Visionen und ihre Kontexte: Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) 351513414X, 9783515134149

Offenbarungen, Visionen und Jenseitsreisen interessieren nicht nur mittelalterliche Schreiber, sondern auch die moderne

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German Pages 460 [462] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen im Tafelteil
(Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht) Visionen und ihre Kontexte. Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert)
I. Transzendente Autorisierung in Jenseitsreisen und -visionen
(Hedwig Röckelein) Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung hochmittelalterlicher Jenseitsvisionen
(Andreas Bihrer) Ritter und Bauern auf Jenseitsreise. Laien als Visionäre im Hochmittelalter
(Karolin Künzel) Derweil im Diesseits. Der Leib des Visionärs in der Rahmenerzählung von Jenseitsreiseberichten
(Rike Szill) Visionskonspirationen. Das Scheitern von Transzendenzerfahrungen im ‚Timarion‘
(Bernd Roling) Wie in eine Weinsuppe getunkt. Selbstauslegung und Autorisierung in den Visionen Johann Engelbrechts
II. Kodifizierung von Visionen in Sammelhandschriften und im Frühdruck
(Maximilian Benz) Vision und Devotion. Zu Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979
(Julia Weitbrecht) Vor der Erlösung. Höllenangst und Heilsgeschichte in Lazaruslegende und ‚Visio Lazari‘
(Gia Toussaint) Gebet, Gesicht, Antlitz. Wahrnehmungen des Antlitzes Christi in einem spätmittelalterlichen Gebetbuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen
(Patrick Nehr-Baseler) Zwischen Heilsungewissheit, Hoffnungsgewissheit und Sozialkritik. Die frühneuhochdeutschen Übersetzungen C und D der ‚Visio Tnugdali‘ im Fassungsvergleich
III. Offenbarung und Authentisierung in der Hagiographie
(Sarah-Christin Schröder) Von Zeit und Heiligkeit. Zur Konstruktion und Vermittlung von Heiligkeit im eschatologischen Kontext der ‚Vita sancti Martini‘
(Daniel Eder) Der abwesende Bischof. Überlegungen zur Funktion des Wechselspiels von Vision und Narration in der Severin-Legende
(Tanja Mattern) Authentisierung durch Offenbarung – Authentisierung von Offenbarung. Elisabeth von Schönau, die Kölner ‚Reliquienfunde‘ und die Legende der heiligen Ursula
IV. Transzendente Autorisierung in politischen Visionen
(Uta Kleine) Doppelgesichte. Medialitäten und Deutungshorizonte mittelalterlicher Träume an einem Beispiel des 12. Jahrhunderts (Johannes von Worcester, ‚Chronicon ex chronicis‘, ca. 1140)
(Johannes Traulsen) Gesicht und Schwert. Formen und Funktionen von Visionen in der Karlsepik
(Cornelia Linde) Der lange Atem der Ordenspolitik. Die frühneuzeitlichen Viten der Visionärin Lucia Brocadelli
(Felicitas Schmieder) Visionen und ihre Kontexte. Die Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung. Eine Zusammenfassung
Abbildungen
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Visionen und ihre Kontexte: Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert)
 351513414X, 9783515134149

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Visionen und ihre Kontexte Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) Herausgegeben von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht

Beiträge zur Hagiographie | 25 Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Hagiographie Herausgegeben von Hedwig Röckelein (federführend), Dieter R. Bauer, Andreas Bihrer, Klaus Herbers und Julia Weitbrecht Band 25

Visionen und ihre Kontexte Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) Herausgegeben von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Umschlagabbildung: ‚Vita sancti Hugonis abbatis Cluniacensis‘ des Gilo von Toucy: Vision des Abtes Gunzo von Cluny Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 17716, fol. 43r Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13414-9 (Print) ISBN 978-3-515-13415-6 (E-Book)

Vorwort Der vorliegende Sammelband ‚Visionen und ihre Kontexte. Kodifizierung, Autori­ sierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jh.)‘ geht auf die vom 18. bis 20. März 2021 digital durchgeführte interdisziplinäre Tagung ‚Gesicht und Hand­ schrift. Transzendente Begründung und Authentifikation in mittelalterlichen Visio­ nen‘ zurück. Ursprünglich sollte die Veranstaltung im Tagungshaus der ‚Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart‘ in Stuttgart-Hohenheim vom 2. bis 4. April 2020 stattfinden, doch diese musste um ein Jahr verschoben und ins Digitale verlegt werden. Unser besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die bereit waren, ihre Vorträge auch ein Jahr später zu präsentieren. Das digitale Format erlaubte zahlreichen Interessierten, die eine Präsenz-Tagung nicht hätten besuchen können, sich an den in­ tensiven Diskussionen zu beteiligen, die dankenswerterweise von Claudia Alraum, Klaus Herbers, Freimut Löser und Peter Rückert moderiert wurden. Die Veranstaltung war Teil der Tagungsreihe des ‚Arbeitskreises für hagiographi­ sche Fragen‘, für deren Ausrichtung Claudia Alraum, Uta Kleine und Felicitas Schmie­ der herzlich zu danken ist. Die Organisation von Hohenheim aus wurde gewohnt zuverlässig von der ‚Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart‘ geleistet, hierfür möchten wir Johannes Kuber und Linda Huber unseren besonderen Dank ausspre­ chen. Stets unterstützt haben die Vorbereitungen das Sekretariat in Kiel mit Gabriele Langmaack, auch ihr gebührt großer Dank. Ermöglicht wurden die Veranstaltung wie auch der Druck des vorliegenden Bandes dankenswerterweise durch die finanzielle Förderung der Fritz Thyssen Stiftung. Für die Erstellung des Tagungsberichts möch­ ten wir Lara Schwanitz und Wiebke Witt danken.1 Der Tagungsband führt die fachlichen Diskussionen weiter, die wir mit Karolin Künzel, Patrick Nehr-Baseler und Lara Schwanitz im Rahmen des DFG-Projekts ‚Vergänglichkeit und Ewigkeit. Konfrontationen und Verschränkungen unterschiedli­ cher Zeitsemantiken in mittelalterlichen Jenseitsreisen‘ (2018–2022) begonnen haben und bildet zugleich den Abschluss des Projekts in dieser Arbeitsform. Die Druckle­ 1

Tagungsbericht: Gesicht und Handschrift. Transzendente Begründung und Authentifikation in mit­ telalterlichen Visionen, in: H-Soz-Kult, 27.05.2021. www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn127515 [abgerufen am 18.07.2022].

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Vorwort

gung hat dankenswerterweise Rike Szill geleitet, unterstützt in Kiel von Ole Marten, Sarah-Christin Schröder, Lea Tanha und Alexandra Thomsen, in Köln durch Æther Flachmann und Selma Hauser. Danken möchten wir den Mitherausgeber/innen Hed­ wig Röckelein, Dieter R. Bauer und Klaus Herbers für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ‚Beiträge zur Hagiographie‘. Von Seiten des Franz Steiner Verlags hat uns dankenswerterweise Katharina Stüdemann tatkräftig unterstützt. Unser größter Dank gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern, die ihre Vorträge zügig für den Sammelband zu Aufsätzen umarbeiteten. Als Vortragende und Beitragende hatten wir auch Miriam Czock, Thomas Lentes und Nigel F. Palmer gewinnen können, die aber nicht mehr an der Tagung teilnehmen konnten. Sie hätten mit ihren breiten fachlichen Interessen und ihrer Diskussionsfreude das Projekt sehr bereichert. Ihnen ist dieser Band gewidmet. Kiel und Köln, im Juli 2022 Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abbildungen im Tafelteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht Visionen und ihre Kontexte Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Transzendente Autorisierung in Jenseitsreisen und -visionen Hedwig Röckelein Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung hochmittelalterlicher Jenseitsvisionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Andreas Bihrer Ritter und Bauern auf Jenseitsreise Laien als Visionäre im Hochmittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Karolin Künzel Derweil im Diesseits Der Leib des Visionärs in der Rahmenerzählung von Jenseitsreiseberichten. . . . . . . . . . . 79 Rike Szill Visionskonspirationen Das Scheitern von Transzendenzerfahrungen im ‚Timarion‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Bernd Roling Wie in eine Weinsuppe getunkt Selbstauslegung und Autorisierung in den Visionen Johann Engelbrechts. . . . . . . . . . . . . 145

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Inhaltsverzeichnis

II. Kodifizierung von Visionen in Sammelhandschriften und im Frühdruck Maximilian Benz Vision und Devotion Zu Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Julia Weitbrecht Vor der Erlösung Höllenangst und Heilsgeschichte in Lazaruslegende und ‚Visio Lazari‘. . . . . . . . . . . . . . . 187 Gia Toussaint Gebet, Gesicht, Antlitz Wahrnehmungen des Antlitzes Christi in einem spätmittelalterlichen Gebetbuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Patrick Nehr-Baseler Zwischen Heilsungewissheit, Hoffnungsgewissheit und Sozialkritik Die frühneuhochdeutschen Übersetzungen C und D der ‚Visio Tnugdali‘ im Fassungsvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 III. Offenbarung und Authentisierung in der Hagiographie Sarah-Christin Schröder Von Zeit und Heiligkeit Zur Konstruktion und Vermittlung von Heiligkeit im eschatologischen Kontext der ‚Vita sancti Martini‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Daniel Eder Der abwesende Bischof Überlegungen zur Funktion des Wechselspiels von Vision und Narration in der Severin-Legende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Tanja Mattern Authentisierung durch Offenbarung – Authentisierung von Offenbarung Elisabeth von Schönau, die Kölner ‚Reliquienfunde‘ und die Legende der heiligen Ursula. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Inhaltsverzeichnis

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IV. Transzendente Autorisierung in politischen Visionen Uta Kleine Doppelgesichte Medialitäten und Deutungshorizonte mittelalterlicher Träume an einem Beispiel des 12. Jahrhunderts (Johannes von Worcester, ‚Chronicon ex chronicis‘, ca. 1140) . . . . . 351 Johannes Traulsen Gesicht und Schwert Formen und Funktionen von Visionen in der Karlsepik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Cornelia Linde Der lange Atem der Ordenspolitik Die frühneuzeitlichen Viten der Visionärin Lucia Brocadelli. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Felicitas Schmieder Visionen und ihre Kontexte Die Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

Verzeichnis der Abbildungen im Tafelteil Rike Szill Abb. 1

Exzerpt des Timarion mit hymnischer Überschrift, ÖNB Cod. theol. gr. 222, fol. 193v. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Wien

Gia Toussaint Abb. 1

Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (Detail).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2 Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (ganzseitig).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3 Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen im Garten: Noli me tangere, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 43v. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen im Garten, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 97r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen, aus dessen Seitenwunde sich ein Blutstrahl in einen Kelch ergiesst, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 104r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor einem Engel, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 131r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Copyright: Dombibliothek, Hildesheim

Uta Kleine

450 450 451 452 453 454

Bericht und Darstellung der mira uisio von der Hand des Johannes von Worcester; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 382 f.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Abb. 2 Rasur und Beginn der Neuredaktion der Ereignisse nach 1128 in den letzten acht Zeilen, beginnend mit dem rubrizierten Titel ‚De iuramento iam mutato in periurium, in multorum periculum‘; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 379. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Abb. 3 Bericht und Zeichnung zur Himmelserscheinung vom 8. Dezember 1127; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 380. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Copyright: Corpus Christi College, Oxford Abb. 1

Verzeichnis der Abbildungen im Tafelteil

Johannes Traulsen Abb. 1

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St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302: Rudolf von Ems, Weltchronik / Der Stricker, Karl der Grosse, Teil II, fol. 3v.. . . . . . . 458 Abb. 2 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil II, fol. 52v.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Abb. 3 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil I, fol. 203r. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Copyright: Kantonsbibliothek, St. Gallen, http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/ vad/0302 [abgerufen am 22.09.2022], CC BY-NC 4.0

Visionen und ihre Kontexte Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht

Kaum war der Mönch Edmund aus dem englischen Benediktinerkloster Eynsham an Ostern 1196 wieder aus dem Jenseits zurückgekehrt, dessen Straf- und Lohnorte er zusammen mit dem heiligen Nikolaus durchstreift hatte, schon wurde sein mündlicher Bericht des Gesehenen unter den Mitmönchen weitergegeben und wohl nur wenige Monate später von Edmunds Mitbruder Adam erstmals in lateinischer Sprache und Schrift festgehalten.1 Doch dies war erst der Anfang einer langen Handschriften- und Textgeschichte, denn die Vision in der Fassung des Erstredaktors Adam wurde in der Folgezeit in immer neuen lateinischen Redaktionen auch von Mönchen aus dem Zis­ terzienser- oder dem Kartäuserorden niedergeschrieben, zudem in eine rhythmische altfranzösische Fassung überführt, in die deutsche Volkssprache übersetzt und in mit­ telenglischer Sprache gedruckt. Der Bericht von Edmunds Jenseitsreise fand überdies in gekürzter Form Eingang beispielsweise in Chroniken, Exempelsammlungen, Enzy­ klopädien und in die ‚Legenda Aurea‘. Diese ré-écriture einer Jenseitsvision, also das ‚Wieder-Schreiben‘ oder ‚Über-Schrei­ ben‘, lag zum einen fraglos darin begründet, dass der im Mittelalter in ganz Westeuropa verbreitete Text anderen zeitlichen und regionalen Kontexten angepasst werden musste, ihm neue Funktionen in variierenden Gebrauchszusammenhängen zugewiesen wurden oder ihm ganz spezifische Interessen einzelner Akteure oder Institutionen eingeschrie­ ben werden sollten. Zum anderen aber – und dies untersuchen die Beiträge im vorlie­ genden Sammelband – dienten diese Transformationen jeweils der Authentisierung des Geschilderten. Dies verstehen wir nicht im Sinne der objektivierenden Authen­ tifikation einer Offenbarungswahrheit durch Formen der Beweisführung, sondern

1

Zur Textgeschichte der ‚Vision des Mönchs von Eynsham‘ vgl. Visio Edmundi, hg. v. Ehlen/Man­ gei/Stein; Visio monachi de Eynsham; The Revelation of the Monk of Eynsham.

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Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht

vielmehr im Sinne durchaus unterschiedlicher Authentisierungsstrategien, denn der Visionsbericht wurde mit jeder neuen Version den variierenden Wahrheitskriterien der veränderten Kontexte, Funktionen und Intentionen angepasst. Diesem Ziel entspran­ gen ganz verschiedene Authentisierungsformen wie die Umgestaltung des Stilniveaus oder das Anpassen der Jenseitsschilderung an Darstellungsmuster der Tradition von Visionsberichten, die besonders geprägt war von der ‚Visio Pauli‘, den ‚Dialogi‘ Gregors des Großen und von Bedas Kirchengeschichte. Der Autorisierung und Stärkung der Glaubwürdigkeit sollte auch das Einfügen von Zitaten aus der Bibel, aus patristischen Autoritäten oder aus anderen Visionen dienen, überdies wurde die Rahmenhandlung modifiziert, so über die Zeichnung des Visionärs und der Umstände der Vision, über die liturgische und heilsgeschichtliche Einbindung des Gesehenen, weiterhin über die Nennung von Autoritäten, welche die Authentizität des Berichts verbürgten, oder von Wundern, welche die Vision beglaubigten. Das ‚Wieder-Schreiben‘ von Visionsberich­ ten bildete also mehr als nur eine Aktualisierung oder eine Anpassung an veränderte Verhältnisse, sondern mit jeder Niederschrift wurde das Offenbarte auf andere Weise glaubwürdig, ja man suchte sich der göttlichen Offenbarung immer weiter anzunähern: Jede weitere Version, jede neue Handschrift machte das Gesicht glaubwürdiger. Gesichten, Offenbarungen, Visionen oder Jenseitsreisen, unter welchem Begriff auch immer man diese Gruppe an Erfahrungen, Texten oder Bildern fassen möch­ te, die im Mittelalter meist als visiones oder revelationes bezeichnet werden,2 gilt nicht nur das Interesse mittelalterlicher Schreiber, sondern auch der modernen Forschung.3 Nicht zuletzt mit den mentalitätsgeschichtlichen Studien Peter Dinzelbachers erlebte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der mittelalterlichen Visionsliteratur in den 1980er Jahren eine gewisse Konjunktur,4 doch während Fragen wie diejenige nach der Bedeutung von Höllenvorstellungen in einer als ubiquitär angesehenen Angstkultur des Mittelalters und ähnliche kulturwissenschaftlich inspirierte Forschungsthemen in den letzten Jahren weniger Aufmerksamkeit finden, harrt die Fülle an überlieferten Quellen noch immer ihrer Erschließung, im philologisch-materiellen Sinne5 ebenso wie in Bezug auf die Entwicklung historisch adäquater Fragestellungen zu Medialität und Darstellungsweisen visionären Erlebens.6 Aus diesem Desiderat entstand die Idee für den vorliegenden Sammelband und für das DFG-Projekt ‚Vergänglichkeit und Ewigkeit. Konfrontationen und Verschränkun­ 2 3 4 5 6

Zu dieser Textsorte und zu den zugleich problematischen Gattungsgrenzen vgl. Schmidt, Vision; Bihrer, Journeys. Vgl. den Forschungsüberblick bei Bihrer, Offenbarungen, sodass die Nachzeichnung aller Wege der Forschung sowie die Nennung von Einzelnachweisen hier weitgehend entfallen können. Vgl. z. B. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur; ders., Revelationes; Mittelalterliche Visi­ onsliteratur, hg. v. dems. Als wichtige Arbeiten sind hier zu nennen: Palmer, Visio Tnugdali; Pfeil, Vision des Tnug­ dalus; Weitemeier, Visiones Georgii; Jiroušková, Visio Pauli. Vgl. z. B. Röckelein, Otloh; Carozzi, Voyage; Weitbrecht, Welt; Benz, Gesicht.

Visionen und ihre Kontexte

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gen unterschiedlicher Zeitsemantiken in mittelalterlichen Jenseitsreisen‘ (2018–2022). Im Zentrum des Forschungsprojekts stehen jeweils raumzeitliche Prozessierungen, über die in visionär erfahrenen Jenseitsreisen die Vergänglichkeit des Menschen in Bezug auf das Verhältnis von Tod, Erlösung und Ewigkeit reflektiert wird. Die un­ terschiedlichen hier verhandelten Zeitsemantiken von linear-prozessualer Reise und Heilsgeschichte, Unendlichkeit und individueller Sterblichkeit, ewiger Strafe und Er­ lösung sind, und damit schließen wir an rezente Überlegungen zu Temporalitäten im Mittelalter an, nicht als inkonsistent anzusehen. Ihre Konfrontationen sollen vielmehr daraufhin untersucht werden, welche Sinn- und Bewältigungskonzepte zum Umgang mit Vergänglichkeit hier entwickelt werden und welche Modifikationen diese in den vielfältigen Bearbeitungen, Übertragungen und Rekontextualisierungen erfahren. Über die verhandelten Straf- und Bußvorstellungen bilden diese Texte nämlich ein spezifisches Verhältnis von Symbolizität und lebensweltlicher Bezüglichkeit aus, das in vielfältigen Überlieferungen, in der fortwährenden ré-ecriture, stetig erweitert, mo­ difiziert und begrenzt wird, wie das Beispiel des Mönches von Eynsham deutlich ge­ macht hat. Diese Verbindung von hermeneutischen, überlieferungs- und medienhistorischen Fragen ist unabdingbar für eine adäquate Erschließung des vielfältigen Quellenkorpus und erfordert einen interdisziplinären Zugang, insbesondere wenn das Forschungsin­ teresse wie im vorliegenden Sammelband dem Zusammenhang von Authentisierung und Kodifizierung gilt. Dieser Zusammenhang nämlich ist für die mediävistischen Bild-, Literatur- wie die Geschichtswissenschaften gleichermaßen von Bedeutung, denn mit Visionen in mittelalterlichen Quellen sind in besonderer Weise Fragen der Beglaubigung, Vermittlung und Verschriftlichung göttlicher Offenbarung verbunden. In den als visionäre Schau übermittelten mittelalterlichen Jenseitsreisen etwa wird den Protagonisten elementares Wissen über das Jenseits und seine Strafen vermittelt. Dieses bringen die Reisenden mit zurück ins Diesseits und beglaubigen es durch ihre conversio ebenso wie durch körperliche Zeichen. Der bei Beda erstmals erwähnte Abt Furseus etwa wird während seines Aufenthaltes in der Hölle von einem Teufel so hef­ tig gezüchtigt, „daß er, als er ins Leben zurückkehrte, zeitlebens ein Mal von jenem Schlag davontrug.“7 Die Medialisierung von Jenseitserfahrung ist aber insbesondere an spezifische Ko­ difizierungspraktiken gebunden, denn Visionstexte gehen nicht nur mit dem Mysteri­ um des Offenbarten, sondern stets auch mit den Schwierigkeiten um, es diesseitig in verbindlicher Form zu vermitteln. Die Offenbarung bedarf der Speicherung durch die Schrift, doch gefährdet der Kodifizierungsprozess zugleich auch ihren Anspruch gött­ licher Wahrheit. Visionen reflektieren dieses Problem, indem sie den ephemeren Cha­

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Tunc diabolus tam graviter eum percussit, ut postmodum vitae restitutus semper percussionis vestigium retineret. Jacobus de Voragine/Jacopo da Varazze, Legenda Aurea, S. 1874.

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Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht

rakter des Geschauten nicht verschweigen, sondern in wirkmächtige Bilder umsetzen wie die Schriftrolle, die der Prophet Ezechiel verzehren muss, um die göttliche Bot­ schaft zu inkorporieren und weitergeben zu können.8 Dabei bleibt die Wahrhaftigkeit insbesondere von visionären Jenseitsreisen jedoch stets umstritten, was die vielfältigen Authentisierungsstrategien und die Diskussionen um die Glaubwürdigkeit einzelner Texte wie auch des Genres im Gesamten ebenso belegen wie die Fortschreibung in Dichtung, Parodie und Satire. Dieser Problemkomplex wird – und hier setzen die Beiträge des Sammelbands ein – in Zusammenhang mit der konkreten Schreibpraxis insbesondere in den Klöstern, den wichtigsten Produktionsorten der mittelalterlichen Visionstexte, auch in materieller Hinsicht wirksam, denn die Offenbarung des oder der Einzelnen ging durch zahlrei­ che Ohren und Hände. Mit Blick auf die Überlieferungsgeschichte dieser Texte sind vor allem fünf Konstellationen von besonderer Bedeutung: (1) Die Textgestalt der Offenbarungen wandelte sich – wie eingangs an der ‚Vision des Mönchs von Eynsham‘ illustriert – mit ihren Niederschriften, Retextualisie­ rungen und Bearbeitungen, die eine unterschiedliche Nähe zur jeweiligen Vorla­ ge aufweisen. Neben dem Eingriff in den Text beispielsweise durch Umformu­ lierung, Umstellung, Kürzung oder Erweiterung wurde die Vorlage auch durch Kommentierung und Auslegungen oder durch Rahmen- und Paratexte wie Titel oder Rubriken einer Veränderung unterworfen.9 (2) Bis in das ausgehende Mittelalter dominierte noch die ‚Fremdsprache‘ Latein bei der Aufzeichnung und Bearbeitung von Visionen, doch die Zahl der Nieder­ schriften und Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen nahm stetig zu. Bei der Übertragung in die Volkssprache kamen unterschiedliche Übersetzungs­ konzepte zur Anwendung, die eine differierende Vorlagentreue der Übersetzun­ gen zur Folge hatten.10 (3) Visionen wurden meist als kurze Exzerpte oder knappe Zusammenfassungen auch in andere Gattungszusammenhänge inseriert, so in Heiligenviten, Mirakel, Chronistik, Predigten, Moralistik, Erbauungstexte, Gebete, Exempla-Sammlun­ gen, Traktate, Dialoge, Enzyklopädien, Briefe, Selbstzeugnisse oder Akten von Kanonisationsprozessen.11 (4) Neben der medialen Umformung des mündlichen Visionsberichts in die schriftli­ che Fassung des Erstredaktors konnte es auch weitere Transpositionen in andere Medien geben, beispielsweise in die visuelle Darstellung in einer Handschriften­ miniatur oder in einem Sakralraum, in eine performative Umsetzung im Geistli­

8 Vgl. Kiening, Bücher, S. 15 f.; Weitbrecht, Offenbarung. 9 Vgl. hierzu z. B. Bihrer, Bearbeitungspraxis; Weitemeier, Visiones Georgii; Jiroušková, Vi­ sio Pauli. 10 Vgl. hierzu z. B. Palmer, Visio Tnugdali; Pfeil, Vision des Tnugdalus. 11 Vgl. hierzu z. B. Wilson, Dissemination.

Visionen und ihre Kontexte

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chen Spiel oder im Jesuitentheater, in eine materielle Authentisierung durch Ge­ genstände oder in eine Re-Oralisierung des Visionsberichts in der Predigt oder bei der klösterlichen Tischlesung.12 (5) Schließlich kommt insbesondere der Kompilation als spezifischer Text- und Sammlungspraxis eine große Bedeutung zu, sei es in speziellen Visionssammlun­ gen oder sei es in Sammelhandschriften, in welchen die Visionen mit anderen Texten kombiniert wurden.13 Für den Zusammenhang dieses Sammelbands sind Konstellierungen mit eschatologischen Texten besonders bedeutsam. Aus dem hier skizzierten medialen Spannungsverhältnis von „Gesicht und Schrift“14 heraus gehen wir davon aus, dass das Geschaute einerseits fassbar gemacht und beglau­ bigt werden muss, die exklusive Transzendenzerfahrung des Visionärs andererseits auch in den unterschiedlichsten Kontexten – politischen, religiösen und sozialen – verfügbar gemacht und funktionalisiert werden kann, um im Verweis auf göttlichen Willen und die Einflüsse jenseitiger Instanzen auf die diesseitige Welt einzuwirken.15 Dies betrifft neben der Kodifizierung in einzelnen Handschriften auch andere Medien wie bildliche Darstellungen oder den Druck, so dass konkrete Funktionalisierungen stets innerhalb ihrer medien- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexte zu ermitteln sind. Uns beschäftigt dabei verstärkt auch der Übergang vom hohen zum späten Mit­ telalter, wenn zu den monastischen Rezeptionskreisen, die dann vor allem im Zuge der devotio moderna und der Klosterreformen des 15. Jahrhunderts Interesse an diesen Texten zeigen, über den Buchdruck zunehmend auch städtisch-laikale Gruppierungen in den Fokus treten.16 Diese Wechselwirkungen zwischen Strategien der Authentisierung des Jenseitigen wie auch der transzendenten Autorisierung und Begründung konkreter diesseitiger Zusammenhänge ist insbesondere, und hierin liegt der Bezug zum Arbeitskreis für ha­ giographische Fragen, auch für die Heiligenleben von Bedeutung, denn diese weisen vielfältige Formen der Funktionalisierung von Visionen auf, die in Viten, Mirakeler­ zählungen und Translationsberichte inseriert werden, um die Erwähltheit der heiligen Protagonisten zu demonstrieren.17 Das illustriert auch die für das Titelbild ausgewählte Abbildung aus einer aus Cluny stammenden Handschrift.18 Sie zeigt einen gewissen Gunzo, der Ende des 11. Jahrhun­ derts Mitglied des Konvents in Cluny unter Hugo (1024–1109), dem sechsten Abt von 12 Vgl. hierzu z. B. Ganz, Medien. 13 Vgl. hierzu z. B. Gebauer, Visionskompilationen; Mangei, Kartäuserorden. 14 Nach Benz, Gesicht. 15 Vgl. hierzu z. B. Kleine, Visionäre; Levison, Politik. 16 Vgl. hierzu z. B. Williams-Krapp, puch; Byrn, Nahtstelle. 17 Vgl. hierzu z. B. Herbers, Vision. 18 Handschrift Paris, bibl. Nat., Ms. Lat 17716, fol. 43r (Cluny, nach 1189). Entnommen aus: Dinzel­ bacher, Himmel, S. 73.

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Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht

Cluny, war. Die Quelle für diese Abbildung bildet eine Episode in der ‚Vita Hugonis‘ des Gilo von Toucy.19 Gunzo, der auf einem Bett gelagert abgebildet ist, ist schwer er­ krankt und erwartet seinen Tod. Da empfängt er eine Vision des Hl. Petrus, der ihm den Auftrag gibt, Abt Hugo zum Bau einer größeren und prächtigeren Basilika (es han­ delt sich um Cluny III) anzuspornen, da nach der Errichtung einer spirituellen nun der Bau einer materiellen Kirche von Nöten sei. Als Gunzo die Befürchtung äußert, dass man ihm keinen Glauben schenken werde, stellt Petrus ihm seine Genesung sowie weitere sieben Jahre Lebenszeit in Aussicht. Sollte Hugo der göttlichen Aufforderung dagegen nicht nachkommen und von der Errichtung der Basilika absehen, werde er an derselben Krankheit wie Gunzo sterben. Petrus macht darüber hinaus genaue An­ gaben zu Standort, Grundriss und Maßen der Kirche. In der Illumination des Pariser Kodex sind neben Petrus auch die Heiligen Paulus und Stephanus zu sehen, die mit vereinten Kräften und mit Hilfe kräftiger Seile den Raum vermessen. Somit setzt die Illumination anschaulich ins Bild, auf welche Weise Visionen zwischen Diesseits und Jenseits zu vermitteln und die Sphären gleichsam miteinander zu verschränken ver­ mögen: Die jenseitigen Heiligen greifen aktiv ins diesseitige Geschehen ein, denn die Vision legitimiert das Vorhaben, das für die gesamte Klostergemeinschaft eine große Belastung dargestellt haben muss, und autorisiert Hugo dazu, den Bau durchzusetzen. Umgekehrt dient die materielle Präsenz der Basilika (der ecclesia materialis) als ein Be­ weis für die Existenz der ecclesia spiritualis. Mittels Vision werden zudem auch – hier bis in die Abmessungen – die konkreten Bedingungen im Diesseits transzendent be­ stimmt: Der Kirchenbau ist bis ins Detail geplant, und Gilo hebt zudem hervor, dass er mit 20 Jahren Bauzeit außerordentlich zügig vonstatten gegangen ist. Innerhalb der Vita dient die Episode dazu, die enge Verbundenheit Hugos und Clu­ nys mit den heiligen Patronen deutlich zu machen und den Kirchenbau nachträglich zu begründen (die Basilika war zum Zeitpunkt des Todes Hugos noch nicht fertigge­ stellt). Diese Beziehungen sind heilsökonomisch fundiert: Neben dem Gewinn an Le­ benszeit, den er Gunzo in Aussicht stellt, lässt Petrus Hugo auch übermitteln, er möge sich um die Kosten für den Bau keine Sorgen machen, denn „es wird unsere Sorge sein, für alles Nötige zu diesem Werk vorzusorgen.“20 Die Vision ergeht indessen nicht an Hugo, sondern an Gunzo als Übermittler, und die Art und Weise, in der Gilo die Bedenken Gunzos, man werde ihm keinen Glauben schenken, thematisiert, verweisen auf die eingangs benannte kollektive Dimension der Prozesse von Kodifizierung, Au­ torisierung und Authentisierung. Auf der Seite des Codex ist zusätzlich auch zu sehen, wie Gunzo seinen Visionsbericht dem Abt und drei weiteren Mönchen vorträgt und erläutert.

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Gilo, Vita sancti Hugonis, S. 606. Vgl. H. E. J. Cowdrey, Two Studies; Binding/Linscheid-Bur­ dich, Planen und Bauen, S. 112; Linscheid-Burdich, Suger von Saint-Denis, S. 227 f. Zitiert nach Dinzelbacher, Himmel, S. 72.

Visionen und ihre Kontexte

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Dieses Beispiel kann lediglich ein Schlaglicht auf das komplexe Verhältnis von Visi­ on, Handschrift und Hagiographie werfen. Die Funktionalisierungsmöglichkeiten von Visionen in unterschiedlichen Texten und Kontexten sind, wie die einzelnen Beiträge zeigen, äußerst vielfältig. Ihre Analyse eröffnet daher reichhaltige Möglichkeiten, Vi­ sionen im Spannungsfeld von Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung zu beschreiben und so die Verbindungen von Dies- und Jenseits in der Vorstellungswelt des Mittelalters auszuloten. Bibliographie Quellen Gilo, De vita sancti Hugonis cluniacensis abbatis, hg. v. A. L’Huillier, Vie de Saint Hugues, abbé de Cluny 1024–1109, Solesme (Sarthe) 1888. Jacobus de Voragine / Jacopo da Varazze, Legenda Aurea – Goldene Legende. Legendae Sanc­ torum – Legenden der Heiligen. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar, hg. v. Bru­ no W. Häuptli, 2 Bde. (Fontes Christiani), Freiburg i. Br. 2014. Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, hg. v. Peter Dinzelbacher, Darmstadt 1989. The Revelation of the Monk of Eynsham, hg. v. Robert Easting (Early English Text Society 318), Oxford 2002. Visio monachi de Eynsham. Die Vision des Mönchs von Eynsham. Die kartäusische Redakti­ on des Spätmittelalters (Fassung E). Einleitung und Edition, hg. v. Andreas Bihrer (Kieler Werkstücke, Reihe C: Beiträge zur europäischen Geschichte des frühen und hohen Mittelal­ ters 4), Frankfurt a. M. u. a. 2019.

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Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht

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Visionen und ihre Kontexte

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I. Transzendente Autorisierung in Jenseitsreisen und -visionen

Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung hochmittelalterlicher Jenseitsvisionen Hedwig Röckelein

1997 rief ein Team von Nachwuchswissenschaftlern aus dem TP A 07 „Transforma­ tion mündlicher Texte am Beispiel der lateinischen Visionsliteratur“ des Freiburger SFB 321 „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“1 dazu auf, bei Visionstexten des Mittelal­ ters nicht mehr ausschließlich das Verhältnis von Visionär und Erst-Autor, sondern die gesamte Rezeptions- und Überlieferungskette in den Blick zu nehmen.2 Diesen Aufruf hat Andreas Bihrer, mitverantwortlich für diesen Sammelband, als einer der damali­ gen Projektbeteiligten 2016 in einen detaillierten Aufgabenkatalog gegossen,3 der so umfangreich ausfiel, dass er sich nur schwer erfüllen lässt. Denn bevor überhaupt mit der Analyse der Rezeption und Transformation der Visionsberichte begonnen werden kann, muss zunächst ihre oft sehr umfangreiche und hochkomplexe Überlieferung er­ mittelt werden. Dies ist bislang nur für wenige Texte erfolgt, etwa für die traditionsbil­ dende apokryphe ‚Visio s. Pauli‘,4 für die deutschen und niederländischen Varianten der ‚Visio Tnugdali‘,5 für das Corpus der Visionen im sog. ‚Purgatorium Patricii‘6 – da­ runter die vielfach Lateinisch und in verschiedenen Volkssprachen verbreiteten Er­ lebnisse des irischen Ritters Owein und die ‚Visiones Georgii‘, die Erzählungen des Petrus de Paternis über die Visionen des ungarischen Ritters Georg Grissaphan im

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Geleitet wurde das TP 07 von Paul Gerhard Schmidt, dem wir die Entdeckung und Edition zahl­ reicher Visionstexte verdanken. Ehlen/Mangei/Stein, Visio Edmundi. Bihrer, Variable. Jiroušková, Visio Pauli. Zur Rezeption der ‚Visio Pauli‘ in mittelalterlichen lateinischen Visions­ erzählungen vgl. Benz, Gesicht, Kap. 4.1, der eher motiv- als überlieferungsgeschichtlich ansetzt. Palmer, Visio Tnugdali, und die Edition eines Referenztextes: Tondulus der Ritter, ed. Palmer. Maggioni/Tinti/Taviani, Purgatorio.

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Jahr 13537 – und ansatzweise für die Vision des Mönchs Edmund von Eynsham8 durch die eingangs genannte Freiburger Gruppe. Im Wesentlichen werde ich hier die Aspekte vertiefen, die Andreas Bihrer bereits 1997 im Rahmen des erwähnten Kollektivwerkes über den Mönch von Eynsham an­ gerissen hat: Authentisierung, Bearbeitungspraxis, Gebrauchssituationen und Wir­ kungsabsicht der Texte.9 Als empirische Grundlage dienen mir die Vision des hol­ steinischen Bauern Gottschalk in zwei zeitgenössischen Fassungen,10 die Vision des Bauern Thurkill aus England,11 die Visionen der Ritter Tundal12 und Owein13 aus iro­ schottischer Tradition mitsamt ihrer äußerst komplexen Überlieferungs- und Bearbei­ tungslage sowie die Vision des Alberich von Settefrati14 aus Italien. Diesen sog. ‚kollek­ tiven‘ Visionsberichten, bei denen weder der Autor noch spätere Bearbeiter mit dem

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Der Autor der lateinischen Version, Petrus de Paternis, wird nur in wenigen Handschriften ge­ nannt und blieb daher lange Zeit unerkannt. Die lateinischen Versionen Visiones Gregorii, ed. Hammerich. Zur mittelalterlichen deutschen Übersetzung: Visiones Georgii, ed. Weitemeier. Ehlen/Mangei/Stein, Visio Edmundi. Bihrer, Eynsham. Diese im 14. Jhd. entstandene Version wurde v. a. von Kartäusern und von benediktinischen Reformern im Rheinland und in Franken im 15. und 16. Jhds. abgeschrieben. Visio Godescalci, ed. Assmann. Zur Identifizierung des anonymen Autors A vgl. ebd., S. 25–35, die jedoch weitgehend hypothetisch bleiben muss. Die Version A wurde wahrscheinlich zwischen August und Oktober, jedenfalls vor November 1190 niedergeschrieben, und ist in einer zeitgenös­ sischen Abschrift erhalten (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 558 Helmstedt, f. 1v–24r). Zu den wenigen Anhaltspunkten für den Autor B vgl. Assmann, Visio Godescalci, S. 38–41; von seinem Text ist erst eine späte Kopie aus dem 15. Jhd. erhalten. Im Gegensatz zu dems., ebd., S. 38, der davon ausgeht, dass der Autor B den Text von Autor A nicht kannte, nimmt Bünz, Neue Forschungen, S. 85 f., aufgrund der philologischen Hinweise in den Rezensionen zu Assmanns Edition von Rädle, Rezension, S. 21, und Schmidt, Rezension, S. 647 f., an, dass Autor B die Fassung von Autor A gekannt habe. Davon unbenommen bleibt die Feststellung, dass der Autor B auch eigenständig recherchiert hat. Visio Thurkilli, ed. Schmidt; Vision des Bauern Thurkill, ed. Schmidt; Vision of Thurkill, ed. Ward; Roger of Wendover. Flores historiarum, a. 1206, ed. Hewlett, S. 16–35; Matthaeus Parisi­ ensis. Chronica Maiora, a. 1206, ed. Luard, S. 497–511. Die älteste Edition der Visio Tnugdali, ed. Schade, S. II, basiert auf der Hs. Gießen, UB, Ms. 126, p. 121–136, 13./14. Jhd.; Visio Tnugdali, ed. Wagner, S. XV, kollationierte sieben Handschriften des 12. und 13. Jhds.; Visio Tnugdali, ed. Lehner/Nix, S. 52 f., wählten als Leithandschrift Erlangen, UB, Ms. 231 aus dem 12. Jhd. Bereits um 1190 fertigte der Kanoniker Alber im bayerischen Prämons­ tratenserkloster Windberg eine volkssprachliche Fassung der ‚Visio Tnugdali‘ auf der Grundlage der lateinischen Fassung in Clm 22254 an (Visio Tnugdali, ed. Pfeil). Zur Entstehungsgeschichte und historischen Situierung des Textes von Marcus aus Regensburg vgl. Spilling, Visio Tnugdali. Die Edition von Warnke basiert auf der Handschriftengruppe α, die Edition von Easting auf der Version im ‚Liber Revelationum‘ des Peter von Cornwall, vgl. dazu auch Easting, Peter of Corn­ wall’s Account. Alle Versionen und späteren Adaptionen des Jenseitsberichts von Owein sowie der Erlebnisse späterer Pilger zum ‚Purgatorium Patricii‘ nun ediert und ins Italienische übersetzt bei Maggioni/Tinti/Taviani, Purgatorio; vgl. auch die zweisprachige Ausgabe von Benz, Purga­ torio. Visio Alberici, ed. Schmidt.

Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung von Jenseitsvisionen

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Visionär identisch sind, werde ich abschließend den ‚individuellen‘ Bericht des Otloh von S. Emmeram gegenüberstellen, der seine Visionen selbst aufzeichnete.15 Anders als die eher essentialistisch ausgerichtete ältere Forschung16 gehen wir der­ zeit davon aus, dass sich über die (realen) Visionserfahrungen mittelalterlicher Men­ schen aufgrund der komplexen Medialisierung und Literarisierung derselben keine oder kaum Aussagen treffen lassen. Obwohl ich selbst heute die Literarizität stärker gewichten würde als in meiner 1987 erschienenen Dissertation,17 so möchte ich doch daran festhalten, dass in den Transzendenzerfahrungen die „Vorstellungen“18 der Zeit insofern repräsentiert und reflektiert werden, als diese in Beziehung zur gesellschaft­ lichen Realität der Visionäre wie der Rezipienten der Visionserzählungen und zu den zeitgebundenen Medien stehen. Insofern vermitteln diese mündlich und schriftlich vermittelten Berichte gesellschaftliche Wirklichkeit im Sinne Berger/Luckmanns, wenngleich eine durch literarische Filter gebrochene.19 I. Authentisierung und Autorisierung Die Überzeugungskraft der göttlichen Botschaft und der Aussagen über das Jenseits hing wesentlich von der Glaubwürdigkeit des Visionärs wie des Berichts ab. Glaub­ würdigkeit wurde durch Authentizität und Autorität hergestellt.20 Der Erstautor schuf Authentizität durch eigene Augen- und/oder Ohrenzeugenschaft. Er behauptet, das Visionsgeschehen unmittelbar aus dem Mund des Visionärs gehört zu haben oder so­ gar während der Vision anwesend gewesen zu sein.21 Und er versichert, den münd­ lichen Bericht des Visionärs unmittelbar anschließend wortgetreu, der Reihe nach („seriatim“)22 und vollständig23 niedergeschrieben zu haben. Im Falle der ‚Visio Go­ descalci‘ bekräftigte der Autor A seine Glaubwürdigkeit durch das Argument, er sei 15

Die Unterscheidung zwischen ‚kollektiven‘ und ‚individuellen‘ Visionsberichten habe ich in mei­ ner Dissertation Röckelein, Otloh, getroffen. 16 Dies trifft v. a. zu auf Benz, Vision; Dinzelbacher, Vision. 17 Vgl. Röckelein, Otloh. Die Arbeit wurde 1985 bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. eingereicht und erschien 1987 im Druck. 18 ‚Vorstellung‘ hier im Sinne von ‚imaginaire‘ verstanden. Vgl. dazu Patlagean, L’histoire; Rö­ ckelein, Das Imaginäre. 19 Berger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion. 20 Zur Rollenverteilung zwischen Visionär und Autor in den Berichten über Jenseitsvisionen vgl. Shanzer, Auctor. 21 Visio Godescalci, Autor A, Kap. 1,6, ed. Assmann, S. 52–54: Sicut ex veridica ipsias relatione aliquociens audivi; ebd., Kap. 62, S. 150: Vocatus enim afferens mecum cum his, que ad unctionem eius necessaria fuerunt, tabulas et stilum signaturus visionem, quam viderat […]. 22 Visio Godescalci, Autor A, Kap. 62, ed. Assmann, S. 150: continuo lectulo eius assidens ex ore ipsius seriatim visionem fideliter signavi. 23 Sigarus. Vision of Orm, c. 1, ed. Farmer, S. 76: sine ulla diminucione. Zur Vision des jungen Orm siehe auch den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band.

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als Pfarrherr24 seit langem mit dem Visionär und dessen ebenfalls visionär begabter Ehefrau bekannt.25 Im Falle der Vision des Mönches Alberich von Montecassino erfolgte die Authenti­ sierung nachträglich durch den Visionär im Erwachsenenalter. Alberich von Settefrati hatte im Alter von neun Jahren eine Vision erlebt, von der er Zeugnis gegenüber einem Priester namens Guido ablegt haben will.26 Als Erwachsener widersprach er dessen Bericht und revidierte ihn mit Hilfe des Diakons Petrus.27 Kritik übte er an einer Reihe von ‚Zutaten‘ Guidos: den Angaben zur Höhe der Türen zur Hölle, der Geschichte der Schiffsleute, die sich auf dem Meer verirrten, dem Martyrium des hl. Pandidus, der Kirche des Bekenners Archilegius; der Rede des Moses an Gott; den Erzählungen über die Erschaffung Adams und dessen Namen sowie postmortaler Speisung, Noahs Weinberg und die Höhe des Himmels.28 Indem sie das von den Visionären Berichtete und die Person des Visionärs für glaubwürdig erklären, inszenieren sich die Autoren – durchweg gelehrte Kleriker, ge­ weihte Priester und erfahrene Äbte – als Autoritäten, die in der Lage waren und de­ ren Pflicht es war, die Aussagen des Visionärs auf ihre Rechtgläubigkeit (fides catholica, Orthodoxie) hin zu überprüfen. Insbesondere dann, wenn die Visionäre illiterat waren, was häufig zutraf, denn unter ihnen finden sich viele Kinder, Laien, Bauern, Frauen und Ritter, schien der Kirche diese Prüfung wegen der Gefahr der Verbreitung häretischer Gedanken unverzichtbar. Darüber, ob die Betroffenen ein Opfer falscher Vorspiegelungen böser Mächte (Dämonen, Teufel) geworden waren oder ob ihnen tatsächlich die Gnade göttlicher Offenbarung widerfahren war, konnten nur in theolo­ gischen Angelegenheiten versierte Gelehrte oder geweihte Kleriker entscheiden. Das Discrimen verum ac falsum und die Authentisierung von Vision und Visionär lag daher ausschließlich in ihren Händen. Authentisierung und Autorisierung gingen demnach Hand in Hand. Erstautoren, die aus größerer zeitlicher und personeller Distanz schrieben – H. von Saltrey kannte 24 25 26 27

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Visio Godescalci, Autor A, Prologus, ed. Assmann, S. 46, bezeichnet Gottschalk als noto parrochiano […] nostro. Als zuständiger Priester wurde er zur letzten Ölung seines Pfarrkindes gerufen (ebd., Kap. 62, S. 150). Im Gegensatz zum Autor B weiß Autor A, dass auch Gottschalks Ehefrau Visionen erlebt hatte (Visio Godescalci, Autor A, Kap. 1,2, ed. Assmann, S. 50). Der Bericht des Guido ist nicht erhalten. Es ist schwer zu sagen, ob es ihn überhaupt gegeben hat oder ob der Diakon Petrus dies nur behauptet, um seinem Text höhere Glaubwürdigkeit und Au­ torität zu verleihen. Visio Alberici, ed. Schmidt, S. 18: Ob quam rem Seniorectus abbas nostram parvitatem evocans precepit, ut iterum illam emendans, superflua resecarem, amputata loco suo restituerem. Accito igitur Petro diacono ab ipsis, ut ita dicam, cunabulis nobis in Christi amore cuniuncto triduanum laborem assumens, eam ad unguem usque correxi, falsa resecans et dempta loco suo restituens. Visio Alberici, ed. Schmidt, S. 18: Que autem ibi sub nostro nomine inseruit, ista sunt: altitudo portarum inferni, de naucleris, qui erraverunt in mare, de martirio sancti Pandidi et de ecclesia confessoris Archilegii, allocutio Moysi ad Deum, de creatione Ade, de nomine eius, de cibo Ade post mortem, de vinea Noe, de altitudine celi. Hec et multa alia in nostra visione conficta repperi.

Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung von Jenseitsvisionen

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den Visionär Owein gar nicht und schrieb dessen Erlebnis erst Jahrzehnte später auf der Grundlage des mündlichen Berichts eines Dritten auf!29 –, ersetzten die Augenund Ohrenzeugenschaft durch gattungsspezifische Topoi sowie Zitate aus der Bibel und der Kirchenväter.30 Diese Literarisierungen zogen eine gewisse Standardisierung der Jenseitsbeschreibungen nach sich, aber auch eine gewisse rhetorische Monotonie. Auf der anderen Seite stellte sich, so Thomas Ehlen, der paradoxe Effekt ein, dass eine Vision umso glaubwürdiger galt, je mehr sie den Erwartungen und dem bereits vor­ handenen Wissen über das Jenseits entsprach.31 II. Narrative Techniken der Variation: Abbreviatio, extensio, interpolatio Neben der Prüfung der Rechtgläubigkeit der Inhalte bestand die Aufgabe der geistli­ chen Autoren in der Strukturierung, der „mise en ordre“ wie Claude Carozzi es nann­ te,32 die dem visionären Geschehen einen Sinn gab.33 Je nach Gebrauchssituation und erwünschter Wirkung kamen hier ganz unterschiedliche literarische Formen zum Ein­ satz. Monotone Wiederholungen von Dialogen zwischen dem Visionär und seinem Seelenführer oder Bekannten im Jenseits, die der Erstautor etwa dem mündlichen Vortrag in der monastischen Tischlesung für zuträglich gehalten hatte, wurden von späteren Redakteuren, die ihre Texte für die schriftliche Kommunikationen konzipier­ ten, gekürzt oder ganz gestrichen. So ging Helinand von Froidmont in seiner Version der ‚Visio Tnugdali‘ nach dem Bericht des Marcus von Regensburg vor.34 Unter Beibe­ haltung der wesentlichen inhaltlichen Aussagen strich er die redundanten Passagen. Anders dagegen verhält es sich mit den beiden Fassungen der ‚Visio Godescalci‘. Sie wurden von zwei zeitgenössischen Autoren niedergeschrieben, die dem Visionär unterschiedlich nahe standen.35 Beide vertraten zwar dieselbe politische Position – sie unterstützten die Staufer und die Grafen von Schauenburg als Vertreter der Reichs­ 29

Über den Zeitpunkt des Erlebnisses der Vision Oweins lassen sich aus den Handschriften ver­ schiedene Daten erschließen. Easting, Owein, S. 166, schlägt vor „nicht nach 1146/47“; die Be­ rechnung aus der Handschrift A (13. Jhd.) ergibt 1153/1154. Ebenso umstritten ist, wann H. von Saltrey, der den Visionär nicht kannte, sondern sich auf einen mündlichen Zwischenbericht ge­ stützt haben will, den Text aufschrieb. Jedenfalls dürften zwischen dem visionären Erlebnis und seiner erhaltenen Verschriftlichung mehrere Jahrzehnte vergangen sein. Zu den Berechnungen vgl. Röckelein, Otloh, S. 134–137; Easting, Owein, S. 166–167 (Mitte der 1180er Jahre); Maggio­ ni/Tinti/Taviani, Purgatorio, p. XXI–XXXIV. 30 So Bihrer, Eynsham, S. 99. 31 Ehlen, Vision, S. 299. 32 Carozzi, Voyage, S. 495–529. 33 Ehlen, Vision, S. 258 f. und S. 286 f. 34 Vgl. die Version des Marcus von Regensburg. Visio Tnugdali, Kap. 4, 6, 8, ed. Wagner, S. 13, S. 15 und S. 20, gegenüber der des Helinand von Froidmont. Chronicon, a. 1149, Sp. 1038–1055. Vgl. dazu ausführlich Röckelein, Otloh, S. 151–153. 35 Zu den beiden Autoren und ihrem unterschiedlichen Verhältnis zum Visionär vgl. oben.

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gewalt in Holstein –,36 aber sie verfolgten in ihren Berichten unterschiedliche Ziele. Autor A legte großen Wert auf die gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse. In aller Breite stellte er das Lebensumfeld des Visionärs und seiner Zeitgenossen dar.37 Seine Kritik richtete sich vor allem gegen Heinrich den Löwen als Herzog von Sach­ sen und dessen Koalition mit den Repräsentanten der älteren Holstenverfassung, den Boden und Overboden.38 Autor B hingegen fasste sich deutlich kürzer und berichtete summarisch.39 Er beschränkte sich bei den Aussagen zum aktuellen Zeitgeschehen auf ein Minimum. Sein Fokus war auf die Belehrung und christliche Lebensführung der Leserschaft gerichtet. Während Autor A auf das Besondere der aktuellen politischen und religiösen Situation40 in Holstein am Ende des 12. Jahrhunderts abhob, ging es dem Autor B um eine von Zeit und Raum unabhängige allgemeingültige Aussage; ihm diente das Visionsgeschehen nur als Exemplum seiner moralischen Botschaft. Charakteristisch für die Visionsberichte ist, dass nicht erst die spätere Ré-écriture,41 sondern bereits die Abschriften der Erstfassungen stark variieren.42 Die Kopisten be­ tätigten sich offenbar – wie es dem mittelalterlichen Wortgebrauch von auctor eigen ist43 – als Autoren im modernen Sinn. Auf allen Ebenen und in allen Schichten der Textarbeit kann man dabei zwei gegenläufige Tendenzen konstatieren: auf der einen Seite die Verkürzung (abbreviatio)44, auf der anderen Seite die Erweiterung (extensio) und Ergänzung (interpolatio) des Textes.45

36 Zu den beiden Textfassungen und ihrem zeitgenössischen Entstehungshintergrund vgl. Rö­ ckelein, Geschichtsbewußtsein, mit Angabe der Literatur zu den lokalen Verhältnissen. 37 Hier v. a. die Episode des Kirchenraubs durch die Bakariden (Visio Godescalci, Autor A, Kap. 22– 24, ed. Assmann, S. 80–92) und die Geschichte eines jugendlichen adeligen Mörders (ebd., Kap. 26 f., S. 92–104). 38 Zu den zeitgenössischen Hintergründen vgl. v. a. Kap. 1 (2), Kap. 20 (5), Kap. 21–25, Kap. 46 (2) der Visio Godescalci, ed. Assmann, in der Fassung des Autors A. 39 Während der Autor A die Vision ausführlich der Reihe nach (seriatim) erzählte, berichtete der Autor B sie nur zusammenfassend (summatim): Visio Godescalci, Autor B, Kap. 1,1, ed. Assmann, S. 162: Quid autem in alia vita infra quinque dies viderit, sicut ab ipso cognovimus summatim perstringere temptabimus. 40 In Holstein konkurrierten zu dieser Zeit Angehörige dreier Religionssysteme miteinander, des germanischen, des slawischen und des christlichen. Vgl. dazu Dinzelbacher, Verba. 41 Ich verwende hier einen Terminus aus der strukturalistischen Literaturwissenschaft, der für die karolingerzeitlichen Überarbeitungen hagiographischer Texte der Merowingerzeit eingeführt ist. Vgl. dazu Goullet, Ecriture. 42 Vgl. dazu die verschiedenen Überlieferungsstufen der ‚Visio Tnugdali‘, der Visionen aus dem ‚Pur­ gatorium Patricii‘ und der ‚Visio Thurkilli‘, erörtert bei Röckelein, Otloh, S. 153–156, S. 159 f. und S. 163–169. 43 Shanzer, Auctor. 44 Zur Abbreviatio und Brevitas vgl. Bihrer, Eynsham, S. 109–111: Ent-Individualisierung, De-Rhe­ torisierung. 45 Zu beiden Strategien vgl. Röckelein, Otloh, S. 151–171 mit Beispielen. Diese ähneln stark denen, die in der hagiographischen Réécriture verbreitet sind, vgl. dazu dies., Vom webenden Hagiogra­ phen.

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Ursache der formalen und inhaltlichen Neustrukturierung waren in der Regel eine Neuausrichtung des Textes auf ein anderes Publikum und eine andere Wirkung – von der Paränese zur Zeitkritik oder umgekehrt – oder der Wechsel der Medien und der Performanz von der Mündlichkeit (Predigt, Rede, Hören) zur Schriftlichkeit (stille Lektüre) und umgekehrt.46 Wo Visionserzählungen in Predigten oder Historiographien implementiert wurden, kam es in der Regel zu gravierenden inhaltlichen und formalen Eingriffen. Eine Rei­ he von Chroniken erwähnen die Vision des Tnugdal kurz, andere übernahmen ganze Passagen aus dem Visionstext.47 Roger von Wendover und Matthew Paris integrierten in ihre historiographischen Werke Auszüge aus der Vision des Bauern Thurkill48 und des Ritters Owein.49 Die Bearbeiter reduzierten die Visionserzählung auf einen für die Chronik akzeptablen Umfang, indem sie die Prologe und Dedikationen sowie die weitschweifigen Erörterungen und Homilien der Erstfassungen wegließen.50 In seiner für die Chronik konfektionierten Version der ‚Visio Tnugdali‘ strich Hein­ rich von Herford im 14. Jahrhundert alle irischen Elemente.51 Er konzentrierte sich auf die moralische Botschaft. Mit den Namen der Personen und Orte der irischen Fassung hätte sein westfälisches Publikum ohnehin nichts anfangen können. Inzwischen obso­ let gewordene Termini aus der Welt des Rittertums ersetzte er durch zeitgenössische. So ersetzte er die securis der lateinischen Fassung und das ägstlein der deutschen Fas­ sung der ‚Visio Tnugdali‘ durch ein swert.52 46

Der mündliche Vortrag erfolgte üblicherweise als Lesung im Refektorium der Mönche und Non­ nen. Auch Päpste ließen sich Visionserzählungen vorlesen; zu den Belegen vgl. Röckelein, Ot­ loh, S. 156 f. 47 1) Annales Pragenses saec. XII, ed. Pertz, S. 120, a. 1149: Tungdalus visionem vidit. 2) Albrici monachi Trium Fontium. Chronica, a. 1149, S. 840: Visio Tugdali: Facta est in Hibernia hoc anno quedam mirabilis visio de penis inferni et gaudiis paradisi que Tugdali visio appellatur. Hanc si quis plane scire desiderat, in multis abbatiis poterit reperire. 3) Helinand von Froidmont. Chronicon, a. 1149, Sp. 1038–1055. 4) Auf Helinand basiert Vincentius Bellovacensis. Speculum historiale, lib. XXVII, Kap. 88–104, und auf diesem schließlich Henricus de Hervordia. Liber de rebus memorabilioribus, a. 1331, ed. Potthast, S. 250–251. 48 Roger of Wendover. Flores historiarum, a. 1206, ed. Hewlett, S. 26 f.; Matthaeus Parisiensis. Chronica Maiora, a. 1206, ed. Luard, S. 504. Beide verzichten auf die ausführliche Darstellung der Torturen, denen im Text des Radulphus der Priester zur Strafe für seine Vergehen ausgesetzt wird (vgl. Visio Thurkilli, Kap. 5 f., ed. Schmidt, S. 20 und S. 22). Sie verweisen hier lediglich auf die tormenta, die der Hochmütige im vorhergehenden Kapitel erdulden musste, und deuten an, dass dem Priester dieselben Martern auferlegt wurden: Postea, sicut de superbo jam diximus. Vgl. dazu Röckelein, Otloh, S. 153 f. und S. 157 f. 49 H. v. Saltrey. Purg. Patr., V 7 und VI 6, ed. Warnke, S. 52 und S. 60, gegenüber Matthaeus Parisi­ ensis. Chronica maiora, a. 1153, Kap. 4–6, S. 195–197, sowie weitere Stellen. Vgl. dazu Röckelein, Otloh, S. 154–156. 50 Vgl. dazu mit den Belegstellen Röckelein, Otloh, S. 158 f. 51 Henricus de Hervordia. Liber de rebus memorabilioribus, a. 1331, ed. Potthast, S. 250 f. Vgl. dazu Röckelein, Otloh, S. 159 f. 52 Zum Vorgehen und den Belegstellen vgl. Röckelein, Otloh, S. 168 f., und Palmer, Visio Tnug­ dali, S. 58 und S. 86.

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Indem sie zeit- und ortsgebundene Spezifika eliminierten, schufen diese späteren Bearbeiter universale Exempla, die überall im christlichen Europa verstanden und auf beliebige Orte übertragen werden konnten. Die Jenseitsorte wurden auf diese Weise zu ‚Pathosformeln‘ im Sinne Aby Warburgs.53 Jacobus a Voragine reduziert in der ‚Legenda aurea‘ die Visionen verschiedener Pil­ ger aus dem ‚Purgatorium Patricii‘ auf ein Minimum. Nicht der Visionär Nikolaus, ein unbekannter Adeliger, steht im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die Wirkmäch­ tigkeit des heiligen Patricius.54 Exemplarischen Charakter besitzen auch die vielen Vi­ sionäre in der Predigtsammlung des Stephan von Bourbon im 13. Jahrhundert.55 In den hagiographischen und homiletischen Sammlungen manifestiert sich die nach Christo­ pher Holdsworth wichtigste Funktion der Visionserzählung: „Visions are a part, albeit a humble one, of the dogmatic and moral teaching of the Church in the Middle Ages.“56 Anders als man es vielleicht erwarten würde, wenden die Kopisten der Erstfassun­ gen, die Übersetzer und die späteren Bearbeiter die Techniken der abbreviatio und der extensio gleichermaßen an.57 Je nach Wirkungsabsicht und performativer Situation wurden die Erstredaktionen später gekürzt oder elongiert. Eine allgemeine moralische Ermahnung im Sinne der ‚aedificatio‘ und ‚eruditio‘ kann auf zeitliche und räumliche Spezifika verzichten; eine gesellschaftskritisch angelegte Studie hingegen ist auf kon­ krete Namen und Situationen angewiesen, die von den Rezipienten wiedererkannt und identifiziert werden können. Wiederholungen etwa der Dialoge erleichtern die Aufnahme des Gesagten in mündlichen Rezeptionssituationen, etwa in der liturgi­ schen Lesung oder bei der Tischlesung. Ein für die stille Lektüre vorgesehener Text hingegen kann auf die Wiederholungen verzichten, da der Leser in der Handschrift zurückblättern kann, sollte ihm eine Passage entfallen sein.

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Hurttig/Ketelsen, Entfesselte Antike. Jacobus a Voragine. Legenda aurea, Kap. 50 (= De sancto Patricio), ed. Häuptli, Bd. 1, S. 674– 681. Zum Verfahren Jakobs bei der Schilderung der Vision des Nikolaus und des Owein vgl. Rö­ ckelein, Otloh, S. 160 f. Zum Anschluss der Visionserzählung an die Legende des hl. Patrick ge­ nerell vgl. Benz, Gesicht, Kap. 5.2.2. und 5.2.5.2. Stephan v. Bourbon. Tractatus, ed. Berlioz/Eichenlaub. Die Jenseitsvisionen teils apokry­ pher Herkunft (‚Visio Esdarae‘, ‚Visio Pauli‘), teils zeitgenössischer anonymer Standespersonen oder bekannter Persönlichkeiten (Marie d’Oignies, Alpaïs von Cudot etc.) sind im Register dieser dreibändigen Ausgabe unter den Stichworten ‚apparition‘, ‚au-delà‘, ‚paradis‘, ‚purgatoire‘, ‚rêve‘, ‚révelation‘, ‚vision‘ und ‚voyage‘ ausgewiesen. Das ‚Purgatorium Patricii‘ behandelt Stephan in der Predigt ‚Timor di Dio‘ als Prototyp der Höllenerfahrung: Stephan v. Bourbon. Tractatus, ed. Ber­ lioz/Eichenlaub, Predigt I. V., Bd. 1, S. 157–161. Zum Autorverständnis Stephans im Umgang mit den Visionen vgl. auch Shanzer, Auctor. Holdsworth, Visions, S. 148. Ehlen, Vision, S. 274, nimmt die Techniken der Standardisierung nur für den Vermittlungspro­ zess zwischen Autor und Erst-Redaktor an, die Verkürzung nur in den späteren Fassungen.

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III. Raum und Zeit in den Jenseitsvisionen Julia Weitbrecht und Maximilian Benz betonen, dass der Raum eine elementare Sinn­ kategorie der Jenseitsvisionen sei.58 Das ist zweifelsohne eine zutreffende Beobachtung. Mir scheint aber, dass auch die Zeit für das Narrativ der Jenseitsvisionen eine hohe Re­ levanz besitzt.59 Wie sich eine präzise historisch verortete Situation in ein überzeitliches Exempel verwandeln lässt, wurde bereits erläutert. Einen anderen Weg gehen diejeni­ gen Visionstexte, die dezidiert auf historische Ereignisse abheben und Stellung zu ak­ tuellen politischen oder gesellschaftlichen Problemen nehmen.60 Und schließlich wird mit dem Verhältnis von inner- und außervisionärer Zeit experimentiert. Nach dem Erwachen können viele Visionäre die Dauer ihrer Entrückung nicht rea­ listisch einschätzen,61 „das subjektive Zeitempfinden [wird] während der Ekstase […] nicht recht greifbar“.62 In der ‚Visio Godescalci‘ betritt der Visionär, sobald seine Seele den Körper verlassen hat, einen zeitlosen Raum. Für die zurückgebliebenen Freun­ de und Verwandten, die den mehr oder weniger leblosen Körper beobachten, läuft die irdische Zeit indes weiter. Sie protokollieren den Zeitablauf so genau, dass sich Gottschalks Vision nach mehrtägiger Krankheit seit dem 10. Dezember auf die Tage zwischen dem 20. oder 24. Dezember 1189 datieren lässt.63 Der Visionär Gottschalk dagegen hat nach dem Erwachen aus der Entrückung keine Vorstellung, wie viel Zeit vergangen ist, denn im Jenseits gibt es nach seinen Aussagen weder Tag noch Nacht.64 Gottschalks Jenseits ist ein Raum ohne Veränderung und ohne Wandel, festgefügt und in Ruhe befindlich.65 Allerdings ist die jenseitige Zeit nicht gleich der Ewigkeit. Sie ist von langer Dauer, aber nicht ewig, denn das Jenseits gehört zum aeternum, einem Zwischenstadium zwischen aevum und temporale. Die Zeit der Reinigung liegt nach der Auffassung Gregors des Großen, der die Autoren der Gottschalk-Vision hier fol­ gen, zwischen dem Tod und der Auferstehung. Das Jenseits, das die Visionäre schauen, wird am Jüngsten Gericht enden. Danach wird eine neue Zeit anbrechen, die anderen Gesetzen gehorcht und die zeitlos oder ewig,66 von beständiger Dauer sein wird.

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Benz/Weitbrecht, Formierung. Vgl. dazu Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 147–153. Dies ist etwa in der ‚Visio Godescalci‘ exzessiv der Fall, zu den historischen Hintergründen, weite­ rer Literatur und den Stellenbelegen vgl. Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 147–150. 61 Vgl. Karlinger, Zeitproblem, und Beispiele bei Dinzelbacher, Vision, S. 143 f. 62 Dinzelbacher, Vision, S. 141. 63 Zu den Stellenbelegen aus den beiden Fassungen der ‚Visio Godescalci‘ vgl. Röckelein, Ge­ schichtsbewußtsein, S. 150 f. 64 Visio Godescalci, Autor B, Kap. 24 (3), ed. Assmann, S. 192 und S. 194: Huc accedit, quod dies ibi sine noctis interpolacione, sole scilicet ad occasum numquam vergente, continuus fuit. 65 Visio Godescalci, Autor B, Kap. 24 (3), ed. Assmann, S. 194: Et miro et ineffabili nescio quo modo ibi nichil mutabile aut variabile, sed omnia fixa et quieta erant. 66 Die Substanz der Zeit nach dem Jüngsten Gericht wurde unter mittelalterlichen Theologen kont­ rovers diskutiert, vgl. dazu Ratzinger, Ewigkeit.

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Die ‚Visio Thurkilli‘ und andere Visionsberichte lösen das Problem der Zeit im Jen­ seits anders auf. Sie bemessen und benennen sie nach dem diesseitigen liturgischen Kalender, nach den Hochfesten der Kirche und den Festtagen der Heiligen.67 Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu der Tatsache, dass der Bauer Thurkill und andere einfache Visionäre vom Land ihr Leben an den saisonalen Arbeiten ausrichte­ ten. Thurkill erlebte den Raptus, nachdem er sich Ende Oktober nach einem anstren­ genden Arbeitstag auf dem Feld, auf dem er die Wintersaat ausgebracht und Gräben gezogen hatte, um Überschwemmungen vorzubeugen, zur Ruhe gelegt hatte.68 Daher dürfte nicht er, sondern der hochgebildete klerikale Autor69 die Zeit im Jenseits litur­ gisch eingerichtet haben. IV. Otloh von St. Emmeram – ein Sonderfall im Hinblick auf Autorisierung, Authentisierung und Überlieferung Die bisher formulierten Thesen über Autorisierungs- und Authentisierungsstrategien bezogen sich auf die von mir sog. ‚kollektiven‘ Visionsberichte. Sie sind nicht oder je­ denfalls nicht ohne Weiteres übertragbar auf Fälle, in denen der Visionär seine Erleb­ nisse selbst verschriftlichte, den von mir sog. ‚individuellen‘ Visionsberichten. Einen in der Überlieferungsgeschichte einmaligen Fall stellt, soweit ich das sehe, das Visi­ onsbuch (‚Liber visionum‘) des Mönchs Otloh aus St. Emmeram (* um 1010, † 1070) dar. Er hat es nach mehrfacher Überarbeitung in den Jahren 1062 und 1066 eigenhän­ dig niedergeschrieben (Clm 14673, fol. 1–46).70 In dem von ihm verfassten ‚Liber vi­ sionum‘ vereinte er eigene Visionen, die er seit vor 1032 erlebt hatte (Visiones 1–8), Berichte über die Erlebnisse von Zeitgenossen, die ihm mündlich zugetragen worden waren (Visiones 9–18, 23) und solche, die er in Handschriften gelesen hatte (Visiones

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Visio Thurkilli, Kap. 3, Kap. 16 f. und Kap. 22, ed. Schmidt. Weitere Beispiele bei Gurevič, Mit­ telalterliche Volkskultur, S. 210–213. Visio Thurkilli, Kap. 1, ed. Schmidt, S. 5: hic autem, dum post horam vespertinam in vigilia apostolorum Symonis et Iude, que evenit VI feria, agellulum suum, quem eadem die seminaverat, ab indundatione aquarum pluvialium per rivulos evacuaret. Zur Debatte um den nach wie vor ungeklärten Autor vgl. Visio Thurkilli, ed. Schmidt, S. 9 f. In anderen Visionsberichten werden die Zeitangaben nicht durch den Visionär, sondern durch die begleitenden Engel oder Heiligen verkündet. Zu diesem Werk und seiner Bedeutung für die Visionsliteratur vgl. Röckelein, Otloh, S. 21–100, mit Angabe der älteren Literatur; darin beziehen sich die Stellennachweise und die Kapitelanga­ ben auf die ältere Ausgabe bei Helinand von Froidmont, Chronicon, Sp. 341–388. Der Text folgt dagegen der Neuedition des ‚Liber visionum‘ von Schmidt, die mir der Editor bereits vor dem Erscheinen freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. Die Kapitelangaben in diesem Aufsatz folgen der Edition Schmidts. Zu den Lebensdaten, zur Datierung der Erlebnisse wie deren Ver­ schriftlichung vgl. Röckelein, Otloh, S. 23, und dies., Otloh v. St. Emmeram.

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19–22: Bonifatius, Briefe; Beda Venerabilis, Kirchengeschichte der Angelsachsen). In­ dem er seine eigenen Visionserlebnisse mit denen anderer, für die er als Autor fungiert, und solchen, die er aus der autoritativen Traditionsliteratur kopiert, zusammenband, betätigte sich Otloh als polyfunktionaler Autor im mittelalterlichen Verständnis von ‚auctor‘. Zudem tritt er als Schreiber dieses Werkes,71 das nur unikal als Autograph des Visionärs erhalten ist, in einer weiteren ‚auctor‘-Funktion in Erscheinung. Otloh setzt sich und seine Erfahrungen in die Reihe der zeitgenössischen Visionäre, der Mönche, Eremiten, Laien und Kleriker. Und er historisiert sich, indem er seine Erlebnisse in die zur Gattung geronnenen literarischen Modelle (auctoritates) einreiht. Die Niederschrift der Erfahrungen anderer Visionäre aus seinem monastischen und klerikalen Umfeld (Visiones 9–18, 23) folgt hinsichtlich der Autorisierungs- und Authen­ tisierungsstrategien den ‚Gesetzen‘ der ‚kollektiven‘ Visionsberichte. Bei den Visionären handelt es sich um Brüder seines eigenen Klosters St. Emmeram (Visiones 10, 12) oder nahegelegener (Visio 13: Regensburg, Niedermünster) und befreundeter Klöster (Visi­ ones 8–9: Tegernsee; Visio 16: Fulda), in denen sich Otloh zeitweise aufhielt, um Laien, die diesen Institutionen verbunden waren, wie den Armen, der täglich am Eingang seines Heimatklosters bettelte (Visio 11), und um Kleriker aus seiner Regensburger Diözese. Die Glaubwürdigkeit der Visionäre ergibt sich entweder aus der persönlichen Bekannt­ schaft Otlohs mit den Protagonisten oder aus der Vertrauenswürdigkeit der kolportie­ renden mündlichen Überträger, befreundete Mönche oder Äbte. Inhalt dieser Visionen ist vor allem die Kritik an aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Zuständen, am Luxus der Herrschenden (Visio 17: Kaiserin Theophanu; Visiones 11 und 15: Kaiser Hein­ rich II.) und an Misswirtschaft der Kirche und der Klöster. Der Verfasser Otloh wirbt mit diesen exemplarischen Visionen für die Reform von Kirche und Kloster. Ganz anders dagegen die selbsterlebten Visionen Otlohs, die er im ‚Liber visionum‘ (Visiones 1–8) und in seinem ‚Buch der Versuchungen‘ (‚Liber de temptatione‘)72 be­ schreibt. Diese Erzählungen sind hochgradig selbstreferentiell, wenngleich sie struk­ turelle Probleme des Mönchtums ansprechen, etwa die Einhaltung des Gehorsams­ gebots und asketischer Praktiken (Fasten, Nachtwachen, Armut) oder das Verbot der Lektüre klassischer antiker Texte, die aus christlicher Sicht moralisch verwerfliche Inhalte transportieren. Diese Visionen werden nicht durch irdische und äußere Auto­ ritäten legitimiert, sondern durch transzendente Autoritäten und das Innere des Au­ to-Visionärs, sein Gewissen. 71

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Clm 14673, 1v–46v, vgl. dazu Vollmann, Otloh, Sp. 1131. Für Otloh scheint das Schreiben und Ab­ schreiben ein Lebenselixier gewesen zu sein, vgl. dazu die Bemerkungen bei Röckelein, Otloh, S. 78–82, und Vollmann, Otloh, Sp. 1145. Im ‚Liber de temptatione‘, pars II, abgedruckt bei In­ eichen-Eder, Mittelalterliche Bibliothekskataloge 4/1, Nr. 27, S. 149–151, nennt er alle von ihm selbst verfassten und kopierten Werke, in pars III die von ihm kopierten fremden Werke (Gäbe, S. 354,22–356,18). Otloh, Liber de temptatione, ed. Gäbe; Teil I des ‚Liber de temptatione‘ übers. von Blum, Otloh. Buch von seinen Versuchungen.

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Während seit dem 12. Jahrhundert Jenseitsvisionen massenhaft kopiert, bearbeitet und in die Volkssprachen übersetzt wurden, scheinen sich für Otlohs Visionen weder die Zeitgenossen noch die Nachwelt interessiert zu haben: Außer dem Codex unicus des ‚Liber visionum‘ sind nur wenige Kopien kürzerer Auszüge aus diesem Werk be­ kannt,73 die alle die Visionserlebnisse Dritter kolportieren, nicht die Visionen Otlohs selbst. Während das Werk der zweiten in diesem Sammelband behandelten Autor-Vi­ sionärin, der Dominikanerterziarin Lucia Brocadelli (1476–1544),74 aus theologischen und ordensinternen Gründen der Damnatio memoriae anheimfiel, waren Otlohs Er­ lebnisse und die Art ihrer Darstellung offenbar so subjektiv und speziell, dass ihnen eine nennenswerte Leserschaft versagt blieb. Für derartige Selbstbespiegelungen war die Zeit noch nicht reif. Ihre Stunde schlug erst im späteren Mittelalter, als weitere Kreise von Mystikern und Mystikerinnen begannen, über ihre innerseelischen und transzendentalen Erfahrungen zu reflektieren und zu schreiben. V. Fazit Visionsberichte waren in der mittelalterlichen Offenbarungsliteratur diejenigen Texte, die sich je nach intendierter Rezeptionssituation und Botschaft durch Umschreibung und Neuschreibung als sehr flexibel erwiesen. Im Gegensatz zur Bibel, dem kanoni­ schen Text der göttlichen Offenbarung par excellence, um dessen Autorität und Kor­ rektheit Generationen von Gelehrten, Theologen und Herrschern rangen, waren die in Visionen und Auditionen erfahrenen göttlichen Eingebungen nicht sanktioniert. Ihre Verschriftlichung war das Ergebnis eines Aushandlungs- und Bearbeitungspro­ zesses zwischen Autor und Visionär, späterer Übersetzer aus dem Lateinischen in die Volkssprache und zurück,75 neuer Textfassungen für unterschiedliche Hörer- oder Le­ serkreise, unterschiedlicher Zielsetzungen (Paränese oder politische Kritik) und sich wandelnder Normen im Gefüge der Kirche wie der Gesellschaft (Reformmönchtum, Verchristlichung des Rittertums). Obwohl die Erzählungen über Jenseitserfahrungen hochgradig standardisiert und topoisiert sind, zählen sie zu einer der variantenreichs­ ten Textgattungen des Mittelalters.76 Sie erweisen sich als extrem anpassungsfähig und modulierbar, fluide und unfest. Wurden einzelne Visionserzählungen zu größeren 73 74 75 76

Zur handschriftlichen Überlieferung des ‚Liber visionum‘ vgl. Vollmann, Otloh, Sp. 1131. Siehe den Beitrag von Cornelia Linde in diesem Band. Die Vision des Mönchs von Eynsham ist einer der seltenen Fälle, in denen ein lateinischer Text in die Volkssprache und später in das Lateinische rückübersetzt wurde (London, BL, Cotton Caligu­ la A VIII, f. 192r–209v). Vgl. dazu Stein, de Gallica. Vgl. dazu Dinzelbacher, Vision, dessen Werk die ganze Bandbreite des Genres deutlich macht und der in Kap. VIII, S. 78–90, einen Versuch unternimmt, die Gattung „Visionsliteratur“ zu recht­ fertigen, der von der Forschung teilweise kritisiert wurde. Zum Gattungsspektrum vgl. auch Rö­ ckelein, Erscheinungen.

