von Gott. Um das auszudrücken, spricht Methodius mit Gen 1,26 von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.29 Wie ein Abbild wesentliche Züge seines Urbilds wiedergibt, sind _____________ 24 Zur ausführlichen Darlegung und Begründung dieser Interpretation des methodianischen Schrifttums siehe Bracht (1999). Eine gute englischsprachige Einführung in Methodius’ Werk und Theologie bietet Patterson (1997). 25 Vgl. res. I, 34, 3. Hier expliziert Methodius sein Diktum »Wie der Schaffende beschaffen ist, so ist folglich nach derselben Art notwendigerweise auch das Geschaffene hergestellt« (ȠੈȠȞ ਗȞ ઝ IJઁ ʌȠȚȠ૨Ȟ, țĮIJ IJઁȞ ĮIJઁȞ ȠIJȦȢ ȜંȖȠȞ IJȠȚȠ૨IJȠȞ țĮ IJઁ ʌȠȚȠȝİȞȠȞ ਥȟ ਕȞȖțȘȢ ਕʌİȡȖȗİıșĮȚ ıȣȝȕĮȞİȚ) anhand der Unsterblichkeit von Gott und Mensch. Die Unsterblichkeit wiederum ist aufs engste mit der Vollkommenheit verbunden. – Griechische Zitate aus Schriften des Methodius von Olympus werden nach der kritischen Edition von Bonwetsch angegeben. Aus Passagen, die nur in altslawischer Übersetzung erhalten sind und noch nicht in kritischer Edition vorliegen, wird nach der Handschrift Q.I. 265 der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg zitiert. 26 Siehe Bracht (2003). 27 Vgl. symp. VI, 1, 134. 28 Vgl. creat. III, 2b–3. 29 Res. I, 35, 4, aut. XVII,5; symp. II, 6, 44. Oft spricht Methodius von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sogar im Sinne einer Ableitung zweiten Grades: Gott habe den Menschen »als eine genaue Nachahmung seines eigenen Bildes« (ȝȝȘȝĮ IJોȢ ੁįĮȢ İੁțંȞȠȢ ਥȝijİȡȢ; res. I, 34, 1) geschaffen, »nach dem Bild seines eigenen Bildes« (țĮIJ’ İੁțંȞĮ IJોȢ İੁțંȞȠȢ ਦĮȣIJȠ૨; symp. VI, 1, 134), womit er den einziggeborenen Sohn Gottes meint (ebd.), also Christus. Das Bild Gottes ist demnach Christus, der Mensch nur das Bild des Bildes. Diese Differenzierung bringt den Charakter der Gottebenbildlichkeit des Menschen als einer Vollkommenheit, die von der
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Züge der göttlichen Vollkommenheit am Menschen zu erkennen. Methodius nennt besonders die Unsterblichkeit.30 Andere Eigenschaften wie Unveränderlichkeit und Anfangslosigkeit fehlen dem Geschöpf, denn wie ein Bild gegenüber dem Original um eine Dimension reduziert ist, so besteht auch eine qualitative Differenz zwischen Gott und den Menschen. Für den Menschen bedeutet das, dass er nur dann vollkommen ist, wenn er seinem Wesen als Geschöpf Gottes entsprechend lebt, wenn er Gott mit ganzem Herzen zugewandt, oder in Methodius’ Worten: gehorsam ist. Methodius nimmt also für sein Grundverständnis menschlicher Vollkommenheit die Hauptbedeutung von IJȜİȚȠȢ im Neuen Testament auf. Darin unterscheidet er sich von seinen Vorgängern Irenäus von Lyon (um 185) und Clemens von Alexandrien (gest. 215), die an die andere neutestamentliche Bedeutung von IJȜİȚȠȢ (»erwachsen, reif«) anschließen: Sie sehen den soeben geschaffenen Menschen als ein Kind (ȞʌȚȠȢ), das erst durch das erzieherische Einwirken Gottes zur Vollkommenheit heranwächst.31 3.2 Verlust der menschlichen Vollkommenheit Wenn der Mensch aber Gott gegenüber ungehorsam wird, bedeutet das, so Methodius, den Verlust der ursprünglichen menschlichen Vollkommenheit. Wenn er nicht nach Gottes Willen lebt und die Gebote nicht hält, ist er Gott nicht mehr mit ganzem Herzen zugewandt. Methodius denkt hier in folgendem Denkmuster: Er versteht den Menschen als ein Wesen, das sich jeweils von dem her bestimmt, was es in sein Inneres aufnimmt.32 Trägt er Vollkommenes in sich, so ist er selbst vollkommen, trägt er Sünde in sich, ist er sündig. Zum Sündenfall kommt es, weil durch die Sinnesorgane, wie Methodius in Anlehnung an die stoische Handlungs_____________ Vollkommenheit des Schöpfergottes abgeleitet ist, um so stärker zum Ausdruck. Zur Vollkommenheit Christi bei Methodius siehe Bracht (1999), 30–37. 30 Siehe Bracht (1999), 26–30. 31 Iren. haer. IV, 38, 1; Clem. str. IV, 150, 3 f.; siehe auch Iren. demonstr. I, 1, 12.14; Clem. str. VI, 96, 2; prot. 111, 3 sowie Theophilus, Autol. II, 25. Zum Entwicklungsgedanken bei Irenäus vgl. Bonwetsch (1923); Noormann (1994), 468–477; zu der entsprechenden Vorstellung bei Clemens vgl. Karpp (1950), 104–108; Méhat (1981), 101–113, besonders 108. – In symp. I, 4, 23 formuliert Methodius in einer Weise, die auf den ersten Blick sehr irenäisch klingt (vgl. Iren. haer. V, 6, 1; V, 16, 2): »In alter Zeit (IJઁ į ʌĮȜĮȚંȞ) war der Mensch noch nicht vollkommen (ȠįʌȦ IJȜİȚȠȢ) und vermochte es deshalb noch nicht, das Vollkommene (IJઁ IJȜİȚȠȞ), die Parthenia, in sich aufzunehmen. Denn (dazu) hatte er, der (einst) ›nach dem Bilde‹ Gottes (țĮIJ’ İੁțંȞĮ șİȠ૨; vgl. Gen 1, 26 LXX) geschaffen worden war, es noch nötig, auch ›die Ähnlichkeit‹ wieder zu bekommen (țĮ IJઁ țĮș’ ȝȠȦıȚȞ ਕʌȠȜĮȕİȞ; vgl. Gen 1, 26 LXX). Der Logos wurde in die Welt gesandt, um dieses zu vollenden (IJİȜİıȚȠȣȡȖોıĮȚ) […]«. Doch die Zeitangabe IJઁ į ʌĮȜĮȚંȞ bezieht sich nicht auf den Urstand vor aller Zeit, sondern vielmehr auf die verschiedenen Entwicklungsstadien der Menschheit nach dem Sündenfall von der Zeit Abrahams über die Zeit der Propheten bis zur Zeit unmittelbar vor Christi Geburt (symp. I, 2, 16–3, 22); siehe Bracht (1999), 44 f. 32 Vgl. symp. III, 7, 66–69.
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theorie und Affektenlehre ausführt, die Begierde in den Menschen hinein kommt. Ein Beispiel in Anknüpfung an Methodius selbst: Sieht jemand z. B. ein schönes Mädchen oder einen anziehenden jungen Mann, dann kommt durch die Augen die Begierde danach in ihn hinein. Dafür kann der Mensch nichts, und dafür braucht er sich folglich nicht zu verantworten. Schuldig wird er erst dann, wenn er sich kraft seiner Willensfreiheit (ĮIJİȟȠıȚȠȞ) dafür entscheidet, dieser Begierde gemäß zu handeln33 – und das tut jeder Mensch, wie Methodius unter Berufung auf die Empirie voraussetzt.34 Im genannten Beispiel reicht es schon, dem oder der Begehrten schamlose Blicke nachzusenden.35 Methodius misst der persönlichen Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zentrale Bedeutung für den Verlust seiner ursprünglichen Vollkommenheit zu, denn dieser Vorgang vollzieht sich in jedem einzelnen Menschen neu; jeder Mensch erlebt durch seine eigenverantwortliche Willensentscheidung seinen eigenen Sündenfall.36 Durch diese Willensentscheidung wendet er sich aktiv von Gott ab. Danach setzt ein Habitualisierungsprozess ein: Der Mensch ist immer mehr geneigt, sich der Begierde, die nun in ihm wohnt, zuzuwenden. Er kommt gewissermaßen in einen Strudel von Geisteshaltungen und Handlungen gegen Gottes Willen, in einen Strudel von Lastern und sündigen Taten, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. So kehrt er sich immer mehr von Gott ab. Mit seinem individuellen Sündenfall verliert er seine ursprüngliche Vollkommenheit. Das drückt sich darin aus, dass er vergänglich, sterblich ist.37 3.3 Wiedergewinnung der menschlichen Vollkommenheit Doch der Mensch kann Vollkommenheit wiedergewinnen. Darum geht es in Methodius’ Ausführungen zum zweiten Schritt der Heilsgeschichte, der Wiedergewinnung der ursprünglichen menschlichen Vollkommenheit. Auch hier sind das Verständnis des Menschen als eines Wesens, das sich von dem her bestimmt, was in seinem Inneren ist, und die Anlehnung an die stoische Handlungstheorie von grundlegender Bedeutung: Prinzipiell gewinnt der Mensch seine ursprüngliche Vollkommenheit zurück, indem er das absolut Vollkommene, das Göttliche, in sein Inneres aufnimmt. Das geschieht in der Taufe, indem Christus in den _____________ 33 34 35 36 37
Diese Entscheidung ist »ਥij’ ਲȝȞ« (res. II, 3, 1.4); vgl. Bracht (1999), 90–92. Meth. aut. III,1–5; symp. I, 4, 23; siehe dazu Bracht (1999), 42–46. Vgl. Röm 5, 12. Vgl. symp. V, 4, 118. Konsequenterweise kennt Methodius keine Erbsündenlehre, siehe Bracht (1999), 97–105. Vgl. res. II, 6, 2: Die Menschen, d. h. »wir«, die Gott ungehorsam waren, sind des Einhauches Gottes entleert (țİȞȦșȞIJİȢ [...] IJȠ૨ ਥȝijȣıȝĮIJȠȢ IJȠ૨ șİȠ૨) und mit der Begierde erfüllt, die der Teufel einhaucht. Der Einhauch Gottes ist für Methodius mit Gen 2, 7 der Geist des Lebens, durch den Gott den Menschen lebendig macht (ਥȞİijıȘıİȞ [sc. șİઁȢ] İੁȢ IJઁ ʌȡંıȦʌȠȞ ĮIJȠ૨ ʌȞȠȞ ȗȦોȢ, Gen 2, 7 LXX).
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Menschen eindringt und in ihm »Wohnung nimmt« (symp. III, 4, 60), zusätzlich zur Begierde kraft des Wirkens des Heiligen Geistes.38 Nun setzt wiederum, analog zum Verlust der ursprünglichen Vollkommenheit, ein Habitualisierungsprozess ein: Wenn der Getaufte sich kraft seiner Entscheidungsfreiheit (ĮIJİȟȠıȚȠȞ) dafür entscheidet, Christus gemäß zu handeln, dann entsteht in ihm eine Neigung, sich immer mehr dem Göttlichen zuzuwenden. Er gerät nun gewissermaßen in einen Aufwind von Geisteshaltungen und Handlungen, die Gottes Willen gemäß und gehorsam sind, in einen Aufwind von Tugenden und guten Taten. Im Hinblick auf dieses Stadium der Heilsgeschichte folgt Methodius einem Fortschritts- bzw. Entwicklungsgedanken, wie er im Neuen Testament unter der Bedeutung »erwachsen, reif« für IJȜİȚȠȢ angelegt ist: Menschen können sich in dem Grad ihrer Vollkommenheit steigern, sie »wachsen« in der Taufvollkommenheit. Dementsprechend verwendet Methodius in diesem Zusammenhang den Komparativ IJİȜİȚંIJİȡȠȢ.39 Die Vervollkommnung des getauften Menschen ist ein dynamischer Prozess.40 Methodius stellt ihn in seiner Schrift Symposium – in Aufnahme und Abgrenzung vom platonischen Symposium, in dem es um den Eros geht41 – _____________ 38 Methodius bezeichnet deshalb den Hl. Geist auch als »Tröster und Vollender unserer Seelen« (res. III, 23, 8; f. 167r). – Methodius verwendet zur Bezeichnung desselben Sachverhalts auch das Bild, dass der Herr den Menschen »anzieht wie ein Kleid« (symp. III, 6, 64 f.), in Umkehrung des paulinischen Bildes, dass der Mensch in der Taufe Christus anzieht (Gal 3, 27; Röm 13, 14). 39 Vgl. besonders symp. III, 8, 73–75; res. III, 13, 1–6; vgl. Bracht (1999), 293–301. 40 Dieser Prozess verläuft nicht ohne die Gefahr, dass der Mensch durch eine falsche Entscheidung für die Begierde, die immer noch in seinem Innern wohnt, vom Fortschritt der Vervollkommnung abgebracht wird, wie Methodius’ Ausführungen zum Thema der Buße in der Schrift De lepra zeigen; vgl. Bracht (1999), 277–293. 41 Zur Vergleichbarkeit des platonischen und des methodianischen Symposium siehe Voss (1970), 91–134, besonders 102–115; Bracht (1999), 174–206; Zorzi (2003), 106–14. Der Aufsatz von Bril (2005) hingegen trägt nichts aus, denn Bril erfasst u. a. infolge seiner Unkenntnis der o. g. Sekundärliteratur Methodius’ bewusste Variation des platonischen Symposium nicht. Er fragt nach Methodius’ Kenntnis des Symposiums als sozialer Institution in der klassischen Antike und seinem Gebrauch des Symposiums als literarischer Gattung (281). Obwohl der eigentliche Vergleichspunkt im regionalen Usus von Symposia in Kleinasien zur Zeit des Methodius gelegen hätte, geht er darauf nicht ein, sondern behandelt »aus Bequemlichkeit« (!) die Symposia verschiedener Zeiten und Regionen als eine einheitliche Tradition (»It is simply a matter of convenience that I treat the classical, archaic, and regional symposia as a unified tradition […]«, 282). Bril wirft Methodius »Unkenntnis der echten Symposion-konventionen« (302) und ein Scheitern in dramatischer und künstlerischer Hinsicht vor, das er auf »the author’s meagre literary talents and […] his ignorance of genuine sympotic custom« zurückführt (299; vgl. 302). Bril schließt mit der richtigen Vermutung, dass Methodius die Gattung des literarischen Symposiums aus Gründen der literarischen Anspielung (301) und inhaltlichen Bezugnahme gewählt habe (302, angeregt durch eine Internet-Veröffentlichung von Maria Benedetta Zorzi [2003]). Doch statt sich in angemessener Tiefe auf die damit verbundene inhaltliche Frage einzulassen, »why Methodius chose to set his theological, ascetical and exegetical expositions in a sympotic dialogue« (301), vermutet er in oberflächlicher Weise ein Schwimmen auf der Welle einer zeitgenössischen Mode, die Gattung des philosophischen Dialogs zu wählen (301), in Verbindung mit einer schlichten Faszination durch platonische
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anhand der Tugend der Jungfräulichkeit (ʌĮȡșİȞĮ) dar. Er beschreibt die, die sich zu einem jungfräulichen, ehelosen Leben entschieden haben, als wohlbeschwingt (İʌIJİȡȠȚ; symp. VIII, 2, 173)42; Flügel der Besonnenheit (symp. VIII, 1, 172) tragen sie aufwärts in das »überweltliche Land des Lebens« (symp. VIII, 2, 173). Aufwärts strebend sehen sie von weitem die »Auen der Unvergänglichkeit« (symp. VIII, 2, 173),43 die im weiteren Verlauf des Textes als das Göttliche selbst umschrieben werden (symp. VIII, 3, 175 f.).44 Die Schau Gottes, die șİȦȡĮ, ist bei Methodius wie seinen Vorgängern Clemens von Alexandrien45 und Origenes46 mystischer Ausdruck der ungeteilten Zuwendung zu Gott. So schreitet die Jungfräulichkeit einerseits auf der Erde, berührt andererseits jedoch den Himmel (symp. I, 1, 11).47 Diesen Aufstieg vom Irdischen zum Himmlischen, von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, können alle Getauften erstreben. Dabei sind die, die jungfräulich leben, die ersten, die im Eschaton das ewige Leben erlangen werden (symp. VIII, 2, 175). Doch auch diejenigen, die zwar verheiratet sind, aber mit ihrem Ehegatten in Reinheit (ਖȖȞİĮ), d. h. besonnen und ohne sexuelle Ausschweifungen leben, werden an der eschatologischen Neuschöpfung teilhaben und die Unsterblichkeit erlangen (symp. IX, 4, 251 f.).48 Der Stand der Jungfrauen bzw. der asketisch Lebenden im strengen Sinne unterscheidet sich im Hinblick auf die Vollkommenheit also nur graduell von verheirateten und dabei enthaltsamen Christen.49 Diejenigen jedoch,
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Form und Sprache (302). Infolgedessen scheitert Bril selbst daran, das Anliegen und die Aussagen des Methodius wahrzunehmen. Vgl. symp. VIII, 2, 174: »IJ IJોȢ ʌĮȡșİȞĮȢ ʌIJİȡ«. Die Auferstehungsgewissheit stärkt die Jungfrauen zum Martyrium, wenn es nötig sein sollte (symp. VIII, 2, 174). Diese Stelle macht deutlich, wie theologisches Nachdenken und christlicher Lebensvollzug in bezug auf die Vollkommenheitsthematik in der Alten Kirche zusammenhängen. Vgl. unten 4.1 zum Martyrium. Siehe Bracht (1999), 203. Vgl. Clem. str. I, 178, 1 und besonders str. VII, 10, 1–3; str. VI, 61, 2 f. Siehe Völker (1931), der jedoch begrifflich nicht zwischen șİȦȡĮ und Gnosis unterscheidet, siehe z. B. Völker (1931), 193 zu Or. Jo. I, 16, 20, 9 ff. Symp. I, 1, 11: »ʌĮȡșİȞĮȞ Ȗȡ ȕĮȞİȚȞ ȝȞ ਥʌ ȖોȢ, ਥʌȚȥĮİȚȞ į IJȞ ȠȡĮȞȞ ਲȖȘIJȠȞ«. – Vgl. bei Greg. Nyss. virg. II, 255, 4–13 Cavarnos das sehr ähnliche Bild der Jungfräulichkeit (IJોȢ ʌĮȡșİȞĮȢ ਲ įȞĮȝȚȢ), die den Menschen »zum Streben nach den himmlischen Dingen beflügelt« und »in etwa ein Bindeglied für die Vertrautheit zwischen Mensch und Gott« sei (IJઁȞ į ਙȞșȡȦʌȠȞ ਥȞ ਦĮȣIJ ʌȡઁȢ IJȞ IJȞ ȠȡĮȞȦȞ ਥʌȚșȣȝĮȞ ʌIJİȡȠ૨ıĮ țĮ ȠੂȠȞİ ıȞįİıȝંȢ IJȚȢ ȖȚȞȠȝȞȘ IJોȢ ਕȞșȡȦʌȞȘȢ ʌȡઁȢ IJઁȞ șİઁȞ ȠੁțİȚઆıİȦȢ). Mit Zitat von 1Kor 7, 29. Vgl. symp. VII, 3, 155.157 f., besonders 155: »Es soll aber niemand annehmen, dass die andere Menge der Gläubigen ausgestoßen werde, und meinen, dass wir Jungfrauen allein hineingeführt würden, um bereitet zu werden für die Verheißung« (ȝ ਫ਼ʌȠȜĮȝȕĮȞIJȦ į IJȚȢ ਕʌȠțȡȠİıșĮȚ IJઁȞ ਪIJİȡȠȞ ȝȚȜȠȞ IJȞ ʌİʌȚıIJİȣțંIJȦȞ, įંȟĮȢ ਲȝ઼Ȣ IJȢ ʌĮȡșȞȠȣȢ ȝંȞĮȢ İੁıȘȖİıșĮȚ IJİȣȟȠȝȞĮȢ IJોȢ ਥʌĮȖȖİȜĮȢ).
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die ein lustbetontes, sexuell aktives Eheleben führen, sind ebenso wie diejenigen, die unzüchtig sind, davon ausgeschlossen (symp. IX, 4, 252).50 Eine zentrale Rolle im Prozess des Vollkommenwerdens spielt bei Methodius der soziale Aspekt. Anders als beim Verlust der ursprünglichen Vollkommenheit, der der Willensentscheidung des Einzelnen zuzuschreiben ist, kommt bei der Wiedergewinnung der Vollkommenheit die Gemeinschaft der Gläubigen, die darin schon einen gewissen Fortschritt erzielt haben und als »Vollkommenere« bezeichnet werden, zum Tragen: die Kirche (symp. III, 8, 73).51 Sie ist, wie er in allegorischer Auslegung von Apk 12, 1–6 erläutert, eine wirkmächtige Größe, die von den Gläubigen unterschieden ist (symp. VIII, 5, 183); sie übersteigt die bloße Summe ihrer Glieder. Methodius verwendet sowohl in symp. III, 8 als auch in symp. VIII, 5 das Bild der Kirche als Mutter:52 Dadurch, dass die »Vollkommeneren« aufgrund ihrer vollkommenen Reinheit und ihres vollkommenen Glaubens (»įȚ IJȞ IJİȜİĮȞ țșĮȡıȚȞ țĮ ʌıIJȚȞ«) Kirche werden, sind sie zugleich die hilfreiche Lebensgefährtin Christi53. Als solche nehmen sie – jungfräulich – gewissermaßen den reinen und zeugungskräftigen Samen der Lehre in sich auf54 _____________ 50 Der Vorwurf von Mühlenberg (2006), 118 Anm. 277 mit Bezug auf Bracht (1999), 252, »daß K. Bracht gegen den Text (Symp. IX 4, 252) behauptet, auch die Verheirateten besäßen die Virginität; der folgende und nicht zitierte Text stellt fest, daß nur die absolute Virginität die Unvergänglichkeit erlangt«, trifft nur in seinem ersten Teil zu. Meine »Behauptung« hat ihren Grund in der impliziten Annahme, dass die Begriffe ʌĮȡșİȞĮ und ਖȖȞİĮ im methodianischen Symposium synonym verwendet würden. Hier macht Mühlenbergs Kritik zu Recht darauf aufmerksam, dass diese angenommene Synonymität zu hinterfragen und eine präzise Bestimmung des Wortfeldes um ʌĮȡșİȞĮ und ਖȖȞİĮ bei Methodius ein Desiderat ist. Darüber hinaus sollten im Rahmen dieser Wortfeldbestimmung auch die Begriffe ıȦijȡȠıȞȘ und ਥȖțȡIJİȚĮ berücksichtigt werden. Der zweite Teil des Vorwurfs hingegen ist ungerechtfertigt, weil er nicht wahrnimmt, dass ich in der fraglichen Passage im Anschluss an den Quellentext zwischen den Verheirateten, die ihr Eheleben rein gestalten (»Ƞੂ ʌȡઁȢ IJȢ ਦĮȣIJȞ ਖȖȞİȠȞIJİȢ ȖĮȝİIJȢ«; IX, 4, 251), und jenen, die in ihrer Ehe lustbetont sexuell aktiv sind (»Ƞੂ ȠੁıIJȡȘȜĮIJȠȝİȞȠȚ«; IX, 4, 252), differenziere. Vielmehr ist es nicht allein die »absolute Virginität« im Sinne eines jungfräulichen Lebens von Anfang an, sondern auch die Reinheit in der Ehe (hier als Enthaltsamkeit zu verstehen, wie angedeutet durch ein Zitat von 1Kor 7, 29; symp. IX, 4, 252), die das »große Fest der wahren Laubhütten in der neuen und unvergänglichen Schöpfung« (symp. IX, 1, 236) mitfeiert, wenn sie auch nur kleinere Zweige zum Schmuck der Laubhütte beitragen kann (symp. IX, 4, 252); vgl. auch van Eijk (1972), 222. In symp. VIII, 2, 173 nennt Methodius sogar die Kindererzeugung »in Sittsamkeit und Besonnenheit« (ȝİIJ’ ĮੁįȠ૨Ȣ țĮ ıȦijȡȠıȞȘȢ) als eine Möglichkeit, die diejenigen wählen können, die den jungfräulichen Lebensstil nicht einzuhalten vermögen; dagegen verwirft er ein Ausleben der erotischen Lüste. 51 Ausführlich zu diesem Themenbereich Bracht (1999), 293–296. 52 Symp. III, 8, 71–75; vgl. symp. VIII, 5, 183 f. (explizite Erwähnung der ਥțțȜȘıĮ in VIII, 5, 184). Zur Kirche als Mutter bei Methodius siehe Plumpe (1943), 109–22. Zu den hier in Frage stehenden beiden Textstellen siehe auch Montserrat-Torrents (1986). 53 Wörtlich »Hilfe« bzw. »Gehilfin« (ȕȠȘșંȢ; symp. III, 8, 73) in Aufnahme von Gen 2, 18 LXX, wo Eva als Adams »Gehilfin« bezeichnet wird. 54 Methodius verwendet in diesem Kontext eine ausgesprochen sexuell gefärbte Sprache, wie Ralph Norman in seinem lesenswerten Aufsatz hervorhebt: Norman (2006), 84–87. Norman diskutiert verschiedene methodische Ansätze u. a. aus der feministischen Theologie und den Men’s Studies zur Interpretation der fraglichen und verwandter Stellen bei Methodius. Er
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und helfen mit bei der Verkündigung, die den Übrigen zum Heil verhelfen soll. Auf diese Weise tragen sie die, die noch unvollkommen (ਕIJİȜİȢ) und Anfänger in den christlichen Lehren sind, wie Schwangere im Mutterleib, bis sie dann in der Taufe »zur Größe und Schönheit der Tugend« (İੁȢ ȝȖİșȠȢ țĮ țȜȜȠȢ ਕȡİIJોȢ) (wieder-)geboren werden55. Dann zählen sie selbst zu den Fortgeschrittenen, sind nun Teil der Kirche und wirken daran mit, weitere »Kinder« als Katechumenen heranwachsen zu lassen und in der Taufe zu bekennenden Christen zu gebären (symp. III, 8, 74). Diese hier paraphrasierte Passage zeigt, dass es Methodius zufolge dem Menschen nicht möglich ist, alleine die Vollkommenheit wiederzugewinnen. Vielmehr bedarf er der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, um in ihr als Katechumene so weit heranzureifen, dass er die Taufe als Zueignung der Vollkommenheit empfangen kann. Aufgabe der Kirche ist hierbei im Besonderen die Verkündigung der christlichen Lehre; hier findet sich ein Widerhall der neutestamentlichen Konnotation von IJȜİȚȠȢ: »vollendet sein im Lernen«. 3.4 Vollendung der menschlichen Vollkommenheit Damit ist schon die letzte Phase des heilsgeschichtlichen Dreischritts angesprochen: Die Vollendung der menschlichen Vollkommenheit nach aller Zeit. Voraussetzung dafür ist der individuelle Tod mit der Verwesung des natürlichen Leibes, durch den die Begierde, die durch die Einfallstore der Sinnesorgane in den Menschen hineinkam, endgültig ausgerottet wird.56 Dann wird der vollkommene Schöpfergott den Getauften neu schaffen: als denselben, den er schon in der ersten Schöpfung geschaffen hatte,57 doch nun mit einem »geistigen« Leib in dem Sinne, dass er mit dem göttlichen Geist erfüllt ist.58 Dann _____________ 55 56 57
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würdigt das Symposium als Möglichkeit und Chance, einen ganz anderen Rahmen kultureller Erwartungen und Konstruktionen von Sexualität als den heute gültigen zu erforschen (100). ਝȞĮȖİȞȞȘșıȚȞ (symp. III, 8, 74), bei Methodius wie auch sonst in der Alten Kirche ein terminus technicus für die Taufe, siehe PGL 97, dort u. a. mit Bezug auf Meth. symp. III, 8, 71. Deshalb bezeichnet Methodius den leiblichen Tod als ein »Heilmittel« (ਕȜİȟȚijȡȝĮțȠȞ; res. I, 31, 5; I, 42, 3; ijȡȝĮțȠȞ; res. I, 45, 6). Methodius geht im Sinne einer creatio continua davon aus, dass Gott nicht nur die Anfangsschöpfung wirkte, sondern dass er noch immer jeden Menschen schafft; siehe z. B. symp. II, 1, 29–33; II, 6, 44–46. Diese creatio continua zählt zur ersten Schöpfung in Abgrenzung von der eschatologischen Neuschöpfung. Res. III, 16, 8 f. (f. 160r der in Anm. 25 genannten Handschrift). Methodius grenzt sich damit von Origenes’ Verständnis des Auferstehungsleibes ab, wie er es seinem Kommentar zu Ps 1, 5 entnimmt, aus dem er eine längere Passage zitiert (Meth. res. I, 20–24; das Fragment nur hier erhalten). Origenes wendet sich hier gegen ein materialistisches Verständnis der Auferstehung in dem Sinne, dass der menschliche Körper in seiner gesamten jetzigen materiellen Substanz auferstehe. Vielmehr garantiere die Form (IJઁ İੇįȠȢ) des Körpers, die trotz der flussartigen steten Veränderung des Leibes die Kontinuität des Menschen in seinen verschiedenen Altersstufen, von der Kindheit bis zum Alter bewahre, auch die Identität zwischen irdischem Leib und
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trägt der Mensch ausschließlich das Vollkommene in sich und ist deshalb selbst vollkommen. Damit hat er die Vollkommenheit wiedererlangt, die er aufgrund seines Sündenfalls verloren hatte, und ist wieder unsterblich – in gewissem Sinne sogar göttlich (symp. VIII, 3, 177).59 Methodius betont, dass Gott es ist, der den Prozess der Vervollkommnung zum Abschluss bringt, indem er durch den erneuten Schöpfungsakt den radikalen Bruch des leiblichen Todes überwindet. So ist die Vollendung der Taufvollkommenheit im Eschaton genauso wie zunächst die ursprüngliche Vollkommenheit und dann die wiederhergestellte Taufvollkommenheit des Menschen eine Vollkommenheit įȚ șİંȞ, eine Vollkommenheit aufgrund von Gottes Wirken. Sie unterscheidet sich von jenen dadurch, dass sie dem in der Auferstehung neu geschaffenen Menschen als eine vollendete, unverlierbare Vollkommenheit gegeben ist.60 3.5 Vollkommenheit und Schönheit bei Methodius von Olympus Schönheit (țȜȜȠȢ țIJȜ.) gehört bei Methodius zu dem Wortfeld rund um den Begriff Vollkommenheit (IJȜİȚȠȢ țIJȜ.). Der Begriff kommt in auffälliger Häufung im Symposium vor, in dem Methodius über die Jungfräulichkeit (ʌĮȡșİȞĮ) handelt, die ebenfalls aufs Engste mit seinem Begriff der Vollkommenheit zusammenhängt (s. o.). Diese Häufung erklärt sich daraus, dass Methodius diese Schrift in Aufnahme und Abgrenzung vom platonischen Symposium geschrieben hat, in dem das Schöne eine besondere Rolle spielt: Das Streben der Menschen in Form des Eros richtet sich bei Platon auf die schönen Dinge (IJ țĮȜ; Plat. symp. 204d). Das Schöne an sich (ĮIJઁ IJઁ țĮȜંȞ; 211d) bzw. das göttliche Schöne (IJઁ șİȠȞ țĮȜંȞ; 211e) ist Inhalt der Schau am _____________ Auferstehungsleib (res. I, 22, 3 f.). Ausgehend von diesem Gedanken stellt Origenes die These auf, dass der Körper jeweils passend zur Umgebung der Seele gestaltet sei: So, wie wir Kiemen und Flossen haben würden, wenn wir Menschen im Meer leben würden, so benötigen auch die, die das Himmelreich erben, einen Leib, der unter Wahrung des İੇįȠȢ eben jener Umgebung angepasst ist, nämlich einen geistigen Leib (res. I, 22, 5; vgl. princ. III, 6, 4, wo Origenes aus 2Kor 5, 1 darauf schließt, »wie rein, wie fein und wie herrlich die Beschaffenheit dieses Körpers« [»quantae puritatis, quantae subtilitatis quantaeque gloriae sit qualitas corporis illius«], nämlich des geistigen Körpers, im Vergleich mit den jetzigen Körpern, ja selbst mit den leuchtenden Himmelskörpern sein muss). 59 Diejenigen, die von den Früchten in den »Auen der Unvergänglichkeit« (symp. VIII, 2, 173) pflücken und essen, erhöhen sie zur Unsterblichkeit und Göttlichkeit (İੁȢ ਕșĮȞĮıĮȞ ĮȟİȚȞ țĮ șİȚંIJȘIJĮ; symp. VIII, 3, 177). Hier klingt die Vorstellung der ȝȠȦıȚȢ șİ bzw. similitudo Dei an, die schon bei Origenes, princ. III, 6, 1 in seiner Auslegung von Gen 1, 26–28 angelegt ist und später große Wirkung entfalten sollte: Der Mensch habe bei der ersten Schöpfung zwar die Würde des Bildes (dignitas imaginis) empfangen, die Vollendung der Ähnlichkeit (perfectio similitudinis) jedoch sei dem Ende vorbehalten; der Mensch könne sie sich durch Nachahmung Gottes (ex imitatione Dei) erwerben. 60 Vgl. Aug. ciu. XXII, 30 (667, 10–12 Hoffmann II), der freilich von einem ersten Sündenfall Adams ausgeht, nicht von einem jeweils individuell zu verantwortenden Sündenfall.
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Zielpunkt des stufenweisen Aufstiegs. Platon bezeichnet sie als »die vollkommenen Dinge« (IJ IJȜİĮ) im Gegensatz zu den »Liebesangelegenheiten« (IJ ਥȡȦIJȚț; 209e–210a).61 Bei Methodius wird Schönheit in Aufnahme des platonischen Themas sowohl von Gott bzw. Christus ausgesagt als auch im Zusammenhang mit den anthropologischen Vollkommenheitsphasen verwendet. Im Zusammenhang der Erschaffung des Menschen spricht Methodius vom Schöpfergott als dem »ungewordenen Schönen« (IJઁ ਕȖȞȞȘIJȠȞ țȜȜȠȢ; symp. VI, 1, 133). Christus, sein Ebenbild (symp. VI, 1, 134), wird als schön adressiert (symp. XI, 285), wie auch die Worte Christi blühend-kräftig (੪ȡĮȠȢ) sind in Bezug auf die Schönheit (symp. IX, 3, 246). Christus gilt als das unvergängliche Schöne (ਕİȝȞȘıIJȠȞ țȜȜȠȢ), das sich mit den Seelen vereinigt, so dass sie wachsen, weil sie das Schöne in sich tragen (symp. VII, 4, 159). Der prolapsarische Mensch in seiner ursprünglichen Vollkommenheit ist ebenfalls durch Schönheit charakterisiert. Methodius denkt die Schöpfung als eine creatio continua, in der Gott das Entstehen jedes Menschen im Mutterleib wie auch sein Heranwachsen nach der Geburt bewirkt. Gott selbst verwandelt so jedes schwache, kleine Neugeborene zu Größe, Schönheit und Kraft (İੁȢ ȝȖİșȠȢ țĮ țȜȜȠȢ țĮ ૧આȝȘȞ; symp. II, 6, 4562). Auch in der heilsgeschichtlichen Phase der Wiedergewinnung der Vollkommenheit werden die entscheidenden Größen mit dem Begriff der Schönheit bezeichnet. Zum einen nimmt Methodius auf die Schönheit der Kirche Bezug, die die Voraussetzung zur Wiedererlangung der Vollkommenheit schafft, indem sie die christliche Lehre verkündigt und die Katechumenen zur Taufe heranzieht (symp. III, 8, 71; VIII, 5, 185), zum anderen verwendet er den Begriff țȜȜȠȢ wiederholt, um die Schönheit der Tugenden, insbesondere der Jungfräulichkeit und Reinheit, auszudrücken, die der Aneignung der Taufvollkommenheit und dem Wachsen in ihr dienen63. Schließlich bezeichnet Methodius u. a. mit dem Begriff der Schönheit die eschatologische Vollkommenheit, sowohl im Zusammenhang metaphorischer Schilderungen der »Auen der Unvergänglichkeit« (symp. VIII, 2, 173)64 als auch des Inhalts der eschatologischen Schau des Vollkommenen, der șİȦȡĮ (symp. VIII, 3, 175 f.), _____________ 61 Auf den Einfluss des platonischen Symposium auf das frühchristliche Nachdenken über das Schöne macht Sherry (1999), 240 f. aufmerksam, jedoch ohne Hinweis auf Methodius von Olympus. 62 Vgl. symp. VI, 1, 133 f. 63 Symp. prol., 5: Beschreibung der Philosophia, Tochter der Arete; III, 8, 74: Schönheit der Tugend (»țȜȜȠȢ ਕȡİIJોȢ«); IV, 5, 104: »IJઁ [...] IJોȢ ʌĮȡșİȞĮȢ [...] țȜȜȠȢ«; VII, 7, 164: im Rahmen einer allegorischen Auslegung von Cant 6,8 f. bezeichnet Methodius die Kirche als die vollkommene und auserwählte Braut, die an Schönheit der Blüte (des Lebens) und der Jungfräulichkeit alle übertrifft (»ਲ ਫ਼ʌİȡȕȜȜȠȣıĮ ȞȝijȘ IJ țȜȜİȚ IJોȢ ਕțȝોȢ țĮ IJોȢ ʌĮȡșİȞĮȢ ʌıĮȢ«); X, 1, 258: die Schönheit der Reinheit (ਖȖȞİĮ). Vgl. Clem. str. 5, 14, 97, 5 unter Berufung auf den platonischen Protagoras: die Tugend sei die Schönheit der Seele (»IJȞ Ȗȡ ਕȡİIJȞ IJઁ țȜȜȠȢ IJોȢ ȥȣȤોȢ ijȘ İੇȞĮȚ«; vgl. Plat. Prot. 309 cd). 64 Vgl. symp. prol., 8.
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und der Beschreibung des auferstandenen, vollendeten Menschen, der von englischer Größe und Schönheit sein wird (symp. IX, 5, 255). 3.6 Zusammenfassung An der Anthropologie des Methodius von Olympus ließ sich exemplarisch studieren, wie in der Alten Kirche die Implikationen, die der Vollkommenheitsbegriff im neutestamentlichen Sprachgebrauch enthält, expliziert und weiterentwickelt werden konnten. Methodius expliziert die Differenzierung innerhalb des Vollkommenheitsbegriffs, die bereits im Neuen Testament angelegt ist, indem er die Vollkommenheit Gottes als eine Vollkommenheit aufgrund seiner selbst bestimmt, wohingegen die menschliche Vollkommenheit von der göttlichen abgeleitet sei. Er nimmt die teleologisch-eschatologischen Konnotationen des neutestamentlichen Vollkommenheitsbegriffs auf, indem er seine Darstellung der Heilsgeschichte anhand der anthropologischen Schlüsselkategorie von Verlust, Wiedergewinnung und Vollendung menschlicher Vollkommenheit entwickelt. Maßgeblich nimmt er dabei den neutestamentlichen Bedeutungsstrang »ganz, ungeteilt« im Sinne von Vollkommenheit als ungeteilter Zuwendung zu Gott auf. Der andere neutestamentliche Bedeutungsstrang »erwachsen, reif« kommt in Methodius’ Ausführungen zur zweiten heilsgeschichtlichen Phase im Zusammenhang des Wachsens in der Taufvollkommenheit zum Tragen. Wie das Neue Testament versteht Methodius Vollkommenheit als Anspruch und Zuspruch für alle Christen, doch kennt er innerhalb der Breite der Christenheit die Jungfrauen bzw. asketisch Lebenden als einen herausgehobenen Stand, der sich graduell, nicht qualitativ von den anderen Christen unterscheidet. Vollkommenheit ist für Methodius wesentlich auf das Individuum bezogen; ein sozialer Aspekt spielt nur im Zusammenhang der Wiedergewinnung der menschlichen Vollkommenheit eine Rolle. Vor allem im methodianischen Symposium ist der Begriff der Schönheit eng mit dem der Vollkommenheit verbunden.
4. Vollkommenheit in altkirchlichen Lebensvollzügen 4.1 Martyrium Das neutestamentliche Verständnis von Vollkommenheit als Liebe und Zuwendung zu Gott von ganzem Herzen hat schon früh seinen praktischen Niederschlag in besonderen christlichen Lebensvollzügen gefunden, zunächst im Martyrium, dann im Mönchtum. Das Sterben in der Christenverfolgung um des Bekenntnisses zu Christus willen wurde als »vollendet werden« (gr. IJİȜİȚંȦ
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pass.) bezeichnet.65 Man glaubte, dass die Märtyrer nach ihrem leiblichen Tod sofort zum ewigen Leben auferweckt würden.66 Das Martyrium wurde als Ausdruck der ungeteilten Liebe zu Gott interpretiert,67 die sich aktiv von allen irdischen Werten abwandte, um sich ganz Gott zuzuwenden. Besonders eindrücklich schildert im Jahr 203 eine karthagische Märtyrerin namens Perpetua diese Abkehr in ihrem Tagebuch, das in der Passio sanctarum Perpetuae et Felicitatis erhalten ist (pass. Perp. et Felic. 3–10):68 Als sie sich um ihres Bekenntnisses zu Christus willen den Tieren vorwerfen lässt, lässt sie ihren greisen Vater, ihre Mutter, Geschwister und ihren Säugling zurück, den sie noch stillt. In eindrücklichen Passagen führt der Vater ihr ihre familiären Bindungen, vor allem ihre Verantwortung gegenüber ihrem kleinen Sohn vor Augen, der ohne sie nicht leben könne (5, 3). Perpetua leidet an der Sorge um ihre Familie (3, 8 f., 5, 6; 6, 5; 9, 3), doch sie löst sich innerlich zunehmend und stellt ihr Schicksal unter den Willen Gottes (5, 6).69 Schließlich geht sie freudig (18, 1; 20, 5) wie eine Gattin Christi (18, 2), d. h. aus reiner Liebe zu Christus in den Tod. Ihre Lösung aus den irdischen Bindungen führt Perpetua selbst auf die Gnade Gottes zurück. Das illustriert folgende Szene: Perpetua durfte ihren kleinen Sohn zum Stillen im Gefängnis bei sich haben, doch als es zur Gerichtsverhandlung kommt, passt die Familie währenddessen auf das Kind auf. Als Perpetua aufgrund ihrer _____________ 65 ȉİȜİȦıȚȢ, IJȜİȚȠȢ und das Passiv von IJİȜİȚȠ૨Ȟ gehörten als termini technici zum Martyrium, siehe den Boeft/Bremmer (1982), 385–387; Couilleau (1984), 1082. Für IJİȜİȚંȦ pass. zur Bezeichnung des Todes von Märtyrern siehe z. B. Euseb, h.e. 5, 2, 3; 5, 16, 22; 6, 2, 12; 6, 3, 13; 8, 10, 9; Ath. v. Anton. 46, 2; IJȜİȚȠȢ zur Bezeichnung von Märtyrern siehe z. B. Euseb h.e. 5, 2, 5; 7, 11, 24; 7, 22, 4. Vgl. Aug. enarr. in Ps. 67, 36 (PL 36, 835): »Perfectio tamen in hac vita nonnulla est, ad quam sancti martyres pervenerunt.« 66 Oft zum Ausdruck gebracht mit der Redewendung, dass die Märtyrer den »Kranz der Unsterblichkeit/Unvergänglichkeit« ( ıIJİijĮȞઁȢ IJોȢ ਕijșĮȡıĮȢ; z. B. M.Polyc. 19, 2) erlangen; vgl. pass. Perp. et Felic. 10, 12 f. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Märtyrer in der Arena als Sieger aus dem Kampf mit dem Teufel, der sie von Gott abwenden will, hervorgehen, siehe z. B. pass. Perp. et Felic. 10, 14. Vgl. auch Mart. Scil. 15: Einer der Märtyrer von Scili antwortet auf die Verlesung des Todesurteils mit den Worten: »Hodie martyres in caelis sumus. Deo gratias.« 67 Vgl. M. Polyc. 17, 3; Clem. str. IV, 4, 14, 3. 68 Die folgende Zusammenfassung basiert auf dem lateinischen Text der Edition von van Beek (1936); hingewiesen sei auf die jüngste Edition, verbunden mit einer Übersetzung ins Italienische und Anmerkungen, von Formisano (2008). Zur Lokalisierung und Datierung siehe Habermehl (2004), 37–43. – Vom 9.–11. Juli 2007 fand an der Humboldt-Universität Berlin unter der Leitung von Marco Formisano (Berlin) und Jan N. Bremmer (Groningen) eine Tagung zum Thema »Perpetua’s Passions. Pluridisciplinary Approaches to the Passio Perpetuae et Felicitatis (3rd century AD)« statt, deren Beiträge jedoch bei Abschluss dieses Aufsatzes noch nicht veröffentlicht vorlagen und deshalb an dieser Stelle leider nicht einbezogen werden konnten. 69 Der innere Prozess der Loslösung von der Welt wird auch in den Träumen bzw. Visionen deutlich, die Perpetua während ihrer Gefangenschaft hat (pass. Perp. et Felic. 4, 3–9; 7, 4–8; 8, 1–4; 10, 1–13). Diese Passagen sind in der Forschung vor unterschiedlichen Hintergründen interpretiert worden, siehe z. B. von Franz (2004) (psychologisch); Salisbury (1997), 98–112 (traditionskritisch); Habermehl (2004), 74–103 (philologisch-literaturwissenschaftlich).
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beständigen Weigerung, das »Opfer für das Heil der Kaiser« zu vollziehen (6, 3 f.), verurteilt wird, will der Vater ihr das Kind nicht wieder herausgeben, wohl um seine Tochter zu zwingen, ihrerseits zum Kind zu kommen. Das wäre ihr durch Opfervollzug und Leugnen ihres christlichen Bekenntnisses jederzeit möglich gewesen (6, 2 f.). Doch dank Gottes Willen, so schreibt Perpetua, wollte das Kind von Stund an nicht mehr gestillt werden, und der Mutter bereitete das plötzliche Abstillen keine gesundheitlichen Probleme (6, 7 f.). Die Schritte zur Vollendung, nämlich das Sich-Lösen von der Welt und Sich-Hinwenden zu Gott, werden hier, wie auch das Martyrium und sein »Siegespreis« selbst, also nicht auf menschliche Kraft zurückgeführt, sondern auf Gottes Wirken. 4.2 Monastische Lebensformen Doch nicht jedem war es vergönnt, so sahen es die frühen Christen, durch das Martyrium die letzte Vollkommenheit zu erlangen. Bereits Methodius, der in der Zeit des 40-jährigen Friedens vor der letzten großen Verfolgung lebte, als es lange Zeit keine Möglichkeit gab, das »Blutzeugnis« abzulegen, sucht nach einem »Ersatz«, der Christen Vollkommenheit ermöglichen würde. Er findet ihn in der Askese (vit. III, 5, f. 37v–38r) bzw. in der Jungfräulichkeit (symp. VII, 3, 156).70 Dieser Gedanke gewinnt Raum, nachdem die Christenverfolgungen mit dem Toleranzedikt des Galerius im Jahre 312 n. Chr. ein Ende gefunden hatten: Mönchtum statt Martyrium.71 Im monastischen Schrifttum kommt Vollkommenheit als Begriff zwar selten vor, doch der Sache nach spielt sie eine zentrale Rolle.72 In seiner Lebensbeschreibung des Mönchsvaters Antonius stellt Athanasius von Alexandrien73 das Streben nach Vollkommenheit als Anlass und Inhalt des Mönchtums vor.74 Antonius lebte als koptischer Christ in Ägypten unweit des Roten Meeres und starb den antiken Angaben zufolge 356 n. Chr. im hohen Alter von 105 Jahren.75 Er gilt als Begründer des Eremitentums,76 ja des Mönchtums _____________ 70 Siehe Bracht (1999), 263–66. Methodius stellt in der Schrift De vita Askese und diakonisches Handeln als zwei Möglichkeiten der »Vollendung« der Gebote nebeneinander (vit. VIII, 3; f. 42v). Damit nimmt er die Lösung von Johannes Chrysostomus vorweg, s. u. 71 Siehe z. B. Meyer (1933), 332 zu Johannes Chrystostomus. 72 Vgl. Couilleau (1984), 1105. 73 Verfasst um 357 n. Chr., siehe Altaner/Stuiber (1978/1993), 276; hier zitiert nach der kritischen Edition von Bartelink. Diese Schrift entfaltet schon früh eine bedeutende Wirkungsgeschichte; so spielt sie eine bedeutende Rolle für Augustins Weg zum Christentum, siehe Aug. conf. VIII, 6, 13–8,19. 74 Vgl. auch apophth. patr. I, 15, 5 f. (SC 387, 110); I,16,1 f. (SC 387, 110). 75 Ath. v. Anton. 89,3. Zur Datierung siehe Bartelinks Einleitung zu Athanase d’Alexandrie, Vie d’Antoine, 25–108, da 42–45. 76 Gleichwohl hatte Antonius Vorläufer, siehe z. B. Ath. v. Anton. 3, 3; 3, 4; 4, 1.
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schlechthin. Athanasius hatte Antonius in seiner Jugend kennen gelernt77 und berichtet – sicherlich stilisierend, aber mit der Intention, den Charakter von Antonius’ Mönchtum zum Ausdruck zu bringen –, wie Antonius im Alter von knapp 20 Jahren (v. Anton. 2, 1 f.) beim Kirchgang die Erzählung vom »Reichen Jüngling« hörte, der Jesus fragte, was er Gutes über das Halten der Gebote hinaus tun solle, damit er das ewige Leben erhalte (Mt 19, 16–22). Dabei habe ihn ein Vers besonders angesprochen (v. Anton. 2, 4): »Wenn du vollkommen (IJȜİȚȠȢ) sein willst, geh, verkauf dein Eigentum, und gib (es) Armen, und (komm) hierher, folge mir nach, und du wirst einen Schatz in (den) Himmeln haben!« (Mt 19, 21; v. Anton. 2, 3).78 Antonius habe sofort die Kirche verlassen, seinen Landbesitz verschenkt (v. Anton. 2, 4), seinen Hausstand verkauft und den Erlös den Armen gegeben (v. Anton. 2, 5)79, und von nun an ein asketisches Leben geführt (v. Anton. 3, 1). Athanasius berichtet, wie Antonius sich mehr und mehr von der Welt zurückgezogen habe: Zunächst habe er innerhalb des Dorfes in der Nähe seines ehemaligen Hauses gewohnt (v. Anton. 3, 1), sei dann aber hinaus zu den Grabstätten gezogen, die weit vom Dorf entfernt lagen (v. Anton. 8, 1). Noch später habe er sich in ein verlassenes Kastell im Gebirge zurückgezogen, wo er fast 20 Jahre lang (v. Anton. 14, 1) nur zweimal jährlich Kontakt zu Menschen hatte, damit sie ihm durch das Dach hindurch Brot reichten (v. Anton. 12, 3–5). Nach dieser Zeit freilich habe er diese strenge Form des Einsiedlerlebens aufgegeben, um vielen, die ebenfalls asketisch leben wollten, als Vorbild und Seelsorger zur Seite zu stehen (v. Anton. 14, 2–7). Antonius versteht, wie das gesamte altkirchliche Mönchtum, Vollkommenheit in Mt 19, 21 als Ungeteiltheit des Herzens, als herzliche Liebe zu Gott:80 Der »normale«, im Judentum und Christentum übliche Gehorsam Gott gegenüber, der im Halten der Gebote bestand, reiche nicht aus, um das ewige Leben – in methodianischer Terminologie: eschatologische Vollendung – zu erhalten.
_____________ 77 Altaner/Stuiber (1978/1993), 276. 78 Ath. v. Anton. 2, 3: »Ǽੁ șȜİȚȢ IJȜİȚȠȢ İੇȞĮȚ, ʌĮȖİ, ʌઆȜȘıȠȞ ʌȞIJĮ IJ ਫ਼ʌȡȤȠȞIJ ıȠȣ, țĮ įઁȢ ʌIJȦȤȠȢ, țĮ įİ૨ȡȠ ਕțȠȜȠșİȚ ȝȠȚ, țĮ ਪȟİȚȢ șȘıĮȣȡઁȞ ਥȞ ȠȡĮȞȠȢ.« Bei Athanasius ist der Vers leicht variiert gegenüber dem neutestamentlichen Text Mt 19, 21, wie er in Nestle-Aland27 wiedergegeben ist: »Ǽੁ șȜİȚȢ IJȜİȚȠȢ İੇȞĮȚ, ʌĮȖİ ʌઆȜȘıંȞ ıȠȣ IJ ਫ਼ʌȡȤȠȞIJĮ țĮ įઁȢ ʌIJȦȤȠȢ, țĮ ਪȟİȚȢ șȘıĮȣȡઁȞ ਥȞ ȠȡĮȞȠȢ, țĮ įİ૨ȡȠ ਕțȠȜȠșİȚ ȝȠȚ« (»Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf dein Eigentum, und gib [es] Armen, und du wirst einen Schatz in [den] Himmeln haben, und [komm] hierher, folge mir nach!«). 79 Bis auf eine kleine Summe, die er behielt, um für seine Schwester sorgen zu können (v. Anton. 2, 5), da die Eltern verstorben waren (v. Anton. 2, 1). 80 Zu Vollkommenheit im Matthäusevangelium im allgemeinen und in Mt 19, 16–22 im besonderen siehe Luz (1997), 124 f.; vgl. Kretschmar (1964): IJȜİȚȠȢ bezeichne in Mt 19, 21 die Nachfolge Christi als den Weg der ganzen und ungeteilten Hingabe, die das Halten der Gebote überbietet (55); das IJȜİȚȠȢ-Sein bedeute bei Mt die »Totalität des Gehorsams« gegenüber Gott (58) im Sinne einer qualitativen Umprägung des Gesetzes, durch die Christen sich vom Judentum unterscheiden (57 und ebd., Anm. 71).
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Vielmehr sei es nötig, sich ganz von der Welt abzuwenden,81 um sich Gott mit ungeteiltem Herzen zuzuwenden.82 Diese Ablösung von der Welt gelte es u. a. durch Ehe- und Besitzlosigkeit einzuüben (gr. ਕıțİȞ),83 die ungeteilte Hinwendung zu Gott hingegen durch Nachahmung Christi.84 Dabei ist eine starke Tendenz zu einem Ausschließlichkeitsanspruch des Mönchtums zu beobachten: Allein der Weg der Askese von Jugend an, allein ein monastisches Leben ermögliche den Weg zur Vollkommenheit.85 So bedauert Gregor von Nyssa (ca. 335– _____________ 81 Vgl. apophth. patr. I, 24, 2 wo beschrieben wird, was der Mönch tun muss, damit er »frei werden kann von der Welt« (įȞĮIJĮȚ ਥȜİșİȡȠȢ ȖİȞıșĮȚ ਕʌઁ IJȠ૨ țંıȝȠȣ; SC 387, 116). Die Abwendung von der Welt um des Fortschreitens in der Vollkommenheit willen schließt die Abwendung von seinem eigenen Willen, d. h. von sich selbst ein, siehe apophth. patr. I, 15, 7: »ȠįʌȠIJİ ਥʌȠȘıĮ IJઁ įȚȠȞ șȜȘȝĮ« (SC 387, 110). Die Radikalität der Abwendung von der Welt wird durch die Vorstellung eines »der Welt Sterbens« deutlich, siehe dazu Müller (2000), 166–195, besonders 167: »durch das Penthos [wird] eine umfassende haltungsmäßige Loslösung von der Welt angestrebt. Diese Loslösung, das Sterben und Totsein, stellt jedoch nicht das eigentliche Ziel des Prozesses dar, sondern lediglich die notwendige Bedingung, um durch den göttlichen Geist neu belebt werden zu können.« 82 Vgl. apophth. patr. I, 16, 1–3.20–24 (SC 387, 110–112): »Ein Bruder befragte Abba Makarios den Großen über die Vollkommenheit. Und der Alte antwortete und sprach: Wenn ein Mensch nicht […] einen sicheren Bund mit dem allköniglichen Gott und allen seinen Geboten sowie das unablässige in aller Zeit und in jeder Handlung und in jedem Werk bei Gott Sitzen erwirbt, kann er nicht vollkommen sein« (ਕįİȜijઁȢ ȡઆIJȘıİ IJઁȞ ਕȕȕ઼ ȂĮțȡȚȠȞ IJઁȞ ȝȖĮȞ ʌİȡ IJİȜİȚંIJȘIJȠȢ. ȀĮ ਕʌȠțȡȚșİȢ ȖȡȦȞ İੇʌİȞǜ ਫȞ ȝ țIJıȘIJĮȚ ਙȞșȡȦʌȠȢ [...] ıȣȞIJĮȖȞ į ȕİȕĮĮȞ IJ ʌĮȝȕĮıȚȜİ Ĭİ țĮ ʌıĮȚȢ IJĮȢ ਥȞIJȠȜĮȢ ĮIJȠ૨, țĮ IJઁ ਕįȚĮȜİʌIJȦȢ ਥȞ ʌĮȞIJ țĮȚȡ țĮ ਥȞ ʌĮȞIJ ʌȡȖȝĮIJȚ țĮ ਥȞ ʌĮȞIJ ȡȖ ʌĮȡİįȡİİȚȞ Ĭİ, Ƞ įȞĮIJĮȚ IJȜİȚȠȢ İੇȞĮȚ). 83 Vgl. Greg. Nyss. virg. IX (287, 25–288, 9 Cavarnos), der das Gebot, Gott von ganzem Herzen zu lieben (Mt 22, 37 als Zitat von Dtn 6, 5) in Verbindung bringt mit Paulus’ Aussage, dass der Verheiratete sich um die Dinge der Welt sorge und dadurch geteilten Herzens sei, statt sich wie der Ledige ausschließlich um die Sache des Herrn zu sorgen (1Kor 7, 32 f.): »ʌȢ Ȗȡ ਕȖĮʌıİȚ IJȚȢ ਥȟ ȜȘȢ țĮȡįĮȢ IJઁȞ șİંȞ, IJĮȞ țĮIJĮȝİȡıૉ IJȞ țĮȡįĮȞ ਦĮȣIJȠ૨ ʌȡઁȢ șİઁȞ țĮ țંıȝȠȞ« (288, 4 f. Cavarnos). – Zugleich ist jedoch im Mönchtum wie im Matthäusevangelium im Blick, dass die ungeteilte Liebe zu Gott die Nächstenliebe beinhaltet, denn der Besitz soll den Armen gegeben werden (Mt 19, 21; vgl. Mt 22, 37–39; Nächstenliebe als Feindesliebe Mt 5, 43–48; siehe Ath. v. Anton. 2, 5). – Später kommt im koinobitischen Mönchtum, als dessen Begründer Pachomius (290–346 n. Chr.) gilt, zu Armut und Keuschheit noch der Gehorsam als der dritte der so genannten evangelischen Räte hinzu, siehe zur Mühlen (1999), 1722; Köpf (1998), 835. Besonders deutlich wird die Rolle des »Gehorsams ohne Zögern« (oboedientia sine mora) gegenüber dem Oberen als Pflicht derer, »die nichts höher schätzen als ihre Liebe zu Christus« (»qui nihil sibi a Christo carius aliquid existimant«) in der regula Benedicti 5 (Zitat 5,1 f.). 84 Apophth. patr. I,37 (SC 387, 122): »ੜȡȠȢ ȤȡȚıIJȚĮȞȠ૨ ȝȝȘıȚȢ ȋȡȚıIJȠ૨«; vgl. apophth. patr. I, 17, 5–7 (SC 387, 112): Der Vollkommene finde sich nicht in der Ausübung der menschlichen Tugenden, sondern die Vollkommenheit des Gesetzes der Freiheit verberge sich im Kreuz Christi. Das Ziel des monastischen Lebens, dem die IJȜİȚȠȚ sich in ihren Zellen widmen, ist die Schau Gottes, siehe h. Laus. 32, 7 (93, 2–4 Butler). 85 Dabei kann sich die Fremdwahrnehmung sehr von der Eigenwahrnehmung der Mönche unterscheiden. Zwar wird von Mönchen gesagt, sie seien vollkommen (siehe z. B. apophth. patr. I, 11, 3 f. [SC 387, 106]; h. Laus. 32, 7 [93, 2 Butler]), doch von sich selbst würde kein Mönch das behaupten. So wird in den Apophthegmata Patrum z. B. berichtet, dass Abba Pambo im Augenblick seines Sterbens gesagt habe, dass er zwar seit Antritt seines monastischen Lebens kein Brot gegessen habe, das er nicht mit eigenen Händen erarbeitet habe, und kein
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394 n. Chr.) in Kappadozien ca. zwei Generationen nach Methodius, dass er geheiratet hatte, weil eine Rückkehr zur Jungfräulichkeit nicht möglich sei86 und er deshalb ihren Lohn im späteren Leben nicht genießen könne.87 Etwa zeitgleich vertritt der junge antiochenische Mönch Johannes Chrysostomus (ca. 350–407 n. Chr.), der den Beinamen »Goldmund« wegen seiner Rednergabe trägt,88 eine entsprechende Auffassung: Seine Zielsetzung ist, die Menschen zur Vollkommenheit zu führen.89 In seiner Frühschrift De virginitate macht er deutlich, dass er die Jungfräulichkeit als den einzigen Weg zur christlichen Vollkommenheit ansieht.90 Doch als er im Jahr 386 zum Presbyter geweiht wird, setzt ein Umdenken ein:91 Unter dem Eindruck seiner Erfahrungen in der Seelsorge an verheirateten Christen ändert sich sein Verständnis von Vollkommenheit und seine Einschätzung des Weges dorthin. Er versteht Vollkommenheit im Anschluss an Mt 5, 48 (»Seid ihr nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!«) als Anspruch an alle Christen,92 nicht nur _____________ 86 87
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Wort bereue, das er gesprochen habe, und dennoch gehe er nun zu Gott, als habe er nicht einmal begonnen, ihn zu verehren (apophth. patr. I, 25 [SC 387, 116]). Greg. Nyss. virg. III (256, 12–24 Cavarnos). Die Schrift wurde vor 378 verfasst; Datierung mit Döpp/Geerlings (2002), 299. Greg. Nyss. virg. III (257, 1–7 Cavarnos). Für Gregor von Nyssa besteht die Vollkommenheit menschlichen Lebens (ਲ IJİȜİȚંIJȘȢ IJȠ૨ ȕȠȣ) in der Freundschaft Gottes (v. Mos. II, 320, 14 f. [SC 1]), zu der der Mensch durch Nachfolge Gottes aufsteigen kann (v. Mos. II, 249–255 [SC 1]), wie er in seiner Interpretation des Lebens des Mose entwickelt. Dabei stellt er Mose als »Vorbild von schöner Gestalt« (ʌȡȦIJંIJȣʌȠȞ ਥȞ ȝȠȡijૌ țȜȜȠȣȢ; v. Mos. II, 319, 3 [SC 1]) in der Vollkommenheit des tugendhaften Lebens vor, der den höchsten Gipfel der Vollkommenheit erreicht habe (v. Mos. II, 319, 16 f. [SC 1]) – man beachte hier die Konsonanz von ethischer Vollkommenheit und Schönheit. Ob es sich dabei um einen mystischen Aufstieg handelt (so Viller/Rahner [1939/1990], 140–145, die Gregor sogar als »Vater der Mystik« bezeichnen [133]), ist strittig, siehe Heine (1975), der an den Nachweis, dass es sich bei v. Mos. nicht um eine mystische Schrift handelt, den Zweifel knüpft, »if anything Gregory has written is mystical« (197). – Dass in verschiedenen Apophthegmata die Nicht-Ausschließlichkeit des monastischen Weges zur Vollkommenheit betont wird (siehe Viller/Rahner [1939/1990], 278– 281 mit Stellenangaben), zeigt nur, wie stark die Tendenz zum Ausschließlichkeitsanspruch der Jungfräulichkeit und damit die Notwendigkeit der Korrektur war. Die Bezeichnung mit dem Beinamen Chrysostomus erfolgte seit dem 5./6. Jahrhundert, siehe Döpp/Geerlings (2002), 378. Siehe Leroux (1988), 122. Siehe George (1989), 698. – Die Ehe hingegen gilt dem frühen Chrysostomus als Hindernis zur Tugend für die Starken (virg. 25, 7–12; SC 125, 174); vgl. George (1989), 485, der sogar von der Ehe als »Haupthindernis zur Vollkommenheit« beim frühen Chrysostomus spricht. Die Entwicklung im Denken von Johannes Chrysostomus über die Ehe arbeitet George (1989) heraus (Zusammenfassung 697–702). Er unterscheidet drei Phasen: 1. bis 386; 2. 386–393 Phase des Übergangs; 3. ab 391. Schon Meyer (1933) stellt eine Entwicklung in Chrysostomus’ Konzeption der christlichen Vollkommenheit fest, die in etwa mit Beginn seiner Tätigkeit als Prediger eingesetzt habe (371), oder, wie er an anderer Stelle vermutet, bereits mit seiner Rückkehr aus dem asketischen Leben in der Wüste in das Stadtleben Antiochiens (218 f.), d. h. ab 378 n. Chr. Schon als Asket interpretierte Johannes Chrysostomus Mt 5, 48 als an alle Christen gerichtete Aufforderung (siehe George [1989], 582), doch er zog daraus andere Konsequenzen: In seiner
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an eine elitäre monastische Gruppe. Er greift die ethischen Konnotationen des matthäischen Vollkommenheitsbegriffs auf – auf Kosten der eschatologischen Dimension – und sieht Vollkommenheit nun nicht mehr ausschließlich in einem asketischen Leben völliger Enthaltsamkeit und Besitzlosigkeit realisiert, sondern als vollkommene Nächstenliebe.93 Sie äußert sich in einer anderen, aktiven Lebensgestaltung:94 nicht nur in Besonnenheit und materieller Einfachheit, sondern ganz wesentlich auch im Teilen des Besitzes durch reichliches Almosengeben und durch Gastfreundschaft.95 Solche Nächstenliebe zu üben, ist nach Chrysostomus auch Verheirateten aufgetragen und mit Ehe und Familiengründung vereinbar.96 Auch verheiratete Männer und Frauen können die Tugend erstreben,97 ja unter Umständen übertreffen sie die Mönche, Jungfrauen und Witwen sogar in der ijȚȜĮȞșȡȦʌĮ.98 Deshalb kann man Johannes Chrysostomus mit Marcel Viller und Karl Rahner als »Apostel der Laienvollkommenheit« bezeichnen.99 Sein Verdienst im Blick auf das Thema der Vollkommenheit liegt darin, den Vollkommenheitsanspruch und das Vollkommenheitsstreben, das seit Ende der Christenverfolgungen im theologischen Bewusstsein der Zeit schwer_____________
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Frühphase vor seiner Weihe zum Presbyter rief er die Verheirateten dazu auf, ein Eheleben in Enthaltsamkeit zu führen, ja er ermunterte Eheleute sogar dazu, sich voneinander zu trennen und ein Leben in Zurückgezogenheit bei den Mönchen in der Einsamkeit bzw. den Jungfrauen in der Stadt zu leben, siehe George (1989), 511 f. In der Nächstenliebe sieht Chrysostomus die Nachahmung Christi am besten verwirklicht, siehe hom. in 1Cor. 25, 3: »ȠįȞ Ȗȡ ȠIJȦ įȞĮIJĮȚ ʌȠȚોıĮȚ ȝȚȝȘIJȞ IJȠ૨ ȋȡȚıIJȠ૨, ੪Ȣ IJઁ țįİıșĮȚ IJȞ ʌȜȘıȠȞ« (PG 61,208). Vgl. Meyer (1933), 206–214. Siehe Meyer (1933), 217 f. Siehe George (1989), 656. Chrys. hom. 43 in Gen 1 (PG 54, 395–397): Chrysostomus zeigt am Beispiel von Lot, dass eine Lebensweise in Ehe und Familie mitten in der Stadt (im Gegensatz zur Anachorese) kein Tugendhindernis bildet; vgl. Brändle (1998), 474 f. zu Chrysostomus’ Wertschätzung von Ehe, ehelichem Geschlechtsverkehr und Familie in seinen späteren Jahren. – Auch im Mönchtum entwickelten sich bald caritative Strömungen, die im Streben nach Vollkommenheit als dem kontemplativ-asketischen Leben gleichwertig galten. Einen Einblick in die frühe Zeit, als das Verhältnis beider Strömungen noch diskutiert, aber zugunsten der Gleichwertigkeit entschieden wurde, bietet h. Laus. 14, 1–6 (37, 12–39, 10 Butler): Die Brüder Paesius und Isaias wollen sich nach dem Tode ihres wohlhabenden Vaters dem monastischen Leben widmen (14, 1 f.), doch wählen sie unterschiedliche monastische Lebensarten: Der eine verteilt sein Erbe unter Klöstern, Kirchen und Gefängnissen und schlägt einen asketischen Lebensweg ein, wohingegen der andere sein Erbe zunächst behält und ein Kloster gründet, in dem er für Fremde, Behinderte, Alte und Arme sorgt (14, 3). Nach ihrem Tod wird diskutiert, wer von beiden als »vollkommen« zu gelten habe. Die streitenden Parteien wenden sich ratsuchend an Abba Pambo. Dieser entscheidet, dass beide vollkommen seien (14, 4), und beruft sich zur Bekräftigung seines Urteils auf eine göttliche Vision (14, 6). Chrys. hom. 7 in Heb. 4 (PG 63, 68), hier unter dem Anspruch ehelicher Enthaltsamkeit, des Verzichts auf Freude am Besitz und der Abkehr von der Welt. Für alle Christen, Mönche wie die in den Städten lebenden Gläubigen, gelten nach Chrysostomus die gleichen Ansprüche im Hinblick auf christliche Vollkommenheit (mit Ausnahme der Jungfräulichkeit von Kindheit an und der absoluten Armut), siehe Meyer (1933), 291–294; Brändle (1998), 478. George (1989), 657; siehe auch George (1989), 594–597; 600–602. Viller/Rahner (1939/1990), 283.
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punktmäßig monastischen Lebensformen vorbehalten war, wieder ›demokratisiert‹ und auf alle Christen bezogen zu haben. 4.3 Vollkommenheit als erhoffte eschatologische Lebensform Die frühen Christen machten sich, in der Regel in Aufnahme biblischer Motive, Vorstellungen von dem ewigen Leben, das sie sich im Hinblick auf das Eschaton erhofften. Dabei konnte eschatologische Vollkommenheit sowohl als individuelle Vollkommenheit als auch als soziale Größe vorgestellt werden. Ein Beispiel für die Vorstellung des eschatologisch Vollkommenen als Vollkommenheit des Einzelnen bietet die hier oben ausgeführte Theologie des Methodius von Olympus; ein sozialer Aspekt klingt in seinen Schriften nicht an. Das entspricht dem Tenor seiner Anthropologie, die immer den Einzelnen im Blick hat, angefangen bei der Erschaffung des Menschen über den individuell verstandenen Sündenfall und die prinzipielle Zueignung der Vollkommenheit in der Taufe bis hin zu seiner Vollendung über den radikalen Bruch des individuellen leiblichen Todes hinweg. Zwar deutet Methodius in der neunten Rede des Symposium in allegorisch-typologischer Auslegung von Lev 23, 39–43 das Laubhüttenfest als Vorausdeutung auf das Fest der Auferstehung, das nach Vollendung der derzeitigen Schöpfung gefeiert werden wird (symp. IX, 1, 236–38). Doch er hat entgegen dem Bilde des Festes nicht das Miteinander der Christen, sondern die Auferstehung des Einzelnen im Blick, indem er die Laubhütte individuell als »Fleisch« (ıȡȟ) im Sinne des einzelnen Leibes deutet (symp. IX, 2, 242 f.).100 Eine ganz andere Vorstellung von der erhofften eschatologischen Lebensform entwickelt gut 100 Jahre später Augustin, indem er eine Ausweitung der eschatologischen Vollendung in sozialer Hinsicht vornimmt. In seinem Spätwerk De civitate Dei (413–426 n. Chr.) unternimmt er es, »den ruhmreichen Gottesstaat zu verteidigen, ihn, der in dieser Weltzeit unter Gottlosen pilgert und ›im Glauben lebt‹, ihn, der in der ewigen Behausung seine sichere Ruhestatt finden wird […], die er dereinst herrlich erlangen wird, wenn der Endsieg errungen und vollkommener Friede eingekehrt ist«101. Augustin sieht den Gottesstaat in der Bibel, vor allem in verschiedenen Psalmen bezeugt.102 Im 19. Buch skizziert er im Zusammenhang der so genannten Friedenstafel103 den eschatologischen Gottesstaat, die civitas caelestis, die er an der zitierten Stelle im Proömium der _____________ 100 Zu Methodius’ Auslegung von Lev 23 insbesondere im Hinblick auf eine Differenzierung innerhalb der Vollendung menschlicher Vollkommenheit im Eschaton siehe Bracht (1999), 321–330. 101 Aug. ciu. I praef. (3, 10–14 Hoffmann I): »deinceps adeptura per excellentiam uictoria ultima et pace perfecta«; Übersetzung: Thimme, siehe Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate dei) (1997), z. St. 102 Siehe die Bezugnahme auf Ps 86, 3; 47, 2.9; 45, 5 f. in ciu. XI 1 (511, 1–11 Hoffmann II). 103 Aug. ciu. XIX 13. Zu Gliederung und Interpretation der so genannten Friedenstafel siehe Geerlings (1997), 228–231.
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gesamten Schrift wie auch an späterer Stelle als eschatologische Vollkommenheit bezeichnet,104 als eine soziale Größe: »der Friede der himmlischen civitas ist die überaus geordnete und überaus einträchtige Gemeinschaft [societas] des GottGenießens und Einander(-Genießens) in Gott«105. Schon in dieser Welt könnte der Gottesstaat gar nicht begründet werden, als »pilgernder Gottesstaat« fortschreiten und schließlich sein Ziel erreichen, wenn »das Leben der Heiligen nicht ein geselliges wäre«106. In seiner Sozialität liegt also die Voraussetzung dafür, dass der Gottesstaat das eschatologische Ziel seiner Pilgerschaft erreichen kann. Die soziale Struktur der himmlischen civitas ist von der Ruhe der Ordnung bestimmt.107 Ihrem jeweils verdienten Lohn entsprechend werden die Bürger verschiedene Stufen der Ehre und Herrlichkeit einnehmen,108 wobei die Ruhe darin besteht, dass kein Neid der Niedrigeren auf die Höheren aufkommt.109 Der Fokus, auf den die Gesellschaft der civitas caelestis ausgerichtet ist, ist Gott selbst. Die eschatologische societas bestimmt sich also durch ihre gemeinschaftliche Hinwendung zu Gott. Ihn werden die Bürger nicht nur gemeinsam in vollkommener Weise schauen,110 sondern auch gemeinsam lieben und loben.111 4.4 Vollkommenheit und Schönheit in altkirchlichen Lebensvollzügen? Hinter dieser Überschrift steht die Frage, ob in der altkirchlichen Literatur der Vollkommenheit christlichen Lebensvollzugs, insbesondere dem Martyrium und dem monastischen Leben, eine ästhetische Dimension zugemessen wurde. Die in diesem Kapitel (4.) behandelten Texte lassen solches nicht erkennen. Freilich könnte diese Beobachtung mit letzter Sicherheit erst mittels einer systematischen computergestützten Analyse der Bedeutung aller in Frage kommenden Begriffe in ihrem jeweiligen Kontext verifiziert werden, die den Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen würde. _____________ 104 Aug. ciu. XXII 1 (581, 24 Hoffmann II) in Verbindung mit XXII 29 (657, 10 f. und 658, 23–26 Hoffmann II, jeweils mit Zitat 1Kor 13, 9; 659, 12 f. Hoffmann II) sowie XXII 30 (669, 4–7.14– 16 Hoffmann II). 105 Aug. ciu. XIX 13 (395, 13–15 Hoffmann II): »pax caelestis ciuitatis ordinatissima et concordissima societas fruendi Deo et inuicem in Deo«. 106 Aug. ciu. XIX 5 (380, 11 f. Hoffmann II): »si non esset socialis vita sanctorum«; Übersetzung: Thimme. 107 Aug. ciu. XIX 13 (395, 15 f. Hoffmann II): »pax omnium rerum tranquillitas ordinis«. 108 Aug. ciu. XXII 30 (666, 8–11 Hoffmann II): »gradus honorum adque gloriarum«. 109 Aug. ciu. XXII 30 (666, 11–19 Hoffmann II). 110 Aug. ciu. XXII 30 (666, 4–7 und 669, 6.15 f. Hoffmann II) in Verbindung mit einem Adjektiv oder Adverb der Vollkommenheit, d. h. perfecti oder perfecte; vgl. ciu. XXII 30 (668, 27 Hoffmann II). 111 Aug. ciu. XXII 30 (666, 4–7 Hoffmann II): »Ipse finis erit desideriorum nostrorum, qui sine fine uidebitur, sinde fastidio amabitur, sine fatigatione laudabitur. Hoc munus, hic adfectus, hic actus profecto erit omnibus, sicut ipsa uita aeterna, communis«; siehe auch ciu. XXII 30 (670, 13 f. Hoffmann II).
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5. Schluss Abschließend kehre ich zu den fünf Fragen über die Vollkommenheit zurück, die ich einleitend im Anschluss an Mt 5, 48 formuliert habe, und fasse die Antworten der altkirchlichen Christen zusammen. Ad 1. In der Alten Kirche unterschied man zwischen göttlicher und menschlicher Vollkommenheit. Unter der Vollkommenheit Gottes fasste man seine Bedürfnislosigkeit, Unwandelbarkeit, Ewigkeit etc. zusammen. Der Begriff der menschlichen Vollkommenheit war schillernder: Vollkommenheit wurde im Anschluss an das Neue Testament als ungeteilte Zuwendung zu Gott verstanden, aber auch als höchste Entwicklungsstufe des geistlich herangewachsenen Menschen. Man sprach von Vollkommenheit in erkenntnistheoretischer, aber auch in ethischer Hinsicht. Sie galt als eschatologisches Ziel, dem der Christ sich in diesem Leben nur annähern kann. Ad 2. In der Alten Kirche bestand Konsens darüber, dass der Mensch unvollkommen ist, bevor er getauft wird. Das wird auf den Sündenfall zurückgeführt (nach Gen 3), in dem die Begierde in den Menschen hineingekommen sei. Während manche altkirchlichen Theologen den Sündenfall, dessen Folgen sich im Sinne einer Erbschuld durch die folgenden Generationen fortranken, vor aller Zeit verorten,112 geht Methodius von Olympus von einem je individuellen Sündenfall aufgrund einer falschen Willensentscheidung aus. Ad 3. Der Tenor aller altkirchlichen Rede von menschlichem Vollkommenheitsstreben besagt, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Gottes Hilfe und dank seiner Gnade vollkommen werden kann. Das Streben nach Vollkommenheit konkretisierte sich zum einen im asketisch-kontemplativen Aufstieg zu Gott, zum anderen in einer das bloße Halten der Gebote übersteigenden Nächstenliebe. Ad 4. Menschliche Vollkommenheit vor dem Tod wird als ein Prozess verstanden, der sich innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, d. i. der Kirche als dem Ort und dem Subjekt der Verkündigung der christlichen Botschaft vollzieht. Hinsichtlich der Vollendung im Eschaton werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Methodius z. B. hat vor allem die Vollendung des Einzelnen in seiner individuellen Gott-Zugewandtheit im Blick, wohingegen der späte Augustin die Gemeinschaft der Auferweckten untereinander und mit Gott betont. Ad 5. Grundsätzlich wird dem Menschen die Vollkommenheit in der Taufe zugesagt, doch muss er sich dann in ihr bewähren, in ihr wachsen. Deshalb kann von Vollkommen-Sein in Steigerungsformen gesprochen werden. Vollendete Vollkommenheit werden die Christen erst nach aller Zeit im ewigen Leben verliehen bekommen. Die Befragung der hier behandelten Texte auf das Thema der ästhetischen Perfektion im Sinne einer Ästhetik des Vollkommenen hin hat einen weitgehend _____________ 112 Z. B. Tertullian, anim. 41, 1 (vitium originis); Aug., sermo 26, 13 (una erat massa perditionis ex Adam); ciu. XXI 12 (541, 12-17 Hoffmann II).