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Gruppen zusammengefasst und kompiliert77 oder in andere Erzählformen wie Chro­ niken, Exempelsammlungen, Legenden, Prophetien, Mirakelberichte und Bilder78 transferiert, so wurden sie häufig deren narrativen Logiken angepasst. Bibliographie Quellen Albrici monachi Trium Fontium. Chronica, hg. v. P. Scheffer-Boichorst (MGH SS 23), Hannover 1874, S. 674–950 [= Albrici monachi Trium Fontium. Chronica]. Annales Pragenses saec. 12, hg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 3), Hannover 1839, S. 119–121 [= Annales Pragenses saec.]. Das Buch vom Espurgatoire S. Patrice der Marie de France und seine Quelle, hg. v. Karl Warnke (Bibliotheca Normannica 9), Halle 1938 [= De Purgatorio Patricii]. Godeschalcus und Visio Godeschalci, hg. v. Erwin Assmann (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 74), Neumünster 1979 [= Visio Godescalci]. Helinand von Froidmont. Chronicon, in: PL 212, hg. v. Jacques P. Migne, Sp. 771–1082 [= Heli­ nand von Froidmont. Chronicon]. Henricus de Hervordia. Liber de rebus memorabilioribus sive Chronicon, hg. v. August Pott­ hast, Göttingen 1859 [= Henricus de Hervordia. Liber de rebus memorabilioribus]. Jacobus de Voragine / Jacopo da Varazze. Legenda Aurea – Goldene Legende. Legendae Sanc­ torum – Legenden der Heiligen. Einleitung, Edition, Übersetzung u. Kommentar v. Bruno W. Häuptli, 2 Bde. (Fontes Christiani, Sonderband), Freiburg i. Br. 2014 [= Jacobus a Voragine. Legenda aurea]. Marcus von Regensburg. Visio Tnugdali / Vision des Tnugdal. Eingeleitet, übers. und komm. v. Hans-Christian Lehner / Maximilian Nix (Fontes Christiani 74), Freiburg i. Br. 2018 [= Visio Tnugdali]. Matthaeus Parisiensis. Chronica Maiora, hg. v. Henry R. Luard (Rolls Series 57,2), London 1874 [= Matthaeus Parisiensis. Chronica Maiora]. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz 4,1: Bistümer Passau und Re­ gensburg, bearb. v. Christine Elisabeth Ineichen-Eder, München 1977 [= Ineichen-Eder, Mittelalterliche Bibliothekskataloge 4,1]. Otloh von St. Emmeram. Das Buch von seinen Versuchungen. Eine geistliche Autobiographie aus dem 11. Jahrhundert, eingel. und übers. v. Wilhelm Blum (Aevum Christianum 13), Münster 1977 [= Otloh. Buch von seinen Versuchungen]. Otloh von St. Emmeram. Liber de temptatione cuiusdam monachi. Untersuchung, kritische Edi­ tion und Übersetzung, hg. v. Sabine Gäbe (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 29), Bern u. a. 1999 [= Otloh. Liber de temptatione]. Otloh von St. Emmeram. Liber visionum, hg. v. Paul Gerhard Schmidt (MGH. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 13), Weimar 1989 [= Otloh. Liber visionum].

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Zur Textgattung und v. a. zu zisterziensischen Visionskompilationen vgl. Gebauer, Visionskom­ pilationen. Zur Bildtradition der ‚Visio Tnugdali‘ vgl. Kren, Margaret of York.

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Hedwig Röckelein

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Ritter und Bauern auf Jenseitsreise Laien als Visionäre im Hochmittelalter Andreas Bihrer Fragt man nach dem Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft, dann dominiert nicht nur in der populären Wahrnehmung die Vorstellung der Dreiständeordnung. Bei ei­ nem Blick ins hochmittelalterliche Jenseits, folgt man den zahlreich belegten Visionen von Reisen durch die Lohn- und Straforte, findet sich hingegen eine sehr viel differen­ ziertere jenseitige Gesellschaft, denn den Visionärinnen und Visionären begegneten dort beispielsweise Könige, Fürstinnen, Bischöfe, Äbtissinnen, Richter, Kaufleute, Inklusinnen, entlaufene Mönche oder betrunkene Goldschmiede.1 Bemerkenswert ist hingegen eine Beobachtung, welche die mediävistische Forschung bereits in den 1980er und 1990er Jahren gemacht hat,2 denn vom Ende der Spätantike bis um 1100 wurden solche Jenseitsreisen, in welchen Wanderungen durch alle Jenseitsorte eines in Ekstase versunkenen, kranken oder an der Schwelle zum Tod stehenden Charis­ matikers geschildert werden, fast ausschließlich Mönchen und einigen wenigen Non­ nen zuteil.3 Zwischen 1100 und 1200 jedoch, also für genau 100 Jahre, habe sich dieser 1

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Eine Zusammenstellung mittelalterlicher Visionen bieten Dinzelbacher, Vision und Visionslitera­ tur, 1. Auflage, S. 13–28, und 2. Aufl., S. 21–66; sowie ders., Revelationes, S. 89–108; die neueren Auf­ stellungen in Gardiner, Medieval Visions; Fros, Visionum Medii Aevi Latini Repertorium; und zuletzt Slíva, Führer, S. 137–140, gehen kaum über die Materialien von Peter Dinzelbacher hinaus. Während die ältere, meist philosophisch-theologische oder literaturwissenschaftliche Forschung ihren Fokus auf das Visionserlebnis selbst und kaum auf die Rahmenhandlung richtete, vgl. als Bei­ spiel Ebel, Formen, rückten mit der Mentalitäts-, Frömmigkeits- und Sozialgeschichte ab den späten 1970er Jahren zunächst die in den Visionsberichten selbst dargestellten Sozialstrukturen vor allem der Bestraften in den Mittelpunkt des Interesses, vgl. beispielsweise Dinzelbacher, Klassen, bes. S. 21, oder ders., Reflexionen, bevor anschließend der soziale Status der Visionäre und damit stär­ ker auch die Rahmenhandlungen Aufmerksamkeit fanden. Zur Analyse von Rahmenhandlungen in hochmittelalterlichen Visionen vgl. den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. Eine tabellarische Übersicht über Visionen von Angehörigen des „Volks“ erstellte Dinzelba­ cher, Selbstaussagen, S. 65. Zu den seltenen Belegen für Laien als Visionäre vor 1100 vgl. die Bei­ spiele bei dems, Vision und Visionsliteratur, 2. Aufl., S. 372. Nach Düwel, Visio Tnugdali, S. 532, und dems., Straf- und Lohnorte, S. 87, trat mit Tnugdal in der Mitte des 12. Jahrhunderts „zum ersten Mal“ ein Adeliger als Visionär auf.

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Andreas Bihrer

Kreis – so zuletzt ein Handbuchartikel aus dem Jahr 20204 – der Visionäre um Laien erweitert: Während bis zum Jahr 1100 nur drei oder vier laikale Visionäre bekannt sei­ en und damit über 99 % der Charismatiker einen monastischen Hintergrund besessen hätten, so habe der Anteil der Laien vom Ende des 11. bis zum Anfang des 13. Jahrhun­ derts mit etwa 33 % einen „jähen Höhepunkt“ erreicht; nach 1200 allerdings „sinkt die Zahl der Laien deutlich ab“5. Wie ist diese Beobachtung nun zu deuten, dass im 12. Jahrhundert sich nicht nur Kleriker, sondern auch Ritter und Bauern und damit Laien, ja sogar nun exakt die Ver­ treter aller drei Stände auf Reisen durch Himmel und Hölle begaben? Spiegelte sich die diesseitige Dreiständeordnung ab 1100 – dann allerdings nur für 100 Jahre – auch in den Jenseitsvorstellungen wider? Die jüngere Forschung hat jedoch wiederholt be­ tont, dass die Dreiständeordnung nicht die soziale Realität des Mittelalters abgebildet habe, sondern eine Ordnungsidee darstelle, hinter welcher bestimmte Interessen aus­ gewählter Akteure gestanden hätten. Diese Gesellschaftsidee entstand, abgesehen von vereinzelten früheren Belegen vor allem aus dem 9. Jahrhundert, wohl erst in der Mitte des Mittelalters, um das Jahr 1000 im Gebiet des Ärmelkanals, und setzte sich in den folgenden Jahrhunderten nur sehr langsam in Westeuropa durch. Das Konzept konkur­ rierte außerdem mit einer Vielzahl an weiteren Gesellschaftsentwürfen, die zum Teil viel breiter überliefert sind oder wie die Totentänze des Spätmittelalters deutlich aus­ differenzierter waren.6 Die Forschung hat jedoch noch sehr viel weitergehendere Folgerungen aus der vor­ gestellten Beobachtung gezogen:7 Aufgrund der sozial erweiterten Gruppe an Visionä­ ren wurden die hochmittelalterlichen Jenseitsreisen auch als Adressierungen an Laien 4 5

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Watkins, Otherworld Journey, S. 103 f., bestätigte die Befunde von Peter Dinzelbacher und Clau­ de Carozzi, vgl. hierzu die folgende Fußnote. Die Zitate nach Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 1. Aufl., S. 225, und 2. Aufl., S. 373. In dem vergleichsweise kurzen Kapitel „Zur Soziologie der Visionäre“ (ebd., 2. Aufl., S. 370–377) zieht Peter Dinzelbacher auch Schlussfolgerungen zur sozialen Herkunft der Visionäre, vgl. ebd., 2. Aufl., S. 371–374; als Beispiele für Laien als Visionäre nennt Dinzelbacher die Ritter Boso, Tnug­ dal und Owen, die Bauern Gottschalk und Thurkill sowie die Bauerstochter Alpais von Cudot, außerdem erwähnt er einen minimalen Anteil an Weltpriestern, vgl. ebd., 2. Aufl., S. 372. Auch in anderen Publikationen weist Dinzelbacher auf die Zunahme von Laien als Visionäre im 12. Jahrhundert hin, vgl. zum Beispiel Dinzelbacher, ‚Visio(n), -sliteratur‘, Sp. 1736; oder ders., Revelationes, S. 30: „Mehr und mehr treten Laien und Frauen neben Mönche als Empfänger der himmlischen Botschaften“. Auch Claude Carozzi bietet eine kurze Übersicht über die soziale Ein­ ordnung von Visionären, sowohl zu den Laien (Carozzi, Voyage, S. 584–587) als auch zu den Mönchen (ebd., S. 587 f.); an Laien als Visionäre nennt Carozzi die Ritter Boso, Alberich, Orm, Heinrich von Ahorn, Tnugdal und Owein sowie die Bauern Gottschalk und Thurkill, vgl. ebd., S. 584–587. Aus der breiten Forschungsliteratur vgl. insbesondere Oexle, Deutungsschemata; ders., Dreitei­ lung; ders., Gesellschaft; Powell, Orders. Die ältere Forschung zu Laien als Visionäre mit einem Fokus auf den Studien von Aron J. Gurevich und Peter Dinzelbacher wurde zusammengestellt von Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Cornwall, The Visions of Ailsi and his Sons, S. 254 f.

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verstanden, die – so zuletzt 2020 Eileen Gardiner nach einer Sichtung von 36 Jen­ seitsvisionen des Früh- und Hochmittelalters – das Zielpublikum dieser gleichwohl im Früh- und Hochmittelalter fast ausschließlich lateinischen Texte gebildet hätten.8 Doch noch mehr: Jenseitsreisen wurden von der Forschung als neue Quelle ‚entdeckt‘, da diese die Vorstellungswelt, aber auch die Lebensrealität der Laien im Hochmittel­ alter abbilden würden.9 Weitreichende Schlussfolgerungen wurden formuliert, so in Hinblick auf eine neue Frömmigkeit jenseits der Amtskirche, das „Entstehen einer re­ ligiösen Kultur der Laien“10 oder die Kreuzzugsbewegung. Jenseitsreisen wurden als Zeugnisse – auch aufgrund der Quellenarmut – für das Alltagsleben von Bauern und die Vorstellungswelt der ‚einfachen Leute‘ im 12. Jahrhundert herangezogen.11 Die eben referierten Deutungen finden sich bis heute desgleichen bei der Inter­ pretation einzelner Visionen,12 und auch wenn sich die Spezialforschung zu den Jen­ seitsreisen zuletzt anderen Themenfeldern wie den in den Visionen dokumentierten Vorstellungen von Zeit, Raum und Körper zugewandt hat, so sind diese Deutungen unwidersprochen geblieben und werden weiterhin ungeprüft übernommen.13 8 Vgl. Gardiner, Visions, S. 24 f. Gardiner geht 36 Visionen des Früh- und Hochmittelalters durch und kommt am Ende zu dem Fazit, dass 17 Jenseitsreisen für Mönche verfasst worden seien, je­ doch 18 Visionen sich an ein breiteres Publikum auch außerhalb von Klöstern und damit an Laien gerichtet hätten, vgl. ebd., S. 37 f. Sofern Gardiner in den Prologen auch noch so formelhafte For­ mulierungen findet, nach denen sich eine Vision an alle Gläubigen gerichtet habe, wenn Laien als Visionäre fungieren oder falls in den Visionserlebnissen Laien bestraft bzw. vom Leben außerhalb eines Klosters berichtet wird, deutet Gardiner diese Visionen stets als Adressierungen an Laien, vgl. ebd., S. 25–37. 9 Vgl. hierzu vor allem die Kapitel von Peter Dinzelbacher zur „Echtheitsdebatte“ (Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, nur 2. Aufl., S. 119–128) und „Die Vision im Leben des Visionärs“ (ebd., 1. Aufl., S. 185–209, 2. Aufl., S. 317–349) oder zuletzt 2019 das Kapitel „Über die Genese vi­ sionärer Erfahrungen“ (ders., Vision und Magie, S. 64–85). Dinzelbacher folgert aus den Rah­ menhandlungen beispielsweise, dass Orm und Thurkill besonders fromm, so Ders., Vision und Visionsliteratur, 1. Aufl., S. 187, 2. Aufl., S. 319, oder dass Visionen im gesamten Mittelalter „häufig ein Kindheitsphänomen“ gewesen seien, so ebd., 1. Aufl., S. 224, 2. Aufl., S. 371. 10 Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 2. Aufl., S. 373. 11 „So wird man das Phänomen nicht anders als in Zusammenhang mit der sich allenthalben neu ent­ wickelnden Laienfrömmigkeit sehen können“, so Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 1. Aufl., S. 225, 2. Aufl., S. 373; vgl. auch ders., Mittelalterliche Visionsliteratur, S. 25. Jenseitsreisen als „Zeugnis des Volksglaubens“, so ders., Selbstaussagen, S. 75, und den hohen Quellenwert von Visionen bei der Erforschung von Laienfrömmigkeit und Volksreligion, so ders., Revelationes, S. 77 f., sowie ab dem 12. Jahrhundert für die Alltagsgeschichte der Laien, so ebd., S. 79, hebt Pe­ ter Dinzelbacher ebenso hervor wie einen vermeintlichen Widerstand der „Amtskirche“ gegen Visionen, so zuletzt ders., Vision und Magie, S. 152. Lammers, Gottschalks Wanderung, S. 162, versteht Jenseitsreisen als Quelle für „die volkstümliche Metaphysik und bäuerliche Mentalität“, während – deutlich vorsichtiger – Röckelein, Otloh, S. 122, lediglich auf die Gleichzeitigkeit des Aufkommens von Laien als Visionären und der Laienfrömmigkeit im 12. Jahrhundert hinweist. 12 Hier sind insbesondere die Forschungen zur Vision des Bauern Gottschalk zu nennen, vgl. hierzu Abschnitt IV in diesem Beitrag. 13 Zur Gattungsgeschichte von Jenseitsreisen im Mittelalter und zum Forschungsstand vgl. Dinzel­ bacher, ‚Visio(n), -sliteratur‘; ders., Jenseitsvisionen; ders., Mittelalterliche Visionsliteratur, S. 18–32; sowie für das 12. Jahrhundert umfassend Carozzi, Voyage, S. 493–634, außerdem die

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Die hier zur Diskussion gestellte Analyse der Modellierung sozialer Gruppen in Jenseitsvisionen soll im Folgenden nicht mit dem Instrumentarium der klassischen Sozialgeschichte gewagt werden, sondern mit einer Verbindung von Kultur- und Kir­ chengeschichte, die mit Ansätzen der Überlieferungs- sowie der Wissensgeschichte kombiniert wird. Begonnen werden soll zunächst mit einem Fallbeispiel, um die Sicht der Forschung auf Visionstraditionen zu problematisieren (I.). Anschließend werden die Schlussfolgerungen der bisherigen Forschung überprüft (II.), danach die Kritik­ punkte sowie neue Perspektiven in einem Zwischenfazit gebündelt (III.). In einem nächsten Schritt sollen anhand einiger ausgewählter Jenseitsreisen die Quellen be­ fragt werden (IV.); die dort entwickelten Interpretationsergebnisse werden am Ende systematisiert und perspektiviert (V.). Ein abschließender kurzer Ausblick gilt dann auch den Verhältnissen im Früh- bzw. im Spätmittelalter (VI.). Der Beitrag versucht zum ­einen, das von der Forschung beschriebene Phänomen der laikalen Visionäre im Hochmittelalter differenzierter zu fassen, und fragt zum anderen nach Gründen für diese Neuerung im 12. Jahrhundert, wobei – dem Thema des Sammelbands folgend – der Rolle von Authentisierungsstrategien ein besonderes Augenmerk gilt. I. Oral-volkstümliche und literal-klerikale Visionstraditionen? Der englische Bauer Thurkill, dessen Bericht von einer Jenseitsreise im Jahr 1206 aufge­ zeichnet wurde, besuchte ein Höllentheater (S. 48–67), in welchem auch ein bestech­ licher Richter gequält wurde (S. 54–59).14 Thurkills Erzählung umfasst an dieser Stelle aber nicht nur das im Jenseits Gesehene, sondern der Bauer weiß plötzlich Intimes desgleichen aus dem Diesseits zu berichten, so offenbart er Einblicke in das königliche Gericht in London und sogar in das Schlafzimmer des hohen königlichen Beamten, in welchem dessen Frau nach einem verlorenen goldenen Ring sucht. Überdies prä­ sentiert sich nicht nur diese Passage, sondern der gesamte, vermeintlich mündliche Bericht des Bauern als stilistisch anspruchsvoller Text und weist „fundiertes theologi­ sches Wissen“15 auf, zudem scheint der Bauer zentrale Werke der auf die Spätantike zu­ rückgehenden Tradition der Jenseitsreisen sehr gut zu kennen, die im Prolog explizit aufgeführt und diskutiert werden (S. 16–19).16

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jüngeren Lexikon- bzw. Handbuchartikel Schmidt, ‚Vision‘; Watkins, Otherworld Journey; Bihrer, Journeys; sowie insbesondere den Forschungsbericht ders., Offenbarungen, und die neueren Studien Weitbrecht, Welt; Benz, Gesicht. Auf einer breiten Quellenbasis entwarf Slí­ va, Führer, im Jahr 2018 eine Typologie von Führern im Jenseits, deren Typen – Engel, Heilige und Verwandte, so ebd., S. 137 – jedoch nicht auf die Visionäre bezogen werden. Im Folgenden zitierte Edition: Die Vision des Bauern Thurkill. Schmidt, Einleitung zu: Die Vision des Bauern Thurkill, S. 9. Den im Prolog der ‚Visio Thurkilli‘ angekündigten einfachen Stil hat bereits Paul Gerhard Schmidt als Topos entlarvt, vgl. Schmidt, Vision of Thurkill, S. 62; zu Übernahmen aus anderen Visionen,

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Konnten diese Worte aus dem Mund eines Bauern stammen, konnte dies für die Zeitgenossen glaubwürdig sein? Wurde ein solcher Text im Mittelalter als Abbild von Vorstellungswelt und Lebensrealität eines Bauern verstanden? Sollte ein solches latei­ nisches Werk sich tatsächlich an Bauern als Publikum richten?17 Der lateinische Text des Redaktors, eines Klerikers, wollte bewusst nicht Sprache und Denken eines Bau­ ern imitieren, und die ältere Forschung hat diese Diskrepanz in erster Linie mit einer Unterscheidung zwischen einer oral-volkstümlichen und einer literal-klerikalen Visi­ onstradition zu erklären versucht:18 Die geistlichen Redaktoren hätten die mündlichen Berichte der laikalen Visionäre an die kirchlichen Erfordernisse angepasst. Aufgabe der Forschung sei es nun, diese ursprünglich mündlich-volkssprachlichen Berichte zu rekonstruieren, diese also von den klerikal-lateinischen Verfälschungen gleichsam zu ‚befreien‘.19 Je nach Forschungsperspektive kam man so entweder zu optimistischen Schlussfolgerungen über die Vorstellungswelt und Lebensrealität von Laien oder zum pessimistischen Fazit, die Umgestaltung der mündlichen Berichte der illiteraten Visi­ onäre durch die Redaktoren sei fast nach Belieben geschehen und niemand wisse, was die Laien den Klerikern tatsächlich erzählt hätten.20 II. Überprüfung der bisherigen Forschungsthesen Im Folgenden soll zunächst genauer geprüft werden, ob die Prämissen der älteren For­ schung überhaupt zutreffend sind.21 Erstens muss hinterfragt werden, ob die eingangs zitierten statistischen Auswertungen, welche das enorme Ansteigen laikaler Visionä­ hagiographischen Texten und weiteren Vorlagen vgl. ebd., S. 61 f. Gleichwohl tendiert Schmidt dazu, selbst komplexe und weitgehend unbekannte Texte der Kenntnis des Bauern Thurkill zuzu­ schreiben, also nicht dem Redaktor, vgl. ebd., S. 59 f. 17 Nach Gardiner, Visions, S. 37, wurde die ‚Visio Thurkilli‘ eigens für ein bäuerliches Publikum verfasst. 18 Zur Unterscheidung zwischen einer oral-volkstümlichen und einer literal-klerikalen Visionstradi­ tion, die in erster Linie auf eine Studie von Aron J. Gurevich aus dem Jahr 1984 zurückgeht (Gure­ vich, Culture, bes. S. 51), vgl. Ehlen, Vision, S. 257. 19 Visionen gehören nach Peter Dinzelbacher zu den Quellen, „in denen das Volk selbst zu Worte kommt“, so Dinzelbacher, Selbstaussagen, S. 57; er versteht diese Texte als „Selbstaussagen“, so ebd., S. 60. Auch Aron J. Gurevich ist optimistisch, dass es selbst bei stark durch gelehrtes Wissen überformten Jenseitsreisen wie der ‚Visio Thurkilli‘ möglich ist, die ursprüngliche Erzählung des Bauern freizulegen, vgl. Gurevich, Culture, S. 56. 20 Einen Überblick über diese Positionen der Forschung bietet Ehlen, Vision, S. 257. Umfassend mit den Strategien, wie der mündliche Bericht eines illiteraten Visionärs verschriftlicht wurde, hat sich Röckelein, Otloh, S. 17 f., 255–257 und 296, befasst und am Beispiel der Jenseitsreisen von Tnugdal, Owein, Gottschalk und Thurkill vor allem die Unterschiede zwischen den Texten he­ rausgearbeitet, vgl. ebd., S. 121–204. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hedwig Röckelein in diesem Band. 21 Zum Stand der Erforschung von mittelalterlichen Jenseitsreisen vgl. den Forschungsbericht bei Bihrer, Offenbarungen.

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re ab 1100 belegen sollen, überhaupt korrekt sind.22 Auffällig ist schon auf den ersten Blick, dass die soziale Herkunft von Visionären in ganz unterschiedlichem Umfang in den Visionen angesprochen wird; die Beispiele reichen von einer kurzen Nennung der sozialen Gruppe bis zu einer ausführlichen Behandlung des Lebenskontexts ins­ besondere in den Rahmenhandlungen. Zudem ist einschränkend zu bedenken, dass Visionäre wie beispielsweise die Novizen Gunthelm und Edmund von Eynsham oder die Inklusin Alpais von Cudot alle drei ihre Visionen erst hatten, nachdem sie in einen Konvent eingetreten waren bzw. sich einem asketischen Leben verschrieben hatten, sie also – ganz abgesehen von der sozialen Position ihrer Eltern – den monastischen Entrückten zuzuordnen sind.23 Mag man der Beobachtung einer Zunahme laikaler Vi­ sionäre – nach dem Blick in bisherige Editionen – in der Tendenz auch zustimmen, so sei doch zudem relativierend hinzugefügt, dass zum einen die Gruppe der Texte, die man in der Forschung als ‚Jenseitsreisen‘ bezeichnet, keineswegs eine homogene Gattung bilden und sich vielfach Überschneidungen zu anderen Formen an Visionen, Offenbarungen, Prognostiken oder Prophetien ergeben.24 Zum anderen sind viele, vor allem kürzere Texte bislang noch überhaupt nicht bekannt oder kaum erschlossen, dies gilt insbesondere für die erst jüngst in zwei Dissertationen behandelten Visions­ kompilationen, für die in der Historiographie inserierten Offenbarungen oder für Vi­ sionen innerhalb hagiographischer Schriften.25 Vor diesem Kenntnisstand müssen die Ergebnisse der statistischen Auswertungen somit noch vorläufig bleiben. Zweitens: Komplexer wird das Bild außerdem dadurch, dass Jenseitsreisen im Mit­ telalter nicht als unveränderliche göttliche Offenbarungen verstanden wurden, sondern als offene Texte, die in immer neuen Situationen immer wieder neu funktionalisiert

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Vgl. hierzu die Einleitung zu diesem Beitrag. Der Novize Gunthelm wird sowohl in der Rahmenhandlung als auch im Visionsbericht stets als novicius bezeichnet, vgl. The Vision of Gunthelm, passim. Auch der Novize Edmund von Eynsham agiert ausschließlich in einem monastischen Kontext, der in der Rahmenhandlung überdies sehr breit ausgeführt wird, indem viele Facetten klösterlichen Lebens zur Sprache kommen. Bereits der erste Satz der Rahmenhandlung verdeutlicht, dass der iuvenis Edmund sein Visionserlebnis als Mönch in einem Kloster erfahren hatte: In quodam igitur cenobio iuuenis quidam nuper ad uitam monasticam fideli deuotione a seculi uanitate conuersus est […]. The Revelation of the Monk of Eynsham, Cap. 1. Bei der Inkluse Alpais von Cudot wird hingegen zu Beginn der Vita ihre bäuer­ liche Herkunft anschaulich geschildert, so beispielsweise durch die Beschreibung ihrer schweren körperlichen Arbeit (Cap. I,1: Leben und Visionen der Alpais von Cudot, S. 120–122), vgl. hierzu Stein, Einleitung zu: Leben und Visionen der Alpais von Cudot, S. 6 f.; die Erscheinungen selbst hatte die Heilige gleichwohl erst als Inklusin. Die aktuellste Übersicht zur Gattungsgeschichte der mittelalterlichen Jenseitsreisen bei Bihrer, Journeys. Zum Stand der Erforschung mittelalterlicher Jenseitsreisen vgl. Bihrer, Offenbarungen; zu Visi­ onskompilationen vgl. Gebauer, Visionskompilationen; Wilson, Dissemination; zu Prophetien und damit auch zu Jenseitsvisionen innerhalb der hochmittelalterlichen Historiographie vgl. Leh­ ner, Prophetie.

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werden konnten.26 Diese Bearbeitungen konnten sehr weitgehend sein, beispielsweise indem die Nennung eines laiklen Visionärs durch die Kürzung des Rahmentextes, in welchem die Umstände der Vision dargestellt wurden, marginalisiert wurde oder in­ dem der Visionsbericht an kodifiziertes und damit standardisiertes Wissen angepasst wurde.27 Nach einer solchen späteren Bearbeitung und der Anpassung an die Tradition war in manchen Fällen kaum mehr zu erkennen, ob der Visionär ein Mönch oder ein Bauer gewesen war.28 Nur hingewiesen kann hier auf die Umsetzung schriftlich fixier­ ter Jenseitsreisen des Hochmittelalters in ein anderes Medium wie beispielsweise in spätmittelalterliche Miniaturen. Drittens ist bei der statistischen Auswertung zu bedenken, dass auch noch im Spät­ mittelalter Laien neue Jenseitsreisen zugeschrieben wurden, vor allem aber die Visionen des 12. Jahrhunderts weiterhin abgeschrieben wurden, ja die spätmittelalterliche Über­ lieferung wurde von den bei weitem am häufigsten abgeschriebenen Jenseitsreisen des Ritters Tnugdal bzw. des Ritters Owein geradezu dominiert. Somit ist die Beobachtung der älteren Forschung, um das Jahr 1200 sei die Zahl der Laien deutlich abgesunken, aus einer überlieferungsgeschichtlichen Perspektive mindestens zu relativieren. Viertens sind die Berechnungen der Forschung insofern zu differenzieren, als dass auch andere Differenzkriterien als allein die Zuordnung zu einer sozialen Gruppe in den Blick genommen werden müssen. So sei zu bedenken gegeben, dass – abgesehen von den Visionen des Bauernmädchens Alpais von Cudot, die allerdings in strenge­ rem Sinn nicht den Jenseitsreisen zuzuordnen sind und die ihre Erscheinungen als Inklusin hatte29 – im 12. Jahrhundert keine laikalen Visionärinnen nachweisbar sind.30 Hingegen wurden im Hochmittelalter beispielsweise mit den jungen Laien Alberich oder Orm, aber auch mit den Novizen Gunthelm oder Edmund sehr vielen Kindern oder zumindest jungen Menschen Jenseitsreisen zugeschrieben. Es müssen von der zukünftigen Forschung – neben der Ergänzung der Differenzkriterien – also desglei­ chen die intersektionalen Überschneidungen zwischen den Kategorien in den Blick genommen werden.31

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Vgl. hierzu Bihrer, Offenbarungen; umfassend am Beispiel der ‚Visio Pauli‘ Jirousková, Visio Pauli. 27 Zu diesen Bearbeitungsstrategien vgl. Bihrer, Bearbeitungspraxis; und umfassend am Beispiel der ‚Vision des Mönchs von Eynsham‘ Bihrer, Einleitung zu: Visio monachi de Eynsham. 28 Vgl. hierzu Abschnitt IV in diesem Beitrag. 29 In den Bücher 2–4 der Vita der heiligen Alpais von Cudot (ca. 1150–1211) hat ein Zisterzienser­ mönch zu Lebzeiten der Heiligen, wohl vor 1180, etwa 50 Visionen ganz unterschiedlicher Form und ganz unterschiedlichen Inhalts zusammengestellt, vgl. Stein, Einleitung zu: Leben und Vi­ sionen der Alpais von Cudot, S. 23; zu den Erscheinungen, die das Jenseits betreffen, vgl. ebd., S. 27–33. 30 Vgl. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 2. Aufl., S. 374; selbstredend gab es auch im 12. Jahrhundert eine Vielzahl an Nonnen als Visionärinnen. 31 In seinem recht kurzen Kapitel „Zur Soziologie der Visionäre“ formuliert Peter Dinzelbacher zwar einzelne Schlussfolgerungen zum Alter, zur Herkunft und zum Geschlecht der Visionäre, nimmt

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Fünftens muss mit Blick auf die soziale Zuordnung angemerkt werden, dass – ab­ gesehen davon, dass im gesamten Mittelalter Jenseitsreisen vor allem von Mönchen und Nonnen, jedoch nur sehr selten von Weltklerikern überliefert sind – auch in Hin­ blick auf die Laien Differenzierungen notwendig sind:32 Im 12. Jahrhundert wurden als Visionäre kaum Könige, Fürsten und Bürger genannt,33 sondern fast ausschließlich zwei laikale Untergruppen, nämlich Bauern und – in Hinblick auf Anachronismen mit aller Vorsicht formuliert – Niederadelige bzw. Ritter. Ab 1100 nahm folglich die Zahl der Laien als Visionäre zwar zu, doch muss dieser Befund insofern präzisiert werden, als die Charismatiker nicht aus der gesamten Gruppe der Laien kamen, sondern Jen­ seitsreisende ausschließlich männliche, oftmals jüngere Ritter und deutlich seltener Bauern waren. Sechstens: Die Problematik, dass die Texte allein aus der Feder literater Geistlicher stammten und damit der Rekonstruktion von Vorstellungswelten und Lebensrealitä­ ten anderer sozialer Gruppen deutliche Grenzen gesetzt sind, wurde bereits am Bei­ spiel der Vision des Bauern Thurkills angesprochen ebenso wie die Skepsis in Teilen der Forschung, die sich mit dem Verschriftlichungsprozess von Jenseitsreisen befasst hat, überhaupt aus diesen Offenbarungen valide Aussagen zu mittelalterlichen Le­ benswelten zu gewinnen.34 Siebtens und letztens soll deutlich gemacht werden, dass die Jenseitsreisen nicht nur im Frühmittelalter eine beinahe exklusiv monastische Textgruppe waren, sondern dass sich dies im 12. Jahrhundert ebenfalls nicht änderte – dieser Aspekt ist für die weitere Argumentation von zentraler Bedeutung. Die monastische Verortung von Jen­ seitsreisen steht auch im Hochmittelalter außer Frage, denn beinahe alle Textzeugen des 12. Jahrhunderts stammen aus Klöstern, die Redaktoren waren fast ausschließlich Mönche, die Auftraggeber waren wie beispielsweise in Hinblick auf die schon erwähn­ ten Visionen der Ritter Tnugdal und Owein meist Äbtissinnen oder Äbte, und die Sprache war fast ausschließlich Latein.35 Erst im Spätmittelalter nahm die Zahl an Ent­

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aber gerade nicht die Überschneidungen dieser Kategorien in den Blick, vgl. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 1. Aufl., S. 223–228, 2. Aufl., S. 370–377; Dinzelbachers Ergebnisse las­ sen sich nicht überprüfen: „Ich gebe zu diesem Abschnitt keine Einzelbelege, da es sich teilweise um erschlossene Daten handelt, die hier zu entwickeln zu lange wäre.“ Ebd., 1. Aufl., S. 223, 2. Aufl., S. 370. Bereits Hedwig Röckelein hatte darauf hingewiesen, dass illiterate Laien im Mittelalter „keine ho­ mogene Gruppe“ waren, sondern sich aus unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammensetzten, vgl. Röckelein, Otloh, S. 122. Dieser Befund müsste insbesondere an Visionen in hagiographischen und historiographischen Werken überprüft werden; zu Ausnahmen vgl. Abschnitt IV in diesem Beitrag, den Beitrag von Uta Kleine in diesem Band und Lehner, Prophetie, S. 136–138, der auf die Vision eines Bonner Schulthaißen verweist, die wohl 1170/75 zum Jahr 1158 in die Annalen aus dem Benediktinerkloster Egmond eingetragen wurde. Vgl. hierzu die Abschnitte I und IV in diesem Beitrag. Im 12. Jahrhundert wurden lediglich die Vision des Orm und die zweite Fassung der Vision des Bauern Gottschalk von Weltklerikern niedergeschrieben, vgl. Ehlen, Vision, S. 259 f. Fast alle

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rückten zu, welche ihre Visionen selbst aufgeschrieben hatten; für das Hochmittelalter kann kein Fall eines Laien nachgewiesen werden, der eine eigene Vision selbst aufge­ zeichnet hat. Auch wenn sich, das soll hier nicht bestritten werden, um 1200 erste Hin­ weise auf die Unterweisung von Laien anhand von Jenseitsreisen finden, so tauchen erst im Laufe des 13. Jahrhunderts vermehrt Exzerpte aus Visionen als Predigtexempel und Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen auf, was auf einen größeren Rezipientenkreis hinweist. Im 12. Jahrhundert wurden die Jenseitsreisen für die stille erbauliche Lektüre in der Klosterzelle oder zur Belehrung der Nonnen und Mönche als Tischlesung im Refektorium oder als Kollationslesung im Kreuzgang genutzt – und damit in erster Linie hinter Klostermauern.36 III. Zwischenfazit Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Beobachtung der älteren For­ schung, das soziale Profil von Visionären habe sich ab 1100 verändert, zwar im Kern zutrifft, doch muss dieser Befund noch stärker anhand der handschriftlichen Überlie­ ferung auch in Hinblick auf die Offenheit der Texte und auf die spätmittelalterlichen Ab- und Fortschreibungen überprüft werden. Weiterhin hat sich gezeigt, dass die Fest­ stellung einerseits in Bezug auf andere soziale Differenzkategorien relativiert und an­ dererseits in Bezug auf die soziale Zuordnung spezifiziert werden muss, ‚reisten‘ doch ab 1100 neben Mönchen ausschließlich Ritter und wenige Bauern ins Jenseits. Mochte sich auch die soziale Bandbreite der Visionäre verändert haben, so blieben die Jenseits­ reisen noch im 12. Jahrhundert eine fast exklusiv monastische Textgruppe; in keinem Fall konnte die These gestützt werden, die Jenseitsreisen seien für ein Laienpublikum aufgezeichnet worden oder hätten gar als Instrument der Kirche gedient, das ‚Volk‘ zu disziplinieren. Misstrauisch sollte in jedem Fall stimmen, dass die Träger dieser neuen religiösen Bewegungen des 12. Jahrhunderts wie Weltkleriker oder Bürger gerade nicht als Visionäre belegt sind, sondern eben nur Ritter und Bauern. Und schließlich: Frag­ los muss offen bleiben, ob tatsächlich mehr Rittern und Bauern Visionen zuteil wur­ den, man kann lediglich festhalten, dass eine größere Zahl an solchen Jenseitsreisen von Mönchen verschriftlicht bzw. diesen Gruppen zugeschrieben wurde.