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negativen Befund ergeben: In der Regel wird weder in den neutestamentlichen Schriften noch in der altkirchlichen Literatur Vollkommenheit mit der ästhetischen Kategorie der Schönheit in Beziehung gesetzt. Die frühchristlichen und altkirchlichen Autoren haben eine Ästhetik des Vollkommenen im Grunde nicht im Blick. Als Sonderfall hat sich das Symposium des Methodius von Olympus erwiesen, wobei die Verbindung des Vollkommenen mit dem ästhetisch Schönen auf seine Auseinandersetzung mit dem Platonismus, insbesondere auf den Einfluss des platonischen Symposium zurückzuführen ist. So öffnet die hier im Rahmen einer Einführung zum Thema Vollkommenheit in der Alten Kirche vorgelegte Annäherung an die Frage einer Ästhetik des Vollkommenen in der altkirchlichen Literatur die Perspektive auf das Thema der in diesem Band dokumentierten Tagung: Wenn, wie gezeigt werden konnte, in der altkirchlichen Zeit dem Vollkommenen in der Regel keine ästhetische Dimension zugemessen wurde, dann stellt sich die Frage um so dringender, wann, warum und in welchen Zusammenhängen das Thema im Mittelalter Relevanz erhielt und wie sich diese Relevanz bis zur Frühen Neuzeit entwickelte.
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Erzählen von vollkommener Liebe. Die Tristan-Romane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg FRANZISKA KÜENZLEN (Münster) 1. Eilhart von Oberg: Tristrant und Ysald (um 1170? – um 1190?)1 1.1 Der Trank – Liebeszwang statt vollkommener Liebe Am irischen Königshof hat man sich nach einigen Verhandlungen auf eine opportune Verbindung geeinigt. Die irische Königstochter Ysald soll mit Marck, dem König von Kurwälsch, verheiratet werden. Damit befriedigt man in passender Weise die Ansprüche auf Ysald, die sich König Marcks Neffe und Brautwerber Tristrant durch einen siegreichen Kampf gegen einen Drachen erworben hat. Einerseits kommt Tristrant mit dieser Lösung seinen Brautwerberpflichten nach, andererseits wird Ysald nicht mit dem Mann verheiratet, der ihren geliebten Onkel Morholt im Zweikampf erschlagen hat (E 2226–2260). Dieses nüchterne Arrangement wird durch einen Zufall durchkreuzt. Auf der Überfahrt nach Kurwälsch trinken Tristrant und Ysald, weil es heiß ist und sie Durst haben, versehentlich den Trank, der von Ysalds Mutter eigentlich für das Königspaar nach der Hochzeitsnacht vorgesehen war. Über die Wirkung des Trankes hat das
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Die Gründe für die weit auseinander liegenden Datierungsvorschläge sind dargestellt in Eilhart von Oberg, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung, XII–XX. Für eine Spätdatierung plädiert mit weiteren Argumenten Mertens (1987), 262–281, für eine Frühdatierung zuletzt Backes (2002), 373–380. Vollständig überliefert ist die Tristan-Version Eilharts aber erst in bearbeiteter Form in zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Um wenigstens eine der überlieferten Eilhart-Fassungen mit all ihren Eigenheiten in den Blick zu bekommen, zitiere ich nach der Heidelberger Handschrift H (Cpg 346), die den Text am vollständigsten bewahrt. Die Zitate werden mit E gekennzeichnet und folgen der Ausgabe Eilhart von Oberg, Tristrant. Édition diplomatique des manuscrits et traduction en français moderne avec introduction, deren Wortlaut ich anhand der Handschrift (http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg346, zuletzt abgerufen am 30.08.2008) noch einmal überprüft und deren lediglich kleinere Ungenauigkeiten ich – wo nötig – stillschweigend korrigiert habe. Die Übersetzungen sind meine.
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Franziska Küenzlen
Erzähler-Ich sein Publikum2 ausführlich aufgeklärt: Wenn ein Mann und eine Frau ihn zusammen trinken, lieben sie sich, ob sie wollen oder nicht, ein Leben lang. Während der ersten vier Jahre ist die Wirkung aber so stark, dass sie sich nicht einen Tag voneinander trennen können, ohne krank und schwach zu werden; sollten sie sich eine Woche lang nicht sehen, müssen sie sterben.3 Diese erste Phase intensiver Trankwirkung bedingt den Betrug an König Marck in der Hochzeitsnacht ebenso wie das widervernünftige Verhalten Tristrants, das schließlich zur zweifelsfreien Aufdeckung des Ehebruchs, zu Todesurteil und Flucht des Paares in den Wald führt. Nach dem Ende dieser Phase wird dem Paar sein Ächterleben umgehend unerträglich, und Tristrant gibt Ysald an Marck zurück. Aber auch in der zweiten Phase wirkt der Trank noch so stark, dass sich selbst nach dem Tod Tristrants und Ysalds die Rebe und die Rose, die Marck auf ihr Grab hat pflanzen lassen, unentwirrbar umschlingen.4 Diese weiterhin sichtbare Wirkung des Trankes entschärft das Sprengpotential der Geschichte am Ende des Romans erheblich, da auf diese Weise bestätigt zu werden scheint, dass Tristrant und Ysald unter Zwang handelten, als sie fortgesetzt Ehebruch begingen. Nach ihrem Tod kann König Marck unter Hinweis darauf, vom Trank nichts gewusst zu haben, ohne Gefahr von Ehrverlust die Verbannung Tristrants vom Hof bedauern und sogar laut über einen Herrschaftsverzicht zugunsten der Liebenden nachdenken, wenn sie dadurch nur wieder lebendig würden (E 9474–9497). Er stellt mit dieser großmütigverzeihenden Geste seine durch den Ehebruch beschädigte Königswürde sogar eher wieder her. Mit dem Tod der Liebenden und der Erklärung ihres Verhaltens durch den Trank gewinnt die alte Ordnung ihre Festigkeit zurück.5 _____________ 2
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Bei Eilhart erfolgt das Erzählen der Tristangeschichte im Rahmen einer fingierten Aufführungssituation: Ein Erzähler-Ich spricht ein als anwesend gedachtes Zuhörerpublikum an und erzählt ihm, was es in einem Buch gelesen (und auch von anderen gehört) hat. Dieses im Prolog etablierte Verhältnis zwischen der bereits existierenden Geschichte, dem Vorgang ihres Erzählens und dem Erzählten selbst wird im Verlauf des Romans immer wieder durch Quellenverweise, Leseransprachen und Erzählerkommentare ins Bewusstsein gerufen. Zur narrativen Funktion dieser konzeptionellen Mündlichkeit siehe Schausten (1999), 106–113; zum Prolog allgemein siehe Ortmann (2002). »der tranck was so getn:/welch wib und man/des truncken baiden/s mochten sich nit me schaiden/in vier jauren,/wie gern sie es enbren./sie m)sten sich minnen/mit allen iren sinnen,/die wl das sie lebten./vier ir sie pflegten/so gr!sser lieb baid,/ja das sie sich nit schaiden/möchten och ainen tag./stätlich ains des andern pflag/anzesehen b nacht und tagen:/also hort ich da von sagen./das macht ouch der tranck,/das eglichs ward siech und kranck,/ob sie wren ain wochen/von ain ander ungesprochen,/sie m)sten baide wesen tod./der tranck was so getemperot/(das mögt ir selber mercken)/mit semlich gr!ssen stercken« (E 2279– 2300). E 2842–2845, E 3909–3919, E 4724–4739, E 9516–9521; nur an diesen Stellen führt das Erzähler-Ich den Trank explizit als Erklärung für das Verhalten der Liebenden an, vgl. auch Bonath (1983), 49. Mertens (1987), 269. Bonath (1983), 50, sieht vor allem durch den Schlussauftritt des Königs die Liebe zu einem vermeidbaren Unfall degradiert. Ortmann (2002), 380, bezeichnet die Gestaltung des Endes als »Deformationen [...] um dem fatalen Ende einen versöhnlichen Sinn
Erzählen von vollkommener Liebe
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Man könnte daraus schließen, dass es in Eilharts Fassung des Tristan-Stoffes gar nicht um Liebe »im Sinn eines Naturrechts der Liebe und des Einzelnen gegen die Gesellschaft oder einer freiwilligen Entscheidung zweier Liebender füreinander« gehe, sondern, da die Liebe auf Zwang beruht, um die Lebensgeschichte eines herausragenden Helden, der »durch seine Liebe um das ihm zustehende Leben gebracht« wird.6 In der Tat scheint der quantitative Schwerpunkt des Romans auf Tristrant und seinen Taten zu liegen: der Kampf gegen den viel stärkeren Iren Morholt, der Kurwälsch unterwerfen und zinspflichtig machen will, der Kampf gegen den Drachen, auf dessen Tötung Ysald als Belohnung ausgesetzt ist, Tristrants kühne Flucht und die Befreiung Ysalds nach der Entdeckung des Ehebruchs und Marcks Todesurteil. Im zweiten Teil des Romans, nach der Rückgabe Ysalds an Marck und der Verbannung Tristrants vom Hof, folgen seine Bewährung als Ritter am Artushof und seine Heldentaten im Dienst König Hefelins bei der Entsetzung der Stadt Karkes, aber auch seine waghalsigen Besuche bei Ysald in unterschiedlichen Verkleidungen.7 Diese Besuche zeigen, dass auch nach dem Ende der intensiven Wirkung des Trankes die Liebe handlungsmotivierend bleibt, auch wenn Tristrant nun längere Zeit von Ysald getrennt existieren kann.8 Dies lediglich mit der lebenslangen Trankwirkung zu erklären, greift zu kurz. Da Eilharts Erzähler-Ich emotionale Zustände oder innere Vorgänge nur sehr sparsam darstellt,9 gewinnen in diesem Zusammenhang die erzählten Fakten und die Dialoge der Figuren an Gewicht. 1.2 Tristrant – Liebesbekenntnis und Selbstverpflichtung Im zweiten Teil des Romans lassen sich im Handeln und Reden Tristrants Momente erkennen, in denen seine Liebe zu Ysald mehr zu sein scheint als ein _____________ 6 7
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abzugewinnen«. McDonald (1991) sieht die Figur des Königs, in deren Verhalten er Parallelen zum Bußsakrament erkennen will, durch den Schluss deutlich aufgewertet. So Keck (1998), 106 bzw. 86, dagegen zuletzt Tomasek (2006). In der Reihe dieser Verkleidungen (Ritter, Aussätziger, Pilger, fahrender Knappe, Narr) hat Müller (1990) eine zunehmende Entfremdung Tristrants von seiner höfischen Heldenrolle sehen wollen. Dem widersprechen Keck (1998), 117: Tristan beherrsche auch als Narr die Szene, und Strohschneider (1993), 58: Tristrant sei bis zum Schluss anhand seiner Kriegskünste identifizierbar und daher als Held intakt. Die längste Zeit der Trennung beträgt nach den Zeitangaben des Erzählers über drei Jahre: Mehr als zwei Jahre bleibt Tristrant zur Regelung der Erbangelegenheiten im Reich seines Vaters (E 8562 f.), danach wird er im Krieg schwer verletzt und braucht länger als ein Jahr, um sich zu erholen (E 8644–8647). Meist begnügt es sich mit der Konstatierung einer Emotion durch Verben wie ›froh werden‹, ›erschrecken‹, ›weinen‹, bisweilen noch um ein ›sehr‹ gesteigert. Selten wird die Motivation einer Figur ausführlicher dargestellt (z. B. Kehenis verleumdet Tristrant E 6913–6919). Auch in die Figurenrede verlegte reflektierende Passagen sind nicht allzu häufig (z. B. Ysalds Minnemonolog E 2398–2598; Tristrant kontrolliert seinen Zorn E 6941–6944).
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halbwegs erträglich gewordener Zwang.10 So gesteht er, nachdem Marck bei der Rückgabe der Königin eine Wiederaufnahme Tristrants in seine Huld und an seinen Hof abgelehnt hat, dem König frei heraus seine Liebe zu Ysald: ›owe! himel kúng rich!‹ sprach Trstrand so gem)t, ›wie we das dem manne t)t, so er das von im laut, das er von gantzem hertzen lieb ht, als ich min frowen hon. es s from ald schad !n won, doch will ich sie wider geben. herr kúng‹, sprach der tegen, ›nun niempt mine frowe! min gr!s hertzlaid ich schowe, sid ich laider von ir rt nun.‹ (E 4966–4977)11
Dieses Bekenntnis der Liebe zu Ysald12 ist durch nichts erzwungen, und es fällt umso mehr auf, weil Marck die Liebenden im Wald, getrennt durch Tristrants Schwert schlafend, gesehen hatte. Zumindest seinen Räten gegenüber führte er das als Beweis dafür an, dass Tristant nie mit Ysald geschlafen habe, und rechtfertigte damit seine Entscheidung, seine Ehefrau wieder in allen Ehren am Hof aufzunehmen. Nach Tristrants Worten kann Marck über die Art des Verhältnisses der beiden nicht mehr im Zweifel sein. Hinzu kommt eine Selbstverpflichtung Tristrants, all das, worum er im Namen Ysalds gebeten würde, zu tun. Mehrmals bringt er sich dadurch unnötig in Lebensgefahr, ohne dass der Zwang vom Trank ausginge – es ist Tristrants freiwillig gegebenes Versprechen, das ihn bindet.13 Als Ysald fälschlicherweise einmal glaubt, er habe dieses Versprechen gebrochen, und sich durch Boten nicht vom Gegenteil überzeugen lässt, riskiert er es, verkleidet vor ihr zu erscheinen.14 Als sie ihn _____________ 10 Im zweiten Teil des Romans Ansätze zu einer Entfaltung ›echter‹ Liebe zwischen Tristrant und Ysald zu sehen, scheint Forschungskonsens zu sein, vgl. Bonath (1983), 42; Mikasch-Köthner (1991), insb. 122 f.; Müller (1990), 30; Strohschneider (1993), 57 f.; Schausten (1999), 62. 11 »›Oh mein Gott!‹, sagte der entsprechend gestimmte Tristrant, ›wie weh es einem tut, das herzugeben, was man von ganzem Herzen liebt, so wie ich meine Herrin. Ob es nun wahrlich Nutzen oder Schaden bringt, ich werde sie trotzdem zurückgeben. Herr König‹, sagte der Held, ›nun nehmt meine Herrin hin! Ich sehe meinem großen Herzenskummer entgegen, weil ich nun leider von ihr fortreiten muss.‹« 12 So auch schon bezeichnet bei Mälzer (1991), 200 und Schausten (1999), 60 f. mit Anm. 37. 13 Das widervernünftige Verhalten Tristrants, das in der Mehlstreuepisode zur lebensbedrohlichen Entdeckung des Paares führt, wird vom Erzähler hingegen noch ausdrücklich mit der Trankwirkung begründet (E 3909–3919). Selbst Keck (1998), 120 sieht mit Tristrants Versprechen im zweiten Teil des Romans eine ›persönlichere‹ Sicht der Liebe eingeführt. 14 Dazu leiht er sich ausgerechnet die Kleider eines Aussätzigen, eines sozial marginalisierten, aus der Gesellschaft ausgestoßenen und außerdem ansteckenden Kranken. Das mag zwar auch zweckmäßig sein – Aussätzige haben die Möglichkeit, sich wegen eines Almosens einer Königin bis zu einem gewissen Grad zu nähern –, unterstreicht aber eindringlich, wie weit
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erkennt, aber nicht anhört, sondern durch Prügel vertreiben lässt und auch noch spöttisch lacht, sieht Tristrant sich seiner Verpflichtung enthoben. Aber selbst im Zerwürfnis zeichnet sich dieser neue Aspekt der Freiwilligkeit in der Liebe zu Ysald ab. Dass Tristrant ohne Ysald existieren kann, zeigt sich daran, dass er nach seiner Rückkehr nach Karkes seine mehr als ein Jahr zuvor geschlossene Ehe vollzieht und danach eine Zeit beständiger Freude erlebt (E 7070–7080). Als Ysald ihrerseits aber um Versöhnung bittet, gibt er dieses Leben wieder auf; seine weiteren Besuche in Kurwälsch sind nur noch dadurch motiviert, Ysald sehen zu wollen.15 Durch das öffentliche Bekenntnis der Liebe zu Ysald, die freiwillige Selbstverpflichtung und durch die Gefahren und Verkleidungen, die Tristrant auf sich nimmt, um zu Ysald zu gelangen, obwohl er sie nicht mehr zwingend treffen muss, wird im zweiten Teil des Romans deutlich angezeigt, dass Tristrant die Beziehung zu Ysald für sich zum entscheidenden Wert macht. Er scheint aber nicht selbstverständlich davon auszugehen, dass dies für Ysald in gleicher Weise gilt. Am Ende erliegt er einer vergifteten Verwundung, weil er glauben muss, dass sie entgegen seiner Bitte nicht kommt, um ihn zu heilen. Aber auch in diesem tödlichen Zweifel zeigt sich noch einmal das Moment der Freiwilligkeit der Liebe, das trotz lebenslanger Trankwirkung im zweiten Teil des Romans spürbar wird: Tristrant rechnet damit, dass Ysald die Möglichkeit hat, nicht zu kommen.16 1.3 Ysald – Zwischen êre und minne Auch Ysald ist am Ende des Romans bereit, für Tristrant alles aufzugeben. Nachdem sie seine Botschaft vernommen hat, sie möge ihm mit ihrer Heilkunst zu Hilfe kommen, und die Vertrauenswürdigkeit des Boten anhand eines Erkennungszeichens bestätigt sieht, do liesß sü man und land, ouch schatz und gewand und alles das sü ye gewan [...] das ward an disen dingen schin: sü liesß durch den willen sin
_____________ Tristrant prinzipiell bereit ist, um Ysalds willen zu gehen. Schausten (1999), 65 mit Anm. 52 spricht in diesem Zusammenhang von äußerster Selbsterniedrigung. 15 Letzteres so schon bei Müller (1990), 30. 16 Dies beobachtet auch schon Keck (1998), 122; allerdings führt sie Tristrants Zweifel darauf zurück, dass in der ältesten Schicht des Tristanstoffes der Liebeszauber von der Frau ausgehe, die ihm selbst nicht unbedingt unterliege.
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ir küngliche ere und trachtet ir nit mere. (E 9327–9340)17
Mit der Ehre, die ihr als Königin zugekommen war, nennt der Erzähler ein wichtiges Motiv, denn in Ysalds Handeln spielte die Sorge um ihr Ansehen von Beginn an eine wichtige Rolle. Noch in Irland, als der Truchsess behauptet, den Drachen erschlagen zu haben, und Ysald für sich zur Frau fordert, traut sie ihm eine solche Tat nicht zu. Aus Sorge um ihre Ehre (E 1777–1781) macht sie sich aus eigenem Antrieb und nur begleitet von einem Kammerherrn und ihrer Zofe Brangene auf die Suche nach dem wahren Drachentöter. Als sie ihn findet und in ihm den Mörder ihres Onkels Morholt erkennt, fühlt sie sich zur Rache verpflichtet. Tristrant weist darauf hin, dass sie ihn selbst in ihre Obhut genommen habe; ihn einer Verurteilung zum Tode auszuliefern, widerspreche dem Verhalten »g)tte[r] wib« (E 1916). Aber erst Brangene bringt das überzeugende Argument: ›ob er nun verlör den lib, so wurden ir aines wib úwers vatters sch[l]ussel tragers. was eren hetten ir des? [...] Trstrand ist ain edel man und ain held g)t.‹ (E 1947–1950)18
Dem Ehrverlust einer Heirat unter Stande mit einem Vasallen ihres Vaters ist eine Ehe mit einem durch Abkunft und persönliche Leistung ausgezeichneten Mann in jedem Fall vorzuziehen. Ysald verzichtet daraufhin zunächst auf die Rache; als Tristrant in neuen, samtroten Kleidern vor ihr steht und sie seine Schönheit bemerkt, ist sie dann nicht nur selbst zum Versöhnungskuss bereit, sondern betreibt auch aktiv und geschickt die Versöhnung zwischen ihrem Vater und Tristrant. Deren Zustandekommen kommentiert sie noch;19 dann verschwindet sie aus dem Fokus des Erzählten. Die Heiratsverhandlungen führen ihr Vater und Tristrant; nicht einmal von einer Reaktion ihrerseits auf den Wechsel des Bräutigams wird berichtet. Ausführlich zu Wort kommt Ysald wieder nach der Einnahme des Minnetranks. Zunächst spricht der Erzähler von der Scham, die sie befällt, weil sie Tristrant auf einmal so sehr liebt (E 2369–2371). Danach gibt sie sich in _____________ 17 »[...], da ließ sie Mann und Herrschaft zurück, ebenso ihren Schmuck und ihre Gewänder und alles, was sie jemals bekommen hatte. [...] Daran wurde deutlich: Sie verzichtete um seinetwillen auf ihre königliche Ehre und kümmerte sich nicht mehr um sie.« 18 »›Wenn er nun sein Leben verlöre, dann würdet ihr die Frau von eures Vaters Sch[l]üsselträger. Welche Ehre hättet ihr davon? [...] Tristrant ist von hochadliger Herkunft und ein tapferer Held.‹« – Da ein Truchsess unter anderem die Aufgabe hat, bei Tisch zu dienen, ist eine Korrektur von schlússel zu schússel begründet und wird auch durch die entsprechende Lesart der Handschrift D gestützt. 19 Sie bezeichnet die Versöhnung angesichts von Tristrants Ehre als richtig. Den Kampf gegen Morholt rechtfertigt sie selbst als legitimen Verteidigungsakt, beim Drachenkampf hebt sie den Nutzen für Irland hervor (E 2145–2156).
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einem langen Soliloquium Rechenschaft über ihre Gefühle.20 Sie liebt Tristrant heftig, ohne ihn kann sie nicht überleben – Tristrant erfüllt ja auch alle Erwartungen an einen höfischen Helden vollkommen (E 2414–2438). Gleichzeitig fürchtet sie, dass er sie keineswegs liebe – das muss sie daraus schließen, dass er leichthin auf eine Ehe mit ihr zugunsten seines Onkels verzichtete (E 2552–2559). Daraus ergibt sich für Ysald ein Dilemma, denn wenn sie Tristrant ihre Liebe gesteht und er weist sie zurück, verliert sie ihre Ehre; tut sie es nicht, stirbt sie. Es ist nicht der Ehrverlust mit Blick auf ihren Status als Verlobte Marcks, sondern der Gesichtsverlust vor Tristrant, den sie fürchtet: ›ich wän, ich m)ß es im sagen. owe, wie t)n ich dann also? was er úbels dar z) jo gedenckt, also er wol mag! so úberwind ich nit den tag gen im mmer mere. ich wen, ich wöll min ere waugen‹, sprach das schön wib, ›ich will verließen minen lib, ee ich es mmer gesag. nain, das wer gr!ß schad.‹ (E 2580–2590)21
Im Hin und Her der Optionen entscheidet sie sich schließlich dafür, das Wagnis eines Liebesgeständnisses auf sich zu nehmen.22 Wenig später geben Brangene und Kurneval ihr die Gelegenheit dazu, und die lebensrettende Liebesvereinigung findet statt. Der sich wiederum aus dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit ergebenden Bedrohung ihrer Ehre begegnet sie auf Kosten ihrer Vertrauten Brangene mit dem Plan zum Brauttausch in der Hochzeitsnacht (E 2725–2739). Nach der Hochzeitsnacht, in der Ysald übrigens wieder aus dem Fokus der Wahrnehmung gerückt ist, zweifelt sie an Brangenes Verschwiegenheit und lässt einen _____________ 20 Der zweihundert Verse umfassende ›Minnemonolog‹ (E 2398–2598) wurde auf Grund seiner Ähnlichkeit mit einer Passage aus Heinrichs von Veldeke Eneasroman zur Datierung von Eilharts Werk herangezogen. Entschiedener Vertreter der Auffassung, Eilhart folge Heinrich, ist Wolff (1974). Bußmann (1969) erklärt die Ähnlichkeiten hingegen durch einen »gemeinsamen Rückgriff auf einen gleichen Traditionszusammenhang« (59). Trotz der topischen Elemente trägt der ›Minnemonolog‹ entscheidend zur Charakterisierung Ysalds bei. Seine für den sonstigen Erzählgestus Eilharts außergewöhnliche Länge könnte mit einer ›Ausgleichsfunktion‹ für die langen handlungsintensiven Textpassagen erklärt werden, in denen Tristrant im Fokus des Erzählten steht und Ysald allenfalls erwähnt wird. 21 »›Ich glaube, ich muss es ihm sagen. Ach, was tue ich denn dann? Freilich, was er Schlechtes darüber denken mag, was ja gut sein kann! Dann werde ich diesen Tag ihm gegenüber niemals verwinden. Ich glaube, ich setze meine Ehre aufs Spiel‹, sagte die schöne Frau. ›Lieber will ich sterben, bevor ich es ihm jemals sage. Nein, daraus entsteht zu großer Schaden.‹« 22 Das ist lediglich eine lebensrettende Maßnahme und keineswegs eine freiwillige Entscheidung für das Leben und die Liebe, die Ysald zur idealen Geliebten machen würde, wie Mälzer (1991), 136 behauptet.
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Mordanschlag auf sie ausüben. Als sie sie tot glauben muss und erfährt, dass Brangene ihre Treue auch im Angesicht des Todes bewahrt hat, bereut Ysald ihr Misstrauen und bittet Gott, den Mord an ihrer Ehre und an ihrem Leben zu strafen (E 2992–2995). Da Brangene lebt und zur Versöhnung bereit ist, ist Ysalds öffentlicher Ehrverlust erneut abgewendet. Es wird aber deutlich, welche Maßnahmen Ysald zu ergreifen bereit ist, wenn es um die Rettung ihres Lebens und ihrer Ehre geht. Eine persönliche Hinwendung zu Tristrant, ein Handeln um seinetwillen, ist darin nicht zu entdecken. Das setzt sich fort, als Marck die Liebenden beim Kuss ertappt und Tristrant umgehend des Hofes verweist. Sofort macht sich die intensive Trankwirkung bemerkbar und beide werden krank. In ihrer durch Brangene überbrachten Botschaft an Tristrant (E 3324–3330) nennt Ysald aber außer einer Begegnung mit ihm noch ein zweites Mittel, das ihre Krankheit heilen könnte, nämlich die Rache an den Neidern (von denen der Hörer/Leser weiß, dass sie aus Eifersucht auf Tristrants Favoritenrolle das Gerede von einem Verhältnis zwischen ihm und der Königin in Umlauf gebracht haben). Unabhängig davon, ob die Anschuldigung stimmt oder nicht – das Gerücht beeinträchtigt die Ehre der Königin; dafür wünscht sich Ysald Genugtuung. Rücksicht auf ihre Ehre setzt sie auch geschickt als Argument ein, um Tristrants Rehabilitation zu betreiben. Als Marck im Baumgarten auf der Lauer liegt, von den Liebenden aber rechtzeitig bemerkt wird, lehnt sie Tristrants vorgebliche Bitte um Fürsprache ab. Da er der Anlass für das Gerede bei Hof und den Zorn Marcks gewesen sei, ziehe sie seine Verbannung vor (E 3548 f., 3554 f., 3604 f.). Diese Ansicht wiederholt sie auch am nächsten Tag im Gespräch mit Marck (E 3670–3675). Ihre unerbittliche Ablehnung bewirkt, dass Tristrant nicht nur rehabilitiert wird, sondern auch noch sein Bett in ihrer Kemenate aufschlagen darf. Die lebensnotwendigen Begegnungen mit ihm sind dadurch für eine gewisse Zeit einfach und gefahrlos zu bewerkstelligen. Ysald hat zwar die Sorge um ihre Ehre ostentativ und geschickt eingesetzt, um ihr Ziel zu erreichen, aber sie brauchte sie nicht vorzutäuschen, da sie authentisch ist. In den folgenden Episoden liegt der Schwerpunkt der Darstellung erneut auf Tristrant. Von einer Reaktion Ysalds auf die endgültige Entdeckung des Paares, auf das Todesurteil durch König Marck, auf die Nachricht von der Flucht Tristrants, auf ihre Übergabe an die Aussätzigen und auf ihre Befreiung durch Tristrant wird nichts erzählt. Während des vom Erzähler dominierten Waldlebens erfährt man über Ysald ganz knapp, dass sie bereit ist, die Pferde zu halten (E 4522 f.) und Nachrichten von Tristrant an Kurneval zu übermitteln (E 4676– 4678b) – in der Ausnahmesituation des Ächterlebens widersprechen diese Dienste offensichtlich nicht ihrer Ehre. Auch als die lebensbedrohende Phase der Trankwirkung nachlässt, ist Ysald zunächst kaum wahrzunehmen, da in der Unterredung mit dem Einsiedler ihr knappes Einverständnis dazu, an Marck zurückgegeben zu werden, lediglich in indirekter Rede wiedergegeben ist (E 4748 f.). Marck nimmt sie von Tristrant entgegen »und hett sie sder /in
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rechter liebin menig jar« (E 4980 f.: »und war ihr seitdem in rechter Liebe viele Jahre lang zugetan«), aber über sie erfährt man nichts. Als Tristrant ihr zum Abschied seinen Hund mit dem Auftrag schenkt, diesen an seiner Stelle ihrer Liebe entsprechend zu behandeln, sagt sie kein Wort, nimmt aber den Hund – das bildliche Symbol für Treue – sogleich »lieplich« (E 4993) und eigenhändig entgegen. Aus dem Verhalten Marcks lässt sich schließen, dass ihr wieder alle Ehre, die einer Königin zusteht, erwiesen werden wird. Der Hund bestätigt aber zeichenhaft ihre weitere Bindung an Tristrant. Auch für Ysald stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ehre und Minne nach dem Ende der intensiven Trankwirkung neu. Beim so genannten ersten Rückkehrabenteuer, als Tristrant seinem Schwager Kehenis beweisen muss, dass seine Ehefrau ihn weniger gut behandle als eine andere Dame ihren Hund um seinetwillen, gehen Ehre und Minne noch weitgehend konform. Ysald demonstriert ihre eigene Ehre, indem sie sich als Höhepunkt einer prachtvollen höfischen Prozession inszeniert. Die Liebkosungen, die sie darauf dem Hund ostentativ zukommen lässt, gewinnen erst vor diesem Referenzrahmen ihre volle Bedeutung: Die schönste Dame, die die meiste Ehre für sich beanspruchen kann, widmet sich um Tristrants willen äußerst liebevoll einem Hund. Die Wertschätzung, die sie Tristrant damit entgegenbringt, ist ins Unermessliche gesteigert. Kehenis akzeptiert den Beweis umgehend. Wenig später gerät das Verhältnis zwischen Ehre und Minne aber aus dem Gleichgewicht: Ysald glaubt fälschlicherweise, Tristrant sei seiner Selbstverpflichtung nicht nachgekommen, alles zu tun, worum man ihn in ihrem Namen bitte. Ihr Zorn darüber ist zwar faktisch unberechtigt, aber in sich schlüssig: Sie sieht ihre Ehre durch den geschmälert, dem diese Voraussetzung für seine Rettung war. Deshalb lässt sie den als Aussätzigen verkleideten Tristrant mit Schlägen vertreiben und macht dadurch deutlich, dass sie ihre Ehre ihrer Minne überordnet. In den weiteren Episoden gewinnt die Minne jedoch zunehmend an Gewicht. Ysald beginnt sich nach Tristrant zu sehnen; sie erkennt, bekennt und büßt ihr Fehlverhalten ihm gegenüber. Mit dem Auftrag, die Versöhnung zwischen Tristrant und ihr zu betreiben, schickt sie einen Boten, dessen Entdeckung sie aber sehr fürchtet.23 Als er ihr verschlüsselt den Erfolg seines Botengangs mitteilt, weint sie vor Freude (E 7432). Beim zweiten Rückkehrabenteuer Tristrants heilt sie ihm »mit lieb und minne« (E 7696) seine Schläge – Minne kann jetzt den Ehrverlust kompensieren, das Gleichgewicht zwischen den Werten ist wiederhergestellt. Zugunsten der Minne senkt sich die Waage im dritten Rückkehrabenteuer. Tristrant und sein Vertrauter Kurneval haben sich als fahrende Knappen verkleidet. Sie sind schon auf dem Rückweg, als sie Tristrants Erzfeind _____________ 23 Der Bote erhält aus Sorge vor den Neidern nur einen mündlichen Auftrag, damit bei ihm für den Fall, dass er aufgegriffen wird, nichts Schriftliches gefunden wird (E 7114–7126). Als er nach seiner Rückkehr vor König Marck tritt, bricht Ysald der Angstschweiß aus, weil sie fürchtet, er könne sich verraten (E 7408–7412).
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Antret erkennt; mit Mühe können sie ihm entkommen. König Marck richtet auf diese Nachricht hin überall Kontrollposten ein. Ysald steckt darauf zwei Habenichtse in Kleider, wie sie auch Tristrant und Kurneval getragen haben. Diese werden gefangen genommen und können glaubhaft machen, dass sie es waren, die Antret verfolgt hat. Marck beendet die Überwachung der Straßen, Tristrants Gefangennahme ist noch einmal abgewendet. Dass es Ysald mit ihrer List um mehr als nur die Bewahrung ihrer Ehre ging, zeigt ihr Gespräch mit den beiden Habenichtsen. Zunächst verspricht sie ihnen reichen Lohn für die Erfüllung eines Auftrags. Dann aber schildert sie ihnen Tristrants (und damit auch ihre eigene) Situation und bittet: »behaltent mir armen wib/sinen lib und min er« (E 8404 f. »Bewahrt mir armer Frau sein Leben und meine Ehre«). Durch die Reihenfolge der Wertbegriffe, unterstrichen noch durch den Mittelreim wib/lib, wird deutlich, dass Ysald inzwischen Tristrants Leben wichtiger als die eigene Ehre ist. Während des vierten Rückkehrabenteuers teilt Ysald dann das Bett mit einem hässlichen Narren, weil er Tristrant ist. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Verzicht auf jegliche königliche Ehre um Tristrants willen, und, da Ysald ihn tot antrifft, auch zum Verzicht auf das eigene Leben. So, wie Eilhart die Tristan-Geschichte erzählt, ist die Liebe, die zunächst aus dem Trank entsteht, keineswegs vollkommen, sondern von außen kommend, absolut, destruktiv und lebensbedrohlich. Erst nachdem die intensive Trankwirkung nachgelassen hat, entsteht Raum, diese Liebe als etwas zu akzeptieren und zu gestalten, was zu einem selbst gehört. Tristrant macht dies sogleich vom Zeitpunkt seiner Verbannung vom Hof Marcks an deutlich, indem er dem König seine Liebe zu Ysald bekennt, indem er sich freiwillig dazu verpflichtet, alles zu tun, worum man ihn in Ysalds Namen bittet, und indem er um Ysalds willen bereits während des ersten Rückkehrabenteuers die wenig ehrenhafte Verkleidung eines Aussätzigen wählt. Wenn vollkommene Liebe Selbstaufgabe um des Anderen willen bedeutet, so erreicht Ysald sie im Verlauf eines narrativen Prozesses, der das Verhältnis zwischen Ehre und Minne ständig neu bestimmt. Zur Vereinigung mit dem Geliebten kommt es aber erst im Tod, so dass in Eilharts Fassung zwar der Weg zur vollkommenen Liebe abgeschritten wird, es aber kaum Gelegenheit gibt, von ihr zu erzählen, nachdem sie beide Protagonisten erreicht haben.
2. Gottfried von Straßburg: Tristan (um 1210)24 Auch Gottfried von Straßburg erzählt vom Weg Tristans und Îsôts zur vollkommenen Liebe. Von Beginn an legt er seine Protagonisten komplementär _____________ 24 Einen Überblick über zentrale Ansätze und Probleme der umfangreichen Forschung zu Gottfrieds Tristan mit ausführlichen Literaturhinweisen bieten Tomasek (2007b) und Huber (2001).
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zueinander an, so dass der Minnetrank bei ihm kein zerstörerisches, tödlichen Zwang ausübendes Gift ist, sondern Zusammengehöriges zusammenfügt. Mit der Einnahme des Trankes ist der Zustand gegenseitiger Liebe erreicht; die zwei bislang getrennten Teile verschmelzen zu einer Einheit. Vollkommenheit in der Liebe ist aber bei Gottfried nicht mit dieser Einswerdung erreicht, sondern erst dann, wenn die Liebenden die Liebe als untrennbare Einheit von beseligendem Glück und tiefem Schmerz begreifen und leben. Dieses Ideal einer Liebe-LeidMinne lässt Gottfried im Verlauf der Handlung durch den Aufbau und die anschließende Destruktion verschiedener Vollkommenheitsaspekte an Tristan und Îsôt immer deutlicher hervortreten. Dieser Prozess, in den auch die Rezipienten vom Prolog an eingebunden sind, wird im Folgenden nachgezeichnet. 2.1 Vollkommenheiten 2.1.1 Vollkommene Rezipienten Im Prolog des Tristan Gottfrieds von Straßburg entwirft sich ein Erzähler-Ich sein Publikum.25 Dies geschieht zunächst im Rahmen einer allgemeineren Produktions- und Rezeptionsethik, in der der Zusammenhang zwischen Leistung und Anerkennung formuliert wird: Gedenkt man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, sô wre ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht. Der guote man swaz der in guot und niwan der werlt ze guote tuot, swer daz iht anders wan in guot vernemen wil, der missetuot. (G 1–8)26
Wenig später wird dieser Zusammenhang auf das Erzähler-Ich und sein Werk hin konkretisiert. Das Erzähler-Ich erzählt seine Geschichte »der werlt ze liebe« (G 46), genauer: einem bestimmten Teil der Welt zuliebe, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht allein die Freuden des Lebens genießen will, sondern das Ineinander von Süße und Bitternis, Liebe und Leid, Leben und Tod als _____________ 25 Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf den gemeinschaftkonstituierenden Elementen des Prologs, siehe dazu auch Kellner (2001), insb. 164–174. Eine Gesamtinterpretation des Prologs bietet Haug (1992). 26 »Pflegte man keine dankbare Erinnerung an die, von denen der Welt Gutes geschieht, so wäre all das, was Gutes in der Welt geschieht, nichts wert. Wer das, was ein guter Mensch in guter Absicht und ausschließlich der Welt zum Nutzen tut, anders als wohlwollend aufnimmt, der handelt falsch.« – Alle Gottfried-Zitate werden mit G gekennzeichnet und folgen der Ausgabe Gottfried von Straßburg, Tristan. Die Übersetzungen sind meine.
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Grundprinzip begreift und akzeptiert. Vertreter dieser Welt sind die »edelen herzen« (G 47 und öfter), und um deren Qual zu lindern, wenn sie von Liebe süßes Leid erfahren, kündigt das Erzähler-Ich die Geschichte von Tristan und Îsôt an. Die beiden sind einerseits ideale Liebende, denn an ihnen wird die Liebessehnsucht in Reinform sichtbar (G 127: »die reine sene wol tâten schîn«), andererseits sind sie durch ihre Liebe-Leid-Minne und durch das Adjektiv edel (G 126: »edele[n] senedre[n]«) zu den »edelen herzen« in direkte Beziehung gesetzt. Zusätzlich kommentiert noch das Erzähler-Ich, dass für Liebende zur Unterhaltung nichts besser geeignet sei als eine Liebesgeschichte (G 97–100, 121 f.).27 Da nun diese Liebesgeschichte in guter Absicht und zum Nutzen ihrer Hörer und Leser erzählt wird, verdient sie es – den Eingangsversen entsprechend – wohlwollend aufgenommen zu werden. Wer sich von ihr gerne trösten, bestätigen und anspornen lässt, weil er selbst vom Liebe-Leid-Prinzip überzeugt ist, der erweist sich als Teil des idealen Publikums, als »edelez herze«. Die richtige Lektüre des Romans stiftet also die Gemeinschaft der »edelen herzen« und bestätigt sie erneut bei jedem Lesen.28 Im Lesen wird die Erinnerung an Tristan und Îsôt lebendig gehalten und kann so immer wieder »edelen herzen« zur Stärkung dienen. Am Ende des Prologs wird dieses Ineinander von Erzählen und Hören, von Erinnern und Bestätigen, von Tod und Leben wirkungsvoll unterstrichen durch den über acht Verse durchgehaltenen brôt/tôt-Reim (G 233– 238). In diesen Versen wird das Hören von Leben und Tod Tristans und Îsôts zum lebensstiftenden ›täglich Brot‹ der lebenden »edelen herzen«; dadurch werden auch die toten »edelen herzen« am Leben erhalten. Hier sind wohl auch Anklänge an die christliche Eucharistiefeier beabsichtigt, an das gemeinschaftstiftende Mahl, das an die Erlösungstat Jesu Christi erinnert, die Zugehörigkeit zum neuen Bund bestätigt und zur geistlichen Stärkung der Gläubigen dient.29 Verstehend weiterlesen kann danach nur der, der die ideale Rezipientenhaltung der »edelen herzen« vollkommen eingenommen hat und dadurch zum auserwählten Kreis derer gehört, für die die Geschichte von Tristan und Îsôt erzählt wird.
_____________ 27 Die enge Beziehung zwischen der Erzählung, ihren Protagonisten, der Liebe-Leid-Thematik und dem rezipierenden Publikum wird wenig später noch deutlicher: »von den diz senemre seit/und hten die durch liebe leit,/durch herzewunne senedez clagen/in einem herzen niht getragen,/sone wre ir name und ir geschiht/sô manegem edelen herzen niht/ze slden noch ze liebe komen« (G 211–217: »Hätten die, von denen diese Liebesgeschichte handelt, nicht wegen Liebe Leid, wegen Herzensfreude Liebeskummer in einem Herzen getragen, so wäre ihr Name und ihre Geschichte nicht so vielen edlen Herzen segensreich zugute gekommen«). 28 Der richtigen Lektüre des Romans entspricht ein ›richtiges‹ Erzählen: In einem beträchtlichen Teil des Prologs (G 131–166) berichtet das Erzähler-Ich von der Mühe, die es aufgewendet hat, unter den existierenden Tristan-Versionen die richtige zu finden, um sein Erzählen daran auszurichten. 29 Willms (1994) lehnt die Anspielung auf die Eucharistiefeier dezidiert ab; Tomasek (2007b), 135, Huber (2001), 44 und 46, und Kellner (2001), 169–172 behalten den Gedanken bei.
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2.1.2 Vollkommene Protagonisten Haben sich nun die anvisierten Rezipienten durch ein außergewöhnliches Ethos auszuzeichnen, so setzt sich diese Tendenz zur Absonderung und Heraushebung auf der Erzählebene bei der Modellierung der Hauptfiguren fort. Tristan, dessen Name explizit vom französischen triste abgeleitet wird (G 1997), ist das Kind der Liebe-Leid-Minne, denn seine Mutter empfängt ihn, als sie voller Trauer um das Leben ihres Geliebten bangt, und sie gebiert ihn, während sie an der Trauer über den Tod ihres Geliebten stirbt.30 Tristan wird von klein auf in allen Künsten ausgebildet und gelangt allenthalben schnell zur Perfektion. Wie kein Zweiter beherrscht er Fremdsprachen und Buchgelehrsamkeit, Reiten sowie den Kampf mit Lanze und Schwert, das Jagen und das Schachspielen. In besonderem Maße außergewöhnlich sind aber seine musikalischen Fähigkeiten, vor allem sein Harfenspiel. Tristan ist schön, was er tut, ist auf ästhetische Weise schön, und all sein Streben ist auf das Gute und Schöne gerichtet. Damit gewinnt er sich die Herzen der Welt,31 und, als er entführt und unbekannt an fremder Küste ausgesetzt wird, die Gunst des cornischen Königs Marke, der sich erst später als sein Onkel herausstellt. Auch die irische Königstochter Îsôt wird sorgfältig erzogen. Ein Kleriker, der bereits der Lehrer ihrer Mutter gewesen war, unterrichtet sie in allem, was man aus Büchern lernen kann, und auch im Spiel der Saiteninstrumente. Als Tristan im Kampf gegen den Iren Morold von dessen vergiftetem Schwert eine Wunde davonträgt, die nur die irische Königin heilen kann, fährt er nach Irland und gibt sich dort als Spielmann Tantris aus. Îsôts Lehrer hört den todkranken Spielmann harfen und singen, erkennt dessen überragende Fähigkeiten und erwirkt bei der irischen Königin, dass sie ihn heilt. Als Gegenleistung setzt Tantris die Ausbildung der jungen Prinzessin Îsôt fort. Er breitet all sein Wissen vor ihr aus, sie wählt davon das Beste aus, nämlich Musik und vollendetes Benehmen,32 und binnen Kurzem gelangt auch sie darin zur Perfektion. Wenn sie am Hof ihres Vaters bei Festlichkeiten auftritt, wirkt die Schönheit ihres Gesangs und Harfenspiels betörend,33 noch stärker ist aber die Wirkung der unhörbaren Harmonien ihrer Schönheit: _____________ 30 Vgl. dazu Huber (1996), insb. 134–139. 31 »al diu werlt diu truog in an/friundes ouge und holden muot,/als man dem billîchen tuot/des muot niwan ze tugenden stât,/der alle untugende unmre hât« (G 2142–2146: »Die ganze Welt brachte ihm Freundschaft und Zuneigung entgegen, wie man es zu Recht gegenüber dem tut, der allein nach Tugend strebt und dem jede Untugend verhasst ist«). 32 »under aller dirre lêre/gab er ir eine unmüezekeit,/die heizen wir morâliteit./diu kunst diu lêret sch#ne site« (G 8004 f.: »Unter allen seinen Lehren ließ er sie sich mit morâliteit beschäftigen. Diese Kunst lehrt gutes Benehmen«). 33 Der Erzähler vergleicht Îsôts Musizieren, das Gedanken aus den Herzen der Zuhörenden anzieht, mit dem Gesang der Sirenen und dem Magnetstein, die Schiffe anziehen. Îsôts musikalische Perfektion scheint also nicht ganz ungefährlich zu sein. Vgl. dazu auch Schindele (1971), 41–44, und Kern (2000), 11–16.
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sô was der tougenlîche sanc, ir wunderlichiu sch#ne, die mit ir muotged#ne verholne unde tougen durch die venster der ougen in vil manic edele herze sleich und daz zouber dar în streich, daz die gedanke zehant vienc unde vâhende bant mit sene und mit seneder nôt. (G 8126–8135)34
Empfänglich für Îsôts unsichtbare Musik sind einmal mehr »edele herzen«. Über die Etablierung des Begriffs im Prolog sind damit diejenigen im Publikum am irischen Königshof gemeint, die sich das Liebe-Leid-Prinzip zu Eigen gemacht haben. Grundsätzlich sind aber auch alle Leser, die sich zum Kreis der »edelen herzen« zugehörig fühlen, von der bezaubernden Darbietung betroffen. Îsôts Musik bewirkt jedoch kein zielgerichtetes Minnestreben – schon gar nicht bei Tantris/Tristan, von dem an dieser Stelle überhaupt nicht die Rede ist – sondern ein unklares Verlangen, eine irgendwie geartete Liebesstimmung (G 8106 f.: »diu wîselôse ger,/der ungewisse minnen muot«). Die Figuren Tristans und Îsôts sind komplementär zueinander gestaltet,35 da Tristan durch seine Abkunft prädestiniert für die Liebe-Leid-Minne ist, während Îsôt über die Eigenschaft verfügt, Liebesverlangen auszulösen. Beide sind hinsichtlich ihrer künstlerischen Begabungen und ihrer Schönheit einzigartig, und das Lehrer-Schülerin-Verhältnis bindet sie noch enger aneinander. Es trennt sie jedoch, dass Tristan in Morold den Onkel Îsôts erschlagen hat. Als Tristan als Brautwerber seines Onkels Marke ein zweites Mal nach Irland reist, einen Drachen erschlägt und dadurch einen Anspruch auf Îsôt erwirbt, erkennt sie ihn als den Mörder ihres Onkels. Um Îsôts Heirat unter Stande mit dem feigen Truchsessen ihres Vaters zu verhindern, stimmen ihre Eltern Tristans Brautwerbung für Marke zu. Es kommt zum Friedensschluss zwischen Irland und _____________ 34 »Der unsichtbare Gesang wiederum war ihre wunderbare Schönheit, die mit ihren Gemütsklängen verborgen und unsichtbar durch die Fenster der Augen in viele edle Herzen schlich und den Zauber darin verbreitete, der die Gedanken sofort einfing und mit Sehnsucht und Liebesschmerz gefangen setzte.« 35 Anlässlich des Gerichtstages am irischen Königshof, an dem der Truchsess seinen falschen Anspruch auf Îsôt geltend macht, wird das durch eine ausführliche Beschreibung Îsôts und Tristans engführend unterstrichen. Îsôt ist prachtvoll gekleidet und auch unter der Kleidung so schön, als sei sie von der Minne selbst so perfekt gebildet worden (G 10955–10957: »daz bilde, daz diu Minne/an lîbe und an dem sinne/sô schône hete gedrt«). Sie raubt so manchem anwesenden Mann den Verstand (G 10964 f.: »ich wne, Îsôt vil manegen man/sîn selbes dâ beroubete«). Tristan kommt erst später hinzu, bleibt also erneut räumlich von der Wirkung von Îsôts Auftritt getrennt. Seine Erscheinung ist aber nicht weniger prächtig und wirkungsvoll als die Îsôts: »des dinc was ouch ze prîse/und ze wunder ûf geleit/an iegelîcher slekeit,/diu den ritter schephen sol« (G 11096–11099: »Er war auch rühmenswert und wunderbar mit jeglicher Vollkommenheit versehen, die einen Ritter ausmacht«). Die Öffentlichkeit am irischen Hof bestätigt diesen Eindruck ausdrücklich (G 11208–11220).
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Cornwall und zur Versöhnung mit Tristan, die Îsôt nur widerwillig mitträgt. Obwohl sie aufeinander zu komponiert sind, kann Liebe zwischen ihnen noch nicht entstehen, da Îsôt Tristan die Schuld an ihrem doppelten Leid, am Tod des Onkels und am Verlust der Heimat, gibt, und Tristan als Brautwerber König Markes den gebotenen Abstand wahrt.36 2.1.3 Vollkommene Einheit Mit der Einnahme des Minnetranks werden diese letzten Schranken beiseite geräumt.37 Die beiden komplementären Figuren ergänzen sich durch die Macht der Minne zu einer einzigen: si wurden ein und einvalt, die zwei und zwîvalt wâren ê; si zwei enwâren dô nimê widerwertic under in: Îsôte haz der was dô hin. diu süenrinne Minne diu hete ir beider sinne von hazze alsô gereinet, mit liebe alsô vereinet, daz ietweder dem andern was durchlûter alse ein spiegelglas. si heten beide ein herze: ir swre was sîn smerze, sîn smerze was ir swre; si wâren beide einbre an liebe und an leide. (G 11720–11735)38
Zum Ideal der Liebe-Leid-Minne tritt hier der Aspekt der vollkommenen Einswerdung der Liebenden. Dieser Gleichklang der Gefühle und Ansichten wird _____________ 36 So schließt er z. B. die Heimwehkranke tröstend in die Arme, aber »niuwan in der wîse,/als ein man sîne frouwen sol« (G 11564 f.: »nur so, wie es ein Untergebener mit seiner Herrin tun darf«). Îsôt weist diese freundliche Geste brüsk zurück. 37 Im Gegensatz zu Eilhart hat dieser Trank keine zweiphasige Wirkkraft. Das Erzähler-Ich sagt von ihm: »mit sweme sîn ieman getranc,/den muose er âne sînen danc/vor allen dingen meinen,/und er dâ wider in einen;/in was ein tôt und ein leben,/ein triure, ein fröude samet gegeben« (G 11443–11448: »mit wem auch immer jemand von ihm trank, den musste er, ohne es zu wollen, mehr als alles andere lieben, und der wiederum ihn allein. Ihnen war zusammen ein Tod und ein Leben, eine Trauer und eine Freude zuteilgeworden«). 38 »Sie wurden eins und einerlei, die zuvor zwei und zweierlei waren. Niemals wieder waren die beiden dann feindselig gegeneinander. Îsôts Hass war dahin. Minne, die Versöhnerin, hatte ihre beiden Herzen vom Hass gereinigt und mit Liebe so verbunden, dass jeder dem anderen so durchsichtig wie Glas war. Sie hatten zusammen ein Herz. Ihr Kummer war sein Schmerz, sein Schmerz war ihr Kummer. Sie waren einträchtig in Liebe und Leid.«
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im Verlauf des Romans immer wieder betont,39 besonders eindrücklich aber in der Episode, in der Tristan einen gefährlichen Riesen erschlägt und zum Dank das Feenhündchen Petitcreiu erhält. Um dessen Hals hängt ein Zauberglöckchen, das so lieblich klingt, dass es jedem, der es hört, jegliche Traurigkeit nimmt. Tristan verzichtet selbst auf die wohltuende Wirkung des Glockenklangs und schenkt Îsôt das Hündchen, weil er ihren Liebesschmerz lindern will. Îsôt wiederum zerstört das Glöckchen, da sie nicht in Freuden leben will, während Tristan ihretwegen Kummer leidet. Was sie in einem Soliloquium selbst formuliert (G 16372– 16391), wird vom Erzähler noch einmal abschließend bestätigt: sine wolte doch niht frô sîn: diu getriuwe, stte senedrîn, diu hete ir fröude unde ir leben sene unde Tristande ergeben. (G 16403–16406)40
Durch diese Doppelung wird das Außerordentliche der Episode herausgehoben. Îsôt bejaht nämlich die Einheit von Herz und Sinn mit Tristan in der Liebe selbst dann, als mit dem Glöckchen ein wirksamer Gegenzauber zum Minnetrank gefunden ist. Der Erzähler wertet Îsôts Verzicht auf die Wirkung des Glöckchens positiv, indem er ihr die Prädikate getriuwe und staete zuerkennt, die in der dem Ideal der Hohen Minne verpflichteten Liebeslyrik wichtiger Bestandteil der vollkommenen ethischen Grundhaltung des Sänger-Ichs sind. Bei Tristan gibt es ein ähnlich geartetes Bekenntnis, bei ihm zum Aspekt der Liebe-Leid-Minne. Als Brangaene noch auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall den versehentlich eingenommenen Minnetrank als todbringend bezeichnet (G 12491–12493), nimmt Tristan diese Wirkung ausdrücklich auf sich: ›nu walte ez got!‹ sprach Tristan, ›ez wre tôt oder leben: ez hât mir sanfte vergeben. ine weiz, wie jener werden sol: dirre tôt der tuot mir wol. solte diu wunneclîche Îsôt iemer alsus sîn mîn tôt, sô wolte ich gerne werben umbe ein êweclîchez sterben.‹ (G 12498–12506)41
_____________ 39 Z. B. »ir beider sin, ir beider muot,/daz was allez ein und ein,/jâ unde jâ, nein unde nein;/[...]/an in was niht gescheiden./dâ wâren beide an beiden« (G 13014–13020: »Ihr beider Herz und Sinn waren vollkommen gleich und einträchtig, ja und ja, nein und nein. [...] Nichts war verschieden, bei beiden waren immer beide vorhanden«). Siehe auch unten unter 2.2. 40 »Die treue und standfeste Liebende hatte ihre Freude und ihr Leben allein der Liebessehnsucht und Tristan gewidmet.« 41 »›Das walte Gott!‹, sagte Tristan. ›Ob Tod oder Leben – ich wurde auf angenehme Weise vergiftet. Ich weiß nicht, wie der andere Tod werden wird. Dieser jedenfalls tut mir gut. Sollte die wundervolle Îsôt immer auf diese Weise mein Tod sein, so bemühe ich mich gerne um ein ewiges Sterben.‹«
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Auch hier kommentiert der Erzähler anschließend noch einmal zur Verdeutlichung, dass es Freude ohne Leid nicht geben kann, und bindet Tristans Äußerung so an das Ideal des Liebe-Leid-Prinzips an. Diese Momente der freien Entscheidung machen deutlich, dass die Liebe von Tristan und Îsôt bei Gottfried nicht die zwangsläufige Wirkung eines Giftes ist. Der Trank wirkt wie eine »Initialzündung«42, um längst aufeinander Angelegtes in den Zustand der Minne zu überführen, und diese Überführung selbst mit allen ihren Konsequenzen wird von beiden Beteiligten freiwillig angenommen. 2.2. Unvollkommenheiten 2.2.1 Vollkommene Protagonisten? Bevor die Minne in ihre Herzen einzog und darin die Herrschaft übernahm, waren Tristan und Îsôt Idealbilder einer Schönheit, die geistige, körperliche, ästhetischkünstlerische und moralische Schönheit umfasste und von der Gesellschaft bewundernd anerkannt wurde.43 Mit der Einnahme des Minnetranks ergibt sich zwar die erzähllogische Konsequenz, dass die komplementär und in ihrer Perfektion ebenbürtig aufgebauten Figuren auch in der Liebe zueinander finden. Nach den Maßstäben der Gesellschaft treten aber mit dieser Zusammenführung die äußere und innere Schönheit der beiden auseinander, denn die Liebe zwischen Tristan und Îsôt ist nur um den Preis von Betrug, Verrat und Ehebruch zu bekommen. Narrativ wird diesem Widerspruch auf mehreren Ebenen begegnet. Zum einen ist im Prolog dem Publikum der »edelen herzen« eine Geschichte von »edelen senedren« angekündigt worden, die das Liebe-Leid-Ethos in ihrem Leben und Sterben in vorbildlicher Weise erfüllt haben. Für diese idealen Rezipienten ist die Außen-Innen-Relation der Schönheit der Protagonisten nicht _____________ 42 Huber (2001), 81. Hellgardt (2002) hält die suprarationale Herkunft der Liebe zusammen mit dem Entwurf einer aporetischen Handlung für konstitutiv für mittelalterliches Erzählen von der Liebe als Passion. Einen hilfreichen Forschungsüberblick zum Minnetrank und seinen Interpretationen bietet Johnson (2003). 43 Lediglich in der Morgan-Episode (V. 5292–5624) fällt ein Schatten auf Tristans moralische Vollkommenheit. Morgan befindet sich mit seinem Gefolge im Wald auf der Jagd, als Tristan kommt, um die Verleihung des Lehens seines Vaters zu erbitten. Tristan und seine Leute wappnen sich, verbergen aber die Rüstung unter ihrer Kleidung, wodurch sie den Tatbestand der Heimtücke erfüllen. Im Weiteren erschlägt Tristan den nur mit leichter Jagdkleidung bekleideten Morgan im Zorn, nachdem der ihn durch den Vorwurf unehelicher Geburt provoziert hat. Die anschließende kriegerische Auseinandersetzung mit Morgans Leuten kann Tristan nur mithilfe Ruals als Sieger verlassen. Der Erzähler kommentiert: »hie mite sô was Tristande/sîn lêhen und sîn sunderlant/verlihen ûz sîn selbes hant« (G 5622–5624: »Auf diese Weise wurde Tristan sein Lehen und sein eigenes Land von ihm selbst verliehen.«). Durch den unmittelbar anschließenden, positiv konnotierten Befreiungskampf gegen Morold tritt das unhöfische Verhalten Tristans in der Morgan-Episode aber schnell in den Hintergrund.
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gestört, da der äußeren Schönheit Tristans und Îsôts innen das Ideal der LiebeLeid-Minne entspricht, für das »edele herzen« bewundernde Anerkennung (êre) zollen.44 Durch die Dreieckskonstellation und den daraus erwachsenden Betrug an König Marke wird der idealen Liebe der idealen Protagonisten die Leiddimension von außen hinzugefügt. Es ist gerade die Ehebruchsliebe, an der sich die Vollkommenheit des Liebespaares zu erweisen hat. Zum anderen wird der Verrat gegenüber König Marke lange nicht als solcher explizit benannt. Nach der Einnahme des Minnetranks kämpft Tristan mit Rücksicht auf seine Ehre (êre) und Treue (triuwe) lange standhaft (stte) gegen die aufkeimende Minne an (G 11745–11792). Damit sind zwar drei Kernbegriffe feudalrechtlicher Tugend benannt; diese aber auf Tristans gefolgschaftsrechtliches und verwandtschaftliches Verhältnis zu König Marke zu beziehen, bleibt den Lesern überlassen. Der Name des cornischen Königs fällt nicht, und auch Tristans Situation als Brautwerber wird nicht thematisiert. Minne, die als Erbherrin Tristans bezeichnet wird, erweist sich letztlich als stärker als Triuwe und Êre zusammen; ihr muss er Gefolgschaft leisten.45 Auch bei Îsôts Kampf gegen die Liebe wird die Tatsache, dass sie einem anderen Mann versprochen ist, mit keinem Wort erwähnt (G 11793–11851). Die Kräfte, die in ihrem Fall versuchen, sich gegen die Liebe anzustemmen, sind schame (Schüchternheit) und maget (Status einer Jungfrau). Gegen die minne und den man sind sie jedoch chancenlos, da schame recht eigentlich nach Liebe strebt und die maget den Mann gewinnen will. Îsôt wagt schließlich in verrätselter Form das Geständnis ihrer Liebe; Tristan versteht und bestätigt. Um eine Liebesvereinigung möglich zu machen, muss Îsôts Cousine und Hofdame Brangaene eingeweiht werden. Sie nennt dann zwar allgemein Schande und Ehrverlust als Konsequenz, sollte die Liebe zwischen Tristan und Îsôt publik werden (G 12134–12152), aber auch sie erwähnt die bevorstehende Heirat nicht explizit. Danach ist die Überfahrt für die Liebenden eine Zeit des Glücks. Erst als sie sich dem Ende zuneigt, wird die Freude durch »vorvorhte« (G 12399) getrübt und von »dem manne« (G 12405) gesprochen, den Îsôt nicht heiraten will, wenig später von »dem künege« (G 12430), dem Îsôts Verlust der Jungfräulichkeit verheimlicht werden muss. In G 12447 wird Marke zum ersten Mal wieder mit Namen genannt.46 So wird König Marke und der Verrat an ihm aus dem Zentrum der Wahrnehmung der Rezipienten gerückt und zugunsten der Entwicklung der Liebe bei Tristan und Îsôt narrativ marginalisiert. _____________ 44 Etwas Ähnliches beobachtet Gerok-Reiter (2002), die bei Gottfried keine Opposition zwischen minne und êre sieht. Durch einen im Verlauf des Textes erfolgten Umcodierungsprozess des Begriffs êre habe diese denen zuzukommen, die auf die rechte Weise, d. h. in emotionalpersonaler Übereinstimmung lieben. Minne solle nicht länger mehr oder weniger zwangsläufige Folge von êre sein, sondern ihre Voraussetzung. 45 Die Entscheidung des Herausgebers, die Begriffe groß zu schreiben, verdeutlicht die Tendenz der Szene, einen quasi-allegorischen Kampf von Seelenkräften darzustellen, ohne seinen Anlass ganz konkret zu betonen. 46 Zuletzt war sein Name in G 11464 gefallen.
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Êre und triuwe verlieren zwar zunächst den Kampf gegen die aufkeimende Liebe in Tristans Innerem, bleiben aber als Werte ausdrücklich bestehen und gewinnen in einer zweiten Auseinandersetzung die Oberhand.47 Tristan wird Îsôt an Marke übergeben; damit werden Betrug und List unausweichlich. Es ist die Minne selbst, die Îsôt auf den Gedanken bringt, in der Hochzeitsnacht Brangaene an ihrer Stelle Marke ins Bett zu legen: alsus sô lêret minne durnehteclîche sinne ze valsche sîn verflizzen, die doch niht solten wizzen, waz ze sus getâner trüge und ze valscheit gezüge. (G 12451–12456)48
Zum dritten wird also Betrug zur Abwehr der Gefahr von Ehrverlust für die Liebenden dadurch narrativ sanktioniert, dass die Liebe selbst ihn lehrt. Aus Sorge um ihre êre, die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen bisher auf Grund ihrer vollendeten Erfüllung aller höfischen Tugenden zuteil geworden war, werden Tristan und Îsôt aber nicht nur Marke immer wieder hintergehen. Insbesondere Îsôt verlässt dabei den Rahmen menschlichen und göttlichen Rechts, indem sie einen Mordanschlag auf die bis zu diesem Zeitpunkt einzige Mitwisserin Brangaene organisiert, die ihr Leben nur durch eine geistesgegenwärtige Reaktion retten kann.49 Auch der Eid für ein Gottesurteil wird so manipuliert, dass Gott sich bereit finden kann, die Unschuld Îsôts scheinbar zu bestätigen (G 15737–15746). Tristan und Îsôt nutzen ihre geistige Überlegenheit, um den Ehebruch zu decken, und um ihre Ehre dem Anschein nach zu wahren, ist vor allem Îsôt anscheinend jedes Mittel recht. Die Einheit von intellektueller Vollkommenheit, rechtem Verhalten und gesellschaftlicher Anerkennung ist gestört. Gegen Ende von Gottfrieds Fragment verliert sogar Tristans und Îsôts überlegenes Listhandeln seine Perfektion. Nach der Rückkehr aus der Minnegrotte an den Hof verbietet Marke den Liebenden ihre innigen Blicke und ihr vertrauliches Beisammensein (G 17716–17725). Das Verbot bewirkt jedoch, dass sich Tristan und Îsôt mehr nacheinander sehnen als jemals zuvor. Insbesondere Îsôt leidet unter der huote, dem Kontrollblick der Hofgesellschaft. Frauen – so führt der Erzähler in einem Teil eines umfangreichen Exkurses aus – entwickelten als Nachfahrinnen Evas gerade nach dem, was ihnen verboten wurde, ein _____________ 47 »swer sich an niht wil kêren/wan an des lîbes gelust,/daz ist der êren verlust« (G 12514–12516: »Wer nur auf körperliche Lust aus ist, der verliert seine Ehre«) – »die selben sigelôsen zwô [sc. êre und triuwe]/die gesigeten an der minne dô« (G 12529 f.: »Die beiden [zuvor] Unterlegenen besiegten dieses Mal die Liebe«). 48 »So lehrt die Liebe aufrichtige Gemüter, auf Falschheit bedacht zu sein, die doch eigentlich nicht wissen sollten, was für einen solchen Betrug und allgemein für Hinterlist tauglich ist.« 49 Der Erzähler kommentiert: »diu sorchafte künigîn/diu tete an disen dingen schîn,/daz man laster und spot/mêre fürhtet danne got «(G 12713–12716: »Die beunruhigte Königin ließ daran deutlich erkennen, dass man Schande und Spott mehr als Gott fürchtet«).
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unstillbares Verlangen. Einer Frau, die sich entgegen dieser natürlichen Veranlagung verhalten könne, gebühre höchstes Lob. Mit einer Reihe von Adynata unterstreicht der Erzähler die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Verhaltens (G 17929–17989). Als glückselig preist er die Frau, die mit sich selbst im Reinen in ausgewogener Weise die Ansprüche ihres Körpers und ihrer êre zu berücksichtigen weiß.50 Îsôt aber ist nicht in der Lage, dem Druck des Verbotes und ihrem Liebesverlangen zu widerstehen. In der Mittagshitze lässt sie in ihrem Baumgarten ein Lager bereiten und schickt nach Tristan, dass er umgehend kommen möge. Der Erzähler kommentiert: nu tete er [Tristan] rehte als Âdam tete: daz obez, daz ime sîn Êve bôt, daz nam er und az mit ir den tôt. (G 18166–18168)51
Schlafend werden die Liebenden von Marke überrascht. Nachdem er den Ehebruch mit eigenen Augen gesehen hat, gibt es kein Wahren des Anscheins mehr. Tristan muss fliehen. Einerseits wird zwar vom Erzähler betont, dass das Fehlverhalten nicht bei Îsôt und Tristan liege, sondern bei dem, der das Verbot ausgesprochen und die huote verhängt hat. Andererseits sind die Liebenden zu Eva und Adam im Paradies und damit zum paradigmatischen Sündenfall in Bezug gesetzt. Spätestens hier ist Tristans und Îsôts alle Gebiete umfassende Vollkommenheit ernsthaft in Frage gestellt. 2.2.2 Vollkommene Einheit? Die Liebenden bewahren ihre vollkommene Einheit im Denken und Fühlen nicht nur gegen den zunehmenden Druck des argwöhnisch gewordenen Marke und seines Hofes,52 sondern auch – wie an der Petitcreiu-Episode ersichtlich wurde – gegen die Versuchung, alleine dem Leid zu entrinnen. Hinsichtlich ihrer _____________ 50 Ausführlich zu Argumentation und Interpretation des huote-Exkurses äußert sich Tomasek (2007b), 160–172. 51 »Da tat er [Tristan] genau dasselbe wie Adam. Das Obst, das ihm seine Eva anbot, das nahm er und aß gemeinsam mit ihr den Tod.« 52 Z. B. als die Liebenden darunter leiden, dass Tristan der Kontakt mit den Damen des Hofes untersagt worden ist: »ez enwas ouch an in beiden/nie mê wan ein herze unde ein muot;/ir beider übel, ir beider guot,/ir beider tôt, ir beider leben/diu wâren alse in ein geweben:/swaz ir dewederem gewar,/des wart daz ander gewar;/swaz sô dem einem sanfte tete,/des enpfant daz ander an der stete./si wâren beide under in zwei/mit übele und guote al ein« (G 14332–14342: »Bei den beiden herrschte auch immer nur ein Herz und ein Sinn. Was an Schlechtem oder Gutem jedem von beiden zustieß, beider Tod und beider Leben waren vollkommen ineinander verwoben. Was einem jeden von beiden geschah, bemerkte das andere. Was auch immer dem einen Freude bereitete, das fühlte das andere sogleich. Sie waren beide untereinander vollkommen eins, im Guten wie im Schlechten«).
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Liebesbeziehung kann Marke trotz aller Überwachung keine Gewissheit gewinnen. Die vielfältigen Indizien dafür setzen ihm aber so zu, dass er Tristan und Îsôt schließlich von seinem Hof und aus seinem Land verbannt, um die Anzeichen der Liebe zwischen ihnen nicht mehr sehen und hören zu müssen (G 16545–16624). Tristan und Îsôt hätten nun die Möglichkeit, unbehelligt von den Gegebenheiten am Markehof ihrer Liebe zu leben. Trotzdem legen sie ihren Weg in die Verbannung von vorneherein auf Rückkehr an. Sie lassen Brangaene am Hof zurück, um eine Versöhnung zwischen ihnen und Marke in die Wege zu leiten.53 Unter dem Aspekt des Liebe-Leid-Prinzips, nach dem vollkommene Einheit in der Liebe, unbeeinträchtigt von äußeren Störfaktoren, nicht von Dauer sein darf, ist das nur konsequent. Sollte die Verbannung eine Zeit vollendeten Glücks sein, so folgt ihr Leid – das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Liebe-Leid-Minne und vollkommene Einheit, die in dem ménage à trois mit Marke bisher kompatibel waren, treten hier auseinander. Der von Tristan gewählte Verbannungsort ist ein Ort der vollkommenen Liebe. Das Zentrum ist die Minnegrotte, ein Kultort der Liebe aus grauer Vorzeit, deren Aussehen und Ausstattung alle Eigenschaften der Liebe symbolisieren.54 Die Grotte ist umgeben von einer lieblichen Landschaft mit Linden, einer Quelle, Blumen und Vogelgezwitscher. Dieser locus amoenus wird begrenzt durch felsige Wildnis, die ihn eine Tagesreise weit von der Markewelt trennt. Zwar hatte Tristan zwanzig Goldmark für die Beschaffung des Notwendigsten in die Verbannung mitgenommen (G 16642–16645), am Lustort braucht er sie aber nicht, denn den Liebenden ist ihre gegenseitige Liebe und Treue Nahrung genug. Die Gesellschaft bei Hofe vermissen sie auch nicht, denn zu zweit bilden sie eine vollkommene Einheit. Als Dienerschaft stehen ihnen Linde, Schatten, Sonne, Quelle, Blumen, Laub und Gras sowie die unterschiedlichsten Vögel mit ihrem Gesang zur Verfügung. Ein vollkommenes Dasein – mit einer Einschränkung: sine hten umbe ein bezzer leben niht eine bône gegeben wan eine umbe ir êre. (G 16879–16881)55
_____________ 53 G 16665–16682. Auch Curvenâl wird, nachdem er die Liebenden zu ihrem Verbannungsort begleitet hat, zurück an den Markehof geschickt. Alle zwanzig Tage soll er die Verbannten aufsuchen und sie über Markes Absichten informieren – was er auch tut, wie der Erzähler eigens anmerkt (G 16777–16807). Von keinem der Besuche Curvenâls an der Minnegrotte wird später erzählt werden; dennoch wird auf diese Weise narrativ festgehalten, dass die Liebenden auch in der Verbannung allein schon aus Vorsicht den Kontakt zum Markehof nicht gänzlich abreißen lassen. 54 Beschreibung (G 16693–16733) und Auslegung (G 16927–17074) der Grotte erfolgen in zwei getrennten Schritten. Die ganze Minnegrotten-Episode ist so aufgebaut, dass man an jedem Element des Ortes mehrfach vorbeikommt, vgl. den auf die Arbeiten von Rainer Gruenter zurückgehenden schematischen Überblick in Huber (2001), 99. 55 »Sie hätten für ein besseres Leben nicht eine müde Mark gegeben, außer allein für ihre Ehre.«
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Ihre êre, also die Anerkennung der Gesellschaft, die ihnen durch das Gerücht vom Ehebruch und die unehrenhafte Verbannung vom Markehof entzogen wurde, kümmert Tristan und Îsôt selbst an einem Ort, der durch seine Lage und seine Eigenschaften den Gesetzen der ›Normalwelt‹ entrückt ist. Die für die Liebe perfekte Umgebung ist hier (und nur hier) defizitär, der vollkommenen Zweisamkeit fehlt etwas.56 Wie lange das Paar in der Welt der Minnegrotte verweilt, ist unmöglich zu sagen, denn ein immer gleicher Tagesablauf, an dem die immer gleichen Orte abgegangen werden, löst das Raum-Zeit-Empfinden auf.57 Die Statik der Repetition generiert ein Gefühl von Ewigkeit. Mensch und Natur befinden sich im wahrsten Sinn des Wortes im Gleichklang,58 denn die Vögel singen und musizieren ebenso wie Tristan und Îsôt, und wie die Quelle murmelt und raunt, so erzählen sich auch die Liebenden Geschichten. Thema der Erzählungen sind antike Heroinen, die im Namen der Minne viel gelitten haben. Genannt werden Phyllis, Canace, Byblis und Dido. Gottfried und der lateinisch gebildete Teil seines Publikums werden die Geschichten zu den Namen wohl gekannt haben:59 Phyllis gibt sich den Tod, weil sie sich vom Geliebten verlassen glaubt und nicht mehr die Kraft hat, länger auf seine Rückkehr zu warten. Canace wird zum Selbstmord gezwungen, weil ihr neu_____________ 56 Vgl. auch Huber (2001), 101. 57 Deshalb wird auch von keinem der Besuche Curvenâls bei Tristan und Îsôt erzählt, denn dann hätte die Zeitzählung der Markewelt Einfluss auf die Minnegrottenwelt – mit einem Besuch sind zwanzig Tage vergangen, mit zweien vierzig usw. Müller (2002) sieht im Roman ein mythisches Zeitkonzept wirken (v. a. 384–391). Dies gilt meines Erachtens insbesondere für die Minnegrottenepisode; außerhalb davon, darauf hat Tomasek (2007a) hingewiesen, ergibt sich durch Zeitangaben und Hinweise auf Jahreszeiten ein ›messbares‹ Zeitgerüst. Störmer-Caysa (2007), 95, beschreibt Fälle wie den des Aufenthalts in der Minnegrotte als »völlige[s] Herausfallen eines Helden aus der Zeit«. 58 Siehe dazu auch Wolf (1989), 218–224. 59 Phyllis (Ov. her. 2), Canace (Ov. her. 11), Byblis (Ov. met. 9, 454–665, davon ihr Brief an Caunus V. 530–563), Dido (Ov. her. 7, Verg. Aen. 4; dem deutschsprachigen mittelalterlichen Publikum wohl besser bekannt aus Heinrichs von Veldeke Eneasroman 35,37–80,22). Zur Ovid-Rezeption bei Gottfried von Straßburg siehe zuletzt Kern (2001) (mit weiteren Literaturhinweisen), zu den antiken Heroinen 42 mit Anm. 23. Ganz (1971) hat Ovidkenntnisse, nicht aber Heroides-Kenntnisse bei Gottfried nachgewiesen. Die Funktion der antiken Liebesgeschichten bestimmt er in dreierlei Hinsicht: Die antiken Heroinen seien vorbildhaft in ihrer bedingungslosen Hingabe an die Liebe, das Erzählen der Geschichten erweise Tristan und Îsôt als ideale Rezipienten, der Inhalt deute auf ihr tragisches Ende voraus. Wolf (1974), 109 sieht eine Art säkularisierte Typologie im Verhältnis der antiken Heroinen und Tristan und Îsôt. Knapp (1979), 258 f. hat dagegen als mögliche Quelle für die Reihe der antiken Heroinen den Katalog der Selbstmörderinnen in Hyginus’ Fabulae cap. 243, 6–7 angeführt und die Verbindung zu Tristan und Îsôt auf das »traurige[], letale[] Ende« beschränkt gesehen. Kern (2000), 16–20 weist darauf hin, dass bei Gottfried Herkunftsbezeichnungen statt der Patronymika bei Hyginus stehen, und geht daher von einer über bloßes Katalogwissen hinausgehenden Kenntnis der Mythen aus. Er unterstreicht noch einmal die Korrelation von ästhetischer und individueller Erfahrung bei Tristans und Îsôts vorbildlicher Rezeption der Geschichten.
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geborenes Kind und damit ihre nicht legitimierte Liebesbeziehung entdeckt wird. Byblis löst sich vor Kummer auf, als ihr Bruder ihre Liebe zurückweist und sich ihr entzieht. Dido begeht Selbstmord, da Aeneas sie verlässt, um den Auftrag der Götter auszuführen; letztlich wird er an einem anderen Ort mit einer anderen Frau glücklich werden. Die gesamte Konstellation erinnert an die Etablierung der Erzählsituation im Prolog. Tristan und Îsôt hören Liebesgeschichten, denn für »edele herzen«, die sich dem Liebe-Leid-Prinzip verschrieben haben, gibt es keine passendere Beschäftigung. Sie erzählen sich gegenseitig das traurige Schicksal der antiken Heroinen und halten dadurch die Erinnerung an deren Tod lebendig, wie es das Erzähler-Ich mit ihrer eigenen Geschichte für die »edelen herzen« im Prolog ankündigt. Das Erzählen und Hören der Liebesgeschichten ist Teil ihrer Nahrung, wie auch ihre eigene Geschichte anderen »edelen herzen« zur geistigen Speise wird. Als Geschichtenerzähler sind Tristan und Îsôt Vorbild für das Erzähler-Ich, das von sich behauptet, selbst in der Minnegrotte gewesen zu sein (G 17104– 17142). Als Zuhörer sind sie Vorbild für das Publikum der »edelen herzen«, denen das Erzähler-Ich versichert, dass man die Klause der Minne – wenn auch unter großen Mühen – erreichen könne (G 17083–17103). Die Minnegrotte und ihre liebliche Umgebung sind ein Treffpunkt für Liebende, die Schmerz und Wonne der Liebe kennen, über Raum und Zeit hinweg.60 Die antiken Heroinen, Tristan und Îsôt, das Erzähler-Ich und das ideale Publikum der »edelen herzen«, die Protagonisten, Produzenten und Rezipienten sind hier aufs engste miteinander verwoben. Alle teilen sie die Freude-Leid-Erfahrung. Aus den Psychogrammen, die Ovid mit den Briefen seiner Heroinen geschaffen hat, sind paradigmatische (und deswegen auf den Namen ihrer Heldinnen reduzierbare) Geschichten von Liebe-Leid-Minne geworden, die als gewesen erzählt und als mögliche Szenarien für Tristans und Îsôts Zukunft verstanden werden können, wenn nach den Freuden des räumlich und zeitlich entrückten Daseins in der Minnegrotte die Leiddimension wieder zu ihrem Recht kommt. Lebensbedrohliche Entdeckung wie bei Canace und der tödliche Schmerz der Trennung mit der Gefahr des Verlusts des Geliebten an eine andere Frau wie bei Dido finden in Gottfrieds Fragment noch Aufnahme. Im weiteren Verlauf der von der Stofftradition vorgegebenen Handlung stirbt Tristan wie Phyllis, weil er sich von der Geliebten verraten fühlt und keine Kraft mehr hat, ihre Rückkehr abzuwarten. Îsôt löst sich wie Byblis auf, da ihr Geliebter sich ihr für immer entzogen hat. Aber noch ermöglicht das Leben im Umfeld der Minnegrotte Tristan und Îsôt vollkommene Einheit. Wenn sie die tragischen Liebesgeschichten und damit das, was auf die eine oder andere Weise auf sie zukommen wird, vergessen wollen, ziehen sie sich ins Grotteninnere zurück, um sich den Harmonien der Musik und _____________ 60 Das Erzähler-Ich lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass die vollkommensten Bewohner der Minnegrotte Tristan und Îsôt sind (G. 17229–17245). Siehe dazu auch die Überlegungen von Wolf (1989), insb. 101–105.