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Redaktoren waren im Hochmittelalter also Mönche, sofern man auch Augustinerchorherren wie Peter von Cornwall und den Verfasser der ersten Fassung der Vision des Bauern Gottschalk unter diese Gruppe subsummiert, vgl. auch Carozzi, Voyage, S. 588 f. Zur monastischen Produktion und Rezeption von Visionen bei den Kartäusern vgl. Mangei, Kartäuserorden, und bei den Zis­ terziensern Gebauer, Visionskompilationen. Zur Beherrschung und Verwendung von Latein im 12. Jahrhundert in Klöstern vgl. mit Forschungsüberblick Ehlen, Vision, S. 262–266. Präzisere Aussagen zum Gebrauch von Jenseitsreisen lassen sich gleichwohl erst für das Spätmit­ telalter machen, vgl. für die ‚Visio Tnugdali‘ Röckelein, Otloh, S. 157; umfassend Palmer, Visio Tnugdali.

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IV. Interpretationen Vor diesem Hintergrund sind eigentlich nur Aussagen über den monastischen Redak­ tor und dessen Intentionen sowie über das monastische Umfeld und dessen Interessen möglich – diese Spur soll nun mit Blick auf die Quellen weiter verfolgt werden, um zum einen die im vorherigen Kapitel gebündelten Annahmen an Fallbeispielen aus dem 12. Jahrhundert zu überprüfen und um zum anderen zu einem noch differenzier­ teren Bild zu kommen. Schon die knappe Auswahl an Beispielen, die hier analysiert werden, wird zeigen, wie unterschiedlich Ritter und Bauern als Visionäre von ihren monastischen Redaktoren funktionalisiert wurden. Am Beginn der Analyse sollen die beiden in jeweils über 150 Handschriften am häufigsten überlieferten Jenseitsreisen des Mittelalters stehen, die ‚Visio Tnugdali‘ und das ‚Purgatorium Patricii‘; beide Visi­ onen sollen um das Jahr 1150 von zwei Adeligen empfangen worden sein. Der irische Mönch Markus führt in seiner zwischen 1149 und 1153 in Regensburg für die Äbtissin Gisela des dortigen Benediktinerinnenklosters St. Paul37 verfassten ‚Vi­ sio Tnugdali‘38 den Visionär im Prolog nicht als Laien oder Ritter ein, sondern nur als Tnugdal aus Irland,39 ohne diesen näher zu charakterisieren (Prolog).40 In der Rahmen­ handlung wird lediglich ein einziges Mal eingeflochten, dass der Bericht des Visionärs in der Volkssprache erfolgt und dass dieser ein Mann aus Irland gewesen sei (Cap. 1). Mit der weiteren Vorstellung des Visionärs gehen die Handschriften bereits im 12. Jahrhundert unterschiedlich um:41 Bezeichnet wird er als quidam vir nomine Tnugdalus (Cap. 1) aus einer irischen Stadt, und einige Codices, jedoch nicht alle Handschriften präzisieren den sozialen Status (Cap. 1: quidam vir nobilis nomine Tnugdalus), wohinge­ gen in anderen Überlieferungsträgern sogar der Eigenname des Visionärs fehlt.42 Auch Gestalt und Aussehen des Visionärs akzentuieren schon die frühen Handschriften des 12. Jahrhunderts unterschiedlich: Mit Nennung seines sozialen Status wird Tnugdal zunächst mit dem üblichen Arsenal der Beschreibung eines Heiligen vorgestellt: Erat

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Die ‚Visio Tnugdali‘ verfasste Marcus von Regensburg – das unterstreicht auch die Widmung – für Nonnen, vgl. Spilling, Visio Tnugdali, S. 199. Düwel, Visio Tnugdali, S. 532 f., denkt nicht nur an den Klerus in Irland, sondern auch an den irischen Adel als Publikum dieser gleichwohl in Re­ gensburg niedergeschriebenen lateinischen Vision, vgl. Düwel, Visio Tnugdali, S. 532 f. Die neuesten Interpretationen der ‚Visio Tnugdali‘ bei Weitbrecht, Welt, S. 155–169; Benz, Ge­ sicht, S. 151–173; und Benz/Weitbrecht, Formierung; vgl. zum Stand der Forschung auch einen aktuellen Handbuchartikel aus dem Jahr 2020: Gardiner, Vision of Tnugdal. Der Eigenname Thurkill wird in vielen Handschriften des 12. Jahrhunderts genannt, gleichwohl nicht in allen Codices, vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, S. 65, und die Edition in Pfeil, Vision, S. *2. Im Folgenden zitierte Edition: Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali. Vgl. umfassend zur Rahmenhandlung der lateinischen ‚Visio Tnugdali‘ Pfeil, Vision, S. 132–144. Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, S. 74 f., und die Edition in Pfeil, Vision, S. *5; in der Erlanger Handschrift beispielsweise wurde der Eigenname Tnugdal nur an dieser einen Stelle in Cap. 1 von anderer Hand nachgetragen.

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namque vir prefatus etate iuvenis genere nobilis vultu hilaris aspectu decorus (Cap. 1). Auf dieses Gattungsvorbild verweist nicht zuletzt die typische hagiographische Einlei­ tungsformel Erat namque, die oftmals für die Vorstellung von Heiligen genutzt wird.43 Einige Handschriften bieten allerdings eine ausführlichere Beschreibung Tnugdals, in welcher nicht nur auf den Tugendkatalog von Heiligen rekurriert wird, sondern zudem höfische Ideale angesprochen werden: … decorus, curaliter nutritus, vestibus compositus, mente magnanimus, militari arte non mediocriter instructus, habilis, affabilis atque iocundus (Cap. 1).44 Aber auch wenn einige Codices Tnugdal hier als Ritter zeich­ nen und ihm eindeutig höfische Ideale zuschreiben, so bleibt diese Passage doch der einzige Abschnitt in der gesamten Vision, in welcher der soziale Status des Visionärs thematisiert wird. Noch mehr: Außer bei der Namensnennung zu Beginn wird in der Rahmenhandlung nie mehr der Eigenname Tnugdal erwähnt, und lediglich an einer einzigen Stelle wird der Visionär, als er zu sterben scheint, in allen Handschriften als miles bezeichnet (Cap. 1).45 Wenn sich nicht wie in einigen Handschriften in der Über­ schrift zur Rahmenhandlung das Wort miles findet,46 dann sind dies die einzigen expli­ ziten Hinweise für die soziale Einordnung des Visionärs im gesamten Text. Bei der Schilderung der Jenseitsreise (Cap. 2–25) benennt Marcus den Visionär nur an einer Stelle mit dessen Eigennamen Tnugdal und ordnet diesen nie als Ritter ein,47 sondern es ist stets von anima die Rede, und es wird konsequenterweise das Femi­ ninum verwendet, ja an vier Stellen in der Vision benennt Marcus den Protagonisten sogar als filia (Cap. 2, 9, 13 und 23):48 Es geht im Jenseits um das Schicksal einer Seele, nicht um einen Ritter. Bei der Beschreibung der Rückkehr aus dem Jenseits bezeichnet Marcus den Visionär anfangs als Seele und verwendet das Femininum, wobei im Lauf des Abschlusskapitels ein Wechsel zum Maskulinum erfolgt, ohne dass aber Eigenna­ men oder sozialer Status des Visionärs nochmals aufgenommen werden (Cap. 26). Im Vordergrund der ‚Visio Tnugdali‘ steht also nicht die soziale Einordnung des Visionärs, sondern dieser wird ganz im Gegenteil ent-individualisiert und verallgemeinert: Er ist ein ‚Jedermann‘, der das Jenseits bereist. Auch in Szenen wie der Schuldeneintreibung in der Rahmenhandlung (Cap. 1) und dem Kuhraub in der Jenseitsreise (Cap. 8) fehlt die explizite Einordnung Tnugdals als Ritter, er wird lediglich implizit als Laie inszeniert.49 43 44

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Der Hinweis auf diese hagiographische Formel bereits bei Pfeil, Vision, S. 133. Vgl. die Edition in Pfeil, Vision, S. *5. Pfeil, Vision, S. 133, wertet diese Formulierung, gleichwohl ohne den Hinweis auf die Auslassung dieser Passage in zahlreichen Handschriften bereits des 12. Jahrhunderts, als eine „unerwartete Abweichung“ von dem üblichen Tugendkatalog aus Heiligen­ viten, die nicht zu dem Bild eines Heiligen passe. Vgl. auch die Edition in Pfeil, Vision, S. *7. Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, S. 73. Die Nennung des Eigenamens Tnugdal findet sich, abgesehen vom Erlanger Überlieferungsträger, in allen Handschriften in Cap. 3, vgl. auch die Edition in Pfeil, Vision, S. *10. Zu den seltenen Abweichungen im Maskulinum vgl. Spilling, Visio Tnugdali, S. 177. Das Ziel der Beschreibung des Visionärs Tnugdal bildet damit nicht, „den Leser in den Alltag einer realen Welt“ zu versetzen, so Spilling, Visio Tnugdali, S. 167, beispielsweise durch die „alltägli­

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In diesem Spannungsverhältnis zwischen sündhaftem Laien und ‚Jedermann‘, das sich schon in der unterschiedlichen Vorstellung des Visionärs in den Handschriften bereits des 12. Jahrhunderts zeigte, ist die ‚Visio Tnugdali‘ zu verstehen: Die Jenseitsrei­ se ist eine Pilgerfahrt, ja eine Bußfahrt und ein Konversionserlebnis, und hierfür ist es notwendig, dass der Konvertit zuvor nicht Kleriker, sondern Laie war, der – wie Tnug­ dal – nach einem sündhaften Leben Reue zeigt und einen frommen Lebenswandel einschlägt oder wie Bedas Dryhthelm sogar in ein Kloster eintritt.50 Dieser Laie wird aber kaum individuell gezeichnet, um mit einem ‚Jedermann‘ eine möglichst breite Identifikationsmöglichkeit zu schaffen. Die spätmittelalterliche Überlieferung – dies nur als kurzer Ausblick – ging mit dem Spannungsverhältnis in ihrer Vorlage gleich­ wohl ganz unterschiedlich um, in einigen Versionen rückte mit einer noch stärkeren Tilgung alles Individuellen die Reduzierung auf das überzeitliche Exempel in den Vor­ dergrund, in anderen, auch visuellen Darstellungen wurde Tnugdal jedoch verstärkt als Ritter profiliert.51 Durchaus anders wurde die soziale Zuordnung im Fall der anderen großen Jenseits­ vision des 12. Jahrhunderts, der Jenseitsreise des Ritters Owein, funktionalisiert.52 Das in zwei Versionen um 1185 erstmals von einem Zisterzienser verschriftlichte ‚Purga­ torium Patricii‘ unterscheidet sich insofern von anderen Jenseitsreisen, als dass diese nicht in Ektase als außer-körperliche Erfahrung erlebt wurde, sondern als Bußfahrt eines Ritters Owein in dem an der Küste Irlands lokalisierten ‚Purgatorium Patricii‘ erzählt wird. Überlieferungsverbünde belegen jedoch, dass dieser Text im Mittelalter den Jenseitsreisen zugeordnet wurde. Fraglos gehört der Text wie die ‚Visio Tnugdali‘ in einen monastischen Produktions- und Rezeptionskontext.53 Die Darstellungsstrategie im ‚Purgatorium Patricii‘ weist Parallelen, aber auch Un­ terschiede zur ‚Visio Tnugdali‘ auf:54 Der Protagonist Owein wird zwar zu Beginn le­ diglich als Ritter mit dem Namen Owein eingeführt (Cap. 5, S. 12) und beispielswei­ se bei seinem Weg in das Purgatorium nicht in eine adelige Lebenswelt eingebettet

che Geschichte des Pferdehandels“, so ebd., S. 171. Deutlich übertrieben ist m. E., dass der Visionär „colourfully“ gezeichnet sei, so Gardiner, Vision of Tnugdal, S. 249. 50 Die ‚Visio Tnugdali‘ schildert einen „Erkenntnis- und Konversionsprozess“, so Weitbrecht, Welt, S. 208, die „Darstellung einer Konversion“, so Benz, Gesicht, S. 7, und im Zentrum stehen „Reue und Umkehr“, so Benz/Weitbrecht, Formierung, S. 239, „Konversion“, so ebd., S. 238, sowie „Läuterung und Gotteserkenntnis“, so ebd., S. 237. 51 Vgl. hierzu den Beitrag von Patrick Nehr-Baseler in diesem Band. 52 Die neuesten Übersichten über die ältere Forschung zum ‚Purgatorium Patricii‘ bieten Weite­ meier, Visiones Georgii, S. 6 f. und 65–75; Benz, Gesicht, S. 173–234; zuletzt Weidner, Erzäh­ len, S. 151–234. 53 Am Ende bleibt offen, ob und ggf. wann Owein in den Zisterzienserorden eintritt: Der Ritter fun­ giert also nicht als direkte Identifikationsfigur für Mönche, der Text gehört aber in jedem Fall in einen monastischen Kontext, vgl. Benz/Weitbrecht, Spaces, S. 127; ebenso Benz, Gesicht, S. 9 und 241. 54 Im Folgenden zitierte Edition: De Purgatorio Sancti Patricii.

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(Cap. 5, S. 12–16), jedoch anders als die anima Tnugdal im gesamten Text konsequent, häufig und fast zu Beginn jedes Abschnitts als miles bezeichnet. Owein, der am Anfang als sündige Person gezeichnet wird, die Buße leisten muss und will, soll wegen seiner Verfehlungen eigentlich Mönch werden, wählt allerdings stattdessen die Bußfahrt in das Purgatorium als ‚quasi-mönchische‘ Lebensform (Cap. 5, S. 12).55 Der Redaktor sti­ lisiert diese Reise explizit als neue Form des Kriegsdiensts (Cap. 5, S. 14): Früher habe Owein gegen Menschen gekämpft, nun gegen Dämonen (Cap. 5, S. 14). Im Folgenden wird der Ritter an jedem Strafort selbst gefoltert, ruft dann aber den Namen Christi an, wodurch die Foltern sofort enden – er kämpft also nicht wie ein Ritter, sondern folgt einer zuvor gemachten Belehrung durch Mönche (Cap. 5c, S. 20). Im ‚Purgatori­ um Patricii‘ werden Rittertum und Mönchtum geradezu kontrastiv gegenübergestellt, um dann die ‚Verwandlung‘ Oweins veranschaulichen zu können. Dabei findet eine Umwertung ritterlich-höfischer Ideale statt, denn Owein kämpft nun mit den Waffen Christi: Der Helm wird der Waffenallegorese im Epheserbrief 6, 11–17 folgend als stets sichtbares Zeichen des Geistes gedeutet, der Harnisch als Panzer der Gerechtigkeit und der Schild als Schutzschild des Glaubens (Cap. 5, S. 14, und Cap. 5c, S. 20).56 Im Laufe seiner Bußfahrt wird aus dem miles Owein ein vir Dei (Cap. 5c, S. 20), ja ein verus miles Christi (Cap. 5b, S. 18) bzw. ein miles Christi (Cap. 5.l, S. 28, und Cap. 5.m, S. 30), seine Rückkehr aus dem Purgatorium wird als Sieg bezeichnet (Cap. 5r, S. 56). Anders als Dryhthelm, aber wie Tnugdal tritt Owein nicht in ein Kloster ein; der Rückkehrer aus dem Purgatorium wird weiter als miles bezeichnet, lebt jedoch fromm und nach den Idealen der Zisterzienser (Cap. 5r, S. 56–58). Die soziale Zuordnung des Visionärs im ‚Purgatorium Patricii‘ ist somit zentral für die verfolgte Textstrategie der Umcodierung, wie gesehen ganz anders als in der ‚Vi­ sio Tnugdali‘, aber auch anders als in weiteren Jenseitsreisen des Hochmittelalters, in denen die soziale Einordnung des Visionärs ebenfalls nur ein einziges Mal im Pro­ log angesprochen wird, so beispielsweise in der um 1127 im Kloster Monte Cassino festgehaltenen Vision des zum Zeitpunkt der Ekstase neunjährigen „Rittersohns“57 Alberich, der später in diesen Konvent eingetreten ist. In der ‚Visio Alberici‘ werden vor allem die Verfehlungen von Mönchen angeprangert.58 Dahinter stehen fraglos die Gedanken der Gregorianischen Kirchenreform, ja die handschriftliche Überlieferung weist darauf hin, dass die Mönche des Klosters Monte Cassino die Zielgruppe des Texts bildeten, worauf überdies der vorangestellte Eingangsbrief explizit verweist, in

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Die Reise des Ritters Owein ist eine „Bußpraktik“, so Benz, Gesicht, S. 7 und 145. Zur Waffenallegorese vgl. den Kommentar von Benz in: De Purgatorio Sancti Patricii, S. 71. Schmidt, Einleitung zu: Visio Alberici, S. 150. Zum Prozess der Verschriftlichung der ‚Visio Alberici‘, zu den daran beteiligten Akteuren im Klos­ ter Monte Cassino und zum Anteil des Visionärs Alberich vgl. Schmidt, Einleitung zu: Visio Al­ berici, S. 150–152.

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welchem der Visionär selbst spricht (Brief, S. 160–162).59 In diesem Brief bezeichnet sich der Visionär als Mönch, nie beispielsweise als Sohn eines Ritters (Brief, S. 160). Der Vorbericht zur Vision beginnt zwar mit dem Namen und der Lage der Burg von Alberichs Eltern, und der spätere Visionär wird als Sohn eines nobilis cuiusdam militis (Vorbericht, S. 168) eingeführt. Doch dieses soziale Setting wird im Folgenden nie mehr aufgenommen und Alberich gleichwohl selten, aber stets als puer bezeichnet, so im Inhaltsverzeichnis, im Prolog, im Vorbericht und im Epilog, während die Visi­ onserzählung selbst in Ich-Form gehalten ist.60 Entscheidend für die Zeichnung des Visionärs ist somit nicht seine soziale Herkunft, sondern sein Alter: Die simplicitas des unwissenden Kindes verbürgt die Authentizität des Gesehenen, die knappe Nennung der Herkunft ist nur als Folie für den Übertritt in die monastische Gemeinschaft von Monte Cassino wichtig, die im Kern des Dargestellten steht. Die Jenseitsreise des fränkischen Ritters Heinrich von Ahorn, dem Bruder eines in Bamberg erzogenen Klerikers und späteren Bischofs von Worms, soll sich um 1130 ereignet haben, ist heute jedoch nur durch die Abschrift einer Nachtragshand in einen Codex des 13. Jahrhunderts überliefert.61 Nachdem Heinrich ein Wallfahrtsgelübde nach Santiago de Compostela gebrochen hat, wird er ins Jenseits entrückt, wo ihn Ja­ kob der Ältere an Straf- und Lohnorte führt. Wie in der ‚Visio Alberici‘, aber anders als in der ‚Visio Tnugdali‘ steht hier weniger das Allgemein-Menschliche im Zentrum, sondern vielmehr werden Verfehlungen von Mönchen thematisiert, die im Jenseits dafür bestraft werden. Und wie die ‚Visio Alberici‘ gehört auch diese Vision in einen monastischen Reformkontext des 12. Jahrhunderts und richtet sich an Mönche als Pu­ blikum:62 Möglicherweise wurde die Vision für das Benediktinerkloster St. Georgen­ berg im Inntal bei Schwaz (Tirol) aufgezeichnet, erweitert oder zumindest für diese Rezipienten in der Handschrift nachgetragen.63 In jedem Fall richten sich einige Pas­

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Im Folgenden zitierte Edition: Visio Alberici. Zu den Bezügen in der ‚Visio Alberici‘ zur Gregoria­ nischen Kirchenreform vgl. Schmidt, Einleitung zu: Visio Alberici, S. 154. 60 Inhaltsverzeichnis, S. 162: zu Kapitel XV Albericus puer; Prolog, S. 166: puer; Vorbericht, S. 168: puer; Cap. 50, S. 208: puer. 61 Im Folgenden zitierte Edition: Die Vision des Heinrich von Ahorn; der Edition, vgl. ebd., S. 58–68, ist die Übersetzung in Hofmann, Heinrich von Ahorn, S. 202–210, beigegeben. Zur Datierung der Jenseitsreise um 1130, wohl vor 1139, vgl. Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 49. Die Vision ist überliefert in der Handschrift London, British Library, Add. 18379, fol. 150va–151vb, vgl. umfassend zu diesem Überlieferungsträger ebd., S. 29–32. 62 Vgl. Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 35. 63 Während Hofmann, Heinrich von Ahorn, S. 207, den Codex vage dem Umkreis des Klosters St. Georgenberg (Tirol) zuordnet, verweisen Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 30 f., darauf, dass dieses Kloster im 13. Jahrhundert noch kein Skriptorium besessen habe und die Handschrift erst im 15. Jahrhundert in Tirol im Umfeld des Klosters und spätestens 1659 im Besitz des Klosters nachgewiesen werden kann; sie gehen davon aus, dass der Codex in Bamberg entstanden ist. Die Vision des Heinrich von Ahorn folgt aber direkt auf ei­ nen Auszug aus der ‚Legenda Aurea‘ zum heiligen Georg, und in der Vision werden die Mönche des Klosters St. Georgenberg direkt angesprochen (Cap. 13, 18 und 33), sodass die Entstehungsge­

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sagen der Vision direkt an die Mönche dieses Klosters, die an mehreren Stellen explizit angesprochen und im Sinne der Kirchenreform ermahnt werden (Cap. 13, 18 und 33). Ebenso wie in den Visionen Tnugdals, Oweins und Alberichs wird desgleichen in der Vision Heinrichs von Ahorn nur zu Beginn und in aller Kürze auf die soziale Her­ kunft des Visionärs eingegangen. Zwar erwähnt der Redaktor in der Rahmenerzäh­ lung an einer Stelle Heinrichs weltlichen Stand, der Visionär wird aber zuerst und vor allem als Bruder von Bischof Burchard II. von Worms (1115–1149) eingeführt (Cap. 3). Auch wenn am Rande Ehefrau und Familie (Cap. 4 und 25) sowie Burg und Haus (Cap. 13 und 23) genannt werden, so wird an keiner Stelle das soziale Umfeld des Visi­ onärs breiter ausgekleidet.64 Viel entscheidender ist für die Darstellung des Visionärs, dass dieser – insbesondere in der Rahmenhandlung – durchgehend und in vielfältiger Form als Kranker beschrieben wird, dessen Bußfahrt ins Jenseits Heilung verspricht (Cap. 3–6, 23, 28). Während Alberich also vorrangig als Kind kategorisiert wird, wird Heinrich von Ahorn vor allem als Kranker eingeordnet – und Kindheit und Krankheit werden für die Zeichnung des Visionärs Orm miteinander verbunden:65 Eine Handschrift aus dem späten 12. Jahrhundert überliefert eine wohl 1126 oder kurz danach verfasste Jen­ seitsreise, die der Pfarrpriester Sigar für das monastische Publikum der Mönche von Durham verfasst hat.66 Auch wenn die Vision nach Aussagen des Redaktors an Kleri­ ker und Laien gerichtet ist, so belegt nicht zuletzt die Widmung, dass in erster Linie der Konvent in Durham als Zielpublikum dieses lateinischen Texts avisiert wurde.67

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schichte von Vision und Handschrift einer weiteren Erforschung bedarf. Dass der Text im Bam­ berger Umfeld entstanden ist, dafür spricht gleichwohl, dass der Verfasser sich explizit als ein frü­ herer Diener (minister) Bischof Ottos von Bamberg (1102–1139) bezeichnet (Cap. 21), an mehreren Stellen an diesem Bischof Kritik geübt wird (Cap. 20–21 und 32) und die Vision die Besitzinte­ ressen des Bamberger Bistums nach dem Investiturstreit widerspiegelt, so Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 45. Hofmann, Heinrich von Ahorn, S. 213, und Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 49, vermuten einen Kanoniker des Stifts St. Jakob in Bamberg als Redaktor, die Passagen zu St. Georgenberg waren dann vielleicht ein Zusatz zur Vorlage, so Hofmann, Heinrich von Ahorn, S. 213, was aber weder bestätigt noch widerlegt werden kann, so Plötz/Röckelein, Einleitung zu: Die Vision des Heinrich von Ahorn, S. 33. Keine Belege gibt es für die Annahme, die lateinische Vision sei als „pädagogisches Instrument für den Adel“ verfasst worden, so die Schlussfolgerung ebd., S. 44. Heinrich von Ahorn trifft an den Straforten die Adeligen Adalbero von Volsbach (Cap. 12 und 30) und Bernhard von Rodeck, der die Bamberger Kirche und das Kloster St. Georgenberg geschädigt habe (Cap. 13 und 31), ohne dass hier jedoch das adelige Lebensumfeld eingehender skizziert wür­ de. Vgl. hierzu umfassend den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. Im Folgenden zitierte Edition: The Vision of Orm. Zu Redaktor, Publikum, Abfassung und Über­ lieferung dieser Jenseitsreise vgl. Farmer, Einleitung zu: The Vision of Orm, S. 72 f.; eine auf die Struktur des Jenseits fokussierte Inhaltsangabe der Vision bietet Carozzi, Voyage, S. 431–436 und 449–453. Als Adressat der Vision des Orm wird genannt: Symeoni monacho venerabili (Cap. 1), als intendier­ tes Publikum hingegen: id est presbyteris, monachis, clericis, laicis (Cap. 8).

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Die soziale Herkunft Orms wird in der Vision nicht thematisiert, und nur aus der Be­ schreibung seines sündhaften Lebens, von dem sich der kranke Protagonist erst kurz vor seinem Tod im Jahr nach seinem Visionserlebnis mit regelmäßigem Kirchbesuch, Fasten und Enthaltsamkeit abgewandt hat (Cap. 2), lässt sich Orms Status als Laie er­ schließen.68 Für den Redaktor ist jedoch ein ganz anderes Profil des Visionärs von Inte­ resse, denn Orm wird nicht nur zu Beginn als Kind eingeführt (Cap. 1),69 sondern sein kindliches bzw. jugendliches Alter charakterisiert auch im Folgenden ausnahmslos den Protagonisten, wenn er als puer, puerculus oder iuvenculus im Alter von 13 Jahren bezeichnet wird (Cap. 2). Das zentrale Charakteristikum des Kindes Orm ist dessen simplicitas, die in der Rahmenhandlung mehrfach angesprochen wird und die mit dem Eigennamen des Visionärs bzw. mit dessen Alter mehrfach explizit verbunden wird.70 Die Glaubwürdigkeit der Jenseitsreise soll also, neben der Erwähnung von Krankheit und Todesnähe, in erster Linie durch die simplicitas des Visionärs garantiert werden, die mit Orms kindlichem Alter belegt wird – und eben nicht durch eine soziale Ein­ ordnung. Ein Kind ist der Protagonist einer weiteren englischen Vision, die ebenfalls noch der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts angehört. In einem Eintrag zum Jahr 1146 in der zwischen 1211 und 1223 kompilierten Chronik Helinands von Froidmont, die für Mönche des Zisterzienserordens verfasst wurde,71 wird die Ritualmordlegende um William von Norwich um ein Visionserlebnis dieses Kindes erweitert (Sp. 1036–1037). Der Visionär wird an keiner Stelle sozial näher eingeordnet, sondern er wird stets als puer bezeichnet: zu Beginn des Eintrags als Vorstellung des Protagonisten, zu Anfang des Visionsberichts, wo auch das Alter des Visionärs von 15 Jahren genannt wird, und mehrfach bei der Schilderung von Williams Besuch der Straf- und Lohnorte.72 Anders

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Zu weiteren indirekten Hinweisen auf die soziale Herkunft des Visionärs vgl. Farmer, Einleitung zu: The Vision of Orm, S. 73. Der Redaktor spricht zu Beginn von visionem adolescentis Orm (Cap. 1), danach wird Orm im Ein­ leitungskapitel noch zweimal als puer (Cap. 1) bezeichnet. Zu Beginn ist von simplici puero (Cap. 1) die Rede, auch danach noch von simplicis Orm (Cap. 2), außerdem wird die simplicitas des Visionärs dreimal explizit erwähnt (Cap. 2) sowie dessen simplicitas in einer Phrase mit humilitas verbunden (Cap. 2). Farmer, Einleitung zu: The Vision of Orm, S. 74, nimmt die Darstellung des Visionärs ernst: „His piety was of the simplest kind“. Im Folgenden zitierte Edition: Helinandi Frigidi montis monachi Chronicon. Die kaum mehr überschaubare Forschung zu William von Norwich und zu der mit ihm verbundenen Ritualmord­ legende behandelt nie den Visionsbericht in Helinands Chronik, aber Wilson, Dissemination, S. 195–249 und 263 f., untersucht erschöpfend alle Jenseitsreisen in diesem historiographischen Werk mit einem besonderen Fokus auf den Umgang der Zisterzienser mit Visionen, vgl. mit Blick auf die Vision Williams von Norwich ebd., S. 209 und 226. Der Eintrag in Helinands Chronik zum Jahr 1146 beginnt mit den Worten: Guillelmus puer in Ang­ lia (Sp. 1036), der Bericht selbst wird folgendermaßen eröffnet: Puer quidam nomine Guillelmus annorum 15 dormiens vidit virum splendidum dicentem sibi: Sequere me. (Sp. 1036); William wird im Visionsbericht mehrfach als puer bezeichnet und dabei an einer Stelle mit seinem Eigennamen, vgl. Sp. 1036–1037.

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als im Falle Orms erwähnt Helinand von Froidmont keine Krankheit Williams, noch bringt er dessen jugendliches Alter explizit mit der simplicitas in Verbindung, sondern der Bericht ist ausschließlich auf das Alter des Protagonisten fokussiert, um auf die­ se Weise die Authentizität des Visionsberichts zu belegen. Beide, Orm und William, werden also nicht näher bzw. überhaupt nicht sozial eingeordnet, entscheidend für die Redaktoren ist allein deren Alter. Nicht die soziale Herkunft, das Alter oder eine Krankheit charakterisieren die Visi­ onäre in der ‚Visio Ailsi‘, sondern ihre Familienzugehörigkeit. Der Augustinerchorherr Peter von Cornwall nahm in seinen um 1200 entstandenen ‚Liber revelationum‘,73 eine der umfassendsten Visionssammlungen des Mittelalters, auch Visionen von Mitglie­ dern seiner Familie auf, zuvorderst seines 1123 verstorbenen Großvaters Ailsi:74 Auf den Prolog (Cap. 1) folgen zunächst mehrere kleinere Visionen Ailsis (Cap. 2–9), da­ nach hat Peter wundersame Ereignisse um die Söhne Ailsis aufgezeichnet (Cap. 10– 12), und am Ende schildert er eine lange Vision Ailsis über das Jenseits (Cap. 13–17).75 Der Visionär wird nur an einer Stelle mitten in den Visionsberichten als oppidanus et civis in Launceston bezeichnet (Cap. 7), ansonsten aber durchgehend mit seinem Eigennamen oder als vir benannt. Ähnlich wie bei Orm wird die simplicitas des Visi­ onärs herausgestellt, wenn Ailsi vor dem ersten Visionsbericht als vir simplex ac rectus et timens Deum et recedens a malo (Cap. 2) eingeführt wird. Die zentrale Darstellungs­ absicht des Enkels ist jedoch, den Großvater als Heiligen zu zeichnen, worauf schon die Vorstellung des Visionärs ganz zu Beginn im Prolog hinweist (Cap. 1: cuidam viro bono et sancto). Die heiligenmäßigen Züge Ailsis werden immer wieder angesprochen, und mehrfach wird der Visionär explizit als vir Dei (Cap. 5, 8, 13) oder als vir sanctus (Cap. 6, 7) bezeichnet.76 Die soziale Herkunft des Visionärs ist hierbei völlig nachran­ gig, entscheidend sind für den Enkel Ailsis vielmehr die familiären Bezüge: Die Visi­ onen sind nicht nur fast alle im Umfeld des Kirchenpatrons der Familie St. Stephan lokalisiert,77 sondern durch die Einbindung wundersamer Ereignisse um zwei der Söh­ ne Ailsis und den Bericht über die Weitergabe der Visionen innerhalb seiner Familie

73 Zum ‚Liber revelationum‘ Peters von Cornwall vgl. zuletzt Gebauer, Visionskompilationen, S. 49–80; Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Cornwall’s Book of Revelations, passim. 74 Zur Biographie Ailsis vgl. Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Cornwall, The Visions of Ailsi and his Sons, S. 207 f., 235 und 243 f.; zudem Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Corn­ wall’s Book of Revelations, S. 142–185. 75 Im Folgenden zitierte Edition: Peter of Cornwall, The Visions of Ailsi and his Sons; vgl. auch den Wiederabdruck der Edition mit englischer Übersetzung in Peter of Cornwall’s Book of Revela­ tions, S. 186–215. 76 Vgl. hierzu bereits Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Cornwall, The Visions of Ailsi and his Sons, S. 215. 77 Zu den kirchlichen Verhältnissen im familiären Umfeld Ailsis vgl. Easting/Sharpe, Einleitung zu: Peter of Cornwall, The Visions of Ailsi and his Sons, S. 235–243.

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verfasst Peter von Cornwall vor allem eine Familiengeschichte von heiligenmäßigen Visionären, in welche er sich als Sammler von Visionen selbst einschreibt.78 Diverse Ritter sind Visionäre in Berichten, die im Laufe des 12. Jahrhunderts in ganz unterschiedliche textliche Zusammenhänge inseriert wurden, so in Kontext von His­ toriographie, Hagiographie und Wundererzählungen. So erzählt Symeon von Durham in seiner im frühen 12. Jahrhundert verfassten ‚Historia Dunelmensis ecclesiae‘ von mehreren Visionen im Umfeld der Kirche von Durham.79 Zwei der Visionäre lassen sich als Laien identifizieren, aber auch Symeon bleibt bei Andeutungen zu ihrem so­ zialen Status: Bei Eadulfus, einem Kranken, der eine Vision von Straf- und Lohnorten hatte und kurz darauf starb, werden lediglich seine Herkunft aus einem Dorf und der Besitz eines Hauses erwähnt (III, 23, S. 212–216), im Vordergrund stehen jedoch – wie bei Orm – die Krankheit und die Todesnähe des Visionärs. Etwas stärker sind die sozialen Bezüge bei dem bischöflichen Ritter Boso gezeichnet (IV, 9, S. 246–250),80 der zwar nicht in der Vision, allerdings mehrfach in der Rahmenhandlung als Ritter angesprochen wird.81 Gleichwohl stehen bei diesem Visionär ebenfalls die Krankheit und dessen drei Tage währender Scheintod im Zentrum der Darstellung. Bei seiner Jenseitsreise beobachtete Boso auch ein Lanzenstechen, aber der bei weitem größte Teil der Vision befasst sich mit Verfehlungen und Bestrafungen von Geistlichen, deren Schilderung auf das Publikum von Symeons Chronik im Umfeld von Bischof und Ka­ thedralklerus von Durham zugespitzt ist. Dagegen steht die soziale Herkunft des Ritters Walter aus der Gegend von Nivel­ les und Brüssel deutlich stärker im Zentrum der 1159/1170 entstandenen ‚Narracio de visione Walteri‘, die in mehreren Handschriften im Umfeld von Wundererzählungen überliefert ist, die fälschlich Petrus Venerabilis zugeschrieben werden.82 Der anonyme Redaktor erzählt eine durchaus unübliche Jenseitsvision:83 Der Ritter Walter erlebt seine Visionen nicht als Kranker, sondern reist mehrfach wach im Bett neben seiner Ehefrau ins Jenseits; dazwischen spricht er immer wieder mit seiner Frau. Sein Führer ist die Seele eines früh verstorbenen Königssohns, und im Jenseits trifft Walter Vater und Mutter, seinen Herrn, Könige und Kaiser sowie Bürger einer Stadt, also vorrangig 78

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Zur Erforschung mittelalterlicher Visionskompilationen vgl. Abschnitt II in diesem Beitrag. Pe­ ter von Cornwall nahm in den ‚Liber revelationum‘ neben dem ‚Purgatorium Patricii‘, gleichwohl prominent zu Beginn des ersten Buchs, und dem Jakobus-Mirakel ‚Miles ad sanctum Iacobum ten­ dens‘ (BHL Nr. 4072; Peter of Cornwall’s Book of Revelations, S. 376) fast ausschließlich Visionen von Geistlichen auf. Im Folgenden zitierte Edition: Symeon of Durham, Libellus de Exordio. Zur Struktur des Jenseits in der Vision Bosos vgl. Carozzi, Voyage, S. 430 f. und S. 448 f. Boso wird zu Beginn der Rahmenhandlung als quidam militum episcopi bezeichnet (IV, 9, S. 246) und am Ende mehrfach als miles angesprochen (IV, 9–10, S. 250). Zur Überlieferung der ‚Visio Walteri‘ vgl. Schmidt, Einleitung zu: Die Visio Walteri, S. 719. Im Folgenden zitierte Edition: Die Visio Walteri. Eine Inhaltsangabe der Vision bietet Schmidt, Einleitung zu: Die Visio Walteri, S. 719–722, der den Bericht als unüblich für eine Jenseitsvision bewertet, vgl. ebd., S. 719.

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Laien. Auch wenn Walter nur zu Beginn als miles eingeführt wird (S. 722), so bleibt sei­ ne soziale Einordnung durch die Begegnungen im Jenseits und die Gespräche mit der Ehefrau stets präsent. Entscheidend ist dem Redaktor aber die Verbindung mit einer Tugend, und zwar nicht der simplicitas, sondern der prudentia, mit welcher Walter zu Beginn und zuallererst charakterisiert wird (S. 722).84 Der Clou der Wundererzählung ist, dass dem von Beginn an klugen Ritter nicht nur versprochen wird, dass er nach sei­ ner Jenseitsreise klüger sei, sondern dass in der Vision seine Klugheit auch beständig demonstriert wird.85 Der Redaktor stellt die Authentizität des Berichts nicht in Frage, allerdings muss offen bleiben, ob in diesem Text tatsächlich das Wissen aus dem Jen­ seits im Zentrum steht oder doch nicht vielmehr die wundersame Begebenheit und die Demonstration der prudentia. Demgegenüber spielt die soziale Herkunft des Visionärs in der ‚Visio cuiusdam mili­ tis in Britannia‘ keine größere Rolle. Die Vision umfasst etwa ein Drittel der Lebensbe­ schreibung des heiligen Zisterziensers Peter von Avranches, die kurz nach dessen Tod 1172 von einem Mönch des Zisterzienserklosters Savigny verfasst wurde und sich an die Mönche seines Klosters richtete.86 Zwar wird der Visionär zu Beginn als kampfer­ probter und adeliger Ritter eingeführt, doch wiederum fehlt eine Schilderung seiner Lebenswelt und wiederum liegt der Fokus auf seiner schweren Krankheit und der To­ desnähe des Visionärs, in welcher dieser das Gesicht empfangen hat (S. 486).87 Der Ritter bleibt namenlos, aber es wird der Begriff miles im Bericht stets verwendet, um den Visionär zu identifizieren (S. 486, 488, 489, 490, 491, 492, 493). Bei der Reise des Ritters, der von zwei Engeln an Straf- und Lohnorte im Jenseits geführt wird, stehen fast ausschließlich Sünden und Tugenden von Mönchen im Zentrum. Den Kern der Erzählung bildet, dass der Ritter den Mönch Peter von Avranches im Himmel neben Christus stehen sah und später den Heiligen bei seinem Besuch im Kloster wiederer­ kennt und damit dessen Heiligkeit bestätigt (S. 491 f.). Auch am Ende der Rahmen­ handlung, als der geheilte Ritter in das Kloster Savigny reist, um den Mönchen seine Vision zu erzählen, wird ausführlich das monastische Leben geschildert (S. 492 f.). Es bedarf in dieser Visionserzählung also eines unkundigen Laien, der unwissend und ohne Verbindungen zum Konvent in Savigny die Heiligkeit Peters von Avranches be­ 84 85 86

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Der Beginn der ‚Visio Walteri‘ lautet: Est quidam miles Gualterus nomine manens in patria adiacenti Nivelle vel Burselle, prudentia, genere et divitiis non minimus in ipsa regione, qui cum nuper quodam vespere in lecto suo iaceret et uxorem haberet sibi adiacentem […]. Die Visio Walteri, S. 722 f. Diese Deutung nach Schmidt, Einleitung zu: Die Visio Walteri, S. 720. Im Folgenden zitierte Edition: Vitae B. Petri Abrincensis et B. Hamonis; die Jenseitsreise wird in den Kapiteln 10 und 11 geschildert, vgl. ebd., S. 486–493. Nach Peter Dinzelbacher stammte der Ritter aus England, vgl. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, 2. Aufl., S. 30, da aber das Kloster Savigny im Norden der Normandie nahe der Grenze zur Bretagne liegt, ist die Lokalisie­ rung Britannia hier wohl eher mit Bretagne zu übersetzen. Der Beginn der Vision nennt das Datum zur Zeit der Könige Ludwig von Frankreich und Heinrich von England und fährt dann fort: miles quidam in Britannia armis strenuus et genere nobilis infirmatus est usque ad mortem (S. 486).

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stätigen kann; die genauen Lebensumstände des Ritters sind damit nicht von Rele­ vanz, sondern ausschließlich seine Zeugenschaft. Eine etwas größere Bedeutung kommt der sozialen Herkunft des Visionärs in der Gründungsvision von Kloster und Hospital Sankt Bartholomaeus in Smithfelde (Lon­ don) zu.88 Einer Sammlung von Urkunden dieser kirchlichen Institution im ‚Liber fun­ dationis ecclesiae Sancti Bartholomaei‘ ist ein Gründungsbericht vorgeschaltet, den ein Augustinerchorherr des dortigen Konvents zwischen 1174 und 1189 vollendete.89 In der Rahmenhandlung wird nur zu Beginn kurz die niedere Herkunft des Visionärs Rahere explizit benannt,90 wichtig ist vielmehr dessen sündhafter Lebenswandel, der an Raheres weltlichen Leben insbesondere am Hof visualisiert wird. Hierbei steht vor allem sein jugendliches Alter im Zentrum der Darstellung, das Rahere zu einem sol­ chen Leben verleitet habe, weniger seine soziale Herkunft (S. 292 f.). Eine Pilgerfahrt und eine Krankheit fördern den Sinneswandel Raheres, eine Jenseitsvision bringt ihn endgültig dazu, das Hospital zu stiften. Für den Visionsbericht selbst spielt die soziale Herkunft des Visionärs keine Rolle mehr, ja dessen Namen wird nicht einmal mehr genannt (S. 293 f.). Entscheidend für den Gründungsbericht ist lediglich die Umkehr des Protagonisten, die ähnlich wie in der ‚Visio Tnugdali‘ im Vordergrund steht, wobei im Fall von Rahere aber die Umkehr schon vor dem Visionserlebnis geschieht, weswe­ gen folgerichtig im Visionsbericht selbst die soziale Einordnung des Visionärs keiner Erwähnung mehr bedarf. Doch nicht nur bei Rittern, sondern auch bei Bauern als Visionären lassen sich ganz unterschiedliche Verschriftlichungsstrategien fassen. Hierbei muss im Blick be­ halten werden, dass die Jenseitsreisen der Ritter Tnugdal und Owein in sehr vielen Handschriften überliefert sind, wohingegen die Gesichte der Bauern Gottschalk und Thurkill nicht sehr weit verbreitet waren. Im Folgenden sei nur kurz auf die bereits behandelte, 1206 abgefasste Vision des englischen Bauern Thurkill eingegangen.91 Selbst wenn man den Hinweis des Redaktors, der Bauer habe seine Vision in den Kir­ chen seiner Umgebung erzählt (S. 26–29), für glaubhaft hält und selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in der Vision mehrfach Adelige, die Bauern auspressen, und Bau­ ern, die keine Abgaben oder Frondienste leisten, kritisiert werden, so demonstrierte bereits die obige Analyse, dass der anspruchsvolle lateinische Text sich an Kleriker

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Im Folgenden zitierte Edition: Liber fundationis ecclesiae Sancti Bartholomaei. Der Gründungs­ bericht des Klosters und Hospitals eröffnet die Urkundensammlung zu dieser Institution, vgl. Li­ ber fundationis ecclesiae Sancti Bartholomaei, S. 292–295; ein Ausschnitt aus der Vision ist über­ setzt bei Dinzelbacher, Mittelalterliche Visionsliteratur, S. 82–85. 89 Vgl. Dinzelbacher, Mittelalterliche Visionsliteratur, S. 82. 90 Der Beginn lautet: Vir iste, humili oriundus prosapia, ubi adolescentiae florem attigit […] (S. 292). 91 Im Folgenden zitierte Edition: Die Vision des Bauern Thurkill; umfassend zu dieser Vision Schmidt, Vision of Thurkill; Benz, Gesicht, S. 263–274; zuletzt die theaterhistorische Untersu­ chung Lorber, Visio Thurkilli, welche die Jenseitsreise in die Tradition christlicher und beson­ ders patristischer Theaterfeindlichkeit einordnet, vgl. ebd., S. 49.

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richtete, selbstverständlich auch um aus diesem Predigtexempel herauslösen zu kön­ nen. Dazu passt die Gesamttendenz des Visionsberichts, die in erster Linie auf eine Bestätigung der gottgegebenen sozialen Ordnung zielt, in welcher niemand seine Po­ sition verlassen und niemand gegen Pflichten seines Standes verstoßen soll. Hält man mit der Mehrheit der Forschung den Abt Ralph von Coggeshall für den Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘, dann gehört diese Vision ebenfalls sicher in den Kontext des Zisterzi­ enserordens.92 In der Vorrede wird eine zweisträngige Authentisierungsstrategie entworfen (S. 14– 21): Zum einen wird Thurkills Jenseitsreise in die Tradition der Visionstexte eingeord­ net, beginnend mit Gregor dem Großen, später unter anderem mit den Visionen der beiden miles Owein und Tnugdal (S. 17–21). Die Glaubwürdigkeit der Vision Thur­ kills, dies ist die zweite Argumentationslinie und zugleich der Inhalt des letzten Satzes der Vorrede, wird zudem durch die simplicitas und innocentia des Visionärs garantiert (S. 20: pro simplicitate et innocentia viri), ein zentrales Argument, das am Ende der Visi­ on im letzten Satz nochmals prominent aufgenommen wird (S. 79 f.).93 Thurkill wird in der gesamten Vision nur an einer einzigen Stelle in der Frage eines Teufels explizit als Bauer (S. 46: Quis est iste agrestis, qui vobiscum presens astat?) und nie mit seinem Eigennamen, sondern stets als vir, als Mann, als ‚Jedermann‘, benannt. Diese durchgehende Bezeichnung des Visionärs als vir (S. 80) hält der Redaktor bis zum Ende im Epilog durch. Hierzu und zum besonderen Interesse des Verfassers an der Bewahrung der gottgegebenen sozialen Ordnung passt, dass in dem Visionserleb­ nis (S. 30–81) und insbesondere im Höllentheater (S. 48–67) eine Vielzahl an sozialen Gruppen auftritt; hierzu gehören ebenso Menschen aus dem dörflichen Umfeld wie ein Müller und ungehorsame Bauern (S. 61–63), aber auch – wie eingangs dargestellt – Personenkreise, zu denen ein mittelalterlicher Bauern gewiss nie Kontakt hatte. Anders als beispielsweise bei Tnugdal oder Owein sind die sozialen Kontexte des Visionärs Thurkill in der Rahmenhandlung etwas stärker ausgeleuchtet (S. 20–29): Der Name Thurkillus findet eingangs an einer Stelle Erwähnung (S. 20), und seine Le­ benswelt wird geographisch exakt situiert durch Nennung des Dorfherrn, des Dorfs, der Diözese, der weltlichen Provinz und des Kirchspiels, auch um durch diese genaue Lokalisierung die Glaubwürdigkeit des Berichts zu stärken.94 Diesem Ziel dient zudem die Beschreibung der Feldarbeit wie der Aussaat oder dem Ausheben von Gräben, der sozialen Kontakte des Visionärs zu Familie, Nachbarn, Dorfpfarrer und Dorfherr sowie 92

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Zur Debatte in der Forschung über den Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘ vgl. Schmidt, Vision of Thur­ kill, S. 63; Paul Gerhard Schmidt selbst neigte gleichwohl eher dazu, aus den in der Vision genann­ ten Heiligen zu schließen, dass die Vision vermutlich von einem Kleriker an der Kirche St. Osyth in Essex verfasst worden sei, vgl. Schmidt, Einleitung zu: Die Vision des Bauern Thurkill, S. 9 f. Zur Erwähnung der simplicitas im Prolog als einer Garantie für die Glaubwürdigkeit der Vision vgl. bereits Schmidt, Vision of Thurkill, S. 52. Carozzi, Voyage, S. 586 f., betont zu Recht die Einbindung des Visionärs in den Raum der Pfarrei in den Visionen der Bauern Thurkill und Gottschalk.

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des Lebensumfelds mit Haus und Dorf. Es geht dem Redaktor aber nicht nur um eine geographische Situierung, sondern am Lebensraum des Visionärs lässt sich vor allem dessen simplicitas demonstrieren: Thurkill war einfach, arm, fleißig und fromm. Bereits der erste Satz der Rahmenhandlung macht diese Darstellungsstrategie explizit: erat quidem simplex (S. 20) – und im weiteren Verlauf der Rahmenhandlung thematisiert der Redaktor immer wieder den vir simplex und dessen simplicitas als wichtigsten Wesens­ zug (S. 20–29). Wie gesehen bleibt diese Beschreibung dörflichen Lebens jedoch auf die Rahmenhandlung beschränkt; im Visionstext selbst und auch im Epilog wird die soziale Zuordnung des ‚Jedermann‘ hingegen nicht wieder aufgenommen. Vielmehr werden in den letzten beiden Sätzen der Grundgedanke und die zentrale Authentisierungsstrategie mit aller Deutlichkeit formuliert: „[…] wie ich es in dieser hier vorliegenden Schrift in schlichtem Stil zur Unterweisung der Schlichten den Hauptzügen nach aufgezeichnet habe, denn sie machen in den Tugenden meistens größere Fortschritte durch solche aufgezeichneten Offenbarungen als durch unverständliche und tiefsinnige theologische Erörterungen.“ (S. 80: sicut in hac presenti pagina simplici eloquio ad simplicium eruditionem summatim descripsimus, qui plerumque in huiusmodi descriptis revelationibus magis in profectu virtutum proficiunt, quam ex perplexis et profundis theologie disputationibus.)95 Während bei der ‚Visio Tnugdali‘ in der späteren Überlieferung der Visionär entwe­ der stärker als ‚Jedermann‘ oder als Ritter akzentuiert wurde, ist die Bearbeitungspra­ xis bei der ‚Visio Thurkilli‘ einheitlich: Es verschwinden in jüngeren Abschriften die individuelle Zeichnung des Visionärs und seines dörflichen Umfelds, der Eigenname Thurkill und sogar dessen soziale Einordnung als Bauer.96 Dagegen wird in der ersten Version der 1190 niedergeschriebenen Vision des holsteinischen Bauern Gottschalk (Fassung A: ‚Godeschalcus‘) in allen Teilen des Textes, also im Prolog, im Rahmen­ text, in der Vision und im Epilog, und durchaus ausführlich bäuerliches Leben be­ schrieben, zudem wird der Visionär präzise in den historischen Kontext wie der Be­ lagerung der Burg Segeberg durch Heinrich den Löwen eingeordnet.97 Der Verfasser der Fassung A, ein Augustinerchorherr des Stifts in Neumünster, verfolgt damit die Intention, die simplicitas des Visionärs nicht nur durch dessen Wesen, sondern auch durch dessen soziale Stellung als Bauer zu demonstrieren, wie bereits der erste Satz der Rahmenhandlung belegt: Gottschalk war „ein einfacher und aufrechter Mensch, arm an Geist und Habe, ein Siedler in der Einöde – und doch kein Einsiedler, sondern ein Bauer“ (Cap. 1: vir simplex et rectus, pauper spiritu et rebus, heremi cultor – non heremita, sed agricola).98 In der Rahmenhandlung leuchtet der Redaktor das dörfliche Umfeld

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Die Übersetzung folgt: Die Vision des Bauern Thurkill, S. 81. Zur späteren Überlieferung der ‚Visio Thurkilli‘ vgl. Schmidt, Vision of Thurkill, S. 64. Im Folgenden zitierte Edition: Godeschalcus und Visio Godeschalci. Zu dieser Vision vgl. den umfassenden Forschungsbericht aus dem Jahr 1995 bei Bünz, Neue Forschungen; ders., ‚Visio Godeschalci‘/‚Godeschalcus‘. Die Übersetzung folgt: Godeschalcus und Visio Godeschalci, S. 49.

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des Visionärs breit aus, allerdings ebenso umfassend kommt dessen Krankheit als Um­ stand der Vision zur Sprache. Im Visionsbericht selbst wird die soziale Einordnung Gottschalks als agricola je­ doch an keiner Stelle mehr aufgenommen, vielmehr wird der Visionär zwar nicht als vir, aber stets mit seinem Eigennamen Godeschalcus bezeichnet (Cap. 2–52). Zahlrei­ che Bezüge zur Natur, Lebenswelt und der gesellschaftlichen wie politischen Ordnung des geographischen Umfelds des Visionärs scheinen im Visionsbericht auf, gleichwohl wird die soziale Herkunft des Visionärs als Bauer nicht mehr explizit thematisiert oder als Leitgedanke auserzählt.99 Auch im abschließenden Teil der Rahmenhandlung, die von Gottschalks Rückkehr aus dem Jenseits erzählt, wird dieser stets nur als Godeschalcus bezeichnet (Cap. 53–66). Gleichwohl wird der Visionär stärker als in anderen Visionen in sein soziales Umfeld eingeordnet, wenn seine domus (Cap. 53, 54, 57, 61), Familie (Cap. 54, 55, 57, 63) und Nachbarn (Cap. 54, 57) ebenso wie seine mit den Hän­ den geleistete Arbeit (Cap. 61) und der Tod seines einzigen Pferdes (Cap. 63) erwähnt werden. Doch hier ist ebenfalls Vorsicht angebracht, aus der Fassung A der Vision des Bauern Gottschalk eins-zu-eins auf eine bäuerliche Vorstellungswelt und dörfliche Lebensrea­ lität oder gar auf die Biographie des Visionärs zu schließen, auch wenn die Forschung dies insbesondere für diese Vision getan hat:100 Auf die methodischen Herausforde­ rungen für eine solche Rekonstruktion haben bereits Aron J. Gurevich und Enno Bünz hingewiesen.101 Zudem hat Hedwig Röckelein darauf aufmerksam gemacht, dass mit 99

Zu Recht hat Hedwig Röckelein darauf hingewiesen, dass die Redaktoren den Visionär Gottschalk mehreren unterschiedlichen Gruppen bzw. Rollen zugewiesen haben, so beispielsweise als Ehe­ mann, Vater, Angehörigen einer Dorfgemeinschaft oder Angehörigen einer Pfarrei zeichnen, vgl. Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 157–159. 100 Die ältere Forschung verstand den Visionsbericht als „das sehr persönlich geprägte Erlebnis ei­ nes Bauern“, so Assmann, Einleitung zu: Godeschalcus und Visio Godeschalci, S. 9; der Text de­ monstriere, wie unverändert Beschreibungen bäuerlichen Lebens und eigene Erfahrungen eines Bauern aufgezeichnet wurden, so Schmidt, Vision of Thurkill, S. 51, ja der Bericht sei ein „Erleb­ nisprotokoll“, so Lammers, Gottschalks Wanderung, S. 153, aus dem die „Weltsicht“ der „kleinen Leute“ sichtbar werde, so ebd., S. 54. Peter Dinzelbacher, der anhand der Vision des Bauern Gott­ schalks „Selbstaussagen des Volkes über seinen Glauben“ zu rekonstruieren suchte, so Dinzelba­ cher, Selbstaussagen, S. 57, betonte als Fazit seiner Quellenkritik, dass der Text äußerst nah an dem mündlichem Bericht des Bauern sei, so ebd., S. 72, und verstand die Vision als „Zeugnis des Volksglaubens“, so ebd., S. 75; aus Visionen als „bäuerliche Berichte“, so Ders., Bäuerliche Berich­ te, S. 255, könne die „Vorstellungswelt“ von Bauern und der „Volksglauben“ abgelesen werden, so ebd., S. 270. Die neuere regionalgeschichtliche Forschung teilt diese Einschätzung weiterhin, so begreift ein Beitrag von 2002 den Visionsbericht als „verschriftete Mündlichkeit“ und damit als Dokument einer „oral history“, so Ralf, Visio, S. 1, ein Aufsatz von 2003 erkennt in dem Text die „Stimme“ des „Menschen Gottschalk“, so Braunschweig, Bauer, S. 8, und die beiden Redakto­ ren werden als „Protokollanten“ bezeichnet, so ebd., S. 26, oder eine Studie von 2011 rekonstruiert aus der Vision als „authentischer Quelle“, so Prühs, Visio, S. 41, beispielsweise die Biographie des Bauern Gottschalk, so ebd., S. 40 f. 101 Aron J. Gurevich wertete Gottschalks und Thurkills Visionen als Begegnung von oraler Volks­ kultur und schriftlicher Gelehrten- bzw. Klerikerkultur, so Gurevich, Culture, S. 56, betonte als

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dem Namen Gottschalk, also ‚Gottesknecht‘,102 der Visionär als „lebendes Exempel erfolgreicher christlicher Missionsarbeit“103 gezeichnet wird: Seine Handarbeit ist als Dienst an Gott zu verstehen, er kultiviert das Land wie ein Missionar. Die soziale Zu­ ordnung des Visionärs als Bauern dient somit in der Fassung A der Vision Gottschalks dazu, einen ganz bestimmten Typus aufrufen zu können.104 Kleriker und Laien werden als intendierte Rezipienten des Visionsberichts explizit genannt (Cap. 65), aber am Ende des lateinischen Textes erfolgt der klare Auftrag allein an den Klerus, die Vision zu verbreiten (Cap. 66).105 Während bei der ‚Visio Thurkilli‘ der Bauer als Visionär erst in der späteren Über­ lieferung weitgehend getilgt wurde, ist dies für die Vision Gottschalks schon bei der zweiten, noch 1190 oder sehr kurz danach entstandenen Fassung (Fassung B: ‚Visio Godeschalci‘) der Fall.106 Der Verfasser, wohl der Pfarrer in Nortorf, war mit dem per­ sönlichen und regionalen Umfeld des Visionärs fraglos bestens vertraut und dürfte auch die Fassung A gekannt haben,107 doch – oder gerade deswegen – akzentuierte und authentisierte er seinen Bericht ganz anders, der nun völlig auf die simplicitas des Visionärs zugespitzt ist, ohne diese jedoch aus dem sozialen Status des Visionärs ab­ zuleiten: In der sehr knappen Rahmenhandlung wird der Visionär nie als Bauer be­ zeichnet und auch nicht durch seine Tätigkeit oder sein soziales Umfeld als solcher ge­

Fazit seiner Studie aber die großen Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der bäuerlichen Welt und stellte heraus, dass die Quellen stets die Symbiose der beiden Kulturen seien, so ebd., S. 64 f. Nach Enno Bünz sprach aus dem Visionsbericht zwar „die unmittelbare Stimme“ des Bauern, so Bünz, Neue Forschungen, S. 104, die „Einblick in Lebenswelt und Mentalität“ der Bauern gebe, so ebd., S. 92, ja Bünz würdigte die Vision als hervorragende Quelle für die Frömmigkeits- und Mentalitätsgeschichte, die „aus erster Hand über Lebensform und Denkweise eines hochmittel­ alterlichen Bauern“ berichtet und in der ein Bauer „zu Wort kommt“, so Ders., ‚Visio Godeschal­ ci‘/‚Godeschalcus‘, Sp. 408. Bünz machte aber in Auseinandersetzung mit Gurevich deutlich, wie problematisch das Konzept der Volksfrömmigkeit ist, so Ders., Neue Forschungen, S. 104, und relativierte in Auseinandersetzung mit Dinzelbacher, dass Gottschalks Aussagen typisch für alle anderen Bauern seien, so ebd., S. 98. Zur älteren Forschung und zur methodischen Herausforde­ rung, wie Bewusstseinsinhalte des Visionärs Gottschalk von Bewusstseinsinhalten der klerikalen Redaktoren bzw. des Publikums zu unterscheiden seien, vgl. Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 146 f. 102 Vgl. Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 159. 103 Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 159. 104 Hedwig Röckelein verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe Metapher, Parabel, Modell und Identitätsfigur: Gottschalk ist als Gottesknecht nicht nur eine „historische Person“, sondern auch eine „Metapher“, so Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 159, „sein Leben ist eine Parabel“, so ebd., S. 159, Gottschalk fungiert als „Identitätsfigur“ für andere holsteinische Bauern, so ebd., S. 159, und die Autoren nutzen „das ‚Modell Gottschalk‘“, so ebd., S. 160. 105 Zur Pfarrseelsorge der Augustinerchorherren insbesondere für die bäuerliche Bevölkerung vgl. mit Belegen Röckelein, Geschichtsbewußtsein, S. 159. 106 Die Fassung B der Vision des Bauern Gottschalk spielte bei den Interpretationen der bisherigen Forschung fast nie eine Rolle. 107 Zum Verhältnis der beiden Fassungen, insbesondere zur Vorlage der Fassung A des Kanonikers aus Neumünster für die Fassung B des Pfarrers aus Nortorf, vgl. Bünz, Neue Forschungen, S. 85 f.

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zeichnet, sondern Gottschalk wird lediglich eingeführt als vir quidam simplex et rectus, Godeschalcus nomine (Cap. 1). Viel wichtiger ist dem Redaktor, zum einen die Krank­ heit Gottschalks und zum anderen dessen lobenswerten Lebenswandel herauszustel­ len; dass dieser ein Laie ist, lässt sich nur aus der Erwähnung seiner Ehe erschließen (Cap. 1). Der Visionsbericht selbst ist im Ich-Stil verfasst, dabei fällt nie eine Selbstbe­ zeichnung als Bauer (Cap. 3–24). Anders als in der Fassung A besitzt nur ein einziges Kapitel einen engeren Bezug zur gleichwohl weiteren Region (Cap. 13). Im abschlie­ ßenden Bericht über Gottschalks Rückkehr aus dem Jenseits ist stets von homo die Rede (Cap. 25), und bezüglich seines sozialen Umfelds werden nur einmal sein Haus (domus) und nur einmal sein Herd (focus) genannt, nicht aber Familie, Nachbarn, das Dorf oder gar Bauern als Gruppe oder sozialer Stand (Cap. 25): Der Visionär ist in der Fassung B der Vision Gottschalks durch wenige Andeutungen als ein Laie identifizier­ bar, nicht jedoch als Bauer. Entscheidend ist für den Redaktor also nicht die soziale Herkunft des Visionärs, sondern dessen Wesen als ein einfacher, armer und einfältiger Mensch (Cap. 25: simplici et paupere et idiota). Die Befunde der Quelleninterpretationen lassen sich für vier Felder bündeln: (1) Alle diese lateinischen Texte wurden ausschließlich von Geistlichen verfasst und fast ausschließlich in monastischen Kontexten rezipiert. Das avisierte Publikum waren in erster Linie Mönche und wie bei der ‚Visio Tnugdali‘ Nonnen, nur selten findet sich wie im Fall der Fassung A der Vision des Bauern Gottschalk die Aufforderung an Kle­ riker, mit den Jenseitsberichten auch Laien zu instruieren. (2) In der Gesamtschau auf Laien als Visionäre im 12. Jahrhundert zeigte sich, dass die soziale Herkunft der Visionäre meist nur kurz, oft an nur einer Stelle und dann in den Rahmenhandlungen, ja vielfach nur implizit thematisiert wird. Zugespitzt formuliert: Wenn man beispielweise bei den Visionen von Alberich den Prolog oder bei Tnugdal die Rahmenerzählung nicht kennen würde, dann wüsste man nicht, wel­ chem sozialen Stand die Visionäre angehörten. Wie in der Fassung B der Vision des Gottschalk oder in der späteren Überlieferung der ‚Visio Thurkilli‘ konnte die soziale Herkunft des Visionärs sogar ganz getilgt werden. Schließlich wird oftmals das Allge­ mein-Menschliche ins das Zentrum gerückt, so wenn Tnugdal als ‚Jedermann‘ oder Gottschalk als ‚Gottesknecht‘ gezeichnet werden. (3) Mehrfach wurde deutlich, dass andere Kategorien für die Redaktoren wichtiger waren als der soziale Stand, so insbesondere das Alter, mit dem die Kinder Alberich, Orm oder William von Norwich vorrangig charakterisiert wurden. Die familiären Be­ ziehungen des Visionärs Ailsi waren für seinen Enkel Peter von Cornwall zentral, nicht die soziale Abkunft. Die Krankheit des Visionärs stand beispielsweise bei Heinrich von Ahorn, Orm, Eadulfus und Boso, dem Ritter in der Vita Peters von Avranches so­ wie bei Gottschalk im Mittelpunkt, hierbei waren wie bei Heinrich von Ahorn die Hei­ lung des Visionärs oder wie bei Orm der Tod mögliche Folgen des Visionserlebnisses. Namentlich durch die Kombination von jugendlichem Alter und weltlichem Stand des Visionärs untermauerten die Redaktoren die simplicitas als zentralen Wesenszug

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der Visionäre, die sich gleichwohl auch an Novizen wie Gunthelm oder Edmund von Eynsham veranschaulichen ließ. Bei Alberich, Orm oder William von Norwich wurde das Alter der Visionäre in den Vordergrund gerückt, bei den einfachen frommen Gläu­ bigen Thurkill und Gottschalk hingegen nach dem Vorbild von Bedas Dryhthelm der Status als Laie. (4) Nur selten wurde die soziale Herkunft in das Zentrum gestellt, eine Ausnah­ me ist hierbei die Vision des Ritters Walter, in welcher die Tugend der prudentia ver­ handelt wurde. Etwas breiter ausgeschrieben wurde, gleichwohl stets begrenzt auf die Rahmenhandlungen und in unterschiedlichem Umfang, die soziale Herkunft der Vi­ sionäre nur dann, wenn wie im Fall von Tnugdal, Owein, Orm und Rahere eine Buß­ fahrt bzw. eine Konversion dargestellt wurden, denn hier musste die Beschreibung eines sündhaften weltlichen Lebens die Folie für die Wandlung des Protagonisten beispielsweise zum miles christianus, hin zu einem gottgefälligen Leben oder für die Stiftung eines Hospitals bilden. V. Gesamtfazit Als abschließendes Fazit der exemplarischen Quelleninterpretationen kann somit festgehalten werden, dass die geistlichen Redaktoren die soziale Zuordnung des Visio­ närs in ganz unterschiedlichem Umfang, in ganz unterschiedlicher Form, mit ganz un­ terschiedlichen Strategien und mit ganz unterschiedlichen Intentionen verwendeten, selbst in unterschiedlichen Fassungen der gleichen Vision wie bei Gottschalk, ja selbst in unterschiedlichen zeitnahen Handschriften wie bei Tnugdal oder in der späteren Überlieferung wie bei Thurkill – und dies selbstverständlich in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten zwischen Westengland, Holstein, Regensburg und Monte Cassino. Was anfangs als einheitliches Phänomen des 12. Jahrhunderts erschien, er­ weist sich nun als ein disparates Feld, auf welchem jeder Einzelfall für sich in den Blick genommen werden muss, um die Vielfalt der argumentativen Funktionalisierungen beschreiben zu können. Vieles bedarf der nochmaligen Prüfung im Besonderen der handschriftlichen Überlieferung. Dennoch lassen sich auch einige übergeordnete Schlussfolgerungen aus den vorge­ stellten Befunden ziehen: Jenseitsreisen als Quellen beispielsweise für die hochmittel­ alterliche Laienfrömmigkeit heranzuziehen, erscheint durchaus problematisch, doch bilden die Texte eine hervorragende Grundlage, um die monastische Vorstellungswelt zu erforschen. Im Zentrum der Visionstexte steht wie gezeigt oftmals die Demon­ stration der Überlegenheit monastischer Tugenden wie insbesondere der simplicitas.108 Dieses Ideal als ein zentrales monastisches Leitbild wurde von einigen Redaktoren bei

108 Zuletzt dazu Gemeinhardt, Sancta simplicitas?, bes. S. 256–258.

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der Zeichnung des Wesens der Visionäre sogar in den Mittelpunkt gestellt, um die Au­ thentizität des Gesehenen zu verbürgen. Die simplicitas lässt sich zwar bei den adeligen Protagonisten nur in Ansätzen fassen, doch sie spielt – von William abgesehen – bei Alberich und Orm und damit bei den Visionären im Kindesalter eine wichtige Rolle. Bei den beiden bäuerlichen Visionären Gottschalk und Thurkill steht die ausführliche Beschreibung dieses Wesenszugs sogar im Vordergrund.109 Aufgrund zahlreicher monastischer Reformbewegungen und des sich im 12. Jahr­ hundert weiter ausdifferenzierenden Mönchtums wurden neben grundlegenden mo­ nastischen Idealen in manchen Fällen wie in den Visionen Alberichs oder Heinrichs von Ahorn auch spezifische Reformziele bzw. ordensspezifische Werte propagiert, deren Einhaltung durch die Mönche und Nonnen von den Redaktoren unmissver­ ständlich eingefordert wurde.110 Diese Intention konnte, das zeigten die Beispiele Oweins und Gottschalks, überzeugend an Laien veranschaulicht werden. Ins Allge­ mein-Menschliche verallgemeinert werden konnten diese Werte beispielsweise durch die Figuren Tnugdal oder Thurkill, wohingegen bei Alberich und Heinrich von Ahorn spezifische Missstände in Klöstern direkt angesprochen wurden. Hierbei kam dem je­ weiligen Visionär nun eine gegenüber dem Frühmittelalter andere Funktion zu: Dieser war im 12. Jahrhundert nicht mehr das spirituelle Vorbild, sondern ein reuiger Sünder; die Vision war damit weniger Prophetie eines Begnadeten, sondern beschrieb in erster Linie Heilserfahrung, Erkenntnis und Läuterung – und dieser Gedanke ließ sich be­ sonders gut an Laien zeigen.111 Die sprachliche Form der Jenseitsreisen erscheint auf den ersten Blick paradox: Im Zentrum steht der Visionär, der als Ritter und noch mehr als Bauer und vor allem als Kind als unbedarft, einfältig und ungebildet gezeichnet werden kann. Er vertritt damit gerade nicht den Typus des gelehrten und urbanen Weltklerikers, der sich im Lauf des 12. Jahrhunderts zunächst an den Domschulen, dann an den Universitäten in den 109 Die Forschung hat zwar bereits die simplicitas als Merkmal bei der Darstellung von Visionären wie Orm und Gottschalk herausgearbeitet (vgl. Carozzi, Voyage, S. 585), dies aber nicht auf deren soziale Einordnung bezogen. Zudem wurde schon für die Vision des Bauern Thurkill betont, dass im Mittelalter die simplicitas des Visionärs als Argument für die Glaubwürdigkeit einer Jenseitsrei­ se genutzt wurde, vgl. Schmidt, Vision of Thurkill, S. 52; Watkins, Otherworld Journey, S. 101 f. Außerdem wurde auf biblische Parallelen (u. a. Hiob 1,1: erat vir ille simplex et rectus) und patristi­ sche Vorlagen wie Augustinus verwiesen, vgl. Carozzi, Voyage, S. 585, ohne dass die Forschung aber Bezüge zum monastischen Kontext dieses Leitbilds hergestellt hätte. 110 Für das Spätmittelalter konnte Mangei, Kartäuserorden, S. 313, zeigen, dass Visionen „gezielt als pragmatisches Reformschrifttum im Dienste der Klosterreform eingesetzt“ wurden. Gebauer, Visionskompilationen, S. 136, beobachtete für den Zisterzienserorden im 13. Jahrhundert, dass Sammlung und Abschrift von Visionen in erster Linie die unitas ordinis befördern sollten. Für das 12. Jahrhundert wären diese ordens- bzw. reformspezifischen Nutzungen noch weiter zu verfolgen. 111 Zu Darstellung der Konversion in der ‚Visio Tnugdali‘ vgl. Abschnitt 4 in diesem Beitrag und ins­ besondere die dort genannten Studien Weitbrecht, Welt; Benz/Weitbrecht, Formierung. Zum Themenfeld Konversion und auch zu christlichen Konversionskonzepten vgl. den Sammel­ band Weitbrecht/Röcke/Bernuth, Ereignis.

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Städten anschickte, die jahrhundertealte Tradition der monastischen Gelehrsamkeit zu überwinden, auch in Hinblick auf Konzeptualisierungen des Jenseits.112 Der Typus des ungelehrten Visionärs war – so die zentrale These dieses Beitrags – ein bewusster Gegenentwurf im Rahmen dieser aktuellen Herausforderungen für das hochmittelal­ terliche Mönchtum. Die monastischen Redaktoren wandten sich also gegen die neue gelehrte Theologie, und in der ‚Visio Thurkilli‘ wird im Epilog genau diese Front aufge­ macht, indem der Redaktor in seinen letzten Worten die in der Praxis unbrauchbaren, „unverständlichen und tiefsinnig brütenden theologischen Erörterungen“113 der neuen Gelehrten geißelt. Es sind nicht die scholastischen Denkgebäude der Theologen, son­ dern die Offenbarungen, so der Redaktor der Vision des englischen Novizen Edmund aus dem Jahr 1196, die Erleuchtung bringen: et fiunt certa, que dubia erant – was zweifel­ haft war, wird nun – durch die Visionen – gewiss.114 Anders als die bisherige Forschung glaubte, die das Auftreten von Laien als Visionäre im 12. Jahrhundert mit zukunftswei­ senden Phänomenen wie der Laienfrömmigkeit in Verbindung brachte, gebrauchten die monastischen Redaktoren dieses rückwärtsgewandte Argument für eine Bewah­ rung der Verhältnisse wie im Frühmittelalter und damit gegen aktuelle Veränderungen in der Theologie und Frömmigkeitspraxis. Doch zugleich, und dies ist die andere Seite des angesprochenen Paradoxons, sind die Visionsberichte in anspruchsvollem Latein abgefasst und erscheinen zum Teil hochkomplex in Hinblick auf die Modellierung von Zeit, Raum und Körper. Somit weisen sie eine große Kenntnis der Tradition auf und arbeiten mit differenziert ein­ gesetzten intertextuellen Verweisen. Diese Anpassung an die gelehrten Standards der Textsorte diente ebenfalls – auf einer sprachlichen Ebene – der Authentisierung des Geschilderten, denn nur in Überstimmung mit der Tradition konnte Glaubwürdigkeit erschrieben werden. Bei dem auch im Mittelalter prekären Glaubwürdigkeitsstatus von Jenseitsreisen stand die Demonstration der Authentizität der Vision vielfach im Zentrum der Darstellungsstrategien. Eine Möglichkeit war, das hatten die Beispiele gezeigt, den einfachen und einfältigen Visionär als Modell zu benutzen, sei es ein Kind, ein ungläubiger Ritter oder ein Bauer. Eine Jenseitsschilderung wurde mit dieser Stra­ tegie dann glaubwürdig, wenn gerade nicht ein religiöser Experte wie ein Mönch oder gar ein theologischer Experte wie ein Gelehrter von eigenen Offenbarungen berich­ tete, dem man unterstellen könnte, nicht aufgrund des Gesehenen, sondern anhand seines Buchwissens vom Jenseits zu berichten. Oftmals mit der Betonung der simplicitas wurde diese ‚Laien-Strategie‘ ab dem Hochmittelalter verstärkt verfolgt – dieser

112 Watkins, Otherworld Journey, S. 109, stellt die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Jenseits von Gelehrten und Nicht-Gelehrten im Mittelalter nebeneinander, ohne diese jedoch aufeinander zu beziehen. 113 Die Übersetzung folgt: Die Vision des Bauern Thurkill, S. 81. 114 The Revelation of the Monk of Eynsham, Prolog.