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der Liebe hinzugeben. Doch gerade dort wird gegen Ende der Grottenepisode ihre vollkommene Einheit als List für den Fall einer Entdeckung optisch aufgehoben. Tristan legt auf dem kristallenen Bett der Minne sein blankes Schwert zwischen sich und Îsôt, die sich zudem ›Fuß-an-Kopf‹ mit ihm gelagert hat. So erblickt sie Marke, als er durch eines der Fenster ins Grotteninnere schaut. Er nimmt, was er sieht, nur zu gerne als Zeichen der Unschuld wahr und holt das Paar an seinen Hof zurück. Die beiden geben die ideale Zweisamkeit des Grottenlebens zugunsten der êre gerne auf (G 17698–17703). Gegen Ende von Gottfrieds Romanfragment wird die vollkommene Einheit im Denken und Fühlen der Liebenden auch von innen her in Frage gestellt. Zunächst wird sie noch einmal radikalisierend beschworen, als Marke die Schlafenden im Baumgarten ertappt. Nur Tristans Flucht kann Îsôt und ihn vor dem physischen Tod bewahren, aber durch die Trennung vom jeweils anderen kommt ihr Leben danach einem inneren Tod gleich. Îsôt lebt nur weiter, weil Tristan nicht tot ist, und er stirbt nicht, weil sie lebt. In einem Soliloquium formuliert Îsôt es so: ›wir zwei wir tragen under uns zwein tôt unde leben ein ander an: wan unser dewederez enkan ze rehte sterben noch geleben, ez enmüeze ime daz ander geben.‹ (G 18514–18518)61
Doch sie empfindet die Einheit mit Tristan als Fragmentierung ihrer selbst. Sie flieht übers Meer und bleibt in Cornwall, sie ist hier und dort, sie weiß weder, wo sie sich suchen soll, noch wo sie sich finden kann. Einheit in der Trennung führt bei ihr zu Selbstverlust. Fühlt sich Îsôt innerlich zweigeteilt, so ist Tristan wenig später tatsächlich mit zwei Isolden konfrontiert. Die andere, weißhändige Îsôt ist schön, unverheiratet, und sie liebt ihn. Tristan ist zwischen ihr und der irischen Îsôt immer wieder hinund hergerissen. Schließlich überlegt er, ob sich die Wucht der Liebe reduzieren ließe, wenn er sie auf mehrere Isolden verteilte. Als zusätzliche Rechtfertigung, sich der weißhändigen Îsôt zuzuwenden, unterstellt er – ebenfalls in einem Soliloquium – der irischen, dass die Einheit in Fühlen und Denken nicht mehr gegeben sei: ›ez entstât nu niht als wîlent ê, dô wir ein wol, dô wir ein wê, eine liebe und eine leide gemeine truogen beide; nu stât ez leider niht alsô: nu bin ich trûric, ir sît frô. [...] die fröude, diech durch iuch verbir, owî, owî, die trîbet ir
_____________ 61 »›Wir zwei bieten einander gegenseitig Tod und Leben an, denn keiner von uns beiden kann richtig sterben oder leben, ohne dass ihm der andere es darreicht.‹«
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als ofte als iu gevellet. ir sît dar zuo gesellet: Marke, iuwer hêrre und ir, ir sît heime unde gesellen alle zît; sô bin ich fremede und eine.‹ (G 19483–19499)62
Mit dem radikalen Zweifel, ob sich Îsôt überhaupt noch um ihn kümmert, schließt Tristans Soliloquium und Gottfrieds Romanfragment. Auch die vollkommene Einheit in der Liebe bleibt am Ende also nicht unangetastet. 2.3 Vollkommene Liebe-Leid-Minne Das Erzählen bei Gottfried nimmt seinen Ausgangspunkt in verschiedenen Konstruktionen von Vollkommenheit. Zunächst erzählt das Erzähler-Ich die einzig richtige Version der Geschichte von Tristan und Îsôt in der rechten Absicht. Des Weiteren zeichnet sich das Publikum der »edelen herzen« durch eine ideale Rezipientenhaltung aus. Zudem sind die Protagonisten der Erzählung hinsichtlich ihrer Intelligenz, ihrer Schönheit, ihrer Musikalität und ihres gesamten höfischen Verhaltens perfekt. Von diesen vollkommenen Protagonisten ist schließlich die vollkommene Liebe zu erwarten, die sich – dafür hat das ErzählerIch im Prolog vorgesorgt – durch das Liebe-Leid-Prinzip auszeichnen wird. Nach der Einnahme des Minnetranks auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall und in der ersten Zeit am Markehof haben Tristan und Îsôt zwar immer wieder Kummer in ihrer Liebesfreude – mal finden sie keine Gelegenheit, sich zu treffen, mal streiten sie sich, um sich nachher umso herzlicher zu versöhnen (G 13030–13049) –, ihrer Liebe fehlt aber nach Einschätzung des Erzähler-Ichs die wirkliche Leid-Dimension: Alsus treip Tristan unde Îsolt mit liebe und leit ir stunde hin: lieb unde leit was under in in micheler unmüezekeit: liep meine ich âne herzeleit. sine heten dannoch beide dekeine herzeleide, noch niht solher ungeschiht, diu hin in daz herze siht. (G 13078–13086)63
_____________ 62 »›Es ist nun nicht mehr so wie früher, als wir ein Wohl und ein Weh, eine Liebe und ein Leid beide gemeinsam trugen. So ist es leider nicht mehr. Jetzt bin ich traurig, Ihr seid froh. [...] Die Freude, auf die ich Euretwegen verzichten muss, ach, die lebt Ihr aus, so oft es Euch gefällt. Außerdem habt Ihr einen Gefährten. Marke, Euer Herr, und Ihr, Ihr habt ein Zuhause und seid immer füreinander da. Ich aber bin in der Fremde und allein.‹« 63 »Tristan und Îsôt verbrachten ihre Zeit in Freude und Leid. Freude und Leid waren mit ihnen ohne Unterlass. Ich meine Freude ohne Herzeleid. Sie hatten damals beide noch kein Herzeleid, noch kein solches Unglück, das tief ins Herz fällt.«
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Das ernsthafte Herzeleid stellt sich zum ersten Mal ein, als König Marke, veranlasst durch die ihm von seinem Truchsessen Marjodô und dem Zwerg Melot hinterbrachten Informationen, Tristan und Îsôt des Ehebruchs verdächtigt und voneinander trennt. Umgehend beginnt der Hof, sich in Hörweite Tristans den Mund über ihn zu zerreißen (G 14304–14307); seine êre steht damit in Frage. Mit nahezu denselben Worten billigt nun das Erzähler-Ich den Liebenden die LeidErfahrung zu: Er [Tristan] unde Îsôt si beide si triben die zît mit sorgen hin. triure unde klage was under in in micheler unmüezekeit. si heten leit unde leit: leit umbe Markes arcwân, leit, daz sî niht mohten hân keine state under in zwein, daz sî geredeten inein. (G 14310–14318)64
Damit erfüllen Tristan und Îsôt zum ersten Mal die vollen Erfordernisse der Liebe-Leid-Minne. Es wird aber auch deutlich, dass die vollkommene LiebeLeid-Minne nur um den Preis eines zunehmenden Verlustes der zuvor aufgebauten Vollkommenheiten zu erreichen ist. Die Anerkennung der Gesellschaft geht verloren, und um sie sich zu bewahren, nutzen Tristan und Îsôt ihre intellektuelle Überlegenheit für Betrug. Ihre äußere Schönheit ist kein bruchloser Indikator ihrer inneren Schönheit mehr. Nach der Grottenepisode wird ihre vollkommene Einheit in der Liebe brüchig und zweifelhaft. Tristans Harfenspiel bestätigt ihm am Hof von Arundêle nicht mehr eindeutig seine Verbundenheit mit der irischen Îsôt. Sein zu allen seinen Liedern gesungener Refrain »Îsôt ma drûe, Îsôt m'amie, / en vûs ma mort, en vûs ma vie!« (G 19217 f. und G 19413 f.: »Îsôt meine Geliebte, Îsôt meine Freundin, bei Euch liegt mein Tod, bei Euch liegt mein Leben!«) blendet nicht nur die weißhändige Îsôt, sondern auch ihn selbst. Das Leid, das aus diesen Verlusten entsteht, bestätigt aber in immer klarerer Form das Ideal der Liebe-Leid-Minne. Gottfried nutzt gerade die Destruktion der von ihm selbst um Tristan und Îsôt aufgebauten Vollkommenheiten, um dieses eine entscheidende Prinzip perfekt zur Geltung zu bringen. Mit ihrem Leben, soweit Gottfrieds Fragment reicht, belegen Tristan und Îsôt ihre Vollkommenheit als der Liebe-Leid-Minne verpflichtete »edele herzen« und bleiben so dem im Prolog entworfenen Publikum durch alle Höhen und Tiefen hindurch Vorbild, Bestätigung und Stärkung.
_____________ 64 »Tristan und Îsôt verbrachten sorgenvoll ihre Zeit. Trauern und Klagen waren mit ihnen ohne Unterlass. Sie hatten Leid und Leid: Leid wegen Markes Argwohn, und Leid, dass sie keine Gelegenheit hatten, zu zweit miteinander zu sprechen.«
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(Un)sichtbare (Un)vollkommenheit: Zahlensymbolik und Antikenbezug in Sir Gawain and the Green Knight ANDREW JAMES JOHNSTON (Berlin) Sir Gawain and the Green Knight zählt zu den kanonischen Texten der englischen Literaturgeschichte. Die alliterierende Verserzählung galt lange Zeit als typische Repräsentantin einer spezifisch regionalen, konservativ-aristokratischen Kultur, die sich selbstbewusst gegen das metropolitane London und seine dem Kontinent zugewandte Literaturszene abgrenzte.1 Zu diesem Bild passte auch die eigentümliche Isolation des Gawain-Dichters – nicht nur, dass sein Werk lediglich in einer einzigen Handschrift überliefert ist, es gibt weder eine bekannte Quelle noch Nachahmer. Damit steht er in scharfem Kontrast zu William Langland, beispielsweise, jenem anderen hochkanonischen Vertreter der alliterierenden Dichtung aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts.2 Dieser kommt zwar in mancher Hinsicht ebenso traditionalistisch und konservativ daher wie der Gawain-Dichter, teilte sich jedoch sein Londoner Lesepublikum mit Chaucer und fand in der so genannten Piers-Plowman-tradition zahlreiche Nachahmer.3 Inzwischen ist die strenge Kontrastierung Chaucers mit dem Gawain-Dichter jedoch überholt: Schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts brach man diese kulturhistorische Dichotomie auf und betonte die Interdependenz der beiden scheinbar feindlichen englischen Literaturtraditionen des späten 14. Jahrhunderts, nämlich der alliterierenden, zumeist in nördlichen und westlichen Dialekten verfassten, und der in der Sprache der Hauptstadt geschriebenen, die sich der Endreimdichtung bedient. So hat John M. Bowers vor nicht allzu langer Zeit in Buchlänge den zwar einigermaßen spekulativen, aber nichtsdestoweniger plausiblen Versuch gemacht, die Werke des Gawain-Dichters in der Hofkultur Richards II. zu verorten.4 Dennoch lohnt es sich, auf die teils erheblichen
_____________ 1 2 3 4
Siehe hierzu Chism (2002), 14–40. Vgl. Ganim (1983), 59. Siehe hierzu neuerdings Bowers (2007), 122–156. Vgl. Bowers (2001). Damit griff er eine Idee auf, die Michael J. Bennett bereits vertreten hatte (vgl. Bennet [1983], 234).
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ästhetischen und ideologischen Unterschiede hinzuweisen, die den GawainDichter von seinem Londoner Zeitgenossen Chaucer trennen.5 Allein der Stoff von Sir Gawain markiert bereits eine gewaltige Distanz zur Dichtung Chaucers. Chaucer hatte sich schließlich von der Welt des Artushofes abgewandt und macht sich regelmäßig über sie lustig. Es waren die Antike und die Autoren des italienischen Trecento, die für Chaucers erzählende Dichtung die zentrale literarische Herausforderung darstellten, während Camelot ein literarisches Erbe repräsentierte, das es zu überwinden galt.6 In der Begegnung mit der italienischen Literatur entwickelte Chaucer eine literaturhistorische Doppelperspektive; sie kontrastierte den direkten Zugriff auf antike Texte und Texttraditionen mit Boccaccios Projekt, antiken Genres und Themen in der Volkssprache einen als adäquat empfundenen Ausdruck zu geben. Dieser doppelte Blick, der auf eine spannungsvolle Wahrnehmung des Verhältnisses von Antike und Antikenrezeption hinauslief, gestattete es Chaucer, ein hochkomplexes Sensorium für das Problem der Geschichtlichkeit herauszubilden und im Rahmen dieser Geschichtlichkeit neue Formen des Erzählens zu erproben. Unter dem Einfluss vor allem von Boccaccios Frühwerk strukturierte er seinen Blick auf die Antike neu, suchte sich aber zugleich sowohl von Boccaccio als auch von Petrarca abzusetzen. So gelang es Chaucer, die Antike als eine ebenso vergangene wie abgeschlossene Epoche wahrzunehmen, die zwar einen gewissen modellhaften Charakter besaß, von der man sich jedoch ebenso kritisch distanzieren konnte wie von den italienischen Autoren des 14. Jahrhunderts.7 Zudem scheint Chaucer ein Bewusstsein dafür besessen zu haben, dass Kulturen der Vergangenheit nur in der Rezeption lebendig und zugleich transformiert werden. Damit aber eröffnet sich die Möglichkeit einer Pluralität der ›Antiken‹, die sich je nach Rezeptionssituation unterscheiden. Als vergangenes und abgeschlossenes, aber auch verwirrend vielfältig überliefertes und gedeutetes Zeitalter konnte die Antike als fiktionaler Experimentierraum neu erschlossen werden. Darüber hinaus ließen sich in diesem Experimentierraum ethische und politische Probleme paradoxerweise deswegen mit besonderer Aktualität diskutieren, weil ein allzu direkter Bezug auf die Gegenwart nicht gegeben war. Ganz anders verhält es sich mit dem Gawain-Dichter, von dem allgemein angenommen wird, dass er über keinerlei Kenntnis der Dichtung des Trecento verfügte.8 Sir Gawain and the Green Knight beginnt mit einem ebenso eindeutigen wie mittelalterlich-traditionellen Verweis auf die Antike, der die Welt des Königs Artus in eine direkte Kontinuitätslinie zu Troja stellt. Der Text fügt _____________ 5 6 7 8
James Simpson folgt Bowers bis zu einem gewissen Grade, beharrt aber strenger auf der spezifischen Spannung zwischen der höfisch-monarchischen und der provinziellaristokratischen Welt, die den Text zu durchziehen scheint (vgl. Simpson [2002], 283). Vgl. Edwards (2002), 2. Vgl. Edwards (2002), 11. Auch die Versuche, dem Gawain-Dichter eine Kenntnis Dantes nachzuweisen, müssen als gescheitert betrachtet werden (vgl. Wasserman/Purdon [2000], 649).
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sich selbstbewusst in eben jenes historische Panorama ein, das Geoffrey von Monmouth dem englischen Königtum im 12. Jahrhundert als Ursprungslegende zur Verfügung gestellt hatte. Die Antike, auf die der Gawain-Dichter sich somit beruft, ist gerade nicht eine, die von einem prinzipiellen Alteritätsbewusstsein geprägt ist wie Chaucers, und sie ist schon gar keine plurale, sondern eine, die auf das Hier und Heute einwirkt, da sie sich am fiktionalen Hofe Camelots bruchlos fortsetzt, an einem Hof also, dessen idealisierte ritterliche Kultur der Gegenwart der Rezipienten zwar potentiell überlegen, aber in ihren kulturellen Grundbegriffen nichtsdestoweniger völlig vertraut ist – oder zumindest so dargestellt wird. Während Chaucer die Welt des Artushofes geflissentlich ignoriert oder sie in Bemerkungen, die mit gezielter Beiläufigkeit über das ganze Werk verstreut sind, der Lächerlichkeit preisgibt, bedient sich der Gawain-Dichter eines formalen Kunstgriffs, um sein auf den Artushof bezogenes Antikeverständnis zu unterstreichen. Der Hinweis auf Troja bildet nämlich sowohl den ersten als auch den fast identischen 2525. Vers der Romanze, die mit 2525 plus fünf Verszeilen einem zahlensymbolischen Schema unterworfen ist, das die Vollkommenheit des Protagonisten zu symbolisieren vorgibt. Daraus ergibt sich auch der Problemzusammenhang, dem in dieser Untersuchung nachgegangen werden soll: das Verhältnis zwischen Vollkommenheitsthematik, Zahlensymbolik und Antikenreferenz in Sir Gawain and the Green Knight. Die leitende Vermutung dabei ist, dass die besondere numerologisch-strukturelle Koppelung des ritterlichhöfischen, zugleich aber auch religiös konnotierten Vollkommenheitsthemas an die trojanische Vergangenheit dem Ziel dient, einen spezifischen Blick auf das Problem der Geschichte zu eröffnen. Dieser Blick auf Geschichte ist kein unproblematischer. Schließlich steht der dezidierte Antikenbezug der ersten Strophe mit seiner überblicksartigen Darstellung der Nachkommenschaft Aeneas’ zumindest aus englischer Perspektive in einer gewissen Spannung zur Gattung des damit eingeleiteten Textes. Der gezielte Bezug auf die im Mittelalter geläufige, auf Dictys Cretensis und Dares Phrygias zurückgehende Tradition, derzufolge Aeneas Troja verraten hatte, erhöht diese Spannung noch.9 Die englische Artus-Literatur entfaltet sich nämlich in zwei Strängen, einem sich eher historisch gebenden und einem stärker romanzenhaften, die zwar nicht immer säuberlich voneinander geschieden werden können, nichtsdestoweniger aber unterschiedliche historische Perspektiven und kulturelle Zusammenhänge repräsentieren. Da ist einerseits die mit Geoffrey von Monmouth beginnende, so genannte chronicle tradition, die im 12. Jahrhundert mit Wace und LaCamon in den Volkssprachen Französisch und Englisch fortgesetzt wird. Sie rückt Artus als kriegerischen Helden und großen König ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihr zufolge gelingt es dem Herrscher in direkter militärischer Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich, die Kaiserwürde und somit eine hegemoniale Stellung in Europa zu erlangen, die dann allerdings _____________ 9
Vgl. Federico (2003), 34.
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an heimischem Verrat scheitert. Seinen konsequentesten Ausdruck findet dieser Traditionsstrang in dem um 1400 entstandenen Alliterative Morte Arthure, einem Text, der die Spannung zwischen den antagonistischen Traditionen jedoch bereits inszeniert, indem er während der Schilderung einer längeren Belagerung eine romanzenhafte Episode als retardierenden Kontrast zum militärisch-historischen Gesamtgeschehen einstreut.10 Im Unterschied dazu entfaltet sich die auf kontinentalen Vorbildern beruhende, stofflich, thematisch und motivisch Chrétien de Troyes und den Lanzelot-Gral-Zyklus fortsetzende Tradition des zweiten Strangs. Dieser entrückt den Artushof ins Märchenhafte und lässt das HistorischSpezifische dabei weitgehend außer Acht. Artus selbst spielt vornehmlich die Rolle des Gastgebers, der die Ritter der Tafelrunde verabschiedet, wenn sie zu ihren Abenteuern aufbrechen, und sie wieder willkommen heißt, wenn sie zurückkehren. Als für die Handlung maßgebliche Figur wird dieser Artus primär als betrogener Ehemann im Dreiecksverhältnis mit Lancelot und Guinevere relevant. Sein Ende hängt nicht mit der imperialen Dynamik seiner Großmachtpolitik zusammen, sondern mit den erotisch-emotionalen Paradoxien der höfischen Kultur selbst. Diese Tradition wird in der englischen Literatur beispielsweise durch Yvain and Gawain oder den Stanzaic Morte Arthur verkörpert. Indem der Gawain-Dichter die trojanische Vorgeschichte seines Artushofes zwar gerafft, aber trotzdem detailliert wiedergibt, verweist er auf den dezidiert historisch-politischen Traditionsstrang der chronicle tradition, die sich, zumindest im Falle des Alliterative Morte Arthure, gattungsmäßig am ehesten mit dem chanson de geste identifizieren lässt.11 Indem er jedoch zugleich Gawain zu einer Aventiure aufbrechen lässt, in der eine erotische Versuchung das zentrale ethische Problem des Textes auslöst, schwenkt der Dichter auf die konkurrierende, höfisch ausgerichtete Traditionslinie ein, die sich klar dem Genre des höfischen Romans, anglistisch gesprochen: der Romanze, zuordnen lässt.12 Folglich bietet der eine literarische Traditionsstrang hier gewissermaßen den Rahmen für den anderen, wodurch sie in ein spannungsreiches Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit zueinander gestellt, gleichzeitig aber auch gegeneinander abgegrenzt werden. Die historische Problematik wird in Sir Gawain and the Green Knight somit von Anfang an auch als Gattungsfrage thematisiert. Ich möchte mit diesen Ausführungen dem allzu schnellen Schluss vorbeugen, dass sich der Gawain-Dichter im Unterschied zu Chaucer einfach nur durch einen ›typisch mittelalterlichen‹, grundsätzlichen Mangel an Geschichtsbewusstsein auszeichne. Das Gegenteil ist der Fall, nur liegt ein anderes Geschichtsbewusstsein vor: Für den Gawain-Dichter bildet Troja keineswegs den unproblematisch _____________ 10 Vgl. Patterson (1987), 217–222. 11 Es ist noch immer umstritten, welcher Gattung der Alliterative Morte Arthure zuzuordnen ist. Andrew Lynch hat sogar den Vorschlag gemacht, den Text als ›war biography‹ zu klassifizieren, womit im Grunde das Scheitern aller Klassifikationsversuche zu Protokoll gegeben wird (vgl. Lynch [2004], 127). 12 Vgl. Fichte (1992), besonders 595.
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idealisierten Ursprung. Die Antike, auf die sich die Welt des König Artus direkt zurückführen lässt, ist für ihn nicht nur eine des Untergangs, sondern auch eine des Verrats und stellt daher die Modellhaftigkeit der primär erotisch-ritterlichen Konzeption des Artus-Stoffes in Frage. Die ahistorische Welt des Artushofes um eine dunkle Vorgeschichte von Verrat, Vertreibung und gewaltsamer Landnahme ergänzend, weckt diese Antike Zweifel an der stilisierten Zeitlosigkeit von Camelot und macht den Leser zugleich darauf aufmerksam, dass der Blick auf die Geschichte hier primär von literarischen Konstruktionen geprägt ist. Zugleich aber wird der Leser für die vielfältigen Listen und Täuschungen sensibilisiert, die Sir Gawain and the Green Knight durchziehen. Die Handlung des Gedichts setzt am Neujahrsabend ein. Am Artushof herrscht der Brauch, das Mahl erst dann zu beginnen, wenn ein außergewöhnliches Ereignis eingetreten ist. Dies erscheint in Gestalt eines riesenhaften Grünen Ritters auf einem grünen Pferd. Nur mit einer gewaltigen Axt bewaffnet, fordert er den Artushof zu einem Wettkampf heraus. Der Grüne Ritter ist bereit, selbst einen Streich von seiner Axt hinzunehmen, wenn ein Mitglied des Hofes sich im Gegenzug verpflichtet, ihn genau ein Jahr später aufzusuchen und sich ebenfalls einen Hieb mit der Axt gefallen zu lassen. Die verwirrten Höflinge reagieren nicht, so dass Artus in einem Anflug von Zorn selbst nach der Axt greift, um die Herausforderung anzunehmen. An diesem die königliche Würde potentiell gefährdenden Ausbruch hindert ihn jedoch sein Neffe Gawain, der Inbegriff ritterlicher Vollkommenheit, der sich der Aufgabe stellt und dem Grünen Ritter den Kopf abschlägt. Dieser hebt sein am Boden rollendes Haupt auf und verlässt den Hof unter Hinweis auf die getroffene Abmachung. Ein Jahr später bricht Gawain auf, um die Grüne Kapelle, den Aufenthaltsort des Grünen Ritters, zu suchen und seinen Teil des Paktes zu erfüllen. Auf seinem Schild prangt ein goldenes Pentagramm auf rotem Grund, dessen fünf Spitzen jeweils für fünf religiöse Symbole, fünf Tugenden bzw. Aspekte ritterlicher Kultur stehen. Es bildet das zahlensymbolische Zentrum des Gedichts. Nach einer Reihe kursorisch geschilderter Abenteuer erreicht Gawain die ihm bislang unbekannte Burg Hautdesert, wo er freundlich aufgenommen wird und die verbleibenden Tage bis zur Begegnung mit dem Grünen Ritter verbringt. Auch hier wird ihm ein Handel oder ein Spiel vorgeschlagen. Der Burgherr, Sir Bertilak, wird an den folgenden drei Tagen auf die Jagd gehen und Gawain abends die jeweilige Tagesbeute aushändigen; dieser erklärt sich im Gegenzug dazu bereit, dem Hausherrn seinerseits all das zu überreichen, was er selbst an den drei Tagen auf Burg Hautdesert erhält. Während ihr Ehemann auf Jagd ist, versucht Lady Bertilak, den Gast zu verführen, indem sie morgens in das Bett des unbekleidet schlafenden Ritters eindringt. Es gelingt Gawain, sich ihren Zudringlichkeiten zu entziehen und den Kontakt jeweils auf das Minimum eines Kusses zu beschränken, den er abends an den Schlossherrn weitergibt, ohne jedoch zu erklären, wie er ihn erhalten hat. Am dritten Tag schenkt ihm Lady Bertilak einen grünen Gürtel, der ihn unverwundbar machen soll. Als es am
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selben Abend zum letzten Austausch der Gaben zwischen Gawain und dem Schlossherrn kommt, gibt jener zwar wie zuvor den Kuss an seinen Gastgeber weiter, verschweigt jedoch die Existenz des Gürtels. Tags darauf stellt sich Gawain dem Grünen Ritter. Ihm wird in einer hochdramatischen Szene zwar nicht der Kopf abgeschlagen, dafür jedoch eine kleine Wunde im Nacken beigebracht, als Strafe dafür, dass er den Gürtel zurückbehielt. Der Grüne Ritter entpuppt sich als niemand anderes als Sir Bertilak selbst: Gawain, die Verkörperung ritterlicher Vollkommenheit, ist einer Prüfung unterzogen worden und gescheitert. Er hat seine viel beschworene Perfektion eingebüßt. Tief beschämt beschließt er, von nun an den grünen Gürtel diagonal über der Brust zu tragen, um auf seine Schande hinzuweisen, auf den Bruch dessen, was das Mittelenglische mit dem Begriff trawthe bezeichnet, also ritterliche Wahrhaftigkeit, Integrität, Tugend. Als Gawain an den Artushof zurückkehrt und von seinem Abenteuer erzählt, lachen die Höflinge und beschließen, nun ebenfalls den grünen Gürtel anzulegen. Während die ältere Forschung vornehmlich daran interessiert war, das Ausmaß der Schuldhaftigkeit des Protagonisten zu klären, haben sich neuere Deutungsversuche in verschiedene Richtungen bewegt. Einerseits haben sie ihr Interesse von der Frage der ethischen Bewertung der Hauptfigur zum Problem der kulturhistorischen Einordnung des Konflikts verlagert. Geradezu typisch hierfür ist Derek Pearsalls Interpretation, derzufolge das Gedicht den sozialpsychologischen Wandel von einer äußerlich-sozialen Ethik der Schande zu einer verinnerlicht-individuellen Ethik des Gewissens thematisiert.13 Andererseits sind vor allem Wissenschaftlerinnen darangegangen, das ethische Problem unter gender-Gesichtspunkten grundsätzlich zu dekonstruieren und den Text als eine implizite Kritik der zugrunde liegenden Wertewelt zu deuten.14 Wenn sie nicht gar gänzlich in Misskredit geraten sind, so gelten Lektüren, die sich vor allem mit der Zahlensymbolik beschäftigen, zumindest als nicht völlig satisfaktionsfähig im Rahmen eines zeitgemäßen Wissenschaftsdiskurses. Die Zahlensymbolik wird heute bestenfalls als schmückendes Beiwerk akzeptiert, das die kulturelle Überholtheit, die den meisten Interpretationen zufolge den Normen Camelots anhaftet, illustriert. Die Zahlensymbolik des Textes wäre demnach Ausdruck einer konservativ-nostalgischen Ideologie, deren Widersprüche die Verserzählung seziert. Das zahlensymbolische Programm wird so gewissermaßen am Rande mit erledigt; eine eigenständige Funktion in der Deutung des Gedichts gesteht man ihm jedoch nicht zu. Angesichts der strukturellen Bedeutung des zahlensymbolischen Programms für den Text, der fast aufdringlichen Überdeutlichkeit, mit der die Zahlensymbolik angesprochen wird, und vor allem angesichts des eigentümlichen Antikenbezugs, der überraschenderweise strukturell in das zahlensymbolische Schema integriert wird, _____________ 13 Vgl. Pearsall (1997), 357–362; ebenso Spearing (1987), 203–204, und Burrow (1984). 14 Siehe hierzu beispielsweise Heng (1991) oder Ashton (2005).
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lohnt es sich jedoch, noch einmal einen genaueren Blick auf die Rolle der Zahlensymbolik zu werfen. Dabei ist die Bedeutung der Zahlensymbolik keineswegs vorrangig in der vordergründig allegorischen Funktion, die ihr im Text selbst zugewiesen wird, zu suchen, wie es sich die traditionelle Forschung tendenziell zur Aufgabe machte. Die zahlensymbolischen Strukturen des Gedichts entfalten sich folgendermaßen: Sir Gawain and the Green Knight hat genau 2525 plus fünf Verszeilen, die sich auf 101 Strophen von unterschiedlicher Länge verteilen. Die Strophen bestehen aus alliterierenden Langzeilen, die jeweils von fünf kurzen, endgereimten Versen beschlossen werden. Zudem verteilt sich die Handlung auf vier Fitten. Der erste Vers des Gedichts, ein Langvers, wird im letzten Langvers, das heißt im 2525., beinahe wortgleich wiederholt. Motiviert ist diese Struktur, die aus der Multiplikation von fünf mit fünf hervorgeht, durch den Schild Gawains, den, wie erwähnt, ein goldenes Pentagramm auf rotem Grund ziert. Wie der Erzähler erläutert, steht jede Spitze des fünfzackigen Sterns für eine Gruppe von fünf Tugenden, christlichen Symbolen oder anderen kulturell relevanten Elementen: die fünf Sinne, die fünf Finger, die fünf Wunden Christi, die fünf Freuden Mariae über ihren Sohn sowie fünf ritterliche Tugenden: »fraunchyse« (»Freigebigkeit/Großzügigkeit«), »felaCschyp« (»höfische Mitmenschlichkeit/Geselligkeit«), »clannes« (»Reinheit«), »cortaysye« (»höfisches Wesen«) und »pité« (»Mitleid/Mitgefühl«).15 Diese fünf Fünfergruppen, so wird ausdrücklich gesagt, kennzeichnen die Vollkommenheit Gawains, und die Summe der Verszeilen spiegelt die mathematische Struktur, die aus dem angeblichen Symbol für die Perfektion des Protagonisten hervorgeht.16 Allerdings fällt es auf, dass zumindest der ritterliche Tugendkatalog Begriffe enthält, die nicht primär religiös-moralischen Ursprungs sind. Der Gawain-Dichter zeigt sich grundsätzlich von zahlensymbolischen Zusammenhängen fasziniert. In einem seiner anderen Gedichte, Pearl, haben wir ebenfalls 101 Strophen, die jedoch alle von gleicher Länge sind: Sie alle haben zwölf Zeilen, so dass sie insgesamt eine klare und regelmäßige Struktur von 1212 Zeilen ergeben. Dies ist ein bedeutender Unterschied zu Sir Gawain. Aufgrund der normierten Strophenlänge ist die zahlensymbolische Struktur für den Leser von Pearl beinahe schon mit bloßem Auge zu erkennen. Wer die Zeilen einer Strophe gezählt hat, kann bereits vermuten, dass eine numerologische Struktur vorliegt und braucht nur noch die Zahl der Strophen zu zählen, um das mathematische Schema zu erkennen. Einer interessanten Lesart zufolge entsteht damit so etwas wie ein Element dramatischer Ironie: Die Leser erkennen in diesem Gedicht, das von der Trauer eines Vaters um seine verstorbene Tochter – das Pearl maiden – handelt, dass auch dieser Tod Teil einer göttlichen, providentiellen Ordnung ist. Dies sieht der Vater allerdings erst ein, als ihm seine _____________ 15 Sir Gawain and the Green Knight, V. 640–655. Alle Verweise auf die Werke des GawainDichters beziehen sich auf die Ausgabe von Andrew/Waldron (1996). 16 Vgl. Heng (1991), besonders 504.
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Tochter diesen Zusammenhang vom anderen Ufer eines Flusses aus erklärt, der die Lebenden von den Toten trennt (eigentlich: das irdische Paradies vom Himmel).17 Dem Leser jedoch wird dieser Bezug schon früher klar, so dass er sich gegenüber der mangelnden Einsicht des Vaters im Vorteil sieht. Durch die Zwölferstruktur, die nicht nur auf die Zahl der Apostel, sondern auch auf die Johannes-Apokalypse oder das Himmlische Jerusalem verweist, wird diese Leseerfahrung von Anfang an auf gleichsam optischem Wege unterstützt.18 Anders verhält es sich jedoch bei Sir Gawain. Die Unregelmäßigkeit der Strophenlänge verhindert trotz ihrer Zahl von 101, dass das mathematische Schema durchschaut wird (zumal der Zusammenhang zwischen der 101 und dem Fünferschema weit weniger eindeutig ist als der zwischen 101 und 12 in Pearl). Man hat die mangelnde Transparenz des zahlensymbolischen Schemas in Sir Gawain so gedeutet, dass der Leser, genau wie der Protagonist, bis zuletzt im Unklaren darüber gelassen werden soll, worum es in der Herausforderung des Grünen Ritters eigentlich geht.19 Die Zahlensymbolik in Sir Gawain wirkt, verglichen mit derjenigen von Pearl, zumindest teilweise im Verborgenen, obschon sie im Text über das Pentagramm einen ausdrücklichen Verweis erfährt. Es ist bezeichnend, dass das mathematische Schema in Sir Gawain sich nur im Verborgenen niederschlägt und allein durch sorgfältiges Auszählen der Zeilen und durch die Berechnung der arithmetischen Verhältnisse innerhalb des Gedichtes entschlüsselt werden kann. Denn je komplexer und vor allem je verschleierter die zahlensymbolischen Verhältnisse, desto deutlicher verweisen sie auf die spezifische mediale Verfasstheit des Textes. Oder präziser formuliert, desto deutlicher verweisen sie auf die mediale Inszenierung bzw. die Inszenierung von Medialität, die der Text sich selbst gibt. Die verborgenen zahlensymbolischen Strukturen lenken unseren Blick auf die Schriftlichkeit des Mediums, denn sie zwingen den Leser zu der anstrengenden und anspruchsvollen Tätigkeit des Auszählens und Berechnens der Zeilen. Die komplexeren Formen der Zahlensymbolik sind also durch Charakteristika geprägt, die sich beim bloßen Hören des Textes nicht erschließen. Somit tragen die versteckten zahlensymbolischen Momente dazu bei, die Schriftlichkeit des Gedichts auszustellen. Und dies ist durchaus auffällig. Der betonten Schriftlichkeit kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil die alliterierende Dichtung des englischen Spätmittelalters, wie Ralph Hanna hervorhebt, eine starke Neigung zur fingierten Mündlichkeit besitzt. Diese fingierte Mündlichkeit trägt entschieden zu jener Aura der Traditionalität, des Archaischen und Gemeinschaftlichen bei, die die Alliterationsdichtung umgibt.20 Es ist unter anderem diese Form der Inszenierung, die einst die These so plausibel _____________ 17 Die Argumente, warum es sich hier nicht um eine Anspielung auf Boccaccios Olympia handeln kann, finden sich bei Putter (1996), 5. 18 Vgl. Metcalf (1980), 145. 19 Vgl. Metcalf (1980), 149. 20 Vgl. Hanna (1999).
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machte, dass in der Alliterationsdichtung ein bewusst gepflegtes regionalaristokratisches Widerstandspotential gegen die metropolitane und internationale Kultur des Hofes und der Hauptstadt zum Ausdruck kam. Allerdings verdankte sich diese Plausibilität einer interpretatorischen Tendenz, die Traditionalität der Dichtungen unhinterfragt als Tatsache zu nehmen und nicht etwa als das ästhetische Produkt einer sorgfältigen Stilisierung. Im Rahmen der für die Alliterationsdichtung gemeinhin typischen fingierten Mündlichkeit kommt der zahlensymbolischen Hervorhebung der Schriftlichkeit in Sir Gawain eine besondere Bedeutung zu. Gerade vor diesem Hintergrund lässt sich nämlich sagen, dass die verhüllte Zahlensymbolik die Aufmerksamkeit auf die spezifische Fingiertheit der fingierten Mündlichkeit lenkt. Mit allen Wassern eines nur scheinbar mündlichen Traditionalismus gewaschen, insistiert der Text durch sein zahlensymbolisches Instrumentarium auf seinen Schriftcharakter. Auf diese Weise macht er seinen Traditionalismus als Traditionalismus kenntlich und nicht einfach als bloße Traditionalität. Die scheinbare Mündlichkeit des Textes entfaltet sich nur unter den Bedingungen einer komplex genutzten, reflektierten und ausgestellten Schriftlichkeit. Damit ist zum Vollkommenen jedoch noch nicht viel gesagt. Um die Relevanz dieser Überlegungen für die eingangs skizzierte Problemstellung zu erläutern, ist ein Exkurs zu einem zeitgenössischen Paralleltext nötig, der ebenfalls auf der Basis einer versteckten Zahlensymbolik operiert: Chaucers Tale of Sir Thopas aus den Canterbury Tales, eine Parodie der zeitgenössischen Ritterromanzen, die der Dichter seinem pilgerischen Alter Ego in den Mund legt. Sir Thopas ist eine handlungsarme Anhäufung ins Extreme gesteigerter Topoi, Klischees und Stereotypen der mittelenglischen Ritterromanzen, wobei die Topoi zugleich auch parodistisch in ihr Gegenteil verkehrt werden können und mitunter recht willkürlich mit volkstümlichen Elementen vermischt werden, die eher der Balladentradition zu entspringen scheinen.21 Sir Thopas macht einen derartig schlechten Eindruck auf die Pilger, dass der Host in seiner Rolle als Spielleiter des Erzählwettbewerbs den Erzähler Geoffrey unterbricht und ihn zur vorzeitigen Beendigung der Geschichte veranlasst. Bei genauerem Hinsehen stellt der Leser des Textes jedoch fest, dass der aus drei Fitten bestehende Text der Parodie einem mathematischen Schema unterworfen ist, demzufolge die Strophenzahl sich von Fitte zu Fitte halbiert: 18 : 9 : 4,5. Dieses Schema erreicht just an der Stelle, an welcher der Text abbricht, seine Vollendung. Anders ausgedrückt, in mathematischer Hinsicht wäre eine Fortsetzung des Gedichts nicht möglich gewesen, ohne das Schema zu zerstören.22 Die Verserzählung wird also genau dort unterbrochen, wo sie ohnehin enden muss, um mathematische Perfektion zu erzielen. Den Figuren in der Rahmenhandlung fällt dies natürlich nicht auf. An die spezifische Kontingenz ihrer Dialogsituation _____________ 21 Eine detaillierte Analyse der Tale of Sir Thopas findet sich bei Johnston (2001), 116–126. 22 Vgl. Burrow (1971), 58.
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gebunden, können sie den Text schließlich nur hören und bemerken daher das ihm unterliegende mathematische Schema nicht. Somit werden sie von einer unsichtbaren mathematischen Struktur gesteuert. Demgegenüber bekommt der Leser bereits optisch einen Eindruck von den sich regelmäßig verkürzenden Fitten. In den frühen Handschriften der Canterbury Tales wird das mathematische Schema von 2 : 1, nach dem der Text insgesamt gestaltet ist, auf der Ebene der einzelnen Strophe, also gewissermaßen auf der Mikroebene, visuell repliziert: Anstatt in konventioneller Weise vertikal aneinandergereiht zu werden (Reimschema aabccb), erstrecken sich die Verse der Strophen horizontal über das Blatt.23 Das Layout der Handschrift lenkt die Aufmerksamkeit also auf die zugrunde liegende mathematische Struktur. Die Unvollkommenheit der Parodie wird auf der Manuskriptebene mithilfe optischer Hinweise als besondere Vollkommenheit offenbar. Ebenso wie der Gawain-Dichter nutzt Chaucer das Spiel mit der Zahlensymbolik unter anderem, um die Fingiertheit der Mündlichkeit seines Textes auszustellen; auf der Ebene der Rahmenfiktion mit ihrer inszenierten Mündlichkeit bleibt das Spiel mit den Zahlen verborgen. Die Pilger hören auf ihrem Weg nach Canterbury nur die Unvollkommenheit. Da sie ihre eigene Pilgerreise nicht in Manuskriptform wahrnehmen können, entgeht ihnen die Struktur, die ihre eigene Interaktion untereinander bestimmt. Der scheinbar zufällige Abbruch der Erzählung erweist sich als kalkulierte Perfektion. Doch diese Vollkommenheit bleibt für die Reisenden unsichtbar. Allerdings besteht ein Unterschied zum Gawain-Dichter: Bei Chaucer sind die Hinweise auf die zugrunde liegende Vollkommenheit letztlich gezielter als beim Gawain-Dichter. Denn nicht nur bieten Chaucers frühe Handschriften visuelle Anhaltspunkte für das, was geschieht, sondern darüber hinaus unterbricht sein Erzähler auch den Erzählfluss, um am Ende der zweiten Fitte auszurufen: »Loo, lordes myne, heere is a fit!«24 Die Kombination von »Loo« und »lordes myne« offenbart die ganze Paradoxie von Chaucers bewusstem Oszillieren zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Während »lordes myne« zu den typischen, Mündlichkeit inszenierenden Formeln der Alliterationsdichtung wie auch der nichtalliterierenden Romanzen gehört, verweist die Formel »Loo« auf das Sehen, auf optische Wahrnehmung, mithin auf das Erkennen von Geschriebenem oder Gezeichnetem auf einer Oberfläche. Der Erzähler bewegt sich in seiner Geschichte gewissermaßen vorwärts, als würde er in einem Manuskript mit dem Finger von Zeile zu Zeile gleiten, und nicht, als würde er – wie es die Rahmenfiktion der Canterbury Tales erfordert – auf dem Rücken eines Pferdes eine Erzählung spontan aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Chaucer lässt seinen scheinbar mündlichen Erzähler wie zufällig über das Ende der Fitte stolpern und _____________ 23 Vgl. Tschann (1985). 24 Chaucer, The Canterbury Tales, Fragment VII, V. 888. Ernest A. Jones zufolge wiederholen sich die mathematischen Strukturen dank dieser Markierung des Fittenendes auch auf der Ebene der Verszählung (vgl. Jones [2000], 250–251).
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lädt den Leser ein, den spezifischen Punkt, an dem die zweite Fitte endet, als einen signifikanten zu erkennen und damit auch das mathematische Schema zu durchschauen. Chaucer gibt seinen Lesern also eine Hilfestellung, die der Gawain-Dichter ihnen konsequent verweigert – oder vielleicht nicht ganz so konsequent, denn schließlich wird mit dem Pentagramm auf Gawains Schild das fünffache Fünferschema eingeführt. Dennoch bleibt Chaucers Hinweis deutlicher. Während Chaucer jedoch seinem Schema keine expliziten Bedeutungen zuweist, erfahren die Hörer oder Leser des Sir Gawain-Textes unmissverständlich, dass in dem Fünferschema die ganze Vollkommenheit des perfekten Ritters Gawain zum Ausdruck kommt. Dies wird uns allerdings zu einem Zeitpunkt mitgeteilt, als dem Protagonisten die eigentliche Prüfung noch bevorsteht. Und an dieser Prüfung scheitert er – oder auch nicht. Denn an der Frage, ob und wenn ja, wie schwerwiegend Gawain scheitert, hat sich eine Kasuistik entzündet, die auch heute, ungeachtet der Verlagerungen in der literaturwissenschaftlichen Diskussion, nicht verstummt ist. An dieser Stelle möchte ich jedoch der Versuchung widerstehen, mich dem Sog dieser Debatte hinzugeben. Denn genau diese kasuistische Debatte scheint der Text ja geradezu provozieren zu wollen, wenn er an seinem Ende gleich drei ethische Deutungen des Geschehens anbietet, von denen zumindest die letzte, das Gelächter des Hofes, so ambig ist, dass sie alle anderen in Frage stellt, zumal ja auch die Zerknirschung und Selbstkritik Gawains am Ende ebenso wie sein Entschluss, von nun an für immer den grünen Gürtel als Zeichen seiner Schande zu tragen, mehrere Lesarten zulassen. Performativ gesehen, könnte es gerade diese Bußhandlung sein, die das ethische Gleichgewicht des Textes wiederherstellt und die Erzählung daher in der Vollkommenheit enden lässt. Versucht man von der Kasuistik abzusehen, so scheint es, als würde die Romanze – ähnlich wie Chaucers Sir Thopas – mithilfe der Dichotomie von (inszenierter) Mündlichkeit und halb verborgen ausgestellter Schriftlichkeit für sich als Text die Möglichkeit einer Vollkommenheit in Anspruch nehmen, die von den Ereignissen auf seiner Handlungsebene weitgehend unberührt bleibt. Ein Leser, der sich von den Figuren geleitet – oder auch verleitet – den Verlockungen der Kasuistik hingibt, übersieht genau wie die Figuren selbst jene strukturelle Vollkommenheit, die in des Textes heimlicher mathematischer Struktur versteckt liegt. Damit aber kippt das Verhältnis von mathematischer Struktur und Handlung radikal um. Das Zahlenschema ist nicht mehr bloßes Ornament, sondern Sinnbild einer grundsätzlich verborgenen Ordnung, deren Bestand von den Handlungen der Figuren wie auch von den Spekulationen der Leser unberührt bleibt. Die Handlungsebene der Erzählung wird damit selbst zu einem Schleier, der das eigentlich Vollkommene des Textes verbirgt. Die Handlung wird instrumentalisiert, um genau jene verwirrende Oberflächenstruktur zu schaffen, die von der mathematischen Tiefenstruktur ablenkt und daher das Arkanum unsichtbar macht. Dazu passt es, dass der Text insgesamt den Charakter eines Vexierbildes annimmt, in dem die Erwartungen der Leser wie auch der Hauptfigur bis zuletzt
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ständig getäuscht werden und selten wirklich das geschieht, was zu passieren scheint.25 Zudem durchzieht den Text ein Leitmotiv der Verheimlichung und der Täuschung, das sich in der Verborgenheit der Zahlensymbolik spiegelt und bereits eingangs im Verweis auf Troja anklingt. Indem aber das Sichtbare der Handlung nicht nur ein Netz von Täuschungen ist, sondern, wenn man so will, selbst das zentrale Instrument einer Täuschung darstellt, da es nämlich die eigentlich grundlegende mathematische Struktur zu verschleiern hilft, bietet sich ein zumindest quasi-platonisches Deutungsmodell an: Demnach ist das, was die Figuren auf der Ebene der Erzählung erleben, nur bedingt relevant, da es die zugrunde liegende Wahrheit des Textes verschleiert.26 Wenn das Gedicht somit seine eigene Handlung zum Epiphänomen erklärt, passt das in seine zirkuläre Gesamtstruktur. Denn wie bereits erwähnt, stellt die letzte Langzeile des Textes ein beinahe wortgetreues Echo der ersten dar: 1: 2525:
Siþen þe sege and þe assaut watz sesed at Troye After þe segge and þe asaute watz sesed at Troye27
Selbst ein solch gewaltiges historisches Ereignis wie der Untergang Trojas, von dem die Engländer des 14. Jahrhunderts wie auch die meisten anderen abendländischen Völker ihren Ursprung ableiteten, wird zum wiederkehrenden Moment, das seine Einmaligkeit einbüßt. Die gerade im mittelalterlichen England – nämlich in der chronicle tradition – übliche Tendenz, die Traditionen Camelots mit einer besonderen nationalhistorischen Bedeutung aufzuladen, wird damit implizit zurückgewiesen: Wenn der mythische Ursprung der Nation letztlich keine Singularität beanspruchen kann, taugt er nur bedingt zur historischen Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse. Zusätzlich ist Troja insofern wichtig, als in der Wiederholung der ersten Zeile durch die 2525. der vielleicht sichtbarste Schlüssel zu der dem Text zugrunde liegenden Zahlensymbolik geliefert wird. Bis hierher ließe sich also sagen, dass der Text mithilfe einer Reihe komplexer Strategien einen pointierten Gegensatz zwischen unvollkommener Handlungsebene und vollkommener, weil mathematischer Tiefenstruktur aufbaut. Zu diesen Strategien zählen fingierte Mündlichkeit und ostentativ ausgestellte Schriftlichkeit ebenso wie die ständige Thematisierung und performative Inszenierung von Täuschung und Verschleierung auf der Handlungsebene. Entscheidend ist jedoch, dass die Vollkommenheit nur über Formen der Unsicht_____________ 25 Vgl. Metcalf (1980), 145. 26 Ich benutze hier bewusst den Begriff ›quasi-platonisches Modell‹, da ich keinesfalls das Ziel verfolge, eine ideengeschichtlich wasserdichte Einordnung des Gawain-Dichters zu bieten. Erstens ist dies unmöglich und zweitens liefe ein solcher Versuch höchstwahrscheinlich darauf hinaus, die komplexen Wirkungen seiner ästhetischen Strategien zu unterschätzen. Dass dem Mittelalter platonisches Gedankengut und neuplatonische Denkstrukturen auf vielfach vermittelte Weise zur Verfügung standen, braucht in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnt zu werden. 27 »Nachdem die Belagerung und Eroberung Trojas beendet war« – meine Übersetzung.
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barkeit greifbar wird. Nur durch ihre Verschleierung, lehrt uns Sir Gawain and the Green Knight, lässt sich die Vollkommenheit adäquat darstellen. Und in diesem die Vollkommenheit verschleiernden Spiel wird auch der Antikenbezug vor allem dazu genutzt, um auf den Modus der Verschleierung hinzuweisen. Troja scheint zum Schleier zu werden, dessen Präsenz die Aufdeckung der zugrunde liegenden Struktur erst möglich macht. Während es am Anfang also wirkt, als würde der Text die Spannungen zwischen chronicle tradition und der kontinental-romanzenhaften Tradition gegeneinander ausspielen, ordnet er am Ende beide Traditionen streng seinem mathematischen Schema unter: Sowohl der durch Troja gegebene historische Rahmen als auch die romanzenhafte Handlung erweisen sich als zweitrangig gegenüber der mathematischen Struktur und dem durch sie erhobenen Anspruch auf Perfektion. Und indem der Text beide Genretraditionen in seine übergeordnete mathematische Struktur einpasst, erweckt er den Eindruck, als würde er im letzten langen Vers genau die Unterschiede zwischen ihnen einebnen, die er zu Anfang des Gedichts noch in ein spannungsreiches Verhältnis zueinander stellte. Es liegt folglich nahe, in Sir Gawain eine bewusste Entwertung des Historischen und Säkularen zugunsten einer überlegenen, weil mathematischstabilen göttlichen Ordnung, hier durch die Fünfer-Zahl ausgedrückt, zu sehen. Diese Deutung setzt allerdings voraus, dass man das Verborgene und das Sichtbare strikt zugunsten des Verborgenen hierarchisiert. Eine solche Hierarchisierung ist keinesfalls abwegig, wird doch die Dichotomie verborgen/sichtbar von vergleichbaren binären Oppositionen wie schriftlich/mündlich oder stabil/instabil flankiert. Zugleich aber läuft eine solche Hierarchisierung darauf hinaus, dass die ästhetische und ideologische Wirkung des zahlensymbolischen Schemas a priori höher veranschlagt wird als etwa die der Antikenreferenz. Mit anderen Worten: Weil man – mit guten Gründen – geneigt ist, dem mittelalterlichen Weltbild zu unterstellen, dass es eine stabile göttliche Ordnung höher schätzt als die Kontingenz menschlicher Geschichte, ist man versucht, vor allem die Wirkungen zu betrachten, die von der Tiefenstruktur auf die Oberfläche ausgehen, nicht aber danach zu fragen, ob die Oberfläche auch umgekehrt auf die Tiefenstruktur wirkt. Und zieht man Chaucers Tale of Sir Thopas noch einmal als Vergleichstext heran, zeigt sich, dass dort tatsächlich eine strenge Hierarchisierung von schriftlich und mündlich, von mathematischer Struktur und Handlung an der Oberfläche vorliegt. Gerade weil die Figuren der Rahmenhandlung nicht erkennen können, was in Sir Thopas eigentlich aufgrund der mathematischen Struktur vorgeht, weil sich die zahlensymbolischen Relationen nur deshalb erfüllen, weil die Figuren gleichsam blind in den Erzählfluss eingreifen und ihn auf ihrer Ebene willkürlich, im mathematischen Sinne aber höchst sinnreich zum Ende bringen, ergibt sich eine klare Rangfolge zwischen Tiefe und Oberfläche. Der Host, der die Erzählung unterbricht, ist ja diejenige Figur in den Canterbury Tales, deren misslungene Deutungen paradoxerweise immer wieder dazu beitragen, auf die Komplexität des jeweils vorliegenden
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ästhetischen Effekts hinzuweisen. Bei Chaucer bestünde der ästhetische Effekt demnach vor allem in einer radikalen Dichotomisierung von Form und Inhalt: Der lächerliche Inhalt des parodistischen Textes kontrastiert mit der mathematischen Perfektion seiner Form. In Anbetracht der soeben diskutierten Hierarchisierung würde dies auf einen klaren Sieg der Form über den Inhalt hinauslaufen. Nun liegt aber in Sir Gawain and the Green Knight gerade keine solche klare Trennung von Rahmen und Erzählung, die eine Hierarchie begünstigt, vor. Im Gegenteil, wir haben hier nur den einen Erzähler, der zwar seine eigene Erzählung mithilfe der Antikenreferenz rahmt, dies aber eben nur auf der Ebene seiner eigenen erzählerischen Aktivität tut. Eine strenge Trennung von narrativen Ebenen oder erzählerischen Instanzen, auf denen die Zahlensymbolik abläuft, gibt es nicht. Vor diesem Hintergrund und in deutlicher Abgrenzung zu Chaucers Spiel in den Canterbury Tales ließe sich folglich auch eine Alternative zur strengen Hierarchisierung denken: Der Gawain-Dichter legt es gerade nicht auf die scharfe Differenzierung der Ebenen an, die bei Chaucer aufgrund der Trennung von Rahmen und Erzählung möglich ist. Der Gawain-Dichter deutet die Möglichkeit einer strengen Dichotomisierung von Form und Inhalt lediglich an, um sie anschließend wieder zu verwerfen. Gerade weil das eigentlich verborgene mathematische Schema dem Publikum über die Wiederholung eines Verses vermittelt wird, der auf Troja verweist, ist die trojanische Verrats- und Untergangsgeschichte stets präsent, wenn es um die angebliche Vollkommenheit geht. Wenn das Vollkommene tatsächlich nur mithilfe seiner Verschleierung sichtbar gemacht werden kann, kommt dem Schleier eine zentrale performative Funktion in der Konstituierung ebendieses Vollkommenen zu. Der Schleier verhüllt also das Vollkommene nicht nur, sondern er ist mit ihm verwoben, eben weil das Vollkommene ohne die Strategien der Verhüllung nicht zur Erscheinung gebracht werden kann. Auf das Verhältnis von Antike zu christlicher Geschichte und Gegenwart bezogen, hieße dies, dass die Unvollkommenheit der paganen Antike eine historische Notwendigkeit darstellt, ohne die sich die christliche Kultur nicht hätte entfalten können. Da die Vollkommenheit ohne das Unvollkommene nicht denkbar ist, bedarf das Christentum einer heidnischen Antike geradezu, um zur Erscheinung zu gelangen. Damit wird zwar weder die Dichotomie von Form und Inhalt noch das hierarchische Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem aufgehoben, aber es wird ein komplexes Verhältnis gegenseitiger Verschränkung entwickelt, das sich in Chaucers Radikalisierung der Form-Inhalt-Beziehung in Sir Thopas so nicht wiederfindet. Während also Chaucer das gleichsam archäologische Konzept einer antiken Alterität entwirft, das die Antike gerade dank ihrer historischen Ferne für ästhetische Experimente und ideologisch-politische Analysen verfügbar macht, integriert der Gawain-Dichter die unterschiedlichen historischen Ebenen, ohne jedoch die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen. So mittelalterlich die
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Voraussetzungen dieser Strategie auch anmuten mögen, so reflektiert ist ihr Zugriff auf das Material: Der Erzählprozess ist stets auf ein Material angewiesen, das sich seine Widerständigkeit bewahrt, weil Form und Inhalt letztlich aufeinander angewiesen bleiben. Selbst in der scheinbar ahistorischen und idealisierten Welt Camelots und selbst unter den Bedingungen ausgeklügelter numerologischer Spielereien besteht immer die Möglichkeit, dass eine alternative Geschichte ihre Präsenz geltend macht – in diesem Falle die durch Troja vertretene Antike.
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Dante auf der Suche nach Vollkommenheit KATHARINA MÜNCHBERG (Trier) Dantes Commedia, zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden, steht noch ganz im Horizont des mittelalterlichen Wissens: Dante fügt Elemente aus der platonischneuplatonischen, aristotelischen und arabischen Philosophie und der scholastischen und mystischen Theologie zu einer vielschichtigen konzeptuellen Einheit zusammen.1 Dennoch ist Dantes Commedia kein philosophisches Kompendium, sondern ein bis zum Äußersten durchdachtes und durchgestaltetes Kunstwerk, in dem das Wissen immer auf die Materialität des poetischen Textes und seine imaginäre Welt zurückgeführt werden kann. Dantes Reflexion auf eine mögliche Vollkommenheit des Kunstwerks ist hierfür ein grundlegendes Beispiel. In der platonisch-neuplatonischen Philosophie, die Dante über die Vermittlung des Dionysius Areopagita kannte, ist das Vollkommene ein Prädikat, das allein dem Göttlichen zukommt und dem Menschen in der Mangelhaftigkeit der materiellen Welt versagt ist. Die Hochscholastik schließt an diese Traditionslinie an: In seiner Summa theologiae bestimmt Thomas von Aquin das göttliche Sein durch das Prädikat des Vollkommenen, indem er präzisiert, dass es sich selbst in seinem Sein konstituiert. Die irdischen Dinge dagegen sind durch einen Mangel an Sein geprägt und unvollkommen. Aus dieser ontologischen Vorordnung des Vollkommenen ergibt sich, dass die irdischen Dinge nur eine partikulare und graduelle Teilhabe am Sein erreichen können.2 Auch in Dantes Commedia ist die hierarchische Ordnung des Seins das grundlegende Gestaltungsprinzip der imaginären Welt. Vom Gipfelpunkt des Empyreum herab verteilt sich die göttliche Kraft in den Himmeln und ihren Engelscharen, die aus Gott hervorgegangen sind und dorthin zurückstreben. Was für Thomas von Aquin fast schon einen theologischen Gemeinplatz darstellte, wird bei Dante aber zu einer beunruhigenden Frage, die sich angesichts der ontologischen Verortung der Kunst eindringlich stellt:3 Kann es einem menschlichen Kunstwerk gelingen, eine imma_____________ 1 2 3
Zum philosophischen und theologischen Hintergrund Dantes vgl. die immer noch grundlegenden Studien von Bruno Nardi (1944, 1979 und 1985). Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, ST1 qu4 ar1: »deus autem ponitur primum principium, non materiale, sed in genere causae efficientis, et hoc oportet esse perfectissimum.« Die Rosette am Südportal der Kathedrale von Notre-Dame ist das Beispiel für ein sakrales Kunstwerk, das die Sinnfigur der Vollkommenheit in der Traditionslinie der platonischneuplatonischen Lichtmetaphysik ästhetisch verfügbar macht. In der Transparenz des farbigen, kreisförmigen Glases enthüllt sich das göttliche Licht, dessen Einheit durch Reflexion als
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nente Vollkommenheit zu erreichen, eine ästhetische Perfektion, die nicht nur über die Kontingenz der irdischen Welt hinweg auf das Göttliche verweist, sondern zugleich ein selbstkonstitutives Sein darstellt? Wenn Vollkommenheit eine ontologische Kategorie ist, die dem Göttlichen zugehört, bedeutet dann die Schaffung eines vollkommenen Kunstwerks nicht gerade, dass zwischen Immanenz und Transzendenz eine tiefe Kluft aufgerissen wird, eine Kluft, die im neuplatonischen Modell der kontinuierlichen Stufenleiter des Seins noch verdeckt ist? Dantes Suche nach einem poetischen Kunstwerk, in dem Vollkommenheit nicht allein eine theologische, sondern vielmehr ästhetische Reflexionsfigur ist, macht ihn zu einem Dichter der beginnenden Neuzeit.4 Bei Dante wird Vollkommenheit in den drei Horizonten des Wissens, der religiösen und ethischen Erfahrung und der ästhetischen Erfahrung reflektiert. In der Textstruktur der Commedia werden diese Horizonte zu einer Synthese zusammengeführt. Durch die Perfektionierung der poetischen Techniken, die das Wissen einhüllen, gewinnt die Commedia eine eindringliche imaginäre Bildlichkeit und sinnliche Präsenz. Dante schöpft die Potentiale des poetischen Werks ganz aus, um sein Werk der göttlichen Vollkommenheit anzunähern, und hält dabei doch die Differenz zwischen dem menschlichen Werk und dem göttlichen Sein offen.5 Denn wie kann Dantes ästhetischer Perfektionismus gelingen, wenn er dem Kunstwerk nicht eine ästhetische Immanenz zugesteht, die unabhängig ist von der ursprünglichen Vollkommenheit des Göttlichen, zu der sie hinaustreibt?
I. Dantes Commedia ist bereits auf der Ebene der kosmologischen Struktur, die den drei Teilen des Inferno, Purgatorio und Paradiso zugrunde liegt, so etwas wie eine verborgene Sinnfigur der göttlichen Vollkommenheit. Dante gibt der ganzen irdisch-jenseitigen Welt die Gestalt von übereinander liegenden Kreisen: Die Hölle fällt in Kreisen ab zum Erdmittelpunkt, wo Luzifer ins Eis gebannt ist.6 Der _____________ 4
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Vielheit erscheint. Die ästhetische Perfektion der Rosette bleibt freilich an die graduelle ontologische Teilhabe an der perfectio divina gebunden. Hans Robert Jauß hat gezeigt, dass in der Neuzeit das Imaginäre an die Stelle der religiösen Funktion des Vollkommenen tritt: Die »ontologische Vorordnung des Vollkommenen in der Schönheit der Erscheinung umzukehren, bezeichnet die Wende, mit der sich in der beginnenden Neuzeit die Ästhetik als autonome ›Wissenschaft‹ emanzipiert hat.« (Jauß [1991], 307). Zur Sinnfigur der Potentialität bei Dante vgl. Münchberg (2005). Dantes Verwendung der geometrischen Kreis-Figur zur Gestaltung seiner imaginären HöllenLandschaft hat im 14. und 15. Jahrhundert zu vielfachen Spekulationen (Jacopo Alighieri, Jacopo della Lana, Piero Bonaccorsi, Cristoforo Landino) über deren reales Aussehen geführt. Im Zuge dieser Übertragung der imaginären Anschauungspotentiale der Commedia in ein positivistisches (Erd-)Modell, das dem jeweiligen kosmologisch-mathematischen Wissen der Zeit angemessen ist, entsteht auch die Vorstellung der Hölle als Trichter, die schließlich in
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Läuterungsberg erhebt sich in aufsteigenden Felsringen bis zum höchsten Punkt, dem irdischen Paradies, über dem sich die neun Himmelskreise des Paradieses erstrecken, die vom göttlichen Licht durchflossen werden. Im Empyreum, dem Feuerhimmel, der den größten Teil des Lichts empfängt, konzentriert es sich in einem Kreis, um den sich in unzähligen Stufen die milizia santa der Heiligen anordnet. Die Kreisform und unbewegte Ruhe der Himmelsrose sind Zeichen der göttlichen Vollkommenheit, die auf die unvollkommenen bewegten Substanzen wirkt.7 Dante erweist sich damit als ein Dichter, der die geometrischen und mathematischen Spekulationen über die Vollkommenheit des Kosmos genauestens kennt. Im Convivio schreibt Dante über den Kreis, dass er wie der Punkt eine vollkommene geometrische Figur sei: La Geometria si muove intra due repugnanti a essa, sì come tra ’l punto e lo cerchio [...]; chè, sì come dice Euclide, lo punto è principio di quella, e, secondo che dice, lo cerchio è perfettissima figura in quella, che conviene però avere ragione di fine.8
Dante greift hier auf Aristoteles zurück, für den der Kreis die vollendete Linie ist. In De caelo schreibt Aristoteles über den Himmel, dass er aufgrund seiner kreisförmigen Bewegung und der dreidimensionalen Struktur, in der alle Körper versammelt sind, ohne dass der Himmel Teil eines anderen Körpers ist, vollkommen (IJȜİȚȠȞ) sei. Da das Vollkommene dem Unvollkommenen vorausgeht, ist bei Aristoteles die kreisförmige Bewegung zugleich die ursprünglichste geometrische Figur, aus der sich die Linie ableitet.9 Neben dieser geometrischen Bestimmung des Vollkommenen zeigt sich die Referenz auf den aristotelischen Diskurs vor allem auch dort, wo Dante auf den ethischen Aspekt der Vollkommenheit zu sprechen kommt. Zu Beginn des Convivio stellt Dante fest, dass jedes Wesen nach der ihm eigenen Vollkommenheit strebt, in der er die Glückseligkeit erreicht. Der Mensch als Vernunftwesen findet seine Vollkommenheit im Wissen: _____________ 7 8
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Botticellis Höllen-Illustrationen ihre großartige künstlerische Gestaltung gefunden hat. Vgl. Engel (2006), 105–110. Zum Empyreum als Ort der göttlichen Vollkommenheit vgl. Imbach (2008). Zwischen 1304 und 1307 schreibt Dante das Convivio. Es ist die Zeit, in der Dante bereits intensiv an der Commedia arbeitet. 1308 sind das Inferno und das Purgatorio in großen Zügen fertig gestellt, 1312 nimmt Dante das Paradiso in Angriff. Das Convivio ist mehr als eine Rechtfertigung der frühen Liebesdichtung Dantes, es entsteht aus der unmittelbaren Arbeit an der Commedia heraus und ist deren poetologischer Ausdruck. Dantes Theorie des Vollkommenen, die er im Convivio entfaltet, hat daher auch einen impliziten poetologischen Bedeutungsaspekt. Vgl. Dante, Das Gastmahl, II, XIII, 26. (»Die Geometrie bewegt sich zwischen zwei ihr widerstreitenden Vorstellungen, nämlich dem Punkt und dem Kreis […]; denn wie Euklid sagt, der Punkt ist der Anfang der Geometrie und, ebenfalls ihm gemäß, der Kreis ist die vollendetste Figur in dieser, dem es deshalb zukommt, die Bestimmtheit des Zieles zu haben«, 79). Aristoteles, Über den Himmel, 268a 20–25 und 286b 19–25.
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ciascuna cosa, da providenza di propria natura impinta, è inclinabile a la sua propria perfezione; onde, acciò che la scienza è ultima perfezione de la nostra anima, ne la quale sta la nostra ultima felicitade, tutti naturalmente al suo desiderio semo subietti.10
Im zweiten Buch des Convivio nimmt Dante diesen Gedanken erneut auf. Zur Vollkommenheit des Menschen gehört auch die Hoffnung auf Unsterblichkeit, zu der der Mensch als Vernunftwesen fähig ist: Ciascuno è certo che la natura umana è perfettissima di tutte l’altre nature di qua giù [...] Onde con ciò sia cosa che molti che vivono, interamente siano mortali sì come animali bruti, e siano sanza questa speranza tutti mentre che vivono, cioè d’altra vita.11
Daher kann Dante die kosmologischen Himmel auch als Anschauungsfiguren für die verschiedenen Wissenschaften verstehen. Der höchste Himmel, das Empyreum, das sich außerhalb von Zeit und Raum erstreckt, steht für das göttliche Wissen, in dem die Wahrheit vollkommen erkannt wird.12 Wie die göttliche Vollkommenheit auf die unvollkommenen Substanzen wirkt, so bringt auch das Wissen den menschlichen Intellekt dazu, sich zur Wahrheit und ursprünglichen Vollkommenheit zu erheben: E la terza similitudini si è lo inducere perfezione ne le disposte cose. De la quale induzione, quanto a la prima perfezione, cioè de la generazione sustanziale, tutti li filosofi concordano che li cieli siano cagione [...]. Così de la induzione de la perfezione seconda le scienze sono cagione in noi; per l’abito de le quali potemo la veritade speculare.13
Daher ist die Vollkommenheit dem Menschen nicht einfach entzogen, sondern durch die ihm eigene Tüchtigkeit, im Sinne der aristotelischen arete beziehungsweise virtus, erreichbar. Dantes Theorie des Vollkommenen, die er im Convivio entfaltet, ist deutlich von Aristoteles beeinflusst. In der Metaphysik spricht Aristoteles von der Vollendung als der Aktualisierung eines Ziels oder Zwecks (IJȜȠȢ).14 Aristoteles setzt Vollkommenheit weitgehend synonym mit den Kategorien der Ganzheit, Zweckmäßigkeit und der Verwirklichung (ਥȞIJİȜȤİȚĮ). Der Aristotelische Begriff des Vollkommenen hat seinen eigentlichen Ort in der Substanzontologie. In De anima unterscheidet Aristoteles die Form, die Materie und das aus beiden Zusammengesetzte. Die Materie ist Potentialität, die Form ist Aktualität, das Zusammengesetzte ist die Substanz oder vollendete Wirklichkeit.15 Aristoteles hat dem Begriff des Vollkommenen eine definitive ontologische Struktur gegeben, die im Mittelalter in das Modell einer von Gott geschaffenen und geordneten Welt übertragen wird, in der die intelligiblen Substanzen zur _____________ 10 11 12 13 14 15
Dante, Convivio I, 1, 1. Dante, Convivio II, 8, 10–11. Dante, Convivio II, 14, 19. Dante, Convivio II, 13, 5–6. Aristoteles, Metaphysik, 1021b 14–1022a 5. Aristoteles, Über die Seele, 412a 9–21.
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Transzendenz der prima causa zurückstreben. Dabei gewinnen die ethischen Implikationen dieses Modells eine entscheidende Wichtigkeit: Bei Aristoteles strebt der Mensch nach der Tugend als seinem höchsten Ziel. Unter den Tugenden gibt es im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit ebenfalls eine Hierarchie. Den obersten Rang nimmt die intellektuelle Tätigkeit ein. Zwischen der Ethik und der Ontologie besteht dabei eine Entsprechung: Ferner sagt man es [Aus-etwas-Sein] von dem aus Stoff und Form Zusammengesetzten, wie aus dem Ganzen die Teile, aus der Ilias die einzelnen Gesänge und aus dem Haus die Steine sind; denn Zweck ist die Form, und was den Zweck (Ende) erreicht, ist vollendet.16
Im Convivio übernimmt Dante den Aristotelischen Vollkommenheits-Begriff in seiner ganzen Komplexität, die durch die langen theologischen Spekulationen des christlichen Mittelalters angereichert wurde.17 Doch das Wissen um das Vollkommene, das Dante im Convivio versammelt, erfährt in der Commedia eine eigene imaginäre Ausgestaltung. Der Erfahrungsraum, der in der Commedia geöffnet wird, überschreitet die Grenzen des vorgegebenen Wissensraumes, dessen Sinnfiguren in der Immanenz des Kunstwerks eine neue ästhetische Relevanz erhalten. Die Verwirklichung von Vollkommenheit im Handeln ist bei Aristoteles das höchste Ziel der Ethik; bei Dante verwirklicht sich Vollkommenheit im künstlerischen Gestalten und wird Ästhetik.
II. In der Commedia verschwimmen die Grenzen zwischen Dante als Reisendem, als Erzähler und als Autor, der sein Werk aus der Erinnerung heraus verfasst. Daher ist der Weg des Reisenden zum Ursprung der göttlichen Vollkommenheit immer auch der Weg des Dichters zum Ursprung des vollkommenen Kunstwerks. Doch ist dieser lange Weg durchsetzt von Zweifeln, ob das Wagnis dieses Werks überhaupt gelingen kann. Als Dante im ersten Gesang des Inferno aus dem dunklen Wald herausgetreten ist und vor sich den beglänzten Berg des Purgatorium erblickt, wird er von drei wilden Tieren, Wölfin, Luchs und Löwe, aufgehalten. Die allegorische Bildlichkeit dieser Szene verweist nicht nur auf Dantes Verstrickung in die Sündhaftigkeit des irdischen Lebens, sondern auch auf _____________ 16 Aristoteles, Metaphysik V, 1023a. Einen expliziten ästhetischen Begriff des Vollkommenen kennt Aristoteles zwar nicht; doch die Kategorie der Ganzheit spielt auch in der Definition der Tragödie eine Rolle. Vgl. Aristoteles, Poetik, 1450b 23–25. 17 Vgl. Diomedi (2005), 4. Diomedi hat darauf hingewiesen, dass bei Dante die Bedingung für die menschliche Vollkommenheit das moralische Handeln ist. Um Vollkommenheit zu erreichen, muss der Mensch mithilfe seiner intellektuellen Fähigkeiten ein ethisches Bewusstsein herausbilden. Diomedi übersieht allerdings, dass Dante diese verbreitete aristotelische Konzeption von Vollkommenheit aus dem theologisch-philosophischen Denkhorizont des 13. Jahrhunderts übernimmt, ihr aber in der Commedia einen eigenen ästhetischen Sinn gibt.
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Dantes große Angst vor seiner Unvollkommenheit als Dichter. Dante fürchtet sich vor dem Weg durch das Jenseits und zweifelt daran, dass gerade er durch Gott auserwählt sei, von der anderen Welt zu erzählen; gleichzeitig möchte er aber den Ruhm der Unsterblichkeit erreichen und seinem poetischen Werk Ewigkeit verleihen. In der Gestalt Vergils tritt ihm ein Dichter entgegen, der menschliche Unvollkommenheit in die Vollkommenheit eines Werks umzuwandeln wusste. Vergil wird für Dante zu einem Führer, dem er sich anvertraut und den er dennoch hinter sich lassen wird, da er das Werk des heidnischen Dichters überbieten möchte. Die Hölle ist der paradoxe Ort einer Vollkommenheit des Unvollkommenen. In Dantes Hölle sind auch das Böse und Hässliche Erscheinungen des göttlichen Seins. In den Qualen der Sünder, die in der Hölle für ihre Taten büßen, scheint wie im Negativ die Vollkommenheit Gottes durch, der über sie ein präzises Strafsystem verhängt hat.18 Die verletzten und verdrehten Körper der Sünder, die nach dem konzentrischen Stufenmodell um den untersten Punkt der Hölle, den Sitz Luzifers, angeordnet sind, erweisen sich als Werke der göttlichen Kunst der Gerechtigkeit:19 »Si vede di giustizia orribil arte« (Inf. 14, 6). Auf seinem Weg durch die Hölle stellt Dante sich immer wieder die Frage, warum seinen Zeitgenossen und den historischen Figuren, insbesondere auch den Dichtern, Vollkommenheit verwehrt geblieben ist. Im 13. Gesang des Inferno trifft er auf den Dichter Pier della Vigna, dessen Seele in einen Strauch verwandelt wurde. Dante hört zunächst nur das Seufzen einer menschlichen Stimme. Als er von dem Strauch ein Blatt abreißt, rinnen aus dem Riss der Rinde Worte und Blut (»parole e sangue«). Pier della Vigna erklärt Dante, dass er in der Hölle für seinen Selbstmord büßt. Dichter und Kanzler am Hof Friedrichs II. von Sizilien, wird Pier della Vigna unschuldig des Verrates angeklagt und versucht – sich selbst verachtend (»per disdegnoso gusto«) – der öffentlichen Schande durch den Tod zu entgehen. Pier della Vignas Leben ist durch diese moralische Schwäche unvollkommen geblieben. Hat er in seinen Gedichten zumindest eine künstlerische Vollkommenheit erreicht? Dante spricht diese Frage nicht aus. Doch die Gestaltung der imaginären Begegnung zwischen den Dichtern gibt darauf eine Antwort. Durch die dreifache Wiederholung des stimmhaften v in »convertí«, »vento« und »voce« gleicht die Rede von Pier della Vigna dem Rauschen des Windes: Allor soffiò il tronco forte, e poi Si convertí quel vento in cotal voce [...] (Inf. 13, 91–92)
Sein Sprechen ist zuallererst Stimme, ist reine Semiotik und Ausdruck, es ist eine klangliche Präsenz, indem die Semantik der Sprache, der Sinn der Wörter und ihr _____________ 18 Zu Dantes moralischem Strafsystem vgl. Friedrich (1942). 19 Dante, La Commedia secondo l’antica vulgata. (Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Zum Vergleich herangezogen wurde auch die kritische Textausgabe Dante, La Commedìa – Testo critico.)
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Inhalt, nachrangig ist und ein immanenter Sinn durch den klagenden Klang produziert wird. So wie der dolce stil novo durch eine Ausdrucksintensivierung des poetischen Textes die sizilianische Dichterschule überschreitet, so überbietet auch Dante mit der gesteigerten Klangintensität seiner vollkommenen Verse die unvollkommene Dichtung von Pier della Vigna. Was in der Hölle für die Ewigkeit bleibt, sind nicht die Gedichte della Vignas, sondern seine Stimme, die Dante ausdrucksstark hervorhebt. Im 15. Gesang des Inferno trifft Dante auf den Dichter Brunetto Latini, der ihm unter dem Feuerregen von Sodom und Gomorrha in einer Schar Verdammter entgegenkommt. Dante blickt in das verbrannte Gesicht Brunettos und erkennt das Antlitz des geliebten Lehrers, dessen geistige Spannkraft noch immer unter den verwüsteten Zügen hervorschimmert. Inmitten des Grauens entspinnt sich zwischen Lehrer und Schüler ein Gespräch über Dantes poetische und politische Zukunft. Brunetto bestärkt Dante darin, seinem dichterischen Ingenium zu folgen, seinem eigenen Stern, der ihn zum ruhmreichen Hafen führen wird: Se tu segui tua stella, non puoi fallire a glorïoso porto […] (Inf. 15, 55–56)
Dantes poetische Zukunft wird durch sein herausragendes Werk gekrönt werden, über dem die Gunst der göttlichen Vorsehung liegt. Brunetto sagt Dante gleichzeitig seine politische Zukunft voraus und warnt ihn vor den bösen Nachkommen der Fiesolaner, die ihn aus seiner Heimatstadt vertreiben werden. Gerade weil Dantes Werk so herausragend ist, werden seine Feinde umso heftiger gegen ihn wüten: »ti si farà, per tuo ben far, nimico« (Inf. 15, 64). Dante versichert seinem Lehrer, dass in seinem Geist das väterliche Bild Brunettos eingegraben bleiben wird, da er dem Lehrer die Erkenntnis verdankt, dass der Mensch sich in seinen Werken verewigen kann: ché ’n la mente m’è fitta, e or m’accora, la cara e buona imagine paterna di voi quando nel mondo ad ora da ora m’insegnavate come l’uom s’etterna […] (Inf. 15, 82–85)
Im Vertrauen auf die Überzeitlichkeit seines Werkes ist Dante auch bereit, sich der Fortuna und ihrem Wechselspiel anzuvertrauen. Auch das kreisende Rad der Fortuna ist eine implizite Anschauungsfigur der göttlichen Vollkommenheit, indem Gott das Walten über die Welt seiner kapriziösen Dienerin Fortuna überlassen hat: però giri Fortuna la sua rota come le piace […] (Inf. 15, 95–96)
Brunetto bestärkt Dantes Willen, sich gegen die Widrigkeiten des Schicksals zu behaupten und unermüdlich an der Vollendung seines Werkes zu arbeiten. Er schließt das Gespräch mit der Bitte, dass Dante seinen Trésor, in dem er fortlebt, in ehrenvoller Erinnerung behält, bevor er sich umwendet und inmitten der Schar der Sodomiten verschwindet, unter denen sich große und berühmte Dichter befinden (»litterati grandi e di gran fama«, Inf. 15, 107).