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nun verstärkt gegangene Weg der Authentisierung ist die eigentliche Neuerung bei der Gestaltung von Jenseitsreisen ab dem 12. Jahrhundert. Am Ende soll nochmals auf die mittelalterliche Gesellschaftsordnung zurückge­ kommen werden: Die Darbietung von Rittern und Bauern als Sünder, die sich nur langsam auf den Weg der Besserung begaben, bot den Mönchen und Nonnen die Möglichkeit, sich in bewusster Abgrenzung und sozialer Grenzziehung ihrer Identität und sozialen Zuordnung zu versichern. Doch wurden die Ritter und Bauern nicht nur als Gegenbilder eingesetzt, auch als exemplarische Vorbilder: Diese waren am Ende ihres Visionserlebnisses geläutert, auf ihrem Weg im Jenseits waren sie jedoch oftmals Ordensmitgliedern begegnet, deren Verfehlungen hart bestraft wurden – deutliche Mahnungen für die Rezipientinnen und Rezipienten der Texte in den Klöstern. Zu­ dem konnten die Laien als Kontrastfolie fungieren, dann nämlich, wenn im Jenseits für ähnliche Vergehen die Laien weit geringer bestraft wurden als Mönche und Nonnen, bei denen schon die kleinsten Verfehlungen immense Strafen nach sich zogen – auch hier besitzen Laien also eine Argumentationsfunktion, um Mönche und Nonnen von Normen und Idealen zu überzeugen. Die ‚einfachen Laien‘ als Visionäre jedoch bil­ deten keinen Gegenentwurf zum klösterlichen Leben, sondern dieses Profil ließ sich auf das Beste mit monastischen Idealen verbinden, vor allem mit der stets und im 12. Jahrhundert ganz besonders propagierten simplicitas. Die neuen Visionäre im Hochmittelalter dienten somit – dies das abschließende Fazit – in einer Phase innerer Herausforderungen des Mönchtums durch Reformbe­ wegungen und die Entstehung neuer Orden sowie in einer Epoche äußerer Herausfor­ derungen wie durch die neue urban-gelehrte Theologie der Orientierung und inneren Disziplinierung, aber auch der Selbstversicherung der Mönche und Nonnen. Orien­ tierung und Selbstversicherung – Diskurse über das Jenseits bildeten die soziale Re­ alität des Hochmittelalters also nicht ab, sie sollten vielmehr Identitäten stabilisieren und soziale Grenzziehungen erschaffen. Die Jenseitsreisen fungierten damit ebenfalls als Reflexion über die gegenwärtige Gesellschaft, nicht aus der Perspektive der Lai­ en, sondern aus der Sicht des Ordensklerus. Die Texte geben einen Einblick in einen monastischen Diskurs, wie die eigene Gruppe bestimmt, Identitäten gebildet und Ab­ grenzungen formuliert wurden. Sie waren eine Reflexion über die eigene Gegenwart, die komplexer war als eine Ordnung der Welt in drei Stände. VI. Ausblick Die Reichweite der hier zur Diskussion gestellten Ergebnisse sind von der zukünftigen Forschung zu überprüfen, wofür weitere Grundlagenforschung bei der editorischen Erschließung und der Sichtung der handschriftlichen Überlieferung notwendig ist. Zudem ist die Untersuchung zu erweitern auf Visionen, die nicht im engeren Sinn dem Feld der Jenseitsreisen zuzuordnen sind. Hierbei sind insbesondere Offenbarungen in

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den Blick zu nehmen, die in hagiographische und historiographische Werke inseriert wurden und die einen spezifischen Umgang mit Offenbarungen für Laien aufweisen, beispielsweise durch Lebensbeschreibungen laikaler Heiliger oder durch chronikali­ sche Berichte von Herrschern oder Adeligen, denen Visionen zugeschrieben wurden. Zu fragen wäre beispielsweise auch, ob die häufigere Erwähnung von laikalen Visi­ onären im 12. Jahrhundert mit einer Veränderung des sozialen Profils von Heiligen im Hochmittelalter zu parallelisieren ist.115 Weiterhin wäre zu untersuchen, in welchen Konstellationen die Argumentationsstrategie, laikale Visionäre zur Beglaubigung he­ ranzuziehen, verwendet wurde, mit welchen anderen Strategien dieses Vorgehen ver­ bunden wurde und wo die Grenzen einer solchen Strategie gesehen wurden. Die zukünftige Forschung könnte zudem den räumlichen Blick weiten, nicht zu­ letzt um überprüfen zu können, ob die verstärkte Erwähnung von Rittern wie Tnugdal und Owein, von Kindern wie Orm und William und des Bauern Thurkill als Visionäre ein spezielles Kennzeichen der englisch-irischen Tradition darstellt. Mit einer zeitlich vergleichenden Perspektive müsste für das Frühmittelalter überprüft werden, ob der Kreis der Visionäre tatsächlich so homogen war wie bislang angenommen. Mit weite­ ren Differenzkategorien wie Alter oder Geschlecht und deren Überschneidungen wird man auch hier zu tieferen Einsichten kommen. Ein besonderes Augenmerk müsste der Rezeption der Vision des Dryhthelm aus Bedas Kirchengeschichte (V, 12) gelten, dem zentralen Referenztext für laikale Visionäre wohl im gesamten Mittelalter.116 Für das Spätmittelalter sollte die zuletzt 2007 von der Kirchenhistorikerin Gwenfair Walters Adams weiter ausgefaltete, gleichwohl schon ältere These überprüft werden, dass die in der Volkssprache aufzeichneten Jenseitsvisionen Abbild spätmittelalterlicher Lai­ enspiritualität und Laienfrömmigkeit gewesen seien.117 Hier scheint jedoch Vorsicht geboten zu sein, vom Gebrauch der Volkssprache stets auf ein laikales Publikum zu

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André Vauchez hatte die These aufgestellt, dass im 12. Jahrhundert in der Hagiographie neue Rol­ lenbilder für Laien entworfen worden seien und der Kreis laikaler Heiliger sich über Könige und Königinnen hinaus deutlich erweitert habe, vgl. Vauchez, Sanctity, S. 31; Vauchez spricht von „new lay saints“, vgl. ebd., S. 32. 116 Im Folgenden zitierte Edition: Bede’s Ecclesiastical History. Auch Beda thematisiert die soziale Einordnung des Visionärs nur knapp zu Beginn der Rahmenhandlung, nach welcher Dryhthelm als pater familias äußerst fromm in einem Dorf (villula) mit Frau und Söhnen gelebt habe; sein Name wird nur an einer Stelle am Ende des Berichts als Mönchsname genannt, als Dryhthelm nach seiner Vision in das Kloster Melrose eingetreten war (V, 12). Hochmittelalterliche Jenseits­ reisen konnten sich wie die Vision des Eadulf in Symeons von Durham ‚Historia Dunelmensis ecclesiae‘ direkt auf Bedas Vision des Dryhthelm berufen (III, 23, S. 212), in Visionssammlungen wie in Heliands von Froidmont ‚Chronicon‘ gemeinsam mit dem Auszug aus Beda stehen, vgl. Wilson, Dissemination, S. 263, oder in Sammelhandschriften neben der Vision des Dryhthelm aufgenommen worden sein, wie beispielsweise die Handschrift Oxford, Bodleian Library, Fairfax 17, mit der Vision des Orm aus dem späten 12. Jahrhundert belegt, vgl. Farmer, Einleitung zu: The Vision of Orm, S. 72. 117 Dies ist die zentrale These in Walters Adams, Visions; zugespitzt wird sie formuliert ebd., S. 4 und 205–209.

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schließen.118 Diese Annahme ist schon für die volkssprachlichen Übersetzungen der ‚Visio Tnugdali‘ des ausgehenden 12. Jahrhunderts nicht uneingeschränkt zutreffend, gehört doch beispielsweise die Übersetzung des Priester Alber auch in den Kontext der Klosterschule des Doppelklosters Windberg bei Straubing.119 Und selbst das Cor­ pus an volkssprachlichen Übersetzungen von Jenseitsreisen des 15. Jahrhunderts aus dem nordbairisch-ostfränkischen Sprachraum, die beispielsweise in Handschriften aus dem Augustinerchorfrauenkloster Pillenreuth oder dem Nürnberger Dominika­ nerinnenkloster St. Katharina dokumentiert sind, wurde in monastischen Kontexten rezipiert und diente, so vergleichbare Forschungen Nigel Palmers zum südwestdeut­ schen Raum,120 der Ordensreform und der Durchsetzung der strengen Observanz in Klöstern – und damit gerade der Distanzierung der monastischen Welt von den Laien: nicht anders als im Hochmittelalter. Bibliographie Quellen Bede’s Ecclesiastical History of the English People, hg. und übers. v. Bertram Colgrave / R. A. B. Mynors (Oxford Medieval Texts), Oxford 21991. De Purgatorio Sancti Patricii, hg. und übers. v. Maximilian Benz (Mittellateinische Bibliothek 6), Stuttgart 2020. Die Visio Walteri, hg. v. Paul Gerhard Schmidt, in: Runica – Germanica – Mediaevalia, hg. v. Wilhelm Heitzmann / Astrid van Nahl (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germa­ nischen Altertumskunde 37), Berlin/New York 2003, S. 719–726. Die Vision des Bauern Thurkill. Visio Thurkilli mit deutscher Übersetzung, hg. und übers. v. Paul Gerhard Schmidt, Weinheim 1987. Die Vision des Heinrich von Ahorn und das Kloster St. Georgenberg, hg. und übers. v. Robert Plötz / Hedwig Röckelein, in: Stadt und Pilger. Soziale Gemeinschaften und Heiligenkult, hg. v. Klaus Herbers ( Jakobus-Studien 10), Tübingen 1999, S. 29–68.

118 So unisono die Position der Forschung zu den beiden volkssprachlichen Übersetzungen der ‚Vi­ sio Tnugdali‘, also zu dem sog. ‚Niederrheinischen Tundalus‘ bzw. dem sog. ‚Mittelfränkischen Tundalus‘ und zur Fassung Albers von Windberg, die für ein adelig-ritterliches Laienpublikum übersetzt worden seien, vgl. beispielsweise Palmer, Visio Tnugdali, S. 33 und 36; Düwel, Visio Tnugdali, S. 537 und 541; Düwel, Lohn- und Straforte, S. 95; Pfeil, Vision, S. 24 f. und 36. Nach Ehlen, Vision, S. 264 f., lässt Volkssprachlichkeit bei Visionen im 12. Jahrhundert auf ein Laienpu­ blikum schließen, vgl. hierzu die Übersicht über die Forschung bei Bihrer, Bearbeitungspraxis, S. 108 f. 119 Zur volkssprachigen Fassung der ‚Visio Tnugdali‘ Albers von Windberg vgl. zuletzt Palmer, Visio Tnugdali, S. 35–41; Pfeil, Vision; Weitbrecht, Welt, S. 170–182. 120 Vgl. hierzu Palmer, Visio Tnugdali, hier insbesondere die umfassende Zusammenstellung von volkssprachlichen Visionsberichten bzw. Übersetzungen vor allem des Spätmittelalters im Anhang der Studie, vgl. ebd., S. 401–420.

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Derweil im Diesseits Der Leib des Visionärs in der Rahmenerzählung von Jenseitsreiseberichten* Karolin Künzel

Die Anwesenden wunderten sich darüber also allzu sehr und waren wegen des Schwan­ kens [der Gesichtsfarbe] unsicher, ob er [Orm] tot oder lebendig war. Auch die Diener des Hauses [waren] ebenfalls [unsicher und], durch bäuerliche Schlichtheit getäuscht, trugen sie jenen hierhin und dorthin in törichter Arbeit im Haus herum. Und immer, wenn sie ihn einmal auf den nackten Boden oder auf Stroh legten, sagten sie, dass jener [Orm] [hier] nicht sterben könne, weder an diesem noch an jenem Ort.1

Diese Stelle entstammt der ‚Vita et Visio et Finis Simplicis Orm‘, einem Jenseitsreise­ bericht2 des Jungen Orm, den seine Vision 1125/1126 im nordenglischen Howden ereilt und ihn ganze 13 Tage und Nächte entrückt haben soll. Er ist gerade einmal 13 Jahre alt, als er seine Vision nach längerem Siechtum durchlebt. Zudem wird er als wenig gebildet dargestellt: So ist er zum Beispiel weder des Lesens mächtig noch hat er je

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Dieser Aufsatz wurde im Rahmen meines Dissertationsprojektes zu lateinischen Jenseitsreisebe­ richten des 12. und frühen 13. Jhds. mit einem Schwerpunkt auf (West-)Europa erarbeitet. Der Fokus liegt auf den Paratexten (zur Begrifflichkeit vgl. Anm. 7 in diesem Beitrag) und v. a. auf dem Körper des Jenseitsreisenden, hierbei, wie auch in diesem Aufsatz, auf dem irdischen Leib und weniger der Seelenkörper. Im Folgenden wird darauf hingewiesen, wenn einige Sachverhalte in der Dissertation eingehender verhandelt werden. Orm, Kap. 2, S. 77: Mirabantur ergo nimis qui aderant, et utrum viveret an mortuus esset ancipiti fluctuatione hesitabant. Famuli quoque domus, rustica simplicitate decepti, illum huc atque illuc in domo stulto labore deferebant, dicentes eum non posse mori in illo aut in illo loco, quandoque supernudam terram, quandoque super stramenta illum deponentes [Übers. d. Verfasserin und Rike Szill]. Einleitendes und Allgemeines zum Thema Jenseitsreiseberichte in kompakter Form: Däumer, Vision, S. 463–476.

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Bildung hinsichtlich der Liturgie erfahren, jedoch hat er großes Interesse an dieser und gilt generell als sehr fromm.3 Aufgeschrieben wurde das Erlebte von einem Priester namens Sigarus in einem Brief, der an einen gewissen Symeon von Durham adressiert war und von einem Mit­ bruder namens Aldredus übermittelt wurde.4 Der hier vorliegende Text basiert auf einer Überlieferung dieser Vision im Codex Bodl. Fairfax 17 aus dem 12. Jahrhundert und lässt eine monastische Rezeption vermuten.5 Sigarus gibt an, die Informationen höchstpersönlich in Gesprächen von Orm erhalten zu haben.6 Dabei fällt auf, dass Si­ garus sich in einer ausführlichen Rahmenerzählung mit einem Schwerpunkt auf dem Diesseits scheinbar verliert, geht es doch eigentlich um die Jenseitserzählung Orms. In diesem Paratext,7 der die Jenseitsreise umfasst,8 beschreibt Sigarus in aller Ausführ­ lichkeit, wie es Orm vor, während und nach der Vision erging. Mit dem eingangs ge­ nannten Zitat erfasst Sigarus das zentrale Problem, welches nahezu alle Jenseitsreise­ berichte gemein haben: Was passiert mit dem Körper, dem Leib,9 während die Seele durch das Jenseits reist? Das Eingangszitat zeigt, dass der Zustand Orms sein Umfeld im Diesseits in Ver­ wirrung zurücklässt. Der Leib erscheint entseelt: corpus remanisset exanime,10 jedoch nicht entseelt genug, um tatsächlich als tot identifiziert zu werden. Es scheint Sigarus wichtig, diesen Umstand umfassend zu erläutern. Denn offenbar reicht es nicht, nur zu erwähnen, dass eine Person gerade eine Vision ereilt, oder auch nur das Erlebte im Jenseits zu schildern. Vielmehr liegt der Fokus auf dem Leib des Visionärs und dem 3 4

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Farmer, Einleitung, S. 72–75; Orm, Kap. 2, S. 76 f. Die Frömmigkeit zeigt sich z. B. durch das frei­ willige Einhalten der Fastenzeit sowie durch die Armenspeisung, vgl. ebd., S. 77. Farmer, Einleitung, S. 73; Orm, Kap. 2, S. 76. Bzgl. der Identität von Symeon wird angenommen, dass es sich um denjenigen Symeon von Durham handelt, der u. a. für den ‚Libellus de Exordio atque Procursu istius hoc est Dunhelmensis Ecclesie‘ verantwortlich war, vgl. dazu Rollason, Introduction, S. xlii–xliv, lxxx (Reputation); Symeon, Libellus, S. 10 n. 42, sowie Farmer, Einlei­ tung, S. 72 f. Farmer, Einleitung, S. 72 f. Orm, Kap. 1, S. 76, Kap. 7, S. 82. Genette, Paratexte, S. 9–21, beschreibt die Variabilität und Vielfalt von Paratexten, die zu jeder Epoche anders ausgestaltet sein können und somit keine feste Form aufweisen. Diese Untersu­ chung verwendet für die spezielle Textart der Jenseitsreiseberichte eine eigene Definition, nutzt aber den dafür passenden Begriff des Paratextes, der m. E. die die Visionsberichte umfassende Rahmenhandlung (Erläuterungen des Redaktors, Vorworte, Epiloge, Geschehen im Diesseits, Leseanweisungen) gut beschreibt. Eine treffende Definition, welche sich gut auf die Erzählungen zwischen Jenseits und Diesseits anwenden lässt, liefern Kolb/Preisig/Welter, Dynamiken, S. 10: „‚Para‘ beschreibt als antithetische Vorsilbe etwas, das nicht nur gleichzeitig auf beiden Sei­ ten der Grenze zwischen Innen und Außen angesiedelt ist, sondern auch die Grenze als solches markiert.“ Orm, Kap. 1, 2, 7, 8, enthalten den Paratext, ebd., 3, 4, 5, 6, beinhalten Orms Erzählung seiner Reise. Da die Seele auch in einer bestimmten und z. T. sehr körperlichen Form im Jenseits weilt, möchte ich den diesseitigen Körper, um etwaigen Verwirrungen zuvorzukommen, fortan als Leib bezeich­ nen. Orm, Kap. 2, S. 77.

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Umgang mit diesem durch anwesende Personen im Diesseits.11 Die ‚Visio Orm‘ steht damit stellvertretend für ein großes Korpus an Jenseitsreisetexten, die eine ganz ähnli­ che Struktur aufweisen: Der Leib bildet ein zentrales Element der Erzählung.12 So befasst sich zum Beispiel der Redaktor des ‚Tractatus de Purgatorio Sancti Pa­ tricii‘ in seinem Vorwort sehr intensiv mit der Situation und Funktion des Leibes.13 Er führt an, dass der Leib unter anderem eine Projektionsfläche für geistige Vorgänge sei, denn der diesseitige Mensch kenne ja nur seinen Leib und könne nur solch kör­ perliche jenseitige Zeichen verstehen.14 Diese starke Fokussierung auf den Leib im Vorwort lässt sich damit erklären, dass der ‚Tractatus‘ sozusagen ‚aus der Reihe tanzt‘: Nicht die Seele des Visionärs tritt in das Jenseits über, sondern der Visionär in der be­ kannten Einheit aus Leib und Seele.15 Warum aber werden in denjenigen Jenseitsreiseberichten, in denen lediglich die Seele eines Visionärs das Jenseits besucht, dem Diesseits und dem Leib so viel Platz eingeräumt? Sind die Körper, wie bereits im ‚Tractatus‘ angedeutet, bloße Projekti­ onsflächen, um theologische Konzepte wie die Auswirkungen eines aus christlicher Perspektive guten oder schlechten Lebens anschaulich anhand von jenseitigen Strafen oder Belohnungen zu zeigen16 oder hat die Thematisierung der Körper noch weitere Funktionen?

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Anders verhält es sich z. B. beim bereits erwähnten Symeon von Durham, welcher in seinem ‚Li­ bellus‘ ebenfalls Jenseitsreisen einbaut. Bei der Vision des Boso wird auf eine lange Hinführung zur Vision verzichtet, es erfolgt lediglich ein knapper Hinweis auf eine Krankheit und den eingangs erwähnten sonderbaren Zwischenzustand, vgl. Symeon, Libellus, S. 247 f. Es scheint also, dass es im monastischen Umfeld abhängig vom Zweck, den die Jenseitsreise erfüllen sollte, nicht zwin­ gend notwendig war, den Zustand immer detailliert zu erläutern. Es genügte ein Verweis auf eine körperliche Anomalie. Genaueres dazu wird im Dissertationsprojekt erläutert. So z. B. auch in der sog. Eynsham-Vision wie auch in der ‚Visio Thurkilli‘, die beide in diesem Beitrag noch behandelt werden. Dass die Frage um den Verbleib von Leib und Seele bereits in frühmittelalterlichen Texten von großer Bedeutung war, zeigt sich beispielsweise in der ‚Visio Drycthelmi‘, vgl. VD, Kap. V.12, S. 488–505, oder in der ‚Visio Baronti‘, VB, S. 368–394, mit einer englischen Übersetzung bei Hillgarth, Christianity. Auch in Kontexten außerhalb des christ­ lichen Westeuropas werden Jenseitsreiseberichte – wenn auch ganz anders – behandelt, vgl. dazu für Byzanz den Beitrag von Rike Szill in diesem Band. TPSP, S. 2–7. TPSP S. 5–7. Benz, Tractatus, S. XIIf. An anderer Stelle erläutert Benz am ‚Tractatus‘, inwieweit ein Wandel in der Erfahrbarkeit von Transzendenz, insbes. am Beispiel von jenseitigen Strafen und des Ver­ hältnisses von Seele und Leib zum Hochmittelalter stattgefunden hat, wobei er die Erzählung in eine enge Verbindung zu den Gedanken Hugos von Sankt Viktor setzt, der neue scholastische Überlegungen aufgestellt hat. Darin werden im ‚Tractatus‘ das Sehen und das Empfinden des Jen­ seitigen gleichgesetzt und gelten gleichermaßen als Interpretationsleistung und nicht als Bericht, vgl. ders., Gesicht und Schrift, S. 207–227. Didaktischer Aspekt: Benz, Tractatus, S. XVIII; Weitbrecht, Reise, S. 148–154; auch schon in der ‚Visio Pauli‘ zeigt sich die moralisch-didaktische Tendenz: Zaleski, Otherworld, S. 27.

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I. Forschungsüberblick und Vorgehen Grundsätzlich sind die Themenkomplexe Tod, Jenseits und Körper in der Forschung verschiedener Disziplinen etabliert; auch zu Jenseitsreisen sind in den letzten Jahren neue innovative Ansätze entstanden.17 Besonders der Körper fand und findet im aktu­ ellen wissenschaftlichen Diskurs immer wieder Beachtung. Hierbei ist besonders das Körper-Seele-Verhältnis hervorzuheben, welches vor allem anhand spätantiker und scholastischer Schriften untersucht wurde.18 Folgte man lange Zeit der Annahme, dass Körper, also Leib und Seele, auch schon im frühen und hohen europäischen Mittelal­ ter grundsätzlich verschiedene Elemente sind, die sich konträr und hierarchisch ver­ halten (Seele über Leib),19 so wird dieses Verhältnis in jüngeren Studien umgedeutet: Der Leib erfüllt eine andere Funktion als die Seele, dennoch bilden sie eine Einheit, die mintunter als Identität gedeutet wird.20 Was allerdings fehlt, ist eine vollständige Darstellung des Leibs im Interim, also während sich der Visionär in einer Art Zwischenzustand befindet, wie es eingangs umrissen wurde. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Paratexte, also auf die Rah­ men der Jenseitsepisoden, anstatt auf die Visionserzählung an sich fokussieren, auch wenn eine Analyse letzterer ebenfalls ein Desiderat darstellt. Denn während in der Forschung bezüglich Jenseitsreisen der ‚Raptus‘ mit weiterem Fokus auf der Seele und ihrer Wanderung durch die Jenseitswelt schon viel Beachtung fand, wurden der im Diesseits verbliebene Leib sowie auch die Rahmenhandlung, die die Jenseitserzäh­ lung einbettet, bisher lediglich am Rande erwähnt.21 Dies verwundert, nehmen die Pa­ ratexte in der Regel doch einen signifikanten Teil der Erzählung ein. Einen ähnlich starken Wandel erlebt die Forschung zum Thema Tod und Sterben. Die negative Auffassung von Tod wich seit Ariès einer Annahme einer gewissen Ver­ trautheit, die sich im Mittelalter herausbildete, die sich bis heute sukzessive ausdiffe­

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Exemplarisch für die Bedeutung des Jenseitsraums: Benz, Gesicht und Schrift; Weitbrecht, Reise; überlieferungsgeschichtlich: Wilson, Dissemination. Angenendt, Religiosität, S. 257–259; ausführlich: Bynum, Resurrection, S. 117–156; Goetz, Gott und die Welt, S. 421–430. Angenendt, Religiosität, S. 238 und 686 f. Die Kritik an der Hierarchisierung von Leib und Seele findet sich u. a. bei Bynum, Resurrection, S. xvi; Schmitz-Esser, Furcht, S. 176 f., spricht von einer „psychosomatische[n] Einheit“, weist gleichzeitig aber auch auf den Wandel im zeitgenössischen Denken hin: Im 12. Jhd. wird begonnen, die Einheit von Körper und Seele anders zu denken, vgl. ebd., S. 180. Peter Dinzelbacher veröffentlichte eine Studie zum Zustand der Visionäre, in welcher er auf die körperlichen und seelischen Zustände eingeht und diese im Sinne der Psychohistorie deutet und kategorisiert. Die Studie bezieht sich exemplarisch auf verschiedenste Visionsereignisse vom Frühbis ins Spätmittelalter: Dinzelbacher, Körperliche und seelische Vorbedingungen, S. 57–86. Er folgt dabei eng Benz, Vision, dessen Kategorien er aufnimmt und dessen ältere psychohistorische Ansätze er erweitert. Auch Bynum, Resurrection, S. 291–305, fokussiert sich auf die Verkörperung der Seele.

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renziert.22 Gleichzeitig wuchs eine vermeintliche Angst vor Wiedergängern und auch vor dem, was ein Individuum im Jenseits zu erwarten habe.23 Diese Annahme aber be­ dingt, dass der Tod nicht zum alltäglichen Leben einer mittelalterlichen Gesellschaft gehöre. Neuere Studien setzen daher an Praktiken und Ritualen an, anhand derer sie die konträre Forschungstendenz bestätigen, dass der Tod im Mittelalter eben keine Angst erzeugte. So zeigte zum Beispiel Romedio Schmitz-Esser eindrücklich anhand eines Beispiels von Begräbnissen und Friedhöfen, dass die Lebenden und Toten in zumeist friedlicher Gemeinschaft miteinander verblieben und Grabstätten sowie Rituale dem Schutz der gestorbenen Personen galten und eben nicht der Aus- bzw. Abgrenzung der Lebenden. Der tote Leib, oder besser der entseelte Leib, blieb also Teil der mittelalterlichen Gesellschaft, waren Leichen beispielsweise doch weiterhin rechtsfähig.24 Gleichwohl weist das 12. Jahrhundert hier keine eindeutigen Ergebnisse auf, sondern unterliegt großer Variabilität, also zum Beispiel regionalen Traditionen.25 Vor diesem Hintergrund ließe sich die Angst vor dem Tod bzw. Jenseits auch in eine Sorge um das Seelenheil umdeuten. Das betrifft nicht nur das eigene Seelenheil, wel­ ches im Verlauf des Mittelalters eine immer persönlichere Natur mittels praktischer Anleitungen zum guten Sterben erfährt.26 Es wird auch ‚den Anderen‘ ermöglicht, sich um Verstorbene zu sorgen. Ein direkter Hinweis dazu findet sich bereits in der hochmittelalterlichen ‚Vita et Visio et Finis Simplicis Orm‘. Orm berichtet, dass er im Himmel auf eine Jungfrau getroffen sei, deren Vater nach ihrem Tod viele Almosen in ihrem Namen vergibt.27 Im eingangs angeführten Zitat zeigen sich sowohl die Tendenz, dass Tote keine Ab­ lehnung oder Angst auslösen, sondern in der Mitte der Gesellschaft einen Platz haben, als auch die Sorge um das Seelenheil eines Mitmenschen. Die Diener räumen Orm im Haus hin und her. Er befindet sich also nach wie vor an dem diesseitigen Ort, an welchem er sich vor seiner Ekstase befand, und wurde nicht zum Sterben an einen anderen Ort verlegt, auch wenn die Diener des Hauses versuchten, einen – in ihrer

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Angenendt, Religiosität, S. 661; Ariès, Tod, S. 160–166; Schäfer, Geschichtswissenschaft 1.1, S. 5 f. Angenendt, Religiosität, S. 703–716; Wiedergänger: Black, Animated Corpses, S. 71–92. Schmitz-Esser, Furcht, S. 165–182, bes. S. 165–170, S. 177 und S. 181 f.; ders., Leichnam, S. 431– 434; wenn auch nicht zum Thema Jenseitsreisen, aber jüngst zum Tod von Königen und Kaisern in historiographischen Schriften des Hochmittelalters: Kamenzin, Tode; Leichnam als Rechtssub­ jekt: Schmitz-Esser, Leichnam, S. 405–430; Frenschkowski, Begleitung, S. 21 f., sieht dage­ gen Rituale und Begräbnisse als deutliche Abgrenzung der Toten von den Lebenden, die sich zur Neuzeit hin entwickelt. Schmitz-Esser, Furcht, S. 172; zur Variabilität von Offenbarungstexten und Jenseitsreiseberich­ ten: Bihrer, Variable Offenbarungen, S. 241–262. Zum Umgang mit Jenseitsreiseberichten im Spätmittelalter vgl. den Beitrag von Patrick Nehr-Ba­ seler in diesem Band. Orm, Kap. 3, S. 78 f.

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Mitte – geeigneten Ort für ihn zu finden. Die Sorge um das Seelenheil Orms äußert sich durch die Unwissenheit der Anderen, wie sie mit Orm verfahren sollen. Sie erken­ nen, dass der Leib anders ist, und versuchen zum Beispiel durch die eben beschriebe­ ne Bewegung des Leibes, einen Zustand herbeizuführen, der ihn in einen bekannten ‚Normalzustand‘ – also eindeutig tot oder lebendig – überführt, was aber an dieser Stelle misslingt. Was geschieht aber mit dem Leib, was wird mit ihm gemacht, während die See­ le in einer körperlichen Form, mit der sie auch empfinden kann,28 durch das Jenseits wandert? Um die eingangs gestellte Frage zu wiederholen: Warum geht der Redak­ tor der Jenseitsreiseberichte nicht direkt in medias res, wenn er doch die Jenseitswelt schildern möchte, und verliert sich in einer ausführlichen Rahmenerzählung über den Leib? Die These dieses Beitrags lautet, dass sich hinter dieser ausführlichen Schilde­ rung Authentisierungsmechanismen des Redaktors verbergen, die die herkömmliche Quellenauthentisierung durch das Mittel der leiblichen Erfahrung ergänzen.29 Bereits häufiger erforscht wurden Authentisierungsmechanismen in Jenseitstexten in Bezug auf die ‚Echtheit‘ der Vision.30 ‚Echt‘ ist in diesem Sinne durchaus wörtlich zu ver­ stehen, wurde doch versucht, die Historizität der in den Texten genannten Personen und damit den Wahrheitsgehalt der Vision zu belegen.31 Für die Authentisierung des Textes ist dieses Vorgehen an sich jedoch nicht nötig. Der Redaktor erzeugt bereits Authentizität, indem er ein Personennetzwerk skizziert, welches ein Beziehungsge­ flecht ausgerichtet auf den Visionär darstellt. Damit könnte das Szenario also durchaus real, aber selbst für die Zeitgenossen schwer nachzuprüfen gewesen sein, da jene die in den Texten genannten Personen hätten ausfindig machen müssen. Dieses Vorge­ hen findet sich zum Beispiel in Bedas frühmittelalterlicher ‚Visio Drycthelmi‘:32 Beda schrieb, dass die Vision eines Mönchs namens Hæmgisl, der nun als Einsiedler irgend­ wo in Irland weilt, zuvor aber mit Drycthelm gemeinsam im Kloster Melrose gelebt habe, mündlich verbreitet wurde. Der Visionär berichtete Hæmgisl auf dessen Nach­ frage häufiger von seinem Gesicht. Auch führt Beda König Aldfrith an, der sich die Erzählung gern anhörte. Er lässt hingegen offen, ob er die Informationen direkt von Hæmgisl bezog oder ob jener zunächst anderen berichtete, die das Wissen dann an Beda weitergaben. Dieses Netzwerk an Personen beherbergt sicher einige historisch

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Empfindungen zeigen sich bereits im Frühmittelalter, so z. B. bei Furseus, dessen Seele im Jenseits eine Wunde zugefügt wurde: VF, S. 272–275. Auch findet sich dies im Hochmittelalter bei Tnug­ dalus, dessen Seele sogar einige Strafen durchlaufen muss und Angst hat, exemplarisch dafür: VT, Kap. 8, S. 108–115. Freilich verbergen sich hinter der Schilderung des Leibes noch weitere zu analysierende Elemente, die Eingang in das Dissertationsvorhaben finden. Für diesen Aufsatz wird nur die Authentisierung eingehender untersucht. Dinzelbacher, Jenseits, S. 63–72. So z. B. Assmann, Einleitung, S. 9–17; Haren/Pontfarcy, Medieval Pilgrimage, S. 7–34. VD, S. 488 f., S. 496–499: Der folgende Abschnitt bezieht sich inhaltlich auf diese Seiten.

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nachzuweisende Menschen, allerdings ist dieses Geflecht sehr schwer nachzuvollzie­ hen, da sowohl Einsiedler als auch König nicht direkt zugänglich und zu befragen sind. Dennoch erzeugt Beda als Redaktor einen grundsätzlich plausiblen Weg der Informa­ tionsvermittlung, welcher so Authentizität stiftet. Bei anderen, jüngeren Visionstexten wird dieses Geflecht dann deutlich reduziert und auch konkretisiert: In der ‚Visio Thurkilli‘33 oder auch, wie eingangs bereits an­ gedeutet, der ‚Vision des Orm‘ geben die Redaktoren an, sich jeweils direkt mit dem Visionär nach seiner Jenseitsreise unterhalten zu haben – sie erhielten also eine Infor­ mation aus erster Hand.34 Diese Herangehensweise wirft allerdings ein neues Problem hinsichtlich des im Diesseits verbliebenen Leibes auf: Der Visionär befindet sich ja entrückt und damit bewusst im Jenseits – der Redaktor muss also von anderen Perso­ nen erfahren haben, was derweil mit dem Leib des Visionärs im Diesseits geschehen ist.35 Diese Informationen baut der Redaktor trotz der Fokussierung auf die direkte Zeugenschaft recht umfangreich ein. Der folgende Beitrag soll also die bislang in der Forschung offene Frage beant­ worten, warum der Leib sowie das ‚Gesicht der Anderen‘ in Jenseitsreisen intensiv beschrieben werden und zur Authentisierung der Texte dienlich sind. Dies soll an­ hand von Ausschnitten aus der Rahmenhandlung der ‚Vision des Orm‘ geschehen. Die Textstellen werden anschließend weiteren Ausschnitten aus den Rahmenhandlungen der ‚Visio monachi de Eynsham‘36 und der ‚Visio Thurkilli‘ gegenübergestellt. Diese Jenseitsvisionen stammen zwar alle aus dem englischen Raum, ermöglichen aber we­ gen der zeitlichen Differenz ihrer Entstehung vom frühen bis späten 12. bzw. frühen 13. Jahrhundert einen diachronen Vergleich und eröffnen so Einblicke in die Beschäfti­ gung der Zeitgenossen mit den Körpern der Visionäre. II. Der Leib des Jungen Orm Der Paratext beginnt mit einer geographischen wie zeitlichen Einordnung des Gesche­ hens.37 Sodann rückt auch schon der Protagonist in das Zentrum der Erzählung, der fromme Junge Orm. Er wird als ungebildeter Laie beschrieben, dennoch scheint die Familie einen höheren sozialen Rang innezuhaben, wird doch im Verlaufe des Textes

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Es wird die Edition mit deutscher Übersetzung von Schmidt verwendet: VThur. Orm, Kap. 1, S. 76, Kap. 7, S. 82; VThur, S. 20 f. Dies zeigt das Eingangszitat dieses Aufsatzes: Orm ist zu dem Zeitpunkt bereits entrückt und wandert im Jenseits, wohingegen genauestens beschrieben wird, wie es seinem Leib im Diesseits erging. Es wird das Manuskript der B-Fassung der Lambeth-Palace Library verwendet: VEME. Zur Ein­ ordnung in den Rezeptions- und Überlieferungskontext: Bihrer, Visio, S. 9–30. Orm, Kap. 1, S. 76, Kap. 2, S. 76 f.

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von Dienern gesprochen.38 Das wenige Wissen erhält der illiterate Junge über den lo­ kalen Priester, er merkt sich vorgetragene Gebete, hält gegen den Willen seiner Familie die Fastenzeit ein und lebt nach bestem Wissen und Gewissen ein sehr mustergültiges christliches Leben, indem er zum Beispiel das ihm von seinen Eltern während der Fas­ tenzeit dargereichte Brot als Almosen an die Armen verteilt.39 Doch dann ereilt ihn eine heftige Krankheit, an welcher er acht Wochen lang unter starken Schmerzen litt. Diese Krankheit beschreibt der Redaktor als eine molestia corporalis, also ein explizit körperliches Unwohlsein.40 Zuvor wurde auch schon von Sigarus angeführt, dass er den Jungen sehr oft befragt habe, um zu überprüfen, ob dieser sich auch ja nichts aus­ gedacht habe, wie es Jungen in dem Alter eben manchmal machen.41 In diesen Kontext passt zudem das Beharren auf die eben beschriebene große Frömmigkeit und den aus christlicher Perspektive vorbildlichen Lebensstil Orms. Er ist also Herr seiner Sinne, nur sein Körper funktioniert nicht mehr wie gewohnt. Ferner erfolgt der Austritt sei­ ner Seele von den Anderen unbemerkt, sodass jene erst am nächsten Morgen feststel­ len, dass er nicht mehr nur krank und schwach ist, sondern tot bzw. schlafend. Orms Seele wird dann von seinem angelus interpres, dem Erzengel Michael, durch das Jen­ seits geführt, bevor sich Leib und Seele wieder vereinen. Sigarus befragt ihn schließ­ lich und etwa ein halbes Jahr später verstirbt Orm an seiner Krankheit, die sich nach der Vision verschlimmert hat.42 Der Hinweis auf den körperlichen Verfall wird sehr wichtig, als Orms Seele wieder in den Leib zurückgekehrt ist und er aus seiner Ekstase erwacht. Der Eintritt geschieht nämlich nicht so unbemerkt wie der Austritt: Als also die dreizehnte Nacht vorrüberging, etwa um Mitternacht, erwachte er wieder zum Leben und [auch] die Haut erwärmte sich. Er warf seine Arme hin und her, richtete sich – durch irgendeine Kraft konnte er es – auf, sah sich um und wachte wie aus einem schweren Schlaf auf. Seine Wächter aber, die von dem allzu großen Schock [noch ganz] fassungslos waren, glaubten, dass jener wahnsinnig geworden oder als Geist zurückgekehrt war.43

Er wacht also auf und schlägt heftig um sich, obwohl er fast zwei Wochen lang in Eks­ tase war und zuvor schon zu schwach gewesen ist, als dass er von seinem Krankenlager

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Zum Stand von Orms Familie: Farmer, Einleitung, S. 73 f.; zur Bedeutung der Laien vgl. den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. Orm, Kap. 2, S. 76 f. Orm, Kap. 2, S. 77. Orm, Kap. 1, S. 76. Orm, Kap. 2, S. 76–78 (Frömmigkeit und Seelenaustritt sowie Nennung Michaels als angelus interpres), Kap. 3–6, S. 78–82 ( Jenseitswanderung), Kap. 7–8, S. 82 (Befragung sowie Tod). Orm, Kap. 2, S. 77 f.: Tercia decima igitur nocte superveniente, circa mediam eiusdem noctis horam, redeunte spiritu et recalescentibus menbris reviviscens, iactabat brachia huc atque illuc, erexitque se qua vi potuit, circumspiciens et quasi de gravi sompno evigilans. Custodientes autem illum, nimio stupore perculsi, insanum esse vel fantasmate resurgentem estimabant.

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hätte aufstehen können.44 Diese heftigen Bewegungen stehen im deutlichen Kontrast zu seiner molestia corporalis. Und hier kommen ‚die Anderen‘ ins Spiel: Denn diese fürchten sich zunächst vor Orm, wie es wortwörtlich beschrieben wird. Und das liegt an seinem Zustand und der großen Unsicherheit,45 was mit Orm denn in der Zwi­ schenzeit geschah. Es wird in der Textstelle beschrieben, wie sich seine Haut erwärmt und er anfängt, sich wieder zu bewegen, seine Augen sind wieder geöffnet. Sein pre­ kärer Zustand sowie die Zweifel daran, ob er denn nun noch lebe oder tot sei, werden nämlich anhand seines Leibes beschrieben, wie im Folgenden eingehender erläutert wird. Das Ergebnis der bisherigen Beobachtungen ist nicht zufriedenstellend, denn es lässt sich nicht in bekannte Schemata einordnen, wie sich im Folgenden zeigt: „Als diese Woche zu Ende ging, in einer bestimmten Nacht, etwa beim Ruf des Hahnes, schien es allen Anwesenden, dass der lebendige Geist von ihm gänzlich gewichen und sein Körper entseelt zurückgeblieben war.“46 Es zeigen sich erste Hinweise auf das, was mit ihm passiert zu sein scheint. Die zunächst logische Konsequenz aus dem ersten Gedanken, Orm sei gestorben, ist natürlich das Begräbnis einzuleiten: „Und als sie nach kurzer Zeit jenen [Körper] nach Art der Toten einhüllen wollten, bemerkten sie, dass ein feiner Atemzug aus seiner Nase strömte und dass um seine Brust herum ein kleinwenig Leben zu sein schien.“47 Dabei aber stellen die Anderen fest, dass Orm gar nicht tot ist, denn er zeigt Zeichen von Leben, nämlich Atem, wenn auch nur ganz leicht. Das Lebenszeichen in der Brust wird nicht genauer definiert, es wird lediglich als Anomalie von dem klassifiziert, was zu erwarten gewesen wäre.48 Wahrlich ist der Körper ähnlich wie nach dem Tod sofort kalt und steif geworden, sein Gesicht aber glich plötzlich dem eines lebendigen Menschen und war nach einer kurzen Zeit [wieder] blass wie das eines Toten. Die Anwesenden wunderten sich darüber also allzu sehr und waren wegen des Schwankens [der Gesichtsfarbe] unsicher, ob er tot oder lebendig war.49

Die Gesichtsfarbe spielt hier eine besondere Rolle, denn nicht der Atemzug allein lässt Orms Angehörige zweifeln, sondern der ständige Wechsel der Hautfarbe, durch wel­ 44 45 46 47 48

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Orm, Kap. 2, S. 77 f. Vgl. das Eingangszitat weiter oben in diesem Beitrag. Orm, Kap. 2, S. 77: Qua expleta ebdomada, quadam nocte, circa galli cantum, cunctis qui aderant visum est quod ab eo funditus vitalis spitirus recessisset atque corpus remansisset exanime. Orm, Kap. 2, S. 77: Cumque post paululum more mortuorum illud obvolvere cepissent, animadvertunt e naribus eius tenuissimum flatum eventilari, et circa pectus aliquantulum vite inesse visebatur. Schäfer, Signa Mortis, S. 5–13, hat in einem Aufsatz mit Schwerpunkt auf dem Spätmittelalter die Zeichen des Todes behandelt, die im Falle der hier untersuchten Jenseitsreiseberichte ex negativo natürlich auch auf noch vorhandenes Leben hindeuten können. Die Todes- bzw. Vitalzeichen wer­ den ausführlicher in der Dissertation behandelt. Orm, Kap. 2, S. 77: Verum subito corpus frigidum et inflexibile et simillimum mortuo efficiebatur, facies vero illius subito velut vivi hominis apparebat, ac post paululum velut mortui pallida. Mirabantur ergo nimis qui aderant, et utrum viveret an mortuus esset ancipiti fluctuatione hesitabant.

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che sich der Tod eben nicht eindeutig feststellen lässt.50 Entsprechend unentschlos­ sen erfolgt der Umgang mit Orm: Die einfachen Diener räumen den Leib Orms von Stroh zu Stein und wieder zurück und dennoch könne er weder hier noch dort ster­ ben.51 Gemeint ist mit dem Wechsel der Unterlage von Stroh zu Stein das Sterbela­ ger52 und beides ist ungeeignet, denn Orms Zustand lässt sich eben nicht eindeutig lesen: Manchmal wirkt er krank genug, dass er bald sterben würde, dann wiederum verändert sich sein Zustand so sehr, dass die Anderen ihn wieder umbetten, da ein Tod unwahrscheinlich sei. Die Betonung der bäuerlichen Schlichtheit der Diener unter­ streicht an dieser Stelle Orms sonderbaren Zustand. Man musste also nicht besonders medizinisch oder theologisch gebildet sein, um zu sehen, dass etwas anders ist. Orm ist präsent und gleichzeitig absent. Auch vollbringt Orm durch die vorangegangene Krankheit eine weitere große Leis­ tung: Trotz Entzug von Getränk und Nahrung, die der Leib zwingend zum Überle­ gen benötigt, stirbt er nicht, sondern hält diesen Zustand ganze 13 Tage durch und erscheint nur wie ein Toter: So lag nach göttlicher Voraussicht, wie es Recht ist zu glauben, er [Orm] dreizehn Tage und Nächte ohne Bewegung und Sinnesregung da, ohne den Mund oder die Augen zu öffnen oder nur irgendeine Nahrung oder ein Getränk zu sich zu nehmen, sondern immer lag er da wie ein Toter.53

Dass Orms Zustand nur mit dem Tod verglichen, er aber nie für gänzlich tot gehalten wird, sondern große Zweifel vorherrschen, findet sich auch an anderer Stelle: So nahm unter anderem seine Mutter auch nie an, dass er ganz tot gewesen sei. Während die Anderen ihn während seiner Ekstase bewachten, legte ihr der Redaktor an dieser Stelle wieder den Vergleich in den Mund, dass er wie tot aussähe, und ließ sie gleichzeitig sa­ gen, sie sei froh, dass Orm wieder lebendig sei. Daraufhin entgegnete Orm allerdings, er sei nie tot gewesen.54 Damit schließt sich der Kreis: Der Redaktor hat den Paratext so aufgebaut, dass Orm selbst glaubhaft sagen kann und nicht phantasiert, dass er nicht tot gewesen sei, denn seine Krankheit betraf ja nur seinen Leib: Sie ist eine molestia corporalis.55 Es ist

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Die sich verändernde, jedoch nicht mäandernde Hautfarbe ist ein typisches Zeichen des einset­ zenden Todes: Schäfer, Signa Mortis, S. 5; Ohler, Sterben, S. 55. Orm, Kap. 2, S. 77: Famuli quoque domus, rustica simplicitate decepti, illum huc atque illuc in domo stulto labore deferebant, dicentes eum non posse mori in illo aut in illo loco, quandoque super nudam terram, quandoque super stramenta illum deponentes. Zum Sterbelager: Angenendt, Religiosität, S. 664; Ohler, Sterben, S. 60 f. Orm, Kap. 2, S. 77: Ita Dei providentia, ut credi fas est, XIII diebus ac noctibus sine motu et sensu iacuit, nunquam os aut oculos aperiens, neque cibum aut potum penitus sumens, sed semper quasi mortuus iacens. Orm, Kap. 2, S. 78. Orm, Kap. 2, S. 77.

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also eine Strategie des Redaktors, den sonderbaren Zustand anhand des Leibes zu erfassen und somit nachvollziehbar zu gestalten, den Visionär aber gleichzeitig vom Verdacht des Wahnsinns freizusprechen, damit die Jenseitserzählung dadurch nicht kompromittiert werde. Auch wird diese Episode durch die Anwesenheit der Ande­ ren und vor allem deren Unsicherheit in einen nachvollziehbaren Kontext eingebettet: Die übliche Feststellung des Todes durch Beobachtung ist nicht durchführbar.56 Der Redaktor der Vision zeigte ein großes Interesse am Körper, denn Orm wird explizit die Frage nach seinem Bewusstsein und seinem Empfinden der Jenseitsreise gestellt: Während dieser [Orm] mir [Sigarus] alles berichtete, fragte ich ihn, ob er wüsste, dass sein Körper hier gewesen sei, während er durch seine Vision geführt wurde. Er antwortete: ‚Ich glaubte, ich sei ganz geführt worden, [und] ich schien nicht [einmal] eine Stunde in der Vision gewesen zu sein.‘57

Diese Textausschnitte und die ausführliche Behandlung des Leibs zeigen ganz eindeu­ tig, dass der Zustand des Visionärs, während sich sein Leib im Diesseits in der Ekstase befindet und seine Seele gleichzeitig im Jenseits weilt, von großem Interesse ist und gleichwohl ein Problem darstellt: Wie kann jemand also gleichzeitig an diesem und an jenem Ort sein? Der Redaktor begegnet diesem Problem unter anderem so, dass er Orm den Unterschied zwischen Leib und Seelenkörper nicht spüren lässt, und macht diesen Unterschied auch durch eine zeitliche Dimension deutlich. Er bietet damit eine Lösung für das Verhältnis von Leib und Seele an, wenn sie durch ein Ereignis (in der Regel den Tod) getrennt werden. Die lange Ausführung macht zudem klar, dass der Redaktor hier glaubhaft darstellen möchte, dass diese Jenseitsreise so passiert sein könnte. Die Reise in eine unbekannte, für den sterblichen Menschen nicht zu betre­ tende Welt ist an sich ein imaginiertes Element, der Rahmen dient also der Einbettung in einen bekannten und realistischen Kontext. Dennoch ist dieses Ereignis ein besonderes und hebt sich vom gewohnten Leben ab. Der Körper, der Leib, dient als Medium der Darstellung dieser Reise.58 Nicht nur der Seelenkörper ist Zeuge für das Betreten und Erleben des Jenseits, man denke zum Beispiel an den holsteinischen Bauern und Visionär Gottschalk, der allerlei Souvenirs wie zum Beispiel abfallende Hornhaut an den Füßen mitbringt oder auch an Furseus,

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Damit befasste sich auch Krötzl, Evidentissima, S. 770–772, der für Mirakelberichte des 13. Jhds. ähnliche Beobachtungen machte: Die sterbende Person befindet sich in der Mitte von Menschen, die nach einer gewissen Beobachtungszeit den Tod bestimmen. Orm, Kap. 7, S. 82: Dum hec omnia mihi retulisset, interrogavi eum si sciret corpus suum hic fuisse, dum in visione duceretur. Qui respondit: ‚Totum me, inquid, ductum esse putabam, et una hora non mihi videbar in visione fuisse.‘ Exemplarisch für einen Körper/Leib als Medium: Benz, Tractatus, S. XVII. Dieser Mechanismus funktioniert ebenso bei den (temporär) entseelten Leibern.

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der mit der Wunde im Gesicht ins Diesseits zurückkehrt.59 Auch der Leib zeigt dem Umfeld des Visionärs indirekt, dass dieser derweil im Jenseits wandert.60 Der Leib macht auf nachvollziehbare Art und Weise einen abstrakten Umstand deutlich, näm­ lich was eigentlich passiert, wenn Körper und Seele sich trennen – nur, dass die Jen­ seitsreiseberichte den Sonderfall darstellen: Die ins Jenseits reisende Person verbleibt dort nicht, sondern kehrt zurück. Das Erklären der Rückkehr muss glaubwürdig und logisch erfolgen und das geschieht am Leib, der sich eben vom üblichen Sterbeprozess abhebt, indem er Unregelmäßigkeiten zeigt, die von den Zeitgenossen als solche er­ kannt wurden. Anhand dieser Unregelmäßigkeiten zeigt sich auch das Verhältnis von Leben zu Tod und bestätigt die Tendenz der Forschung: Der Tod an sich ist für die Zeitgenossen nicht besorgniserregend, die Abweichung von der Norm, tot oder leben­ dig, hingegen schon. Wichtig dabei ist auch, dass der Reisende, in diesem Falle Orm, durch seinen be­ sonderen Status keinerlei Vorteile erhält und auch niemandem Vorteile in Form von Wundern verschaffen kann. Er verfügt nicht wie zum Beispiel Heilige, die ja auch einen besonderen und anderen Leib haben, über Gnadenwirksamkeit.61 Sie bleiben Mensch, bis die Seele irgendwann dauerhaft ins Jenseits übertritt – im Falle Orms lässt der ‚endgültige‘ Tod nicht mehr lang auf sich warten.62 In manchen Fällen verändert sich nach der Rückkehr ins Diesseits die Empfindsamkeit des Leibs. So machen Gott­ schalk oder auch Drycthelm Hitze bzw. Kälte nichts mehr aus, dies führt besonders bei Gottschalk zu buchstäblich brandgefährlichen Situationen für Leib und Leben.63 Bei den Anderen aber bewirkt das Gebaren lediglich Erschrecken oder Verwunderung, jedoch animiert es nicht zur Kultbildung, wie es bei Heiligen häufig geschieht, denn diese Veränderungen betreffen ausschließlich den Reisenden. Vielmehr können diese ‚Empfindungsstörungen‘ als weiterführende Authentisierungsmechanismen gelesen werden, sind sie doch für alle sichtbare anormale Merkmale, über die die betreffende Person vor ihrer Ekstase nicht verfügte.64

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Vgl. auch den Beitrag von Bernd Roling in diesem Band: Der Visionär Engelbrecht bekommt nach einer jenseitigen Ohrfeige ein blaues Auge, welches auch im Diesseits noch sichtbar ist. Gottschalk: Godeschalcus, Kap. 58, S. 146 f.; Furseus: VF, S. 274 f. Hammer, Erzählen, S. 1–24. Die Einleitung fokussiert sich auf die narrative Konstruktion, jedoch nennt Hammer wesentliche Aspekte, die sowohl auf Heilige als auch auf Jenseitsreisende zutreffen können, so z. B. die Mittlerrolle zwischen Transzendenz und Immanenz, S. 11, oder die conversio, ebd., S. 21 f.; vgl. auch Angenendt, Heilige, S. 108–111; für Reliquien ebd., S. 149–166. Zur Verbin­ dung von Hagiographie und Vision vgl. den Beitrag von Sarah-Christin Schröder in diesem Band. Orm stirbt etwa ein halbes Jahr nach seiner Jenseitsreise: Orm, Kap. 2, S. 76, Kap. 8, S. 82. Godeschalcus, Kap. 57, S. 144–147; VD, S. 496–499. Auch hier setzt das Dissertationsprojekt an: Die ‚Mitbringsel‘ aus dem Jenseits sowie die Abgren­ zung zum gnadenwirksamen Leib der Heiligen finden genauere Betrachtung.

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III. Edmund von Eynsham im Vergleich Ist die Vision des Orm mit dieser Darstellung nun ein Einzelfall? Finden sich in an­ deren Jenseitsreisen ähnliche Mechanismen der Authentisierung über den Leib oder funktionieren diese völlig anders? Auch in der ‚Visio Edmundi monachi de Eynsham‘ wird um 1196 beschrieben, wie die Seele des Klosterbruders Edmund nach schwerer Krankheit durch das Jenseits wanderte, um dann in ihren Leib zurückzukehren, wel­ cher sich nach dem Gesicht zügig erholte.65 Erzählt wird diese Reise vom – mutmaß­ lich auch leiblichen – Bruder Edmunds, Adam von Eynsham, der Abschreiber der im Folgenden zitierten Handschrift jedoch ist Peter von Cornwall, dessen Version sehr zeitnah nach dem Geschehen, um 1200, Einzug in seine Visionskompilation, den ‚Li­ ber Revelationum‘, fand und somit als eine der ältesten derzeit bekannten Textzeugen gilt.66 Wie auch schon Orm leidet der Mönch Edmund von Eynsham an einer Krank­ heit, die ihn zunehmend schwächt. Im Gegensatz zu Orms undefinierter Schwäche wird bei Edmund aber sehr genau beschrieben, woran er litt, nämlich an einem sehr unangenehmen Ekzem am Schienbein.67 Der Redaktor nutzt die Krankheit gleich an zwei Stellen, vor und nach dem Visionsbericht: Im ersten Teil des Rahmens lässt er die Krankheit, wie wir es auch schon bei Orm gesehen haben, undefiniert, er schreibt allerdings auch von einer ausschließlich körperlichen Krankheit.68 Jedoch wird das körperliche Gebrechen sehr viel ausführlicher als bei Orm beschrieben, gleiches gilt für Mittel zur Heilung, um Edmund von seinem Leid zu befreien: Er hatte fast ein ganzes Jahr lang böse Geschwüre am Schienbein sowie heftige Schmerzen im Knie, von denen er unerträglich gequält wurde, und konnte sich kaum bewegen. Er pflegte zu sagen, dass ihm davon ein solcher Schmerz beiwohnte, als wenn er beständig eine glühende Eisenplatte an seinem Schienbein mitführe. Kein Wundpflaster, keine Salbe oder irgendwelche Medizin, wieviel davon auch immer von Ärzten angewendet wurde, vermochten seine Qual zu mildern oder das Ausmaß seiner Wunde zu verkleinern.69 65 66

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Zum Aufbau und Inhalt: Bihrer, Visio, S. 27–30; für eine inhaltliche Zusammenfassung (aller­ dings auf anderer Quellenbasis): Gardiner, Visions, S. 197–218. Peter von Cornwalls Abschrift gilt als eines der frühesten Zeugnisse dieser Visionserzählung. Von wem Peter seine Version abschrieb, ist leider weder bekannt noch überliefert: Bihrer, Visio, S. 15–26. Weitere Studien, darunter auch zur Überlieferung der Eynsham-Vision: Ehlen/Man­ gei/Stein, Visio Edmundi. VEME, Kap. LVIII, fol. 54rb. VEME, Kap. I, fol. 32vb: Qui circa primordia conuersionis sue uehementer egrotare incipiens, per annum integrum et menses tres graui corporis ualetudine laborans […]. VEME, Kap. LVIII, fol. 54rb: Habuerat enim toto unius fere anni spatio in sinistra tibia ulceris genus acerbissimum et non modice latum, quo intolerabiliter cruciabatur. Dicere solebat talem sibi ex hoc adesse dolorem, quasi ferri candentis laminam tibie iugiter alligatam gestaret. Nullum emplastrum, non aliquod unguentum uel medicina alia, quamuis plurima adhiberentur a medicis, uel cruciatum eius mitigare uel locum uulneris coartare ualebat.

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Neben Gebeten werden also Ärzte herangezogen, die mit allen Regeln der Kunst, also mit Salben, Wickeln und weiterem versuchen, diese Wunde zu heilen, aber mit allem scheitern. Durch die Beschreibung des Umgangs mit dem Kranken im klösterlichen Umfeld wird ebenfalls Authentizität erzeugt, das Vorgehen wird in Mechanismen ein­ geordnet, die anderen Klosterbrüdern und/oder Heilkundigen bekannt gewesen sein dürften. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Edmunds Brüder davon ausgingen, dass er wüsste, er würde bald sterben, als er von zwei ihm besonders vertrauten Brü­ dern die Beichte und Absolution erbat. Um die sich nähernde sechste [Stunde] dieses Tages ließ er zwei der Brüder zu sich brin­ gen, einen nach dem anderen, die er in ihrem Amt für vertrauenswürdig ansah, die Beichte abzunehmen und der Sünden Absolution zu gewähren […], denn sie vermuteten nämlich alle, dass er meinen würde, in irgendeiner Art und Weise allzu schnell aus diesem Zeitalter zu scheiden […].70

An dieser Stelle ist die Perspektive von Bedeutung: Nicht Edmund glaubte, dass er sterbe, sondern die Brüder vermuteten, dass es so sein würde. Damit wird sein oh­ nehin schon als besorgniserregend geschilderter körperlicher Zustand nochmals dra­ matisiert. Dies lässt die Vermutung zu, dass sowohl bei Orm als auch bei Edmund ein möglichst geschwächter Leib die Voraussetzung dafür bildet, dass sich die Seele vom Körper lösen und das Jenseits betreten kann. Edmund berichtete seinem Beichtvater von einer Erscheinung, die ihn vor seiner eigentlichen Vision ereilte. Der Bruder glaubt ihm nicht und denkt, dass ihn seine schwere Krankheit nun seinen gesunden Verstand gekostet habe und lässt ihn allein – nach kirchlichem Ritus hatte er Edmund durch Beichte und Absolution alles gegeben, was er benötige, um ins Jenseits überzutreten.71 Im Gegensatz dazu stehen die vorheri­ gen Beteuerungen des Redaktors, der von der körperlichen Krankheit (gravi corporis valetudine)72 sprach und dem Visionär trotz dieser starken Einschränkung einen immer wachen Geist attestierte, auch wenn der Bruder in der Erzählung diese Einschätzung nicht teilte. Diese Zweifel der Anderen finden sich ebenfalls bei Orm73 und sind somit

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VEME, Kap. I, fol. 33rb: Circa sextam ipsius diei accersiri fecit ad se duos e fratribus, unum post alium, quibus suscipiendi confessiones et penitentibus absolutionem dandi ministerium creditum erat […] quod se de seculo celerius migraturum aliquo modo sentiret […]. VEME, Kap. I, fol. 33rb–33va: Requisiuit etiam, utrum consuetudinis esset, quod ipsa nocte priores sacris induti uestibus et albis disciplinas fratribus darent. Hec ab ipso au[33va]diens predictus frater credebat illum ex nimia inanitione capitis, quam forte inedia simul et languore contraxisset immoderato, in mentis alienatione talia proferre, licet mirabili prudentia atque discretione toto egritudinis sue tempore preditus fuisset, quamobrem commendans eum Domino, nichil ab eo ulterius censuit inquirendum moxque discessit. VEME, Kap. I, fol. 32vb. Vgl. weiter oben in diesem Beitrag.

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ein wichtiges Instrument der Redaktoren, diesen wahrlich ungewöhnlichen Zustand der Entrückung zu begründen und von Phantasien abzugrenzen. Neben diesen Zweifeln des Bruders baut der Redaktor weitere Unsicherheiten der Anderen über den leiblichen Zustand des Visionärs ein: Von diesem Anblick erstaunt eilten [die Brüder] zu ihm und wollten ihn bewegen; sie fan­ den ihn [aber] wie entseelt [leblos] und ohne irgendeine Regung der Glieder, die Augen tief eingesunken und mit viel Blut besudelter Nase. Folglich erklärten sie alle ihn nun für tot. Obwohl seine Füße kalt waren, befanden sich aber im restlichen Körper noch einige wenige zu sehende Zeichen von Wärme. Als lange Zeit vergangen war, war bei ihm kei­ ne Bewegung der Arterien sichtbar. Schließlich wurde beobachtet, dass eine Sehnsucht, wenn auch eher schwach, und eine Bewegung des Herzens kaum noch in ihm vorhanden waren. Dann sahen sie, während sie ihm den Kopf, die Brust, die Hände und die Füße mit kaltem Wasser reinigten, erst ein geringes Zittern durch den Körper gehen, aber bald ruhte er und verblieb regungslos. Sie zögerten lange, wie sie sich nun in dieser Sache verhalten sollten, weder schien er tatsächlich zu sterben, noch zu gesunden. Sie brachten ihn aber nach einem anfänglichen Beschluss auf sein Bett und bewachten ihn und erfüllten so ihre Pflicht der Nachtwache ihm gegenüber.74

Edmund wird also zunächst für tot gehalten und bei der Waschung entdecken die Brüder dann aber Anzeichen, dass er trotz seiner Präsenz gleichzeitig absent ist. Das Zittern und der leichte Herzschlag nähren also die Zweifel. Sie versuchen dann, sei­ nen Status mit medizinischen Maßnahmen und Gebeten zu ändern, die im Sinne der Fürbitte nicht so dringend waren, hatte Edmund doch zuvor gebeichtet. Hinsichtlich der Fürsorge und der Bewachung zeigen sich Übereinstimmungen zur Erzählung von Orm, auch wenn diese in der Eynsham-Vision deutlich ausführlicher und sach­ kundiger beschrieben werden. Im Gegensatz zu Orm verbleibt Edmund jedoch auf dem Krankenlager und wird nicht hin- und hergeräumt, was ein Hinweis auf bessere Möglichkeiten und eben auch größeres Wissen des klösterlichen Umfelds sein kann. Deutlich wird, dass die Mönche nicht glauben, dass Edmund gestorben sei, und das zeigt sich an weiteren leiblichen Reaktionen, die sich nun wieder mit der Erzählung von Orm decken: „Die Farbe des Gesichts und auch der Wangen sah oft fleckig aus

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VEME, Kap. 2, fol. 33va–33vb: Quo uiso stupefacti accurrunt et uolentes eum amouere, uelut exanimem et sine motu alicuius membrorum reperiunt oculis in profundiora demersis et ipsis luminum sedibus ac naso multo sanguine illitis. Igitur expirasse illum iam uniuersi proclamant; pedes quidem habebat frigidissimos, sed reliquo corpori aliquantulum uidebatur inesse caloris. Motus arteriarum nullus multo intercurrente more spatio poterat dinosci, anhelitum tandem licet perexilem et precordialem motum uix ei superesse deprehensum est. Itaque uerticem illius, pectus manusque ac pedes frigida diluentes aqua primo eum corpore uiderunt trementem modice, sed mox quieuit et insensibilis permansit. Diutius itaque hesitabant, quid in re tali faciendum sibi esset, dum nec pe[33vb]nitus exanimari nec meliorari aliquatenus cerneretur. Ad lectulum uero suum inito consilio tandem deferunt eum adhibitis custodibus, a quibus diligentia peruigili seruaretur.

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und wandelte sich in aschgraue Blässe und erwachte dann wiederum auf wundersame Weise und glänzte.“75 An den Beispielen Orms und Edmunds zeigen sich exemplarisch die leiblichen Grundvoraussetzungen, um das Jenseits überhaupt bereisen zu können. Der Leib muss auf eine Art geschwächt sein, kurz vor dem Sterben, damit eine Trennung von Körper und Seele erfolgen kann. Dennoch darf der Reisende nicht wirklich tot sein, da vorgesehen ist, dass er in seinen Leib zurückkehrt, um das Gesehene zu offenba­ ren. Dieser besondere Zustand wird ausschließlich anhand des Leibes deutlich, denn dieser verhindert das Einleiten und Durchführen der Begräbnisrituale, indem durch Körperzeichen angedeutet wird, dass der Reisende nicht tot sein kann. Die Optik wird zudem vom Umfeld verstanden, unabhängig vom Stand, wie bereits gezeigt wurde. Durch die Reaktionen der Anderen anhand der Beschreibung des Visionärs wird so Identifikationspotential geschaffen, das wiederum Authentizität erzeugt. IV. Der Bauer Thurkill im Vergleich Die ‚Visio Thurkilli‘ ist der jüngste Textzeuge dieses Beitrags. Es wird vermutet, dass der Abt Ralph der Zisterze Coggeshall in Essex für ihre Niederschrift in den 1220er Jahren verantwortlich war.76 Der Redaktor erwähnt in dem der Visionserzählung vo­ rangestellten Prolog andere Jenseitsreisen, darunter die in diesem Beitrag erwähnte ‚Visio Edmundi‘, und belegt damit schriftlich, dass diese zumindest in monastischen Kreisen zirkulierten und bekannt waren.77 Daneben legt er seine Intention offen, war­ um er diese Vision aufgeschrieben hat.78 Am Ende der Visionserzählung kommt er auf seine Absicht zurück, indem er Offenbarungen ein besseres und einfacheres Verständ­ nis zuspricht, als „unverständliche[n] und tiefsinnige[n] theologische[n] Erörterun­ gen“.79 Diese Aussage lässt zum einen Rückschlüsse auf den möglichen Adressatenkreis zu, zum anderen findet sich auch darin wieder eine Authentisierungsstrategie: Das göttliche Wort ist für jeden sichtbar beziehungsweise durch jeden vermittelbar und da­ durch nachvollziehbar und verständlich.80 Damit unterscheidet sich diese Vision von den anderen hier vorgestellten. Diese verfügen über keinen direkten Bezug zu anderen

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VEME, Kap. 3, fol. 33vb: Genarum etiam et faciei color frequenter in liuorem et cinereum pallorem conuerti et denuo mirum in modum reuiuiscere et nitere uidebatur. VThur, S. 16–19. VThur, S. 16–19. VThur, S. 14–21. VThur, S. 80 f.: perplexis et profundis theologie disputantionibus. VThur, S. 14–21, bes. S. 14 f. sowie S. 18 f. (Fokus auf Zweifler innerhalb verschiedener Orden); zum Thema Laien vgl. den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band.

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Jenseitsreisen, auch wenn indirekt Ähnlichkeiten und damit Kenntnis anderer, älterer Texte bestehen mussten.81 Auch werden der Seelenaustritt und die körperlichen Grundvoraussetzungen an­ ders dargestellt, denn der Bauer Thurkill, der sich guter Gesundheit erfreut, wird von seinem Begleiter, dem Heiligen Julianus Hospitator, zunächst während der Feldarbeit im Diesseits aufgesucht und über das Vorhaben der Jenseitsreise unterrichtet. Julianus offenbart ihm, dass er zum Heiligen Jakobus, zu dessen Stätte er einst pilgerte, geführt werden solle und dass er Dinge sehen werde, die den im Fleische Wandelnden verbor­ gen bleiben.82 Hätte Thurkill da nicht hellhörig werden oder dies hinterfragen müssen? Er wundert sich zumindest nicht und geht umgehend nach Hause, wäscht sich – sehr zum Ärger seiner Frau, da heute offenbar kein Waschtag ist – und legt sich schlafen.83 Teile der Erzählung deuten auf einen Wallfahrtshintergrund hin, so zum Beispiel der bereits erwähnte Julianus Hospitator sowie der heilige Jakobus im Jenseitsraum.84 Ge­ stützt wird diese Lesart auch durch Thurkills Beschreibung als Pilger und seine grund­ sätzlich fromme Lebensführung. Zum einen könnte dies eine Erklärung dafür liefern, dass er sich wegen der Ankündigung des Julianus nicht allzu sehr wundert.85 Zum an­ deren lässt sich die Jenseitsreise so mit einer Pilgerreise gleichsetzen, was sie etwas begreifbarer macht und gleichzeitig den Offenbarungscharakter unterstreicht – damit wiederum erzeugt der Redaktor Authentizität. Doch trotz Prolog und dieses Einstiegs erweitert der Redaktor die Rahmenhand­ lung zusätzlich und wählt einen anderen Zugang zum Umgang mit dem Leib, der ja nun schlafend im Diesseits warten muss: Als sich alle [Frau, Kinder, Gäste] ins Bett gelegt hatten und eingeschlafen waren, erschien der Heilige Julianus, weckte ihn auf und sprach: ‚Da bin ich, wie ich es versprochen habe. Jetzt ist es Zeit aufzubrechen.‘ Als er aufgestanden war und sich für die Reise ankleiden wollte, sagte der Heilige zu ihm: ‚Dein Körper mag in der Zwischenzeit ruhig auf dei­ nem Lager liegenbleiben und sich ausruhen, denn nur deine Seele wird mit mir fortzie­ hen. Aber damit man deinen Körper nicht für tot hält, werde ich einen lebensanzeigenden Atem in dir zurücklassen.‘ Mit diesen Worten blies er ein wenig in den Mund des Ruhen­ den. Darauf verließen beide, wie es ihm schien, das Haus und zogen in gerader Richtung nach Osten.86

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Für Orm besteht eine Ähnlichkeit zur ‚Visio Drycthelmi‘: Farmer, Einleitung, S. 74; zu anderen dem Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘ bekannten Visionstexten: VThur, S. 16–19. 82 VThur, S. 20–23. 83 VThur, S. 22 f. 84 Zu Jakobus: VThur, S. 30 f. 85 VThur, S. 20–23, S. 82 (Anm. 20): Es wird angenommen, dass Thurkill nach Santiago de Compos­ tela gepilgert sei. Zu Pilgerreisen allgemein: Herbers/Lehner, Unterwegs. 86 VThur, S. 22 f.: cum autem omnes se lecto recepissent et membra sopori dedissent, affuit santus Iulianus virumque a sompno excitavit dicens: ‚Ecce assum, sicut promiseram. tempus est, ut iam progrediamur.‘ cumque ille surrexisset et se ad procinctum itineris corporaliter preparare vellet, dixit ei sanctus:

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Thurkill wirkt auch hier immer noch orientierungslos und etwas naiv, möchte er sich doch für die Reise ankleiden, nachdem er sich erhob. Auch scheint ihm nicht richtig bewusst zu sein, dass sich sein Leib und seine Seele trennen oder an diesem Punkt bereits getrennt haben. Er fühlt es schlichtweg nicht – und damit gleicht der Übergang wieder der Erzählung von Orm. Dieser berichtete Sigarus, dass sich das Gefühl seines Seelenkörpers nicht von dem seines Leibes unterscheide.87 Erst später in der Erzäh­ lung wird aufgelöst, dass Thurkills Seele sich optisch nicht von seinem Leib unter­ scheidet und zudem bekleidet ist. Thurkill fällt an dieser Stelle lediglich auf, dass sein Atem schneller geht, hinterfragt dies jedoch nicht.88 Die Berichte von Orm und Thurkill weisen also trotz der sehr unterschiedlichen Art der Entrückung ein ähnliches Körperbild auf, was sich hinsichtlich der Entstehungs­ zeiträume und -kontexte89 nicht grundsätzlich geändert zu haben scheint. Gestützt wird dieser Befund auch von der Eynsham-Vision, denn Edmund ist sehr verwirrt, als seine Brüder ihm eröffnen, dass er auf seinem Krankenlager liegt und nicht vor dem Altar beim Morgengebet, wo er in Ekstase versetzt wurde. Er fühlt den Umstand der in diesem Falle kürzlich zurückliegenden Trennung von Seele und Leib nicht: Und seine Brüder richteten Folgendes an ihn: ‚Los, schau dich um, Bruder, und sieh zu, dass du im Krankenhaus auf deinem Krankenbett liegst; der Stab aber und deine Schuhe sind zur Hand‘, er darauf: ‚Oh, wie bin ich denn hierhergekommen? War ich nicht gerade in der Kirche zum Morgengebet?‘90

Bei Thurkill bestätigt sich die Annahme, dass der Verlust bzw. das Wiedererlangen des Leibes nicht gespürt wird, denn nach seiner Rückkehr steht er nackt auf und öffnet ein Fenster, nachdem ihm von Julianus gesagt wurde, er müsse sich für die Reise nicht ankleiden. Der Visionär fühlt also auch nach der Rückkehr zwischen Leib und Seele keinen Unterschied: „Nackt wie er war, sprang er dann von seinem Lager auf, um ein Fenster zu öffnen, das sich zu seinen Häupten befand.“91 Der Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘ kommt danach direkt auf die Umstehenden zu sprechen, die mit großer Irritation wahrgenommen haben, dass Thurkill vor einer

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‚Quiescat interim et pauset in stratu quietis corpus tuum; sola enim anima tua mecum abibit. sed ne corpus tuum extinctim putetur, vitalem in te flatum dimittam.‘ et his dictis paululum insufflavit in os quiescentis; sicque ambo, ut sibi videbatur, a domo illa recesserunt rectoque itinere versus orientem profecti sunt. sicque per duos dies cum totidem noctibus, id est usque ad vesperam dominice diei, corpus viri insensibile et immobile, quasi gravi sopore depressum, iacuit. Orm, Kap. 7, S. 82, vgl. weiter oben in diesem Beitrag. VThur, S. 30 f. Frühes 12. bzw. frühes 13. Jhd., Nord- bzw. Südengland: weiter oben in diesem Beitrag. VEME, Kap. 5, fol. 33rb: Cui cum a fratribus diceretur: ‚Iam respice, frater, et uide te in infirmaria et in stratu tuo locatum; baculum etiam et calciamenta tua en presto sunt‘, ille deinceps: ‚O‘, inquit, ‚quando huc uel quomodo aduenimus? Nonne modo simul in ecclesia ad matutinas fuimus?‘ VThur, S. 24 f.: sicque nudus de accubitu suo exiliens ad quandam fenestram, que erat ad caput eius, voluit eam aperire […].

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Menschenmenge nackt durch den Raum läuft – sie glaubten, er habe den Verstand ver­ loren: „Er nahm dabei noch gar nicht die Menge wahr, die sich in seinem Haus zusam­ mengeströmt war und sein Bett umstand. Die Herumstehenden bemerkten das; weil sie glaubten, er hätte den Verstand verloren, faßten sie den Entschluß, ihn zu binden.“92 Das gleiche Muster der Wahnsinnsvermutung findet sich auch bei Orm, nur dass die Anderen ihn nicht direkt fesseln wollten.93 Und auch bei Edmund vermuten seine Brüder zunächst den Verlust des Verstandes: Als der besagte Mönch [sc. ein Klosterbruder Edmunds] diese Dinge von ihm [Edmund] gehört hatte, glaubte er, dass jener aus allzu großer Leere des Hauptes, die mit dem großen Hunger und der großen Ermattung einherging, eine derartige Entfremdung des Geistes gesagt hatte, […].94

Betrachtet man diese Befunde nun zusammen, belegen diese die Annahme, dass es für die Person, hier den Reisenden, selbst keinen Unterschied macht, in welchem Körper sie sich befindet – die Grenzen sind fließend bzw. kaum wahrnehmbar. Die Irritatio­ nen entfalten sich vielmehr beim Umfeld, wie besonders die letzten Beispiele zeigten, durch das Umherschlagen Orms mit seinen Armen, Edmunds Verwirrtheit wegen des Ortes, an dem er aus seiner Vision zurückkehrt, sowie Thurkills öffentliche und schambefreite Nacktheit. Auch weist der Umgang der Anderen mit den Leibern der Visionäre Analogien auf. Nachdem sich Thurkill trotz Schreiens und Rüttelns seiner Frau nicht aufwecken lässt, versammelt sich das Dorf um ihn und auch der Pfarrer wird gerufen, denn was zunächst wie ein sehr tiefer Schlaf und damit erstmal als nichts Ungewöhnliches er­ scheint, wandelt sich in der Wahrnehmung der Anderen zunehmend in Sorge: Sie be­ fürchten, dass Thurkill sterbe – dank des Atems wird er jedoch noch ganz eindeutig als lebend identifiziert.95 Die Sorge gilt dem Seelenheil, so versucht man eine Lösung zu finden, wie der Dorfpfarrer ihm das Abendmahl geben könne.96 Diese Sorge spielt bei Edmund hingegen eine untergeordnete Rolle, denn dieser hat die Bräuche, wie bereits aufgezeigt, selbst eingefordert. In dieser Sorge besteht ein Unterschied zu Orm, dessen Zustand durch das Um­ hertragen nicht so eindeutig festgelegt werden konnte. Auch wurde bei Orm nicht versucht ihn ‚aufzuwecken‘, um ihm die Beichte und das letzte Sakrament zukommen zu lassen. Dies deutet eine Motivverschiebung an: Dem Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘ 92 93 94 95 96

VThur, S. 24–27: […] nondum advertens de turba, que in domo eius confluxerat et que circa lectum eius assistebat. quod illi cernentes estimabant eum incurrisse amentiam et ligare eum decreverunt. Vgl. weiter oben in diesem Beitrag; Farmer, Einleitung, S. 77 f. VEME, Kap. I, fol. 33rb–33va: Hec ab ipso au[33va]diens predictus frater credebat illum ex nimia inanitione capitis quam forte inedia simul et languore contraxisset immoderato, in mentis alienatione talia proferre […]. VThur, S. 24 f. VThur, S. 24 f.