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Die Begegnung mit Brunetto zeigt, dass Dante auf der Suche nach dem vollkommenen poetischen Werk ist, das auch das Werk seines Lehrers noch übertrifft. Brunettos Werk zielt zwar auf die Ewigkeit, ist aber durch seinen enzyklopädischen Auftrag und durch seine Abfassung in der nicht-florentinischen Volkssprache unvollkommen geblieben.20 Dantes Vorstellung ästhetischer Perfektion ist von ganz anderer Art als Brunettos enzyklopädische Dichtung. Auch Dante möchte das ganze Wissen der Zeit in seinem Werk versammeln, doch geht es ihm weniger um die Stabilisierung eines epistemologischen Paradigmas als vielmehr um eine poetische Synthese von Wissen und Erfahrung. Nicht umsonst entwirft Dante sich als Reisender, der die Fahrt in die drei Jenseitsreiche nicht nur in der Imagination, sondern mit allen Sinnen am eigenen Körper erfährt.
III. Auch im Läuterungsberg bleibt Dantes Zweifel an seinen künstlerischen Fähigkeiten ein durchgängiges Thema. Im 10.–12. Gesang des Purgatorio rückt Dante die Differenz zwischen dem vollkommenen göttlichen und dem unvollkommenen menschlichen Kunstwerk, zwischen kosmischer und ästhetischer Schöpfung in den Blick.21 Als Dante und Vergil in den ersten Kreis des Läuterungsberges eintreten, in dem sich die Hochmütigen (»superbi«) befinden, stoßen sie auf Kunstwerke, die in die hohe Felswand eingehauen sind und Szenen der Demut darstellen. Es sind vollkommene Kunstwerke, die Gott selbst geschaffen hat. Die Figuren sind so treffend dargestellt, dass sie zu sprechen scheinen (»visibile parlare«). Für den göttlichen Künstler gibt es in seiner Allmacht und Allwissenheit nichts Neues; für Dante hingegen erscheinen die Kunstwerke als überwältigende Neuheit, weil sie die irdischen Gestaltungsmöglichkeiten übersteigen: Colui che mai non vide cosa nova produsse esto visibile parlare, novello a noi perché qui non si trova [...] (Purg. 10, 94–96)
Bereits in der Hölle war erkennbar, dass das Göttliche in den Werken der Strafe negativ aufscheint. Im Läuterungsberg wird das Göttliche nun konkret sichtbar in einem vollkommenen Kunstwerk, das den Unterschied zwischen Schein und Sein aufzuheben vermag. Das göttliche Kunstwerk kennt das Problem der Mimesis nicht, da es nichts nachahmt, sondern erschafft; für Dante selbst hingegen ist die Kluft zwischen Sein und Erscheinung, die mit der Mimesis aufbricht, ein _____________ 20 Zu Dantes Kritik an Brunettos Trésor vgl. Convivio I, 11. 21 Zur poetologischen Selbstreflexivität dieser Gesänge vgl. Barolini (1992), 122–142. Auch Karlheinz Stierle hat auf die poetologischen Implikationen dieser Gesänge hingewiesen. Vgl. Stierle (2007), 178–205.
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immanentes ästhetisches Problem, das sich nur auf der Ebene des selbstreflexiven poetischen Werks lösen lässt: Morti li morti, e i vivi parean vivi: Non vide mei di me chi vide il vero, quant’io calcai, finché chinato givi. (Purg. 12, 67–69)
Wie groß die Differenz zwischen den göttlichen und den menschlichen Werken ist, wird umso augenfälliger, als Dante im 11. Gesang auf den Maler Oderisi d’Agobbio trifft, der sich die Überlegenheit seines Rivalen Franco Bolognese nicht eingestehen wollte. Aus übergroßer Ruhmsucht (»disio de l’eccellenza«) hat Oderisi sich der künstlerischen superbia schuldig gemacht. Im Jenseits hat Oderisi nun die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des künstlerischen Ruhmes erkannt: Oh vana gloria de l’umane posse! Com’ poco verde in su la cima dura, se non è giunta da l’etati grosse! (Purg. 9, 91–93)
Der weltliche Glanz ist nichts anderes als ein Windhauch, der unablässig die Richtung wechselt, so dass die Namen der besten Künstler im unbeständigen Schicksal künstlerischen Ruhmes aufgehen und verschwinden. Mag der künstlerische Ruhm auch die Jahrhunderte überdauern, er ist doch nichts anderes als ein Augenschlag im Vergleich mit dem unendlich langsamen Kreisen des vollkommenen Himmelsrades: […] ch’è piú corto spazio a l’etterno, ch’un muover di ciglia al cerchio che piú tardi in cielo è torto. (Purg. 9, 106–108)
In Dantes Begegnung mit Oderisi d’Agobbio wird deutlich, dass Dante künstlerische Vollkommenheit nicht nur nach ästhetischen, sondern auch nach ethischen Gesichtspunkten bemisst. Oderisi hat sein ästhetisches Ziel, das vollendete Werk zu schaffen, aus den Augen verloren, als er mit dem Neid auf seinen Kollegen seine ethische Integrität preisgegeben hat. Auch hier bringt Dante erneut die Symmetrie von Ethik und Ästhetik ins Spiel, indem er die ästhetische Vollendung des Kunstwerks an die ethische Vollendung der künstlerischen Persönlichkeit zurückbindet.
IV. Im Paradiso wird die Frage, ob es eine Annäherung zwischen der künstlerischen und göttlichen Vollkommenheit geben kann, erneut virulent. Beim Aufstieg in die erste Sphäre des Paradieses erklärt Beatrice Dante, warum es im göttlichen Heilsplan eine Differenzierung (»piú e meno«) und damit einen Abstieg aus dem Vollkommenen ins Unvollkommene gibt:
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La gloria di colui che tutto move Per l’universo penetra, e risplende In una parte piú e meno altrove. (Par. 1, 1–3)
Dante stellt sich daraufhin die Frage, wie die Erfahrung der göttlichen Vollkommenheit in der Materialität der menschlichen Sprache ausgedrückt werden kann: [...] e vidi cose che ridire né sa né può chi di là sú discende […] (Par. 1, 5–6)
Die überwältigend schönen Himmelserscheinungen nimmt Dante zwar mit gespannter Aufmerksamkeit wahr, er kann das Sichtbare aber nicht auf die Ebene des Sagbaren bringen. Dante kann nur sagen, was begrifflich verfügbar und durch den theologischen Diskurs geordnet ist. Das theologische Wissen hat eine welterklärende Kraft; die sinnliche Erfahrung, die dieses Wissen übersteigt, überschreitet die Grenzen der sagbaren Welt. Dantes Feier der sinnlichen Erfahrung, seine Hingabe an das Sichtbare des Paradieses ist gleichzeitig ein unendlicher Mangel an Sagbarkeit.22 Im 13. Gesang des Paradiso reflektiert Dante ausdrücklich auf diese Differenz von Sagbarem und Sichtbarem, indem er den Leser auffordert, die Mangelhaftigkeit der Sprache durch das Imaginäre auszugleichen, da die Dichtung im abstrakten und bildlosen Medium der Sprache die sinnlichen Eindrücke der Himmelsreise nicht adäquat zu repräsentieren vermag: Imagini, chi bene intende cupe Quel ch’i’or vidi – e ritegna l’image, mentre ch’io dico, come ferma rupe –, quindici stelle di tanto sereno [...] (Par. 13, 1–4)
Die Dichtung muss – im Unterschied zu den vollkommenen Skulpturen des Läuterungsberges – die Einheit von Sinn und sinnlicher Wahrnehmung und damit das Offenbare des Seins über den Umweg des Imaginären produzieren. Um Dante den Abstieg der göttlichen Vollkommenheit in die Unvollkommenheit der Welt verständlich zu machen, erläutert Beatrice im ersten Gesang des Paradiso auf das Genaueste die Kosmologie und Ontologie des Himmels, die abhängig ist von der göttlichen Form, die der (Himmels-)Materie eingeprägt wird. Zwischen dem erschaffenen Kosmos und dem göttlichen Demiurg besteht ein Ähnlichkeitsbezug, der auch die Erklärung dafür ist, dass die geistigen Wesen auf _____________ 22 Den Unsagbarkeitstopos gebraucht Dante freilich häufig. Unablässig weist er auf das Problem der Darstellung des Undarstellbaren hin, um das Mysterium des göttlichen Seins zumindest durch sprachliche Negativität zu markieren. Dantes Unsagbarkeits-Topos ist deutlich von der Sprachkonzeption der mystischen Theologen geprägt. Dionysius Areopagita hat in seiner Schrift Die 1amen Gottes die neuplatonische Vorstellung von der Totalität des einen göttlichen Ursprungs in der Pluralität der Erscheinungen dargelegt und weist mit Blick auf das Paradox einer Sprache des Unaussprechlichen auf die Einheit des transzendenten Sinns in der Vielheit der Namen hin. Das unaussprechliche göttliche Mysterium ist die paradoxe Einheit des Namenlosen und aller Namen. Vgl. Dionysius Areopagita, Die 1amen Gottes, 596, 1 A. Zum Topos des Unsagbaren im Paradiso vgl. auch Picone (1989), 201.
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Gott als ihren Ursprung ausgerichtet sind. Die Schöpfung gleicht einem Kunstwerk, aber weder in der Schöpfung noch im Kunstwerk kann es Vollkommenheit geben, weil die Idealität der Form in der Materialität des Werks einen Widerstand findet. Die Intention des Künstlers, ein vollendetes Werk zu schaffen, lässt sich nicht verwirklichen, weil die Kluft zwischen der Form und dem widerständigen Material unüberbrückbar ist: Vero è che, come forma non s’accorda molte fïate a l’intenzion de l’arte, perch’ a risponder la materia è sorda […] (Par. 1, 127–129)
Im 8. Gesang des Paradiso steigt Dante in den Venushimmel auf, wo er Carlo Martello d’Angiò trifft. Auch dieser Gesang steht ganz im Zeichen der Frage nach der Entsprechung zwischen Schöpfung und Kunstwerk.23 Im Venushimmel trifft Dante auf die Seelen der Liebenden, die zugleich die rhetorischen Figurationen der Sprache repräsentieren. Erstaunt sieht er im Lichthorizont der Venus funkelnde Seelen auftauchen, die sich in unterschiedlicher, von der inneren Gottesschau abhängender Geschwindigkeit im Kreis drehen: E come in fiamma favilla si vede, e come in voce voce si discerne, quand’una è ferma e altra va e riede, vid’io in essa luce altre Lucerne muoversi in giro piú e men correnti, al modo, credo, di lor viste interne. (Par. 8, 16–21)
Das Besondere der Lichtseelen im Himmel ist diese Kreisbewegung. Die Seelen bewegen sich, angetrieben durch die göttliche Kraft, in deren eigenster Wesensstruktur.24 Die kreisenden Lichtseelen lösen bei Dante eine tiefe Lust aus. Auch lautlich konkretisiert sich die Kreisbewegung in den sich wiederholenden Klängen des Hosanna. Die sichtbare und hörbare Phänomenalität der Lichtseelen ruft bei Dante eine Intensivierung der sinnlichen Erfahrung hervor, die zunächst von der Erscheinung der Seelen ausgelöst wird, um dann selbstreflexiv in sich zu kreisen: E dentro a quei che piú innanzi appariro sonava ‚Osanna’ sí, che unque poi di riudir non fui sanza disiro. (Par. 8, 28–30)
Die Kreisbewegung der singenden Seelen erweist sich damit auch als ein Bild für Dantes Dichtung selbst, die in klanglichen Wiederholungen und Veränderungen _____________ 23 Der Stern der Venus ist in der christlichen Astrologie mit der Wissenschaft der Rhetorik und in der antiken Mythologie mit der Göttin der sinnlichen Liebe verbunden. 24 Dante greift hier erneut auf den Wissensfundus zurück, der seit Aristoteles als diskursives Paradigma für das Vollkommene bereitsteht. Der entscheidende Referenzdiskurs ist diesmal aber die platonisch-neuplatonische Tradition, die Dante durch Dionysius Areopagita bekannt war. Dionysius hebt besonders die Vorstellung hervor, dass die Seele sich kreisförmig in sich selbst bewegt. In dieser neuplatonischen Variante ist die Kreisbewegung auch ein Bild für das Bei-sich-selbst-Sein der Seele. Vgl. Dionysius Areopagita, Die 1amen Gottes, 704, 1 D.
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das Vollkommene präsent zu machen versucht. In Dantes Text wird die Sinnfigur des Kreisens auch als Klangfigur ausdrücklich. Durch die Wiederholung von semantisch ähnlichen, doch nicht identischen Wörtern, die sich auch im Klang gleichen und voneinander abweichen (»fiamma/favilla«; »in voce voce«), entsteht eine sprachliche Dynamik, die die Zeichen des Textes selbst in eine Kreisbewegung versetzt: E come in fiamma favilla si vede, e come in voce voce si discerne quand’una è ferma e altra va e riede […] (Par. 8, 16–17)
Eines der Seelenlichter löst sich aus dem Reigen, nähert sich Dante und beginnt zu sprechen. Nachdem Dante sich mit einem Blick in die Augen Beatrices ihrer Zustimmung vergewissert hat, fragt er mit großer Anteilnahme nach der Identität dieser Lichtseele, die bei seinen Worten vor innerer Freude größer und strahlender wird. Es ist Carlo Martello d’Angiò, König von Ungarn und großer Förderer der Künste, den Dante 1294 in Florenz in der Werkstatt von Cimabue getroffen hat, wo Dante ihm die Kanzone Voi che ’ntendendo il terzo ciel movete vorträgt. Diese Begegnung hat Dante tief geprägt. Aus ihr erwächst sein Wunsch, Kunst und Politik zu versöhnen. Carlo Martello ist für Dante das Sinnbild des idealen Fürsten und einer Freundschaft voller cortesia und Freigiebigkeit. Durch das helle Lichtfeuer der Heiterkeit, das Martell umgibt und ihn verbirgt wie eine Raupe in ihrem Seidenkokon, kann Dante ihn nicht genau erkennen. Doch Martell versichert Dante seine Ehrerbietung und berichtet von seinem kurzen Leben, in dem er das Königreich Sizilien durch die Habgier seines Bruders Roberto verloren hat. Dante spürt inmitten der Freude einen Zweifel aufkommen: Wie kann aus einer so noblen Familie ein so niederträchtiger Nachkomme hervorgehen? Carlo gibt ihm eine ausführliche Antwort. Der göttliche Geist ist in sich vollkommen: »la mente ch’è da se perfetta« (Par. 8, 101). In ihm sind nicht nur die Wesen, sondern auch ihr heilsgeschichtliches Ziel vorhergesehen. In den Himmeln verwandelt sich die göttliche Providenz in eine schöpferische Kraft. Die Intelligenzen, die die Himmel bewegen, gehen unmittelbar aus der Providenz hervor und haben teil an deren Vollkommenheit, sind selbst aber unvollkommen: E ciò esser non può. Se li ’ntelletti Che muovon queste stelle non son manchi E manco il primo, che non li ha perfetti. (Par. 8, 109–111)
Die Himmelskräfte wirken wiederum auf die Menschen im irdischen Kosmos, ohne dabei auf die familiäre Herkunft zu achten. Daher kommt es zu Abweichungen im ethischen Verhalten innerhalb der besten Familien. Die mittelalterliche Seinsordnung, in der die Kontingenz der Welt ganz in der Vorsehung der metaphysischen Ordnung steht, wird hier zum Erklärungsmodell für das Unerklärliche: La circular natura, ch’ è suggello A la cera mortal, fa ben sua arte Ma non distinue l’un da l’altro ostello. (Par. 8, 127–129)
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Im Sonnenhimmel trifft Dante auch auf Thomas von Aquin, der ihm erklärt, warum Salomon in seiner Weisheit neben Adam und Christus bestehen kann, und dabei auf eine weitere Variante der Theologie des Vollkommenen zu sprechen kommt. Die Rede des Aquinaten ist tief geprägt durch die neuplatonische Theologie des Dionysius Areopagita. Körperliche und geistige Wesen sind für Thomas ein Abglanz (splendor) der göttlichen Idee (idea). Wie das Licht vom Leuchtkörper, so geht das Verbum von Gott aus, um sich in den Intelligenzen zu brechen. Das göttliche Verbum bildet eine Einheit, die in der Vielheit der Substanzen erhalten bleibt, mit denen es sich vereint: per sua bontate il suo raggiare aduna, quasi specchiato, in nove sussistenze, etternalmente rimanendosi una. (Par. 13, 58–60)
Dante hat die klangliche Materialität seines Textes so gestaltet, dass sich darin die neuplatonische Sinnfigur einer Einheit von Einheit und Vielheit konkretisiert. In den Reimwörtern disuna, aduna, una wird die Einheit in der Vielheit als die Einheit des Sinns in der klanglich ausdifferenzierten Materialität der Sprache erfahrbar. Mit dem neuplatonischen Stufenmodell gibt Thomas von Aquin – wie bereits Beatrice im 1. Gesang des Paradiso – eine Antwort auf Dantes Frage nach der Entstehung der menschlichen Unvollkommenheit. Die Vollkommenheit des göttlichen Lichts geht nach und nach verloren, wenn es von Akt zu Akt, von Intelligenz zu Intelligenz bis zu den Potenzen der Materie herabfließt.25 In diesem Herabsteigen erfährt das Sein eine unendliche Differenzierung, so wie die Prägung eines Siegels im Wachs unterschiedlich ausfällt. Auch das göttliche Sein prägt sich in die Materie mehr oder weniger deutlich ein: La cera di costoro e chi la duce non sta d’un modo; e però sotto ’l segno ideale poi piú e men traluce. (Par. 13, 67–69)
Die Metapher von Siegel und Wachs steht schon bei Aristoteles für die Differenz zwischen Form und Materie. Bei Dante gewinnt dieses Bild eine neue Bedeutung: Es ist eine Metapher für die Pluralität und Individualität des Seienden, das sich aus der Einheit des göttlichen Seins entfaltet. Wie aus demselben Baum (»medesimo legno«) verschiedenartige Früchte entstehen, so gehen aus dem göttlichen Sein die einzelnen Menschen hervor: »e voi nascete con diverso ingegno« (Par. 13, 72). Gerade aufgrund seiner Individualität aber ist der Mensch unvollkommen. Die prägende Kraft des Seins wäre nur dann vollkommen, wenn sie unmittelbar und ganz von der Materie aufgenommen würde. Doch die Natur, die als Zwischeninstanz im Auftrag der göttlichen Kraft wirkt, verhält sich wie ein Künstler, dessen Hand beim Ausüben der Kunst zittert: _____________ 25 Zur Metaphorik des fließenden Lichts in der Traditionslinie der neuplatonischen Emanationslehre, die bei Dante eine poetische Funktion gewinnt, vgl. Ariani (2009).
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Se fosse a punto la cera dedutta e fosse il cielo in sua virtú supprema, la luce del suggel parrebbe tutta; ma la natura la dà sempre scema, similemente operando a l’artista ch’ a l’abito de l’arte ha man che trema. (Par. 13, 73–78)
Wie an kaum einer anderen Stelle der Commedia kommt in diesem Passus Dantes tiefe Furcht zum Tragen, dass er dem Anspruch auf Vollkommenheit, den er an sein eigenes Werk heranträgt, nicht genügen könnte. Die Unzulänglichkeit des Künstlers, die sich gerade in seiner schöpferischen Individualität zeigt, scheint der idealen Vollkommenheit des Kunstwerks entgegenzustehen. Es kann kein vollkommenes Kunstwerk geben, wenn der Künstler seine geistige Intention nicht verwirklichen kann, weil er an den begrenzten Fähigkeiten des Menschen scheitert. Dennoch gibt es auch im Bereich der menschlichen Existenz Beispiele einer absoluten Perfektion, dort nämlich, wo die göttliche Kraft sich in einem unmittelbaren Schöpfungsakt mitteilt: Però se ’l caldo amor la chiara vista De la prima virtú dispone e segna, Tutta la perfezion quivi s’acquista. (Par. 13, 97–81)
Solche perfekten Schöpfungen sind Adam als der erste Mensch (»di tutta l’animal perfezïone«, Par. 13, 83) und Christus als Inkarnation Gottes. Auch Salomon ist Adam und Christus durch seine königliche Weisheit (»regal prudenza«, Par. 13, 104) gleichgestellt. In der neuplatonischen Rede des Thomas von Aquin scheint damit der aristotelische Grundgedanke durch, dass der Mensch, der sein intellektuelles Vermögen ganz verwirklicht, eine ihm eigene Vollkommenheit zu erreichen vermag. Das Prädikat der Vollkommenheit ist nicht auf eine Metaphysik von Schöpfung und Inkarnation begrenzt, sondern kommt auch dem Wissen und der Wissenschaft zu. Darum legt Thomas Dante auch nahe, sich nicht einfach den emotionalen Impulsen hinzugeben, sondern diese unter die Kontrolle des Verstandes zu stellen (»e poi l’affetto l’intelletto lega«, Par. 13, 120). Dantes gewagte Frage, ob Vollkommenheit im Bereich der Kunst erreicht werden könnte, wird von Thomas für den Bereich der theoria beantwortet. Seine theologischen Erläuterungen haben aber auch poetologisches Gewicht: Er bietet Dante eine theologische Grundlage, mit der sich seine eigene poetische Intention fassen lässt. Um die ästhetische Perfektion seines Werkes zu sichern, strebt Dante immer auch nach einer intellektuellen Perfektion. Die Wucht der Gefühle und Stimmungen, die Dante auf seiner Reise durch das Jenseits immer wieder ergreifen, bringt er mit dem philosophischen und theologischen Wissen in Einklang, das er in der Begleitung seiner Führer Vergil, Beatrice und Bernhard erlernt. Die prinzipielle Unvollkommenheit der Kunst, die durch die Materialität des Kunstwerks und die Individualität des Künstlers ins Spiel kommt, kann letztlich durch die Allianz von
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begrifflichem Denken und sinnlicher Erfahrung überboten werden. Dantes Kunst ist denkende Sinnlichkeit und sinnliches Denken. Ihre Vollkommenheit liegt in ihrer unüberbietbaren ästhetischen Immanenz, eine Immanenz im Sinnlichen, in der das Wissen der Theologie um die Wahrheit des göttlichen Seins im Kunstwerk und als Wahrheit des Kunstwerks ausdrücklich wird.
V. Die Kunst des Mittelalters – und zwar nicht nur die sakrale, sondern auch die profane – ist auf der Suche nach einer Vollkommenheit, die dem Menschen prinzipiell entzogen ist. Im Mittelalter versucht die Kunst, durch das Ausschöpfen der ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten den Sprung aus der Immanenz der Welt in die Transzendenz der göttlichen Vollkommenheit zu leisten. Erst mit Dante beginnt die Reflexion auf die Möglichkeit einer Vollkommenheit, die in der Immanenz des Kunstwerks selbst liegt. Dantes Werk zielt nicht mehr – wie noch die sakralen Kunstwerke des Mittelalters, die in der Tradition der neuplatonischen Lichtmetaphysik stehen – auf die ontologische Teilhabe des Kunstwerks an der göttlichen Vollkommenheit, vielmehr ist das Vollkommene zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie innerhalb einer neuen Allianz der Kunst und des theologischen Wissens geworden. Der Umschlag der Theologie der perfectio divina in eine Metaphysik ästhetischer Perfektion, die sich bei Dante beobachten lässt, kann als Beleg für einen historischen Wandel verstanden werden, der im Sinne von Blumenbergs Säkularisierungsthese zu einer für die Neuzeit wesentlichen Selbstbehauptung des Menschen führt, der angesichts des sich seit dem Nominalismus abzeichnenden metaphysischen Ordnungsschwundes die veränderbare Struktur der Welt entdeckt.26 Doch diese Säkularisierungsthese hat ihre Grenzen. Denn es handelt sich bei der Herausbildung der ästhetischen Immanenz der Kunst kaum um einen historisch linearen Prozess, sondern um diskontinuierliche und differenzierte Konstellationen, um Annäherungen und Distanzierungen zwischen theologischem Diskurs und Kunstpraxis. In der Frühen Neuzeit wird freilich immer deutlicher die Ablösung der Kunst vom Paradigma der göttlichen Vollkommenheit erkennbar. Unvollkommenheit wird zum anthropologischen Kennzeichen des Menschen. Vollkommenheit wird nicht mehr nur als transzendentes Ideal vorstellbar, sondern als ein Ziel, das in der diesseitigen Welt konkret realisierbar ist. Suche nach Vollkommenheit heißt nun, _____________ 26 Nach Blumenberg meint Selbstbehauptung »ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will.« (Blumenberg [1996], 151.) Dantes Werk ist ein Schwellenwerk, das zwar bereits Merkmale eines neuzeitlichen Profils aufweist, gleichzeitig aber durch seine Einbindung in die Episteme des Aristotelisch-scholastischen Mittelalters nachhaltig geprägt ist.
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die irdische Welt in ihrer ontologischen Struktur sichtbar zu machen und die intellektuelle Selbstformung des Menschen durch ästhetische Strategien voranzutreiben. Dante macht den ersten Schritt auf diesem Weg zur Vervollkommnung des Unvollkommenen. Wenngleich es Vollkommenheit nur im göttlichen Sein gibt, so ist bereits bei Dante weder der Künstler noch das Kunstwerk von dieser ursprünglichen Vollkommenheit gänzlich ausgenommen. Die Gewissheit, dass es das Vollkommene gibt, auch wenn es dem Menschen letztlich unverfügbar ist, ist für Dante Grund genug, um ihm im Kunstwerk einen Anschauungs- und Sinnraum zu schaffen, wo es in seiner reinen Möglichkeit aktuell sein kann.
Primärliteratur Aristoteles, Metaphysik, 2 Bde., hg. v. Horst Seidl, übers. v. Hermann Bonitz, Hamburg 3 1989 und 31991. Aristoteles, Poetik, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Aristoteles, Über den Himmel, übers. v. Alberto Jori, in: Werke XII/3, hg. v. Hellmut Flashar, Berlin 2009. Aristoteles, Über die Seele, hg. u. übers. v. Horst Seidl, Hamburg 1995. Dante Alighieri, Das Gastmahl, übers. u. komm. v. Thomas Ricklin, in: Philosophische Werke, Bd. 4, hg. unter der Leitung v. Ruedi Imbach, Hamburg 1996. Dante Alighieri, La Commedìa – Testo critico secondo i più antichi manoscritti fiorentini. 1uova edizione, hg. v. Antonio Lanza, Anzio 21996. Dante Alighieri, La Commedia secondo l’antica vulgata, hg. v. Giorgio Petrocchi, 2. Aufl. Firenze 1994. Dionysius Areopagita, Die 1amen Gottes, eingel., übers. u. mit Anm. vers. v. Beate Suchla, Stuttgart 1994. Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Opera omnia II, hg. v. Roberto Busa, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, 184–926.
Sekundärliteratur Ariani, Marco: »›Metafore assolute‹ – Emanazionismo e sintesie della luce fluente«, in: La metafora in Dante, hg. v. Marco Ariani, Firenze 2009, 193–219. Barolini, Theodolinda, The Undivine »Comedy« – Detheologizising Dante, Princeton 1992. Blumenberg, Hans, Die Legitimität der 1euzeit, ern. Ausg., Frankfurt/Main 1996. Diomedi, Adriana, Il principio di perfezione nel pensiero dantesco, Leicester 2005. Engel, Henrik, Dantes Inferno – Zur Geschichte der Höllenvermessung und des Höllentrichtermotivs, Berlin 2006.
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Petrarcas Replik auf Dantes Versuch einer Annäherung an Perfektion: Absage an Kunstmetaphysik JOACHIM KÜPPER (Berlin) Grundsätzlichste poetische Intention von Dantes sacro poema ist der Versuch, im Medium des literarischen Texts die höchstmögliche Annäherung an die Kategorie des Perfekten zu erreichen. Die bis heute dauernde Resonanz der Commedia liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der Text auf den verschiedensten Ebenen nachgerade evident macht, was ein solches Unterfangen unter post-antiken Bedingungen impliziert. Die Commedia ist auf diese Weise zu dem Punkt geworden, von dem sich die spätere Reflexion auf die Möglichkeiten und Bedingungen des literarischen Texts gewissermaßen abstößt. Die Wege, die dabei beschritten wurden, sind zahlreich. Es sei hier die Hypothese vorgebracht, dass sie sich letztlich auf zwei Varianten reduzieren, deren eine und wirkmächtigste von Dantes Nachfolger Petrarca entwickelt worden ist. Zunächst aber einige Bemerkungen zu Dantes selbst unter zeitgenössischen Bedingungen kühnem Experiment: Auch literarisch ist der Dichter der Commedia strikt Monotheist. Es gibt für ihn nicht zwei oder mehrere Arten von Perfektion. Das ens perfectissimum ist ein einziges, und so können denn alle menschlichen Versuche, Perfektion zu erreichen, immer nur Annäherungen sein. Dies ist die wesentliche Bruchlinie zu Aristoteles, bei dem Vollkommenheit eine relativ reguläre irdische Möglichkeit (Entelechie), und auch zu Plato, bei dem sie immerhin eine fallweise irdische Möglichkeit ist (Modus der manía). Diese Bruchlinie wird sinnfällig mit dem Unsagbarkeitstopos des letzten Gesangs der Commedia: »Da quinci innanzi il mio veder fu maggio/che ’l parlar nostro«.1 Alles, was nicht Gott ist, ist eo ipso minder perfekt als dieser selbst. Insofern ist das Perfekte und es kann auch geschaut werden, indes ist diese Schau nicht in Menschenmöglichem fassbar. Der traditionschristliche Gott ist aber keine in die Transzendenz entrückte Instanz. Als Weltenschöpfer ist er die »causa consonantiae et claritatis in omnibus«.2 Selbst eine näherungsweise Figuration solcher harmonischen Perfek_____________ 1
2
Par. XXXIII, 55 f.: »Von dann an war das, was ich sah, größer als was wir in Sprache fassen können.« – Der Text der Commedia wird zitiert nach der kritischen Standard-Ausgabe der Società Dantesca Italiana. Alle Übersetzungen in diesem Aufsatz sind meine eigenen, existierende Übersetzungen wurden konsultiert. Thomas von Aquin, In librum beati Dionysii De divinibus nominibus expositio, cap. 4, l. 5.
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tion müsste ohne Verweis auf deren Urgrund ihrerseits imperfekt bleiben, denn dieser Urgrund ist in der phänomenalen Welt erfahrbar, via similitudinis und via verbi.3 Den entsprechenden Gedanken entfaltet Dante in dem Brief, mit dem er Cangrande della Scala das Paradiso widmet:4 Omne ergo quod movetur est in aliquo defectu, et non habet totum suum esse simul. Illud igitur celum quod a nullo movetur, in se in qualibet sui parte habet quicquid potest modo perfecto, ita quod motu non indiget ad suam perfectionem. Et cum omnis perfectio sit radius primi, quod est in summo gradu perfectionis; manifestum est quod celum primum magis recipit de luce primi, qui est Deus.5
Dieses abgestufte Durchdrungensein vom göttlichen Licht setzt sich fort bis hinab auf die Erde, ja, bis in den untersten Kreis der Hölle. Mit dem skizzierten Vorbehalt letztlicher Unsagbarkeit ist Dantes Text aus Sicht des Autors dann aber auf dem höchstmöglichen Niveau von Annäherung zu situieren. Der entsprechende Versuch operiert auf vier Ebenen: thematisch, formal, modal, intentional. Thematisch umfasst Dantes Text die ›ganze Welt‹ in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung, repräsentiert durch die Figuren der Geschichte. Hinzu kommen Vorgriffe auf Künftiges. Dass dieses Künftige nicht voll präsent ist, scheint eine markante Apostrophierung eben des Näherungshaften, auf den das Menschliche auch auf höchstmöglichem Perfektionsniveau begrenzt ist. Mit dieser Einschränkung ist aber die in dem Text verfolgte totalisierende Perspektive Programm: Alles Sagen, das sich nur auf eine TeilWelt bezöge, würde den Versuch der Annäherung an das Perfekte verfehlen müssen, es wäre eo ipso nur partial. Unter dem Aspekt der zentralen Intention Dantes ist in thematischer Hinsicht des Weiteren von Belang, dass die Welt6 hier nicht in ihrer der Zeitlichkeit, d. h. der Korruptibilität überantworteten Variante dargestellt ist, sondern in jener ›auf immer‹ bleibenden, zugleich wahren und ewigen Form des »status animarum post mortem«.7 In der anderen Richtung, in _____________ 3 4 5
6 7
Hinzu kommt für eine gewisse historische Zeit sogar die Erfahrbarkeit in persona, wobei diese über die je eigenen Sinne vermittelte Erfahrung den Nachgeborenen durch die Schrift zugänglich gemacht wird. Ungeachtet mancherlei Streits um seine Authentizität kann der Brief in Ansehung anderer Schriften des Autors als eine Art Formulierung der Poetik angesehen werden, die der Commedia zugrunde liegt. Epistula XIII, Abschnitt 26 (in: Dante Alighieri, Opere minori, Bd. II, 636): »Alles, was von etwas bewegt wird, weist einen Mangel auf und hat nicht zur gleichen Zeit sein ganzes Sein. Jener Himmel also, der von niemandem bewegt wird, hat in sich in jedem seiner Teile in vollendeter Weise das, was er vermag, so dass er zu seiner Vollkommenheit der Bewegung nicht bedarf. Und da jede Vollkommenheit Ausstrahlung des Ersten ist, das auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit steht, ist es offenkundig, daß der erste Himmel mehr vom Licht des Ersten empfängt, das Gott ist.« – soweit eben aus menschlicher Sicht erfassbar. Auch hier gilt natürlich wiederum der onto-theologisch unabdingbare Vorbehalt der näherungsweisen Erfassung von Wahrheit und Perfektion. Dantes Text enthält sich aller Aussagen über das Schicksal der Seelen nach dem Tag des Jüngsten Gerichts, die a-temporale
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Abgrenzung etwa zu später in der frühneuzeitlichen Literatur wieder relevant werdenden neuplatonistischen Konzepten von Perfektion, gilt, dass diese Annäherung an das Perfekte auf inhaltlicher Ebene nicht via abstractionis erfolgt. Die ›mimetische‹ Repräsentation der menschlicherseits fasslichen Fülle des Geschaffenen ist Bestandteil des hier verfolgten Perfektionskonzepts, in Ansehung der Nobilitierung des Einzelnen durch den Akt der göttlichen creatio der Seele. Formal ist Dantes Text so rigoros konstruiert wie kein zweiter in unserer Tradition. Er operiert konsequent über den beiden heiligen Zahlen, der Drei und der Sieben, mit deutlicher Dominanz der ersteren, und er führt das solchermaßen Gegliederte in einer daraus konstruierten Einheit, der Hundertzahl der canti, zusammen. Modal ist der Text gemäß dem in der Cangrande-Epistel artikulierten Verständnis des Autors8 nach dem Vorbild von Gottes eigenem Wort verfasst, _____________ 8
Ordnung des von ihm modellierten Jenseitsreichs bemisst sich also in eschatologischer Sicht anders als in irdischer Perspektive. »[...] sciendum est quod istius operis non est simplex sensus, ymo dici potest polisemos, hoc est plurium sensuum; nam primus sensus est qui habetur per litteram, alius est qui habetur per significata per litteram. Et primus dicitur litteralis, secundus vero allegoricus sive moralis sive anagogicus. Qui modus tractandi, ut melius pateat, potest considerari in hiis versibus: ›In exitu Israel de Egipto, domus Iacob de populo barbaro, facta est Iudea sanctificatio eius, Israel potestas eius.‹ Nam si ad litteram solam inspiciamus, significatur nobis exitus filiorum Israel de Egipto, tempore Moysis; si ad allegoriam, nobis significatur nostra redemptio facta per Christum; si ad moralem sensum, significatur nobis conversio anime de luctu et miseria peccati ad statum gratie; si ad anagogicum, significatur exitus anime sancte ab huius corruptionis servitute ad eterne glorie libertatem. [...] Est ergo subiectum totius operis, litteraliter tantum accepti, status animarum post mortem simpliciter sumptus; nam de illo et circa illum totius operis versatur processus. Si vero accipiatur opus allegorice, subiectum est homo prout merendo et demerendo per arbitrii libertatem iustitie premiandi et puniendi obnoxius est.« (Abschnitte 7 und 8: »Man muss deshalb wissen, dass dieses Werk nicht von einfacher Bedeutung ist, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt von mehrfacher Bedeutung; denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die zweite jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische. Dieses Verfahren kann, damit es einsichtiger werde, anhand der folgenden Verse veranschaulicht werden: ›Als Israel aus Ägypten auszog, das Haus Jakob aus dem barbarischen Volk, da wurde Juda seine Heiligung, Israel sein Machtbereich.‹ Wenn wir dies nämlich allein dem Buchstaben nach betrachten, wird uns der Auszug der Söhne Israels aus Ägypten zur Zeit Mose bedeutet; wenn der Allegorie nach, wird uns unsere Erlösung durch Christus bedeutet; wenn der moralischen Bedeutung nach, dann wird uns die Abwendung der Seele von der Trauer und dem Elend der Sünde zum Stand der Gnade bedeutet; wenn der anagogischen Bedeutung nach, dann wird uns der Auszug der heiligen Seele aus der Knechtschaft dieser Verderbnis in die Freiheit der göttlichen Herrlichkeit bedeutet. [...] Der Gegenstand des ganzen Werkes, nur buchstäblich aufgefasst, ist also, einfach genommen, der Zustand der Seelen nach dem Tod, denn von diesem handelt und um diesen dreht sich das ganze Werk. Wenn das Werk hingegen allegorisch aufgefasst wird, dann ist der Gegenstand der Mensch, insofern er aufgrund der Willensfreiheit durch Verdienst und Schuld der belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit unterworfen ist.« Dantes Referenz auf die zitierte Exodus-Stelle ist in ihrem Anspruch umso bezeichnender, als die entsprechende Allegorese des Auszugs aus Ägypten im Prinzip bereits mit Paulus beginnt [1Kor 10, 1–11] und dann von Tertullian ausgeführt wird [De Resurrectione Carnis XX, 33–37]; zur Historie der mit Hieronymus [Epistula CXX ad Hedybiam de quaestionibus duodecim, 8, 2 und 12] und Augustinus [De
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er artikuliert sich als Sprechen mit einem mehrfachen, genauer vierfachen Sinn, und zwar im Verständnis der Bibelhermeneutik. Es ist dieser Modus des Sagens, der begründet, dass die Commedia, die als materielles Phänomen einer eher ›niederen‹ Stufe des Kosmos zugehört, welche von den ›Strahlen‹ des göttlichen Lichts und damit der Wahrheit nur in defizienter Weise (»in aliquo defectu«)9 durchdrungen wird, gleichwohl der irdisch höchstmöglichen Annäherung an Perfektion zugerechnet werden kann. Denn ihr Ursprung ist die Ratio des Dichters, d. h. die inkorruptible pars seines Seins, deren de gratia gewirkte Erleuchtung durch die Strahlen des göttlichen Lichts von der modalen Struktur seiner Rede bloßgelegt wird. – Beides, die formale und die modale Ordnungsstruktur, bändigen die chaotische Vielfalt der in dem Gedicht repräsentierten physischen Welt, die als solche, aber eben aus einer Sicht perfekter Geordnetheit, durchaus zu ästhetischer Anschauung gebracht wird bzw. zur Anschauung gebracht werden muss. Wie schon angedeutet, würde die reine Abstraktion, damit auch die Allegorie, aus Sicht von Dantes Perfektionskonzept den Gedanken von Schöpfung und Inkarnation verfehlen. Intentional schließlich geht es dem Autor mit diesem Programm der Organisation des Sichtbaren und des Wissbaren in den Grundmustern metaphysisch garantierter Ordnungen um das Sagen von Wahrheit. ›Perfekte‹ Dichtung ist eo ipso theologische Dichtung, richtiger, sie ist Prophetie. Dante versteht sich als Künder des göttlichen Worts für seine Zeit.10 Ist es unter den skizzierten Auspizien überhaupt sinnvoll, Dantes Commedia als ›Literatur‹ zu bezeichnen? Möglicherweise bedürfte eine solche Einordnung einer näheren Qualifizierung. Gleichwohl wird man sagen können, dass sie nicht abwegig schlechthin ist. Gewiss könnte man über die Fiktionalität des Texts streiten, soweit die Intention des Autors11 betroffen ist. Alle anderen Merkmale, an denen wir gemeinhin die Zugehörigkeit eines Texts zu dieser Kategorie messen, scheinen indes erfüllt. Denn abgesehen von der skizzierten formalen Konstruiertheit, die über die zu jener Zeit übliche Rhetorisierung von Texten hinausgeht, welche sich letztlich dann doch als pragmatische verstehen,12 ist ja das ›Faktische‹, das der Text zu berichten vorgibt, ein, sei es Visionäres, sei es Ekstatisches und situiert sich auf diese Weise – durch das Entfallen von ›Überprüfbarkeit‹ – in einem Bereich, in dem sich zwar nicht ausschließlich, so doch in starker Repräsentanz auch das befindet, was vor den begrifflichen Abgrenzungen der philosophischen Ästhetik als litterae begriffen wurde. Aber man wird schließlich sagen müssen, dass sich Dantes Commedia mit ihrem totalisierenden Perfektionskonzept der Trennung von literarischem und Wahr_____________ Genesi ad litteram imperfectus liber Bd. I/1] einsetzenden Theorie des vierfachen Schriftsinns siehe de Lubac [1959], Bd. I/1, 181–198). 9 Alle Zitate aus Abschnitten 23–26. 10 Dazu eingehend Nardi (1941/1990), sowie Kablitz (2001). 11 – der aber immerhin, stets die Authentizität der Cangrande-Epistel vorausgesetzt, den ›modus tractandi‹ seines Texts als »poeticus, fictivus« bezeichnet (Abschnitt 9). 12 Ich habe hier naheliegenderweise primär philosophische Texte im Blick.
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heitstext entzieht. Der ›recht gemachte‹ Text, sei es als Wahrheits-, sei es als poetischer Text, nämlich kann nicht anders als im Zeichen des folgenden, von Thomas von Aquin formulierten Satzes entworfen werden, will er nicht ein das Wesen der Welt verfehlender, also ideologisch zu verwerfender Text13 sein: »Omnia conveniunt in uno ordine universi qui indissolubilis manet secundum ex quod Deo in ipso universo quaedam harmonia, idest proportionata concordia causatur.«14 Um diese Festlegungen zu verstehen, muss man sich den emphatischen Charakter dessen bewusst machen, was mit dem »omnia« gemeint ist: in der Tat und auf alle Zeiten (»indissolubilis manet«) schlichtweg alles, alle Phänomene, alle Gedanken, alles Menschengeschaffene und auch alle Kunst sind Bestandteile dieser gottgewirkten kosmischen Harmonie. Die einzige Option, die bleibt und die Marge menschlicher einschließlich künstlerischer Freiheit ausmacht mit den bekannten jenseitigen Konsequenzen , ist, in jene Harmonie einzustimmen oder sich als Teil des Widerständigen, des Bösen, in der Terminologie von Dantes Zeit: des Teuflischen zu entwerfen, dessen Funktion im Schöpfungsplan keine andere als die ist, vermittels letztendlichen Vernichtetwerdens die Indissolubilität der göttlichen Ordnung zu bekräftigen. Die aufgerissene Perspektive ermöglicht es, einer seit langem diskutierten Konstellation der Dante-Philologie eine neue Perspektive abzugewinnen, die von Hugo Friedrich und Hans Robert Jauß kontrovers diskutiert worden ist15 und der ich in jüngerer Zeit anhand der ›Übersetzung‹ von Dantes Text ins Medium des Bilds einige Facetten hinzuzufügen versucht habe.16 Ohne Zweifel lässt sich in der Commedia ein Hiat zwischen der äußeren Grob-Architektur der Jenseitswelten und der internen Allokation von Aufmerksamkeit seitens des Wanderers beobachten. Zwar schaut dieser bei seiner Reise die Fülle aller je Existierenden, und er schaut sie in den rigorosen Einteilungen des oben skizzierten, metaphysisch gegründeten Ordnungssystems, aber er wendet sich nur einigen wenigen zu, und er berichtet in seinem aus der Perspektive der Nachzeitigkeit entworfenen Text von seiner Begegnung mit diesen Einzelnen. Die perfekte objektive Ordnung wird also durch Momente subjektiver Relevanzbildung irritiert. Aus Sicht des hier Argumentierten wären diese Inkongruenzen Manifestationen des notwendig doch nicht ganz Vollkommenen, dem die Annäherung an das Wahre und Absolute aus einer Position des Irdischen verhaftet bleibt und deren Abstreifen in der Schau facie ad faciem erst post mortem und damit auch post articulationem (in _____________ 13 Die obige Reserve hebt auf die Vita nova ab, so, wie Dante sie in der Commedia präsentiert. Poetologisch wird der dolce stil novo in Purg. XXIV in gewisser Weise ›gerettet‹, aber ideologisch ist mit den bekannten Passagen aus Inf. V, mehr noch mit der Re-Stilisierung der Beatrice-Figur zu einer rein geistig-geistlichen Führerin, die Absage schneidend. 14 Thomas von Aquin, In librum beati Dionysii De divinis nominibus expositio, cap. 11, l. 2: »Alles fügt sich in eine allumfassende Ordnung, die unauflöslich währt, insofern Gott in jener allumfassenden Ordnung eine gewisse Harmonie, eine durch Proportionen garantierte Eintracht wirkt.« 15 Vgl. Friedrich (1942); Jauß (1968). 16 Vgl. Küpper (2006a).
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lingua humana) möglich ist. Auf diese Weise wäre das ›Literarische‹ das unabdingbare Korollar des Irdischen. Der Schritt von Dante zu Boccaccio und Petrarca wäre dann der einer auf Revalorisierung gegründeten Gegenposition: Was bei Dante das unabdingbare Residuum des Non-Perfekten ist, wird bei den beiden anderen zum Kern des Texts, welchen es mit allem zur Verfügung stehenden Perfektionswillen zu gestalten gilt. Die Relevanz von Dantes kühnem Experiment läge aus Sicht des skizzierten Gedankens darin, seine Nachfolger in der höchstmöglichen und schwerlich überbietbaren Annäherung an die Kategorie des so verstandenen, zugleich ästhetisch und metaphysisch Perfekten unter den Druck gesetzt zu haben, über andere Varianten des der Literatur Erreichbaren nachzudenken. Denn Dante im Modus von Dante nachzuahmen, ist schon als Möglichkeit schwer vorstellbar. Eben weil der Dichter der Commedia mit seinem Konzept ästhetischer Perfektion höher zielt als auf die Aisthesis, höher auch als die dem Menschen regulär zugängliche Intelligibilität, weil er die von ihm ersonnene Faktur seines Berichts über die Jenseitsreise als formale Figuration der von Gott selbst begründeten Perfektion des Kosmos und damit als Asymptote des ens perfectissimum gestaltet, sahen sich die Dichter der folgenden Generation gedrängt, in eine andere Richtung zu denken.17 Es ist ja auffällig, dass Dantes Commedia unter den Bedingungen eines literarischen Systems, für das Jurij M. Lotman den Terminus ›Ästhetik der Identität‹ geprägt hat,18 keine Emulatoren und Epigonen produziert hat. Die ersten, die sich den von Dante aufgeworfenen Fragen konfrontieren mussten, waren die beiden anderen der tre corone, Boccaccio und Petrarca; anders gesagt, sie verdanken, gemeinsam mit dem großen Vorgänger in dieser irdischen Dichter-Trias zu figurieren, dem Faktum, dass sie im Unterschied zu vielen, die sich daran versuchten, viable Antworten auf das von Dantes Commedia gestellte Problem fanden. Zu Boccaccio nur einige wenige Sätze: Das wesentliche Stratagem, sich von Dante abzugrenzen und sich damit der Konkurrenz nicht direkt auszusetzen, ist der komplette Wechsel des Registers. Die Hundertzahl der Novellen des Decameron19 ist eine markante Referenz, die _____________ 17 Es ist bezeichnend, dass der nächste Autor weltliterarischen Rangs, der sich – allerdings im Abstand von dreihundert Jahren – das Motiv der Jenseitsreise zum Vorwurf nimmt, Quevedo, mit seinen Sueños in eine in jeder Beziehung andere Richtung geht als Dante. Der Grundgestus ist satirisch, die formale Gestaltung folgt dementsprechend dem chaotischen Prinzip der freien Reihung heterogenster Sequenzen (zur Relation der beiden Varianten literarischer Modellierung des Motivs der Jenseitsreise siehe Nolting-Hauff [1986]). 18 Vgl. Lotman (1972), 410 f. 19 Für Boccaccio wie auch für Petrarca gilt etwas, das ich in meinem in Anm. 25 zitierten PetrarcaBüchlein und in meinen Einlassungen zur Kanon-Problematik mehrfach entwickelt habe: Beide Dichter haben bekanntermaßen eine Reihe von Texten geschrieben, die näher an Dantes Commedia liegen als diejenigen, für die ihre Namen in späterer Zeit gewissermaßen metonymisch stehen, und beide scheinen – wenn wir ihren Selbstzeugnissen in dieser Hinsicht trauen können – andere als die später zu weltliterarischer Prominenz aufgestiegenen Werke als ihre ›besten‹ angesehen zu haben. Aber sie haben eben beide je ein Werk hervorgebracht, das man
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aber nur darauf aufmerksam machen soll, dass es ansonsten um völlig anderes geht: thematisch nicht um die ganze, sondern um die zeitlich und lokal strikt begrenzte diesseitige Welt, intentional nicht um das ›vero‹, sondern um den ›diletto‹. Entsprechend diesen beiden Maßgaben ist der formale Imperativ nicht die Annäherung an Perfektion, sondern das Prinzip der varietas, die Mischung von Komischem und Ernstem, von Durchgeistigtem und Grobem, von niederem und hohem Stil, von langen und kurzen Erzählungen. Es entspricht dieser Option für die Imperfektion des Irdischen, dass in modaler Hinsicht Boccaccio an dem von Dante postulierten Prinzip einer ›höheren‹, allegorischen Bedeutung der wörtlich verstandenen Aussage des literarischen Texts festhält, diesen Anspruch aber aufs Diesseitige begrenzt.20 Ihren Reiz gewinnt Boccaccios Novellensammlung daraus, die chaotische Imperfektion der physischen Welt zu figurieren und darüber hinaus in einer im Wortsinn poetischen Superstruktur zu bändigen.21 Die Ordnung der zehn Tage sowie die weiteren damit verbundenen Festlegungen sind explizit als menschengemachte und nicht als metaphysisch belehnte inszeniert, ihr maßgeblicher Gesichtspunkt ist nicht die Sicherung des jenseitigen, sondern des diesseitigen Heils. Es geht um die soziale Balance innerhalb der Gruppe sowie um die unterhaltsame Verschwendung, nicht um die belangvolle Nutzung von Zeit. Die ästhetische Überblendung der Absenz essentieller und der Präsenz ›faktizer‹ Geordnetheit22 gelingt dem Text zweifelsohne, und sie gelingt ihm möglicherweise sogar in einer Art und Weise, die Leser bis auf den heutigen Tag als singulär gelungen empfinden – daher rührt der kanonische Status der Sammlung. Aber ich würde zögern, die Kategorie der ›Perfektion‹ auf das Decameron zu applizieren. Denn wenn auch die formale Transposition optimal und vielleicht in diesem Sinne ›perfekt‹ gelungen ist, bleibt doch das Ganze affiziert von der wesentlichen Imperfektion dessen, was hier zu ästhetischer Anschauung gebracht wird. Es sei nur in Parenthese angefügt, dass, mutatis mutandis, dies ein bleibendes Problem der gesamten Mimesis-Poetik einschließlich ihres modernen und modernistischen Seitenzweigs, der Ästhetik des Hässlichen oder Abjekten und ihrer vielfältigen Produkte, ist. Perfektion ist eben nicht nur eine Sache der _____________ aus Sicht des mit der Genie-Ästhetik einsetzenden Paradigmas der Originalität als literarisch und ästhetisch glaubwürdige Antwort auf Dantes Text und dessen ideologische und ästhetische Implikate ansehen kann – darin liegt ihr Rang. Sie haben im Unterschied zu anderen etwas aus späterer Sicht Anschlussfähiges hervorgebracht. Ob sie sich dessen im Moment des Schreibens (voll) bewusst waren, ist eine nicht-beantwortbare und letztlich auch eine überflüssige Frage. 20 Ich beziehe mich hier auf die berühmte fiktionstheoretische Argumentation des Dichters im dreizehnten Buch der Genealogie deorum gentilium libri XIV (siehe dazu im einzelnen Küpper [2006b], 64–69). 21 Andrew James Johnston macht mich darauf aufmerksam, dass man Chaucers Canterbury Tales, wenn man denn ihr Unvollendetsein nicht als kontingentes, sondern als vom Dichter bewusst gesetztes Merkmal interpretiert, als konsequente Fortschreibung des oben beschriebenen Merkmals von Boccaccios Sammlung betrachten könnte. 22 Siehe dazu meinen Aufsatz: Küpper (1993).
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formalen Gestaltung, sondern immer auch eine Frage der Qualität dessen, was vermittels der Gestaltung zur Schau kommt. Der zweite, der auf Dantes Perfektions-Provokation zu reagieren hatte, bzw. der dies in einer Weise vermochte, die seinem Werk eine transhistorische Resonanz verschafft hat, welche möglicherweise über die von Boccaccio noch hinausgeht, war Petrarca. Dessen Antwort auf Dante, insbesondere auf die Commedia, ist von einiger Grundsätzlichkeit. Die Abkehr vom Modell Dantes ist so radikal, dass man für lange Jahrhunderte der von Petrarca selbst stilisierten Fiktion aufgesessen ist, es existiere kein Konnex der beiden Œuvres. Die philologische Arbeit der letzten Dezennien indes hat die Präsenz der Danteschen Folie in Petrarcas Werk so deutlich erwiesen,23 dass man auch dichtungstheoretisch schwerlich wird sagen können, Petrarcas zentraler Text sei in Ausblendung dessen entstanden, was Dante in dieser Hinsicht abgesteckt hatte – im Gegenteil, der Canzoniere ist über die von der rezenten Philologie aufgezeigten intertextuellen Bezugnahmen hinaus eine Auseinandersetzung auf dem Niveau des ästhetischen Konzepts. Die Replik Petrarcas auf Dante besteht in nicht weniger als einer TotalAbkehr und damit auch in einer grundsätzlichen Problematisierung der bei Dante verfolgten Denkfigur des literarischen Texts als Stilisierung von Perfektion. Dies gilt thematisch, formal, modal und intentional. Der wesentliche Unterschied zu Boccaccio scheint der zu sein, dass Petrarca den direkteren und damit schwierigeren Weg wählt. Mit Boccaccios Option für ein volkstümlich-›niederes‹ Genre, für die Prosa, für die gleichberechtigte Repräsentanz der Figuren des Komischen und Groben, für das Modell der ›einfachen‹ Mimesis des phänomenal Gegebenen, war der Abstand zu Dante von vornherein als so groß markiert, dass man – wie schon angedeutet – eher von einem Wechsel des Registers sprechen sollte als von einer Replik, die sich den potentiellen Lesern als Polemik auch auf der Ebene des ästhetischen Konzepts präsentiert. Ich werde hier nur zu Petrarcas wichtigstem Werk argumentieren, das er in affektierter Bescheidenheit als Sammlung von Nichtigkeiten (»nugae«) bezeichnet hat. Noch aufschlussreicher ist der vom Autor gesetzte originale Titel: Rerum vulgarium fragmenta. Schon das unprofilierte, wenig markante »res« zur Bezeichnung des Gegenstands erteilt thematisch und inhaltlich dem Anspruch auf Höheres, den Dante auf dieser Ebene erhoben hatte, eine deutliche Absage. Die ›Sache‹, um die es geht, ist zwar wie auch bei Dante die in Ich-Form präsentierte Narration des zentralen Bestandteils einer Biographie, welcher hier allerdings die Form einer Liebesgeschichte hat, die sich als partiale und persönliche inszeniert und schon als solche jeder Exemplarität oder auch nur Repräsentativität enträt. Petrarca setzt damit eine Markierung, die sich als Inversion der in Dantes Œuvre inszenierten ›Kehre‹ verstehen lässt. Hatte dieser noch in der Vita nova versucht, _____________ 23 Siehe dazu beispiel- und vorbildhaft: König (1975); ein Gutteil der Ergebnisse der entsprechenden philologischen Forschung sind in die abundanten Kommentare der einzelnen Gedichte in der von Marco Santagata besorgten Ausgabe des Canzoniere eingegangen.
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mittels des Verfahrens der Allegorese die ›Nichtigkeit‹ des persönlichen Affekts in einer Struktur transindividuell-moralisierender Bedeutung aufzuheben,24 um dann mit der Commedia die mundan fixierte Verfehltheit selbst dieser Vergeistigung der Liebessituation anzuprangern, geht Petrarca den umgekehrten Weg. Nicht nur wird die mundane Liebe neuerlich zum Thema eines dichterischen Werks, das ungeachtet des Titels höchsten Anspruch hat. Darüber hinaus ist durch die den Band bestimmenden Inszenierungen der NonKonformität dieses Affekts als Affekt25 der Gedanke einer im moralischen Sinne beispielhaften, typisierenden Narration ganz aufgegeben. Zu diesem letzteren Aspekt der Verweigerung der im Fall der Narrationen des Partikulären in jener Zeit üblichen ›Aufhebung‹ der Zeitlichkeit in einer Struktur a-temporaler Bedeutung wäre anzufügen, dass Petrarca noch einen Schritt weiter geht. Mit der Apostrophierung der zeitlichen Erstreckung der Liebe (»Tennemi Amor anni ventuno ardendo«; Canz. 364), mit der expliziten Thematisierung der Korruptibilität des Körpers in Bezug auf die Geliebte (»Erano i capei d’oro a l’aura sparsi«; Canz. 90),26 aber auch in Bezug auf das Ich selbst (so vor allem in den letzten drei Gedichten des Zyklus), wird im Canzoniere die Dichtung in plakativer Weise auf dem Terrain angesiedelt, das aus Dantes Sicht eo ipso das Terrain des Non-Perfekten ist, dem des Irdischen in seiner der Temporalität anheimgegebenen und nicht in der von der Vergänglichkeit befreiten Form. Bezeichnend in der hier verfolgten Hinsicht scheint an dem Titel von Petrarcas Sammlung weiterhin die Bloßlegung der volkssprachlichen Verfasstheit des Texts (»rerum vulgarium fragmenta«). In der Sache besteht hier zwar Kontinuität zu Dante. Aber bei jenem bleibt die sprachliche Option implizit, sie wird im Text weder erörtert noch begründet, und sie ist ihrerseits eingebunden in den inhaltlichen Anspruch essentieller, prophetischer Wahrhaftigkeit: Der Künder der Wahrheit artikuliert sich eo ipso in einem Idiom, das die Propagierung dessen gewährleistet, was er dem Volk zu sagen hat.27 Petrarca hingegen macht die Volkssprachlichkeit seines Canzoniere im Titel explizit, vor allem aber hält er durch die Formulierung des Titels in der »grammatica«, der Schriftsprache, bewusst, dass es sich bei den folgenden Gedichten um dem Anspruch nach private und partiale Zeugnisse ohne das Postulat eines irgend höheren Belangs _____________ 24 Siehe dazu Hempfer (1982). 25 Am prägnantesten tritt diese Struktur vermutlich im Sonett »Solo e pensoso« zutage, aber sie ist in dem Band ubiquitär (siehe dazu Küpper [2002], 115–161). 26 Das weitgehend topische Preisen der Schönheit der Geliebten schließt dort mit dem Satz: »[...] et se non fosse or tale,/piagha per allentar d’arco non sana.« (V. 13 f.). 27 Um noch einmal die Cangrande-Epistel zu zitieren: »ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule communicant.« (Abschnitt 10: »was die Art des Sprechens betrifft, so ist diese lose und schmucklos, die Redeweise des gemeinen Volkes, in der sich auch die Weiber unterhalten«).
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handelt.28 Das Stichwort »fragmenta« schließlich lässt den modernen Leser fast unvermeidlich in eine andere Richtung denken als hier gemeint ist.29 In der Zeit, in der der Canzoniere entsteht, ist Fragmentarität nicht ein Vehikel der Suggestion eines nicht sagbaren Ganzen, es ist zuvörderst Gegenfigur zur Vorstellung des Ganzen, des Wohlgeordneten und Abgerundeten, es ruft dieses Ganze als eine nicht ergriffene oder nicht verfügbare Möglichkeit auf. Unter formalem Aspekt fällt in Petrarcas Sammlung im Vergleich zu Dante die angesichts der Durchgeformtheit des einzelnen Gedichts frappierend erratische Beschaffenheit des Ganzen auf: Selbst der Appell an die Figur des mythischen Jahrs ist mit der Zahl von 366 Gedichten ein gebrochener. Vor allem aber verkörpert der darin implizierte Gedanke der Zyklizität30 eine Abkehr vom Gedanken der Entelechie, welch letzterer unabdingbare Voraussetzung aller phänomenalen Inszenierungen von Perfektion zu sein scheint. Mehr noch gilt die Beobachtung architektonischer Disparatheit im Hinblick auf die Vielzahl formaler Modelle, mit denen die Sammlung operiert: Sonett, Ballade, Madrigal, Canzone und Sestine sind Formen, die sich strukturell und auch vom Anspruch her extrem unterscheiden. Das am meisten frappierende Moment ist aber die a-systematische Relationierung der unterschiedlichen Formen. In langen Passagen reiht sich Sonett an Sonett, dann interferiert ohne ersichtlichen ›Grund‹ eine Ballade, die Canzonen verteilen sich unregelmäßig über die ganze Sammlung, die Präsenz von Madrigalen und Sestinen erscheint gänzlich ad libitum organisiert. Man hat viel Energie darauf verwandt, über eine letztlich doch vorhandene, eben in Dantes Tradition zu begreifende formale Grob-Architektur des Canzoniere nachzudenken. Aber wo man den Versuch nicht aufgegeben hat, enden diese Gedanken in Absurdität.31 Es gibt zwar in der Sammlung zahlreiche Momente partialer formaler Geordnetheit, das Prinzip der Komposition als Ganzer indes scheint fast wie eine Gegenposition zu jenem Perfektionsanspruch, der sich in dem biblischen Referenz-Vers von Dantes Ordnungswillen so deutlich artikuliert, ein Vers, der auf das Wirken des Schöpfergottes selbst abhebt: »Sed omnia in mensura et pondere et numero disposuisti.«32 Perfektion ist ja nichts anderes als dies: Es ist All-Geordnetheit. Demgegenüber scheint Petrarcas Canzoniere im Kontext des damals Möglichen als Maximum an erratischer Disparatheit. Die durchaus vorhandene strenge Geordnetheit der Teile, etwa mit der Sonettform, ist nicht Grundlage einer Geordnetheit des Ganzen, sondern legt die Absenz dieser Ordnung des Ganzen bloß. Was bei Dante in den subjektiven, von der nach_____________ 28 Dies ist natürlich, wie alles bei Petrarca (analog gilt dies m. E. auch für die vorgebliche Privatheit des Secretum), eine Inszenierung, die als solche eine Deutung heischt (dazu unten). 29 Ich gehe unten noch kurz auf die romantische Theorie des Fragments und ihre historischen Affiliationen ein. 30 Es geht ja, nota bene, nicht um die geometrische Figur des Kreises, sondern um das Modell eines Verlaufs im Modus des recursus. 31 Siehe Pötters (1987). 32 Sap 11, 21 (Hervorh. J. K.).
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träglich auferlegten Form fast wie verborgenen Subtext verbannt war, die Unordnung des Irdischen, wird bei Petrarca exteriorisiert. Man muss hinzufügen, dass diese Defizienz von Ordnung für Petrarcas Sammlung einen anderen Belang hat als für historisch frühere volkssprachliche Lyrik-Sammlungen. Denn was dort möglicherweise als punktuelle Bezugnahmen auf eine ›Geschichte‹ anmuten mag, über deren Aufgehobensein in dem ›Leben‹ einer kohärenten Referenz-Instanz der Leser allenfalls spekulieren kann, ist bei Petrarca zum Narrativ einer ›Lebensgeschichte‹ geworden, die die Spanne von der Jugend bis an die Schwelle des Todes umfasst und deren zugleich Augustinische und Dantesche Folie durch die Versprachlichung permanent spürbar gemacht wird. Die auf diese Weise bloßgelegte Absenz der ›rechten‹ Ordnung hat mit Bezug auf den textimmanenten Sprecher, mit Bezug auf das implizite Weltmodell und mit Bezug auf das poetologische Konzept eine figurative Dimension. Im Hinblick auf den modalen Aspekt soll es genügen, in Erinnerung zu rufen, dass Petrarcas Sammlung gewiss keine eschatologischen Implikate hat, und soweit sie christologische haben sollte, so doch nur in der Form quasiblasphemischer Konterkarierung der betreffenden Sinnebene.33 Das in modaler Hinsicht am meisten markante Phänomen ergibt sich aber dann, wenn man den Text auf der gewissermaßen untersten der drei übertragenen Sinnebenen ansieht, aus denen nach der Auffassung jener Zeit Wahrheitstexte konsistieren, der moralischen. Ist die Liebesgeschichte, die im Canzoniere thematisiert wird, zumindest insofern ›wahr‹, als sie auf die Bestimmung des Menschen verwiese, sich im Laufe der Existenz zu läutern, sich wenn schon nicht, wie Augustinus und Dante, in der ›Mitte des Lebens‹, so doch zumindest unmittelbar vor dem Dahinscheiden von allem Irdischen zu lösen und dem Metaphysischen als dem einzigen zuzuwenden, dessen Perfektion nicht nur eine vermeintliche ist? Ist der Text Inszenierung des archetypischen christlichen itinerarium mentis? Ohne dass dies hier referiert werden könnte, sei nur gesagt, dass ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, wie Petrarca noch in dem abschließenden Reuegedicht seiner Sammlung, der Mariencanzone, den affichierten Gestus der Bekehrung subvertiert, und zwar durch einen Modus, der mir in sprachlicher Hinsicht literarische von Wahrheitstexten zu separieren scheint.34 Der betreffende, bei Petrarca vielleicht historisch erstmals in dieser Intensität genutzte Modus der ›Aufladung‹ von Wörtern mit Sekundärbedeutungen operiert mit dem Verweis auf die intratextuellen, in Petrarcas eigenem Text zu findenden Verwendungskontexte der nämlichen Wörter. Man könnte das Verfahren als das einer autonomen, vom jeweiligen literarischen Text selbst gesetzten Recodierung bezeichnen, im Unterschied zur heteronomen Recodierung, die dem bei Dante geübten Rekurs auf den vierfachen Schriftsinn der Bibelhermeneutik sowie auf den Text der Schrift zugrunde liegt. _____________ 33 Zahlreiche Gedichte suggerieren bekanntlich eine Laura-Christus-Parallele. 34 Vgl. Küpper (2002), 162–201.
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Welche Intention des Sagens schließlich verfolgt Petrarca? In diesem Punkt, so scheint es, liegt die Wendung der Absage an Dante ins Positive, in die eigene Position begründet. Durch zahlreiche Selbstzeugnisse, am eindringlichsten vermittels des Secretum, hat der Dichter seine Leser davon entlastet, in dieser Hinsicht spekulieren zu müssen. In diesem Text der Selbsterforschung, eher der Selbstinszenierung, der als geträumter oder visionär geschauter paränetischer Dialog mit Augustinus stilisiert ist, bleibt als letzter Rest des Weltlichen, von dem Franciscus dann aber um keinen Preis lassen will, nur eines zurück nicht, wie man mit Blick auf das Ich des Canzoniere zunächst vermuten möchte, das Liebesbegehren, sondern das Begehren nach fama.35 Die Allegorie der Veritas, die dem Gespräch als dritte Instanz beiwohnt, bleibt stumm, und es scheint, dass beide genannten Dinge emblematische Dimension haben im Hinblick auf Petrarcas ästhetisches Konzept. Es mag die Wahrheit geben (oder auch nicht), sie zum Sprechen zu bringen, war nicht Petrarcas Interesse. Ihm geht es um den Effekt bei den Rezipienten, um eine weltliche Unsterblichkeit und Ewigkeit, die mit dem darin implizierten Endlichkeitsbewusstsein auch auf Distanz zum Gedanken irdischer Relevanz metaphysischer Kategorien geht. Man könnte eventuell sagen, dass im Übergang von Dante zu Petrarca poetologisch eine ontologische Kategorie, die der Perfektion, durch eine Kategorie der Wirkung: Ruhm substituiert wird. An die Stelle von Essentialität tritt Instrumentalität. Denn wie die maximale Wirkung zu erzielen ist, bleibt offen. Dies gilt in aller Grundsätzlichkeit. Petrarcas aus der Reflexion über Dantes ästhetische Theorie entwickelte Antwort auf das, was einen literarischen Text ausmacht, ist von einer im Wortsinn verstandenen e-normen Komprehensivität. Noch die Antwort seines fernen Nachfahren Baudelaire auf die Frage nach dem Ästhetischen: der choc36 bleibt im Rahmen des von Petrarca etablierten Paradigmas, und die seither zu beobachtenden Neuerungen bleiben es auch. Nicht Perfektion, nicht ›Wahrheit‹ nicht einmal im reduzierten Verständnis der Mimesis der physischen Welt und auch nicht ›Schönheit‹, sondern ›Wirkung‹ ist die maßgebliche Devise der okzidentalen Kunst. Wenn überhaupt ein Anspruch auf Perfektion bleibt, so ist er begrenzt aufs Mundane, und er legt seinen reduzierten Stellenwert dadurch bloß, dass er mehr und mehr rezessiv wird. Dies eröffnet einerseits ungeahnte Spielräume, andererseits birgt es wie man in unserer Zeit sieht, die vielleicht mit fast zweihundert Jahren Verspätung das ›Ende der Kunstperiode‹ markiert die Gefahr der Banalisierung bzw. des Evaporierens von ›Kunst‹ als separatem Feld kultureller Aktivität. Im grundsätzlichsten ist Petrarcas Antwort auf die Frage, wie ein literarischer Text aussehen sollte, also eine geschichtsphilosophische: Nicht Werke, die beanspruchen, die essentielle Wahrheit zu sagen, sondern diejenigen, die es ver_____________ 35 Zur Einordnung des Secretum aus meiner Sicht siehe Küpper (2002), 1–53. 36 Siehe dazu Benjamin (1972), Bd. I/2, 605–653.
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mögen zu überdauern, sind die ›großen‹ Werke. Mit Blick auf Dante wirft dies die Frage auf, ob die Wirkung von dessen Text vielleicht darin besteht, den Weg taghell ausgeleuchtet zu haben, den die neuere, post-mittelalterliche westliche Kunst deshalb nicht gegangen ist, weil sie sich nach Dante der Natur dieses Weges, letztlich: des Gipfelpunkts und damit der Sackgasse, die die Commedia poetologisch markiert, schwerlich nicht bewusst sein konnte. Keineswegs folgt alles, was nach Dante entstanden ist, dem von Petrarca gewiesenen Modell. Teile zumal der deutschsprachigen Romantik knüpfen an Dantes Konzept vom literarischen Text als Sagen von Wahrheit an. Dante ist für die Poetologie jener Zeit auch insofern der wesentliche Referenzpunkt, als die Romantiker ihn weiterzudenken suchen. Der letzte Gedanke von Dantes Text, der der Unsagbarkeit von Wahrheit, wird den Romantikern zum Grund ihrer Theorie: An die Stelle des Sagens tritt das Konzept des Suggerierens.37 Damit entfallen die inhaltlichen, formalen und modalen Restriktionen des mit dem Namen Dante verbundenen Konzepts. Freilich setzt der Gedanke des Suggerierens von Wahrheit die Existenz von Wahrheit voraus, dies ist die Schwäche aller kunstmetaphysischen Konzepte. Soweit Kunstmetaphysik sich als Substitut von Metaphysik versteht, ruht sie auf einer contradictio in adiecto, oder aber sie ist nichts als ein neues Etikett für mystische Erfahrung. Vielleicht ist deshalb Petrarcas Ästhetik doch diejenige von größerer Tragweite: Es mag Perfektion und Wahrheit geben, aber es ist nicht Aufgabe des literarischen Texts, diese Dimensionen zu stilisieren. Die Wahrheiten, die der literarische Text kommuniziert, sind, wenn überhaupt, Partial-Wahrheiten, dies ist Petrarcas und auch Boccaccios Position.38 Damit sind weder Wahrheit noch Perfektion der zentrale Punkt, an dem sich der Rang eines Texts bemisst. Freiheit oder Perfektion – zumindest soweit die menschliche Seite der Dinge betroffen ist, scheinen dies zwei Gesichtspunkte zu sein, die sich exkludieren. Kann man durch den ›Fortschritt zur Freiheit‹ schließlich zur Perfektion gelangen? Die Geschichtsphilosophie antwortet darauf bejahend; aber man kann dies auch anders sehen und aus vielen, darunter sehr egoistischen Gründen die Denkfigur des Perfekten dem Lieben Gott reserviert sehen wollen. Ein letzter Satz nur zu der Frage, was aus dem Gedanken ästhetischer Perfektion wird, wenn man den in der Antike, im Mittelalter und in der Romantik immer mitgedachten Versuch der Figuration einer essentiellen, metaphysischen Perfektion abscheidet. Petrarcas Nachfolger, die die geistige Kraft zum Weiterdenken _____________ 37 Zur Kunsttheorie der deutschen Frühromantik weiterhin grundlegend: Strohschneider-Kohrs (1960). Die gedanklichen Linien der romantischen Theorie treten m. E. nach wie vor am deutlichsten in einem theoretischen Text hervor, den ein sentimentalischer Neo-Romantiker im 20. Jahrhundert verfasst hat (siehe Benjamin [1923/1972], Bd. IV/1, 9–21; siehe auch die höchst gelungene Lektüre des Texts durch de Man [1985]). 38 Petrarca hat diese Position v. a. in der Collatio laureationis entwickelt; dort begrenzt er den Anspruch des literarischen Texts darauf, Wahrheiten zu artikulieren, die der Natur, der Moral und der Historie zugehören (siehe dazu ausführlich Küpper [2006b], 62–64; zu Boccaccio anschließend).
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der Petrarkischen Partialität und Fragmentarität nicht hatten, sondern sich als formale Aemulatoren definierten, geben die Antwort, die dann auch für spätere Epochen einschlägig ist: Das Festhalten am Gedanken formaler Perfektion in einem Zeitalter, in dem sich Literatur von Wahrheit getrennt hat, resultiert in Manierismus, in auf kurze Sicht reizvollem, auf lange Sicht ermüdendem Spiel der Wörter bzw. im Gleiten auf den Signifikanten. Anders liegen die Dinge in den anderen Künsten, in Malerei und Musik, vor allem, weil diese beiden Künste, vor allem aber die letztere, vorrangig formal und nicht bedeutend (im Sinne von: semantisch) sind und man ihnen eben deshalb als Rezipient immer die Dimension einer Vehikulierung von Wahrheit implementieren kann, wenn man dies will.
Primärliteratur Boccaccio, Giovanni, Genealogie deorum gentilium libri XIV, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. VII–VIII, hg. v. Vittore Branca, Milano 1998. Dante Alighieri, La Commedia secondo l’ antica vulgata, hg. v. Giorgio Petrocchi, in : Le opere di Dante Alighieri (Edizione Nazionale a cura della Società Dantesca Italiana), Bd. VII/1–VII/4, 3. Aufl. Firenze 2003. Dante Alighieri, Opere minori, 2 Bde., hg. v. Pier Vincenzo Mengaldo/Bruno Nardi/Arsenio Furgoni/Giorgio Brugnoli/Enzo Cecchini/Francesco Mazzoni, Milano/Napoli 1979–1988. Petrarca, Francesco, Canzoniere, komm. u. hg. v. Marco Santagata, Milano 1996. Thomas von Aquin, In librum beati Dionysii De divinibus nominibus expositio, hg. v. Ceslai Pera, Torino/Roma 1950.
Sekundärliteratur Benjamin, Walter, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppen-häuser, Frankfurt/Main 1972, 605–653. Benjamin, Walter, »Über die Aufgabe des Übersetzers« (1923), in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1972, 9–21. De Man, Paul, »›Conclusions‹: Walter Benjamin’s The Task of the Translator«, in: The Lesson of Paul de Man, ed. by Paul Brooks/Shoshana Felman/J. Hillis Miller, New Haven, CN 1985, 25–46. Friedrich, Hugo, Die Rechtsmetaphysik der ,Göttlichen Komödie’. Francesca da Rimini, Frankfurt/Main 1942. Hempfer, Klaus W., »Allegorie und Erzählstruktur in Dantes Vita nuova«, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 57 (1982), 7–39.
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Formar con parole il perfetto cortegiano – Zum Verhältnis von Dialog und Vollkommenheit in Baldassare Castigliones Buch vom Hofmann MARIA MOOG-GRÜNEWALD (Tübingen) An einem Frühlingsabend des Jahres 1507 trifft sich am Hof von Urbino in der Scala delle Veglie eine illustre Gesellschaft – Damen und Herren des Hochadels, zudem Gelehrte und Dichter, allesamt weltläufig und humanistisch gebildet, etwa knapp zwei Dutzend an der Zahl. Tage einer prachtvoll-zeremonialen Hofhaltung liegen unmittelbar zurück: Papst Julius II. weilte einige Tage in Urbino zu Gast – auf der Durchreise von Bologna nach Rom erwies er mit seinem Gefolge dem kleinen Herzogtum die Gunst seiner Anwesenheit. Ihn zu Ehren fanden sich denn auch zahlreiche Fürsten und Höflinge aus benachbarten Regionen ein. Allerdings: Der Glanz höfischer Zeremonie kann über die wahren Gründe des päpstlichen Aufenthalts in Urbino nicht hinwegtäuschen: Der Kirchenstaat sieht nepotistische Annexionen vor – und dies mit um so größerer Aussicht auf Erfolg, als es um das Machtgefüge des Herzogtums Urbino nicht gut bestellt ist: Im Jahre 1507 regiert Guidobaldo da Montefeltro, der Sohn des berühmt-berüchtigten Federigo da Montefeltro, also jenes in den Litterae, den Schönen Künsten, wie in Politik und Kriegshandwerk gleichermaßen ›virtuosen‹ Herzogs von Urbino. Nach dessen Tod im Jahre 1482 war ihm Guidobaldo – ein Kind noch von zehn Jahren – nachgefolgt. Die politische Umsicht und kriegerische Durchsetzungskraft seines Vaters ist ihm auch in späteren Jahren nicht zu Eigen. Weit mehr als dass er regiert, wird er regiert: durch seine Frau Elisabetta Gonzaga und andere politisch Interessierte; zudem ist er ohne Nachkommen. So ist denn das Herzogtum im Jahre 1507 mehr denn gefährdet. In dieser historisch-politischen Situation also findet sich die illustre Gesellschaft zusammen zu Gesprächen, die sich über vier aufeinanderfolgende Abende hinziehen. Angeregt werden sie von der Herzogin Elisabetta Gonzaga und ihrer Schwägerin Maria Pia – sie bilden in gewisser Weise den Mittelpunkt, auch wenn sie nicht das Wort führen. An den Gesprächen beteiligt sind neben anderen Pietro Bembo, der große Sprachtheoretiker, sodann Giuliano de’ Medici, Ludovico di Canossa, Bernardo Bibbiena, Cesare Gonzaga, Francesco Maria della Rovere – um nur diese zu nennen. Baldassare Castiglione selbst – so gibt er vor – war nicht zugegen: ihm wurden die Gespräche nurmehr übermittelt, und er zeichnet sie – merkwürdig genug – wiederum mehr als sieben Jahre später auf,
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vorgeblich in wenigen Tagen, um sie zunächst über vier Jahre hin zu überarbeiten und schließlich im Jahre 1524 das Manuskript abzuschließen, doch es erst 1528 zu publizieren.1 Wovon ist die Rede in diesem Werk, welches ist seine Absicht und wie wird die Absicht realisiert? Das Buch vom Hofmann, ein Dialog in vier Büchern, will »mit Worten einen vollkommenen Hofmann bilden«: formar con parole un perfetto Cortegiano.2 Es unterrichtet »über das, was man tun muß, um im Verkehr und Umgang mit Leuten wohlgesittet, gefällig und von feinen Manieren zu sein«.3 In der ›Bildung‹ des Hofmanns mit ›Worten‹ mißt sich Castiglione mit keinen Geringeren als mit Platon, Xenophon und Marcus Tullius Cicero; er schreibt: Andere sagen, dass es wegen der großen Schwierigkeit, ja fast Unmöglichkeit, einen so vollkommenen Menschen zu finden, wie ich den Hofmann haben will, überflüssig gewesen sei, ihn zu beschreiben, da es nichtig sei, etwas zu lehren, was man nicht lernen kann. Diesen antworte ich, dass ich mich zufriedengeben werde, mit Plato, Xenophon und Marcus Tullius geirrt zu haben, wenn ich auch nicht über die Vorstellung der Welt (del mondo intelligibile) und über die Ideen (delle idee) disputiere; wie aber nach deren Meinung zu den Ideen die des vollkommenen Staates, des vollkommenen Fürsten und des vollkommenen Redners gehörten, so gehört auch die Idee des vollkommenen Hofmanns dazu.4
Der vollkommene Hofmann, die Vollkommenheit in der Hofmannskunst ist mithin eine Idee, ist eine Idea ganz im platonischen Verständnis. Vollkommenheit ist ihrem Wesen entsprechend nicht zu erreichen, materialiter nicht zu realisieren, _____________ 1
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Mit der Textgeschichte und ihren Folgen für die Interpretation des Werkes setzt sich bereits Erich Loos auseinander (Loos [1955]). In kritischer Differenzierung zu dessen Vorschlägen sieht Klaus W. Hempfer (Hempfer [1999], 103–121) offensichtliche sachliche und formale Diskrepanzen vor allem zwischen den ersten drei Büchern und dem letzten vierten Buch nicht der komplexen Genese als einer intentionalen Struktur geschuldet. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Variante zu Hempfers Lektüre, zugleich als Weiterführung, insofern sie der ausdrücklichen Intention des Dialogs, nämlich »den vollkommenen Hofmann mit Worten zu formen«, stärker Rechnung zu tragen suchen. Darüber hinaus ergänzt beziehungsweise modifiziert die letztlich nur auf diese – wenn auch zentrale – Frage konzentrierte kleine vorliegende Studie die äußerst erhellende Interpretation von Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien (2003), 177–202. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Baldassare Castiglione, Il Cortegiano. Die Zitate aus dem Cortegiano werden im Folgenden mit Angabe von Buch, Kapitel und Seitenzahl nach dieser Ausgabe angeführt. Die Version ins Deutsche folgt der Übersetzung von Fritz Baumgart (Baldassare Castiglione, Das Buch vom Hofmann [1986]). Il Cortegiano, Dedica III, 13 f.: »Altri dicono che, essendo tanto difficile e quasi impossibile trovar un omo cosí perfetto come io voglio che sia il cortegiano, è stato superfluo il scriverlo perché vana cosa è insegnare quello che imparare non si po. A questi rispondo che mi contentarò aver errato con Platone, Senofonte e Marco Tullio, lassando il disputare del mondo intelligibile e delle idee; tra le quali, sí come, secondo quella opinione, è la idea della perfetta republica e del perfetto re e del perfetto oratore, cosí è ancora quella del perfetto cortegiano; […].«
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nurmehr zu denken, ›einzusehen‹ qua Intellekt: Sie ist – im platonischen Verständnis – ausschließlich intelligibel.5 Und doch erhebt Castiglione den Anspruch, ›Vollkommenheit zu bilden‹, ihr ›Form zu geben‹, damit der Anschauung zu überantworten. Die Form, die er wählt, ist der Dialog. Denn der Dialog ist die wohl einzige Möglichkeit, dem Anspruch, ›Vollkommenheit zu bilden‹, wenn auch nur annäherungsweise, gerecht zu werden. So folgt Castiglione also auch in der Wahl der Form Platon, der in der dialektischen Dialogizität die einzige, wenngleich letztlich unzureichende Möglichkeit sah, der Idea, der ›Wahrheit‹, sich anzunähern. Wie die platonischen Dialoge ist das Buch vom Hofmann argumentativ auf ein Ziel gerichtet: formar con parole il perfetto cortegiano, damit – ich wiederhole – auf den Entwurf von Vollkommenheit in Sprache. Diesem Ziel dient die Dialogführung, die sich von der der platonischen Dialoge nicht unterscheidet und die im Wesentlichen darin besteht, in der dialogischen Auseinandersetzung der ›Wahrheit‹, das heißt Vollkommenheit, sich anzunähern, nicht sie zu finden bzw. zu erreichen. Dieser Annäherung beziehungsweise Intentio dienen die Einwände, Klarstellungen, Modifikationen, auch Ein- und Gegenreden durch die einzelnen Dialogpartner. Aporie oder gar Epochè ist nicht gegeben.6 Im Unterschied zum jeweiligen platonischen Dialog bleibt das Buch vom Hofmann allerdings nicht auf ein Thema beschränkt. Die Themen des Cortegiano sind so heterogen, wie die dialogische Rede vielfältige Formen und argumentative Digressionen aufweist. Themen und Formen werden geradezu akkumuliert, weiten sich aus in einer copia rerum et verborum und scheinen damit das Signum par excellence der Epoche der Renaissance zu tragen: Pluralität7 und Dialogizität8. In der Tat beruht die Vollkommenheit des Hofmannes nicht in einer bestimmten Haltung oder Handlung, vielmehr in der Fülle seiner Haltungen, Handlungen und Fähigkeiten. In genauer Entsprechung besteht die Vollkommenheit des Buches von Hofmann in der Fülle der erörterten Themen, deren jedes unabschließbar ist. Entworfen wird auf diese Weise ein großangelegtes Panorama der Renaissancekultur. Castiglione selbst vergleicht sein Buch »mit einem gemalten Bild-
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Olejniczak Lobsien/Lobsien (2003) lesen Il Cortegiano – wie die übrigen in ihrer Studie präsentierten Werke des 16. Jahrhunderts – als Ausdruck der Imagination, näherhin des aristotelischen Imaginations- beziehungsweise Phantasiaverständnisses (De motu animalium und De anima) als eines ›kritischen‹, dem Denken ähnlichen Vermögens (169). Im Unterschied dazu heben die vorliegenden Bemerkungen das platonische Konzept der Intelligibilität hervor und begründen diese Position mit der Funktion des Dialogs als Form der Intentionalität. Hier können wir Olejniczak Lobsien/Lobsien (2003) nicht ohne Weiteres folgen, die von einem »strukurell skeptische[n] Suspens fixer Positionen« (193) sprechen. Grundlegend dazu Stempel/Stierle (1987). Grundlegend dazu Batkin (1981). Es war Batkin, der im Anschluss an Bachtin und richtunggebend für alle nachfolgenden Studien zur Epoche der Renaissance den Dialog, die Dialogizität als symptomatisch für die Kultur der Renaissance nachdrücklich herausstellte.
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nis«9 – das, so darf man hinzufügen, den Vorzug hat, weit anschaulicher und facettenreicher zu sein als jedes Gemälde.10 Alle Themen und Kontroversen, die die Zeit oder besser die humanistisch Gebildeten der Zeit bewegten, sind Gegenstand der Gespräche: die Frage nach dem Vorrang von Geburtsadel oder Adel des Geistes, die Frage nach Formierung der Sprache, die Frage nach der Überlegenheit einzelner Künste. Diese und andere Fragen werden stets erörtert in Zusammenhang mit der Forderung, dass ein Hofmann sich in allen Künsten üben müsse, dass er elegant zu reden habe und ihm im Ganzen ein angenehmes Äußeres gut anstehe, dass der Geburtsadel ohne jeglichen Wert sei, wenn nicht der Adel des Geistes ihn begleite. Der Fokus der immer auch kontroversen Diskussionen sind letztlich die geistigen, seelischen und körperlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, über die der Hofmann zu verfügen habe, um seiner höchsten Aufgabe, der Beratung des Fürsten, gerecht zu werden. Kernstück des ersten Buches – und wie ich meine des gesamten Buches vom Hofmann – sind die Kapitel 42 bis 46 über die Frage, ob ein Hofmann mehr in den Waffen geübt als in den Wissenschaften und Künsten versiert sein müsse, ob – mit anderen Worten – er mehr Stratege (im Wortsinne) als Schöngeist sein solle, seine Neigung mehr der vita activa als der vita contemplativa zu gelten habe. Kernstück sind diese Kapitel nicht nur deswegen, weil die dort erörterte Frage und ihre Beantwortung auf Erhalt oder Verlust der Fürstenherrschaft zielt, sondern mehr noch deswegen, weil dort über die Möglichkeiten der Selbstbildung, mithin der Selbstvervollkommnung räsoniert wird. Über ihre Thematik hinaus sind diese Kapitel aber auch paradigmatisch für die Das Buch vom Hofmann weithin kennzeichnende Gesprächsführung, für das Anstimmen eines Themas, seine Variation, seine Fortführung und seine Aufgabe, seine Wiederaufnahme in Variation und seine nochmalige Fortsetzung hin auf ein Ende ohne Ende. Sie können – auf relativ kurzem Raum – deutlich machen, wie kunstvoll und leicht zugleich sich ein Gedanke an den anderen reiht, im Ganzen, wie das Prinzip des Dialogischen funktioniert, ein Prinzip, das von Anfang an als Spiel ausgewiesen wird. Gegenstand der Kapitel 42 bis 46 des ersten Buches ist – ich wiederhole – die Frage, ob dem Waffenhandwerk oder der Wissenschaft der höhere Rang zukomme: Zunächst ist festzustellen, dass die drei ersten Kapitel (cap. 42, 43, 44) in immer stärkerem Maße in einer Art Klimax die Wissenschaften als hervorragende Zierde des Cortegiano rühmen; ich zitiere die Passagen: 42 Außer der Güte aber, meine ich, sind der wahre und hauptsächliche Schmuck des Herzens bei jedem die Wissenschaften [...].
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Il Cortegiano, Dedica I, 6 f.: »[…] mandovi questo libro come un ritratto di pittura della corte d’Urbino […].« 10 Implizit wird hier die später im Dialog geführte Diskussion über die Frage, ob der Malerei oder der Dichtung der Vorrang gebühre, mithin der Paragone, zugunsten der Dichtung, allgemeiner der Literatur entschieden.
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43 Wenn ich mit ihnen oder anderen spräche, die entgegengesetzter Meinung wären, würde ich mich bemühen, ihnen zu zeigen, wie sehr die Wissenschaften, die wahrlich von Gott den Menschen als höchstes Gut gewährt wurden, für unser Leben und unsere Würde nützlich und notwendig sind; [...]. 44 Ich möchte, dass er in den Wissenschaften mehr als mittelmäßig gebildet sei, wenigstens in jenen Studien, die man die humanistischen nennt, und dass er nicht nur von der lateinischen, sondern auch von der griechischen Sprache Kenntnis habe, und zwar wegen der vielen und verschiedenartigen Dinge, die in ihr vortrefflich beschrieben worden sind. Er sei in den Dichtern und nicht weniger in den Rednern und Geschichtsschreibern erfahren und auch im Schreiben von Versen und Prosa geübt, vornehmlich in unserer Vulgärsprache [...].11
Die Wissenschaften, die hier so beredt gerühmt werden – und die im italienischen Text Lettere heißen –, sind die studia humanitatis, die – man liest es ausdrücklich zu Beginn des 44. Kapitels – die Grammatik und Rhetorik, die Moralphilosophie, die Geschichte und die Dichtung umfassen. Nebenbei findet sich ein Plädoyer für die Volkssprache, das Italienische. Und der Kenner von – beispielsweise – Coluccio Salutatis Brief an Carlo Malatesta aus dem Jahre 140112 wird die ersten Worte des 42. Kapitels richtig einordnen: Die Verbindung von Güte (Bontà) und Wissenschaften (Lettere), von moralischer Integrität und Bildung ist das Ideal der humanitas, das Menschenbild des Humanismus und der Renaissance. Doch werden die Reflexionen, Postulate, Einwände, auch Widersprüche und Paradoxien ebenso unpedantisch vorgetragen wie die Digressionen unterhaltsam und lehrreich sind: der Dialog – ein Spiel!13 Doch wie ist zu verstehen, dass der Dialog, in dem und durch den der vollkommene Hofmann ›geformt‹ werden soll, zugleich als Spiel inszeniert wird, dass – mit anderen Worten – das Spiel, das die Hofgesellschaft spielt, ein Dialog ist, dessen Zweck darin besteht, den vollkommenen Hofmann zu ›formen‹?14 Eine Antwort kann eine der vielen, zugleich funktionalen Digressionen innerhalb der _____________ 11 Il Cortegiano, I 42, 118: »Ma, oltre alla bontà, il vero e principal ornamento dell’animo in ciascuno penso io che siano le lettere […]« – I 43, 120: »E s’io parlassi con essi o con altri che fosseno d’opinion contraria alla mia, mi sforzarei mostrar loro quanto le lettere, le quali veramente da Dio son state agli omini concedute per un supremo dono, siano utili e necessarie alla vita e dignità nostra; […].« – I 44, 124: »Il qual voglio che nelle lettere sia piú che mediocremente erudito, almeno in questi studi che chiamano d’umanità; e non solamente della lingua latina, ma ancor della greca abbia cognizione, per le molte e varie cose che in quella divinamente scritte sono. Sia versato nei poeti e non meno negli oratori ed istorici ed ancor esercitato nel scriver versi e prosa, massimamente in questa nostra lingua vulgare; […].« 12 Epistolario di Coluccio Salutati XII, 18, III, 536. 13 Gleich eingangs wird die Absicht, den »vollkommenen Hofmann mit Worten zu formen«, als Spiel deklariert; Federico Fregoso schlägt vor (Il Cortegiano, I 12, 44): »[...] vorrei che ’l gioco di questa sera fusse tale, che si elegesse uno della compagnia ed a questo si desse carico di formar con parole un perfetto cortegiano […].« (Hervorhebung von M.M.-G.). 14 Hempfer (1999) erkennt zu Recht das ›Spiel als Diskurs‹ als Ausdruck einer kontingenten Erfahrung der Wirklichkeit. Doch dabei hat es – wie wir zu zeigen hoffen – nicht sein Bewenden.
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genannten Kapitel15 geben, in der auf Monsignor d’Angolem, den künftigen François Ier, hingewiesen wird. Motiviert ist dieser Hinweis durch eine Äußerung des Conte: [...] der wahre und hauptsächliche Schmuck des Herzens sind bei jedem die Wissenschaften, während die Franzosen nur den Adel der Waffen kennen und alles übrige für nichts achten, sodass sie die Wissenschaften nicht allein nicht schätzen, sondern verabscheuen und alle gelehrten Menschen für höchst niedrige Personen halten [...].16
Die Franzosen galten den Italienern bis in die unmittelbare Gegenwart des Gesprächs über den Hofmann als Barbaren, bar jeglicher Kultur. Indem nun der Conte die Hochschätzung des Waffenhandwerks den barbarischen Franzosen zuschreibt, gewinnt die Verteidigung der ›humanitates‹ noch einmal an Gewicht. Doch schon folgt der Einwand mit dem Hinweis auf »Monsignor d’Angolem«, den Castiglione aus der Kenntnis des inzwischen zum König avancierten François Ier porträtiert und den er wider Erwarten zum idealen Hofmann stilisiert: »Schönheit des Gesichtes« und körperliche Wohlgestalt wird an Monsignor d’Angolem gerühmt, zudem eine »gewisse anmutige Menschlichkeit«; er liebe die Litterae und schätze alle Gebildeten hoch – wundere sich zugleich, dass es trotz der Sorbonne – denn diese meint der Hinweis auf »eine derart erlauchte Universität« – mit den Wissenschaften nicht gut bestellt sei. Das herausragende Verdienst des Monsignor d’Angolem, künftiger François Ier, aber liege darin, »dass er sich in einem so zarten Alter ganz von sich und allein aus Naturtrieb und gegen die Gewohnheit des Landes diesem guten Weg zugewandt« habe: »Gran meraviglia è che in cosí tenera età, solamente per instinto di natura, contra l’usanza del paese, si sia da sé a sé volto a cosí bon cammino.«17 Basale Aspekte der humanistischen Anthropologie sind hier formuliert: da sé a sé ist ein äußerst starker Ausdruck für »aus eigenem Antrieb, aus eigenem Willen«. Dass der Mensch für seine Entwicklung, für sein Wesen selbst verantwortlich sei, ist einer der wichtigsten Vorstellungen der rinascimentalen Anthropologie, die ihren populär gewordenen Ausdruck in der berühmten Oratio de dignitate hominis des Pico della Mirandola18 gefunden hat. Monsignor d’Angolem, alias François Ier, wird damit ein Vermögen zugeschrieben, das die höfische Gesellschaft zum Apriori ihrer dialogischen Bemühungen gemacht hat: das dem Menschen grundsätzlich eigene Vermögen zur Vollkommenheit. _____________ 15 Il Cortegiano, I 42–46. 16 Il Cortegiano, I 42, 118: »[…] il vero e principal ornamento dell’animo in ciascuno penso io che siano le lettere, benché i Franzesi solamente conoscano la nobilità delle arme e tutto il resto nulla estimino; di modo che non solamente non apprezzano le lettere, ma le aborriscono, e tutti e litterati tengon per vilissimi omini; […].« 17 Il Cortegiano, I 42, 119 f. [Hervorhebung von M.M.-G.] - Übers.: »Es ist ein großes Wunder, dass er sich in einem so zarten Alter ganz von sich und allein aus Naturtrieb und gegen die Gewohnheit des Landes diesem guten Weg zugewandt hat.« 18 Verfasst 1486 als Vorrede zur geplanten Verteidigung seiner 900 Thesen.
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Es ist nun von Interesse, dass dieses Vermögen, allein aus eigenem Antrieb sich zu vervollkommnen, im spät verfaßten vierten Buch zur Disposition gestellt wird. Näherhin geht es um die Frage, ob all die Tugenden, über die der Hofmann verfügen muß und die er seinem Fürsten empfehlen soll, lehrbar sind und somit erlernt werden können oder aber von Natur aus bzw. von einem Gott gegeben sind – eine Frage, deren Beantwortung erneut über den Nutzen eines »Tugendbuches«19 wie des Buches vom Hofmann zu entscheiden hätte. Signor Gasparo vertritt die Meinung, dass die Bemühungen um Vollkommenheit, hier das »Erlernen von Tugenden«, ihre engen Grenzen haben, und er verweist auf den Mythos von Epimetheus und Prometheus – freilich in der Version, in der ihn Platon im Protagoras (xi-xii) überliefert: Meine Meinung wird auch durch jene Fabel bestätigt, die man von Epimetheus berichtet, der die Gaben der Natur so schlecht an die Menschen zu verteilen wußte, dass sie viel notleidender an allem blieben als sämtliche Tiere. Prometheus raubte daher von Minerva und Vulkan jene kunstvolle Weisheit, durch die die Menschen zu leben vermochten; sie besaßen jedoch nicht die gesittete Weisheit, sich in Städten zusammenzutun und sittlich leben zu können, weil diese in Jupiters Feste von äußerst verschlagenen Hütern bewacht wurde, die Prometheus derart mit Schrecken erfüllten, dass er sich nicht zu nähern wagte. Deshalb schickte Jupiter, da er Mitleid mit dem Elend der Menschen hatte, die mangels der gesitteten Tugend sich nicht vereinigen konnten und daher von den wilden Tieren zerrissen wurden, Merkur auf die Erde, um Gerechtigkeit und Scham zu bringen, auf dass sie die Städte schmückten und die Bürger sammelten. Er wollte aber, dass sie ihnen nicht wie die anderen Künste verliehen würden, in denen wie bei der Heilkunst ein Kundiger für viele Unwissende genügt, sondern dass sie jedem eingeprägt wären; und er ordnete ein Gesetz an, dass alle, die ohne Gerechtigkeit und Scham wären, wie die Pestverseuchten in den Städten ausgerottet und getötet würden.20
Betrachten wir den Text näher: Gegenüber allen anderen Lebewesen kommt dem Menschen eine Sonderstellung aufgrund seiner defizitären Ausstattung zu: Die Menschen sind »viel bedürftiger in allen Dingen als alle übrigen Lebewesen« (»molto più bisognosi d’ogni cosa che tutti gli altri animali«). Dieser Mangel wird _____________ 19 So Loos (1955), der, wie der Titel seiner Studie zeigt, im Libro del Cortegiano die »Tugendauffassung des Cinquecento« repräsentiert findet. 20 Hervorhebung von M.M.-G. – Il Cortegiano, IV 11, 480 f.: »Conferma ancor la mia opinion quella fabula che si dice d’Epimeteo, il qual seppe cosí mal distribuir le doti della natura agli omini, che gli lassò molto piú bisognosi d’ogni cosa che tutti gli altri animali; onde Prometeo rubò quella artificiosa sapienzia da Minerva e da Vulcano, per la quale gli omini trovavano il vivere; ma non aveano però la sapienzia civile di congregarsi insieme nelle città e saper vivere moralmente, per esser questa nella ròcca di Iove guradata da custodi sagacissimi, i quali tanto spaventavano Prometeo, che non osava loro accostarsi; onde Iove, avendo compassione alla miseria degli omini, i quali, non potendo star uniti per mancamento della virtú civile, erano lacerati dalle fiere, mandò Mercurio in terra a portar la giustizia e la vergogna, acciò che queste due cose ornassero le città e colligassero insieme i cittadini; e volse che a quegli fosser date non come l’altre arti, nelle quali un perito basta per molti ignoranti, come è la medicina, ma che in ciascun fossero impresse; e ordinò una legge che tutti quelli, che erano senza giustizia e vergogna, fossero come pestiferi alle città, esterminati e morti.«
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in zwei Schritten kompensiert: einmal durch Prometheus, der dem Menschen die »artificiosa sapienzia« bereitstellt, das Feuer und die technische Kunstfertigkeit, und der somit erste Voraussetzungen des Überlebens schafft. Da dieser Ausgleich nicht ausreichend ist, wird ihm darüber hinaus die »sapienzia civile«, eine gewisse Gesittetheit, zuteil. Von Interesse ist die Hierarchisierung der beiden Fähigkeiten bzw. Vermögen. Konnte Prometheus die »artificiosa sapienzia«, die Technik, rauben und den Menschen weiterreichen, so ist die »sapienzia civile«, die Gesittetheit, so gut gehütet, dass nur Zeus selbst sie, in einem freiwilligen Akt, den Menschen verleihen kann. Er läßt ihnen durch Merkur »giustizia e vergogna«, bei Platon sind es Dike und Aidos (Rechtssinn und Respekt), übergeben und schafft damit die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens. Folgende Frage stellt sich: Welcher Spielraum bleibt dem Menschen, seinem Selbstentwurf, wenn »Rechtssinn und Respekt«, »giustizia e vergogna«, nurmehr eine Gabe des Gottes Zeus sind? Ist – mit anderen Worten – der Mensch von sich aus »tugendfähig« oder ist er es nicht? Allgemeiner: Ist der Mensch aufgrund eigenen Bemühens fähig, sich zu vervollkommnen?21 Die Frage bleibt – wie die meisten Fragen, die im Libro del Cortegiano diskutiert werden – ohne abschließende Antwort. Und so scheint der Mythos von Epimetheus, Prometheus und Zeus gerade nicht das zu leisten, um dessentwillen ihn Signor Gasparo in die Diskussion eingebracht hat, nämlich Aufschluß darüber zu geben, ob der Mensch sich selbst, aus eigenem Antrieb, vervollkommnen kann oder nicht. Der Mythos ist ambig. Und dennoch liefert er die anthropologische Basis für das Bemühen, das die Hofrunde leitet, das Bemühen um ›Zivilität‹, um »sapienzia civile«, um »giustizia e vergogna«, ein Bemühen, das nur dann erfolgreich ist, wenn man bereits im Stande der ›Zivilität‹ ist. Es ist das nämliche Paradox, das die gesamte Unternehmung kennzeichnet: den ›vollkommenen Hofmann mit Worten zu formen‹, kann nur denen gelingen, die bereits vollkommen in der Hofmannskunst sind.22 Deren Vollkommenheit aber zeigt sich nurmehr im spielerischen Dialog über die Vollkommenheit. Es ist nur folgerichtig, dass der Mythos – als Antwort gefordert – selbst wieder eine Sequenz von neuen Fragen und Diskussionen auslöst und gerade so auf die Offenheit, die Unabschließbarkeit und damit auf die dialogische Situation führt, in der das Bemühen um die Kultivierung und Zivilisierung des eigenen Selbst und der Gesellschaft im Libro del Cortegiano Gestalt gewinnt. So ist es also der als Spiel inszenierte Dialog, sind es die dialogisch sich ausfaltenden Worte, in der sich Vollkommenheit zeigt als Performanz, keineswegs sich realisiert als Haltung. Als sprezzatura ist – neben grazia – diese _____________ 21 Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass beispielsweise die Tugendpostulate an den Ethiken des Aristoteles orientiert sind, mithin Il Cortegiano thematisch in weiten Bereichen aristotelisch geprägt ist, konzeptuell und formal hingegen platonisch. 22 So die Herzogin zu Beginn der Unternehmung (Il Cortegiano, I 12, 44): »[...] se in loco alcuno son omini che meritino esser chiamati bon cortegiani e che sappiano giudicar quello che alla perfezion della cortegiania s’appartiene, ragionevolmente si ha da creder che qui siano.«
Dialog und Vollkommenheit in Castigliones Buch vom Hofmann
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Performanz das Vermögen23, die Begabung, die es dem Hofmann erlaubt, Vollkommenheit in allen Bereichen und Belangen vorzuspiegeln: so als sei sie wirklich. »Wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint«.24 Unter der Hand wird der Schein der Wahrheit als überlegen erachtet, erhält das Simulacrum die Dignität des Seins. Die platonische Ontologie ist ästhetisch invertiert: im Dialog vom Hofmann als Form und Konzept. So ist es letztlich eine Vollkommenheit in aestheticis, keineswegs eine Vollkommenheit in ethicis – es sei denn, man erkennt an, dass Ethik sich nurmehr als Ästhetik manifestiert. Dafür gibt der Text gute Gründe. Sie finden sich in jenem Teil des Buches vom Hofmann, der bis auf den heutigen Tag eher befremdet, da er sich in das Gesamt weder thematisch noch formal fügen will: Es ist die Rede, die Pietro Bembo, der Kundige, am Ende des vierten Buches25 über die Liebe, den platonisch-neuplatonischen Eros, führt. Ganz im Unterschied zur den Text bis dahin bestimmenden dialogischen Struktur sind die Worte Bembos im Wesentlichen ein großer Monolog. Er kulminiert in einer Hymne – einem Gebet gleich – an die »heiligste Liebe«, die »Schönste, Gütigste, Weiseste«, die hervorgehe »aus der Vereinigung der göttlichen Schönheit, Güte und Weisheit«.26 Der Monolog über die Himmlische Liebe – dies ist leicht aus dem wenigen Zitierten zu erkennen – ist alles andere als originell: ein Verschnitt aus Platons Phaidros und Symposion, aus Ficinos Kommentar, aus Pico della Mirandola und Bembos Asolani selbst, platonisch-neuplatonische Gemeinplätze – wie im ganzen die im Cortegiano diskutierten Themen nur mehr Gemeinplätze der Zeit sind. Die Originalität des zweiten Teils des vierten Buches wie insgesamt des Buches vom Hofmann liegt in einem anderen: eben in der besonderen Rede über Vollkommenheit, in ihrer Performanz. Das ist zu erklären. Das Thema der Rede Bembos über die »heiligste Liebe« als »Ausdruck der göttlichen Schönheit, Güte und Weisheit« ist Vollkommenheit, Vollkommenheit als Idee – ganz im platonisch-neuplatonischen Verständnis. Näherhin ist es der Weg von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, den die »heiligste Liebe«, also Eros, dem Liebenden weist und dessen Ziel die »Vereinigung mit Gott«, Theosis, ist. Bembo ist von seiner eigenen Rede über Eros derart affiziert, »dass er gleichsam entrückt und außer sich erschien«, »ganz stillstand und unbeweglich, die Augen zum Himmel gerichtet, wie erstarrt«.27 Dem Pathos begegnet Signora Emilia mit leichter Ironie: »›Gebt acht, Messer _____________ 23 Olejniczak Lobsien/Lobsien (2003) schreiben dem Hofmann, der Hofdame in diesem Sinne »Kompetenzperformanz« (187) zu. 24 Il Cortegiano, I 26, 75: »[…] quella esser vera arte che non pare esser arte; […].«. 25 Il Cortegiano, IV 51–70, 545–581. 26 Il Cortegiano, IV 70, 579: »Tu, bellissimo, bonissimo, sapientissimo, dalla unione della bellezza e bontà e sapienzia divina derivi ed in quella stai, ed a quella per quella come in circulo ritorni.« 27 Il Cortegiano, IV 71, 581: »Avendo il Bembo insin qui parlato con tanta veemenzia, che quasi pareva astratto e fuor di se, stavasi cheto e immobile, tenendo gli occhi verso il cielo, come stupido; [...].«
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Maria Moog-Grünewald
Pietro, dass über diesen Gedanken sich nicht auch Euch die Seele vom Körper trenne.‹«28 Worauf Bembo – durchaus das Pathos zurückholend – erwidert: »›Signora [...], das wäre nicht das erste Wunder, das die Liebe an mir gewirkt hätte‹« – und das Gespräch wird fortgesetzt – »wobei jeder gleichsam einen Funken der göttlichen Liebe im Herzen zu fühlen schien«: e ad ognuno parea quasi sentirsi nell’animo una certa scintilla di quell’amor divino che lo stimulasse,29
und nichts mehr begehrte, als die Rede über die Liebe fortzusetzen. Dies geschieht denn auch bis in die frühen Morgenstunden hinein – zur Verwunderung aller, die nicht bemerkten, dass das Gespräch dieses Mal »länger als gewöhnlich gedauert« hat. Die enthusiastisch-enthusiasmierende Rede des Messer Pietro Bembo – so die These – wirft rückwirkend ein differenzierendes Licht auf das Unternehmen der vornehmen Gesellschaft, »mit Worten den vollkommenen Hofmann zu bilden«, zugleich auf die Funktion des Dialogs als Form. Diese besteht gerade nicht darin, schiere Pluralität zu generieren, sondern darin, sich der Vollkommenheit anzunähern. Ein platonisch-neuplatonisches Konzept – Vollkommenheit – ist aufgenommen und antiplatonisch gewendet: Vollkommenheit soll im Medium der Sprache geschaffen werden. Vollkommenheit im Medium der Sprache ist aber ein Paradox; sie kann – wenn überhaupt – nicht anders statthaben denn als Annäherung, als nie endender Versuch, sie in Worte zu fassen, in immer neuer und differenter Form, mithin im nicht abschließbaren Dialog. Und eben diesen nicht endenden Versuch unternehmen die drei ersten Bücher des Cortegiano und führen ihn im ersten Teil des vierten Buches fort. Thematisch stellen sie sich als sukzessive Ausfaltung der Cortegianeria dar: Nach der Diskussion im ersten Buch über Eigenschaften und Fähigkeiten, über die der Hofmann verfügen muß, wird im zweiten Buch erörtert, wie der Hofmann die Eigenschaften und Fähigkeiten, die von ihm verlangt sind, anwenden soll, um im dritten Buch über die Rolle der Frau zu sprechen. Der erste Teil dieses vierten Buches nimmt mehr oder minder Aspekte auf, die in den drei vorausgegangenen Büchern verhandelt wurden, doch nun auf das Verhältnis von Hofmann und Fürst konzentriert sind. Das Generalthema, in einer Fülle von Einzelthemen ausgefaltet, ist Vollkommenheit. Seine Form hat es in einer dialogischen Struktur, die nicht allein der Fülle von Themen Rechnung zu tragen vermag, vielmehr der Vollkommenheit performativ Ausdruck zu geben sucht – freilich ohne dass dies gänzlich gelänge – es sei denn, eine göttliche Macht griffe ein. Und in der Tat: Bembos zur Hymne sich steigernde Rede verweist auf die Möglichkeit, mithilfe göttlicher Einwirkung das Göttliche zu erfahren, mit anderen Worten: vollkommen zu werden, und insofern nimmt sie implizit Bezug auf den Mythos von Epimetheus, Prometheus und Zeus. Der _____________ 28 Ebd.: »Guardate, messer Pietro, che con questi pensieri a voi ancora nin si separi l’anima dal corpo.« 29 Ebd., 582.
Dialog und Vollkommenheit in Castigliones Buch vom Hofmann
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Unterschied besteht aber darin, dass in Falle Bembos die göttliche Einwirkung eine Erfahrung ermöglicht, die als ästhetische nurmehr im Moment und als Moment – Platon spricht von exaiphnƝs – möglich ist. Und nicht nur Bembo, alle Anwesenden sind in diesem Moment ›ergriffen‹. Die ›Ergriffenheit‹ ist aber nicht allein ein Effekt der hymnischen Rede Bembos, sondern mehr noch eines Dialogs, der über vier Abende hin zu einer Zeremonie geworden ist: zu einer sakral-kunstvollen Gestaltung menschlichen Seins mit Worten, inszeniert als Spiel. Sein Kennzeichen ist sprezzatura und grazia. Grazia – das ist die Gabe Gottes, die der Mensch sich selbst zu schenken vermag, indem er Vollkommenheit mit Worten schafft: eine Existenz im Ästhetischen, die sich in sprezzatura erfüllt.
Primärliteratur Castiglione, Baldassare, Das Buch vom Hofmann (Il Libro del Cortegiano), aus dem Ital. übertr. u. mit Anm. vers. v. Fritz Baumgart, mit einem Nachwort v. Roger Willemsen, München 1986. Castiglione, Baldassare, Il Cortegiano, hg. v. Silvano Del Missier, Novara 1968. Epistolario di Coluccio Salutati, hg. v. Francesco Novati, Roma 1896.
Sekundärliteratur Batkin, Leonid M., Die italienische Renaissance – Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps, Basel/Frankfurt/Main 1981. Hempfer, Klaus W., »Rhetorik als Gesellschaftstheorie: Castigliones Il Libro del Cortegiano«, in: Literaturhistorische Begegnungen – Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard König, hg. v. Andreas Kablitz/Ulrich Schulz-Buschhaus, Tübingen 1999, 103–121. Lobsien, Verena Olejniczak/Lobsien, Eckhard, Die unsichtbare Imagination – Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München 2003. Loos, Erich, Baldassare Castigliones »Libro del Cortegiano« – Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento, Frankfurt/Main 1955. Stempel, Wolf-Dieter/Stierle, Karlheinz (Hg.), Die Pluralität der Welten – Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987.
Deus artifex – Zur Funktion eines Topos bei Fray Luis de León MATEI CHIHAIA (Köln) 1. Mystische Demut und humanistische Feier des Stils Das Werk des spanischen Augustinermönchs Luis de León bezieht sich auf eine Vielfalt von Gattungen und Sprachen, es besteht in weiten Teilen aus Kommentaren, Übertragungen und Paraphrasen. Seine in diesem Sinne philologische Tätigkeit konzentriert sich, neben antiken Autoritäten wie Vergil und Horaz, auf religiöses Schrifttum – im Unterschied zur ersten Generation der spanischen Renaissance, die mit Boscán und Garcilaso de la Vega ihre literarische Aneignung in profanen Texten und auf der Suche nach Ruhm in armas und letras vollzog. Die weltlichen Oden und petrarkistischen Gedichte, in denen sich Fray Luis, auf den Spuren seiner berühmten Vorgänger, übt, bilden den früheren, und in jedem Fall den weniger umfangreichen Teil des Werks. In theologischer Hinsicht wurden besonders seine späte Abhandlung De los nombres de Cristo und seine didaktischen Anweisungen für die Ehefrau, La perfecta casada, wirksam, die zusammen 1583 erschienen. Der Humanist hat außerdem eine kommentierte Übersetzung zum Hohelied veröffentlicht, in welcher er über die Septuaginta hinaus auf den hebräischen Urtext zurückgeht. Er gerät unter den Verdacht der Heterodoxie und der Affinität zum Judentum, wird aber in einem langwierigen Inquisitionsprozess entlastet. Weniger bekannt sind seine weiteren umfangreichen Kommentare zur Heiligen Schrift. Der Umfang und die Heterogenität dieses Korpus lähmen fortwährend die wissenschaftliche Diskussion über den Autor: Es scheint unmöglich, die Vielfalt aus einem einzigen thematischen Blickwinkel zu umfassen; gegen fast jede Publikation lässt sich so einwenden, sie vernachlässige einen relevanten Teil des Werks. Dieses Problem betrifft besonders die nicht enden wollende Debatte um das Verhältnis von Fray Luis zur spanischen Mystik, welche gewissermaßen komplementär zu der Diskussion über den Einfluss der Renaissancephilosophie auf den spanischen Augustinermönch verläuft.1 Gerade sein Verständnis von _____________ 1
Im Zusammenhang einer christlichen Hermeneutik stehen dabei aber meist eher die Aussagen und Intention der Schriften als ihr Stil im Mittelpunkt. Der Aufsatz von P. David Gútierrez bietet eine sorgfältig kommentierte Übersicht über die Geschichte dieser Debatte. Die Schlussfolgerung ist, dass Fray Luis zwar ein guter Kenner der Mystik war und etwa den
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Vollkommenheit scheint in den theologisch relevanten Schriften umso weiter vom Neuplatonismus entfernt, als in der spanischen Literatur seiner Zeit ein ganz anderer Diskurs vorherrscht. Das Streben nach einem in religiöser Hinsicht vollkommenen Leben, wie es im Titel von La perfecta casada erscheint, ist in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts ein beliebtes Thema der spanischsprachigen Prosa. Dabei wird Vollkommenheit meist als ein höchst schwieriges, ja eigentlich unerreichbares Ziel dargestellt, für das die Abkehr von der Welt und der Rückzug ins Kloster keineswegs hinreichen. Die mystische Vereinigung mit Christus gibt einen Geschmack von dem, was dem Menschen letztlich entgeht. 1583 ist nicht nur das Jahr, in dem Luis de Leóns La perfecta casada und Los nombres de Cristo erscheinen, sondern auch das Datum der Erstveröffentlichung von Teresa de Jesús’ Camino de perfección, einer didaktischen Schrift, in der die Karmeliterin ihre Schwestern zum rechten geistlichen Leben anweist.2 Die Lehre der Mystikerin zirkulierte schon seit einer Generation in Abschriften. Luis de León war im Übrigen selbst der Zensor von Teresas Werken und Herausgeber einer etwas späteren und stark redigierten Ausgabe des Camino de perfección, die 1588 in Salamanca erschien.3 Die theologische Prosa der Teresa de Jesús orientiert sich noch ganz an dem Gegensatz zwischen der absoluten Vollkommenheit Gottes und der Beschränktheit des Menschen, die sich nur durch die einmalige Gnade, in einer geistlichen Vereinigung mit Christus, überwinden lässt. Verbindlich ist dabei der heilsgeschichtliche Vorrang des geistlichen Stands, der schon in der 184. Frage der Summa theologica, welche die Möglichkeiten der perfectio erörtert, im Vordergrund steht. Der Topos deus artifex erweitert diese Möglichkeiten bei Fray Luis, indem nun auch die artes einen direkten Anspruch auf Vollkommenheit erheben können.4 Ernst Robert Curtius ordnet daher De los nombres de Cristo in die Strömung spanischer Kunsttheologie ein, die den Topos von Gott als Handwerker im 17. Jahrhundert als Lob des gut gearbeiteten Stils versteht.5 _____________
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Unterschied zwischen ›echten‹ und ›falschen‹ Mystikern ziehen konnte, dass sich in seinen eigenen Schriften aber nur ein »experimenteller« Umgang mit mystischer Erfahrung findet. Dieser Standpunkt setzt einige Prämissen voraus, welche der katholischen Orthodoxie nicht ganz fern stehen: Mystik wird stark auf die Person des Autors bezogen, dessen Wirken im Schoß der Kirche entweder legitim oder illegitim ist; vgl. Gútierrez (1993). Eine etwas andere Position vertritt José María Becerra Hiraldo, welcher mit Bezug auf die späteste Schrift, die Explanación, eine zunehmende Annäherung Fray Luis’ an den Geist der Mystiker zu beweisen versucht; vgl. Becerra Hiraldo (1986). Beide Untersuchungen beziehen sich aber nicht auf den Aspekt der Rhetorik, der für mich im Vordergrund steht. Diese gedruckte Ausgabe, die in Evora 1583 posthum erschien, wurde noch von der Autorin lektoriert und gründete sich vor allem auf der in Valladolid erhaltenen Handschrift; im Folgenden komme ich gelegentlich auch auf das andere, ältere Manuskript zu sprechen, das sich im Escorial befindet. Zu diesen Textfassungen vgl. Teresa de Jesús, Camino de perfección, 233– 234. Zur Arbeit von Fray Luis am Werk der Mystikerin vgl. Alvarez (1982). Zur Vorgeschichte dieses Topos siehe Curtius (1948), 529–531. Vgl. Curtius (1948), 532–542.
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Curtius weist dazu auf das Kapitel »Monte« aus De los nombres de Cristo hin, wo die Schönheit der Dichtung auf ihren Anlass und Gegenstand, das Lob Christi, zurückgeführt wird: Denn dieser ist der einzig würdige Gegenstand der Dichtung; und diejenigen, die sie von ihm abführen und sie, ihr selbst zuwider, zu leichtfertigen Themen benutzen oder, besser gesagt, sie daran vergeuden, sollten bestraft werden, weil sie öffentlich zwei heilige Dinge verderben: die Dichtung und die Sitten. Die Dichtung verderben sie, weil unzweifelhaft Gott sie dem Gemüt der Menschen eingab, um sie mit ihrer Bewegung und ihrem Geist zum Himmel zu erheben, woher sie kommt; denn Dichtung ist nichts anderes als eine Übertragung des himmlischen und göttlichen Atems; und so ordnete der gleiche Geist, der sie erweckte und sie erhob, um zu sehen, was andere Menschen nicht sahen, bei fast allen Propheten, sowohl denen, welche wahrhaft von Gott bewegt wurden, als auch denen, die von anderen übermenschlichen Anlässen angespornt sprachen, die Worte in ihrem Mund und formte ihre Rede und verlieh ihr geradezu metrische Proportion und angemessenen Wohlklang, damit sie auf erhabenere Art sprechen als die anderen Leute, und damit der Stil des Gesagten sich an das Gefühl anpasse und die Worte und die Dinge einander entsprechen.6
Diese frommen und alle weltliche Literatur verdammenden Aussagen sind nur auf den ersten Blick eine Grundlegung mystischer, an Christus orientierter Literatur. Wie Curtius und neuere Kommentatoren unterstreichen, ist dieser Text zugleich eine Feier des Stils, der rhetorischen Form.7 Dass die Worte der Propheten in ihrer Erhabenheit und metrischen Ordnung unmittelbar von Gott eingegeben sein können, dass die Vollkommenheit sich vom übermenschlichen Anlass auf die menschliche Rede überträgt, wirkt zwar vor dem Hintergrund der rhetorischen Forderung nach dem aptum (»para que las palabras y las cosas fuesen conformes«) plausibel, lenkt aber von der Tatsache ab, dass die Vielfalt der Sprachen in theologischer Hinsicht selbst schon Zeugnis der Korruption des Menschen und dass Vollkommenheit, streng genommen, innerweltlich auch durch guten Stil nicht zu erreichen ist. Teresa de Jesús empfiehlt zwar theologisch _____________ 6
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»Porque éste es sólo digno sujeto de la poesía; y los que la sacan dél y, forzándola, la emplean, o por mejor decir, la pierden en argumentos de liviandad, habían de ser castigados como públicos corrompedores de dos cosas santísimas: de la poesía y de las costumbres. La poesía corrompen, porque sin duda la inspiró Dios en los ánimos de los hombres para con el movimiento y espíritu della, levantarlos al cielo de donde ella procede; porque poesía no es sino una comunicación del aliento celestial y divino; y así, en los profetas cuasi todos, así los que fueron movidos verdaderamente por Dios como los que, incitados por otras causas sobrehumanas, hablaron, el mismo Espíritu que los despertaba y levantaba a ver lo que los otros hombres no vían, les ordenaba y componía y como metrificaba en la boca las palabras con número y consonancia debida, para que hablasen por más subida manera que las otras gentes hablaban, y para que el estilo del decir se asemejase al sentir, y las palabras y las cosas fuesen conformes.« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 110. Die Übersetzung der Zitate stammt hier und im Folgenden von mir, M.C.). Curtius (1948), 536; Javier San José Lera weist in seinem Kommentar darauf hin, dass das vom Heiligen Geist verrichtete »ordenar« der rhetorischen dispositio entspricht, »componer« der inventio, »metrificar« der elocutio (vgl. Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 110, Anm. 64).
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geschulte Beichtväter, aber Rhetorik ist bei ihr nur ein Anlass für regelmäßige Demutsäußerungen;8 im Prolog und an mehreren Stellen unterstreicht sie, dass ihre Leserinnen liebenswürdigerweise entschuldigen müssten, dass sie »imperfecto, y por mal estilo« zu ihnen spreche.9 Gewiss ist auch dies ein Topos. Die Demutsäußerungen stehen jedoch in scharfem Gegensatz zur Forderung eines aptum wie auch zu der daraus folgenden Vorstellung einer besonderen künstlerischen Qualität prophetischer Lehre. Nicht nur aufgrund des produktionsästhetischen Ideals der Demut, sondern auch in seiner rezeptionsästhetischen Dimension weist der Camino de perfección in eine andere Richtung als De los nombres de Cristo. Fray Luis vermeidet, wie David Hildner gezeigt hat, den Weg der mystischen, einmaligen Erfahrung, welcher zu einem entsprechenden, poetisch notwendigen Ausdruck geführt hätte; stattdessen bemüht er sich um Kommunikation mit einem möglichst großen Publikum, indem er sich auf Sitte und Gewohnheit der Menschen allgemein (und nicht nur der Vollkommenheit anstrebenden Geistlichen) bezieht.10 Das ist, wie gesagt, eine Beobachtung, die sich auf Rhetorik konzentriert. Die von Curtius aufgeworfene Frage nach dem Stil scheint mir als Kategorie der Erkenntnis besonders deswegen interessant, weil man mit seiner Hilfe die Verschiedenheit der Gattungen – insbesondere zwischen Dichtung und theologischen Schriften – in den Griff bekommt, die ansonsten nicht nur die spanische Mystik als kulturelle Erscheinung,11 sondern auch das Werk von Fray Luis so schwer fassbar macht. Die humanistische, an das System der Rhetorik und Topik angelehnte Theologie von Fray Luis und seinem Lehrer Melchior Cano, die Curtius ausführlich vorstellt, widerspricht also einer weit verbreiteten und in der spanischen Mystik noch verstärkten Überzeugung von der Unvollkommenheit jeglicher und nicht nur weltlicher Rede. Außerdem strebt seine Arbeit am Stil eine wirksame Kommunikation an, also ein Ideal der Klarheit und Buchstäblichkeit, das sich deutlich vom Stilideal der spanischen Mystik unterscheidet. Die Spannung zwischen dem mystischen Diskurs und dem Topos deus artifex erfüllt eine tragende und bisher noch nicht hinreichend untersuchte Funktion im theologischen und dichterischen Werk des Augustinermönchs; sie bezeichnet insbesondere die Partialität seiner Rezeption neuplatonischen Denkens.
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Teresa de Jesús, Camino de perfección, 260 (Handschrift Valladolid/Ausgabe Evora). Teresa de Jesús, Camino de perfección, 236 (Handschrift Valladolid/Ausgabe Evora). Auch im Folgenden findet sich öfter eine Ablehnung guten Stils, die auf die Weltlichkeit der Rhetorik weist. In der älteren Handschrift heisst es an anderer Stelle: »lo entenderéis mijor por mi grosero estilo que por otros elegantes« – »Ihr werdet es besser in meinem groben Stil verstehen als in anderen, eleganten Stilen« (Teresa de Jesús, Camino de perfección, 302 [Handschrift Escorial]). 10 Vgl. Hildner (1992), 4–5. 11 Vgl. Stoichita (1997).
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2. Die Bedeutung des vollkommenen Stils Für Fray Luis bedeutet Vollkommenheit Harmonie. Diese wird nicht nur in seinen Versen gefeiert, sondern bildet auch in seinen Prosaschriften ein stets gegenwärtiges stilistisches Ziel; wie ernst es ihm mit der Arbeit am Wort ist, haben die detaillierten Analysen von Javier San José Lera und Fernando Lázaro Carreter gezeigt. Sein Klassizismus äußert sich besonders in dem Anspruch, auch in der Prosa die Worte so zu wählen, dass ihre Silbenzahl und ihre Laute in harmonischem Verhältnis zueinander stehen. In dem Widmungsschreiben zum dritten Buch von De los nombres de Cristo findet sich die viel zitierte Forderung, die Worte so anzuordnen, »dass sie nicht nur in aller Klarheit das Gemeinte ausdrücken, sondern auch mit Harmonie und Süße«.12 Luis de León sieht sich darin implizit als Nachfolger Ciceros, der in De Oratore behauptet, den numerus und damit die Harmonie von der Lyrik auf die Prosa übertragen zu haben. Diese rhetorische Kompetenz beschränkt sich offenbar nicht auf die compositio, den Schmuck der Rede durch Stilfiguren. Eine vollendete rhetorische Beherrschung der spanischen Prosa hatten schon andere vor ihm vorgeführt, begonnen mit Fernando de Rojas bis zu Antonio de Guevara. Neu hingegen ist an der stilistischen Arbeit von Fray Luis die Kontrolle der Akzente innerhalb der Perioden, der Anzahl der Kola und der Binnenreime.13 Die genaue Formulierung, es sei notwendig, dass der Dichter im Spanischen genau seine Worte wähle, »ihren Klang beachte, und auch bisweilen die Buchstaben zähle und abwäge und messe«14, drückt also die Forderung aus, Vernakularsprache auch in Prosaäußerungen metrisch und rhythmisch zu ordnen. Liegt in der Bestimmung von Vollkommenheit als Harmonie eine Affinität zur neuplatonischen Kunsttheorie? Der 1996 in Salamanca erschienene Sammelband legt diese Deutung zumindest für einen Teil des Werks nahe, in dem die Autorität des Schreibens aus einem vollkommenen Stil abgeleitet wird. Die theologisch interessante Frage folgt jedoch aus dem Topos deus artifex: Macht die harmonische Rede den Sprecher zum Ebenbild Gottes oder lässt sie ihn bloß auf unvollkommene Weise an der göttlichen Vollkommenheit teilhaben? Sehr deutlich beantwortet diese Frage José Ramón Alcántara Mejía.15 Ihm zufolge zählt schon von Anfang an nur der Gehorsam, die Unterwerfung unter den Willen Gottes, als Weg zur Vollkommenheit. Alcántara Mejía entdeckt bei Fray Luis also eine Lehre, welche weitgehend dem Camino de perfección entspricht und in der theologischen Tradition des Thomas von Aquin steht. Die göttliche perfectio, so Thomas, strahlt zwar wie die Sonne ihre Wärme an alle _____________ 12 »Para que no solamente digan con claridad lo que se pretende decir, sino también con armonía y dulzura.« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 333); vgl. Lázaro Carreter (1996), 25. 13 Vgl. San José Lera (1996), 507. 14 »Mira el sonido dellas, y aun cuenta a veces las letras, y las pesa, y las mide, y las compone« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 333). 15 Vgl. Alcántara Mejía (2002).
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Dinge ab, aber die Sünde trennt den Menschen grundsätzlich von dieser Vollkommenheit; erst die Gnade und das Ereignis der Menschwerdung durchbrechen diese Regel.16 Es ist, wie auch die Summa contra gentiles erklärt, trügerisch, eine immanente Perfektion anzustreben. Insbesondere die Sprache bietet nur ein partielles und somit unvollkommenes Bild von Gott, weil jeder Name schon aufgrund seiner Bezeichnungsweise doppelsinnig und somit schadhaft ist.17 »Vollkommenheit« etwa lässt sich nicht nur dem Höchsten zuschreiben, sondern auch dem Menschen, der in einer bestimmten Hinsicht vollkommen sein kann, und sogar einem Stein. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die partielle Perfektion des Menschen sich auch nicht ansatzweise mit dem absolut perfekten Göttlichen messen kann. Der Weg zur Vollkommenheit führt notwendigerweise über Gott. Gemäß dieser Lehre besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen der irdischen Harmonie, welche beispielsweise in rhetorischer Hinsicht erreicht werden kann, und der himmlischen Vollendung. Aber auch alle anderen anschaulichen Beispiele der Vollkommenheit haben kein Eigengewicht: Diese Topoi – zu denen wohl auch deus artifex zu zählen ist – illustrieren bestenfalls die partielle Teilhabe des Weltlichen am Göttlichen. Nach diesem hermeneutischen Prinzip, das Alcántara Mejía auch im Schreiben Fray Luis’ vorherrschen sieht, darf der bildliche Anteil des Diskurses nicht überschätzt, sondern muss auf allegorische Weise auf den metaphysischen Sinn hin überstiegen werden. Folglich ist stilistische Harmonie in keinem Augenblick unmittelbares Zeugnis, sondern hat eine untergeordnete Stellung. Die Rede von vollkommener Kunst sei immer nur ein Topos, mit dem eine theologische Wahrheit ausgedrückt werde, die notwendige Abkehr von der Welt (also auch von der weltlichen Dichtung) und die Unterwerfung unter Gottes Gesetz, für welches das lyrische Metrum nur eine partielle Veranschaulichung ist.18 Die funktionale Unterordnung rhetorischer Topoi, also der kunstvollen Rede, unter den darin vermittelten Sinn darf nicht mit der Vorstellung verwechselt werden, dass Stil bloßer Ornat sei.19 Dennoch folgt daraus, dass die irdische Harmonie, welche sich etwa in der Literatur – und auch in der antiken vorchristlichen Literatur – äußert, nur auf äußerst indirekte Weise die wahre Vollkommenheit, welche nur in Gott zu finden ist, andeuten kann. _____________ 16 Vgl. Mostert (1978), 49. 17 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, zitiert nach www.corpusthomisticum.org, hg. v. Enrique Alarcón, lib. 1, cap. 30 n. 3. Der Topos deus artifex kann unter diesen Bedingungen nur eine Allegorie darstellen, bei der das vollkommene Wirken Gottes an die menschliche Vorstellung von Vollkommenheit angepasst wird. 18 Alcántara Mejía (2002), 153, zitiert eine entsprechende Stelle, an der die Allegorie entschlüsselt wird: »Tu sabiduría, pues, es saber guardar tu ley; y tu ley es que huyas de lo malo y me temas, esto es, me sirvas y no me ofendas« – »Deine Weisheit ist es also, das Gesetz zu befolgen; und dein Gesetz ist, dass du das Böse fliehst und mich fürchtest, das heisst, mir dienst und nicht sündigst.« (Fray Luis de León, Exposición del libro de Job, Kap. XXVIII, V. 28; 448) 19 Von dieser geläufigen Vorstellung setzt sich Alcántara Mejía deutlich ab (vgl. Alcántara Mejía [2002], 147).
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Das göttliche Gesetz, welches ein letztes hermeneutisches Prinzip bildet und die gerade im Neuplatonismus ausufernden Allegorien eindämmt, findet allerdings ein Ebenbild in dem rhetorischen Prinzip der Angemessenheit, des aptum. David Hildner untersuchte dies bereits in seiner Untersuchung über Poetry and Truth in the Spanish Works of Fray Luis de León von 1994. Hildner beobachtet die Komplexität des Stilverständnisses bei Fray Luis: Einerseits führt die imitatio antiker Autoren zu einer latinisierenden und verfremdeten Syntax. Andererseits kommt zur von den Kirchenvätern übernommenen Feindseligkeit gegen Fiktion auch ein spezifischeres und gewissermaßen modernes Argument. Als antiästhetisch muss das Prinzip der Literalexegese gelten, welche in der Übersetzungs- und Kommentarpraxis des Augustinermönchs zu einer progressiven Verringerung der Tropen führt: Ein ebener Stil soll möglichst an die Stelle der indirekten, plastischen Ausdrucksweise treten. Die schöne Form um der Form willen hat für ihn keine Berechtigung, alles soll der Vermittlung der Idee dienen.20 Die rhetorische Suche nach einem harmonischen Stil und das theologische Prinzip der wörtlichen, nicht-allegorischen Auslegung geben der Rede eine besondere Würde. Wie Hildner selbst unterstreicht, lässt sich diese weder ganz mit einem platonischen noch mit einem thomistischen Verständnis der Perfektion identifizieren. Wenn der gute Stil als Ebenbild des göttlichen Gesetzes gelten kann, so vor allem in den Prosaschriften, in denen er kein ästhetisches Eigengewicht erhält. Eine der allgemeineren Untersuchungen spricht mit Recht von »Platonic overtones« in den 1ombres de Christo, um etwas später darauf hinzuweisen, dass die hier geäußerte Lehre »not exactly Platonic« sei.21 Der wahrscheinlichste Grund für diese Unschärfe liegt in der Vermittlung durch Augustinus, welche bereits eine Auswahl und Umformung der platonischen Ideen vorgibt. Noch grundlegender jedoch verfängt sich das neuplatonische Stilideal in einer Aporie: Als Ebenbild des göttlichen Gesetzes muss die Harmonie der Rede in Angemessenheit bestehen; eben diese stellt sich aber gegen einen Überschuss an Anschaulichkeit. Gerade die lyrischen Texte, in denen die neuplatonischen Topoi des Aufstiegs und der Rückerinnerung zitiert werden, suchen ein fragiles Gleichgewicht zwischen buchstäblicher und übertragener Bedeutung. Fast scheint es einfacher, diese Aporie theologisch zu lösen, als sie im Gedicht zu bewältigen. Im Folgenden werde ich – noch vor der Diskussion der Lyrik – zunächst die markante Wiederkehr des Topos deus artifex in den Prosatexten als eine solche Lösung vorstellen: Unter dem Gewicht dieses Gottesbildes und einer christozentrischen Theologie, wie sie De los nombres de Cristo charakterisiert, verlagert sich das Interesse von der unerreichbaren Vollkommenheit des dreieinigen Gottes hin zu der Kette aus partikularen Harmonien,22 die aus seiner aktiven Beteiligung in der Schöpfung entsteht. _____________ 20 Vgl. Hildner (1992), 4–5. 21 Thompson (1988), 182, 191. 22 »En la concatenación progresivamente más perfecta de las almas de los seres vivientes, Fray Luis ve probada una vez más su teología preferida, la que asienta sobre bases cristológicas toda
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3. De los nombres de Cristo und La perfecta casada 3.1 Die Aufwertung des Stils Im Rückgriff auf Curtius möchte ich also noch einmal die Funktion dieses Topos, das Bild von Gott als Handwerker oder Künstler, in der Publikation des Jahres 1583 untersuchen, da, wie schon einmal gesagt, De los nombres de Cristo und La perfecta casada zusammen in einem Band erschienen. Obwohl sich beide Texte – der christologische Dialog und die praktische, in Art eines Vademecums kurz gehaltene moraltheologische Anweisung – in unterschiedlichen Disziplinen bewegen, scheint mir die Verknüpfung der beiden gemeinsam veröffentlichten Bücher relevant. Christus wird als vollkommene Schöpfung Gottes interpretiert. Die Ehefrau hat sich ihrerseits einer Form von Vollkommenheit anzunähern. Das Thema der menschlichen Vollendung wird also aus den beiden Blickwinkeln betrachtet, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Anstatt von der goldenen Mitte des geistlichen Standes auszugehen, mit dem sich die frühere Perfektionsliteratur – bis hin zu Teresa de Jesús – beschäftigt, wählt der Augustiner zwei Extreme: das höchstvollendete Menschsein, also das Jesu Christi, und das in ontologischer Hinsicht niedrigste und schwächste Glied der Kette, die in der Welt lebende Frau.23 Zwar lässt sich einerseits annehmen, dass dabei – in der Tradition von Thomas – ein unterschiedlicher Perfektionsbegriff verwandt wird. Andererseits aber ergeben sich zahlreiche Parallelen zwischen diesen beiden Polen aus der Schilderung Gottes als des Schöpfers von Harmonie, der im Größten wie im Kleinsten tätig wird. Diese Parallelen zwischen De los nombres de Cristo und La perfecta casada verdanken sich nicht nur dem punktuellen Einsatz eines bestimmten Topos – der Harmonie –, sondern bilden eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis des Buchs. Dafür möchte ich im Folgenden zwei Argumente anführen: Das eine Argument betrifft die Poetik und Mikrostruktur. Die metapoetischen Äußerungen über Gott als Künstler und die Schöpfung als harmonisches Werk werden vom Schreiben Fray Luis’ selbst eingelöst, die in diesen Schriften genannten Kriterien überdies also auch explizit an seine Prosa angelegt. Das andere Argument betrifft die Hermeneutik und die Makrostruktur des Buchs. Die Idee der geistlichen Ehe – die etwa bei Teresa de Jesús den Gipfel der Vollkommenheit bildet – wird mit der anschaulichen Annäherung von Christus und der Ehefrau in eine asymmetrische Veröffentlichung gefasst, die Fray Luis als _____________ la economía de la creación y la salvación« – »In der zunehmend vollkommenen Verkettung der Seelen aller Lebewesen sieht Fray Luis einmal mehr seine bevorzugte Theologie bestätigt, welche auf christologischer Basis die ganze Ökonomie der Schöpfung und des Heils begründet« (Cuevas [1996], 373). 23 Als solche stellt sie etwa der Kommentar zum Buch Hiob dar (Fray Luis de León, Exposición del libro de Job, Kap. XIV, V. 1; 251), wo von Schwäche, Leichtsinn und sogar »vileza y poco ser« – »Schlechtigkeit und Minderwertigkeit« – der Frau die Rede ist; es gelte für den Menschen als entwürdigend, der Sohn einer Frau zu sein. Sie ist der Grund der Erbsünde; in alledem klingen die frauenfeindlichen Gemeinplätze der Patristik an (vgl. Guy [1984], 63).
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Übersetzer und Kommentator des Hoheliedes noch einmal indirekt und auf recht exzentrische Weise auf das Thema zurückkommen lässt: In der Reihe der Namen Christi, nach welchen De los nombres de Cristo gegliedert ist, bildet das Kapitel »Esposo« den Mittelpunkt, womit dann La perfecta casada korrespondiert. Die Schlussfolgerung aus diesen beiden Argumenten wäre, dass die Bilder von Gott als Künstler für das Denken von Fray Luis eine zentrale Bedeutung haben und er in dieser Hinsicht einer augustinisch-neuplatonischen Tradition nähersteht als der Abwertung der doppelsinnigen Metaphern bei Thomas. Die bildlichen Namen Gottes und die Rede von Harmonie erschließen also eine Bedeutungsebene, die in der Makrostruktur des Buchs liegt: So groß der Kontrast zwischen dem Erlöser und der verheirateten Bauersfrau in ontologischer Hinsicht sein mag, wird Vollendung doch nicht nach dem Modell der Teilhabe am Absoluten festgelegt, sondern nach dem meisterhaften Wirken Gottes im Partiellen, welches noch in dem kleinsten Menschen die Nachfolge Christi anregen kann. 3.2 Die Ordnung der spanischen Prosa Zunächst möchte ich auf das erste Argument, die Einlösung der künstlerischen Kriterien in der eigenen Dichtung, näher eingehen. Cicero ist hier nicht die einzige Autorität für stilistischen numerus. Die als Sinn für Harmonie konzipierte Urteilskraft des Schriftstellers greift in einem fast buchstäblichen Zitat auf die Vorstellung von Gott als Schöpfer einer harmonischen Ordnung zurück, die sich im Buch der Weisheit findet: »omnia in mensura et in numero et in pondere disposuisti« (Sap 11,21) – »Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet«. Diese Bibelstelle klingt auch noch in der spätesten Schrift Fray Luis’ an, um Gott als Schöpfer zu charakterisieren: Wie sein Kommentar zum Buch Hiob erläutert, hat Gott alles in einer wunderbaren Ordnung hinterlassen: Wenn Er die übrigen Dinge in Ordnung schuf und sie mit bewundernswerter Harmonie ineinander fügte, so ließ Er den Menschen nicht ohne Einklang und wollte weder, dass dieser ohne Gesetz lebe, noch, dass er in Seiner Musik Missklang verursache.24
In diesen Passagen manifestiert sich der Humanismus Fray Luis’ also in der Verschmelzung eines rhetorischen numerus – wie er aus der ciceronianischen Tradition stammt – mit der augustinischen Theologie, in welcher die nach Maß und Zahl geschaffene Welt eine tragende Position einnimmt.25 Somit kann er sich – über Cicero hinaus – auf den Patron seines Ordens berufen, für den dieser Vers eine zentrale, das gesamte Werk durchziehende Bedeutung hat. Was in den theologischen Schriften von Fray Luis mit einem neuplatonischen Stilideal _____________ 24 »Que si crió a todas las demás cosas con orden, y si las compuso entre sí con admirable armonía, no dejó al hombre sin concierto, ni quiso que viviese sin ley ni que hiciese disonancia en su música.« (Fray Luis de León, Exposición del libro de Job, Kap. XXVIII, V. 28; 447–448). 25 Vgl. Ohly (1982).
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verglichen werden kann, weist ausnahmslos auf Augustinus hin. Das bedeutet jedoch, dass die eigentliche Provokation des Neuplatonismus, die Teilhabe einer materiellen, anschaulichen Schönheit an der absolut vollkommenen Schönheit, zweifach entschärft wird – wie dies Joachim Küpper schon in Zusammenhang mit Petrarcas Aufnahme des Augustinus gezeigt hat: Zum einen nutzt Augustinus das Beispiel der Musik, welche unter den Künsten die abstrakteste Form der Harmonie verwirklicht, zum anderen unterstreicht er, dass selbst in der Musik nicht das ästhetische Vergnügen, sondern nur die Form der Vollkommenheit zu Gott führt.26 Auf die augustinische Schrift De arte musica und das Konzept einer rhythmischen Urteilskraft – apriorischen numeri iudiciales27 – lässt sich auch der Hinweis auf das iudicium beziehen, das die oben zitierte Passage aus De los nombres de Cristo rahmt: »Die gute Rede ist nicht gewöhnlich, sondern Sache einer besonderen Urteilskraft, sowohl in dem, was gesagt wird, als auch in der Art, wie es gesagt wird.«28 Was beim Kirchenvater auf die metrisch gebundene Äußerung beschränkt bleibt, wird bei Fray Luis auf die bescheidenste, auf die spanischsprachige Prosa übertragen, welche nun auch ein bedeutendes iudicium erfordert.29 Die Würde des Stils erklärt sich nicht aus dem ästhetischen Vergnügen an der schönen Rede, sondern aus der theologischen Gültigkeit der guten Rede. Um das Argument noch einmal zusammenzufassen: Die Hinweise auf Harmonie sind also mehr als ein punktuell eingesetzter Topos, um die geistliche Weisheit des Gehorsams auszudrücken. In ihr wird vielmehr eine theologische Wahrheit, die sich auf Augustinus zurückführen lässt und weniger mit dem unerreichbaren göttlichen Logos als mit der dem Menschen eingegebenen »Urteilskraft« über Harmonie zu tun hat, vom Lateinischen auf das Spanische, vom Vers auf die Prosa, vor allem aber von Gott auf den Dichter übertragen. Indem letzterer – wie Fray Luis in der bekannten und bereits zitierten Passage fordert – zählt und misst und abwägt, übernimmt er alttestamentarische und von Augustinus in den Vordergrund gerückte Attribute des Schöpfers. Diese Übertragung beinhaltet mehr als eine nominelle Teilhabe: Das Bild des deus artifex wird zu einer ganz realistischen Begründung ausgestaltet, um zu erklären, dass der Mensch nicht nur das Ebenbild Gottes darstellt, sondern diese Ebenbildlichkeit auch performativ, durch harmonische Schöpfung, verwirklichen kann: So wie der Meister, der, wie es bisweilen der Fall ist, zunächst aus dem Stoff, den er hat, das herstellt, was ihm in seiner Kunst als Werkzeug dienen soll, indem er ihn seinem Zweck gemäß bildet, und dann, wenn er ihn in die Hand nimmt, um ihn zu
_____________ 26 Vgl. Küpper (2002), 105 und 105, Anm. 44. 27 Vgl. Nowak (1975). 28 »El bien hablar no es común, sino negocio de particular juicio, así en lo que se dice como en la manera como se dice« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 333). 29 Auf den Zusammenhang mit De musica weist schon Hildner hin, allerdings ohne die Übertragung auf die Vernakularsprache hinreichend zu würdigen (vgl. Hildner [1992], 6).
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gebrauchen, auf ihn seine Kraft wendet und ihn führt und ihn gemäß seiner Form als Werkzeug arbeiten lässt und gemäß seiner Eigenschaften und Eigenart; und wenn dies der Fall ist, ist das Werkzeug wie ein anderer lebendiger Meister, weil der Meister in ihm lebt und ihm, so weit wie möglich, die Kraft seiner Kunst mitteilt, so legt Christus, nachdem er uns in Seiner Gnade auf eine Weise gebildet und geordnet hat, dass die Ähnlichkeit mit Ihm sich erfüllt, Seine Hand auf uns und gibt uns Seine arbeitende Kraft ein; […].30
Wie Platon im Phaidros (253b) den Ausdruck rhythmizein aus einem ästhetischen Zusammenhang auf die Erziehung und somit auf die Ethik überträgt,31 reicht auch der numerus bei Fray Luis aus der Poetik der Vernakularsprache in die theologische Analyse der Schöpfung. Aus den immer wieder um das Bild von Gott als harmonisch gestaltendem Handwerker kreisenden Passagen wird deutlich, dass das Wortfeld der Harmonie nicht einfach allegorisch gelesen werden kann: Die damit verbundenen Vergleiche führen durch eine reale Übertragung und nicht nur durch einen trügerischen Doppelsinn von der spanischsprachigen Prosa zur Weisheit Gottes, vom Bescheidensten zum Erhabensten. Dies ist keine Häresie, sondern steht in Zusammenhang mit dem Gedanken der Nachfolge Christi. Wie bereits Hildner beobachtet, findet sich ein entsprechendes Gefälle schon in De los nombres de Cristo als Unterschied des aktuellen unvollkommenen Zustands der Welt und der Offenbarung der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus.32 Diese Übertragung beruht auf der Vorstellung vom Menschen als Mikrokosmos, der das Verhältnis von Gott und Welt in seinem Leib darstellt. Dies könnte geradezu häretische Ausmaße annehmen, wenn jedes menschliche Wesen mit vollkommenem Wirken seinem Schöpfer ebenbürtig würde: Fray Luis unterstreicht also, dass dieses Wirken nur in Einheit mit Gott gelingt.33 Gerade in den lyrischen Texten wird jedoch, wie ich etwas später zeigen möchte, die Aufwertung des Spanischen – also einer ursprünglich mangelhaften Sprache – durch den Diskurs des Dichters zu einem Problem. Zusammenfassend gesagt: Der Topos von Gott als Meister lässt die menschliche Rhetorik, die Kunst der guten Rede, als Ebenbild der göttlichen Harmonie _____________ 30 »Y como el artífice que, como alguna vez acontece, primero hace de la materia que le conviene lo que le ha de ser instrumento en su arte, figurándolo en la manera que debe para el fin que pretende, y después, cuando lo toma en la mano, queriendo usar dél, le aplica su fuerza y le menea, y le hace que obre conforme a la forma de instrumento que tiene y conforme a su cualidad y manera; y en cuanto está así el instrumento es como un otro artífice vivo, porqué el artífice vive en él y le comunica, cuanto es posible, la virtud de su arte, así Cristo, después que con la gracia, semejanza suya, nos figura y concierta en la manera que cumple, aplica su mano a nosotros, y lanza en nosotros su virtud obradora; [...].« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 289–290; vgl. 289, Anm. 15, wo auf den Topos deus artifex hingewiesen wird). 31 Vgl. Helgeson (2001), 22; vgl. Platon, Phèdre, übers. u. hg. v. Claude Moreschini/Paul Vicaire, Paris 1998, 47. 32 Vgl. Hildner (1992), 39. 33 Vgl. Hildner (1992), 39–40.
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erscheinen. Ähnliches gilt – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – für die moralische Integrität der an sich selbst arbeitenden verheirateten Frau. 3.3 Das göttliche Feuer und das wohltemperierte Eheleben Ich komme zum zweiten Argument: Die Rede vom deus artifex bildet die relevante Verknüpfung zwischen De los nombres de Cristo und La perfecta casada – auch in dieser Hinsicht ist der Topos kein episodisches Phänomen, sondern bringt gewissermaßen den Text in seiner aktuellen Publikationsform hervor. Die perfekte Ehefrau kann und soll mit ihrem Mann – trotz allem Unterschied der Geschlechter – ein harmonisches Ganzes bilden: Und aus so unterschiedlichen Neigungen schuf er mit wunderbarer Kunst, und wie es in der Musik mit verschiedenen Saiten geschieht, eine sinnvolle und süße Harmonie; auf dass die Frau das Haus besorge, wenn der Mann im Feld ist und dass der eine hüte, was der andere erntet.34
Das ist natürlich eine Paraphrase von Platons Gastmahl (187a–c), wo es heißt, mit Mann und Frau ließe sich, wie in der Musik, eine Harmonie aus gegensätzlichen Elementen herstellen.35 Von dieser irdischen, in der Liebe verwirklichten Harmonie, die Fray Luis hier in den Bereich des spanischen Landlebens überträgt, führt bei den Neuplatonikern ein allmählicher Aufstieg zu den höheren Formen des Zusammenstimmens von Gegensätzlichem: der irdischen Musik und der himmlischen Musik, welche mit ihren Akkorden die in einer göttlichen Einheit aufgehobene Musik widerspiegeln.36 Für das Werk von Fray Luis haben John Alan Jones und Daniel Nahson auf die starke Rekurrenz von Ausdrücken künstlerischer – sei es musikalischer oder bildender –, also sinnlich zugänglicher Harmonie hingewiesen, etwa im Wortfeld der »proporción«, »concierto«, »ánimo concertado«, »buen concierto del alma« und – als Gegensatz – »disonancia«, »discordia«, »desconcierto«, »desatino«.37 In der Ode an Francisco Salinas wird die Vorstellung von der irdischen Musik als Mittel des Aufstiegs zu himmlischen Sphären ausformuliert: Die Seele durchquert die gesamte Luft bis sie zur höchsten Sphäre gelangt
_____________ 34 »Y de inclinaciones tan diferentes, con arte maravillosa, y como se hace en la música con diversas cuerdas, hizo una provechosa y dulce armonía para que, cuando el marido estuviese en el campo, la mujer asista a la casa, y conserve y endure el uno lo que el otro cogiere.« (Fray Luis de León, La perfecta casada, 93). 35 Vgl. Platon, Le banquet, übers. u. hg. v. Paul Vicaire, Paris 1989, 25–26. 36 Vgl. Helgeson (2001), 24. 37 Vgl. Jones (1996); Nahson (2006), 53.
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und hört dort eine andere Art unvergänglicher Musik, welche von allen der Ursprung und die erste ist.38
Gegen die neuplatonische Einfärbung, welche La perfecta casada mit den Oden verbindet, steht allerdings die Betonung bäuerlich-konservativer Geschlechterverhältnisse, welche sich meilenweit von der Feier der höfischen Frau entfernt. In seinen enkomiastischen Texten lobt der Dichter die schöne Frau als Himmelsgabe, die zum Schönsten Gut führe.39 In seinem Vademecum geht Fray Luis hingegen so weit, der kulturell raffinierten Dame zu empfehlen, dass sie sich zu ihrer Vollendung als Ehefrau an dem einfachen Landmädchen orientieren solle. Diese Umkehr hängt nicht nur mit dem Gattungswechsel von enkomiastischer Lyrik zu paränetischer Prosa, sondern auch mit dem grundsätzlichen Fortbestehen eines klösterlich-mystischen Weltbilds zusammen. Erst aus dem Zusammenhang mit der umfangreichen Abhandlung De los nombres de Cristo wird jedoch verständlich, wie die irdische Ehe vor dem Ideal einer geistlichen Vermählung mit Christus bestehen kann. Zunächst setzt das Kapitel »Esposo« eine scharfe Trennung zwischen der beschränkten Harmonie von Mann und Frau einerseits, die ihren jeweiligen humores und »inclinaciones diversos« unterworfen sind, und der geistlichen Ehe andererseits, deren Vollendung nicht von der Verschiedenheit der Körper abhängt.40 Ganz wie Teresa de Jesús nimmt Fray Luis hier zunächst einmal die thomistische Vorstellung von der unvollkommenen Teilhabe an der Vollkommenheit auf: Die menschliche Ehe kann nur ein unvollkommener Teil der Vereinigung Christi mit der Kirche, also den Seelen der Gerechten sein. In der Summa contra gentiles wird schon das Bild der Sonne gebraucht, um die vollkommene perfectio Gottes von der partiellen Vollkommenheit der Welt abzugrenzen.41 Fray Luis nutzt das gleiche Bild, um die Differenz zwischen der geistlichen Ehe und der Vereinigung von Mann und Frau zu unterstreichen. Im Vergleich zur sonnengleichen Wärme der Vereinigung mit Christus sei irdische Liebe »frialdad y tibieza pura« – reine Kälte und Lauheit.42 Bleibt der Leser bei diesem Abschnitt stehen, so muss La perfecta casada als eine strenge Ermahnung erscheinen, die »Vollkommenheit« nur in einem sehr schwachen Sinn, und zwar vor allem als Unterwerfung unter das Gesetz Gottes – gewissermaßen wie bei einem Stein – einfordert. _____________ 38 »Traspasa el aire todo/hasta llegar a la más alta esfera/y oye allí otro modo/de no perecedera/música, que es la fuente y la primera.« (»A Francisco de Salinas«, V. 16–20). 39 Die latinisierende politische Gelegenheitsdichtung, etwa »Profecía del Tajo« (in: Fray Luis de León, Poesía, hg. v. Antonio Ramajo Caño, Barcelona 2006, 45–50), unterstreicht die täuschende Schönheit, andere Gelegenheitsdichtung, insbesondere Frauen gewidmete Panegyrik, schlägt hingegen ein neuplatonisches Lob des Schönen an, der Himmelsgabe, die zum Höchsten Gut führe; letzteres ist in den Gedichten »De la Magdalena« und in der »Canción al nacimiento de la hija del marqués de Alcañices« der Fall (vgl. Guy [1984], 64–66; vgl. Poesía, 36–44 und 27–32). 40 Vgl. Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 288. 41 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, lib. 1, cap. 29 n. 2. 42 Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 288.
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Aber gerade im Zusammenhang mit De los nombres de Cristo wird deutlich, dass das Leben der verheirateten Frau auch in ganz anderer Hinsicht beispielhaft sein kann. Als Beispiel für »deleyte«, darauf hat David Hildner hingewiesen, wird im Kapitel »Esposo« nicht das Leben der Eremiten und Märtyrer, sondern ausgerechnet das der Eheleute aus dem Hohelied angeführt, die sich nicht der Askese widmen. Dass die Veranschaulichung der inneren Freuden ausgerechnet mithilfe der äußeren Freuden geschieht, stellt für Fray Luis kein Problem dar. Das Hohelied bietet ihm ein universelles, für alle Menschen – nicht nur den Mystikern und Geistlichen – verständliches Bild des Verhältnisses von Mensch und Gott.43 David Hildner schreibt also scheinbare Paradoxien der kommunikativen Absicht des Theologen zu, der ein möglichst allgemeingültiges Bild von Vollkommenheit bieten will und dazu nicht auf die Welt der Klöster beschränkt bleiben kann. Der mystisch-monastische Camino de perfección reicht, anders als bei Teresa de Jesús, aufgrund des rekurrenten Bildes von Gott als Meister weit in das aktive Leben und bis in die weltliche Ehe hinein.44 Die weiter oben zitierte Passage stammt aus dem Zusammenhang dieses Kapitels über die Ehe: Der Mensch ist als Ebenbild seines Schöpfers nicht mit dem Stein, sondern mit dem Werkzeug zu vergleichen, das in der Hand Gottes tätig zu harmonischer Schöpfung fähig ist. Auch die Aussicht auf Vollkommenheit wird im Rahmen dieses Topos bestärkt. Entscheidend scheint mir die Betonung der Bewegung und der allmählichen Verfertigung – Konzepte, die Fray Luis schon in seinem Hohelied-Kommentar gebraucht, um eine übergeschlechtliche, Mann und Frau verbindende Schönheit zu charakterisieren: Sowohl weil die Schönheit nicht nur in der äußerlichen Zurschaustellung der schönen Proportion der Gesichtszüge und der ausgesuchten Tönung natürlicher Farben liegt, sondern ihren Sitz hauptsächlich in der Seele hat, als auch weil dieser Teil der Schönheit der Seele Anmut heißt und sich nach außen hin zeigt und sich zu verstehen gibt in den Bewegungen derselben Seele, wie etwa Schauen, Sprechen, Lachen, Singen, Schreiten und anderem, welche alle in der toskanischen Sprache atti heißen, so dass ohne eine solche Schönheit die andere des Körpers eine Kälte ohne Salz und Anmut ist und weniger der Liebe würdig ist als ein Bild […].45
_____________ 43 Vgl. Hildner (1992), 68. 44 Diese These hat am deutlichsten Antonio Sánchez Zamarreño in einem kurzen Beitrag vertreten. Er geht sogar so weit, in La perfecta casada eine Aufwertung des weltlichen Lebens gegenüber dem geistlichen zu sehen. Wenn im Ehestand Vollkommenheit möglich sei, dann werde das säkulare Leben in seinen Heilsaussichten als »oficio« geradezu dem geistlichen Stand gleichgesetzt (vgl. Sánchez Zamarreño [1991], 19; der Ausdruck »oficio« findet sich an zentraler Stelle in Fray Luis de León, La perfecta casada, 87). 45 »Y porque a belleza está no solamente asentada en la exterior muestra de la buena proporción de facciones y escogida pintura de naturales colores, mas también y principalmente tiene su silla en el ánima, y porque esta parte de la hermosura del ánima se llama gracia, y se muestra de fuera y se da a entender en los movimientos de la misma ánima, como son mirar, hablar, reír, cantar, andar y demás, los cuales todos en lengua toscana generalmente se llaman atti, de tal manera que sin esta belleza la otra del cuerpo es una frialdad sin sal y sin gracia, y menos digna de ser
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Die seelische Schönheit, welche letztlich die einzig wahre Anmut sei, zeige sich erst in Äußerungen, ohne welche der Körper nur ein leeres Abbild sei. Harmonische Performanz bringt die Körper von Mann und Frau in unmittelbare Nähe zum vollkommenen Körper Christi und vereinfacht eine literale Lesart des Hohelieds: An der so kommentierten Stelle lobt die Ehefrau den Ehemann, der seinerseits ihre Anmut gepriesen hat, in harmonischer Erwiderung. Auch wenn Schönheit als Argument in den späteren Schriften Fray Luis’ zurückgedrängt wird, behält der Topos deus artifex im semantischen Spiel von gracia seine buchstäbliche Bedeutung: Die »gracia« im Sinn der inneren Anmut ist ein Spiegel der »gracia« im Sinn der göttlichen Arbeit am Menschen. Die »Wiederherstellung einer Ordnung«, mit der sich die Schöpfung erlösen lässt, wie Alcántara Mejía formuliert, bleibt zwar in De los nombres de Cristo das Ziel des Augustinermönchs.46 Aber diese Ordnung beschränkt sich nicht auf die statische Teilhabe an einer überirdischen Weisheit, wie bei Thomas, sondern umfasst die Aufgabe der allmählichen ästhetischen Vervollkommnung, die in zahlreichen Handwerks- und Kunstmetaphern aus dem Lob der Vollendung Christi bis zum Lob der perfekten Ehefrau reicht.47 Der Hinweis auf die toskanische Sprache wirkt in diesem Zusammenhang, in dem die Vernakularsprache nicht viel Autorität beanspruchen kann, wie ein impliziter Hinweis auf die Ästhetik der italienischen Renaissance. Es stellt sich abschließend die Frage, inwieweit die Schönheit, auf welche der spanische Mönch verweist, auch auf die petrarkistische Lyrik verweist, auf welche Fray Luis in seiner Dichtung explizit Bezug nimmt. Das Lob des Stils steht in einem Spannungsverhältnis, das sich aus zwei unterschiedlichen Zielen ergibt: der neuplatonisch getönten imitatio göttlichen Schöpfertums und dem intertextuellen Bezug auf das Modell Petrarcas, welcher in der Lyrik in den Vordergrund tritt.48 Gerade diese Intertextualität bezeichnet jedoch die Grenze, an welcher der Topos deus artifex nicht mehr zur Legitimation künstlerisch hergestellter Harmonie dienen kann.
_____________ amada que lo es una imagen […].« (Fray Luis de León, Exposición del Cantar de los Cantares de Salomón, I, V. 15; 95–96). 46 Alcántara Mejía (2002), 151. 47 Auf diese Weise bereitet Fray Luis die von Küpper beschriebene Diskurs-Renovatio vor; vgl. Küpper (1990). 48 Wie Jones zeigt, ist Intertextualität als »sincretismo y eclecticismo« auch in den theologischen Schriften präsent, ordnet sich hier aber eindeutig den beiden Formen einer aktiven und kontemplativen imitatio unter (vgl. Jones [1996], 416–417). Die beiden Konzepte in dieser Gegenüberstellung übernehme ich von Warning (1997).
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4. Die Schönheit der Prosa gegen die Schönheit der Lyrik 4.1 Die imitatio des göttlichen Meisters Auch wenn die weltliche Ehe nicht mit der geistlichen zu vergleichen ist, kann sie ein anschauliches Bild dieses höheren Zusammenhangs bieten und wird dadurch mit dem harmonischen Schreiben vergleichbar. Der Topos deus artifex verknüpft also nicht nur das göttliche Werk mit dem damit im Einklang stehenden Schreiben, sondern sogar die an sich arbeitende Ehefrau mit dem Schriftsteller, der die ungefügige spanische Prosa zu harmonisieren versucht. So finden sich in La perfecta casada kunsttheoretische Elemente besonders an denjenigen Stellen, welche die Rolle der Ehefrau mit Sympathie betrachten. Denn, wie oben gesagt, dies alles, was hier berichtet wird, ist wie ein Porträt oder Gemälde anzufertigen, bei dem der Maler nicht die Bildtafel herstellt, sondern auf der Tafel, die ihm geboten und gegeben wird, die Umrisse aufträgt und dann die Farben einfügt und die Lichter an ihren Orten hebt und am gemäßen Ort die Schatten senkt und so die Figur zur nötigen Vollkommenheit bringt. Und auf die gleiche Weise fügt Gott der Ehrbarkeit der Frau, welche wie eine Tafel ist, […] reiche Farben der Tugend hinzu, all jene, die notwendig sind, um ein so schönes Gemälde zu vollenden.49
Gott leistet also als deus artifex seinen eigenen Beitrag zur Vervollkommnung der ehrbaren Ehefrau, welche wie das Material seiner Kunst ist. Und die Harmonie ihrer Schilderung durch den Autor bietet ein Echo ihrer harmonischen Gestaltung durch Gott.50 Aber der Topos der meisterlichen Vollkommenheit stellt die Ehefrau auch in Bezug zum Dichter selbst. Der Topos deus artifex lässt alle Stellen, an denen von künstlerischer Meisterschaft die Rede ist, unter dem Aspekt der imitatio erscheinen. Was in der bereits diskutierten Vorrede zu De los nombres de Cristo für die Arbeit an der Prosa beansprucht wird, gilt in dem neuen Zusammenhang auch für die Arbeit der Ehefrau an sich selbst. Diesmal ist es also nicht der Dichter in Vernakularsprache, sondern die Ehefrau, auf welche der Topos deus artifex übertragen wird. Die Ehefrau, die sich zur Vollendung bringen kann, ist mit dem Bildhauer zu vergleichen, welcher den harten Widerstand der Materie überwindet: Und so wie wir, wenn wir eine vollkommen gemeißelte Figur aus einem harten Stoff sehen, der weder dem Eisen noch der Kunst nachgibt, sagen und erkennen, dass der Handwerker, der sie schuf, in seinem Beruf überaus vollkommen war und mit der Überlegenheit seines Handwerks die ungefügige Härte des harten Gegenstands
_____________ 49 »Porque, como arriba dijimos, esto todo que aquí se refiere es como hacer un retrato o pintura, adonde el pintor no hace la tabla, sino en la tabla que le ofrecen y dan, pone él los perfiles y induce después los colores, y levantando en sus lugares las luces, y abajando las sombras donde conviene, trae a debida perfectión su figura. Y por la misma manera, Dios, en la honestidad de la mujer, que es como la tabla […] añade ricas colores de virtud, todas aquellas que para acabar una tan hermosa pintura son necesarias.« (Fray Luis de León, La perfecta casada, 90) 50 Vgl. Jones (1996), 417.
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bezwang; so, und aus dem gleichen Grund, ist es ein deutliches Zeichen einer Fülle von seltenster und geradezu heroischer Tugend, wenn eine Frau ihrer Pflicht in allen Wechselfällen und Schwierigkeiten des Lebens gerecht werden kann, obwohl sie von sich aus so schwach ist.51
Diese Stelle scheint mir ein Echo des Topos, der in der zuvor zitierten Passage gebraucht wird. Die Ehefrau agiert, wenn sie ihre Vollkommenheit anstrebt, als Werkzeug Gottes in Nachahmung des vollkommenen Meisters. Fray Luis deutet mit dieser neuen Veranschaulichung aus dem Bereich der schönen Künste eine Analogie an, die ihn selbst als Autor in Vernakularsprache mit der Frau, die sich in der weltlichen Ehe befindet, verbindet: So wie der Schriftsteller die widerständige spanische Prosa einem rhythmischen Maß unterwerfen muss, so kämpft auch die Frau mit ihrem »harten« Leib. Auch wenn solche Passagen zunächst wie eine Abwertung des Weiblichen wirken, werden sie in einen Gesamtzusammenhang eingebettet, aus welchem die Sympathie des Schreibenden mit der Ehefrau hervorgeht.52 Neben die Analogie zwischen dem Schreiben in volkssprachlicher Prosa und dem weltlichen, bäuerlichen Leben tritt eine Würdigung der Heirat als buchstäbliche Veranschaulichung der geistlichen Ehe. Hier lässt sich ein mögliches Echo und eine rückwirkende Rechtfertigung des literalen Hoheliedkommentars sehen: Das Ziel der Vereinigung mit Christus beschränkt sich nicht auf den göttlichen Logos. Eine Harmonie von Leib und Seele führt bis zum Gipfel der Schöpfung, dem Leib Christi: De los nombres de Cristo gebraucht für das Verhältnis von Leib und Seele das Bild des Goldschmieds, der Stein und Metall zueinanderfügt: Und so wie der Handwerker, der irgendeinen Edelstein in Gold fasst, ihn an seine Fassung anpasst, so bearbeitet auch Gott die Gemüter und die Leiber so, dass sie zueinander passen, und schließt weder, noch fasst, noch knüpft in einen harten und zu jeglichem Werk untauglichen Leib eine tugendhafte und dazu sehr taugliche Seele, sondern stellt sie passend zusammen, da Er sie vermählt, und richtet es so ein, dass sie in Frieden leben können, weil Er möchte, dass sie gemeinsam leben.53
_____________ 51 »Y como cuando en una materia dura y que no se rinde al hierro ni al arte, vemos una figura perfectamente esculpida, decimos y conocemos que era perfecto y extremado en su oficio el artífice que la hizo, y que con la ventaja de su artificio venció la dureza no domable del sujeto duro; así y por la misma manera, el mostrarse una mujer la que debe, entre tantas ocasiones y dificultades de vida, siendo de suyo tan flaca, es clara señal de un caudal de virtud rarísima y casi heroica.« (Fray Luis de León, La perfecta casada, 87). 52 Schon Melveena McKendrick sieht in Fray Luis einen edlen Verteidiger der Frau (vgl. McKendrick [1974]); und Sánchez Zamarreño nimmt Bezug auf Quintilian, um zu erklären, die »schwache« Natur der Frau sei nur deswegen betont, um ihre Fähigkeit zur Verbesserung hervorzustreichen. Das Lob werde laut der Institutio oratoria größer, wenn man es nicht auf natürliche Gaben, sondern auf Anstrengung zurückführt. (vgl. Sánchez Zamarreño [1991], 19). 53 »Y como el artífice que encierra en oro alguna piedra preciosa la conforma a su engaste, ansí Dios labra las ánimas y los cuerpos de manera que sean conformes, y no encierra ni engasta ni enlaza en un cuerpo duro y que no puede ser reducido a alguna obra, una ánima muy virtuosa y muy eficaz para ella, sino, pues los casa, aparéalos, y, pues quiere que vivan juntos, ordena cómo vivan en paz.« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 410).
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Wenn Gott als deus artifex in seinem eigenen Sohn das vollkommene Werk geschaffen hat, so schließt dies nicht aus, dass er in gleicher Weise auch, wie wir gerade gesehen haben, an der Vervollkommnung der Ehefrau arbeitet. Das Diptychon von De los nombres de Cristo und La perfecta casada spannt somit die ganze Weite der menschlichen Heilsmöglichkeiten auf: einerseits die vollendete Harmonie von Materie und Form im Körper Christi, andererseits die Aussicht auf Vollendung in dem ›schwächsten‹ Glied der Kette, der Frau. Um diese Aussicht auf Nachfolge zu unterstreichen, werden also zahlreiche Korrespondenzen um den Topos deus artifex herum aufgebaut. Diese Korrespondenzen kann ich hier nur andeutungsweise darstellen; die Frage, wie theologische Qualitäten bei Fray Luis in ethische Forderungen übersetzt werden, erfordert eine eigene Untersuchung. Christus wird im Kapitel »Cordero« – also »Lamm Gottes« – als vollkommener Körper eingeführt, der seiner vollkommenen Seele entspricht: Und wie Sein Körper ein von Natur aus zu allem Guten bereites und taugliches Ding war, so strebte auch Seine Seele aufgrund der natürlichen Vollkommenheit und Kraft, die sie hatte, immer nach allem Ausgezeichneten und Vollkommenen.54
Diese Vollkommenheit besteht nun aber nicht in Virilität: Christus hat nicht den Körper eines Bauern oder Kriegers, so wie er in La perfecta casada als Inbegriff der Männlichkeit dargestellt wird, sondern umfasst nun auch Eigenschaften, welche der Frau in dem gemeinsam damit veröffentlichten Werk empfohlen werden: Und so wie jener Körper von sich aus keusch und auf Reinheit und Sauberkeit gestimmt war, so war auch die Seele, die für ihn geschaffen wurde, in ihrem Eigensten stets auf das Rechte aus. Und so wie der Bau Seines Körpers auf Sanftmut angelegt war, so war die Seele von ihrer eigenen Konstitution her sanft und demütig.55
Anmut und Demut, so wird in dieser Überlagerung beider Texte deutlich, sind Eigenschaften, die der Frau auch in der Ehe eine Nachfolge Christi – also eine Annäherung an das geistliche Leben – gestatten. Diese Nachfolge nimmt nun die Gestalt einer besonderen Schönheit und eines besonderen »concierto« an: Aber da die Schönheit aus zwei Dingen besteht, dem einen, das wir gute Proportion der Gestalt nennen, und dem anderen, welches Sauberkeit und Pflege ist. […] Und der saubere und wohl zurechtgemachte Körper ist, obgleich er nicht zu den Tugenden des
_____________ 54 »Y como su cuerpo estaba dispuesto, y fue sujeto naturalmente apto para todo valor, ansí su alma, por la natural perfeción y rigor que tenía, aspiró siempre a todo lo excelente y perfecto.« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 411). 55 »Y como aquel cuerpo era de suyo honestísimo y templado de pureza y limpieza, ansí el alma que se crió para él era de su cosecha esforzada a lo honesto. Y como la compostura del cuerpo era para mansedumbre dispuesta, ansí la alma de su misma hechura era mansa y humilde.« (Fray Luis de León, De los nombres de Cristo, 411).
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Geistes gehört, doch ihre Frucht und bedeutendes Anzeichen der Sauberkeit und der guten Ordnung, die in der Seele herrscht.56
Aus der Makrostruktur der Publikation ergibt sich also der Eindruck, dass die Vollkommenheit von Gottes Werk sich nicht auf die transzendente perfectio oder auf die Teilhabe eines rein geistlichen Lebens daran beschränken lässt.57 Sie durchdringt vielmehr alle Seinsbereiche; vom höchsten Menschen, Jesus Christus, bis zum buchstäblich niedrigsten Wesen, der einfachen Bauersfrau – einem Wesen »de vileza y poco ser«, also »einem schlechten und minderwertigen« Wesen, wie es an anderer Stelle heißt58 –, ist Vollendung als Harmonie möglich. Die Veröffentlichung Fray Luis’ mit ihrem Akkord zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten macht sich zum Bild dieser Harmonie, die aus dem Übereinstimmen verschiedener Saiten der Schöpfung besteht. Das Ehemotiv des Hohelieds teilt sich harmonisch auf in einen christologischen und einen ethischen Aspekt. Zur Proportion gehört auch, dass das Wichtigste und Höchste – also die Namen Christi – im Buch entscheidend mehr Raum einnehmen als La perfecta casada, »Die vollkommene Ehefrau«, welche auch im Titel der Veröffentlichung nur ganz klein erscheint. Nicht nur in der Mikrostruktur strebt das Schreiben Fray Luis’ der Harmonie des Gotteswerks nach, sondern auch in dem, was Werk oder Buch heißen kann, also in der Makrostruktur. Auf beides, wie ich in den beiden Teilen meiner Argumentation vorgestellt habe, führt der Topos von Gott als Handwerker hin, der mehr als einen Gemeinplatz zur allegorischen Veranschaulichung theologischer Wahrheit darstellt: Vielmehr begründet er, weshalb und auf welche Weise Vollendung in der Schöpfung und im anschaulichen Werk gesucht werden kann. 4.2 Intertextualität zu Petrarca Während sich in den theologischen Schriften um den Topos deus artifex eine positive Wertung der anschaulichen Vollkommenheit als Nachfolge Christi, des vollkommenen Menschen, abzeichnet, tritt diese imitatio in den lyrischen Texten hinter den intertextuellen Bezügen zurück. Dadurch muss der Stil jedoch wieder abgewertet werden, weltliche Meisterschaft, auch die eines Meisters wie Petrarca, kann, im Vergleich zum Werk des göttlichen Meisters, keinen gültigen Bezugspunkt bieten. So kommt es, dass die bescheidene Schönheit der Ehefrau ein _____________ 56 »Mas como la hermosura consista en dos cosas, la una que llamamos buena proporción de figuras, y la otra que es limpieza y aseo, […] aunque no es de las virtudes que ornan el ánimo, es fructo dellas e indicio grande de la limpieza y buen concierto que hay en el alma, el cuerpo limpio y bien aseado.« (Fray Luis de León, La perfecta casada, 168). 57 Das neue Schönheitskonzept, das mit dieser Passage formuliert wird, hat López Gajate mit der Malerei der italienischen Renaissance in Zusammenhang gebracht; mir scheint es eher – über die entsprechenden Stellen aus De los nombres de Cristo – auf körperliche Reinheit als monastisches Distinktionsmerkmal zu verweisen (vgl. López Gajate [1996], 161). 58 Fray Luis de León, Exposición del libro de Job, Kap. XIV, V. 1; 251.
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verhaltenes Echo der neuplatonischen Ideen von De los nombres de Cristo bietet, während die petrarkistische Geliebte in Fray Luis’ Lyrik als Inbegriff der weltlichen Verderbnis gilt. Neben dem Gedanken der Teilhabe der Dichtung am göttlichen Sein steht seit der Antike die Nachahmung von Vorbildern, die sich etwa als Stil- oder Formmuster an die Stelle einer metaphysischen Legitimation der Kunst stellen.59 Rainer Warning hat das Zusammenwirken und Auseinanderstreben dieser beiden Kategorien der imitatio – also der Nachahmung von Sein – und der Intertextualität – also der Nachahmung von Texten – an der Liebeslyrik der Renaissance analysiert. Es handelt sich dabei um so allgemeine Kategorien der Rede, dass sie sich auch auf das Verständnis von Topoi insgesamt anwenden lassen. Gerade im Fall von Fray Luis ist es aufschlussreich, die Thematisierung des Stils als Harmonie in den theologischen Schriften mit derjenigen seiner Lyrik zu kontrastieren. Ich möchte dies an einem weniger bekannten Text tun, welcher eine explizite imitatio des 323. Gedichts des Canzoniere versucht und sich damit in ein intertextuelles Verhältnis zu Petrarcas Dichtung begibt: »A imitación de Petrarca«60. In der Literatur zu Fray Luis werden die lyrischen Texte häufig den ›orthodoxen‹ Prosaschriften entgegengestellt. So dienen insbesondere die Gedichte »De la vida del cielo« (»Alma región luciente«) und die Ode an Francisco Salinas, wie schon referiert, als Indizien eines Einflusses neuplatonischer Philosophie auf Fray Luis. Die scheinbare Feier der Harmonie in diesen Texten unterliegt aber einer Bedingung, die David Hildner in einem etwas anderen Zusammenhang herausgearbeitet hat: der Dialogisierung oder, wie ich sagen würde, der Intertextualität. Hildner kontrastiert den monologischen Diskurs der Prosaschriften mit den Gedichten, die einen Zwiespalt zwischen der Imagination der himmlischen Vollkommenheit und der Wahrnehmung irdischer und eigener Unvollkommenheit offenlegen.61 Der lyrische Text scheint also in der Lage, das »concierto« der Meinungen aus den theologischen Essays in eine Diskrepanz zu verwandeln, zu dialogisieren. Dies belegt etwa ein Vergleich von »Alma región luciente« mit der Paradiesvorstellung von Dantes Divina Commedia. Anders als in Dantes Text darf die Harmonie bei Fray Luis nicht vollkommen sein. Unvollkommenheiten müssen auf die Schutz- und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen hinweisen. Die Seelen sind also noch im Paradies einer Reinigung bedürftig, welche sie durch die Harmonie der Musik erfahren.62 Kann diese Aussage des Gedichts einerseits als Zitat neuplatonischer Kunsttheologie gelten, so ruft diese andererseits nur den Abgrund zwischen der _____________ 59 Vgl. Warning (1997), 106. 60 Fray Luis de León, »A imitación de Petrarca«, in: Fray Luis de León, Poesía, hg. v. Antonio Ramajo Caño, Barcelona 2006, 174–176. 61 Vgl. Hildner (1992), 8. 62 Vgl. Hildner (1992), 164–165.
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endlos perfektionierbaren Harmonie der Kunst und der Perfektion Gottes in Erinnerung. Dies hat allerdings auch zur Folge, dass die Aussage der Gedichte ›orthodoxer‹ ist als die kunsttheoretischen Veranschaulichungen der theologischen Prosa. Die lyrischen Texte unterstreichen gerade durch ihre intertextuellen Bezüge die Partialität der künstlerischen Vollendung. Der Topos deus artifex, der in der Prosa Fray Luis’ eine optimistische Rhetorik fördert, führt in den lyrischen Texten zu einer ständigen Irritation, die insbesondere das Konzept der Harmonie – »armonía« – sprengt. Die Funktion dieses Topos lässt sich auf zwei Ebenen verfolgen: in dem Thema vollendeter, aber trügerischer Schönheit und in der kunstvollen Rede des Dichters. Die »Imitación« übernimmt das Thema aus Petrarcas »Standomi un giorno solo alla fenestra« (Rerum Vulgarium Fragmenta CCCXXIII), ahmt allerdings nicht alle Teile seiner komplexen Allegorie nach. Die Kanzone kreist bekanntlich um den Verlust Lauras, welcher in sechs Bildern veranschaulicht wird: ein von Hunden gehetztes Wild (V. 4–12), ein Schiffbruch (V. 13–22), ein vom Blitz getroffener Lorbeerbaum (V. 25–36), ein Quell, der in einer Grotte versiegt (V. 37–48), ein verschwindender Phönix (V. 49–60) und eine Dame, die vom dichten Nebel verhüllt wird (V. 61–71).63 Fray Luis formt diese Folge so um, dass aus den wechselnden und klar voneinander abgesetzten Emblemen eine zusammenhängende Szenerie und beinahe eine kohärente Geschichte entsteht. Die Allegorie wird insbesondere durch den Ausschluss der phantastischen Elemente und der drastischen Schauplatzwechsel – des Vogels Phönix und des Schiffbruchs – auf einer buchstäblichen Ebene lesbar, welche an die Fahrten der Ritterromane,64 aber auch an das Hohelied erinnert, zu dem es beinahe einen Antitext bildet. Der Sprecher führt sich selbst als Helden ein, der eine Reihe von zusammenhängenden Räumen durchquert und in allen eine ähnliche Enttäuschung erlebt. Diese Reise wird auch zeitlich recht genau situiert: Der Tag war schon fortgeschritten, als das lyrische Ich sich am Eingang zu einer grünen Wiese befindet. Dieses erste Bild prägt das Paradigma, dem sich die folgenden anschließen werden: Es ist ein Lustort, und zwar ein Ort von überweltlicher Vollkommenheit. »Obra do se extremó naturaleza« (V. 8) – »Ein Werk, in dem die Natur sich selbst übertraf« – so nennt der Sprecher das, was er sieht. Und all das jemals auf der Welt Gesehene reicht ihm nicht zum Vergleich mit der »no vista belleza«, die sich ihm in diesem Garten eröffnet (V. 9). Das Thema der Trauer wird also von Anfang an auf den Topos deus artifex hin überstiegen, der schon in De los nombres de Cristo eine zentrale Rolle spielt: Das vollkommene Werk der Natur wirkt im Gedicht jedoch, anders als in der christologischen Abhandlung, nicht als harmonisches Ebenbild einer metaphysischen Vollkommenheit. Im Gegenteil _____________ 63 Francesco Petrarca, »Standomi un giorno solo alla fenestra«, in: Francesco Petrarca, Canzoniere, Bd. II, hg. v. Ugo Dotti, Rom 2004, 842–849. 64 Auf die Ähnlichkeit des verwunschenen Schlosses mit der Ritterepik weist schon der Kommentar in Poesía, 175, Anm. zu V. 14–26, hin.
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offenbart sie dem enttäuschten und traurigen Sprecher eine Unvollkommenheit, die seine Lust in unendliches Leid – »en pena infinita« – verwandelt (V. 13). Die Schönheit der Natur ist also nicht nur trügerisch, sondern auch verhängnisvoll. Beklagt wird in dieser Strophe nicht die Vergänglichkeit irdischer, sondern die idealer Schönheit; ja, sogar die Fragilität von Topoi wie dem Lustort, dem locus amoenus, der sich in sein Gegenteil verwandeln kann. Als ähnlich instabil erweisen sich die folgenden Bilder, in welche der Sprecher flüchtet. Der überreiche Palast gleicht keinem irdischen Bauwerk, durch seine Fenster schimmert ein unglaublicher Schatz und im Innern erklingt unerhört süße Musik – und trotz dieser »dulcísíma armonía« (V. 22) erweist sich das Schloss als verwunschen und das »paraíso« als harter Kerker (V. 26). Das Bild des verborgenen Quells, der Erquickung verspricht, aber in Wirklichkeit verdursten und verbrennen lässt, greift wieder ein Emblem von Petrarca auf, bleibt aber zugleich in dem Gesamtraum des Lustorts eingebettet, der durch einen Querverweis auf den »campo hermoso« – den »schönen Landstrich« – in Erinnerung gerufen wird (V. 32). Gleiches gilt für die Taube, welche sich aus einem zum Garten gehörigen, zahmen und bunten Vogel zu einem Raubvogel mausert, der den Sprecher zerfleischt und dann als Adler zum Himmel aufsteigt. Und auch die Dame mit königlichem Antlitz, die das Herz und Leben des Sprechers zunächst annimmt, um sich dann zornig abzuwenden, geht nicht gnädiger mit ihm um. Die Schlussverse äußern, wie bei Petrarca, den lebhaften Wunsch, dieses Leben zu beenden. Die Klage der vorhergehenden Strophen jedoch passt nicht mehr ganz zu diesem Schluss: Sie gehen, wie schon gesagt, über das Bewusstsein irdischer Vergänglichkeit hinaus und stellen die ideale Schönheit, die Möglichkeit jeder anschaulichen Vollendung, in Frage. Sehr deutlich, und auch klarer als in seinen Prosaschriften, wendet sich der Sprecher damit von einem neuplatonischen Verständnis des Topos deus artifex ab. Die Harmonie und Schönheit, auch in ihrer perfekten Form, führen nicht zu Gott, sondern in ein finsteres, unendliches Verließ. Es liegt geradezu verführerisch nahe, den Hinweis auf den Kerker mit dem Inquisitionsprozess und Gefängnisaufenthalt des Autors in Zusammenhang zu bringen, also zumindest eines der Bilder, in seiner buchstäblichen Bedeutung, autobiographisch zu lesen. Allerdings ist dies für den größten Teil des Gedichts nicht möglich. Wenn sich der Text insgesamt auf den Autor bezieht, so als Kommentar zu seiner Rede als »Imitación de Petrarca«. Auf dieser Ebene betrifft die Enttäuschung also das Werk Fray Luis’ als schöne Rede. Wenn die rhetorischen Topoi des vollkommen, überweltlich schönen Lustorts und der perfekten musikalischen Harmonie den Anspruch der Rede auf imitatio – auf Nachahmung des idealen Seins – abbilden, so wird dieser in jeder Strophe abgelehnt. Der Bezugspunkt der Topik kann also nicht die Idee der schönen Rede, sondern das Muster anderer diese Topoi verwendende Autoren wie Petrarca sein. Das lyrische Gedicht verabschiedet mit anderen Worten die imitatio zugunsten der Intertextualität. Die poetische Güte der eigenen Rede strahlt nicht weiter aus
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als bis an die Grenzen der Literatur – dieses pessimistische Fazit verleiht auch dem Todeswunsch, in dem das Gedicht gipfelt, eine zweite Bedeutung. Als Kommentar zur Rhetorik formuliert der Schluss als letztes Wort den Wunsch nach einem Ende weltlicher Rede. Auch wenn keiner der lyrischen Texte von Fray Luis diesen Zwiespalt so deutlich äußert wie »A imitación de Petrarca«, stehen doch alle in dem Zwiespalt, mit kunstvoller Rede die weltliche Kunst zu verabschieden. Der Topos deus artifex, welcher in seinen theologischen Schriften als glückliche Lösung dieses Konflikts dienen kann, ist hier machtlos. Mehr noch, er erhält eine privative Bedeutung, indem klar wird, dass auch eine ideale Schönheit und vollendete Kunst nur Verderben bringen kann, wenn sie nicht Gottes eigene Kunst und Schönheit ist. In poetologischer Hinsicht führt dies zu einer Inszenierung des Zwiespalts von imitatio und Intertextualität, also zu einer Dialogisierung; in theologischer Hinsicht bedeutet dies jedoch das Gegenteil: Die neuplatonischen Topoi und Allegorien, welche in den Prosaschriften zumindest erwogen werden, gelten in dem petrarkistischen Text nur noch als Täuschung.
Primärliteratur León, Fray Luis de, »A Francisco de Salinas«, in: Poesía, hg. v. Antonio Ramajo Caño, Barcelona 2006, 21–26. León, Fray Luis de, »A imitación de Petrarca«, in: Poesía, hg. v. Antonio Ramajo Caño, Barcelona 2006, 174–176. León, Fray Luis de, »De la vida del cielo«, in: Poesía, hg. v. Antonio Ramajo Caño, Barcelona 2006, 86–90. León, Fray Luis de, De los nombres de Cristo, hg. v. Javier San José Lera, Barcelona 2008. León, Fray Luis de, Exposición del Cantar de los Cantares de Salomón, in: Obras completas castellanas, Bd. I, hg. v. Félix García, 4. Aufl., Madrid 1967, 70–210. León, Fray Luis de, Exposición del libro de Job, in: Obras completas castellanas, Bd. II, hg. v. Félix García, 4. Aufl. Madrid 1967, 33–694. León, Fray Luis de, La perfecta casada, hg. v. Mercedes Etreros, Madrid 1987. León, Fray Luis de, Poesías completas, hg. v. Cristóbal Cuevas García, Madrid 2000. Petrarca, Francesco, »Standomi un giorno solo alla fenestra«, in: Canzoniere, Bd. II, hg. v. Ugo Dotti, Rom 2004, 842–849. Platon, Le banquet, übers. u. hg. v. Paul Vicaire, Paris 1989. Platon, Phèdre, übers. u. hg. v. Claude Moreschini/Paul Vicaire, Paris 1998. Teresa de Jesús, Camino de perfección, in: Obras completas, hg. v. Efren de la Madre de Dios/Otger Steggink, 9. Aufl. Madrid 1997, 233–419. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, in: www.corpusthomisticum.org, hg. v. Enrique Alarcón, Pamplona 2006.
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Transformation als Vervollkommnung in Antony and Cleopatra CLAUDIA OLK (Berlin) »Take pains, be perfect: adieu!« (M1D, 1, 2, 88). Mit diesem lakonischen Auftrag verabschiedet sich Bottom der Weber in Shakespeares Sommernachtstraum nach einer ersten Probe im Athener Wald von seinen Schauspielerkollegen. Wenngleich Bottoms Appell an die Schauspieler, ihre Darbietung von Pyramus und Thisbe zu perfektionieren, angesichts der bisher gezeigten Leistungen eher wie ein frommer Wunsch eines übereifrigen Selbstdarstellers wirkt, so schafft er zugleich ein Bewusstsein für die Distanz zwischen dem antiken Text und seiner schauspielerischen Realisierung auf der Bühne. Die schauspielerische Metamorphose der Metamorphose impliziert dabei die Möglichkeit, dass der Stoff Ovids das Potential zu seiner Vervollkommnung birgt. Bottom, dem bekanntlich selbst eine drastische, aber in ihrer intendierten Wirkung perfekt geglückte Transformation vom Menschen zum Esel und wieder zurück bevorsteht, ist nicht nur selbst Resultat der Metamorphose eines antiken Textes – William Adlingtons Übersetzung von Apuleius’ Asinus Aureus (The Golden Ass) –, sondern auch deren performativer Vollzug auf der Bühne.1 In seinem Vorwort betont somit auch Adlington den performativen Zweck seiner Übersetzung und stellt das verwandelnde Potential seines Textes heraus, der eine vervollkommnende Wirkung auf seine Leser ausüben soll. I purposed according to my slender knowledge […] to translate the same into our vulgar tongue, to the end that amongst so many sage and serious works (as every man well nigh endeavour daily to increase) there might be some fresh and pleasant matter to recreate the minds of the readers withal. […] I intend to […] open the meaning thereof to the simple and ignorant, whereby they […] by the pleasantness thereof be rather induced to the knowledge of their present estate, and thereby transform themselves into the right and perfect shape of man.2
Die physische Transformation des Apuleiischen Helden Lucius zum Esel soll mithin durch die moralische Perfektionierung der Leser ausgeglichen werden. _____________ 1
2
Apuleius’ lateinische Romanze wurde 1566 von William Adlington ins Englische übersetzt und war im 16. Jahrhundert weit verbreitet; siehe unten Anm. 6. Der Sommernachtstraum spielt in der Reaktion des Handwerkers Peter Quince auf den textgebundenen Status der Metamorphose an: »Bless thee, Bottom, bless thee! Thou art translated« (M1D, 3, 1, 105). »To the reader«, in: Apuleius/Adlington, Golden Ass, ix–x.
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Verwandlung, Transformation und Metamorphose sind nicht nur dramatische Gestaltungsprinzipien des Theaters, sondern sie konstituieren zugleich das Theater als einen Ort der Möglichkeit von Perfektion durch Transformation. Shakespeare ist ein Dichter und Dramatiker, der die philosophischtheologische Diskussion um das Vollkommene in ihrer antiken, spätantiken und christlichen Ausprägung kennt, und der, so möchte ich zeigen, das Paradigma des Vollkommenen in Abkehr von einer Metaphysik ästhetischer Perfektion als immanent ästhetische Figuration seiner Dramen reflektiert. Vollkommenheit verbindet sich bei Shakespeare in der Aufnahme antiker Stoffe mit dem Streben nach schauspielerischer Perfektion. So wird nicht nur Bottom mit den Mitteln des Theaters perfekt verwandelt, sondern z. B. auch Hamlet schöpft durch die überzeugende Darbietung der Hekuba durch einen der Schauspieler bei Hofe erneut Vertrauen in die transformierende Kraft des Theaters. Diese macht seinen Onkel Claudius zwar nicht zu einem besseren Menschen, bestätigt Hamlet, der die Reaktion Claudius’ auf den gespielten Königsmord beobachtet, jedoch in seinem Verdacht. Perfektion in der Rollenbeherrschung sowie der Bühnenwirkung sind Desiderate, denen sich das Theater in seinen Transformationsprozessen annähert, sie erreicht, an ihnen scheitert oder sie bewusst unterminiert. In seinen Ausführungen über »An Excellent Actor« stellt Shakespeares Zeitgenosse Sir Thomas Overbury den Schauspieler somit über den klassischen Redner, da jener den Text zugleich verkörpere und dadurch vervollkommne: Whatever is commendable in the grave orator is most exquisitely perfect in him [the excellent actor]: for by a full and significant action of body he charms our attention: sit in a full theatre and you will think you see so many lines drawn from the circumference of so many ears, while the actor is the center. […] for what we see him personate, we thinke truly done before us: a man of a deepe thought might apprehend, the Ghosts of our ancient Heroes walk’t againe and take him (at severall times) for many of them. […] He adds grace to the poet's labours: for what in the poet is but ditty, in him is both ditty and music.3
Schauspiel, wenn es überzeugend, d. h. perfekt beherrscht wird, bedeutet den Vollzug von Transformation. Diese erfasst nicht nur den Schauspieler selbst, sondern vor allem die Zuschauer, die durch seine Kunst ergriffen werden. Diese Transformation, die Overbury als besondere Leistung des Schauspielers würdigt, wird allerdings von Gegnern des Theaters als dessen größte Bedrohung empfunden. Weit mehr als die bloße Verstellung des Schauspielers oder die Darstellung von Unwahrheit ist es die transformierende Erfahrung des Theaters, die seine Gegner im 16. und 17. Jahrhundert auf den Plan rief, um gegen die moralische Korrumpierung des Publikums durch das Schauspiel zu polemisieren. Ihr verbreiteter Vorwurf war es, dass die dem Theater innewohnende Falschheit (hypocrisy) bei den Zuschauern Symptome von Krankheit auslöse und sie im schlimmsten Fall zur Imitation dessen, was auf der Bühne gezeigt wird, _____________ 3
Sir Thomas Overbury, »An Excellent Actor«, o. S.
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veranlasse.4 Wie lässt sich nun vor diesem skizzierten Hintergrund eine Vollkommenheit beschreiben, die im Kunstwerk gestiftet wird, und wie verhält sie sich zu den Transformationsprozessen des Theaters? Ich möchte dieser Frage am Beispiel von Shakespeares Drama Antony and Cleopatra nachgehen und zeigen, dass Vollkommenheit darin eine ästhetische und performative Kategorie bildet. Dazu gehe ich in drei Schritten vor und betrachte erstens Transformation als Strukturmerkmal des Stücks sowie dessen Reflektion der Vollkommenheit als Schauspiel. Zweitens untersuche ich die Dynamik der Vervollkommnung als dramaturgisches Prinzip des Stücks, das dessen immanente zirkuläre Bewegung der Grenzziehung und Grenzüberschreitung bestimmt, bevor ich drittens auf die Transformation des Endes eingehe, in der das Theater die Perfektion des Unvollkommenen in seiner spezifischen Medialität reflektiert.
1. Transformation und die Perfektion des Spiels in Antony and Cleopatra Wie kaum ein anderes der Dramen Shakespeares präsentiert Antony and Cleopatra Transformation als thematisches und strukturelles Prinzip. Wenngleich das Stück Kritiker wie Schauspieler stets gleichermaßen polarisierte,5 so zählte der von Plutarch überlieferte und von Thomas North übersetzte Stoff neben den Metamorphosen und der Aeneis zu den beliebtesten im elisabethanischen England.6 Zeitgenössische Dramatiker wie die Countess of Pembroke in ihrer The Tragedy of Antonie (1592), Robert Garnier in Marc Antoine (1578) und Samuel _____________ 4
5
6
In den zahlreichen Kontroversen über den moralischen Status des Schauspiels berufen sich Anhänger wie Antagonisten des Theaters auf die Antike, und so definiert z. B. Stephen Gosson in seinem Werk Plays Confuted in Five Actions das Theater formal anhand der Lehre von den vier Ursachen aus der Physik des Aristoteles (194d–195): die causa efficiens der Stücke sei schlichtweg der Teufel; die causa materialis die Schauspieler, die nicht das zeigen, was sie wirklich sind; die causa formalis der Gebrauch dramatischer Konventionen, um die Natur zu unterwerfen, und die causa finalis die Erzeugung eines Überflusses an übermächtigen Leidenschaften. Um das Theater gleichsam mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, verwendet er für sein Werk die Struktur von fünf Akten und fügt die Vereinigung der vier Ursachen als fünfte hinzu, um zu zeigen, dass sich alle vier gegenseitig verstärken; vgl. Gosson, Plays confuted in fiue actions. Jonas Barish untersucht die platonische Herkunft anti-theatralischer Positionen, vgl. Barish (1981). Über die bekannte Schauspielerin Mrs. Siddons wird z. B. berichtet, dass sie die Rolle der Cleopatra abgelehnt habe, da diese mit ihrem Selbstrespekt unvereinbar sei. Richard Madelaine resümiert die Gründe für das allgemeine Unbehagen der Viktorianer gegenüber der Figur: »one of the most tenacious notions among reviewers from at least 1825 until recent times is that an Englishwoman’s temperament is incompatible with Cleopatra’s nature« (Madelaine [1998], 3). Von 1557 bis 1573 erschienen allein fünf Ausgaben von The Golden Ass inklusive der Varianten, fünf größere Ausgaben der Aeneis und vier Ausgaben der Metamorphosen, vgl. Lathrop (1967).
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Daniel in The Tragedy of Cleopatra (1594) widmeten sich seiner Bearbeitung für das Theater. Shakespeares Antony and Cleopatra (ca. 1606) wie auch sein früheres Drama Julius Caesar (1599) präsentieren eine Antike, die selbst in Transformation begriffen ist, und fokussieren die Zeit zwischen der Auflösung der römischen Republik und der Entstehung des Imperiums. Während Julius Caesar räumlich auf die Stadt Rom konzentriert bleibt, so findet in Antony and Cleopatra eine Entgrenzung des Schauplatzes auf die gesamte zivilisierte Welt der Antike statt. Mehr noch als Julius Caesar nimmt Antony and Cleopatra die Diskrepanz zwischen der Präsenz Roms als konkret physischem Ort und seiner normativen Idealität in den Blick. Analog zu Griechenland und Troja in Troilus and Cressida erzeugt die Kontrastierung antithetischer Schauplätze in Antony and Cleopatra eine Welt der Bewegung und des Übergangs. Die Grundfigur des Dramas ist mithin eine der wechselseitigen Relativierung und Befragung. Rom und Alexandria stehen in einem dialektischen Verhältnis, in dem sie sich negieren und sich dadurch erst gegenseitig hervorbringen. Transformation ist dem Drama auf vielen Ebenen immanent. Als Übergang zwischen Bewegung und Stillstand ist sie strukturell in den Szenenwechseln präsent, die durch Cleopatras statisches Verbleiben vor Ort sowie die Reisebewegungen Antonys auf See geprägt sind. Während prominente Interpreten des Dramas von Dr. Johnson über G. B. Shaw bis hin zu A. C. Bradley die hohe Frequenz kurzer und scheinbar unverbundener Szenen als konzeptionelle Schwäche des Stückes werteten,7 so betrachtet die neuere Forschung die häufigen Wechsel zwischen den Schauplätzen als gezieltes Mittel, mit dem das Drama zeitgenössische Konventionen des aufkommenden Neoklassizismus unterläuft und seine Zuschauer zum Vollzug eines permanenten Standortwechsels bewegt: »the play seems perfectly calculated to offend the rising tide of neoclassical taste and to disappoint rational expectation«.8 Die dramatische Einheit von Antony and Cleopatra besteht in der Vielheit und dem häufigen Wechsel seiner Szenen. Die erst nachträglich vorgenommene Akt- und Szeneneinteilung beschreibt eine episodische Struktur in undulierender, rekursiver Bewegung des Ansteigens und Abfallens. Sich aufbauende und wieder verebbende Erwartungen verbinden sich mit den Geschicken der Hauptfiguren zwischen Aufbruch und Heimkehr, Abschied und Wiedersehen, Erfolg und Niederlage. Metamorphose und Rollenspiel sind Formen, in denen sich Antony und Cleopatra begegnen, sich selbst erfinden und versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen. Bereits Plutarch akzentuiert Antonys Hinwendung zum Schauspiel,9 wertet diese allerdings zugleich als Zeichen seiner Verschwendungs- und _____________ 7 8 9
Vgl. Bradley (1901), 282–283; Shaw (1927). Rackin (1972), 201. Vgl. Plutarch, Roman Lives, transl. by Robin Waterfield, Oxford 1999, 408. Alle Seitenangaben zu Plutarch beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Genusssucht. Neben Antonys Neigung zu Großzügigkeit und dionysischer Extravaganz berichtet er über seine manierierte Sprechweise und seine wirkungsbewusste Art sich zu kleiden. Antony spielt bei Plutarch wie auch bei Shakespeare eine Reihe konventioneller Rollen, wie die des epischen Helden in der Nachfolge des Herakles, die des leidenschaftlichen Liebhabers, des kalkulierenden Strategen und des stoischen Weisen. Wie Cleopatra, die ihre Audienzen bevorzugt im Gewand der Isis, Venus oder Aphrodite (393) abhält, findet er Gefallen an Verwandlung, Verkleidung (386) und Selbstinszenierung. Während die Alexandrier, so Plutarch, Antony wegen seiner Schauspielkünste schätzen (386), so fällt die römische Sicht auf Antonys Transformation auch bei Shakespeare entschieden skeptischer aus. Die Charakterisierung dieser Transformation Antonys durch Philo zu Beginn des Stückes: »the triple pillar of the world transformed/Into a strumpet’s fool« (1, 1, 12–13)10 beschreibt ein mahnendes Gegenbild zu dem für einen Weltherrscher angemessenen, maßvoll geführten Leben. Antony dagegen verkörpert vielmehr den Übergang vom virilen Veteranen zum dionysischen Hedonisten, dem Sinnesfreuden und hemmungslose Exzesse zum Verhängnis werden und der sich mit seiner Selbstverwirklichung abseits römischer Tugenden selbst zugrunde richtet. Philo bestätigt die von Plutarch geschilderte, aussichtslose Verfallenheit an die ägyptische Königin und beklagt, dass Antony, anstelle Selbstdisziplin zu üben, sich Cleopatra, die er als »Zigeunerin« und »Dirne« verunglimpft, unterworfen habe und sich damit mutwillig selbst zerstöre. Philos Aufforderung: »Behold and see« (1, 1, 13) enthält den doppelten Appell an die Zuschauer, einerseits seine Beschreibung als Augenzeugen dieser Transformation zu bestätigen und andererseits die Figur Antonys als Resultat schauspielerischen Könnens zu begutachten, dem das nahezu Unmögliche, »triple pillar of the world« und »strumpet’s fool« in seiner Rolle zu vereinen, gelingen muss.11 Das Stück bietet dem Publikum von Beginn an eine doppelte Perspektive an, die die Figuren sowohl durch ihre Handlungen und Dialoge wahrnehmen lässt als auch ein inhärentes Verständnis für die Distanz zwischen der Figur und ihrer Verkörperung durch den Schauspieler erzeugt. Nur durch die schauspielerische Kunst werden die Figuren auf der Bühne zu dem, was sie sind, und so wird auch Antonys Transformation nur durch die Rollenbeherrschung des Darstellers überzeugen.12 Antony und Cleopatra spielen mit- und füreinander große Rollen. Sie sind einander zudem das beste Publikum und lieben sich vor allem für ihre großartigen Auftritte.13 Für Antony und Cleopatra gibt es, anders als für Figuren wie Octavia _____________ 10 Shakespeare, William, Antony and Cleopatra, ed. by David Bevington, Cambridge 2005. Alle Versangaben zu Antony and Cleopatra beziehen sich auf diese Ausgabe. 11 Vgl. Goldman (1985), 120. 12 Vgl. Goldman (1985), 138. 13 Vgl. Adelman (1972), 138.
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oder Enobarbus, kein Mittelmaß.14 Sie lieben die Extreme und leben aus der Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, und notfalls darüber hinaus. Um Antony für seine Abwesenheit zu bestrafen, trägt Cleopatra z. B. ihrem Boten Alexas auf, Antony dadurch zu provozieren, dass er ihm je nach Gemütszustand, in dem er ihn vorfände, das genaue Gegenteil über ihre eigene Verfassung mitteilen möge: »If you find him sad,/Say I am dancing; if in mirth, report/That I am sudden sick. Quick, and return« (1, 3, 2–4). Cleopatra weiß um die Anziehungskraft von Gegensätzen und erprobt mit Vergnügen die manipulierende Wirkung ihres kapriziösen Verhaltens, das, wie auch Plutarch berichtet, um sein Ziel zu erreichen, weder vor moralischer Erpressung noch vor Melodramatik Halt macht: »She allowed her body to waste away on a meagre diet, looked ecstatic whenever he came near, and when he went away gave just a hint of forlorn sadness« (405). Ihre Selbstinszenierungen, in denen sie Ohnmacht fingiert (1, 3, 15), in einen Zornesrausch gerät oder sogar ihren Tod vortäuscht, bewegen sich am Rande des Histrionischen und bergen für die Schauspielerin das Risiko, die Figur der Lächerlichkeit preiszugeben. Cleopatra, deren besonderes Wesensmerkmal ihre »infinite variety« (2, 2, 246) ist, bleibt für die anderen Figuren wie für das Publikum unberechenbar und macht es ihnen nahezu unmöglich, zwischen ihrer Figur und der von ihr gespielten Rolle zu unterscheiden. Antony und Cleopatra vereinen Widersprüche in sich und sind viele widersprüchliche Dinge zugleich. Sie sind dramatische Kreationen, für die es jenseits ihrer Rollen kein wahrhaftes, essentielles Selbst gibt. »The one thing you will not find in Antony and Cleopatra is innocence«, schreibt W. H. Auden in seinen Vorlesungen zu Shakespeare,15 und in der Tat entzieht sich das Stück durch seine Verdopplung der Perspektiven und die Darstellung von komplementären wie sich wechselseitig relativierenden Ansichten jeglicher einlinigen Moralisierung der Handlung. Antony und Cleopatra spielen miteinander. Sie provozieren, manipulieren, dramatisieren und versuchen ihre schauspielerischen Transformationen zu perfektionieren und sich darin gegenseitig zu überbieten. Die Wahrheit kennen wir nicht. Das Verhältnis zwischen Antony und Cleopatra beschreibt eine kontinuierliche Testsituation, in der sich keiner je des anderen sicher ist und jeder der beiden erprobt, wie weit er gehen kann. Cleopatra fordert Antony gleich zu Beginn des Stückes heraus, indem sie seine Pflichterfüllung gegenüber Rom und Caesar als Rollenspiel entlarvt: »›Do this, or this; […] Perform’t or else we damn thee‹« (1, 1, 23–25). Nachdem sie Antonys Reaktion auf die Nachricht vom Tode seiner Frau Fulvia beobachtet hat, beschuldigt sie ihn der Falschheit:16 »O most _____________ 14 »no midway/’Twixt these extremes at all« (3, 4, 19–20). 15 Auden (2000), 241. 16 Auch Antonys pathetische Deklamation: »Let Rome in Tiber melt and the wide arch/Of the ranged empire fall! Here is my space/Kingdoms are clay; our dungy earth alike/Feeds beast as man« (1, 1, 35–38) veranlasst Cleopatra nur weiter dazu, die »Excellent falsehood!« (1, 1, 43) seines Ehebruchs zu exponieren.
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false love! […] Now I see, I see,/In Fulvia’s death how mine received shall be« (1, 3, 63–65) und spottet maliziös über seine perfekt gespielte Trauer: »Good now, play one scene/Of excellent dissembling, and let it look/Like perfect honour« (1, 3, 77–79). Sie nimmt die Rolle seiner Regisseurin an und animiert ihn, sich in seiner Darbietung des Trauernden noch zu steigern: »You can do better yet; but this is meetly« (1, 3, 81). Analog vergleicht auch Enobarbus Antony mit einem Schauspieler, der sich zeitgenössischer theaterpraktischer Mittel, wie der Zwiebel zum Auslösen von Tränen, bedient, um einen wahrheitsgetreuen Ausdruck zu erzeugen: »the tears/live in an onion that should water this sorrow« (1, 2, 162–163). Für die Figuren wie für das Publikum gibt es keine sicheren oder verlässlichen Informationen. Cleopatra misstraut den Worten und Auftritten anderer und entlarvt Antonys Beteuerungen als Lippenbekenntnisse: »mouthmade vows,/Which break themselves in swearing!« (1, 3, 30–31). Sind Hoffnung und Verdacht in Cleopatra unauflöslich verbunden, so gehen auch für Antony Zweifel und Verzweiflung, Verlockung und Ängstigung miteinander einher. Er verwünscht Cleopatras List – »She is cunning past man’s thought«, (1, 2, 141) und erwägt, sich aus ihrem Einflussbereich zu befreien – »These strong Egyptian fetters I must break,/Or lose myself in dotage« (1, 2, 113–114). Komplementär zu Cleopatra nimmt auch er Posen an, versucht, seine Gefolgschaft durch seine Reden zum Weinen zu bringen, oder lässt seine Frustration schonungslos an Machtlosen aus. Ein besonderes Problem des Stücks besteht darin, bei allen dargestellten Schwächen der Figuren die Fiktion ihrer Perfektion aufrechtzuerhalten: »Antony and Cleopatra must establish themselves in an atmosphere that comments constantly upon their greatness yet does not test it in action«.17 Antony und Cleopatra sind, in deutlichem Kontrast zu Octavius Caesar, aber nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Mängel so mächtig und attraktiv: »The worst things about Cleopatra and her lover are also – maddeningly – the best«.18 Cleopatras Perfektion besteht mithin genau in ihrer Fähigkeit zur Transformation sowie darin, diese zu inszenieren. In ihrer unendlichen Wandlungsfähigkeit, ihrer »infinite variety«, exponiert Cleopatra zugleich das Potential des Schauspiels, Transformation zu realisieren und sich im Übergang von einem Extrem ins andere zu vervollkommnen. Shakespeares Cleopatra verkörpert dieses Paradox der Identität in Differenz. Sie ist in und durch ihre Imperfektion perfekt und nur als sich Wandelnde mit sich selbst identisch. Sie wird gleichsam zur Schauspielerin ihrer selbst und verändert dadurch auch ihre Umwelt: »she did make defect perfection« (2, 2, 241). Cleopatras so unterschiedliche wie widersprüchliche Rollen sind Konkretisierungen dieser zugrunde liegenden Dialektik der Einheit und Vielheit, in der sich sich gegenseitig bedingende Aspekte des Seins hervor_____________ 17 Goldman (1985), 120. 18 Barton (1994), 130.
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bringen. Die dialektische Einheit widersprüchlicher Wesensmerkmale leitet dazu an, die Figur stets aus unterschiedlichen Perspektiven zugleich wahrzunehmen und sie im Modus der Transformation als etwas je anderes zu sehen.
2. Die Dynamik des Wünschens und die Grenzen der Vollkommenheit Cleopatra wird, metonymisch für Ägypten, vornehmlich durch Metaphern des Speisens und Verzehrens, des Hungers und der Sättigung beschrieben. Agrippa bezeichnet sie verächtlich als »Egyptian dish« (2, 6, 123), sie selbst spricht von sich als »morsel for a monarch« (1, 5, 32) sowie von ihrer jugendlichen Liebschaft mit Julius Caesar als »my salad days« (1, 5, 77).19 Der Bote, der ihr schließlich die Aspern bringt, betrachtet sie als Götterspeise: »a woman is a dish for the gods« (5, 2, 268), die sich wie die Götterspeise Ambrosia nicht verbraucht. Auch Antonys Transformation unter dem Einfluss Cleopatras wird in Metaphern des Speisens gedeutet. Die hämischen Kommentare der Triumvirn Pompeius und Octavius Caesar über Antonys unrömisches Verhalten stellen seine Essensgewohnheiten heraus, in denen er den epikureischen Köchen Alexandriens anheimgefallen sei (2, 1, 12–13; 2, 1, 24). Octavius’ teils huldigender, teils verächtlicher Rückblick auf Antonys kulinarische Überlebensstrategien auf seinem Feldzug über die Alpen spielt in der Speisemetaphorik zugleich auf Antonys fleischliches Begehren Cleopatras an: »It is reported thou didst eat strange flesh,/Which some did die to look on« (1, 4, 68–69). Das selbst in der ambivalenten Formulierung »die to look on« implizite fortwährende Angezogenwerden durch Cleopatra beschreibt die Dynamik der Transformation analog zur Konzeption des eros, wie sie in Platons Symposion als Attraktion durch das Schöne als schöpferischer Mechanismus stetiger Selbststeigerung und Vervollkommnung präsentiert wird. Wie Sokrates es im Symposion in der Stimme der Diotima erklärt, ist eros ein dem Mangel entspringendes Phänomen. Das fehlende kalon, das im anderen erblickt wird, weckt Begehrlichkeit, macht verliebt und setzt auf es hin in Bewegung. Attraktiv ist, was fehlt, nämlich um sich selbst steigern zu können. Entsprechend dieser dem eros innewohnenden hyperbolischen Bewegung des stetigen Angezogenwerdens durch das Schöne verkörpert Cleopatra einen Mangel und seine Überwindung zugleich: »Other women cloy/The appetites they feed, but she makes hungry/Where most she satisfies« (2, 2, 246–247).20 Als in sich unterschiedene sowie mit sich selbst identische beschreibt die Figur Cleopatras analog zum eros eine Dynamik des Wünschens, das sich im _____________ 19 Es wäre an dieser Stelle natürlich völlig unhistorisch, Cleopatra als ersten so genannten ›Caesar Salat‹ zu bezeichnen. 20 Siehe analog z. B.: »breathless, power breathe forth« (2, 2, 242).
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Bewusstsein unerreichter Vollkommenheit dieser stets annähert. Das Bleibende dieser Figuration ist die Bewegung, in der das Sein nicht frei von seinem Werden ist. Werden – »becoming« – ist einer der zentralen Begriffe des Dramas. Enobarbus berichtet über Cleopatra: »vilest things/Become themselves in her« (2, 2, 247–248) und meint damit einerseits den Übergang vom Werden zum Sein und zum anderen, analog etwa im Sinne von Eugene O'Neills Drama Mourning becomes Elektra, »becoming« als Verbesserung und Verschönerung, als Verwandlung des Schlechtesten in das Schönste. Werden beschreibt in Antony and Cleopatra die Verwirklichung einer Möglichkeit. Die Dinge werden entweder zu etwas anderem, oder sie werden überhaupt erst zu dem, was sie sind. Antony ist fasziniert von Cleopatras Verwandlungskunst, in der ihre Charakterzüge und Leidenschaften nach Perfektion streben: »Fie, wrangling queen,/Whom everything becomes, to chide, to laugh,/To weep, whose every passion fully strives/To make itself, in thee, fair and admired!« (1, 1, 50–53). Cleopatra ist sich ihrerseits dessen bewusst, dass sie zu ihrer Verwirklichung Antony als ihren kritischen Gegenpart bedarf: »Since my becomings kill me when they do not/Eye well to you« (1, 3, 97–99) und stellt ihn in seiner Fähigkeit, Gegensätze in sich zu vereinen, als ihr ebenbürtig dar: »Be’st thou sad or merry,/The violence of either thee becomes,/So does it no man else« (1, 5, 62–64). Wie in dem Appell Philos in der Exposition wird das Publikum als Zeuge in die Prozesse des Werdens und der Entfaltung von Rollen durch indirekte Ansprachen beobachtender Figuren einbezogen. So bemerkt Caesar kühl und kalkuliert: »Observe how Antony becomes his flaw« (3, 12, 34), und auch Cleopatra bringt Antony noch mehr in Rage, indem sie ihre Vertraute Charmian spöttisch auffordert, sich seinen bevorstehenden Wutausbruch anzuschauen: »Look, prithee, Charmian,/How this herculean Roman does become/The carriage of his chafe« (1, 3, 83–85). Der im Werden als Kontrast zum Sein implizite Gedanke der Veränderung und Entwicklung sowie der weiteren Differenzierung erhält durch die Reflexion der Bühnensituation wirkungsästhetische Ausrichtung. Die Möglichkeit der Vervollkommnung ist somit Teil der Darstellung und ihre Selbstüberschreitung zugleich. Die impliziten Aufforderungen an die Zuschauer beziehen diese nicht nur in die Handlung ein, sondern verweisen über die Aktualität der Darstellung hinaus auf die im Bühnengeschehen angelegten Möglichkeiten der Perfektionierung. Dieses Ausgreifen in das Imaginäre, gar Unmögliche wird als Struktur der poetischen Konzeption des Stücks wirksam. Transformation als Übergang zwischen den Extremen wird metaphorisch durch die zyklischen Umwandlungen von fester in flüssige Materie sowie von Substanz in Substanzlosigkeit reflektiert und in Bildern des Verschmelzens beschrieben. Antonys so unantikes wie pathosgeladenes Ansinnen: »Let Rome in Tiber melt and the wide arch/Of the ranged empire fall! Here is my space./Kingdoms are clay; our dungy earth alike/Feeds beast as man« (1, 1, 35–38), wird von Cleopatras Deklamation: »Melt Egypt into
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Nile, and kindly creatures/Turn all to serpents!« (2, 5, 79–80) komplementiert. Die hyperbolische Rhetorik der Entgrenzung kennzeichnet von Beginn an das Verhältnis der beiden Hauptfiguren, die ihre Liebe jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, Maß und Maßlosigkeit zelebrieren. CLEOPATRA: If it be love indeed, tell me how much. ANTONY: There’s beggary in the love that can be reckoned. CLEOPATRA: I’ll set a bourn how far to be beloved. ANTONY: Then must thou needs find out new heaven, new earth. (1, 1, 14–17)
Das Strukturprinzip der immanenten Dialektik von Antony and Cleopatra leitet an, Grenzen zu denken und sie gleichzeitig in der Imagination zu überschreiten. In seinem Bericht über das erste Treffen zwischen Antony und Cleopatra auf dem Cydnus spricht Enobarbus nicht nur über die Kraft der Imagination, eine veränderte Natur hervorzubringen, sondern seine Worte erzeugen gleichsam erst diese transformierende und grenzüberschreitende Imagination der Szene. Indem er Cleopatras Schönheit als Resultat des Wettstreits und Übergangs zwischen Natur und Kunst darstellt: »O’erpicturing that Venus where we see/The fancy outwork nature« (2, 2, 210–211), beschreibt er die Transformation der Natur durch die Kunst: Cleopatras Natur übertrifft die Kunst nicht nur in ihrer Künstlichkeit, sondern ihre Kunst beherrscht, wie die künstlerische Imagination, die Natur. Die Unmöglichkeit der wirklichkeitsgetreuen Beschreibung – »her own person,/It beggared all description« (2, 2, 207–208) – wird geradezu zu einer poetischen Notwendigkeit. Sie erklärt zugleich beispielsweise das Scheitern der viktorianischen Aufführungspraxis, Cleopatras Barke möglichst beschreibungsgetreu zu präsentieren. Vervollkommnung als Transformation enthält in Antony and Cleopatra stets den Aspekt des Wettstreits, der das Unmögliche, das Adynaton, mit einschließt. Die Unmöglichkeit ist Teil dieses Prozesses der Selbstüberbietung, wenn Antony noch im Sterben versucht, Cleopatra zu übertreffen: »I will o’ertake thee, Cleopatra« (4, 14, 44) und gemeinsam mit ihr selbst in den Gärten Elysiums alle übrigen Paare in den Schatten zu stellen sucht: »Where souls do couch on flowers, we’ll hand in hand,/And with our sprightly port make the ghosts gaze./Dido and her Aeneas shall want troops,/And all the haunt be ours« (4, 14, 51–54). Die beiden letzten Akte des Dramas eröffnen einen weiteren Spielraum für Transformation, Metamorphose und Mythos, indem sie den Übergang vom Leben zum Tod in einem Strukturmuster von Entzug und Erneuerung, Wandel und Stagnation inszenieren. Der strukturellen Logik des Stücks gemäß transformieren sich die Figuren, indem sie den Übergang zur Gegenseite vollziehen. Während Cleopatra sich entgegen ihrer dynamischen Vielfalt als »marble constant« monumentalisiert, beschreibt Antony seine Transformation als Übergang in ein indistinktes Ganzes, als Materie ohne Form: »Here I am Antony,/Yet cannot hold this visible shape, my knave« (4, 14, 13–15).
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Wolken und Wasser sind emblematisch für die Transformation Antonys. Ist Wasser in Antony and Cleopatra das proteische Element der Transformation von Werden und Vergehen, so interpretiert Antony die Auflösung seiner selbst beim Anblick der Wolkenformationen am Abendhimmel, die ihm wie ein Defilee von Bühnenwagen erscheinen: »black vesper’s pageants« (4, 14, 8), als »as water is in water« (4, 14, 11). Die Entgrenzung der Figur Antonys erhält in Cleopatras Vision ihre weitere Vervollkommnung als imaginäre Präsenz. Cleopatra erschafft ein poetisches Bild Antonys, in dem die Materialität der Natur hinter der Immaterialität der Imagination zurückbleibt und in der Imagination eine veränderte Natur erzeugt: »Nature wants stuff/To vie strange forms with fancy; yet t’imagine/An Antony were Nature’s piece ’gainst fancy,/Condemning shadows quite« (5, 2, 96–99). In Cleopatras Vision wird Antony zu einem dichterischen Wesen, das über die Kontingenzen der Materie hinausweist. Antony and Cleopatra stellt Grenzen von Raum und Zeit auf, um sie zu überwinden. Extension und Auflösung von Temporalität stehen dabei in einem Wechselverhältnis zur Verdichtung und Kompression von Zeitlichkeit. Für Antony und Cleopatra ist Vollkommenheit nicht nur ihre poetische Vereinigung in einer statischen Transzendenz, sondern auch bereits die Verwirklichung des Ewigen im Diesseits: »eternity was in our lips and eyes« (1, 3, 35). Sie transformieren eine als Endlichkeit verstandene Zeitlichkeit, und für sie gewinnt Zeitlichkeit in der Erfahrung des Genusses eine eigene Dimension in einem sensualistischen ›Hier und Jetzt‹: »there’s not a minute of our lives should stretch/Without some pleasure now« (1, 1, 47–48). Ist im antiken Ägypten das Bauen der Inbegriff des Handelns, das der Vergänglichkeit entgegenwirkt, so vollziehen Antony und Cleopatra im Bauwerk, »the monument«, als sichtbarem Zeichen des Unendlichen im Endlichen, den Übergang vom Leben zum Tod. Wie Jan Assmann darstellt, ist die Vorstellung des Todes im Alten Ägypten keine Negation, sondern vielmehr eine Transformation des Lebensübergangs.21 Ewigkeit ist in den Worten Assmanns »kosmisches Leben«, das als »belebende und erhaltende Energie« von Zeit und Leben wirkt und die Möglichkeit eines Endes, Stillstands oder Vergehens grundsätzlich ausschließt.22 Symbolisch ist dieses gegenseitige Durchdringen von Zeit und Ewigkeit innerhalb der reflexiven Denkbewegung in den Formen des Kreises und der Kugel immanent. Kreis und Kugel sind Metaphern der Vollkommenheit. Im Kontext des Alten Ägyptens konkretisiert sich die in der Kreisgestalt beschriebene zyklische Selbstbezüglichkeit und Rekreation seiner selbst im Symbol der in sich verschlungenen Schlange, dem uroboros. Als Figur der ewigen Wiederkehr und Vereinigung von Anfang und Ende wurde der uroboros in der Gnosis sowie im hermetischen Schrifttum zum Symbol der Weltseele und der Ewigkeit.23 Auch _____________ 21 Assmann (1975), 19. 22 Ebd. 23 Assmann (1975), 32.
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Platon beschreibt bereits im Timaios das erste Lebewesen im Universum als unsterblich, selbstbezüglich und vollkommen in der Form eines bewegten Kreises.24
Abb. 1: Jacob Böhme, Theosophische Wercke, Amsterdam 1682.25
Die Vollkommenheit des Kreises sowie die Übergänge zwischen Zeit und Ewigkeit werden in Antony and Cleopatra nicht nur durch dessen immanent zyklische Zusammenführung von Ursprung und Ziel präsentiert, sondern auch im Bild der Schlange anschaulich. Cleopatra, die daran erinnert, dass Antony sie als »serpent of old Nile« (1, 5, 26) bezeichnet, über die Enobarbus sagt: »Age cannot wither her, nor custom stale/Her infinite variety« (2, 2, 244–245) und die sich schließlich selbst das Gift der Asper verabreicht, vollzieht die Vereinigung von Anfang und Ende in ihrer Figur präfigurierend bereits am Ende des ersten Akts als Verschlungensein in sich selbst: »Now I feed myself/With most delicious poison« (1, 5, 27–28). Tod und Liebe (»most delicious poison«) sowie Ende und Endlosigkeit sind komplementäre Prinzipien, die sich durch Cleopatras unendliche Wandlungsfähigkeit selbst erhalten. Als Bild der Selbstgenügsamkeit und Vollkommenheit und als der Schlange verwandtes Urtier wird in Antony and Cleopatra ferner das Krokodil präsentiert, nach dessen Wesen sich Lepidus bei Antony erkundigt. LEPIDUS: What manner o’thing is your crocodile? ANTONY: It is shaped, sir, like itself, and it is as broad as it hath breadth. It is just so high as it is, and moves with it own organs. It lives by that which nourisheth it, and the elements once out of it, it transmigrates. LEPIDUS: What colour is it of? ANTONY: Of it own colour too. LEPIDUS: ’Tis a strange serpent. ANTONY: ’Tis so, and the tears of it are wet. (2, 7, 37–45)
_____________ 24 Platon, Timaios, 33b–34. 25 Aus: Alexander Roob, Alchemie & Mystik. Das Hermetische Museum, Köln 1996, 426.
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Antonys Beschreibung vermag Lepidus nicht zufrieden zu stellen und verweist zugleich auf die Unmöglichkeit jeglicher deskriptiven Annäherung an dieses Phänomen. Das Krokodil wandelt sich nicht, sondern ist, was es ist. Seinen Übergang in die Transzendenz bezeichnet Antony nicht als Tod, sondern als Transmigration im Sinne der Seelenwanderung.26 In seiner Vollkommenheit ist das Krokodil zugleich Bild des perfekten Schauspiels, das in seiner Außenwirkung ohne notwendige Entsprechung zu seinem Inneren überzeugt: »the tears of it are wet«. Auf diese Krokodilstränen spielt z. B. Hamlet an, wenn er Gertrude Heuchelei vorwirft: »Woo’t drink up easel, eat a crocodile?« (Ham 5, 1, 243). In diesem Kontext erscheint ebenfalls die spätere Trauer Octavius Caesars über Antonys Tod höchst ambivalent: »But yet let me lament/With tears as sovereign as the blood of hearts« (5, 1, 40–41). Die in der Kreisform immanente Vollkommenheit wird in Antony and Cleopatra überdies metaphorisch, in Rückbezug auf die konkrete Form der Bühne Shakespeares – das Globe Theatre –, reflektiert. Verwendet bereits der Prolog in Henry V für den Bühnenraum das Bild des »hölzernen O«27, so entwirft auch Cleopatra das Bild Antonys als erdumspannenden Kreislauf: »His face was as the heav’ns, and therein stuck/A sun and moon, which kept their course and lighted/The little O, the earth« (5, 2, 78–79). Die Metaphern »The little O« wie auch »the wooden O« führen die Welt des Stücks auf ihren Ursprung, das Theater, zurück. Der Mikrokosmos des Theaters stiftet eine Weise der Vollkommenheit, die zugleich im Unvollkommenen liegt und als ein potentiell unendliches Überschreiten und Negieren der Grenzen betrachtet werden kann, innerhalb derer sie sich vollzieht.
3. Die Transformation des Endes: »to make defect perfection« In The Sense of an Ending schreibt Frank Kermode: »endings are only truly satisfactory if they transfigure the events to which they were immanent«28. Am Ende des Dramas weigert sich Cleopatra, zur Statistin in Octavius’ Triumphzug zu werden, und ihre Weigerung reflektiert zugleich die der geschichtlichen Überlieferung impliziten Transformationsprozesse. Wenn es Caesar nämlich gelungen wäre, die Handlung zu lenken, sich in einem »eternal […] triumph« zu verherrlichen (5, 1, 66) und Cleopatra als Beute in Rom zur Schau zu stellen, wäre es seine bzw. die römische Deutung der Geschichte gewesen, die diese nach seinem Maßstab festgeschrieben und damit über Antony und Cleopatra gesiegt hätte. Indem Cleopatra Caesar diesen Triumph vereitelt, entzieht sie sich dem _____________ 26 Siehe hierzu Stempel (1956). 27 »Or may we cram/Within this wooden O the very casques/That did affright the air at Agincourt?« (HV, Prol., 12–14). 28 Kermode (1967), 175.
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Theater Caesars und setzt ihre eigene Inszenierung als »noble act« (5, 2, 279) an die Stelle von Caesars »impervious show« (4, 15, 24). Cleopatra inszeniert ihr Theater im sterblichen Hier und Jetzt und lässt es erst dadurch unsterblich und unvergessen werden. So muss Caesar letztlich der Szene beiwohnen, die er zu verhindern suchte: »Thyself art coming/To see performed the dreaded act which thou/So sought’st to hinder« (5, 2, 324–326) und anstelle des Triumphzugs als Zuschauer am Begräbnis der beiden als »solemn show« (5, 2, 358) teilnehmen. Cleopatras Kritik an dem von ihr antizipierten schlechten und improvisierten Schauspiel, in dem ihre Geschichte den so sensationslüsternen wie unappetitlichen Römern dargeboten wird, enthält eine Anspielung auf die zeitgenössischen Aufführungspraktiken in England: »The quick comedians/Extemporally will stage us and present/Our Alexandrian revels; Antony/Shall be brought drunken forth, and I shall see/Some squeaking Cleopatra boy my greatness/I’th’posture of a whore« (5, 2, 215–220). Antony and Cleopatra geht in dieser Szene das Wagnis der realistischen Identifikation des elisabethanischen ›boy actor‹ mit der Rolle der Cleopatra konsequent ein. Dieses Wagnis wird aber genau deswegen eingegangen, um zu zeigen, dass durch das Schauspiel bereits eine Transformation im Bewusstsein des Publikums stattgefunden hat: Für die Zuschauer ist die Figur auf der Bühne Cleopatra. Diese Transformation vollzieht sich erneut in Abhängigkeit von der Kunst des Schauspielers; denn nur wenn er Cleopatra bis zu diesem Zeitpunkt überzeugend dargestellt hat, kann sein Satz Glaubwürdigkeit beanspruchen. Transformation ist Teil der Reflexion des Stückes, das die Prinzipien seiner Konstruktion offen legt und gleichzeitig ihre Wirkung evident werden lässt. Cleopatra bleibt ihrer Fähigkeit »to make defect perfection« treu, indem sie es vermag, das Sterben in die Unsterblichkeit und das Ende in einen Anfang zu verwandeln.29 Analog zu Antony, dessen missglückter Versuch, sich in sein Schwert zu stürzen, theatralisch wirkt, ist Cleopatras Tod ein inszenierter Übergang, den sie im Modus der schauspielerischen Darstellung begreift: »Show me, my women, like a queen« (5, 2, 226). Cleopatras Tod beschreibt zugleich den Rückgang des Lebens zu seinem Ursprung. Die Szene spielt an Cleopatras Geburtstag und die todbringenden Aspern, die Cleopatra wie Säuglinge an sich nimmt, entstammen dem fruchtbaren und lebensspendenden Nil. Hatte Enobarbus bereits im ersten Akt den Tod in Bezug auf Cleopatra erotisch als Vereinigung der Liebenden konnotiert: »I do think there is mettle in death, which commits some loving act upon her, she hath such a celerity in dying« (1, 2, 139–140), so spricht auch Cleopatra metaphorisch über den Tod als »a lover’s pitch« (5, 2, 289). Das Stück kehrt am Ende zu seiner anfänglichen Dichotomie zurück und führt mit den antiken Imperien am Ende zwei Weisen der Interpretation von _____________ 29 Vgl. Goldman (1985), 132.
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Vollkommenheit vor: Rom als ewige Stadt bürokratischer Stagnation und Alexandria als Potentialität poetischer Transformation. Während das Paradigma Alexandrias in einer zur Vielheit differenzierten Transformation der ursprünglichen Einheit die Möglichkeiten der unendlichen Bewegung und Fortdauer zulässt, rechnet die mit Octavius Caesars, des späteren Kaisers Augustus’, Vorgriff auf eine Weltepoche des »universal peace« (4, 6, 5) verbundene christliche Eschatologie mit einer unabwendbaren Vollendung. In Antony and Cleopatra transformiert das Ende die Ereignisse, denen es immanent ist. Cleopatra entmachtet Caesar in seiner Deutungshoheit über ihr Schicksal, und ihr Ende markiert gleichsam den Sieg des Theaters als Medium der Transformation über die teleologische Geschichte. Antony and Cleopatra beschreibt eine Vollkommenheit, die keine zielgerichtete Entelechie oder Endgültigkeit, sondern Transformation und Übergang präsentiert. Cleopatras Unsterblichkeitssehnsucht, ihre »immortal longings«, die sich in der Sterblichkeit des Theaters artikulieren, werden an anderer Stelle im Werk Shakespeares selbst erfüllt und als Überführung in eine imaginäre Präsenz inszeniert. Ist im Alten Ägypten die Unsterblichkeit den Königen vorbehalten, so leben Antony und Cleopatra nicht nur in der Imagination der Zuschauer und Leser fort, sondern ebenfalls in Shakespeares späterem Werk Cymbeline. Als bildgewordene Szene bieten sie im Schlafgemach der Imogen eine romkritische Reflexionsebene für die Ereignisse, die sich dort abspielen.30 Die Szene zeigt Cleopatra, wie sie sich zum Fluss Cydnus aufmacht und antizipiert das erneute Zusammentreffen der Liebenden auf dem Fluss, das sich Cleopatra vor ihrem Tod herbeigewünscht hatte: »I am again for Cydnus,/To meet Mark Antony« (5, 2, 227–228). Die Figuren werden in Cymbeline zu Kunstwerken, in denen die transformierende Kraft der poetischen Imagination, die ungebunden ist an die Grenzen von Raum und Zeit, evident wird. Der Zyklus von Degeneration und Regeneration wird ebenfalls sowohl fortgesetzt als auch reflektiert, indem Imogen, der Heldin des Stücks, die unausschöpfliche, selbsterneuernde Kraft des Phönix zugeschrieben wird: »She is alone th’Arabian bird« (1, 6, 17) – ein Attribut, das bereits Agrippa in Antony and Cleopatra zur Charakterisierung Antonys gebraucht hatte: »O Antony, O thou Arabian bird!« (3, 2, 12) Antony and Cleopatra beschreibt eine Weise der Perfektion, die sich durch Transformationsprozesse definiert. Ihr Ziel ist die Vervollkommnung der Darstellung, die in der Medialität und den Mechanismen des Theaters reflektiert wird. Das Theater ist darin zugleich Medium der Transformation und Ort der Realisierung von Perfektion als Möglichkeit. Entscheidend für die Wirkung des Dramas ist mithin nicht die Treue zu einem antiken Original, sondern die Über_____________ 30 »Giacomo: First, her bedchamber, […] it was hanged/With tapestry of silk and silver; the story/Proud Cleopatra, when she met her Roman,/And Cydnus swell’d above the banks, or for/The press of boats or pride. A piece of work/So bravely done, so rich, that it did strive/In workmanship and value, which I wondered/Could be so rarely and exactly wrought,/Since the true life on’t was. – Posthumus: This is true; […].« (Cym, 2, 4, 67–77).
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zeugungskraft des Spiels. Antony and Cleopatra stellt weder die Antike dar noch die zeitgenössische Welt, sondern den Ort des Theaters in ihr – als einen Ort der Transformation auf ihrem Weg fortwährender Vervollkommnung. Dieser schließt in seinen Reflexionen stets die Notwendigkeit der weiteren Vervollkommnung durch die perfektionierende Wirkung der Imagination mit ein: »Piece out our imperfections with your thoughts« (HV, Prol., 23).
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»To excel the Golden Age«: Shakespeare’s Voyage to Greece RICHARD WILSON (Cardiff) »I would with such perfection govern, sir,/T’excel the Golden Age« (Tempest, 2, 1, 167–168): Gonzalo’s fantasy of his ideal commonwealth in which, he says, »no kind of traffic/Would I admit, no name of magistrate;/Letters should not be known; riches, poverty/And use of service« (148–151), is Shakespeare’s most explicit allusion to any philosophical text. But its near perfect quotation of Florio’s translation of Montaigne’s essay »Of the Cannibals« is interrupted so cruelly by Antonio and Sebastian, when they object that this perfect state will perfect the perfect power, that critics have long assumed the philosopher was being similarly denigrated for idealising the technologically innocent Indians of Brazil, who »desire no more then what their natural necessities direct them […] enter-call one another brethren«, and hold all »goods in common«.1 Gonzalo’s prospectus for a state without sovereignty where »all things in common nature should produce/Without sweat or endeavour«, is so brutally crushed by these mafiosi it was easy to assume that when Shakespeare has this vision trashed »it is Montaigne’s utopia he is allowing them to vilify«, and that as Leslie Fiedler contended, he is »on their side in the debate« over human perfectibility and the »question concerning technology«, for events in the play »prove them, not Gonzalo, right«.2 Like Thomas More, Montaigne had extolled the primitive communism of the Amerindians as a model for a European future that would excel even the Golden Age of Greece and Rome. But in The Tempest, according John Gillies, this utopian vision is made to look »old-hat and just plain wrongheaded«.3 As Fredric Jameson writes in Archaeologies of the Future, the desire called utopia is always structurally ambivalent.4 And since the fall of Communism there has been a paradigm-shift in responses to the Orwellian scene when the cynics expose the logical contradiction of the old nobleman’s perfect egalitarian state, in which some are more equal than others, with a ruthless totalizing logic: »No _____________ 1 2 3 4
Montaigne, »Of the Canniballes«, 309. As Felperin emphasises, Gonzalo projects a new world that »actually excels the Golden Age« (Felperin [1972], 259). Heidegger (1977); Fiedler (1973), 193 f. Gillies (2000), 192. Jameson (2007), 1.
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sovereignty – ./Yet he would be king on’t./The latter end of his commonwealth forgets the beginning« (156–158). The reorientation was flagged when Walter Cohen asserted that, despite this aporia, Gonzalo’s dream reminds us how Marxism wagered history would have the »latter end« of such a romance, and that it is through its happy endings that romance may yet offer »a legitimate vision not of the prehistory lived in class society but of that authentic history that may someday succeed«.5 Thus in an essay inspired by Habermas, »What Cares These Roarers for the Name of King?«, David Norbrook compared Antonio’s carping to Foucault’s critique of the Enlightenment, and insisted »the play does not endorse his cynicism«.6 Likewise Simon Palfrey affirmed that predictions of human perfectibility in Shakespeare’s romances »don’t sink dead in the sludge – indeed Gonzalo’s has a resistant quality ensured by the sarcasm of his audience«;7 and Kiernan Ryan concluded his millennial Shakespeare quoting Henry James’s euphoria that The Tempest »renders the poverties and obscurities of our world […] in the dazzling terms of a richer and better life«.8 »Dreaming on things to come« (Sonnet 107), Shakespeare speaks to these »Presentist« critics, therefore, not merely of carrying »The weight of this sad time« (King Lear, 5, 3, 322), but of what Jameson identifies as our anxiety since Marx »about losing the future«.9 »›Since Marx‹ […] I cannot hear ›Since Marx,‹ since Marx, without hearing, like Marx, ›Since Shakespeare‹.«10 It was no accident that the belief that Shakespeare »paves the way for the impossible, granting us a foretaste of the future through its estranged vision of our past«, should coincide with Derrida’s reading of Hamlet as a play in which »what seems to be out in front, the future, comes back«, to presage the return of our repressed hope for a democracy to come.11 In Specters of Marx Derrida set the scene for the messianic turn in Shakespeare studies when he decrypted the haunted vigil on the »immense terrace of Elsinore« as a prefiguration of Europe’s post-1989 nostalgia for the »good ghost« of a Marx »which must not be renounced«, and vowed »there is a spirit of Marxism […] I will never be ready to renounce« as »what remains irreducible to deconstruction […] is a certain emancipatory promise of justice […] an idea of democracy«.12 Like Hamlet, the philosopher reflected, »we are in mourning for _____________ 5 6 7 8 9 10 11 12
Cohen (1988), 391. Norbrook (1992), 34. Palfrey (1997), 145 Ryan (2002), 176; James (1981), 302. Jameson (2007). Derrida (1994), 17. Ibid., 10; Ryan (2002), 121. Derrida (1994), 59, 88–89. »The immense terrace of Elsinore« is a quotation from Paul Valéry’s famous 1919 essay, »La Crise de l’esprit«, 993, to which Derrida’s meditation on Hamlet is in part a response: »Now, on the immense terrace of Elsinore, which stretches from Basel to Cologne […] the European Hamlet looks at thousands of specters […] Hamlet does not know what to do with all these skulls. But if he abandons them! […] Will he cease to be himself?« (Derrida [1994], 59).
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what is called Marxism«; and he later claimed he wrote his book in grief for his Marxist teacher Althusser.13 But he also set the terms for critics when he warned that, because »Hamlet could never know the peace of a good ending«, what the Prince greets as an »honest ghost« must be separated or purged from the »damned ghost that we have seen« return too often on a continent where »The time is out of joint« (1, 5, 142; 189; 3, 2, 75). Just as Marx had trouble telling a progressive spirit from regressive spooks, or Geist from gas, our work of mourning is an ordeal of undecidability, Derrida therefore announced, awaiting what might be yet another »totalitarian monstrosity«, as Hamlet waits for the Ghost, unsure if it is »a spirit of health or goblin damned«, bringing »airs from heaven or blasts from hell«: »Be thy intents wicked or charitable,/Thou com’st in such a questionable shape/That I will speak to thee« (1, 4, 21–25).14 »Thou art a scholar […] Question it« (1, 1, 40–43): »Shakespeare will often have inspired this Marxian theatricalization« of a coming revolution, Derrida noted, as he guards the gates of meaning with the same vigilance as that with which he signs himself a spear-shaker. This pun on Shakespeare’s name stationed him as a sentinel beside the night-watchman at the start of the Oresteia, who asks »Who’s there?« (1, 1, 1) at that eastern gateway where in work after work of the European canon »the master of the house waits anxiously«, in Derrida’s favourite image, for the light of »a stranger he will see arriving as a liberator«.15 But the pun also suggested that the question provoked by this unfinished project of enlightenment – »How do things stand with sovereignty in this scenario?« – remains the reason for our own vigil over Shakespeare:16 Oh, Marx’s love of Shakespeare! It is well known […] even though Marx more often quotes Timon of Athens, the [Communist] Manifesto seems to evoke or convoke, right from the start […] the apparition of the spirit that does not answer, on those ramparts at Elsinore which is then the old Europe. For if this first theatrical apparition already marked a repetition, it implicated political power in the folds of this iteration (›In the same figure, like the King that’s dead‹ [1, 1, 39] says Barnardo as soon as he thinks he recognises the ›Thing‹ [19] […]). From what could be called the other time, from the eve of the play, the witnesses of history hope for a return, then, ›again‹ and ›again,‹ a coming and going […] ›What, has this thing appear’d again tonight?‹ […] A question of repetition: a spectre is always a revenant. One cannot control its comings and goings because it begins by coming back. Think as well of Macbeth, and remember the specter of Caesar. After having expired, he returns. Brutus also says ›again…‹
_____________ 13 Derrida/Roudinesco (2004), 103; Derrida (1994), 54. 14 Ibid., 29, 75, 88, 105. For commentaries on Marx’s Shakespearean spectrality, see Garber (1987), 56–60; Harries (2000), 57–122; Wilson (2007) 42–47, 68–73. 15 Derrida (1994), 5, 18; Derrida (2000), 121. For the Heideggerian interpretation of the watchman on the walls at the beginning of the Agamemnon, to which Derrida was responding, see in particular Heidegger (2005), 19–22. 16 Leitch (2007), 25 f.
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›Well then I shall see thee again?‹ Ghost: ›Ay, at Philippi‹ (Julius Caesar, 4, 2, 336– 337).17
No sovereignty: »The latter end of his commonwealth forgets the beginning«: the ghost of a perfect state is inseparable, the scare quotes seem to say, from the ghastliness of a perfect power, for it is sovereignty that »begins by coming back« as a precondition of utopia. Hamlet thus had a key role in Derrida’s thinking about the (im)possibility of a »democracy to come«.18 In truth, however, his references to the plays could make him sound as muddled as »good old lord Gonzalo« (Tempest, 5, 1, 15), with his »weird cocktail«19 of »libertarian, liberal, communist, cosmopolitan, and utopian«20 ideals in fidelity to a »uniquely European heritage«21 of a democracy that has to »remain indefinitely perfectible, hence in each of its future times, to come«.22 The theorist’s »incessant procrastination«23 and »ghostly elusiveness«24 result, it is felt, from failure to declare his own interest, even though the New International he hails as the ideal of a stateless state turns out to be contingent on a »European Defence Force«.25 And Gonzalo’s confusion of the perfect state with the perfection of an enlightened despotism also arises from the fact that his interest is so invisible »he can see himself as king of an egalitarian society«.26 This was the double bind that drew Derrida to Hitler’s »crown jurist« Carl Schmitt, and his definition of the sovereign as the one in a state of emergency who, as Antonio snarls, decides the exception.27 But Shakespeare was also invested, as Derrida helps us to see, in an unconditionality without sovereignty – where technƝ or knowledge »should not be known« – which he too hypothesised by figuring projects for the impossible such as unconditional forgiveness, freedom, friendship, hospitality, justice, mourning, pardon, rogues, and gifts. Like the philosopher’s, Shakespeare’s work is prompted by the question with which Antonio dashes Gonzalo’s dream: »What impossible matter will he make easy next?« (2, 1, 87). So when Love’s Labour’s Lost hangs on whether laughter in the face of death »cannot be, it is impossible« (5, 2, 833); The Merchant of Venice whether law says »it is impossible« to coexist (3, 2, 316); Julius Caesar whether »It is impossible that ever Rome/Should breed« liberators (5, 3, 99); _____________ 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Derrida (1994), 10 f. Royle (2004), 41 f. Critchley (2008), 3. Leitch (2007), 25. Leitch points out that Derrida’s attempt to think a democratic sovereign state without sovereignty »quietly presupposes ownership of private property« – as does Gonzalo’s. Derrida (1992), 78. Derrida (1997), 306. Žižek (1989), 191. Halpern (2001), 42. Borradori (2003), 116 f.; Derrida (2007), 42. Norbrook (1992), 25. Derrida/Roudinesco (2004), 144; Schmitt (1996).
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Twelfth 1ight whether lovers can believe »impossible passages« (3, 2, 61); Troilus and Cressida whether »proof is called impossibility« (5, 5, 29); Timon of Athens whether friends or gold »sold’rest close impossibilities« (4, 3, 380); King Lear whether it is »almost impossible« to be an inheritor (2, 4, 237); Othello whether »It is impossible« a man can be a monster (4, 2, 138); Antony and Cleopatra whether »O Isis, ’tis impossible!« to love (3, 3, 15); and Pericles whether we can credit »points that seem impossible« (5, 1, 124), what Hélène Cixous says about Derrida comes to look equally applicable to the Elizabethan dramatist: »the scenarios of all his travels, displacements, and returns are always marked by the seal of the impossible. He will have loved only the impossible, that name for the fiction within fiction.«28 And as his dramas await »the promised end« (King Lear, 5, 3, 263) Shakespeare’s love of the impossible is fictionalised in a fiction within the fiction that recurs as if by some repetition compulsion, when a humbled sovereign resigns his power and kneels to beg forgiveness: Come, let’s away to prison. We two alone will sing like birds i’the cage. When thou dost ask me blessing, I’ll kneel down, And ask of thee forgiveness. So we’ll live, And pray, and sing, and tell old tales, and laugh At gilded butterflies, and hear poor rogues Talk of court news; and we’ll talk with them too, Who loses and who wins; who’s in, and who’s out; And take upon’s the mystery of things, As if we were God’s spies; and we’ll wear out, In a walled prison, packs and sects of great ones, That ebb and flow by the moon. (King Lear, 5, 3, 8–19)
»Take them away« (20): Edmund is dictator for only a minute, but his three banal and bureaucratic words are perhaps the cruellest instance in all art of the sovereignty that »begins by coming back« to demolish the aesthetic illusion of the impossible perfect stateless state, a »walled prison« safe from »packs and sects of great ones«. In the late twentieth century the vile monstrosity of this scene was defined by Peter Brook’s film of King Lear, with a picture from the gulags and cattle-trucks, when the old king’s fairy story was undercut by the image of his daughter pulled across the killing fields as he raved about a happy-ever-after life, in obedience to the Captain’s secret order »To hang Cordelia in prison« (252). Lear’s »old tale« recalls the impossible optimism of the Comedies, where happiness is salvaged from emergency, despite the father’s grief in Much Ado About 1othing that »I cannot bid you my daughter live –/That were impossible« (5, 1, 263), when sovereignty permits the exception; as the princess in As You Like It plans her own eventual emergence: »it is not impossible to me […] to set her before your eyes tomorrow,/human as she is, and without any danger« (5, 2, _____________ 28 Cixous (2007), 66.
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58). »Human as she is« – these good endings follow the law of exception that is laid down in The Two Gentlemen of Verona, that »nothing is impossible« (3, 1, 352), providing we concede that, as Helena explains in All’s Well That Ends Well, the »impossible« is a name for the creaturely strangeness of the human event: »Impossible be strange attempts to those/That weigh their pains in sense and do suppose/What hath been cannot be« (1, 1, 207).29 Written, then, as if to validate Slavoj Žižek’s claim that »miracles do happen«,30 since »the resurrection of the dead is already here«,31 these plays bring the good news to »Presentism« that, as the King avers in All’s Well, »what impossibility would slay/In common sense, sense saves another way« (2, 1, 176), by representing Christian salvation as a metaphor for »freedom from misery, injustice and oppression«.32 Thus, »The impossible happens« on this stage, Ewan Fernie maintains, in keeping with Theseus’s warrant for the poet’s pen to »body forth« here and now »forms of things unknown« (Midsummer 1ight’s Dream, 5, 1, 14–15). And when Lear tells Cordelia »You are a spirit, I know« (Lear, 4, 7, 49), Fernie echoes Ernst Bloch in seeing this as a »divine comedy« attesting to the »principle of hope«.33 Shakespeare criticism has become impatient for such a decision. Yet if the impossible does occur in these texts it is never without sovereignty, which strikes back in Lear’s line about the dead moon with all the reality of politics after Elizabeth, when for Catholics condemned as »god’s spies« fantasies of praying and singing in a golden cage (like the papist composer Byrd) were blasted by the Gunpowder Plot. So if Shakespeare does inspire similar hopes, as Ryan affirms, »that these dreams of release from the coercions of history might one day be realized«, he never lets us lose sight of the material constrictions which circumscribe his »walled prison«, nor the conditions of artistic production which make such dreaming possible.34 And this is the more telling when Edmund silences Lear, because the fairy tale that he terminates, in which a penitent sovereignty surrenders power and kneels to beg forgiveness, will come back, perhaps too late, to supply endings for all Shakespeare’s latest plays: There might you have beheld one joy crown another, so and in such manner that it seemed sorrow wept to take leave of them, for their joy waded in tears. There was casting up of eyes, holding up of hands, with countenance of such distraction that they were to be known by garment, not by favour. Our king being ready to leap out of himself for joy of his found daughter, as if that joy were now become a loss cries, ›O, thy mother, thy mother!‹, then asks Bohemia forgiveness, then embraces his son-inlaw, then again worries he his daughter with clipping her. Now he thanks the old
_____________ 29 30 31 32 33 34
For the »strangeness« of the »event« in Shakespeare, see Royle (2008), 39–42. Žižek (2000), 135. Žižek (2003), 87. Ryan (2005), 38. Fernie (2005), 16 f. Cf. Bloch (1988). Ryan (2002), 121.
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shepherd, which stands by like a weather-bitten conduit of many kings’ reigns. (The Winter’s Tale, 5, 2, 39–50)
»What I dream of, what I try to think of as the ›purity‹ of a forgiveness worthy of its name«, wrote Derrida in Cosmopolitanism and Forgiveness, »would be a forgiveness without power: unconditional but without sovereignty«.35 No sovereignty: the utopian latter end of his commonwealth deliberately forgets its dystopian beginning, as Shakespeare returns again and again, in his late romances, to this Derridean dream of the perfect state in which sovereignty comes back not to impose itself but to offer contrition for tears shed in »many kings’ reigns«. »The most difficult task, at once necessary and apparently impossible«, the dying philosopher considered, »would be to dissociate unconditionality and sovereignty«. Yet »this madness« is the »unpresentable task« of plays like The Winter’s Tale where »all the scenes of repentance, confession, forgiveness, or apology« are arranged around the very »theatrical space« described by Derrida, in which the great scene of repentance is played out, »sincerely or not, in a grand convulsion [which] in its very theatricality […] invites parasites to this ceremony«. Here, as in our time, »one sees entire communities […] sovereigns and heads of state ›ask forgiveness‹«.36 Derrida asks what urgency compels the proliferation of these scenes of repentance. In the case of the plays an answer is offered by Jeffrey Knapp with Shakespeare’s Tribe, which proposes that Shakespeare seems to conceive that players might unite their audiences through a »shared examination of human frailty«, so that the mere theatrical act of »drawing thousands of people together« would function as a form of congregational confession, to persuade them to embrace imperfection rather than perfection, or powerlessness instead of power. Such was »the religion that Shakespeare […] espoused«, Knapp maintains, »in tying his art, as Prospero ultimately does, to bodies instead of books«:37 ARIEL: Him that you termed, sir, the good old lord Gonzalo: His tears run down his beard like winter’s drops From eaves of reeds. Your charm so strongly works ’em That if you now beheld them your affections Would become tender. PROSPERO: Dost thou think so, spirit? ARIEL: Mine would, sir, were I human. PROSPERO: And mine shall. (Tempest, 5, 1, 15–20)
Revising his »project« (Tempest, Epilogue, 12) to be »more confessional than vengeful«, Knapp asserts, Shakespeare’s final sovereign aligns himself with »a sociable theology« that refuses to disown the imperfections of »flesh and blood« (Tempest, 5, 1, 116). The hope of such a shared communion could, then, already _____________ 35 Derrida (2002), 59. 36 Ibid., 69, 26 f. 37 Knapp (2002), 53 f.
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be the context of Orsino’s promise at the end of Twelfth 1ight that when »golden time convents,/A solemn combination shall be made/Of our dear souls« (5, 1, 369–71), in the unimaginable coexistence of »convents« with »a kind of Puritan« (2, 3, 125) like Malvolio. For Knapp, however, the turning-point came early in the reign of James I with All’s Well That Ends Well, a comedy set in Montaigne’s France, with its Wars of Religion, which laughs that »young Chairbonne the puritan and old Poisson the papist, howsome’er their hearts are severed in religion, their heads are both one: they may jowl horns together like any deer i’th’herd« (1, 3, 45–48). Perhaps cued by Henri IV’s Edict of Toleration, the novelty of this play is that it is therefore the first to end well not through power but impotence, when the sick king is healed by the plebeian Helena and in the Epilogue abdicates his prerogatives: »The King’s a beggar now the play is done.« So with the impostor Paroles betraying theatre’s own complicity, and a bottom line that »There’s place and means for every man alive« (4, 3, 316), All’s Well marks a precious leap in Shakespeare’s effort to beggar power by thinking of unconditionality without sovereignty. As Ryan declares, »It redefines ending well as an unending endeavour […]. It puts us on stage to make the fairy tale come true.«38 The play has a word for this unconditionality. Repeatedly, it calls the tolerant new dispensation by the Protestant theological term of »grace« (1, 1, 75; 1, 3, 206; 2, 1, 159; 4, 5, 15; 5, 2, 38–41). »What the devil should move me to undertake the recovery of this drum, being not ignorant of the impossibility« (All’s Well, 4, 1, 31–32): biographers view Paroles’ humiliation, after the braggart admits the impossibility of his boast to retake his regimental drum, as a sign of Shakespeare’s self-disgust as a »man of words« demeaning himself to entertain the great.39 This play-within-the-play is said to figure the poet’s »impossible« undertakings as a beggar at the feast.40 If so, the military farce would articulate its likely origin as a coronation commission by Sir Philip Sidney’s sister Mary Herbert Lady Pembroke, and Paroles’ ambush its author’s inveiglement by this dynasty of British warriors, whose chatelaine is said to have urged her handsome son to bring the king at this time to see As You Like It at their Wiltshire mansion, where »we have the man Shakespeare«.41 In his study of this stellar family, Earls of Paradise: England and the Dream of Perfection, Adam Nicolson makes a compelling case for the Victorian tradition that the dramatist did revise As You Like It for the Wilton royal Christmas of 1603, classicising the text with »Grecian« pederasty and a masque of Hymen to divert the king and oblige the hosts in their idea of an aristocratic Arcadia, a perfect state where sovereignty is disarmed to »fleet the time carelessly, as they did in the golden world« (1, 1, 102). Thus a play about the fraught politics of friendship now closed with »a dance in which unity and harmony bring happiness _____________ 38 39 40 41
Ryan (2005), 49. Nicholl (2007), 267. Skura (1993), 137. Schoenbaum (1975), 126.
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and increase […] Arcadia has triumphed. That, surely, was the countess’s intention, a washing of Arcadian balm over the mind of a king inclined to absolutism and tyranny.«42 »Then is there mirth in heaven/When earthly things made even/Atone together«: if it was added for the Herberts, with its »Still Music« (5, 3, 106–108) this apotheosis of Hymen, which Stephen Orgel calls »the most baffling moment in the play«, would count as the original Stuart masque, predating Samuel Daniel’s Vision of the Twelve Goddesses, and a trial run for those epiphanies with which Shakespeare later turned to the classical gods to resurrect perfection.43 His angry pastoral of »brothers in exile« (2, 1, 1), based upon the class war that rives Sidney’s Arcadia, was thus tamed into »the most convincing statement of Arcadia ever made«, with its English forest transformed by »a Greek invocation« (2, 5, 53). Legend even has it that the poet played the old retainer Adam, who personifies the deference of this »antique world« (2, 3, 58). Earls of Paradise conjectures that his service in fact dated back to the sonnets he began on orders of the countess to induce her son William to marry, before he fell in love himself not only with »Mr. W. H.« but with the idyllic estate of Wilton, its »summer’s green all girded up in sheaves« (Sonnet 12).44 The theory is beguiling. But what Nicolson cannot deny is the elegiac message of Et in Arcadia Ego that haunts Arden in the »second childishness and mere oblivion« of the failing Adam (2, 7, 164); nor the irony, as the Sonnets consign the »imperfect shade« (Sonnet 43) of the Fair Youth to »wastes of time« (Sonnet 12), that the poet’s paradise garden is writing itself.45 The English Arcadia had been another »dream of power«, Earls of Paradise admits, »because it relied in the end on the imposition of authority«.46 But the secret story of the Sonnets is one of disempowerment, the dream of the unconditionality of a poetry without sovereignty, and of the expulsion from the poem of its lord and master as an intruder himself: When I consider every thing that grows Holds in perfection but a little moment, That this huge stage presenteth naught but shows Whereon the stars in secret influence comment; When I perceive that men as plants increase, Cheerèd and checked even by the selfsame sky; Vaunt in their youthful sap, at height decrease, And wear their brave state out of memory: Then the conceit of this inconstant stay Sets you most rich in youth before my sight,
_____________ 42 Nicolson (2008), 148 f. For As You Like It and the Herberts, see also Barroll (1991), 38–41, 124. 43 Orgel (2002), 17. 44 Barroll (1991), 132 f. For the play’s connections with Sidney’s Arcadia, see Gibbons (1993), 153–181. 45 For As You Like It and the theme of »Death in Arcadia« see Cody (1969), 69, 161 f. The classic study remains Panofsky (1955), 295–320. 46 Nicolson (2008), 268.
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Where wasteful time debateth with decay To change your day of youth to sullied night; And all in war with time for love of you, As he takes from you, I engraft you new. (Sonnet 15)
»Your […] youth […] yew«: the »yew« springing from the grave in Sonnet 15 engrafts the youth’s perfection on the engraved leaf of the page. Divided, like Derrida’s writing, between the liberation of language and obligation to the other, each of these texts is a similar work of mourning in which the name of the lover is suppressed. No sovereignty: whatever its location, his »inconstant stay« in that perfect place taught Shakespeare the »conceit« of Sidney’s »Stella« sonnets and Defence of Poesy, that the aesthetic brooks no rival: »Only the poet, disdaining to be tied to any such subjection […] doth grow in effect another nature […] Her world is brazen, the poets only deliver a golden.«47 Perfection cannot be realised, Sidney had demonstrated, except in »a literary performance«.48 But it was theatre that freed Shakespeare to turn this lesson back on Sidney’s stellar world with the corollary that »this huge stage presenteth naught but shows« on which the actual stars stare down. »All the world’s a stage« (As You Like It, 2, 7, 138): the Globe’s own motto attested how »every thing that grows/Holds in perfection but a little moment«. So poetry is sovereign in the Sonnets, the »exception from any rule except freedom to change«.49 »I cannot compare this prerogative to anything better« than to the rights of »a great Princess«, was indeed how Richard Mulcaster defined poetic license.50 In these texts it is not therefore sovereignty but »perfect’st love« (Sonnet 51) that pardons: »Whilst I, my sovereign, watch the clock for you […] So true a fool is love that in your will,/Though you do anything, he thinks no ill« (Sonnet 57).51 Just as the »law itself is perfect wrong« (King John, 3, 1, 115) when mimed on stage with »princes to act,/And monarchs to behold the swelling scene« (Henry V, Prologue, 3), these poems about the
_____________ 47 Sir Philip Sidney, A Defence of Poetry, 78. Cf. Mikics (2009), 247: »[Derrida] embodied a contradiction that is still ours, between the liberation that we sense in an extended field of meaning and our ethical obligation to others«. 48 Lobsien (2005), 117. 49 Goldberg (2003), 37. Cf. Fineman (1991), 110–113, 169, 193 f. Louis Marin saw the same »subjectivity-effect« deconstructing the elegiac genre in Poussin’s Arcadian paintings: »Who is […] ego, I, functioning like the three letters, EGO, that Poussin paints on the wall of the sarcophagous, assigning him to the place of painting himself when he paints […]. Yes, to be sure, even in Death Arcadia can be […] I, the dead painter in the painted tomb; I, in the utopian happiness of painting, Arcadia.« (Marin [1999], 119). 50 Mulcaster, The First Part of the Elementary Which Treateth of Chiefly of the Right Writing of the English Tongue, 158. 51 Ibid.
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escape from service reverse the role of the guest, as they take the host hostage and enact the manumission of the player from the prince.52 »These pencilled figures are/Even such as they give out« (Timon, 1, 1, 163): as Hugh Grady has argued, scenes like the one with the Poet and the Painter in Timon of Athens reveal Shakespeare reacting to Sidney’s Defence of Poesy by asserting the superiority of the artwork to a patronage system where »Smoke and lukewarm water/Is your perfection« (3, 7, 81–82), and by outlining a notion of the autonomy of art that is »closer to post-Kantian aesthetics« than to Aristotle’s idea of mimesis.53 Thus in the sonnets about perfection he wrote for his sun king the poet who signs himself »your Will« says he enters as »an unperfect actor on the stage«. Yet his swelling conceit is that as practice makes perfect perfection resides in what Stanley Cavell calls the »impossibility of the perfect text«: »So I, for fear of trust, forget to say/The perfect ceremony of love’s rite […] O let my books be then the eloquence« (Sonnet 23).54 ›Perfection‹ for Shakespeare means word perfect, his lines suggest, the perfect timing of actors »Creating every bad a perfect best« (Sonnet 114) in what Falstaff calls a »true and perfect image of life« (1Henry IV, 5, 4, 116–117). So as kingship becomes »too perfect« in the language of imperfection, it is trumped by the game Hal plays »in the perfectness of time« (2Henry IV, 4, 3, 74), as when he assures Poins »Thou art perfect« in the guise of power (1Henry IV, 2, 5, 31; 3, 1, 198; 5, 4, 116). These king’s men appear »perfect in the use of arms« (2Henry IV, 4, 1, 153). »Such fellows are perfect« in parts »they con perfectly« (Henry V, 3, 6, 65–70). For in this battle between the pen and power, as the Chorus asserts in the most hyperbolic of all Shakespeare’s attempts to think unconditionality without sovereignty, there is no perfection that is not that of the ›imaginary‹: Suppose within the girdle of these walls Are now confined two mighty monarchies […] Piece out our imperfections with your thoughts: Into a thousand parts divide one man, And make imaginary puissance. (Henry V, Prol, 19–25)
If these plays ask us to »piece out imperfections« to make »imaginary puissance« that is because their idea of perfection trembles on a threshold of impossibility that will become that of the aesthetic.55 It is revealing therefore that their »imaginary puissance« is finally projected not onto English history – where the _____________ 52 See Bradbrook (1962). Cf. Kernan (1995), 180: »One way of describing the plot of the sonnets is to speak of a movement from the lyric to the dramatic mode […] both a love story and a description of a failed patronage relationship«. 53 Grady (2009), 101. 54 Cavell (2005), 36: »I might put it as the wonder that these orders of words can have been found, that these things can be said at all […] namely, that anyone can have been responsible for these texts, in however imperfect states«. 55 For a provoking riff on the Chorus as »a spiralling upping of the ante« of undecidability, see Connor (2007), 12–15.
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Land of Cockaigne in which »peace proclaims olives of endless age« remains the dream of »things to come« (Sonnet 107) – but on the pre-Christian or classical worlds that provide termini for almost everything Shakespeare penned for the Globe. Clifford Leech long ago remarked that Greek settings in particular »gave Shakespeare special liberty«, and that if he was puzzled by Greece »he felt curiously free« when he went there in imagination, as if he believed that in a place like Athens »we should think ourselves for ever perfect« (Timon, 1, 2, 82– 83), for all the imperfections of that »imperfect man«, the Greek »who dreamt a dream of human brotherhood«.56 So from The Comedy of Errors to The Two 1oble Kinsmen, his voyage to Greece was a homecoming or return to source, in this interpretation, to recall that perfect time when »We came into the world like brother and brother« for a time to come when we once again »go hand in hand, not one before another« (Comedy of Errors, 5, 1, 427). Yet if Shakespeare’s Greece is finally a ruin of »fragments, scraps, the bits and greasy relics« (Troilus and Cressida, 5, 2, 159) of broken promises, that is because of the way the time of power intrudes into this messianic space. In Antony and Cleopatra, for example, there is an instant of ghostly premonition at Alexandria, the gateway between Europe and Asia, when Octavius senses that »The time of universal peace is near./Prove this a prosp’rous day, the three-nooked world/Shall bear the olive freely« (4, 6, 4–6). The future Caesar Augustus will, however, shortly make this »universal« state of exception identical with himself, and here he is merely invoking »the imperial theme« (Macbeth, 1, 3, 128) of Western hegemony, the transit imperii, or permanent emergency, that today goes by the name of the United States of America.57 Editors relate Caesar’s forecast of the end of history in the Pax Romana to Plutarch’s statement that »It was predestined the government of all the world should fall into Octavius Caesar’s hands«, and to Virgil’s ecstasy in his Fourth Eclogue that Augustus makes Time run back to fetch the Age of Gold: when »Justice comes back to dwell with us, the rule of Saturn is restored«, and »The Firstborn of the New Age is already on his way«.58 So it is tempting to connect this uncanny presentiment of the birth of Jesus Christ with James’s project to reunite Christendom as its Rex Pacificus, and to decode the prophecy as flattery of Britain’s would-be Augustus.59 For some new world is surely coming in this play that mentions »this great world« (2, 6, 9) twice as much as any other;60 in which flaming apocalyptic portents from the Book of Revelation fuel expectancy; _____________ 56 Leech (1963), 18 f. 57 Cf. Kamuf (2002), 14: America, »the effective or practical name for the theological-political myth we call sovereignty«. For the Augustan imperium as a permanent state of emergency, with the sovereign as a »living state of exception«, see Agamben (2005), 67 f., 80–83. 58 Spencer (1964), 245; Virgil, The Pastoral Poems, IV, ll. 4–8, p. 53. 59 Jones (1977), 47. For James’s reiterated call for a »general Christian union« in the period 1603– 1606, see Patterson (1997), 36–57 et passim. 60 »The world« is mentioned 44 times (twice as many times as in Hamlet).
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and in which the words »comely« and »becoming« keep recurring as pointers to the immanence of identity itself.61 There is an incipience or »to-effect«62 in Antony and Cleopatra as urgent as the »odour of imminence« which for Cixous makes Julius Caesar, with all its shouts for »peace, freedom, and liberty« (3, 1, 111), »smell like time«.63 But there is also the evil spirit of the old totalitarian monstrosity, when the messianic prophecy is heralded by sinister music of oboes »under the stage«, signifying that »the god Hercules, whom Antony loved,/Now leaves him« (4, 3, 13). In Plutarch it was Bacchus, the god of wine, who defected. But it seems Shakespeare changed a story that echoed the flight of the gods and withdrawing cry of Pan on the morning of Christ’s Nativity to the »Choice of Hercules«, as if to emphasise how the strong will always prefer the grapes of wrath to the wine of love:64 2 SOLDIER: Peace, what noise? 1 SOLDIER: List, list! 2 SOLDIER: Hark! 1 SOLDIER: Music i’th’air. 3 SOLDIER: Under the earth. 4 SOLDIER: It signs well, does it not? 3 SOLDIER: No. (Antony, 4, 3, 9–12)
»Heard you of nothing strange about the streets? [...] Belike ’tis but a rumour« (3–5): on the starlit battlements where the guards keep watch a spectre is once more haunting Europe in Antony and Cleopatra, the spectre of a sovereignty that begins by coming back, and »After the end of history, repeats itself, again and again«.65 So on the threshold of a New Age, this is the same ironic contretemps between Roman and Christian eschatologies as made Brutus unsure about a good end, when in the dark before dawn it was impossible to decide if the »monstrous apparition« which made his hair stand up was »some god, some angel, or some devil« (Julius Caesar, 4, 2, 330). Shakespeare will return many times to the nearcoincidence of the two J. C.s, Christ and Caesar; and to the Heideggerian Advent motif that »the beginning exists still. It does not lie behind us as something long past, but stands before us« in wait.66 But this drama that opens with Antony’s apocalyptic vision of a »new heaven, new earth« (1, 1, 17) concludes in a parody _____________ 61 See Adelman (1973), 144 f; Miles (1996), 178–181. For the »grotesque« allusion to »another ›eastern star‹ and another nativity« see Fichter (1980), 109. For Shakespeare’s »outstanding« use of the book of Revelation in Antony and Cleopatra, see Shaheen (1999), 644–657. 62 Royle (2003), 41. 63 Cixous (1998), 61. 64 For the lament of the old gods »On the Morning of Christ’s Nativity«, Frazer (1911), 6–8; Patrides (1965), 500–507; Boardman (1997), 42 f. And for a commentary on Milton’s similar concept of immanence, see Quint (2003). 65 Derrida (1994), 10. 66 Heidegger ([1933] 1993), 32. For Shakespeare’s fascination with the near-coincidence of the »two J. C.s«, see Wilson (2007), 194–200.
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nativity so monstrous, with Cleopatra nursing her »baby« asp as Charmian exclaims »O eastern star!« (5, 2, 299), that the effect must be to distance the Messiah from any New World Order to which, in the worst category mistake, »Herod of Jewry may do homage« (1, 2, 24).67 As Antony foretold, »mothers shall but smile when they behold/Their infants quartered« (Julius Caesar, 3, 1, 270) in the Massacre of Innocents that inaugurates this epoch of global peace. Yet it is to this same Mediterranean littoral and Hellenistic horizon, where »darkling stand[s]/The varying shore o’th’world« (Antony, 4, 16, 10–11) in the agon between two representations of the divine, that the romances return, as like Hölderlin Shakespeare locates scene after scene in the ambiguous interstices of Alexandria, Antium, Antioch, Athens, Corinth, Delphos, Syracuse, Tarsus, Troy or Tyre, in the cosmopolitan spaces of the early Church, and so returns to his beginning, when he had situated The Comedy of Errors in the haunted Ephesus of St. Paul.68 What troubles such New Testament settings is their marginality, the cold coming they prepare on the frontiers of the classical world, in the caesura before the dawn of the Christian era.69 But critics have recently been struck by the aptness to these dramas of Alain Badiou’s post-Marxist reading of Paul as a »new figure of the militant«, who helps us escape Schmitt’s double bind when he asserts »ye are not under the law, but under grace« (Romans 6:14), for »when I am weak, then am I strong. I am become a fool« (2 Corinthians 12:10–11).70 If the etymology of ›romance‹ is Rome, it thus comes as no surprise that all these romances revert to this Pauline space of potentiality, where as Jean-Luc Nancy writes, »the inaugural flight of the Gods« initiates the possibility of the state of exception without sovereignty, for as Milton put it in his 1ativity Ode, this was the singular time and one place where the »kings sat still«.71 »Thou metst with things dying, I with things new-born« (Winter’s Tale, 3, 3, 104–105): to Nancy, this interregnal hiatus between birth and death is the setting for the undecidable choice that defines the West, between the technological globalization of which Caesar speaks and perfect mondialisation – or altermondialism – the creation of a true world synonymous with justice and democracy as yet perceptible nowhere, since »injustice is unleashed everywhere: the earth trembles, viruses infect, men are criminals, executioners and liars«.72 And such is indeed the irresolvable choice between the wished-for perfection and our own realised imperfection with _____________ 67 For Herod, see Shaheen (1999), 649: »Many in Shakespeare’s audience, unacquainted with Plutarch, may have thought that this mention of Herod was a reference to the Biblical Herod the Great who slaughtered the babes at Jesus’ birth«. 68 For a commentary on Hölderlin, tragedy, and the caesura as the equilibrium between two representations of the divine, see Lacoue-Labarthe (1990), 41–46. 69 See Relihan (2003). 70 Badiou (2003), 2. For an insightful commentary, see Hallward (2003), 108–116. And for the relevance to Shakespeare, see, in particular, Gallagher (2005), 80–88. 71 Nancy (2007), 85; Milton, »On the Morning of Christ’s Nativity«, IV, l. 59, p. 106. 72 Nancy (2007), 111.
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which Shakespeare does seem to confront us in Pericles, when after all his restless wandering in the steps of St. Paul, as he approaches the liminal space of Ephesus the king who has been reunited with the daughter he supposed dead at last sits still: PERICLES: Give me my robes. I am wild in my beholding. O heavens, bless my girl! But hark, what music? Tell Helicanus, my Marina, tell him O’er point by point, for yet he seems to doubt, How sure you are my daughter. But what music? HELICANUS: My lord, I hear none. PERICLES: None? The music of the spheres! List, my Marina. LYSIMACHUS: It is not good to cross him. Give him way. PERICLES: Rar’st sounds! Do ye not hear? LYSIMACHUS: Music, my lord? [I hear.] PERICLES: Most heavenly music! (Pericles, 5, 1, 221–231)
No sovereignty: the king who comes back at the end of Pericles is as much a fool as the Lear who hoped to grasp »the mystery of things«, since »This is the rarest dream, that e’er dull’d sleep/Did mock sad fools withal« (161). But instead of the executioners having the last word, in this replay it is actors, audiences and readers who must decide how the story ends, by assigning to either the fool or politician the words »I hear«. Editors tell us the text is so corrupt »There is no solution to the problems of Pericles.«73 But sailing towards Byzantium, this play always promised a universal stillness when »[T]he senate-house of planets all did sit,/In her their best perfections to knit«. Its protagonist is a »man on whom perfections wait«. He calls his story »godlike perfect«, and when he writes it down the physician Cerimon recites it to resurrect the dead queen, praying »Apollo, perfect me in the characters« (1, 1, 11; 80; 3, 2, 69; 5, 1, 206). So, if perfection is in the eye of the beholder in this drama, the onus is on its interpreters to choose whether to join the mad king in his »wild beholding« of »the music of the spheres« which, after Nancy, we might ourselves hear as the song of the earth. Unless the affirming words are given to the lecher Lysimachus no one else can hear the heavenly harmony. Yet this has not stopped editors inserting »Celestial music« when Pericles now has a vision of goddess Diana ordering him to her Ephesian temple to kneel »before the people all« (241). As Shakespeare’s »Earls of Paradise« understood, the Neoplatonist ideology that »the touches of sweet harmony« restore »earthly things« to »true perfection« (Merchant of Venice, 5, 1, 56; 107; As You Like It, 5, 4, 98) is hard to resist. That was the illusion of power in the court masques, where technical marvels, »the ability to overcome gravity, control the natural world, reveal the operations of the _____________ 73 Edwards (1976), 41.
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heavenly spheres, were supreme expressions of Renaissance kingship«.74 But there is so much humanity in this salty tale of liars and criminals who rush out of the brothels to »go hear the vestals sing« (4, 5, 7) that any angelic orchestra sounds premature. To impose such technical perfection is to restore sovereignty when the temple scene lets us piece out the imperfection for ourselves. For there Shakespeare recycles an old trick when Pericles and his lost wife are reunited at the altar she serves in »silver livery« after »the nun« faints at his voice (5, 3, 7– 15). This might be enough for the king to offer »Night-oblations« to the statue of Diana; but the stress on ageing human bodies leaves us to decide »who to thank,/Besides the gods, for this great miracle« (5, 3, 57–58). And such uncertainty about a potential for human perfection is only intensified when Shakespeare restages the same tableau in The Winter’s Tale, but with prayers now led for the Syracusan tyrant Leontes by the aptly-named Paulina before the statue of the »Lady« herself: LEONTES:
PERDITA:
O royal piece! There’s magic in thy majesty, which has My evils conjured to remembrance, and From thy admiring daughter took the spirits, Standing like stone with thee. And give me leave, And do not say ‘tis superstition, that I kneel and then implore her blessing. Lady, Dear Queen, that ended when I but began, Give me that hand of yours to kiss. (The Winter’s Tale, 5, 3, 38–46)
»A statue realizes an instant that endures without a future«, reflected Levinas, for »an eternally suspended future floats around the congealed position of a statue« like a future for ever to come: »Eternally, the smile of the Mona Lisa about to broaden will not broaden […] The artwork does not succeed […] when it does not have that aspiration for life which moved Pygmalion. But it is only an aspiration […] an ambiguity that constitutes the particular magic of Shakespeare.«75 So Hermione’s statue is said to be by »that rare Italian master Giulio Romano, who, had he himself eternity and could put breath into his work, would beguile nature of her custom, so perfectly he is her ape« (5, 2, 87–90). The eeriness of a fictional work attributed to a real dead artist, the only Renaissance one mentioned by Shakespeare, raises the spectrality of an art which »from the all that are took something good/To make a perfect woman« (5, 1, 14–15). So, when the statue does »move indeed« (88), this is a clinching moment for critics who think the romances voyage to a land where »wishes fall out as they’re will’d« (Pericles, 5,
_____________ 74 Orgel (1975), 58. 75 Levinas (1989), 138–141.
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2, 16) that happens to be coded Christian.76 Of course, Hermione has been »preserved« (5, 3, 128); so her emergence can be explained naturalistically. Yet the twist is that this creaturely creation really is a work of art, »now newly performed« by a boy but scripted by »that rare […] master« William Shakespeare (5, 2, 87). The myth of Pygmalion haunts all these works. But only in this »chapel« doubling as a »gallery« (5, 2, 10; 86) does it cue such assurance that »the resurrection of the dead is already here«: in the anachronism of an impure art composed out of the imperfect materiality of the body, where »our human actions« (3, 2, 27) are what constitute the event. As Julia Lupton comments, Christianity is not so much evacuated in this playing with bodies as »transported« into the afterlife of the stage.77 And such seems to be the project of the one drama that directly deals with the uncanny historic coincidence of Jesus Christ and Julius Caesar, and the transfer of sovereignty from one to the other, but that likewise suspends in its ambivalent histrionics the life to come. With Cymbeline Shakespeare devised a truly Baroque »archaeology of the future« prompted by the cosmic joke that the British king reigned at the very instant of the Nativity without the good news about »this gracious season« (5, 6, 401) ever being heard. This naïve obliviousness propels a plot in which the Britons refuse to surrender sovereignty by paying up when the adventitious decree goes »out from Caesar Augustus, that all the world should be taxed« (Luke 2:1). Tortuously, Britain and Rome are reconciled; and critics suspect another nod to the transit imperii and James, Jonathan Goldberg regarding the drama as the counterpart of Rubens’ Whitehall Banqueting House apotheosis, where the king joins justice, peace, unity, and plenty in an overwhelming image of royal perfection.78 But the Eternal City is now the Renaissance Sodom of the Borgia popes, its »smoky light […] fed with stinking tallow« (1, 6, 110–111). So the closing hope that »The fingers of the powers above do tune/The harmony of this peace« is double-crossed by all the »crooked smokes« that »climb to their nostrils/From our blest altars« (5, 6, 466–478). No sovereignty: as we draw ever nearer to the »event o’the’journey« (Winter’s Tale, 3, 1, 11) in the landscape of classical Greece, with each of these late plays about lateness it seems the state of perfection remains for ever veiled, »the more delayed, delighted« (Cymbeline, 5, 5, 196) in the interminable mediation, indefinition, or suspense of art: CLEOMENES:
The climate’s delicate, the air most sweet; Fertile the isle, the temple much surpassing The common praise it bears.
_____________ 76 Ryan (2002), 109. For the Marian overtones of the statue scene, see in particular Lupton (1996), 176–178, 206–218; and Wilson (2004), 257–266. 77 Lupton (1996), 207. 78 Goldberg (1983), 240. For the coincidence of the reign of Cymbeline, the Pax Romana, and the birth of Christ, see Jones (1961), 88–92; Moffet (1962); Felperin (1972), 180–188; Richmond (1972); Wickham (1973), 36; Garber (1977), 113 f.; and Bergeron (1980).
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DION:
I shall report For most it caught me, the celestial habits – Methinks I so should term them – and the reverence Of the grave wearers. (Winter’s Tale, 3, 1, 1–6)
»In the morning the boat glided slowly on the calm water toward Delos, and at once […] a veiled great beginning was expressed […] ǻોȜȠȢ, the manifest, the one that reveals and does not hide but, at the same time, the one that conceals«: Heidegger’s long-deferred luxury cruise to Greece supplied a climax to the philosopher’s life of thinking about the disappearing gods that strangely reprised the same voyage in the romances, with its tragicomic mix of musing on »the unconcealed« and grumpy discomfiture at the chattering tourists with their »technological entanglement« of cameras and radios. It is easy to smile; but Heidegger’s botheration at »the tourist’s zeal, in which one was, without being aware, included«, is very similar to Gonzalo’s amnesia about his own sovereignty on his imagined island of perfection, while the challenge that it poses echoes Shakespeare’s: »How man sets himself free in relation to a power that is capable of warding off the violence in the essence of technology.«79 Of course, the harassed philosopher’s real faux pas was the truly unforgivable category error of his 1933 »Journey to Syracuse«, compounded by his self-pitying sophistry that »Greater men have made mistakes: Hegel saw Napoleon as the World Spirit, and Hölderlin as a prince of the feast to which the gods and Christ had been invited«.80 When Shakespeare dramatised the allure of Syracuse in The Tempest, however, and set his play on an island near the Sicily where Plato had imagined the tyrant would build his ideal republic, he presented the problem of human perfection as the very same »question concerning technology«. Prospero’s premonition that »The cloud-capped towers, the gorgeous palaces,/The solemn temples, the great globe itself,/Yea, all which it inherit, shall dissolve«, seems like a peculiar reason to be as »cheerful« as he commands (4, 1, 152–154). But then the entire play has exposed what he calls the »vanity of mine art« (41) as no more than »a perfected male fantasy«,81 as from the moment he directs Miranda to lift up »the fringed curtains of thine eye […]/And say what thou seest« (1, 2, 412), successive unveilings have revealed every perspective on this New World to be a further enframing by the Old. The Tempest is uniquely aware of the collusion between the mechanics of the Renaissance theatre and actual discovery scenes of colonialism, and so of its complicity in the sovereignty which always begins by coming back. No artwork has ever been more alert to the inescapable imbrication of culture with barbarism, perfection with imperfection, than this tragicomedy that turns on an impresario’s decision to deconstruct his playhouse, unmask its violence, and, in the sinister pun that incriminates the _____________ 79 Heidegger (2005), 26, 29–31, 42. 80 Heidegger, letter to Hans-Peter Hempel, September 19 1960, quoted in Safranski (1998), 229. 81 Roberts (1991), 51.
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technology of the Globe with the techniques of the torture chamber, »leave not a rack behind« (4, 1, 156). As Stephen Greenblatt observes, the most momentous ethical choice in Shakespeare is therefore Prospero’s last-minute decision to give up his theatre machinery, »the romance equivalent of martial law«.82 »Be not afeard. The isle is full of noises,/Sounds, and sweet airs«: on Prospero’s isle Shakespeare came near to solving the »question concerning technology« by envisioning an art that will »give delight but hurt not« (3, 2, 130– 131). With its dismantling of »the great globe itself« his renunciation anticipates Enlightenment hostility to »scenes and machines«83 as an absolutist imposition upon the disinterestedness of the stage. And this deactivation does seem to open a passage towards that impossible state of exception without sovereignty in which, as Giorgio Agamben dreams, »humanity will play with law as children play with disused objects, to free them from it for good«, for now »a score of kingdoms« are metonymized into the perfect »play« (5, 1, 177) of a game of chess.84 »Pardon’s the word to all«, the senile king therefore decrees (Cymbeline, 5, 6, 423); and in his late book On Late Style Edward Said considered that by so disabling sovereign violence these plays attain serene perfection in »holiness and resolution«.85 We might prefer to see these peripatetic, cosmopolitan tragicomedies, in which Shakespeare seems to strain like Ariel for the »liberty« of aesthetic space (1, 2, 246), as closer to the restless, unreconciled spirit of Derrida, however, when he conceded the impossibility of such a perfect forgiveness, and reflected that »if we were to begin to accuse ourselves, in asking forgiveness, of all the crimes of the past against humanity, there would no longer be an innocent person on earth«, considering how »[w]e are all heir […] to persons or events marked […] by crimes against humanity«, and that »[s]ometimes these events, these massive, organised, cruel murders, which may have been revolutions […] were the very ones which permitted the emergence of concepts like human rights, or the crime against humanity« itself.86 So: As you from crimes would pardoned be, Let your indulgence set me free. (Tempest, Epilogue, 19–20)
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Greenblatt (2007), 76 f. Addison, The Spectator, I: 180, quoted in Gaston (2005), 44. Agamben (2005), 64. Said (2007), 6. For the persistence of this trivialising reading, see Butler (2005), 6: »Shakespeare’s life ended in a mood of philosophical calm and otherworldliness«. 86 Derrida (2002), 29 f.
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Die Vollkommenheit des Unvollkommenen. Marvells neuplatonisch-biblisches Bild der Seele: »On a Drop of Dew« VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN (Berlin) 1. Marvells Seelenbilder Andrew Marvells Gedicht »On a Drop of Dew« ist nicht das einzige seiner poetischen Seelenbilder. Immer wieder präsentieren seine Gedichte Porträts; wiederholt präsentieren sie auch sich selbst als Porträts – nicht nur als ambivalente Herrscherbilder Cromwells und Karls I. oder als satirische characters zeitgenössischer Persönlichkeiten und Typen (mitunter unter dem programmatischen Titel »Advice to a Painter«), sondern auch als ostentativ fingierte Bildnisse, die ihre piktoriale Qualität ausstellen und vorzeigen. Zu ihnen zählt etwa das Ensemble von Bildern der Geliebten Clora, deren Vielgesichtigkeit, in ekphrastischer Anschaulichkeit beschrieben, die Seele des Liebenden zu einer Gemäldegalerie macht (»The Gallery«); das verstörende Emblem des in seiner Qual festgebannten unglücklich Liebenden mit seiner rätselhaften Heraldik (»The Unfortunate Lover«); das verzerrte Spiegelbild seiner selbst, das der verschmähte Damon in seiner Sense erblickt (»Damon the Mower«), die blumengerahmte pictura der kleinen »T.C.« (»The Picture of Little T.C. in a Prospect of Flowers«), oder die Statue des schneeweißen Rehkitzes, das in »The Nymph Complaining for the Death of her Fawn« schließlich zum alabasternen Monument seiner eigenen Vollkommenheit und des unüberbietbaren Schmerzes über seinen Tod versteinert. In diesen fiktiven Seelenbildern werden spezifische, erotische Subjektivitäten vorgeführt. In ihren selbstreferentiellen Porträts erstarrt oder wird in prägnanter Evidenz stillgestellt, was zuvor in leidenschaftlicher und unruhiger Bewegung gezeigt wurde. »On a Drop of Dew« unterscheidet sich von diesen Seelenbildern nicht nur durch die gleichsam generische Anonymität seines Gegenstands. Der Tautropfen ist nicht ein besonderer, sondern unbestimmt; was über ihn gesagt wird, trifft auf jeden Tautropfen zu. Zwar ist auch seine Unruhe erotisch getönt, aber weder Qualität noch Ziel seiner Sehnsucht sind ohne weiteres angebbar. Vor allem ist die Teleologie der poetischen Erzählung genau umgekehrt. Hier gerät in dynamische, verwandelnde Bewegung, was sich zuvor schon in einem Zustand statischer Perfektion zu befinden schien. Zugleich ist dies eines der philosophisch
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einlässlichsten Gedichte Marvells und das einzige gänzlich ungebrochen neuplatonische – zumindest auf den ersten Blick. Zwar enthält auch »The Garden« eine neuplatonische Vignette in Gestalt des Seelenvogels, der sich mit Gesang und Pflege seines schillernden Gefieders darauf vorbereitet, sich zu »longer flight« emporzuschwingen (Strophe VII). Aber im Gegensatz zu diesem von zahlreichen konkurrierenden Vorstellungen umgebenen Seelenbild konzentriert sich »On a Drop of Dew« in Gestalt des Tautropfens auf eine dominante, nahezu über die gesamte Länge des Gedichts ausgeführte Metapher. Zudem entfaltet der Text nicht nur eine Vorstufe des Aufstiegs, sondern enthält das komplette psychologische Narrativ vom ›Fall‹ der Seele ins Stoffliche bis zu ihrer Rückkehr zum Einen. Vervollkommnung wird, so scheint es, auf vollkommene Weise vergegenwärtigt. Und es scheint in seinen Schlussteilen seinen vollkommenen neuplatonischen Kursus nochmals theologisch zu überbieten. Jedoch gerät dieser Schluss gerade aus der Perspektive der Frage nach Vollkommenheit in eine überaus problematische Beziehung zum Vorangegangen. Die Art dieser Komplikation und damit auch der Marvellschen Transformation und Funktionalisierung des Neuplatonischen mit der in ihm enthaltenen Vollkommenheitsvorstellung soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein.
2. Neuplatonische Vollkommenheit Eine kurze Rekapitulation der Grundzüge der Seelenlehre Plotins lässt erkennen, wie präzise Marvells Gedicht deren philosophische Struktur reproduziert und welcher Art die Vollkommenheit ist, die dabei mitgedacht ist. Dass sich neuplatonische Denkfiguren als Interpretament für »On a Drop of Dew« geradezu aufdrängen, wird sich in der nachfolgenden Lektüre des Gedichts im Detail erweisen; hier sollen zunächst die relevanten Schemata hervorgehoben werden. In Enneade V 1, »Über die drei prinzipiellen Hypostasen« werden sie besonders deutlich. Plotins Argumentation nimmt ihren Ausgang von der Frage, weshalb die Seelen ihren Ursprung vergessen haben und ins Werden eintreten.1 Von Anfang an erscheint diese Ursprungsvergessenheit, die zur Abtrennung der Seele (psyché) und zum Abfall vom Einen im »Übermut« (tolma) führt, auch als Selbstvergessenheit. Die Seele verliert damit nicht nur den Kontakt zu Gott, sondern auch die unmittelbare Kenntnis ihrer selbst und ihres Wertes. Eben diese muss sie daher in einem Akt simultaner Selbstbesinnung und Erinnerung an ihre Herkunft wiederfinden. Zugleich lernt sie sich dabei in ihrer reflexiven Fähigkeit kennen. Durch diese ist sie imstande, ihr Prinzip als ein ihr Verwandtes, ja Gleiches zu _____________ 1
»Was ist es eigentlich, das dazu geführt hat, daß die Seelen Gott, ihren Vater, vergessen haben und, obwohl sie Teile von dorther sind und überhaupt zu ihm dort gehören, sich selbst und ihn nicht mehr kennen?« (V 1, 1). Die Enneaden werden im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach Plotin, Ausgewählte Schriften.
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erkennen.2 Der Aufstieg der Seele aus dem Bereich des bloßen Werdens, des Materiellen, Leiblichen, das sie umgibt wie ein flüssiges, bewegtes und bewegendes, potentiell überwältigendes Medium,3 beginnt, indem sie sich dem »nach oben hin Benachbarte[n]«, dem Geist (nous), zuwendet. Zugleich beginnt mit dieser Aktivierung ihres Erkenntnisvermögens, das sie ja vom Geist hat,4 ein Prozess der »Vervollkommnung«, durch welchen die Seele mehr und mehr zu ihrem ursprünglichen Zustand der Einheit mit dem Höchsten zurückkehrt.5 Denn der Geist ist vollkommen, ebenso wie alles, was bei ihm ist;6 er ist vieles und gleichzeitiges Gestalten dieses Vielen, das er durch sein Erkennen (»sehendes Sehen«) zur Existenz bringt.7 So erzeugt er auch die Seele kraft seiner Vollkommenheit.8 Das aber vermag er, weil er seinerseits abkünftig ist und seine schöpferische ›Seh‹Kraft der Wirkkraft des Einen verdankt, das vor der Vielheit da ist. Er ist gestaltend und zugleich gestaltet vom Einen. Die Grundfigur einer dynamischen und verwandelnden Zirkularität, die gebildet und in Bewegung gehalten wird durch Reflexion als Rückwendung auf den Ursprung, von dem sie ausgeht, strukturiert das Verhältnis zwischen Seele, Geist und Einem. In den Schriften der Nachfolger Plotins, vor allem des Proklos, wird diese vorlaufend-rückläufige Beziehung in der Trias von Verharren (moné), Hervorgang (próodos) und Rückkehr (epistrophé) beschrieben.9 Plotin selbst bietet zur Erläuterung eine mythologische _____________ 2 3 4
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Die Seele »muß erkennen, was sie ist, wenn sie sucht – sie sollte zunächst sich selbst kennenlernen […]« (V 1, 1). Plotin bezeichnet dieses Medium mit einer Platonischen, eventuell auch Homerischen Metapher als »das Wogen des Körpers« (V 1, 2). Denn etwas blieb gleichsam oben, der höheren Welt attachiert, und ist nur gleichsam herabgeflossen, bewahrt aber etwas von der ›oberen‹, unteilbaren Ganzheit (vgl. die Formulierungen in Enn. VI 2, 1). Ähnlich wird das Verhältnis auch in Enn. I 1, 8 beschrieben: »[…] wir bestehen aus dem, wie es heißt, unteilbaren, oberen und dem an den Körpern geteilten Sein, wobei man das letztere so verstehen muß, daß es in dem Sinne an den Körpern geteilt ist, […] daß es den Körpern scheinbar gegenwärtig ist, weil es sie beleuchtet und Lebewesen erschafft, nicht aus sich selbst und dem Körper, sondern indem es selber [unverändert] bleibt, aber Bilder von sich abgibt, wie ein Gesicht in vielen Spiegeln.« »Da die Seele also vom Geist her ist, ist sie geistig erkennend […], und ihre Vervollkommnung kommt wiederum von ihm – so wie ein Vater einen Sohn großzieht, der bei seiner Erzeugung im Vergleich zu ihm selbst noch nicht vollkommen [IJȜİȚȠȢ] war. Sie hat also sowohl ihre Existenz vom Geist als auch ihre voll aktivierte rationale Struktur, die dadurch zustandekommt, daß sie den Geist sieht. Denn wenn sie auf den Geist hinblickt, besitzt sie das, was sie erkennt und worin sie aktiv ist, von innen her und als ihr Eigenes.« (V 1, 3). Der Geist sucht auch nicht »zu wachsen […], weil er schon absolut vollkommen ist. Aus diesem Grund ist auch alles, was bei ihm ist, vollkommen, damit er in jedem Punkt vollkommen ist, ohne irgendetwas zu enthalten, das nicht so wäre, also ohne in sich selbst etwas zu haben, das nicht geistig erkennt.« (V 1, 4). Während dem Geist also dieses Prädikat – das der Vollkommenheit eines Erkennens, das nicht im Suchen, sondern im Alles-Haben besteht – zukommt (ebenso wie das der reinen Gegenwart und der Glückseligkeit), ist das Eine prädikatlos. Vgl. V 1, 5. »Denn Geist erzeugt Seele, sobald er vollkommener Geist ist.« (V 1, 7). Zu Proklos siehe Beierwaltes (1979), sowie Radke (2006).
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Allegorie an, in der dem Einen Uranos entspricht, dem Geist Kronos und der Seele Zeus. Dadurch werden nicht nur Verwandtschaft, Abkünftigkeit und Prokreativität pointiert, sondern nicht zuletzt wiederum Zirkularität und Reflexivität. Denn Kronos/Geist hat seine Kinder – gleichsam alles, was er erzeugt hat, »die gesamte Schönheit der Formen« – »wieder herabgeschlungen« und entlässt erst »im gesättigten Zustand«, als vollkommener, die Seele/Zeus aus sich.10 In der Art und Weise, wie Plotin diese Zirkularität und Vollkommenheit denkt, werden Autoreflexivität und Wendung zu je Höherem ununterscheidbar.11 Selbstmitteilung ist Merkmal von Perfektion: je vollkommener, desto schöpferischer, »und was ewig vollkommen ist, zeugt ewig und etwas Ewiges«.12 So kann dann auch erklärt werden, wie und weshalb das Eine das Viele aus sich entlässt: Seine Selbstmitteilung geschieht zwanglos und selbstverständlich, und sie bringt auch keine Minderung oder Verausgabung mit sich. Darin gleicht sie dem Licht der Sonne, »das gleichsam um sie umläuft und aus ihr immer erzeugt wird, während sie bleibt.«13 Auch hier wird der Gedanke von einer Zirkularitätsmetapher strukturiert: »So gibt alles, was ist, solange es bleibt, aufgrund seines eigenen Seins rings um sich herum, in den Bereich außerhalb seiner selbst hinein, notwendigerweise etwas anderem Existenz, das aus der Wirkkraft kommt, die es bei sich hat, und das von ihm abhängig und gleichsam ein Abbild des Originals ist, dem es entsprossen ist.«14 Nicht anders als Licht, Feuer, Schnee oder Duft teilt das Eine zwanglos von sich mit, ohne dabei weniger zu werden. Es bildet sich außerhalb seiner selbst in einem anderen seiner selbst, das ihm doch ähnelt, ab (und kann in diesem Sinne »geben, was es nicht hat«15). Dieser Prozess läuft in beide Richtungen; das Verhältnis ist reziprok. Denn: »Alles strebt nach Schau; […]«.16 Geist und Seele stehen in sehnender Rück_____________ 10 Vgl. Enn. V 1, 7. 11 An dieser zentralen und umstrittenen Stelle (V 1, 6, 17–19) liegt eine übersetzerische und zugleich systematische Crux (vgl. auch den Kommentar Tornaus in Plotins Ausgewählte Schriften, Anm. 40, 351 f.). Ambivalent bleibt, ob das Sein entsteht, indem sich das Eine – in einem autoreflexiven Akt – sich selbst zuwendet oder indem das Sein sich dem Einen zuwendet. In jedem Fall scheint die Pointe der Passage gleichwohl die Aktivität des ›Hinblickens‹ zu sein und seine Richtung auf ein Anderes, das doch ein Gleiches ist bzw. sich darin als solches erweist. Könnte die Ambivalenz nicht auch ein poetisches Mittel sein, das eben die Simultaneität beider Momente des Prozesses auch sprachlich demonstriert? 12 Vgl. V 1, 6, 39. Der Gedanke der Selbstmitteilung des Göttlichen als Filiation ist grundlegend auch für die Trinitätsspekulation des Nikolaus von Kues; die Kommunikation des Besten und Höchsten an alle geschaffenen Dinge so, dass es in diesen wiederum manifest und ›illuminierend‹ sichtbar wird, ist ein zentraler Gedanke auch seiner Auslegung von Jak 1,17, De dato patris luminum (hier besonders Kapitel 1 und 2), eine der wenigen cusanischen Schriften, die im 17. Jahrhundert in englischer Sprache zugänglich waren. Zur möglichen Relevanz dieses Textes für »On a Drop of Dew« vgl. auch die Bemerkungen in Abschnitt 4. 13 V 1, 6, 29 f. 14 V 1, 6, 30–34. 15 Vgl. Enn. VI 7, 17, 1–6. 16 Enn. III 8, 1.
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wendung auf das je Höhere, von dem sie abhängen (aber das nicht von ihnen abhängt) und kommen so zu sich. Um zu sein, was sie sind, sind sie darauf angewiesen, auf ihre Erzeuger, auf Geist bzw. Eines, liebend hinzublicken17 und sich in deren Sehen zu finden.18 So erscheint auch das Verhältnis der Seele zum Geist wiederum als ein zirkuläres, zugleich als ein produziert-produzierendes. Die Seele steht in doppelter Berührung mit Höherem und Niederem, erhellt und erhellend: »Dies ist dasjenige, was sich um den Geist herum bewegt, ein Licht und eine Spur des Geistes, die von ihm ausgeht und von ihm abhängt – etwas, das auf der einen Seite mit dem Geist zusammenfällt und dadurch von ihm erfüllt wird, ihn genießt und an ihm teilhat, d. h. geistig erkennt, das aber auf der anderen Seite all das berührt, was nach ihm kommt […]«.19 Die Seele wird in dieser epistrophischen Bewegung20 immer mehr, was sie immer schon ist. Sie steht in Teilhabe am Unendlichen, in Kontinuität mit dem Vollkommenen, und wird in der Rückwendung auf sich in solcher Kontinuität dieser sie bestimmenden und als sie selbst im Dasein erhaltenden Bezogenheit gewahr. Je mehr sie zu sich kommt, desto mehr gerät sie außer sich; je mehr sie außer sich gerät, desto mehr kommt sie zu sich.21 Vollkommenheitsvorstellungen finden sich selbstverständlich nicht nur im neuplatonischen Denken. Auch die absoluten Metaphern von Kreis und Kugel sind bereits bei den Vorsokratikern22 zu finden, bevor Platon die Kugelgestalt als die »schönste und vollkommenste Figur« bezeichnet.23 Gleichwohl ist unübersehbar, dass die Platoniker zirkuläre Denkfiguren und Metaphern des Sphärischen in besonderer Weise bevorzugen;24 diese sind geradezu ein Merkmal platonischen Philosophierens. Und sie werden sowohl in epistemologischer und theologischer _____________ 17 18 19 20 21
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Vgl. V 1, 6, 50. Vgl. V 1, 7, 6. V 1, 7, 44–48. Plotin bezeichnet sie in einer Anspielung auf Phaidros 245c 5 auch als »das Immerbewegte« (V 1, 12, 5). Darin besteht ihre Vervollkommnung und ›Vergöttlichung‹: »Demnach ist auch unsere Seele etwas Göttliches, etwas, das zu einer anderen Natur gehört, so wie es die Natur der Seele als ganze tut. Sie ist dann vollkommen, wenn sie Geist hat; […]« (V 1, 10). Vollkommen wird sie durch Emanzipation vom Körper, indem sie ihm »fremd« wird, »ohne Neigung nach unten und frei von sinnlichen Vorstellungen« (ebd.), aber ohne Verachtung für die aisthesis: »weil ja das sinnlich Wahrnehmende mit zu uns gehört und wir nicht nur ein Teil der Seele, sondern die ganze Seele sind« (V 1, 12, 3–10). Auf Parmenides und seine Vorstellung vom Sein als Kugel beruft sich Plotin allerdings auch ausdrücklich in V 1, 8. Zu Kreis und Kugel als absolute Metaphern siehe auch Blumenberg (2001), 291–326; zur Geschichte des Begriffs der Vollkommenheit und seinen Bezügen zu Vorstellungen des Sphärischen siehe auch Hoffmann (2001), 1115–1132, sowie Mahnke (1966). Tim 7, 33b. Vgl. auch die einschlägigen Formulierungen bei Proklos, denen zufolge die Seele Kreis ist, der Geist ihr Zentrum und das Denken den Geist »umtanzt«. Auch die Seele »bewegt […] sich im Kreise, danach strebend, ihren Geist zu umfangen«, der sich seinerseits im triadischen Zirkel von Verharren, Hervorgang und Rückkehr »auf die Natur des Guten hin« bewegt (zit. nach Beierwaltes [1979], 210f).
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als auch in psychologischer und kosmologischer Hinsicht immer wieder mit Vollkommenheit in Verbindung gebracht. Das Zirkuläre bzw. Sphärische erscheint vor allem im Neuplatonismus als das Vollkommene.25 Ein Grund hierfür ist in der Affinität zu einer Seelenkonzeption zu vermuten, die Reflexivität in der eben skizzierten Weise zur grundlegenden Bewusstseinsstruktur erhebt. Selbstbewusstsein ebenso wie die Berührung der Seele mit ihrem Grund, ihr Ausgang von und ihre Rückkehr zu ihrem Ursprung im Einen sind kreisförmig strukturiert. Der Kreis bezeichnet in vollkommener Weise die doppelte Gerichtetheit dieser dynamischen Ausgangs- und Rückkehrbewegung und das Ineinander von Anfang und Ende. Die Orientierung auf eine Übereinstimmung von Sein und Sollen, in der ja die teleologische Dimension von Vollkommenheit besteht, wird hier in kaum überbietbarer Weise sinnfällig und erkennbar gemacht.
3. Die epistrophé des Tautropfens Andrew Marvells Gedicht »On a Drop of Dew«26 erscheint in vieler Hinsicht als eine geradezu paradigmatische Veranschaulichung der neuplatonischen Auffassung der Seele als eine aus ihrer eigentlichen Heimat in die Welt des Materiellen und Körperlichen ›gefallene‹, die dabei doch ihres Ursprungs eingedenk bleibt und sich nach ihm zurücksehnt. Thema des Gedichts ist offenkundig epistrophé. Es beschreibt die unmittelbar in Aussicht stehende Heimkehr in einen Bereich des Vollkommenen nach dem Hervorgang aus ihm, illustriert am metaphorischen Beispiel eines Tautropfens. Philosophisches Motiv und Präsentationsstrategie, Gegenstand und poetische Rhetorik scheinen hier in vorbildlicher Weise übereinzukommen: See how the orient dew Shed from the bosom of the morn Into the blowing roses, Yet careless of its mansion new; For the clear region where ’twas born Round in itself incloses: And in its little globe’s extent, Frames as it can its native element. How it the purple flower does slight, Scarce touching where it lies, But gazing back upon the skies,
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_____________ 25 So etwa immer wieder bei Nikolaus von Kues; stärker hermetisch gewendet z. B. auch in Marsilio Ficinos Wiederholung des verbreiteten Topos, demzufolge Gott »circulus spiritalis, cuius centrum est ubique circumferentia nusquam« ist (»a spiritual circle whose center is everywhere, whose circumference nowhere«; Ficino, Platonic Theology, XVIII, 100 f.). Vgl. auch Lobsien (vorauss. 2010). 26 Im Folgenden zitiert nach: The Poems of Andrew Marvell, 39–42. (Zeilenangaben in Klammern direkt nach dem jeweiligen Zitat.)
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Shines with a mournful light; Like its own tear, Because so long divided from the sphere. Restless it rolls and unsecure, Trembling lest it grow impure: Till the warm sun pity its pain, And to the skies exhale it back again. So the soul, that drop, that ray Of the clear fountain of eternal day, Could it within the human flower be seen, Rememb’ring still its former height, Shuns the swart leaves and blossoms green; And, recollecting its own light, Does, in its pure and circling thoughts, express The greater Heaven in a heaven less. In how coy a figure wound, Every way it turns away: So the world excluding round, Yet receiving in the day. Dark beneath, but bright above: Here disdaining, there in love. How loose and easy hence to go: How girt and ready to ascend. Moving but on a point below, It all about does upward bend. Such did the manna’s sacred dew distil; White, and entire, though congealèd and chill. Congealed on earth: but does, dissolving, run Into the glories of th’Almighty Sun.
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Das poetische Narrativ ist so einfach wie der für Marvell charakteristische Tetrameter, den der Text, vor allem in seiner zweiten Hälfte, umspielt: Auf einer Rose hat sich ein Tröpfchen Morgentau gebildet und rollt jetzt hin und her, bis es in der Sonnenwärme erneut verdunstet. Das Gedicht tritt jedoch nicht als Lehrgedicht auf. Der Tautropfen gibt sich keineswegs sogleich als Seelenmetapher zu erkennen, vielmehr liegt ein besonderer Reiz gerade in der phänomenologischen Genauigkeit seiner Beschreibung. Der Tautropfen ist einerseits ein meteorologisch-biologisch-physikalisches Phänomen, zwar mit einigen anthropomorphen Zügen ausgestattet und mit Empathie beschrieben, aber vor allem mit großem Interesse an seiner Erscheinung. Andererseits ist er doch offensichtlich mehr als das, als was er erscheint: Er bedeutet, wie ab Zeile 19 expliziert wird, die menschliche Seele. Er ist also ein ausgedehntes conceit, Produkt ingeniöser poetisch-philosophischer Imagination. Kennzeichen des conceit ist ein Moment der Überraschung. Dieses funktioniert hier jedoch auf ungewöhnliche Weise, denn seine verblüffende Qualität entspringt nicht so sehr der Entfernung dessen, was hier in Beziehung gesetzt wird, sondern vielmehr der Art der Nähe, wenn nicht sogar der Identität, die sich dabei herstellt.
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Mit beachtlicher naturwissenschaftlicher Präzision wird zunächst beschrieben, welch perfekte Kugelgestalt der Tropfen dank der Oberflächenspannung des Wassers besitzt und wie er, bedingt durch die unebene, lufteinschließende obere Zellstruktur des Rosenblatts, nur an einem Punkt, also fast gar nicht den Grund berührt, auf dem er aufruht; wie er auch nicht wirklich still ruht, sondern ständig herumkullert; wie er aufgrund seiner sphärischen Form das in ihn einfallende Licht bündelt und zurückwirft; wie er selbst durchscheinend ist und doch die ihn umgebende Welt, besonders den hellen Himmel über ihm, spiegelt; wie er schließlich evaporiert, indem er gleichsam ausgeatmet, ex-spiriert wird, und, als Exhalation von der Sonnenwärme in einen anderen Aggregatzustand versetzt, wieder Teil der allgemeinen Luftfeuchtigkeit in der Atmosphäre wird. Aber gerade in dieser physikalischen Exaktheit und aus der Präzision der Beobachtung ergibt sich Schritt für Schritt, in jedem ihrer Aspekte, eine Korrespondenz zu etwas anderem: Alles Physische verweist per analogiam auf ein Metaphysisches, ja ›ist‹ in einem noch zu erläuternden Sinn dieses Metaphysische und zwar so, dass sich die Relation, je genauer sie phänomenologisch ausgeführt wird, psychologisch und philosophisch desto gehaltvoller umzukehren beginnt. Die Seele ist wie ein Tautropfen – in solchem Maße und in solcher Genauigkeit der Entsprechung, dass vielleicht jeder Tautropfen auch eine Seele ist, zumindest beseelt erscheint. Der Tropfen ist ›Bild‹ der Seele, zugleich aber wird die Seele zum Beschreibungsmodell des Tropfens. Die physikalisch-biologische Beschreibung wird zu einer metaphysischen – aber diese Metaphysik beansprucht als Letzt-Erklärung, auch die physikalisch erklärbare, natürliche Welt zu durchdringen und ihrerseits zu deuten. Anders und technischer ausgedrückt: Signifikant und Signifikat dieses concetto, das naturwissenschaftlich bezeichnende Phänomen und das bezeichnete philosophische Konzept wechseln im Lektüreprozess die Positionen. Der Rhythmus des Textes ist auffallend unregelmäßig. Metrum, Zeilenlänge und Reimschema wechseln in kaum berechenbarer Weise. Das Gedicht fluktuiert zwischen Kreuz- und Paarreimen – ganz so, als sei es selbst im Begriff, sich von seinem Medium abzustoßen. Wie der Tautropfen scheint es sich ansatzweise zu formieren, dann wieder seine Gestalt zu ändern oder sich aufzulösen. Seine semantische Grobstruktur ist nicht einfach anzugeben. Es fehlt jegliche Stropheneinteilung. Zwar bietet sich eine Teilung der 40 Zeilen in zwei gleich lange Hälften an, aber nicht nur Syntax und Argumentationsduktus widersprechen solcher Symmetrie und legen eher eine Einteilung in insgesamt drei Abschnitte nahe. Auf zwei Abschnitte, variabel rhythmisiert und syntaktisch komplex bis undurchschaubar, eingeleitet mit »See how […]« (1) und »So the soul […]« (19) respektive, die jeweils 18 Zeilen von ungleichmäßiger Länge und Metrik (dreibis fünfhebig) umfassen, folgen zwei Sätze in vier Schlusszeilen, die metrisch anders (fünfhebig), aber in sich vergleichsweise homogen geordnet sind. Dabei werden zwei, möglicherweise drei kreisförmige Bewegungen vollzogen: zunächst ein phänomenorientierter Zirkel, der den Ab- und Aufstieg des Tautropfens
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meditierend beschreibt (1–18), und ein ›seelenkundlicher‹ Zirkel, der die Befindlichkeit der Seele in der Welt und damit ebenfalls ihr Abkünftigkeit und ihr Heimweh nach dem Ursprung analysiert (19–36). Die zwei Kreisläufe greifen ineinander und reflektieren einander, indem sie einander in chiastischer Umkehr abbilden bzw. wechselseitig im je anderen Medium repräsentieren. Indem am Schluss Tau und Seele in einem kürzeren und weniger ausgearbeiteten, aber doch erkennbaren, potentiell dritten Zyklus (37–40) mit dem Manna verglichen werden, das den Israeliten, wie das Buch Exodus berichtet, in der Wüste zufiel, erhalten beide nochmals eine andere, biblische Basis und eine explizit theologische Interpretation, die an einen heilsgeschichtlich bedeutsamen und typologisch prägnanten Moment erinnern.27 Die Welt des Tropfens reflektiert die der Seele, die ihrerseits die des Tropfens vergegenwärtigt, und beide werden, so scheint es, aufgehoben und nochmals gespiegelt im Medium biblischer Entsprechungen, in der die Spendung des Mannas mit einer bis zum Überdruss geläufigen Homophonie die Einsetzung der Eucharistie durch den Gottessohn (»th’Almighty Sun«/Son) präfiguriert. Erweist sich die formale Integrität dieses Gedichts schon in diesem ersten Durchgang als komplexer und fragwürdiger als Sujet und neuplatonische Topik dies erwarten ließen, so verstärkt sich bei einer zweiten, detaillierteren Lektüre der Eindruck, dass hier keineswegs nur Bekanntes mit didaktischem Einfallsreichtum vor Augen geführt und moralisch affirmiert wird. Vielmehr werden die aufgerufenen Vorstellungen so miteinander ins Spiel gebracht, dass sie Veränderungen erfahren, die ihrerseits der Erklärung bedürfen. Die unklare Symmetrie des Textes und die Radikalisierung des Metaphorischen im Positionswechsel der Implikationssysteme28 sind erste Anzeichen dafür, dass dieses verhältnismäßig kurze Gedicht auch die in ihm angedeuteten Konzeptionen von Vollkommenheit und deren Kontexte auf bedeutsame Weise alteriert. Die ersten acht Zeilen des Textes laden zur Beobachtung und Betrachtung eines schimmernden Tautropfens ein und fordern direkt zum visualisierenden Nachvollzug der Betrachtung auf: »See how […]«.29 Der Morgentau (»orient dew«) fällt vom Ursprung des aufgehenden Lichts (und des Heils: ex oriente lux) in die blühenden Rosen.30 Sein Fallen ist in verschiedener Hinsicht ein trauriger, _____________ 27 Zur Typologie als Grundzug frühneuzeitlicher Lese- und Wahrnehmungshaltungen siehe auch Korshin (1982). 28 Zum zugrundegelegten Metaphernbegriff siehe Black (1962), 25–47. 29 Syntaktisch sind die Zeilen unklar (vgl. auch Kommentar und Einleitung in der von Nigel Smith besorgten Edition). Das Verb des mit »how« eingeleiteten Nebensatzes scheint erst in Zeile 8 zu folgen; aber auch schon »incloses« in Zeile 6 fügt sich vage der Syntax, erscheint aber erst rückblickend als Verb eines nochmals eingebetteten Nebensatzes, eingeleitet mit »For«. Auch der Status der Zeilen 5/6 bleibt eher undeutlich. Klar erscheint gleichwohl, was geschildert wird. 30 Denen er ›nominalistisch‹ – dank der Ähnlichkeit seines lateinischen Namens (ros) mit dem ihren – gleichwohl verwandt erscheint. Marvell hat ein lateinisches Gedicht mit eben diesem Titel, »Ros«, und annähernd gleichem Inhalt verfasst. Sein Entstehungsdatum ist ebenso wenig genau angebbar wie das von »On a Drop of Dew«.
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zumindest wehmütiger Abstieg: Er fällt wie Tränen (»shed«); er verlässt eine vorgängige Intimität (»from the bosom of the morn«). Dies ist gleichzeitig eine Geburt, in der er sein bisheriges Aufgehobensein verlassen und eine neue Wohnstatt beziehen muss. Diese ist als »mansion« durchaus stattlich und ansehnlich, durch die purpurne Farbe der Rose als herrschaftlich, sogar königlich gekennzeichnet. Sie erscheint ihm im Vergleich mit seiner alten dennoch minderwertig, und er behandelt sie mit Nichtachtung. Das Fallen erscheint so als Verbannung in ein Exil, als schmerzhafte Entfremdung. Gleichwohl impliziert es eine eigentümliche Kompensation in Gestalt einer buchstäblichen Er-innerung, nämlich des Selbsteinschlusses der Herkunftswelt in der Rundung des Tropfens: Dieser schließt sich in seiner Kugelform ein und ab und beschließt in ihr gleichzeitig sein »native element«. Damit ergibt sich sogleich ein neuplatonisches Paradoxon: Der Tropfen spiegelt als kleine, aber perfekte Kugel eine größere Sphäre. Er ist ganz in sich gerundet, dabei zugleich ganz transparentes Medium eines anderen, höheren Seins. Seine Immanenz verweist auf seine Transzendenz als Herkunft und Ziel. Dass seine kugelige Vollkommenheit unvollkommen erscheint, resultiert aus ihrem Verweischarakter: Sie bildet zwar ab, was sie sein könnte, hat daran auf diese vermittelte Weise auch teil, aber ist doch noch nicht damit identisch. Vollkommenheit wird so als Vorgriff auf eine noch ausstehende Transformation bestimmt. So kann der Tautropfen als Metapher der aus dem göttlichen All-Einen emanatistisch hervorgehenden, buchstäblich von ihm abtropfenden31 menschlichen Seele erscheinen, die Jenem dennoch zuinnerst – aufgrund ihrer reflexiven Vermögen – verbunden bleibt. Wie der Tropfen ist die Seele in sich geschlossen, einzeln, hat aber dennoch Anteil an der himmlischen Vollkommenheit. Obwohl sie hier als abgegrenzte erscheint, besteht ihr eigentliches Wesen aus einem Grenzenlosen. Sie bleibt auch in der Trennung auf ihre Herkunft verwiesen, insofern sie auch im Exil eine Erinnerung an ihren Ursprung bewahrt. Ihre Transzendenzbegabung, kraft derer sie mikrokosmisches Abbild eines Größeren ist, macht ihren Zustand fluide und veränderbar. Ihre Schönheit und die von ihr erinnerte übertrifft die Schönheit der materiellen Welt, in der sie sich findet und die (lediglich, aber immerhin) Abglanz und Spur von jener ist.32 Vollkommene _____________ 31 Der Marvellsche Tropfen erscheint geradezu als Literarisierung der neuplatonischen Metapher des ›Abtropfens‹ für die Art und Weise, wie das Eine »gibt, was es nicht hat«, indem es sich ohne Minderung verströmt. Zur antiken Bedeutung des Abtropfens (aporroia) und zu dessen einschränkender neuplatonischer Wendung zu einer Verausgabung, die ihren Ursprung nicht mindert, siehe auch Dörrie (1965), 119–141. Plotin formuliert (mit der charakteristischen Kautele) in Enn. III 4, 3, 25–27 über das Oberes wie Unteres umfassende Sein der Seele: »[…] wir leiten gewissermaßen einen Ausfluß des Oberen in die untere Welt oder richtiger: eine Wirkungskraft, wobei das Obere sich nicht mindert.« (Plotin, Plotins Schriften; vgl. zu dieser und ähnlichen Passagen Dörrie [1965], 136 f.). 32 Das Schöne ist für Plotin eine Erfahrung, die sich dem begrifflichen Zugriff entzieht (vgl. Enn. I 6); ein Vorschein von etwas anderen wie ein Schimmer, der über die Oberfläche der Dinge ›hinläuft‹, ein »Charme« oder »Glanz« (charis, VI 7, 22) – Vorschein von etwas anderem, das
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Verbundenheit mit dem Höchsten ist eine in der Seele angelegte, aber erst noch zu realisierende Möglichkeit. Sowohl die Anthropomorphisierung des Tautropfens als auch das Heimatlosigkeits- und Sehnsuchtsmotiv und vor allem die Dynamik einer verwandelnden Rückkehrbewegung mit ihren ästhetischen Implikationen werden in den Zeilen 9– 18 weiter entfaltet. Der Tropfen verschmäht die Rose. Seine Kugelform, die ihn seinen Untergrund nur an einem Punkt berühren lässt,33 wird nun als Geringschätzung des Materiellen und indirekt auch als Zurückweisung sinnlicher Versuchung interpretiert. Der Tropfen erscheint jungfräulich, keusch, schüchtern angesichts der Opulenz der blühenden Rosen, besorgt um seine Reinheit,34 vielleicht auch ein wenig kokett.35 Sein Geschlecht bleibt grammatisch durchweg unbestimmt, aber seine Bewegung ist durchaus erotisch konnotiert. Zugleich wird die eingangs suggerierte Analogie zwischen Träne und Tautropfen in typisch Marvellscher Manier bis zur Tautologie weitergeführt. Der Tropfen scheint zu trauern (»Shines with a mournful light;/Like its own tear«). Die Analogie macht ihn zu seiner eigenen schimmernden Träne. Er verkörpert seinen eigenen Kummer, seine Sehnsucht nach der himmlischen Sphäre, von der er seinen Blick nicht abwenden kann. Dieses Geschiedensein vom Ursprungselement erscheint so genuin melancholisch – aufgrund eines Verlusts und aufgrund des fortwährend wieder vergegenwärtigten Wissens darum. Der Tropfen ist ein überaus reflektierter. Er weiß, dass sein Licht ein bloß deriviertes, sekundäres ist, und er erkennt in seiner Selbstbezogenheit die ständige Repräsentation seines Ausgesperrtseins vom Eigentlichen. Die Befindlichkeit der Tropfen-Seele ist gekennzeichnet von melancholischer Trauer ebenso wie von Unruhe und Angst vor bleibender Kontamination mit dem Medium, in das es sie verschlagen hat. Die einzige Aussicht auf Rettung besteht darin, dass der Tautropfen verdunstet, von der Sonne aus dieser fremden Welt, in die es ihn verschlagen hat, gleichsam wieder ausgeatmet wird (»exhale it back again«), so dass er in einem anderen Aggregatzustand wieder zu seinem Ursprung zurückkehren und in göttlicher Wärme und Licht als dem eigentlich ihm gemäßen Medium aufgehen kann. Hier schließt sich nun der erste, vorwiegend am Sichtbaren und am signifikanten Phänomen orientierte Kreis. Gleichwohl ist schon eine wechselseitige Relativierung der an der Konstitution der Metapher beteiligten Vorstellungsfelder deutlich, die auch die Signifikatsseite mit entfaltet. Die Implikationssysteme interagieren gleichberechtigt und verändern einander wechselseitig. Eine klare Trennung und Hierarchisierung von (phänomenorientiertem) tenor und (be_____________ mit schmerzhaftem Erschrecken wahrgenommen wird, gesehen wird von einem »anderen«, nichtsehenden »Sehvermögen« (I 6, 8 f.) und das eine gewaltige, erotische Attraktivität entfaltet, welche ihrerseits hinausweist über das Anmutige, auf dessen Oberfläche sie spielt. 33 Vgl. auch Zeile 35: »Moving but on a point below«. 34 »Trembling lest it grow impure« (16). 35 Vgl. auch weiter unten Zeile 27, »In how coy a figure wound«: Das, was hier von der Seele gesagt wird, dient retrospektiv ja auch als Interpretans für den Tropfen.
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deutungshaftem) vehicle36 erscheint dabei schon jetzt unmöglich. So wie der Tautropfen Seelenhaftes gewonnen hat, ist die Seele bereits als Tautropfen wahrnehmbar geworden. Im Folgenden wird nun ein expliziter Transfer eingeleitet, der weitere Nuancen ins Spiel bringt und einen zweiten Kreislauf in noch etwas stärkerer Orientierung an der Seele vollzieht. Damit stellt sich in diesem zweiten Durchgang eine weitere, typisch Marvellsche Fast-Tautologie ein, zumindest eine Wiederholung und Doppelung, die die sphärische, dennoch auf Selbstüberstieg hin angelegte Perfektion, von der die Rede ist, im Leseprozess nochmals inszeniert. Im Lesen vollziehen wir wiederum eine neuplatonische Denkfigur, nicht zuletzt eine Bewegung vom Visuellen zum Kognitiven, vom Sinnlichen zum Geistigen, in der eines in einem anderen, dem es seine Entstehung verdankt, aufgeht. Die Homologie, die sich in den vorangegangenen Zeilen schon abzeichnete, wird nun in Zeilen 19–26 in deutlich neuplatonischer Begrifflichkeit expliziert. Die Seele wird jetzt ausdrücklich als Abglanz und Strahl (»ray«) des »eternal day« präsentiert. Dieser wiederum wird in einer Verschmelzung von Licht- und Wassermetaphorik als »clear fountain« bezeichnet – als Ursprung des durchscheinenden Mediums, aus dem die Seele besteht und das es erlaubt, sie zugleich als göttlichen Funken und Tropfen jener ewigen Quelle anzusehen. Die Leiblichkeit, von der die Seele in der »human flower« umhüllt ist, wird übersetzt in »swart leaves and blossoms green«, die bis auf einen Hauch ›grüner‹ Lebendigkeit nichts mit ihr gemein haben und ihre lichte Natur zu verdunkeln drohen. In der gleichen Weise wie der Tautropfen erinnert sich die Seele ihres Ursprungs und strebt zu ihm zurück. Wie jener in seiner kleinen Kugel den unendlichen Himmel widerspiegelt, so reflektiert sie in ihrem Denken »The greater heaven in an heaven less«. Das Bewusstsein wird zum Abbild des Himmels, zum Punkt, in dem sich das göttliche Licht versammelt und entsprechend dem Doppelsinn von »recollecting« seiner selbst erneut inne wird. In einer Tautologie, die parallel zu der von Tropfen und Träne (Zeile 13) angelegt ist, konzentriert und bewegt sich dieser Reflex des ewigen Glanzes in »its own light«. Die hier beschriebene Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins – »its pure and circling thoughts« – ist ausdrücklich eine geistige und zirkulär in sich laufende. Sie gewinnt ihre Raffinesse aus ihrer eigenen intellektuellen Aktivität, aus einer Dynamik, die in der Zurückwendung auf sich selbst gleichwohl nicht zum Stillstand kommt, sondern zum Vorschein zu bringen vermag, was größer ist als sie selbst. Marvell, Meister poetischer Selbstreferenzialität, lässt sie nebenbei noch als Quelle literarischer Kreativität erscheinen, die im Vorzeigen ihrer selbst eine höhere Perfektion zum Ausdruck bringt (»express«) und diese in selbstbewusster Koketterie figuriert (vgl. auch Zeile 27: »In how coy a figure wound«).37 _____________ 36 In der traditionellen, von I. A. Richards eingeführten Terminologie; vgl. Richards (1936). 37 Der Gedanke, dass es hier im Wortsinn um ›poetische‹ Vorgänge geht, ist im Übrigen gut plotinisch. So weist Plotin in Enn. III 8, 3 ausdrücklich darauf hin, dass die auf »Schau« angelegte Tätigkeit der Natur (im Unterschied zum praktischen Handeln) ein poiein,
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Die Kugelgestalt des Tautropfens wird nun, in Zeile 27–36, zum unverstellt neuplatonischen Hinweis auf die in ihrem Selbstsein abgegrenzte, aber zum Transzendenten hin entgrenzte Natur der Seele: Die Welt wird allseits ausgeschlossen (»excluding round«), ja verachtet (»disdaining«), während die eigentliche Liebe (»in love«) dem ewigen Licht (»day«) gilt. Allein für dieses Licht ist die Seele empfänglich, und sie strebt danach, zu ihm emporzusteigen (»ready to ascend«). Die Seele steht gleichsam auf Zehenspitzen; sie streckt sich, gemäß der vertrauten neuplatonisch-christlichen Topologie, nach oben, wo sie hingehört: »Dark beneath, but bright above«. Mit der alttestamentarisch getönten Aufbruchsbereitschaft von »girt« kommt allerdings zum Schluss noch eine andersgeartete Nuance ins Spiel. Sie bereitet die vier änigmatischen Schlusszeilen 37–40 vor. Zwar schließt sich hier offenbar ein dritter Kreis mit den zwei Schlusscouplets; auch ist die Anspielung auf Exodus 16, 11–21 für sich genommen nicht weiter rätselhaft oder unpassend, und der Text beharrt ja auch auf der Äquivalenz der Vorstellungen, die es erlaubt, den Tau als Manna zu sehen (»Such did the manna’s sacred dew distil;« 37). Dennoch überrascht die explizit theologische und biblische Wendung und wirft die Frage nach dem Grund ihrer Notwendigkeit und nach ihrem Verhältnis zum Vorangegangenen auf. Sie verweist auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten, genauer: auf den Weg des Gottesvolkes durch die Wildnis noch vor der Ankunft im gelobten Land. Das auserwählte Volk ist nach dem Verlassen der Fleischtöpfe auf ein Versprechen hin zwar von der Sklaverei befreit, aber auch heimatlos. In dieser Situation wirkt die Spendung des Manna als Erneuerung der Verheißung – eine tröstliche Selbstmitteilung Gottes an die Israeliten, zugleich an vergangene Bundestreue erinnernd und zukünftige in Aussicht stellend. Die Aufstiegsbewegung von Seele und Tautropfen wird aber mit dieser signifikanten Gabe, so scheint es, vor allem in anderer Hinsicht verglichen: Auch das Manna in der Wüste kam ›von oben‹ und löste sich bei Sonnenbestrahlung aus seinem kühlen, gelierten Zustand auf, es verflüssigte sich und verdampfte. Auch das Manna schien also einen Zwischenzustand zwischen Materiellem und Immateriellen zu bezeichnen, schien durchgeistigte Materie, zum Wiederaufstieg bereit, zu meinen. Zusätzlich führt die Episode aber auch eine typologische Dimension mit: Im letzten Wort, »Sun«, schwingt nicht nur eine Anspielung auf den in den Texten des Alten Bundes verbreiteten Topos »Sonne der Gerechtigkeit« mit,38 sondern dank der Homophonie mit Son auch ein christologisches Moment, das seinerseits eucharistische Bezüge eröffnet. Das Manna antizipiert so das beim letzten Abendmahl gebrochene und in dessen Feier der Gemeinde gereichte ›Himmelsbrot‹. _____________ produktives Schaffen, ist (vgl. auch die Anmerkung Tornaus in Plotin, Ausgewählte Schriften, 372). 38 Vgl. z. B. Maleachi 3, 20. Zur Sonnenmetaphorik im christlichen Neuplatonismus und allgemein zur Überblendung philosophischer und theologischer Diskurstraditionen vgl. auch Beierwaltes (2001), 64 und öfter.
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Freilich dürfte die Anspielung auf die Eucharistie mit ihren unklar bleibenden konfessionellen Konnotationen im England des 17. Jahrhunderts – also noch mitten in den Kontroversen und kirchenpolitischen Turbulenzen der Langen Reformation und in einer Phase neuerlicher anti-papistischer Hysterie – einen delikaten Punkt berührt haben. Aber nicht nur deshalb vermag dieser emphatisch biblische Schluss des Gedichts zu befremden. Wir verlassen mit dem dritten Zirkel den Bereich des unhistorisch Gegenwärtigen, des ›zeitlosen‹, philosophisch-systematischen Präsens, und betreten das kontingente Feld der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Eine zyklische Chronologie wird beschlossen mit dem Hinweis auf eine lineare, ausgangsoffene, zum Teil schon im Präteritum zu erzählende. Nachdem sich das neuplatonische Narrativ bereits gerundet und mit dem Psychomorphismus des Seelen-Tropfens eine nahezu vollkommene strukturelle Balance erreicht hat, öffnet sich der Text nochmals zu einer anderen Diskursivität hin, die zudem irritierende Bezüge zu seiner zeitgenössischen Gegenwart aufweist. Was bedeutet das? Wie verhält sich »On a Drop of Dew« zu den Diskursen und Wissensbereichen, die hier aufgerufen werden?
4. Platoniker und Perfektionisten Auch der Neuplatonismus ist ja im England der Frühen Neuzeit alles andere als totes Wissen um eine esoterische antike Philosophie. Bezeugt die englische Renaissance unter den Tudors und Stuarts im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Lebendigkeit des Neuplatonismus vor allem als kulturbildende Kraft in Petrarkismus, höfischer Selbstmodellierung nach dem Vorbild von Castigliones Il Cortegiano und in der Kontinuität hermetischer Überlieferung, so bleibt deren Virulenz durch das 17. Jahrhundert hinweg durchaus erhalten. Zudem gelangen die durch die Übersetzungen der Florentiner Neuplatoniker verfügbar gemachten Texte ebenfalls nach England und tragen im Verein mit grundständigen Traditionen dazu bei, dass es um die Mitte und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen englischen Neuplatonismus gibt. Dieser entfaltet nun seine systematische, transformierende Wirkung in ganz unterschiedlichen Bereichen – bei platonischen Denkern und bei Perfektionisten anderer Art. Rückblickend erscheinen, nicht zuletzt dank Cassirers großer Studie,39 die Philosophen der »Platonischen Renaissance« in England, die Cambridge Platonists, am prominentesten. In den Werken Benjamin Whichcotes, Ralph Cudworths, Henry Mores, John Smiths und Anne Conways liegt ein relativ homogenes Korpus christlich-neuplatonischen Schrifttums in englischer (und lateinischer) Sprache vor; besonders bei More in idiosynkratischer Kombination mit kabbalistischen und poetischen Bemühungen, vor allem bei More und Cudworth auch in Verbindung mit naturphilosophischen und rationalistischen Überlegungen und bei _____________ 39 Cassirer (1932).
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allen in steter und mitunter scharfer Auseinandersetzung mit konkurrierenden zeitgenössischen Denkweisen. Auf den ersten Blick scheint Marvells Text nicht nur, wie gezeigt, die Grundstrukturen der Seelenlehre Plotins poetisch zu reproduzieren, sondern zudem und ganz unübersehbar Figuren und Motive aufzunehmen, die bei den Cambridge Platonists und in ihrem Umkreis geläufig waren. So umkreist »On a Drop of Dew« mit seiner zentralen Vorstellung des gleichzeitig durchscheinenden, lichtvollen und luminosen, selbst strahlenden und anderes mit dem empfangenen Licht erleuchtenden Tautropfens einen Lieblingstopos der Cambridger Denker: Die Seele, so hatte Whichcote in einem seiner Aphorismen prägnant und mit theologischer Zuspitzung formuliert, sei eben dies – »Lighted by God, and Lighting us to God. Res illuminata, illuminans« oder, in einer auch von anderen gern wiederholten und variierten Wendung »Candle of the Lord«.40 Ralph Cudworth rückt in seiner Erläuterung der ideellen Transparenz der Seele noch einen Schritt näher an Marvells Gedicht heran. So beschreibt er in seinem Monumentalwerk The True Intellectual System of the Universe (1678) das menschliche Bewusstsein und sein noetisches, reflexives Vermögen in eben der Metaphorik einer diaphanen Kugel, die die Welt des wahren Seins mikrokosmisch in sich abbildet: »Mind and Understanding is as it were a Diaphanous and Crystalline Globe, or a kind of 1otional World, which hath some Reflex Image, and correspondent Ray, or Representation in it, to whatsoever is in the True and Real World of Being.«41 Mehr noch: Marvells Text scheint einen der originellsten Gedanken Cudworths und Mores geradezu zu inszenieren, indem er eine neuplatonische _____________ 40 Whichcote, »Moral and Religious Aphorisms«, #916, in Patrides (1980), 334. Diese Elaboration des biblischen Topos von der ›Leuchte des Herrn‹ (vgl. Proverbs 20, 27: »The spirit of man is the candle of the LORD, […]« – Vulgata: »lucerna Domini spiraculum hominis […]«) findet sich beispielsweise auch bei Whichcote, »The Use of Reason in Matters of Religion«, ebd., 50, 59 (paraphrasiert als »a natural and indelible Sence of Deity […] in the Mind of Man«, vgl. auch 57), oder bei John Smith, »The Excellency and Nobleness of True Religion«, ebd., 159, 197. Ausgehend vom Gedanken eines in der Seele des Menschen angelegten ›Gottessinns‹ ließen sich unschwer weitere Parallelen zwischen Marvells Text und zentralen, in Varianten immer wiederkehrenden Überlegungen der Cambridge Platonists anführen; so etwa das Bestehen auf der ›Konformität‹ der Menschennatur mit dem Göttlichen, der Herkunft des Menschen ›von oben‹ (bei Whichcote: »our Conformity to the Divine 1ature, and 1ativity from above«, »The Manifestation of Christ and the Deification of Man«, ebd., 71) und seinem Streben nach Wiedervereinigung mit dem Göttlichen in einer Nachahmung der göttlichen Vollkommenheit (bei Smith: »[…] a living Imitation of a Godlike perfection drawn out by a strong fervent love of it. […] This Life is nothing else but God’s own breath within him […]«, »The True Way of Attaining to Divine Knowledge«, ebd., 143). Immer wieder wird betont, dass diese Anziehungskraft des Göttlichen zu einer dynamischen Aufwärtsbewegung der Seele als Teil eines Prozesses neuplatonisch verstandener »Deification« bzw. theosis führt (z. B. Smith, »The Excellency and Nobleness of True Religion«, ebd., 52, 165, 166 f.), bis hin zu jener Wendung, mit der auch die Enneaden enden: »flight of the soul alone to God alone« (180). Und auch hier ist die Bewegung eine reziproke, denn sie antwortet der Selbstmitteilung der göttlichen Liebe (vgl. ebd., 180–183, 189). 41 Cudworth, The True Intellectual System of the Universe, 638.
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Denkfigur in einer poetischen Wirkungsstruktur realisiert. Wird nämlich spätestens im zweiten metaphorischen Zyklus die Seele zur Metapher für den Tautropfen, so wird zugleich die Beseelung alles Kreatürlichen spürbar, wird das Durchwaltetwerden der Schöpfung von einer vom Höchsten ausströmenden »Plastick 1ature«42 zur poetischen Erfahrung. Rückblickend erscheint der Tautropfen buchstäblich ›inspiriert‹: Der ›Hauch‹, mit dem die Sonne ihn von seiner irdischen Bindung befreit, kann als göttlicher, als Atmen des »Spirit of Nature«43 erscheinen, der alles belebt. Die entstehende neuplatonische Figur verschränkt psychologische und naturphilosophische Elemente so miteinander, dass weder eine gänzlich körperlose Seele noch eine auf ihre Materialität reduzierte Natur denkbar erscheint: Die Seele erscheint nicht anders als verkörpert im Tautropfen, während die Natur, deren Teil der Tautropfen ist, geistdurchwirkt erscheint.44 Im Umriss entspricht dies genau dem Profil, mit dem sich das Denken der Cambridge Platonists von konkurrierenden Welterklärungen – radikalprotestantischen einerseits, materialistischen andererseits – abhob. Möglicherweise deutet sich sogar in den biblisch getönten Schlusszeilen des Gedichts ein ganz spezifischer Bezug auf eines der naturphilosophischen Gegenmodelle zu den korpuskularistischen und epikureischen Theorien an, die sowohl im Bereich der neuen Naturforschung als auch der Staatsphilosophie Hobbes’ an Aktualität gewannen. So suchte etwa Anne Conway das Körperliche im Sinne eines neuplatonisch-vitalistischen Monismus als ›verdichteten Geist‹, »condensed Spirit«,45 zu erklären und fasste umgekehrt Geistiges als zu Materiellem _____________ 42 Das Konzept, das Ähnlichkeit zur neuplatonischen Weltseele unterhält, findet sich bei Cudworth wie bei Henry More (der es als »Spirit of Nature« bezeichnet); vgl. den Auszug aus Cudworths True Intellectual System of the Universe in Patrides (1980), 288–325 (»The Digression concerning the Plastick Life of Nature, or an Artificial, Orderly and Methodical Nature«). 43 Vgl. More, The Immortality of the Soul (1659), Book III, Ch. XII–XIII, 430–438. 44 Auch dies ist orthodox neuplatonisch: Wie Plotin in Enn. VI 4, 15 ausführt, sind Körper und Seele einander affin, nicht fremd. Der Körper ist fähig und willens, beseelt zu werden, er kann ›erwärmt‹ und ›beleuchtet‹ werden, er ist geeignet zur Aufnahme der Seele, und er gewinnt sie – jedenfalls »eine Spur von ihr« – gleichsam für sich. Er ist zwar minder im Seinsrang und nicht unser Eigentliches; auch ist er »wegen seiner Schwäche im Aufruhr«, aber er ist »lebend«, und die Seele korrespondiert ihm. »Da bei ihm [dem Hinzugetretenen] eine bestimmte Eignung vorhanden war, hat es das aufgenommen, wofür es geeignet war; und es war eben von der Art, daß es Seele aufnehmen konnte.« Der Körper ist also nicht tote, leere Materie, sondern befindet sich bereits in einer »Nachbarschaft zur Seele«. Aber auch die Natur insgesamt ist, wie in Enn. III 8, 1–5 dargelegt wird, einbezogen in das Streben alles belebten Seins »nach Schau«. Sie selbst bringt Belebtes hervor und teilt den Lebewesen etwas von ihrer Wirkkraft mit, die im so Entstehenden produktiv bleibt; sie ist dynamisch – »eine bestimmte Art Leben, rationale Struktur und produktive Wirkkraft.« (III 8, 3). Ähnlich Proklos, der in seinem TimaiosKommentar die Natur ebenfalls als selbstbewegt und produktiv beschreibt; vgl. Proclus, Commentary on Plato's Timaeus. 45 »[…] Spirit and Body are originally of one Nature and Substance, and […] a Body is nothing but a fixed and condensed Spirit, and a Spirit nothing but a subtile and volatile Body« (Conway, The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy, 217; vgl. ebd., 131: »[…] corpus nihil sit; quam spiritus fixus & condensatus, & spiritus nihil quam corpus volatile, vel factum subtile.«) Conways philosophisches Werk wurde erst lange nach ihrem und Marvells Tod
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›gelierbar‹ auf46 – ein Verständnis, mit dem auch der Marvellsche Text in seiner Beschreibung der physischen Beschaffenheit des Manna und mit der zweifachen Wiederholung von »congealed«47 zu spielen scheint. Eben dieses nachdrückliche, Denkmodellen des Cambridger Neuplatonismus ähnelnde Bemühen des Gedichts um eine nicht-dualistische Darstellung des LeibSeele-Verhältnisses48 steht auch einer schematisch cartesianischen Lesart eher entgegen. Diese wäre ja gerade im Hinblick auf das große und wohlwollende Interesse, das insbesondere More und Cudworth dem Cartesischen Rationalismus entgegenbrachten, und hinsichtlich der tatsächlichen Affinitäten, die ihr Denken zu dem des Descartes unterhielt, durchaus nicht abwegig. So ließe sich die Tropfen-Seele unter Absehen von bestimmten Zügen und Qualitäten auch zum cartesianischen Ich, reduziert auf sein cogito, stilisieren, das von seinem Körper geschieden ist (dieser bildete dann als bloße res extensa ebenso wie die Blüten und Blätter der Rose lediglich ein Unzuhause für die res cogitans), auf sich zurückgewandt und aus dieser Reflexivität sich begründend; weltabgewandt in radikaler epoché; relationslos; gleichwohl ausgestattet mit der Gottesidee bzw. der Idee eines Unendlichen und Vollkommenen im Medium seiner eigenen Endlichkeit. Dem widerstrebt allerdings in Marvells Text einiges: So tritt die Seele an keiner Stelle als Ich auf. Auch erscheint ihre Selbstreflexivität weit weniger ausgeprägt als ihre Reflexion auf das in ihr angelegte Himmlische. Weiterhin liegt eine der zentralen strukturellen Pointen des Textes ja gerade in der Art und Weise, wie die wechselseitige Interaktion und Durchdringung von Seelischem und Natürlichem inszeniert wird. Und schließlich bedürfte eine so konzipierte cartesianische Seele im Grunde der Transzendenz nicht mehr, da sie _____________ gedruckt. Gleichwohl entstand es, nach allem was man weiß, als Summe ihres Denkens in kontinuierlichem Gespräch und in kaum unterbrochener Korrespondenz mit Henry More, so dass anzunehmen ist, dass eine so prägnante Vorstellung wie die von Materie als ›geliertem Geist‹ auch außerhalb der More-Conwayschen Freundschaft über die Kontroversen, in denen sich die Cambridge Platonists engagierten, eine gewisse Kurrenz gewinnen konnte. (Zum Denken Anne Conways vgl. auch Lobsien (1999), 297–322). 46 Manche spirituellen Bestandteile des Körpers können sich, so Conway, wandeln »in a certain Spirituous Liquour, which is congealed with great cold« (The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy, 194 und öfter; vgl. 106: »congelatur«). Sie verändern so gleichsam ihren Aggregatzustand, nicht viel anders als das Manna. Die historischen Belegstellen zu den Einträgen bei condense und congeal im Oxford English Dictionary machen deutlich, wie eng die semantische Nachbarschaft beider in der Frühen Neuzeit ist. Allenfalls sind die Konnotationen physischer Kälte bei congealed noch ausgeprägter; gleichwohl konnte auch congeal – in der Metapher des ›erstarrten‹ Herzens bei Hooker (congeal I. 4) – geistliche Bedeutung annehmen. In beiden Fällen haben wir es offenkundig mit physikalisch-religiösen Hybridvorstellungen zu tun. 47 Das ist auch in der lateinischen Version des Gedichts der Fall: »gelata« kommt auch in »Ros« zweimal in aufeinanderfolgenden Zeilen vor. 48 Vgl. auch die nachdrücklichen Formulierungen bei Whichcote: »[…] nothing of the Natural State is base or vile. Whatsoever hath Foundation in God's Creation, […] it is not base. For, our Saviour himself took Flesh and Blood: and that is the meaner Part of Humane Nature.« (»The Manifestation of Christ and the Deification of Man«, in: Patrides [1980], 70).
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selbst schon vollkommen in sich abgerundet ist und das Göttliche gleichsam in der eigenen Subjektivität enthält und aufhebt. Aber »On a Drop of Dew« bewegt sich, das wird spürbar besonders im Blick auf die Biblizität der Schlusszeilen und generell auf die theologische Qualität des Textes, bei alledem noch an einer weiteren Grenze des Neuplatonischen. Mag auch »th’Almighty Sun« keinerlei personale Kontur gewinnen und eine christologische Dimension allenfalls indirekt, in Gestalt einer typologischen Implikation, aufweisen, so deutet sich hier doch eine Nachbarschaft zur Rhetorik des zeitgenössischen protestantischen Fundamentalismus an, zu Diskursen also, die ihrerseits zahlreiche neuplatonische Motive integrieren und im Sinne einer radikal individualistischen Spiritualität, reformatorischer Innerlichkeit und unabhängiger Gemeindebildung funktionalisieren. Angesichts der Turbulenzen der innerprotestantischen Pluralisierungsprozesse und der extremen Heterogenität des englischen Nonkonformismus, die sich vor allem während des Interregnums und unter dem Protektorat Cromwells noch weiter ausdifferenzierte, ist es kaum möglich, hier ein einheitliches theologisches Profil zu skizzieren. Allenfalls lassen sich einige Züge angeben, die die Spiritualitäten von Independentisten aller Arten, Baptisten, Quäkern, Fünftmonarchisten, von Seekers, Shakers, Ranters, Diggers, Behmenists und anderen Sekten gemeinsam haben und die für Marvells Seelenbild von Belang zu sein scheinen. Am auffälligsten ist wohl, wie Nigel Smith in seiner Studie des radikalprotestantischen Schrifttums der Jahre 1640 bis 1660 gezeigt hat,49 der ›Perfektionismus‹, der diese ansonsten sehr unterschiedlichen Bewegungen verbindet. Die geistliche Selbstvervollkommnung des einzelnen (kraft ihrer auch der Gemeinschaft der Gläubigen) ist ihr Ziel: ein Ziel, das durch die Gnadenwahl als erreichbar, ja als im Grunde bereits erreicht aufgefasst wird. Wer zu den Erwählten und Gerechtfertigten zählt, hat bereits Anteil an dieser Vollkommenheit. Die Erfahrung des inneren Lichts, die besonders bei den Quäkern eine zentrale Rolle spielt, ist eine Weise der Kommunikation, ja der Vereinigung mit dem Göttlichen.50 Die calvinistische Gnaden- und Prädestinationsdoktrin fördert über die bekannten Mechanismen der Introversion, der unausgesetzten Selbstüberprüfung und der innerweltlichen Askese die ständige Aufmerksamkeit auf den eigenen Seelenzustand und den Grad der Erwähltheit. Der fundamentalistische Perfektionismus artikuliert sich nun nicht _____________ 49 Smith (1989). Die folgende Skizze radikalprotestantischer Spiritualitäten lehnt sich im Wesentlichen an Smiths Studie an. Marvells Text ist, so wird in der Forschung ohne eindeutige Belege vermutet, in den späten 1640er Jahren entstanden; die Gedichte wurden erst posthum, 1681, publiziert. Marvells eigene Glaubensüberzeugungen bleiben im Dunkeln. Die biographischen Daten sind zu dürftig, und selbst die Haltungen in konfessionspolitischen Fragen, die seine unlängst edierten kontrovers-theologischen und polemischen Schriften artikulieren, sind in erster Linie durch eine Skepsis gegenüber Dogmatismen jeglicher Couleur gekennzeichnet, die einen eigenen Standpunkt nicht erkennbar werden lässt. Vgl. hierzu auch Lobsien (2007a), 217–234. Zum frühneuzeitlichen kontinentalen Millennarismus vgl. auch die Studien in Schmidt-Biggemann (2007). 50 Vgl. Smith (1989), 66 ff.
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nur evangelikal und biblizistisch, sondern dabei auch in einer Redeweise, die sich vielfach einer aus platonischen Kontexten bekannten Metaphorik von Licht und Quelle, von Erleuchtung und Aus- bzw. Eingießung des Geistes bedient; oftmals in mystischer Sprache.51 Verbreitet finden sich in den erhaltenen Testimonien, Bekehrungs- und Bekenntnistexten auch Metaphern der Verflüssigung sündhafter Erstarrungen und des Dahinschmelzens des harten Herzens.52 Ein schwärmerischer Enthusiasmus – so das zusammenfassende Schimpfwort für die Radikalreligiösen – beflügelt die Schriften und Predigten. Und natürlich sind ihre Texte bestimmt vom Schema der Konversion als einer geistlichen Heimkehr, in der sich die Seele wandelt, von ihren Verirrungen abkehrt und ihrem Ursprung erneut anverwandelt. Die Erfahrung der Gottesbegegnung, die die epistrophische Umkehr auslöst, ist hierbei so zentral, dass geradezu von einer ›experimentellen‹ Theologie gesprochen werden kann.53 Zugleich zeigt sich an dieser Stelle nicht nur die starke paulinische Prägung auch des englischen Protestantismus, sondern einmal mehr die Überblendung christlicher mit neuplatonischen Paradigmen: Denn die Damaskus-Erfahrung des Paulus (Apg 9),54 von ihm selbst in eindrucksvoll metaphorischer Wendung als ›Aufgehen in Christus‹ erinnert und wieder ersehnt,55 wird auch im Renaissanceplatonismus wiederholt als Inbegriff und Veranschaulichung der Parallelität von conversio und epistrophé herangezogen.56 _____________ 51 Vgl. ebd., 15, 17 und öfter. 52 Vgl. ebd., 41, 43, 45 und öfter; so auch Smiths Resümee: »Versions of self were created which moved increasingly towards the merging of the individual with the Godhead, the ultimate claim for perfection.« (18). 53 Nicht nur der Puritaner William Perkins spricht von »experimental theology«; vgl. ebd., 5 und Kap. 1 (»Prophecy, Experience, and the Presentation of the Self«, 23–72). Auch neuplatonische Erklärungen von Prophetie greifen auf dieses experientiell-experimentelle Modell zu; so ist für John Smith die Inspiration der Propheten buchstäblich ein göttliches Einhauchen, das zugleich psychisch und physisch erfahren wird (27–31). So formuliert ausdrücklich aber auch der gelehrte, wegen seines Radikalismus verfolgte reformatorische Prediger und Übersetzer neuplatonischen und hermetischen Schrifttums John Everard in seinen Ansprachen die Wichtigkeit der unmittelbaren inneren Gotteserfahrung, die den Gläubigen befähige »[to] know and feel experimentally, in some measure and degree, that Iesus Christ is in you« (The Gospel-Treasury Opened [1657], zit. nach Hayes [1981a], 121; vgl. auch ders., [1981c], 47–49). Thema der Predigt ist Jak 1,17 – eben jener Vers, den auch der Cusaner in De dato patris luminum entfaltet. 54 Vgl. auch 2 Kor 12. 55 Vgl. Phil 1, 23 in der Vulgata: »desiderium habens dissolvi et esse cum Christo«. Die Authorized Version übersetzt »dissolvi« mit »depart«, noch bei Tyndale findet sich aber die Formulierung »I desyre to be lowsed« (The 1ew Testament 1562, 418). Für die frühneuzeitliche Präsenz der literalen Konnotationen siehe auch die Belegstellen im OED, dissolve I. 6. Es erscheint legitim anzunehmen, daß diese evangelikale Metapher der Verflüssigung auch durch die letzten Zeilen von »On a Drop of Dew« (»Congealed on earth: but does, dissolving, run/Into the glories of th’Almighty Sun«) geistert. 56 So etwa Pico bei der Erläuterung der cherubinischen Vollendung, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entrückung des Paulus in den dritten Himmel bei seinem Bekehrungserlebnis wie auf Dionysius Areopagita: »Consulamus Paulum apostolum vas electionis, quid ipse cum tertium sublimatus est caelum, agentes Cherubinorum exercitus viderit. Respondebit utique Dionysio interprete: purgari illos, tum illuminari, postremo perfici […]«.
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Am weitesten geht die Hybridisierung neuplatonischer und radikalprotestantischer Diskurse57 bei einigen Autoren, die um die Jahrhundertmitte kontinentales, zum Teil auch gegenreformatorisches Schrifttum nach England einführen, indem sie es übersetzen und als Element eigener Predigten und Traktate verbreiten. Es ist dies vor allem geistliches Schrifttum, das persönliche Erleuchtung als unmittelbare Selbstmitteilung Gottes thematisiert, und es scheint dabei keinen Unterschied zu machen, ob es mystischer, neuplatonischer oder hermetistischer Provenienz ist.58 Von Nikolaus von Kues über die Theologia Germanica bis zu Jakob Böhme reicht die Spannweite der auf diese Weise in englische radikalreligiöse Mentalitäten inkorporierten Topik. Wichtigstes Auswahlkriterium scheint die Tauglichkeit für einen Diskurs zu sein, der für die spirituelle Vervollkommnung des einzelnen Gläubigen eintritt, die ihrerseits als eine Form der Deifizierung, des Gottähnlichwerdens aufgefasst wird.59 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Form des Synkretismus bietet das Werk des puritanischen Geistlichen John Everard, der die Theologia Germanica übersetzte sowie Kapitel aus Johannes Tauler, der mystischen Theologie des Dionysius Areopagita und dem Corpus Hermeticum (Pimander und Asclepius). Nicht zuletzt übertrug Everard auch De visione Dei und De dato patris luminum des Nikolaus von Kues ins Englische.60 Gleichzeitig ging er einer umfangreichen Predigtaktivität nach, deren Vokabular und Motivik sich deutlich aus den übersetzten Texten speiste. Am Beispiel Everards zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit nicht nur die enge, wiewohl punktuelle Affinität zwischen Neuplatonismus und radikalem _____________
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(Pico della Mirandola, De hominis dignitate, 12–14). Vgl. zum raptus Pauli bei Ficino Jörg Lauster (1998). Zu den ambivalent neuplatonisch-christlichen Konturen der conversio- bzw. metanoia-Erfahrung des Augustinus vgl. auch Moog-Grünewald (2003), 37–60. Dass solche Hybridisierungen philosophisch-systematisch äußerst problematisch sind, bleibt für die, die sie mit großer Verve vertreten, offenkundig folgenlos. In seinem Essay The Idea of Perfection in the Western World formuliert Martin Foss (1967) eine Kritik der Vollkommenheit als eines normativen Konzepts im westlichen Denken, indem er eben die zentrale und weitgehend unreflektierte Ambivalenz zwischen statischer Vollendung und dynamischprozessualer Überschreitung in dessen historischen Formationen aufdeckt, die auch im englischen Radikalprotestantismus nicht thematisiert wird. Es ist eine Leistung des Marvellschen Textes, diese Ambivalenz durch die Art und Weise seiner Strukturierung erkennbar zu machen (s. u.). Vgl. hierzu Smith (1989), 107–143. Als Mittel und Unterstützung solcher Perfektionierung kann zudem eine Form der Bibelauslegung erscheinen, die individuell, ahistorisch und allegorisch erfolgt (statt literalistisch oder gar philologisch-kritisch, im Wissen um die Literarizität biblischer Texte, wie es sich durchaus schon im theologischen Bewußtsein der Zeitgenossen findet): »[…] mystical and occult texts […] encouraged claims of personal perfection upon earth to the extent that individuals could claim to be deified or to be in a state very close to this. […] Second, these illuminist ideas had their origins in a form of scriptural interpretation which elevated the power of the spirit in the individual over the letter of the scriptural text as a witness to divine truth.« (ebd., 107). Vermutlich schon in den 1630er Jahren; siehe hierzu Hayes (1981a).
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reformierten Christentum. In Everards Werk findet sich zudem an zentraler Stelle, als Ermöglichung der von ihm propagierten ›experimentellen‹ Gotteserkenntnis in der individuellen Erleuchtung, ein Gedanke, der auch die eben skizzierte Auffassung von Natur und sinnlich wahrnehmbarer Welt bei den Cambridge Platonists bestimmt: der Gedanke der Theophanie. Im Medium des Everardschen Perfektionismus gewinnt er jedoch noch eine andere Art von Brisanz. Theophanie bezeichnet zunächst das auf Dionysius Areopagita rückführbare, zuerst in größter paradoxer Prägnanz im Periphyseon des Johannes Scotus Eriugena artikulierte und (wie Werner Beierwaltes jüngst nochmals gezeigt hat)61 von Cusanus in gedrängter Form und in großer Nähe zu Eriugenas Denken in der kurzen Schrift De dato patris luminum erneut entfaltete Theorem vom »Erscheinen des NichtErscheinenden« (non apparentis apparitio). Diese Vorstellung von der Selbstentfaltung und Realisierung des unsichtbaren Gottes in der sichtbaren, geschaffenen Welt kann in der Zuspitzung, die sie bei Eriugena erfährt, durchaus revolutionär anmuten.62 Everard scheint vor allem ihre egalitäre Sprengkraft, die sie im Medium der cusanischen Interpretation von Jak 1,1763 bewahrt und die jeden, auch den religiösen Laien zum potentiellen Empfänger der göttlichen Illumination macht, wahrgenommen und in seinen Predigten mit Nachdruck verkündet zu haben.64 Theologisch gipfelt sie in Eriugenas Auslegung der Himmlischen Hierarchie des Dionysius in dem Satz omnia que sunt lumina sunt.65 »All things therfore are certainly apparitions or lights« heißt es bei Nikolaus von Kues in Everards Übersetzung.66 Alle Geschöpfe sind für Eriugena wie für Cusanus ›Lichter‹, die auf Göttliches hin durchscheinen und Gott zur Erscheinung zu bringen vermögen. »But all this actuating illumination,« – so Cusanus in den Worten Everards – »which is a gift, cometh downe from above, from the father of all gifts, which gifts are lights, or Theophanyes (that is, appearances or manifestations of God).«67 Vor dem Hintergrund dieser suggestiven – und in ihren theologischphilosophischen wie ideologischen Folgen ganz konträren – Konvergenz zeitgenössischer Diskurse über dem Gedanken der Theophanie stellt sich nun aber _____________ 61 Beierwaltes (2006), 217–239. 62 Eriugena stand im 11. und 13. Jahrhundert im Geruch der Häresie (vgl. auch Beierwaltes [2006], 218 f.). Die Cambridge Platonists, um Orthodoxie und Abgrenzung von radikalen Strömungen bemüht, schöpfen im Gegensatz zu Everard das politische Potential der bei Eriugena formulierten schöpfungstheologischen Position nicht aus. 63 Der titelgebende Vers aus dem Jakobusbrief; mit dem Zitat dieser Rede vom »Vater der Lichter« setzt auch die Himmlische Hierarchie des Dionysius Areopagita ein. Resonanzen dieser Stelle finden sich wiederholt bei den Hermetikern, und auch der Anfang von Henry Vaughans Gedicht »Cock-crowing« dürfte von ihr inspiriert sein (vgl. hierzu auch Lobsien [2007c], 45–69). 64 Vgl. auch Hayes (1987), 80–94. 65 Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, I 76–77. 66 Hayes (1981a), 130. 67 Ebd., 124.
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erneut die Frage nach der Funktionalität des Marvellschen Gedichts. Findet sich die Metaphorik von Kreis und Kugel, Sehen und Auge, Quelle, Strom und Licht nicht nur bei den Neuplatonikern, sondern ebenso prominent ausgerechnet auch in den Texten der radikalprotestantischen Perfektionisten und Enthusiasten, von denen sich die Cambridger Denker ebenso sorgfältig abzugrenzen suchten wie von Materialisten und Empiristen, so lässt sich hieraus weder ein Unterscheidungskriterium noch ein Argument für die Zuordnung des Textes zu einer oder der anderen Seite gewinnen. Welche Einstellung auf das Thema der Seele also vermag »On a Drop of Dew« einzurichten? Wo und wie situiert sich der Text in dem skizzierten, kontroversen und einigermaßen konfusen Kontext religiöser, philosophischer und naturwissenschaftlicher Auseinandersetzung? Wie lässt sich die Vollkommenheit beschreiben, die dieses Seelenbild vor Augen stellt, und welcher Art ist die Transformation des Neuplatonischen, die ihr zugrundeliegt?
5. Exodus oder die Perfektion des Unvollkommenen Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir einmal mehr zur Struktur des Gedichts zurückkehren. »On a Drop of Dew« vermeidet, so konnten wir bereits beobachten, die naheliegende perfekte zirkuläre Ausgewogenheit, die mit der Vorstellung vollzogener epistrophé des Seelen-Tropfens eigentlich bereits erreicht ist. Die vier Schlusszeilen erscheinen aus dieser Sicht überflüssig und irritierend. Umgekehrt erscheint vom theologischen Schlussakzent der ExodusAnspielung her die Ausführlichkeit, mit der die Homologie von Seele und Tautropfen entfaltet wurde, redundant, wenn nicht sogar heterodox. Denn zu der Perfektion, die das Tautropfen-conceit als bereits erreichte, zumindest imminente, vorführt, ist das Gottesvolk in der Wüste erst noch unterwegs. Andererseits fehlt es im Vergleich zu jener Vollkommenheit und Fülle dem biblischen Schlussakzent an Attraktivität: Die Episode wird recht spröde und lakonisch angedeutet, und das vom Himmel fallende Manna bleibt als Zeichen in seiner Bedeutung zuletzt fast so opak, wie es den Israeliten erschien: »[…] they said to one another, It is manna: for they wist not what it was.« (Ex 16, 15). Auch wird das Ereignis nach der vorangegangenen subtilen Anthropomorphisierung des Tautropfens als ausgesprochen unpersönliches präsentiert. Weder für die Herabkunft des Manna noch für den Wiederaufstieg der rasch verderblichen Gabe wird ein Motiv angedeutet. Von Liebe etwa (dem zentralen ficinianischen Ingrediens des neuplatonischen Schemas) oder wenigstens von »Universal Charity« (Whichcote)68 ist hier keine Rede. Der ›heilige Tau‹ schlägt sich gleichsam von _____________ 68 Vgl. Whichcote, »Moral and Religious Aphorisms« #679: »Universal Charity is a thing Final in Religion.« (in: Patrides [1980], 333). Auch Whichcote und Smith verweisen gelegentlich auf das Manna; allerdings erscheint es hier eher beiläufig, in allegorischer Manier als alltägliche innerseelische Gewißheit des Wahrheitsbesitzes und der Gottverbundenheit (vgl. ebd., 137, 175).
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selbst nieder, und seine Wiederverflüssigung erscheint ebenso grundlos und selbstinduziert wie diese intransitive ›Destillation‹, ein unwillkürlicher Effekt der göttlichen Allmacht. Das Manna ist ephemer – zwar »White, and entire«,69 aber nicht beständig in dieser makellosen Reinheit; lediglich Wegzehrung, eine Episode im Vorübergang, ein ikonisches, vielleicht auch indexikalisches Zeichen des Göttlichen, das zwar als Bekräftigung der bereits ergangenen Verheißung gelten mag, dessen letzter Sinn aber von denen, die es empfangen, nicht entziffert werden kann, weil sie noch in der Geschichte befangen sind, deren Fortgang es als erneuerte Zusage undeutlich prognostiziert und typologisch präfiguriert.70 Dem Manna vergleichbar, das als unleserliches und vergängliches, sich selbst negierendes Zeichen den Exodus begleitet, lässt sich die Struktur des Marvellschen Textes nun geradezu als metapoetisches Zeichen des Ungenügens verstehen. Es überlagert einer bereits kompletten Allegorie eine weitere, ihr heterogene. Aber damit kann keine von beiden ausreichen. Weder scheint die perfekte poetische Präsentation platonischer Zirkularität zu genügen, die natür_____________ 69 Insofern ebenso abgeschlossen und in sich ruhend wie der Tautropfen. Auch Rosalie Colie betont in »My Ecchoing Song« die ausgeprägte Singularität und Exklusivität des Marvellschen Tautropfens: »Marvell's drop is exclusive, self-contained, self-reflecting, an emblem for rejection of res creatae. […] Marvell concentrates even more fully on the single, selfconcentrated object; he narrows his meditation inward. […] Marvell's meditative way, in this poem, rejects visual copia, which so often inspired contemplation and vision, to concentrate on one precise, meaningful object, self-contained but existing in a world of other things.« (Colie [1970], 117). 70 Ein Blick auf benachbarte literarische Texte vertieft diesen Eindruck der Uneindeutigkeit eher noch. Zugleich rechtfertigt er zusätzlich die hier vorgeschlagene doppelte, theologischphilosophische wie konfessionspolitische Lektüre ebenso wie die vorenthaltene schlichte closure. So fällt etwa in George Herberts Gedicht »The Bunch of Grapes« die Allegorisierung des Manna stärker ›evangelikal‹ aus als bei Marvell: »Our Scripture-dew drops fast« läßt keine eucharistischen Assoziationen zu, sondern sieht das Manna in Analogie zur geistlichen Nahrung der Wortoffenbarung (Zeile 16, in: The Works of George Herbert, 128). Marvells »Upon Appleton House, To My Lord Fairfax« setzt in den Strophen XLVII bis LIII wiederum einen anderen Akzent. Auch hier wird, wie in »On a Drop of Dew«, eine ›natürliche‹ Szenerie politisch: Die pastorale Aktivität der Heuernte, die die Mähder im hohen Gras zunächst als Israeliten im Durchzug durchs Rote Meer erscheinen ließ, wandelt sich in eine militärische, welche »bloody Thestylis« und ihre Gefährten zu marodierenden Bürgerkriegstruppen macht, die die am Boden brütenden Rallen (Wachtelkönige) dahinmetzeln. Die Figur selbst kommentiert die Literalisierung der biblischen Metapher (und liefert damit eine metapoetische Legitimierung des Massakers): »He called us Israelites;/But now, to make his saying true,/Rails rain for quails, for manna, dew.« (Zeilen 406–408). Allerdings ist der biblische Referenztext hier nicht nur Ex 16, sondern vor allem Num 11, wo die Speisung der Israeliten mit Manna und Wachteln (»quails«) schärfer und anders akzentuiert wird: Dort liegt tadelnder Nachdruck sowohl auf dem Murren des Volkes über die Eintönigkeit des Manna als auch auf seiner Gier nach dem Fleisch, die dann auch von Gott mit »a very great plague« gestraft wird (Num 11, 33). Abgesehen von den auf diese Weise pointierten kritischen Ambivalenzen einer allzu emphatischen Identifikation mit dem auserwählten Volk entfaltet der weitere Kontext dieser Passage in »Upon Appleton House« noch zusätzliche, ebenfalls kaum einholbare kontroverstheologische Streuwirkungen, versucht man, sie auf von Fairfax (und seiner Familie) selbst bezogene Positionen zu beziehen.
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liche Kugelgestalt und ihre psychomorphe Interpretation als sich vollendende epistrophé mit ihrer vitalistischen Rückprojektion der Beseelung ins Natürliche, noch deren fromme Übersetzung in ein Zeichen der Erwählung. Der Schluss scheint eine ikonoklastische Geste gegen das neuplatonisch-naturalistische Seelenbild zu vollführen, aber auch der Anspruch des dogmatischen Wortes auf absolute Geltung, der sich in ihr andeuten mag, bleibt in der Offenheit und Ungewissheit der erinnerten Episode und durch den Kontrast mit der phänomenologisch exquisiten Genauigkeit, Bestimmtheit und Prägnanz des vorausgeschickten Ideals angefochten. Der Ewigkeitscharakter des philosophischen Schemas, das alles auf immer in seinen Zug zur Höhe und das Streben nach Schau einbezieht, wird durch den Gegensatz zur noch unvollständigen Heilsgeschichte in Zweifel gezogen; die Unbehaustheit und Ausgangsunsicherheit historischer Kontingenz bedarf, so scheint es, des unklar erneuerten Heilsversprechens, damit der Möglichkeit zeitloser Präsenz und noch unverfügbarer, aber zugesagter letzter Erfüllung, um erträglich zu bleiben. Die Grundfigur des Gedichts ist eine der wechselseitigen Relativierung und Befragung. In der von ihr erzeugten metaphorischen Konstellation fordern sich neuplatonischer Optimismus und puritanische Heilsungewissheit gegenseitig heraus. Deren Verhältnis ist keines der Komplementarität, sondern eher eines der nicht stillzustellenden gegenseitigen Reflexion, bei der auch die jeweiligen Erklärungsdefizite sichtbar werden. Darin aber, in dieser Beziehung reziproker Erhellung von Exil und Exodus, Gewissheit und Verheißung, ließe sich zuletzt vielleicht doch noch eine Art Vollkommenheit erkennen. Diese bestünde in der Dynamik einer poetischen Struktur, die Einsicht ermöglicht (und im Leseprozess inszeniert) in die Versprechen und Implikationen unterschiedlicher Seelenmodelle und zugleich deren Grenzen im Bewusstsein hält. Damit gewönne der Text eine fundamentalismuskritische Spitze, markierte aber zugleich einen geistlich skeptischen Vorbehalt gegenüber philosophisch-spekulativer Zuversicht und einer gerade in ihrer Vollendung allzu suggestiven Seelenikonologie. Das lässt sich transformationstheoretisch noch etwas differenzieren. Die Lektüre von »On a Drop of Dew« fordert – und eröffnet – den Blick auf mehrere Referenzbereiche, die der Text in der Art und Weise seiner Bezugnahme nicht unverändert lässt. Als Teil des Netzwerks neuplatonischen Denkens ebenso wie als leise Stimme in den lautstark geführten wissenschaftlichen, ideologischen und konfessionellen Debatten seiner Zeit erweist sich das Gedicht als je spezifische und multiple Transformation des vermeintlich zeitlosen Konzepts plotinisch gedachter Vollkommenheit. Diese vollzieht sich zum einen dadurch, dass in der reziproken Wirkung der elaborierten Tautropfen-Seele-Metapher Naturwissenschaftliches so in den Vordergrund rückt, dass die ›naturalistischen‹ Dimensionen des zeitgenössischen englischen Neuplatonismus überraschend scharf akzentuiert werden – sei das in der angedeuteten Vorstellung einer Plastick 1ature oder, stärker von Dionysius, Eriugena, oder Cusanus her, im unabweisbar werdenden Gedanken einer theophanen Natur, die ihrerseits Metapher des
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Göttlichen ist. Zum anderen unterzieht der Schluss des Gedichts das so eindrucksvoll reproduzierte neuplatonische Aufstiegsdrama einer Befragung und neuerlichen Verwandlung durch eine doppelsinnige Historisierung. Das geschieht, indem durch ostentative Biblizität und einen predigthaften Ansatz zur Allegorese (»Such did the manna’s sacred dew […]«) ein Bezug zum zeitgenössischen radikalreformatorischen Diskurs signalisiert wird, dessen perfektionistische Selbstgewissheit aber durch die Art des Bezuges sogleich wieder unterlaufen wird. Denn die aufgerufene Episode erweist sich als nicht nur metapoetisch sondern auch als metahistorisch subversiv, insofern sie ihrerseits die noch unabgeschlossene Geschichte Gottes mit seinem Volk in ihrer Deutungsoffenheit und Unumkehrbarkeit ins Gedächtnis ruft. Damit aber ist der Text jeder unverbindlich ›systematischen‹ Zeitlosigkeit wie jeglicher konfessioneller Vereinnahmung entrückt; zugleich erscheint er auf suggestive, im letzten nicht zu vereindeutigende Weise mit zeitgenössischer Brisanz aufgeladen, ohne in diesen historisch wie regional singulären Bezügen aufzugehen. Marvell entzieht seinen Tautropfen in mehrfacher Hinsicht dem Sog sich anbietender Dogmatisierungen, sei das die Anziehungskraft zeitenthobener Wahrheit oder die einer zwar relativen, aber potentiell wirkungsvollen konfessionspolitischen Aktualisierung im Blick auf die gegenwärtige, wandelbare Erfahrungswirklichkeit. Allerdings kann ein solch vielschichtiger Suspens, der die Statik wechselseitiger Repräsentation in komplexe Interaktion und Ankunft beim Telos in fortgesetzten Auszug überführt, zuletzt nur unter den Voraussetzungen einer in ihrem Grundzug neuplatonischen Ästhetik als Figuration von Vollkommenheit erscheinen. Tritt hier zuletzt Bewegung zwischen vielen konkurrierenden Vorstellungen an die Stelle des einen ›Bildes‹, so stellen sich Verweis und Verschiebung, das fortwährende Überschreiten und Alterieren des gerade Gesetzten als die bestimmenden Strukturen heraus.71 Die Art und Weise, wie hier Tautropfen, Seele und Manna überblendet werden, inszeniert Transzendenz als Meta-Struktur und vermag sie so im Lesen anagogisch – und insofern vielleicht tatsächlich ›experimentell‹ – zur Erfahrung zu bringen.72 Damit fungieren Tautropfen und Manna freilich weniger als Illustration neuplatonischer bzw. puritanischperfektionistischer Dogmatik, als dass sie deren imaginative Transformation ermöglichen. Aus dieser Perspektive schickt uns Marvells Text zuletzt doch nicht in die Wüste. Vielmehr bietet er uns eine ästhetische, nicht diskursive Vollkommenheit; eine Vollkommenheit, die paradoxerweise im Ausstehen der Vollendung besteht: kein Zuendekommen, sondern Übergängigkeit. Damit aber ist dieses Gedicht neuplatonischer als seine neuplatonische Metapher und frömmer als die Frömmigkeit der Erwählten. _____________ 71 Vgl. hierzu auch Lobsien (2007b), 1–17. 72 Nur insofern Marvells Texte Transzendenz als fortgesetzten Prozess, als ununterbrochene Befragung alternativer Wege und nicht als Figuration der Ankunft vorstellen, kann seine Dichtung also als »art of transcendence« bezeichnet werden; anders Wilcox (1998), 243.
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Die Vollkommenheit des Unvollkommenen
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Verena Olejniczak Lobsien
Lobsien, Verena Olejniczak, »Neuplatonismus und Ästhetik. Eine Einleitung«, in: 1euplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg. v. Verena Olejniczak Lobsien/Claudia Olk, Berlin 2007b, 1–17. Lobsien, Verena Olejniczak, »›So shines and sings, as if it knew‹. Elemente einer neuplatonischen Ästhetik des Kreatürlichen bei Henry Vaughan«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8 (2007c), 45–69. Lobsien, Verena Olejniczak, »Squaring the Circle. Neoplatonic Versions of the Self in Early Modern Poetry«, in: Circularity and Literature, ed. by Martin Middeke/Christoph Henke, New York (voraussichtlich 2010). Mahnke, Dietrich, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, Halle 1937, Faksimile-ND: Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Moog-Grünewald, Maria, »Conversio – Zu einem ›apokalyptisch‹ figurierten Topos autobiographischen Schreibens«, in: Apokalypse: Der Anfang im Ende, hg. v. Maria Moog-Grünewald/Verena Olejniczak Lobsien, Heidelberg 2003, 37–60. Radke, Gyburg, Das Lächeln des Parmenides. Proklos’ Interpretationen zur Platonischen Dialogform, Berlin 2006. Richards, Ivor A., The Philosophy of Rhetoric, New York 1936. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen 1euzeit, hg. v. Anja Hallacker/Boris Bayer, Göttingen 2007 (= Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, 2). Smith, Nigel, Perfection Proclaimed. Language and Literature in English Radical Religion 1640-1660, Oxford 1989. Wilcox, Helen, »›An Art of Imitation‹? The Challenge of Representation in English Renaissance Devotional Poetry«, in: Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation, hg. v. Bernhard F. Scholz, Tübingen 1998, 229–244.
Über die Autoren KATHARINA BRACHT, geb. 1967, Studium der ev. Theologie, Promotion durch die Theologische Fakultät der MLU Halle-Wittenberg (1998), dann Vikariat (1998– 2001), Ordination und Pfarramt z. A. (2001–2002) in Bielefeld sowie Juniorprofessur für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Ältere Kirchengeschichte und Patristische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (2002–2009), seit 2009 Forschungsstelle Altkirchliche Kommentarliteratur der LMU München, Ev.-Theologische Fakultät. Hauptarbeitsgebiete: Methodius von Olympus, Hippolyt, altkirchliche Daniel-Rezeption. MATEI CHIHAIA ist seit September 2007 Heisenberg-Stipendiat der DFG am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und, nach Vertretungsprofessuren für französische, spanische und italienische Literaturwissenschaft an den Universitäten Köln und Regensburg, seit August 2009 auf den Lehrstuhl für Spanische Literaturwissenschaft an die Bergische Universität Wuppertal berufen. Seine Dissertation behandelt Institution und Transgression. Inszenierte Opfer in Tragödien Corneilles und Racines (Tübingen 2002), eine zweite Monographie mit dem Titel Der Golem-Effekt. Orientierung und Inmersion im Kinozeitalter ist im Druck. ANDREW JAMES JOHNSTON, geb. 1966, hat den Lehrstuhl für Englische Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der Freien Universität Berlin inne. Er ist Mitglied der Forschergruppe »Topik und Tradition« mit einem Projekt zur Ekphrasis. Die Titel seiner Monographien lauten Clerks and Courtiers: Chaucer, Late Middle English Literature and the State Formation Process (Heidelberg 2001) und Performing the Middle Ages from Beowulf to Othello (Turnhout 2008). Seine zentralen Forschungsgebiete sind Beowulf, Chaucer und Shakespeare. Er hat jedoch auch Aufsätze zu dem romantischen englischen Dichter Thomas Lovell Beddoes, zu Bertolt Brecht und zum amerikanischen Filmregisseur David Fincher veröffentlicht. Er ist Autor zweier Romane. FRANZISKA KÜENZLEN, Studium der Latinistik, Germanistik und Romanistik in Tübingen. Promotion im DFG-geförderten Graduiertenkolleg »Ars und Scientia im Mittelalter und in der frühen Neuzeit« an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zu den europäischen Übersetzungen von Apuleius’ Metamorphoses im frühen 16. Jahrhundert (Verwandlungen eines Esels, Heidelberg 2005). Seit 2003 wissenschaftliche Assistentin am Germanistischen Institut, Abteilung Literatur
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Über die Autoren
des Mittelalters der Universität Münster. 2007 Feodor-Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Universität Oxford. Veröffentlichungen zur deutschsprachigen und lateinischen Literatur des Mittelalters (didaktische, geistliche und fiktionale Literatur) mit komparatistischem Schwerpunkt (Übersetzungen, Bearbeitungen und andere literarische Konstellationen). JOACHIM KÜPPER ist Professor für Romanische Philologie sowie für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Arbeitsgebiete: Romanische und westeuropäische Literaturen vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert; Theorie der Literatur; Künstevergleich. Herausgeber von Poetica. VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN ist Professorin für Neuere Englische Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiterin des Teilprojekts A 3 im SFB 644 Transformationen der Antike. Aufsätze und Monographien zur klassischen Moderne sowie zu Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, darunter: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur (1999), sowie (mit Eckhard Lobsien): Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert (2003). Im Druck: Transparency and Dissimulation. Transformations of 1eoplatonism in Early Modern English Literature (2010). MARIA MOOG-GRÜNEWALD ist Professorin für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. Ihre wichtigsten Arbeitsgebiete sind: Ästhetik und Poetik von der Antike bis zur Moderne; Text-Bild-Verhältnis: poietische Funktionen der Ekphrasis; Antike-Rezeption unter philosophisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gesichtspunkten; Mythenrezeption; Giordano Bruno. Mitherausgeberin der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Neuere Publikationen: Was ist Dichtung?, Heidelberg 2008; Mythenrezeption (Hg.), Weimar/Stuttgart 2008. KATHARINA MÜNCHBERG ist Professorin für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Trier. 1988–1995 Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Tübingen, Freiburg, Paris und Verona. 1999 Promotion und 2003 Habilitation an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen: René Char. Ästhetik der Differenz (2000), Dante. Die Möglichkeit der Kunst (2005). CLAUDIA OLK vertritt eine Professur für Englische Philologie an der LudwigMaximilians-Universität München und ist kooptiertes Mitglied des Sonderforschungsbereichs 644 Transformationen der Antike. Ihre Hauptarbeitsgebiete sind Literaturtheorie und Ästhetik, die englische Literatur des Spätmittelalters, der Frühen Neuzeit und der Moderne. Veröffentlichungen u. a. Reisen und Erzählen. Studien zur Entwicklung von Fiktionalität in narrativen Reisedarstellungen des Spätmittelalters und der Frühen 1euzeit (1999), 1euplatonismus und
Über die Autoren
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Ästhetik, hg. mit Verena Olejniczak Lobsien (2007), Virginia Woolf’s Aesthetics of Vision (2010). RICHARD WILSON is Professor of English Literature at Cardiff University and the author or editor of numerous books on Shakespeare and Renaissance culture, including Will Power: Essays on Shakespearean authority (1993), Secret Shakespeare: Studies in theatre, religion and resistance (2004), and Shakespeare in French Theory: King of Shadows (2007). He is currently completing a study of Shakespeare and the aesthetic: Free Will: Essays on Shakespearean autonomy.
Namenregister Adelman, Janet 167, 193 Adlington, William 163 Agamben, Giorgio 192, 199 Alcántara Mejía, José Ramón 141–142, 151–152 Alighieri, Jacopo 92 Altaner, Bertold 30–31 Althusser, Louis 183 Alvarez, P. Tomás 138 Antonius 30–31 Apuleius 163 Ariani, Marco 103 Aristoteles 5, 15, 17, 93–95, 101, 103, 109, 132, 165, 191 Ashton, Gail 80 Assmann, Aleida 4 Assmann, Jan 4, 173 Athanasius von Alexandrien 30–31 Auden, Wystan Hugh 168 Augustinus, Aurelius 6, 35, 111, 143, 146, 224 Backes, Martina 45 Badiou, Alain 194 Barish, Jonas 165 Barolini, Theodolina 98 Barroll, Leeds 189 Bartelink, Gerhardus J. M. 30 Barton, Anne 169 Batkin, Leonid M. 127 Baudelaire, Charles 120 Becerra Hiraldo, José María 138 Beierwaltes, Werner 2, 207, 209, 217, 225 Bembo, Pietro 133 Benjamin, Walter 120–121
Bennett, Michael J. 75 Bergeron, David 197 Bernhard von Clairvaux 6 Bertram, Georg 17–18 Black, Max 213 Bloch, Ernst 186 Blumenberg, Hans 7, 105, 209 Boardman, John 193 Boccaccio, Giovanni 8, 76, 82, 114– 116, 121 Boeft, Jan den 29 Böhme, Jakob 174, 224 Bonaccorsi, Piero 92 Bonath, Gesa 46, 48 Bonwetsch, Gottlieb Nathanael 19–20 Borradori, Giovanna 184 Boscán, Juan 137 Bowers, John M. 75–76 Bracht, Katharina 4, 8, 19–24, 30, 35 Bradbrook, Muriel Clara 191 Bradley, Andrew Cecil 166 Brändle, Rudolf 34 Bremmer, Jan N. 29 Bril, Alexander 22–23 Burrow, John 80, 83 Bußmann, Hadumod 51 Butler, Martin 199 Byrd, William 186 Cano, Melchior 140 Cassirer, Ernst 218 Castiglione, Baldassare 7, 9, 125–127, 130, 218 Cavell, Stanley 191 Chaucer, Geoffrey 75–78, 83–85, 87– 88, 115
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Namenregister
Chihaia, Matei 7–8 Chism, Christine 75 Chrétien de Troyes 78 Cicero, Marcus Tullius 126, 141, 145 Cixous, Hélène 185, 193 Clemens von Alexandrien 20, 23 Cody, Richard 189 Cohen, Walter 182 Colie, Rosalie 227 Connor, Clare 191 Conway, Anne 218, 220–221 Couilleau, Guerric 29–30 Coward, Harold 4 Critchley, Simon 184 Cromwell, Oliver 205, 222 Cudworth, Ralph 218–221 Cuevas, Cristóbal 144 Curtius, Ernst Robert 138–141, 144 Cusanus, s. Nikolaus von Kues Daniel, Samuel 165–166, 189 Dante Alighieri 8, 91–106, 109–121, 156 Dares Phrygias 77 De Man, Paul 121 Della Lana, Jacopo 92 Della Scala, Cangrande I. 110 Delling, Gerhard 15–17 Derrida, Jacques 182–185, 187, 190, 193, 199 Descartes, René 221 Dictys Cretensis 77 Diomedi, Adriana 95 Dionysius Areopagita 2, 6, 99, 101, 103, 223–225, 228 Döpp, Siegmar 33 Dörrie, Heinrich 214 Edwards, Philip 195 Edwards, Robert R. 76 Eijk, Ton H. C. van 24 Eilhart von Oberg 45–47, 51, 54, 59 Engel, Henrik 93 Eriugena, s. Johannes Scotus Eriugena
Eusebius von Caesarea 18, 29 Everard, John 223–225 Fairfax, Thomas, 3rd Baron Fairfax of Cameron 227 Federico, Sylvia 77 Felperin, Howard 181, 197 Fernie, Ewan 186 Fichte, Joerg O. 78 Fichter, Andrew 193 Ficino, Marsilio 3, 133, 210, 224 Fiedler, Leslie 181 Fineman, Joel 190 Florio, John 181 Formisano, Marco 29 Foss, Martin 224 Foucault, Michel 182 Franz, Marie-Louise 29 Frazer, James 193 Friedrich, Hugo 96, 113 Früchtl, Joseph 4 Galerius (röm. Kaiser) 30 Gallagher, Lowell 194 Ganim, John M. 75 Ganz, Peter 66 Garber, Marjorie 183, 197 Garcilaso de la Vega 137 Garnier, Robert 165 Gaston, Sean 199 Gawain-Dichter 75–78, 81, 84–86, 88 Geerlings, Wilhelm 33, 35 Geoffrey von Monmouth 77 George, Martin 33–34 Gerok-Reiter, Annette 62 Gibbons, Brian 189 Gillies, John 181 Goldberg, Jonathan 190, 197 Goldman, Michael 167, 169, 176 Gosson, Stephen 165 Gottfried von Straßburg 45, 54–55, 61– 63, 66, 68–69 Grady, Hugh 191 Greenblatt, Stephen 7, 199
Namenregister
Gregor von Nyssa 18, 23, 32–33 Guevara, Fray Antonio de 141 Gútierrez, P. David 137–138 Guy, Alain 144, 149 Habermas, Jürgen 182 Habermehl, Peter 29 Hallward, Peter 194 Halpern, Richard 184 Hanna, Ralph 82 Harries, Martin 183 Haug, Walter 55 Hayes, Thomas Wilson 223–225 Heidegger, Martin 181, 183, 193, 198 Heine, Ronald E. 18, 33 Heinrich von Veldeke 51, 66 Helgeson, James 147–148 Hellgardt, Ernst 61 Hempfer, Klaus W. 117, 126, 129 Heng, Geraldine 80–81 Henri IV. 188 Herbert, George 227 Hieronymus 111 Hildner, David 140, 143, 146–147, 150, 156 Hilton, Walter 6 Hobbes, Thomas 220 Hoffmann, Thomas S. 209 Hölderlin, Friedrich 194 Homer 15 Horatius Flaccus, Quintus 137 Huber, Christoph 54, 56–57, 61, 65–66 Hyginus, C. Iulius 66 Imbach, Ruedi 93 Irenäus von Lyon 20 Jakob I. 192, 197 James, Henry 182 Jameson, Fredric 181–182 Jauß, Hans Robert 3, 92, 113 Johannes (Evangelist) 17 Johannes Chrysostomus 18, 30, 33–34 Johannes Scotus Eriugena 225, 228
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Johnson, Samuel 166 Johnson, Sidney M. 61 Johnston, Andrew James 10, 83, 115 Jones, Emrys 192, 197 Jones, Ernest A. 84 Jones, John Alan 148, 151 Julius II. 125 Kablitz, Andreas 112 Kamut, Peggy 192 Karl I. 205 Karpp, Heinrich 20 Keck, Anna 47–49 Kellner, Beate 55–56 Kermode, Frank 175 Kern, Manfred 57, 66 Kern, Peter 66 Kernan, Alvin 191 Kinney, Arthur F. 7 Knapp, Fritz Peter 66 Knapp, Jeffrey 187–188 Kollwitz, Johannes 17–18 König, Bernhard 116 Köpf, Ulrich 32 Korshin, Paul J. 213 Kretschmar, Georg 16, 31 Küenzlen, Franziska 8 Küpper, Joachim 9, 113, 115, 117, 119– 121, 146, 151 Lacoue-Labarthe, Phillipe 194 Landino, Cristoforo 92 Langland, William 75 Lathrop, Henry B. 165 Lauster, Jörg 224 Lázaro Carreter, Fernando 141 LaCamon 77 Leech, Clifford 192 Legner, Anton 17 León, Fray Luis de 8, 137–159 Leroux, Jean-Marie 33 Levinas, Emmanuel 196 Lobsien, Eckhard 10, 126–127, 133
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Namenregister
Lobsien, Verena Olejniczak 3, 7, 10, 126–127, 133, 190, 210, 221–222, 225, 229 Loos, Erich 126, 131 López Gajate, Juan 155 Lotman, Jurij M. 114 Lubac, Henri de 112 Lupton, Julia 197 Luther, Martin 15–16 Luz, Ulrich 13, 15, 31 Lynch, Andrew 78 Madelaine, Richard 165 Mahnke, Dietrich 209 Mälzer, Marion 48, 51 Marin, Louis 190 Marvell, Andrew 10, 205–206, 210– 211, 213, 216, 219–222, 224, 227, 229 Marx, Karl 182–183 Matthäus (Evangelist) 13–16, 18, 32 McDonald, William C. 47 McKendrick, Melveena 153 Méhat, André 20 Mertens, Volker 46 Metcalf, Alan 82, 86 Methodius von Olympus 14, 18–30, 35, 37–38 Meyer, Louis 18, 30, 33–34 Mikasch-Köthner, Dagmar 48 Miles, Geoffrey 193 Milton, John 194 Mischer, Sibille 4 Moffet, Robin 197 Montaigne, Michel de 181, 188 Montserrat-Torrents, Joseph 24 Moog-Grünewald, Maria 9, 224 More, Henry 218–221 More, Thomas 181 Mostert, Walter 142 Mühlen, Karl-Heinz zur 32 Mühlenberg, Ekkehard 24 Mulcaster, Richard 190 Müller, Barbara 32
Müller, Jan-Dirk 47–49, 66 Münchberg, Katharina 8, 92 Nahson, Daniel 148 Nancy, Jean-Luc 194–195 Nardi, Bruno 91, 112 Nicholl, Charles Nicolson, Adam 188–189 Niederwimmer, Kurt 16 Nikolaus von Kues 208, 210, 223–225, 228 Nolting-Hauff, Ilse 114 Noormann, Rolf 20 Norbrook, David 182, 184 Norman, Ralph 24 North, Thomas 165 Nowak, Adolf 146 O’Neill, Eugene 171 Ohly, Friedrich 145 Olk, Claudia 3, 9 Orgel, Stephen 189, 196 Origenes 18, 23, 25–26 Ortmann, Christa 46 Overbury, Sir Thomas 164 Ovidius Naso, Publius 66–67, 163 Pachomius 32 Palfrey, Simon 182 Panofsky, Erwin 189 Parmenides 209 Patrides, Constantinos A. 193, 219, 221, 226 Patterson, Lee 78 Patterson, Lloyd George Patterson, W. B. 192 Paulus (Apostel) 15–16, 32, 111, 194– 195, 223 Pearsall, Derek 80 Pembroke, Mary Herbert, Countess of 165, 188 Perkins, William 223 Perpetua 17, 29–30
Namenregister
Petrarca, Francesco 8–9, 109, 114, 116– 121, 146, 151, 155–158 Philon 15, 17 Pico della Mirandola, Giovanni 3, 130, 133, 223–224 Picone, Michelangelo 99 Platon 4–6, 15, 17, 26–27, 109, 126– 127, 131–133, 135, 147–148, 170, 174, 198, 209 Plotin 5, 206–209, 214, 216–217, 219– 220 Plumpe, Joseph C. 24 Plutarch 165–168, 192–193 Pötters, Wilhelm 118 Poussin, Nicolas 190 Proklos 2, 207, 209, 220 Purdon, Liam O. 76 Putter, Ad 82 Quevedo, Francisco de 114 Quint, David 193 Quintilianus, Marcus Fabius 153 Rackin, Phyllis 166 Radke, Gyburg 207 Rahner, Karl 33–34 Relihan, Constance 194 Richard II. 75 Richards, Ivor A. 216 Richmond, Hugh 197 Ridder, Klaus 3 Roberts, Jeanne Addison 198 Rojas, Fernando de 141 Roudinesco, Elizabeth 183–184 Royle, Nicholas 184, 186, 193 Ryan, Kiernan 182, 186, 188, 197 Sabourin, Leopold 15 Safranski, Rüdiger 198 Said, Edward 199 Salisbury, Joyce E. 29 Salutati, Coluccio 129 San José Lera, Javier 139, 141 Sánchez Zamarreño, Antonio 150, 153
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Santagata, Marco 116 Schausten, Monika 46, 48–49 Schindele, Gerhard 57 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 222 Schmitt, Carl 184, 194 Schnackenburg, Rudolf 17 Schoenbaum, Samuel 188 Shaheen, Naseeb 193–194 Shakespeare, William 9, 163–169, 177, 181–199 Shaw, George Bernard 166 Sherry, Patrick J. 27 Sidney, Mary, s. Pembroke, Mary Herbert, Countess of Sidney, Sir Philip 1–2, 188–191 Simpson, James 76 Skura, Meredith Anne 188 Smith, John 218–219, 223 Smith, Nigel 213, 222–224, 226 Sokrates 4, 170 Spearing, Anthony C. 80 Spencer, T. J. B. 192 Stempel, Daniel 175 Stempel, Wolf-Dieter 127 Stierle, Karlheinz 98, 127 Stoichita, Victor I. 140 Strohschneider, Peter 47–48 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 121 Störmer-Caysa, Uta 66 Stuiber, Alfred 30–31 Tauler, Johannes 224 Teresa de Jesús 6, 138–140, 144, 149– 150 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 37, 111 Theophilus Antiochenus 20 Thomas von Aquin 6, 91, 109, 113, 141–142, 144–145, 149, 151 Thompson, Colin P. 143 Tomasek, Tomas 47, 54, 56, 64, 66 Tornau, Christian 208, 217 Tschann, Judith 84
242 Valéry, Paul 182 Vaughan, Henry 225 Vergilius Maro, Publius 137, 192 Viller, Marcel 33–34 Völker, Walther 18, 23 Voss, Bernd Reiner 22 Wace 77 Wainwright, Geoffrey 14 Wanke, Joachim 17 Warning, Rainer 151, 156 Wasserman, Julian 76
Namenregister
Whichcote, Benjamin 218–219, 221, 226 Wickham, Glynne 197 Wilcox, Helen 229 Willms, Eva 56 Wilson, Richard 9, 183, 193, 197 Wolf, Alois 66–67 Wolff, Ludwig 51 Xenophon 126 Žižek, Slavoj 184, 186 Zorzi, Maria Benedetta 22