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war es also wichtig, den Zustand des Leibes so zu gestalten, dass der Fokus auf das Seelenheil gelegt werden kann, gleiches gilt für Edmund, der sich noch aktiv darum bemühte. Beichte und Sakrament müssen in corpore geschehen, die Fürbitte anderer scheint allein nicht ausreichend. Bei Orm hingegen wird im ersten Jenseitskapitel über den direkten Einfluss der Fürbitte berichtet.97 Dies lässt den Schluss zu, dass die aus­ bleibende Beichte durch diesseitige Almosen ausgeglichen werden kann. Auch in der ‚Visio Thurkilli‘ wird der direkte Effekt der Fürbitte für die Seelen sehr plastisch im Jenseitsraum beschrieben, gleichwohl diese zuvor keinen sündigen Lebensstil pfleg­ ten, befinden sie sich doch bereits an einem besseren Jenseitsort.98 Dabei ist grund­ sätzlich zu beachten, dass alle in diesem Beitrag erwähnten Reisenden ein bereits sehr frommes Leben führten und sich nahezu keine Sünden haben zuschulden kommen lassen.99 V. Schlussbetrachtung Die hier untersuchten Jenseitsreisen enthalten also alle ausführliche Paratexte, die den Verbleib des Leibes im Diesseits thematisieren. An diesem bzw. auch an den Reaktio­ nen des Umfeldes wird deutlich, dass der Visionär weder tot noch lebendig ist. Die An­ deren wissen ja aber nicht, dass der Visionär eigentlich entrückt ist. Die Redaktoren er­ schaffen über die zum Teil sehr ausgeprägte und umfangreiche Rahmenhandlung also ein realistisch anmutendes Szenario, das sich stark von der Jenseitswelt unterscheidet, wodurch der Paratext zu einem ganz wesentlichen Faktor zur Authentisierung – eben durch die Einbettung in ein diesseitiges Setting – der Visionen wird. Das wichtigste Element des Rahmens ist der Leib des Visionärs, an welchem als Projektionsfläche Transzendenz begreif- und erklärbar gemacht wird. Als übergeordnete Kategorie hat sich die Feststellung von Merkmalen des Lebens bzw. des Todes herausgestellt, genau­ er das Unvermögen der Anderen, diese Zeichen am Leib des Reisenden eindeutig zu interpretieren. So ist es bei Orm die wechselnde Hautfarbe des Gesichts, die zumeist Unsicherheit über seinen Zustand schürt, gleiches bei Edmund. Bei Thurkill hingehen zeigt der Atem an, dass er noch lebendig sein muss.

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Orm, Kap. 2, S. 78 f. Orm erhält an seinem Lebensende schlussendlich doch die Beichte und das Sakrament, welches ihn von seiner irdischen Existenz erlöst, ebd., Kap. 8, S. 82. Dieser Umstand ändert jedoch nichts am Umgang mit seinem Körper während des vermeintlichen vorherigen To­ des. VThur, S. 68 f. Thurkill wird konkret eine Sünde angelastet, vgl. VThur, S. 28 f. Natürlich gibt es auch Visionäre, die mit einem durchaus beeindruckenden Sündenregister ins Jenseits reisen, dort aber entspre­ chend bestraft werden, wie z. B. der Ritter Tnugdalus: VT, Kap. 1, S. 72–81, bes. S. 74–78 (Sünden), ebd., Kap. 11, S. 132–137 (Bestrafung); für Weiteres zur ‚Visio Tnugdali‘ vgl. die Beiträge von Patrick Nehr-Baseler und Maximilian Benz in diesem Band.

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Auch stützen die Texte die Annahme, dass der Tod eines Menschen an sich nichts Besorgniserregendes darstellt. Die Ausschnitte haben gezeigt, dass Irritationen erst auftreten, wenn sich der Visionär nicht mehr als vollständig entseelt präsentierte, weil er Vitalzeichen aufwies. Die Unsicherheit hielt auch bis nach der Rückkehr der Rei­ senden in ihre Leiber noch an, waren sich die Anderen doch unsicher, ob die Visionäre nun wahnsinnig geworden sind oder nicht. Diese Zweifel wurden jedoch zerstreut, sobald die Reisenden sich ‚wieder eingelebt‘ hatten, weil die Zuckungen Orms sowie Edmunds und Thurkills Verwirrungen aufhörten und jene wieder wie gewohnt er­ schienen. Gerade die Vitalzeichen gelten als universell und lassen sich sowohl von Laien als auch von in der Klostermedizin geschulten Mönchen lesen. Die nicht mögliche In­ terpretation der Zeichen, die die Leiber der Visionäre zeigen, ist somit als Mittel zu verstehen, den prekären Zustand des entseelten, aber nicht toten Menschen zu ver­ deutlichen. Da diese Texte monastischen Ursprungs sind, dürften sie bei zeitgenös­ sischen Rezipierenden authentisierend gewirkt haben, da jene diese Vitalzeichen zu lesen wussten. Gleichwohl wird durch die unterschiedlichen Stände der Visionäre eine Allgemeingültigkeit geschaffen: Das Jenseits ist für jeden Menschen offen und jeder wird dort früher oder später hinübertreten. Die Bestätigung des Jenseits durch die Er­ zählung, indem vorhandenes Wissen durch den Bericht des Visionärs belegt wird, er­ zeugt ebenfalls Authentizität. Durch eine solche Einbettung wird dem Offenbarungs­ charakter mehr Gewicht verliehen, wie es der Redaktor in der ‚Visio Thurkilli‘ sogar wortwörtlich formulierte. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die bleibende Profanität des Leibes der Reisenden. Sie bringen zwar eine Offenbarung mit, werden aber anders wahrgenommen als Heili­ ge, deren Leiber über Gnadenwirksamkeit verfügen. Keiner der drei Visionäre ist sich der Trennung von Leib und Seele bewusst. Dies wird zum einen durch das wie Wahn­ sinn anmutende Verhalten bei der Rückkehr deutlich, zum anderen wird es von Orm auch durchaus direkt gesagt, da er seine rund zweiwöchige Entrückung so empfand, als ob er nur eine Stunde unterwegs gewesen wäre. Der Leib der Visionäre ist nicht wirkmächtig, sie besitzen nicht einmal ein Bewusstsein dafür, sondern der Körper bie­ tet sich zum Verständnis des Transzendenten an, ist er doch die ideale, im wörtlichen Sinne begreifbare Leinwand. Auch wenn zunächst einige Gemeinsamkeiten innerhalb der Texte überwiegen, wie zum Beispiel ähnliche Vitalzeichen wie die Gesichtsfarbe oder die Wahnsinnsvermu­ tungen, so weisen die Texte doch auch eine starke Variabilität vor allem im Umgang mit dem Leib auf. In den beiden jüngeren Texten rückt die Sorge um das Seelenheil in den Vordergrund und wird stärker thematisiert. In der ‚Visio Edmundi‘ wird im Pa­ ratext beschrieben, dass Edmund sich auf sein potentielles Ableben durch die Beichte vorbereitet, die er selbst noch einfordert. Bei Thurkill überwiegt die Sorge um sein Seelenheil, erscheint es doch so, als ob ihm ein plötzlicher Tod widerfahren könne – die Anderen flößen ihm daraufhin Weihwasser für ein sicheres Geleit ins Jenseits ein.

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Bei Orm hingegen kommt das Seelenheil in der Rahmenhandlung nicht direkt zur Sprache, stattdessen wird sein intuitiv frommer Lebensstil umfangreich beschrieben. Auch lässt sich ein unterschiedlicher sozialer Umgang mit dem Leib feststellen. Während Orm und Thurkill eigentlich nur liegen und bisweilen hin- und hergeräumt oder geschüttelt werden, erfolgt eine umfassende medizinische Behandlung Edmunds, die Einblicke in die Welt der hochmittelalterlichen Klostermedizin bietet. Auch dies kann als Authentisierungsmaßnahme gelesen werden, denn die Behandlung des Lei­ bes entspricht der sozialen Stufe und ist somit für das zeitgenössische Publikum nach­ vollziehbar. Unabhängig vom zeitlichen Entstehungskontext, die ‚Visio Thurkilli‘ und die ‚Visio Edmundi‘ zählen beide zu den jüngeren Texten, die Vision des Orm ist knappe 100 Jahre älter, zeigen sich in den jeweiligen Texten andere Erklärungsmuster für den Zu­ stand des Visionärs. Während der Redaktor der ‚Visio Edmundi‘ sich ebenso wie der Redaktor der Vision des Orm der langen Krankheit bedient, um die Jenseitsreise ein­ zubetten und indirekt auf göttliches Eingreifen verweist, verzichtet der Redaktor der ‚Visio Thurkilli‘ komplett auf ein solches Szenario und offenbart direkt, dass Thurkills Schlaf ein göttliches Element ist, denn Thurkill weist vor seiner Entrückung keinerlei Symptome einer Krankheit oder Schwäche auf. Dennoch wird die Bedeutung des Lei­ bes nicht verringert, ist er doch nach wie vor das Anzeichen dafür, dass etwas Unge­ wöhnliches mit dem Reisenden geschieht. Es fällt zudem auf, dass die Texte an Detailreichtum zunehmen. Dies mag unter anderem der Länge der Texte geschuldet sein. Die Vision des Orm ist relativ kurz, ent­ sprechend knapp wird sein Siechtum verhandelt und vieles wird nicht erklärt, wie zum Beispiel die Gründe des Herumtragens von Orms Leib. Dies scheint aber, wie im Bei­ trag gezeigt, auch nicht nötig, denn die in Relation zum Gesamttext recht ausführliche Rahmenhandlung erzeugt Authentizität, indem sie das Diesseits so gestaltet, dass es von Zeitgenossen als nachvollziehbar empfunden und verstanden werden kann. Der Redaktor der ‚Visio Edmundi‘ verfährt deutlich detaillierter, vor allem hinsichtlich des Leibes Edmunds, indem er verschiedene medizinische und geistliche Behandlungen beschreibt, ein Vorgang, der wiederum Identifikationspotential im Adressatenkreis er­ zeugt. Die ‚Visio Thurkilli‘ erreicht nicht die Länge der Eynsham-Vision, jedoch wird das Detailreichtum hier durch ganz konkrete Begründungen des Redaktors, warum etwas geschieht, ersetzt. Es wäre zu weit gegriffen, dies als Leseanweisungen zu ver­ stehen. Jedoch wird der Interpretationsspielraum der Rezipierenden durch solche Begründungen eingegrenzt. Es wird stattdessen vermehrt auf göttliches Einwirken verwiesen (Einflößen des Atems durch Julianus Hospitator), wenn Dinge schwer zu erklären sind, wie eben der sonderbare Zustand des Reisenden während seiner Entrü­ ckung. Das authentische Setting soll beibehalten werden. Auch lassen sich Unterschiede im Verhältnis von Leib und Seele ausmachen, denn hier zeigen sich ebenfalls variable Deutungen. Scheinen Orm und Edmund augen­ scheinlich noch mit ihrem Leib verbunden, während ihre Seelen im Jenseits wandern,

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ist das Bild bei Thurkill ein ganz anderes: Ohne Julianus rettenden Atem würde Thur­ kill nicht zurückkehren können, da sein Leib außer dem Atem keine Vitalzeichen auf­ weist. Dagegen lassen sich bei Orm und Edmund eine ganze Bandbreite an Lebens­ zeichen finden. Damit gliedern sich die Jenseitsreiseberichte in einer ganz praktischen Art und Weise an den Diskurs um Körper und Seele an und liefern so ein begreif­ bares, die Texte authentisierendes und dennoch variables Erklärungsmodell dafür. Es braucht den anschaulichen Leib als übergeordnete Gemeinsamkeit in den ausführli­ chen Rahmenhandlungen. Bibliographie Quellen Handschrift: London, Lambeth Palace MS cod. 51 (Liber Revelationum), fol. 32va–54va. Beda Venerabilis. Visio Drycthelmi = Beda, Hist. eccl. V.12, in: Bede’s Ecclesiastical History of the English People, hg. v. Bertram Colgrave / Roger A. B. Mynors (Oxford Medieval Texts), Oxford 1969, S. 488–499. Beda Venerabilis. Visio Fursei = Beda, Hist. eccl. V.12, in: Bede’s Ecclesiastical History of the Eng­ lish People, hg. v. Bertram Colgrave / Roger A. B. Mynors (Oxford Medieval Texts), Ox­ ford 1969, S. 268–277. De Purgatorio Sancti Patricii. Das Fegefeuer des Heiligen Patrick, lateinischer Text v. Robert Eas­ ting, übers. und komm. v. Maximilian Benz (Mittellateinische Bibliothek 6), Stuttgart 2020, S. 1–67. Godeschalcus, in: Godeschalcus und Visio Godeschalci, hg. u. übers. v. Erwin Assmann (Quel­ len und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 74), Neumünster 1979, S. 46–159. Hillgarth, Jocelyn Nigel, Christianity and Paganism, 350–750. The Conversion of Western Eu­ rope (The Middle Ages), Philadelphia 41986, S. 195–204. Marcus von Regensburg. Visio Tnugdali., in: Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali. Vision des Tnugdal, hg. v. Hans-Christian Lehner / Maximilian Nix (Fontes Christiani 74), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2018. Symeon of Durham. Libellus de Exordio atque Procursu istius, hoc est Dunhelmensis, Ecclesie. Tract on the Origins and Progress of this the Church of Durham, hg. v. David Rollason (Oxford Medieval Texts), Oxford 2000. Visio Baronti monachi Longoretensis, ed. Wilhelm Levison (MGH SRM 5), Hannover/Leipzig 1910, S. 368–394, hier: 377–394. Die Vision des Bauern Thurkill. Visio Thurkilli mit deutscher Übersetzung, hg. v. Paul Gerhard Schmidt, Leipzig 1987. Vita et Visio et Finis Simplicis Orm, in: The Vision of Orm, hg. v. Hugh Farmer, in: Analecta Bollandiana 75 (1957), S. 76–82.

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Visionskonspirationen Das Scheitern von Transzendenzerfahrungen im ‚Timarion‘ Rike Szill I. Das Gesicht wahren? Zum Diskurs um die Etablierung des Fegefeuers in Byzanz Damit hatte Tebaldo Visconti wohl nicht gerechnet: Ihn, einen eigentlich ganz und gar nicht als papabile gehandelten Archidiakon aus Lüttich,1 der sich obendrein als Berater des englischen Kronprinzen noch mitten auf einem Kreuzzug in Palästina be­ fand,2 wählte das Konklave im September 1271 in seiner Abwesenheit zum Papst, um die bis dahin längste Sedisvakanz der Geschichte zu beenden.3 So trat Visconti seine Rückreise nach Rom an und wurde am 19. März 1272 erst zum Priester und wenige Tage später als Gregor X. (1271–1276) zum Bischof von Rom geweiht. Zu einer seiner ersten Amtshandlungen zählte die Einberufung des Zweiten Konzils von Lyon, in des­ sen Zuge 1274 die Wiederherstellung der Kirchenunion verkündet und die lateinische Fegefeuerlehre zum Dogma erklärt wurde.4 In den Ostkirchen wurden die Konzilsbe­ schlüsse – einschließlich des Fegefeuers als eine der wohl wichtigsten Bottom-Up-Er­ findungen der mittelalterlichen Vorstellungswelt – jedoch nicht anerkannt. Vielmehr sollte die dogmatische Neuausrichtung der Jenseitstopographie inklusive dieses drit­ ten Jenseitsortes noch zu einem zentralen Streitgegenstand in den Verhandlungen um die Wiederherstellung der Kirchenunion werden: Auf dem Konzil von Ferrara-Flo­ renz (1438/1439) – und damit mehr als 150 Jahre später – bildete die Frage nach der 1 2 3 4

Vgl. einführend Bautz, Gregor X., sowie Baldwin, Pope Gregory X, bes. S. 31–98, mit weiterer Literatur. Vgl. dazu Lower, Tunis, sowie Lloyd, Crusade. Vgl. dazu Fischer, Kardinäle. Vgl. dazu einführend Schatz, Konzilien, S. 114–118, ferner Roberg, Konzil, und Proch, Unions­ konzilien. Zur Reaktion in Byzanz vgl. Marinis, Afterlife, S. 74–81, Mîrşanu, Awareness, Nicol, Byzantine Reaction, und Hussey, Orthodox Church. Zur Idee des Fegefeuers vgl. maßgeblich LeGoff, Geburt, Angenendt, Theologie, S. 158–160 und S. 185 f., ders., Religiosität, S. 705–711, sowie Jezler, Jenseitsmodelle, bes. S. 17–19.

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Anerkennung des Fegefeuers in Byzanz noch kurz vor der osmanischen Einnahme Konstantinopels einen zentralen Aspekt in den Verhandlungen um die Wiederherstel­ lung der Kirchenunion.5 In der Tat zeugt der Diskurs um die Existenz des Fegefeuers als Jenseitsort in Byzanz bereits im 13. Jahrhundert von einer Brisanz sondergleichen,6 die es sich ins Gedächt­ nis zu rufen lohnt. Die wesentlichen Aspekte im Dissens darüber fasst der korfiotische Metropolit Georgios Bardanes († ca. 1240)7 in einem Brief an den Franziskanermönch Fra Bartolomeo8 zusammen.9 Dort heißt es: Sie [sc. die Franziskaner] lehren und legen fälschlicherweise als Doktrin fest, dass es ein reinigendes Feuer gibt, in das die Sterbenden, nachdem sie gebeichtet haben, aber [noch] keine Zeit hatten, ihre Sünden tief zu bereuen, aufgenommen und vor dem letzten Gericht gereinigt werden und [so] schließlich Erlösung von der Strafe vor dem letzten Gericht erlangen. […] Die Seelen der Sündenden gehen [aber] nicht von nun an an den Ort der ewigen Strafe. Denn Er […] ist noch nicht gekommen, um die Gerechten von den Sün­ denden zu trennen. Doch sie [sc. ihre Seelen] gehen an ziemlich finstere Orte, die die zukünftigen Qualen vorwegnehmen, die solche Menschen erleiden werden. Denn wie den Gerechten im Haus des Vaters viele Wohnungen und Ruhestätten zugeteilt sind […], so sind auch für die Sündenden verschiedene Orte der Strafe aufbewahrt.10

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Vgl. dazu Podskalsky, Tod und Auferstehung, S. 30 (Anm. 110), Beck, Byzantiner, S. 69 f., Ma­ rinis, Afterlife, S. 75, Mîrşanu, Awareness, S. 180, für die byzantinische Sicht auf die Konzils­ verhandlungen Gerogiorgakis, Gespräche, mit Anm. 16 in diesem Beitrag, ferner Bathrel­ los, Purification, sowie allgemein Suttner, Konzil, Kolditz, Konzil, ders., Episkopat, S. 56, Geanakoplos, Council, und Gill, Council. Zu den verschiedenen Haltungen gegenüber dem Fegefeuer in postbyzantinischer Zeit vgl. Podskalsky, Türkenherrschaft. Vgl. dazu Farrugia, Fegefeuer, und Brandes, Hochverrat, S. 178 f., mit weiterer Literatur. Vgl. zu Bardanes Macrides, Bardanes, Roncaglia, Frères mineurs, S. 23–28, ders., Bardanèse, S. 72 f., Avvakumov, Entstehung, bes. S. 199–201 mit Anm. 5–6, sowie Beck, Kirche, S. 668 f. Vgl. zu Fra Bartolomeo Roncaglia, Frères mineurs, S. 25 f., und ders., Bardanèse, S. 74, mit wei­ terer Literatur. Dieser Briefverkehr bildet einen der frühesten Belege für die theologische Diskussion um das Fegefeuer zwischen Byzantinern und Lateinern. Bardanes selbst schrieb wohl 1231 oder 1236 aus dem Kloster San Nicholas de Casole im apulischen Otranto. Dorthin war er auf Geheiß des Re­ genten in Thessaloniki, Manuel Komnenos Dukas († 1241), als Teil einer Gesandtschaft an Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. übergesetzt. Bardanes verstarb jedoch infolge einer Krankheit vor seiner Weiterreise ebendort im Jahr 1240, vgl. Farrugia, Fegefeuer, Mîrşanu, Awareness, S. 180–182, Roncaglia, Il primo incontro, Ombres, Debate, bes. S. 1–6, und Marinis, After­ life, S. 74. Vgl. für implizite wie explizite Hinweise auf einen Diskurs im 10. und 11. Jhd. Foxhall Forbes, Apocalypse. Die Annahme bei Beck, Kirche, S. 319, „da[ss] sich schon Bardanes und fra Bartolomeo nicht verstanden und aneinander vorbeigeredet haben“, mag vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Bardanes 4–9, 19–26, ed. Roncaglia, S. 56 und S. 58: […] ἠρωτήθημεν […] παρὰ τῶν […] Φρατεμενουρίων οἵτινες παραδιδάσκουσι καὶ παραδογματίζουσιν εἶναί τι πῦρ καθαρτήριον, ἐν ᾧ οἱ τελευτῶντες ἐν ἐξαγορεύσει μήπω δὲ φθάσαντες ἀποκλαύσασθαι τὰ οἰκεῖα πλημμελήματα ἀπάγονται καὶ καθαίρονται πρὸ τῆς τελευταίας κρίσεως τέλος εὑρίσκοντες ἀπαλλαγὴν τιμωρίας πρὸ τῆς τελευταίας κρίσεως […]. Ἀπέρχονται αἱ ψυχαὶ τῶν ἁμαρτωλῶν οὐκ ἀπεντεῦθεν μὲν εἰς κόλασιν

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Auf den ersten Blick scheint sich die grobe Idee vom Leben nach dem Tod – mit dem Verweilen der Seele an einem Lohn- oder Strafort εἰς τόπους σκυθρωποτέρους προζωγραφοῦντας τὰς μελλούσας ἀποδέχεσθαι (Bardanes 22 f., ed. Roncaglia, S. 58), „an ziemlich finstere[n] Orte[n], die die zukünftigen Qualen vorwegnehmen,“ – gar nicht so sehr vom lateinischen Konzept des Fegefeuers zu unterscheiden.11 Bardanes zufolge bewegt sich die Seele nach dem Tod aber direkt zu einem Straf- oder Lohnort, welche ihrerseits beide nur einen Vorgeschmack auf das bieten würden, was – ganz im Sinne der Apokatastasis und damit der Wiederherstellung aller Dinge – am Tag des Jüngsten Gerichts eintreten wird.12 Folglich haben wir es bei diesem, in der Forschung gemeinhin als „Zwischenzustand“13 bezeichneten Verweilen der Seele nach dem Tod in Byzanz weder mit einer Dreiteilung des Jenseits noch mit einem Läuterung und Er­ leichterung bringenden Feuer, sondern mit einem vorläufigen Urteil über den Verbleib an einem Lohn- oder Strafort zu tun, das auf das endgültige Urteil beim Jüngsten Ge­ richt keinen Einfluss besitzt.14 Dabei ist die byzantinische Überzeugung, dass die Seele im Zwischenzustand eben keine Reinigung und keine Erleichterung ihrer Sünden erhält,15 auch für die Bemühun­ gen um die Wiederherstellung der Kirchenunion relevant:16 Denn in Byzanz hat sich αἰωνίαν·[…] οὒπω γὰρ […] εἰσελήλυθε διαχωρίζων δικαίους ἀπὸ ἁμαρτωλῶν. Πλὴν ἀπέρχονται εἰς τόπους σκυθρωποτέρους προζωγραφοῦντας τὰς μελλούσας ἀποδέχεσθαι βασάνους τοὺς τοιούτους. Ὡς γὰρ πολλαὶ μοναὶ καὶ ἀναπαύσεις τοῖς δικαίοις ἀποκεκλήρωνται ἐν τῇ οἰκίᾳ τοῦ πατρός, […] οὓτω καὶ διάφοροι κολάσεις τοῖς ἁμαρτήσασιν ἐναπόκεινται. Vgl. auch Marinis, Afterlife, S. 1, S. 55 und S. 74 f. 11 Vgl. Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 141, in Bezug auf das angelsächsische England und Byzanz: „Although these texts […] witness to different traditions about the afterlife, the theology which they reveal in relation to the Last Judgement is substantially similar, while the theology of the interim is quite different.“ 12 Vgl. hierzu wie im Folgenden maßgeblich Marinis, Afterlife, S. 75, sowie ferner Bhalla, Experi­ encing, S. 57, und Kretzenbacher, Versöhnung. 13 Marinis, Afterlife, passim, und Chitwood, Dying, S. 224, nennen diesen Zustand „interim ­state“, Beck, Byzantiner, passim, spricht von einem „Zwischenstadium“. Vgl. ferner Podskalsky, Purgatory, und Greshake, Zwischenzustand, sowie den Hinweis von Auffarth, Irdische Wege, S. 19 [Hervorhebung d. Verf.], demzufolge „in der ‚Geburt des Fegefeuers‘ […] der Zwischenzustand zwischen [d]em individuellen Ende und dem universalen Jüngsten Gericht eine eigene heils­ wirksame Bedeutung [erhält].“ 14 Diesen Umstand betont auch Beck, Byzantiner, S. 40 f. und S. 52 f. Die Idee eines dreigeteilten Jenseits ist erst aus der Frühen Neuzeit in Russland überliefert; dort erfahren die Seelen im dritten Jenseitsort jedoch auch keine Reinigung, wenngleich Fürbitten und Almosen eine erleichternde Wirkung haben, vgl. Lusiardi, Stiftungen, S. 58, und Steindorff, Memoria, S. 87. 15 Vgl. dazu Kazhdan/Epstein, Change, S. 193: „While the efficacy of good works and the prayers of others was certainly recognized by the Orthodox, indulgences were unheard of.“ Vgl. zudem Angold, Church, S. 448–453, und Lusiardi, Stiftungen, S. 59 mit Anm. 43. 16 Dieser Zustand spiegelt sich in den Verhandlungsgesprächen zur Anerkennung des Fegefeuers auf dem Konzil von Ferrara-Florenz wider, vgl. dazu Gerogiorgakis, Gespräche, S. 428 f.: „Die Entscheidung, die Konzilsarbeit mit einem nicht besonders heiklen Thema anzufangen und somit schnelle Fortschritte bei der Annäherung zu erzielen, hat zwar Früchte gezeigt, allerdings nicht im erhofften Ausmaß.“ Anders äußert sich Beck, Kirche, S. 319, demzufolge die Frage nach der

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trotz der starken Beschäftigung mit dem Leben nach dem Tod keine so systematische Vorstellung vom Jenseits wie in der lateinischen christianitas etabliert.17 Vielmehr blie­ ben im byzantinischen Mittelalter durchaus unterschiedliche Auffassungen über das vorläufige Seelenurteil nach dem Tod nebeneinander bestehen:18 Diese reichten von ei­ nem bloßen Verbleiben an einem dunklen Ort über ein Partikulargericht nach 40 Tagen bis hin zur Ablegung mehrerer Prüfungen in Form von Zollstationen (τελώνια),19 deren Ergebnis über den vorübergehenden Aufenthaltsort der Seele im Jenseits entschied.20 Soweit scheint der postmortale Verbleib der Seele in einem recht flexibel struktu­ rierten Zwischenzustand in Byzanz trotz Läuterungslosigkeit nicht sonderlich proble­ matisch gewesen zu sein. Dies änderte sich jedoch spätestens ab dem 13. Jahrhundert, da im Zuge des Kirchenstreits zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen vom Jenseits diskutiert wurden – und dabei hätte die Anerkennung des Fegefeuers als drit­ ter Jenseitsort im Falle seiner Umsetzung in der Tat unmittelbare Konsequenzen für das alltagsreligiöse Leben in Byzanz gezeitigt: Denn dort existierte bis ins 15. Jahrhun­ dert hinein schlichtweg keine explizite theologische Begründung für das Totengebet,21 die seinen tatsächlichen Nutzen, seinen genauen Grund und sein exaktes Ergebnis allgemeingültig festgeschrieben hätte.22 Wenn folglich ein byzantinischer Teilnehmer auf dem Konzil von Ferrara-Florenz noch darauf insistierte, dass die orthodoxe Kirche

Existenz des Fegefeuers nie „[e]inen sehr wesentlichen Punkt der lateinisch-griechischen Kontro­ verse bildete […][,] [w]ahrscheinlich deshalb nicht, weil die Byzantiner ihrerseits über keine sehr klare Eschatologie verfügten und teilweise das, was sie in ihren Schriften lehrten, in ihrer Liturgie widerriefen.“ 17 Vgl. Marinis, Afterlife, passim, ders., Fate, S. 59, Bhalla, Experiencing, S. 57, sowie Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 141 und S. 160 (Anm. 13), mit weiterer Literatur. Etwas zu apodiktisch liest sich die Einschätzung bei Lusiardi, Stiftungen, S. 58: „[E]ine theologische Systematisierung des Jenseits fand nicht statt.“ Vgl. treffender hierzu Constas, Middle State, S. 19: „[T]hroughout the Byzantine world one finds an assortment of eschatologies strewn somewhat carelessly about.“ Vgl. auch Chitwood, Dying, S. 200: „[A]ccounts of death and the afterlife, even if broadly in agree­ ment regarding fundamentals, often differed considerably in particulars.“ 18 Marinis, Afterlife, S. 15–27, hier S. 15, spricht – wenn auch mit Blick auf die Spätantike – von einer „diversity of the afterlife“. Vgl. zudem Bhalla, Experiencing, S. 57 f. mit Anm. 73. 19 Zu den τελώνια vgl. Afentoulidou, Vorstellungen, und Krausmüller, Demonic Tollgates. 20 Vgl. dazu Podskalsky, Tod und Auferstehung, S. 15 mit Anm. 4. 21 Ihr Praktizieren hatte genau wie im lateinischen Westen zwar eine lange Tradition, jedoch fokus­ sierten sich die dazugehörigen Begründungen mehr auf die Bestätigung bestehender Lehrmeinun­ gen, anstatt deren Etabliertheit als gesellschaftliche Praxis zu verdeutlichen. Entsprechend äußerte auch der eingangs genannte Bardanes, dass die Almosen und Liturgien der Angehörigen einer*s Verstorbenen οὐ μόνον χρησιμεύουσιν αὐτῷ τῷ μετανοήσαντι τῆς τιμωρίας τοῦ καθαρτηρίου πυρὸς ἐξελθεῖν (Bardanes 138, ed. Roncaglia, S. 68), „nicht nur dem Büßenden selbst dazu dienten, der Strafe des reinigenden Feuers zu entfliehen“, sondern dass durch sie der paradiesische Urzustand wiederhergestellt werden könne. Vgl. dazu Beck, Kirche, S. 320, Marinis, Afterlife, S. 75–79, der dies ebd., S. 75, als „overenthusiastic and rather awkward statement“ bewertet, sowie Chitwood, Dying, S. 204. 22 Vgl. dazu Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 152 f., und Marinis, Afterlife, S. 100: „Whereas all agree that the prayers for the dead are beneficial, it is unclear what the benefit is.“

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in ihrer Liturgie und ihren Gebeten eben für alle verstorbenen Seelen bete und dabei auch noch so schwere Sünder*innen miteinbeziehe,23 ist mit der Frage nach der Aner­ kennung des Fegefeuers in Byzanz ein Kernelement christlicher Glaubenspraktiken angesprochen: Wozu dann überhaupt das Ganze, wenn die Verstorbenen im Jenseits sowieso nicht bloß eher schlecht als recht, sondern alle eher gleich schlecht als gleich recht gewertet werden – und das letzte Urteil zu allem Überfluss ohnehin noch nicht gesprochen ist? Wie lässt sich dann jedoch das Gesicht gegenüber der Glaubensge­ meinschaft wahren, die dem gesamteuropäischen Trend entsprechend ein steigendes Interesse an dem Zusammenhang zwischen den Taten der Menschen im Diesseits und ihrem unmittelbaren Schicksal nach dem Tod entwickelt hat?24 Zwar bestanden durchaus byzantinische Konzepte, die in der lateinischen Fegefeuerlehre ihre grobe Entsprechung fanden; allerdings besaßen diese – ähnlich wie die Vorstellungen vom Zwischenzustand – in Byzanz lange keine allgemeine Verbindlichkeit.25 Trotz dieser zugegebenermaßen recht verworrenen und komplexen Gemengelage wird in der anfänglich skizzierten Ablehnungshaltung des Metropoliten von Korfu deutlich, dass durch die Schaffung des Fegefeuers im Westen auch in Byzanz ein Pro­ zess angestoßen wurde, der zwar erst im 15. Jahrhundert unter Druck beschlussfähig wurde. Aber auch wenn die Beschlüsse des Zweiten Konzils von Lyon dem allgemei­ nen Narrativ nach eher als Zwischeninstanz gewertet wurden, so blieb die Diskussion um das Fegefeuer doch „a point of friction between East and West for many decades

So heißt es in der Oratio altera, Cap. 12.28 f., ed. Petit, S. 70, des Metropoliten von Ephesos, Markos Eugenikos (* 1391/1392, † 1444): Διὰ δὴ ταῦτα καὶ τὰς ὑπὲρ τῶν κεκοιμημένων εὐχάς, ἅς ἡ ἐκκλησία παρὰ τῶν ἀποστόλων αὐτῶν καὶ τῶν πατέρων ἐκδεξαμένη ποιεῖται ἔν τε τῇ μυστικῇ θυσίᾳ καὶ ἐν ἂλλαις τισὶ τελεταῖς κατὰ διαφόρους καιροὺς γινομέναις, ὑπὲρ πάντων ὁμοίως ποιούμεθα τῶν ἐν τῇ πίστει κεκοιμημένων, καὶ πᾶσιν αὐτὰς συντελεῖν τι καὶ συνεισφέρειν φαμὲν καὶ πρὸς ἅπαντας διαβαίνειν τὴν ἀπ’ αὐτῶν δύναμιν καὶ ὠφέλειαν· τοὺς μὲν ἁμαρτωλοὺς καὶ ἐν τῷ ᾅδῃ κατακεκλεισμένους […]. „Deswegen befinden wir über alle Totengebete, die die Kirche in Übernahme von ihren Apos­ teln und Vätern im Rahmen des mystischen Sakraments und in anderen Riten aus verschiedenen Zeiten durchführt, dass diese für alle, die im [rechten] Glauben verstorben sind, gleich sind, und sagen, dass sie allen etwas nützen und bringen und für alle Kraft und Hilfe von ihnen ausgehen soll: sowohl für Sündende als auch für diejenigen, die in der Hölle eingeschlossen sind […].“ Vgl. auch Lusiardi, Stiftungen, S. 59, Podskalsky, Theologie, S. 219, Marinis, Afterlife, S. 102, und ders., Fate, S. 74 mit Anm. 56. 24 Diesen Zusammenhang hat Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 153, im Rahmen eines Struktur­ vergleichs der Werke des Benediktinermönches Ælfric Grammaticus (* 955, † 1020) und der Mitte des 10. Jhds. entstandenen Vita Basilius’ des Jüngeren für das 10. und 11. Jhd. herausgestellt. Ähnlich äußert sich auch Baun, Tales, S. 311. 25 Hierzu zählt z. B. das Konzept der mesoi für gläubige Menschen, die vor ihrem Tod für kleine Sün­ den entweder keine oder für schwere Vergehen nicht genug Buße geleistet haben. Vgl. dazu Ma­ rinis, Afterlife, S. 102–105, mit der Einschätzung ebd., S. 105: „Although the concept of the mesoi had long existed, it never became mainstream.“ Vgl. dazu auch Bhalla, Experiencing, S. 58–60, sowie weiter unten. Auf die generell lange Geschichte der Idee des Fegefeuers in den Ostkirchen wies auch Podskalsky, Purgatory, S. 1759, hin, welche trotz ihrer Ablehnung im Zuge des Kir­ chenstreits „paradoxically can be traced back in its essential features to Greek patristic theology.“ 23

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to come.“26 Und auch wenn die Überlieferungslage über den gegenseitigen Austausch dazu recht überschaubar ausfällt,27 so scheint eine Quelle dabei allzu vorschnell aus­ geklammert worden zu sein: der ‚Timarion‘, ein satirischer Jenseitsdialog aus Byzanz.28 In der Tat geht es in dem Text nicht per se um das Fegefeuer. Jedoch dürfte – wie es im Folgenden zu zeigen gilt – das Wissen um die Idee des Fegefeuers die Abfassung des ‚Timarion‘ durchaus strukturiert und beeinflusst haben. Entsprechend möchte der vorliegende Beitrag die These diskutieren, dass die Wahl der Jenseitsthematik im ‚Timarion‘ eine tiefergreifende Relevanz besitzt, die sich nicht in der Lesart als bloßes Satirewerk erschöpft. Er knüpft damit an die von Julia Weit­ brecht und Andreas Bihrer in der Einleitung des Tagungsbandes skizzierte Problematik zur Medialisierung von Jenseitserfahrungen an:29 Denn die Wahrhaftigkeit der Jenseits­ reise des Timarion ist nicht nur innertextlich, sondern auch im Rahmen seiner Rezep­ tionsgeschichte umstritten. Folglich soll zunächst plausibel gemacht werden, dass der ‚Timarion‘ als eine im Kern authentisch gemeinte Jenseitsreise zu verstehen ist, in der der Protagonist seinem Gesprächspartner zu verstehen geben will, dass er gerade wirk-

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Marinis, Afterlife, S. 75. Vgl. dazu ferner Mîrşanu, Awareness, S. 179 f., und Dendrinos, Reflec­ tions, S. 134. Vgl. pointiert Marinis, Afterlife, S. 75: „There was not, however, much discussion between the two sides [sc. East and West] about the afterlife.“ Aufgrund zahlreicher textimmanenter Befunde wird der ‚Timarion‘ ins 12. Jhd. datiert. Das zeitli­ che Setting der Handlung ist jedoch nicht zwingend mit dem Entstehungszeitpunkt des Werkes gleichzusetzen: Denn der ‚Timarion‘ ist nur als codex unicus in Vat. gr. 87, fol. 453r–470v, aus dem 14. oder frühen 15. Jhd. überliefert, vgl. Romano, Introduzione, S. 39–41, Thorn-Wickert, Chryso­ loras, S. 153, den Eintrag in Pinakes (https://pinakes.irht.cnrs.fr/notices/cote/66718/ [abgerufen am 11.05.2022]), Numéro diktyon: 66718, und Anm. 98 in diesem Beitrag. Ist der Überlieferungs­ träger selbst trotz zwischenzeitlicher Bezugnahmen auf das Werk (vgl. dazu weiter unten) deutlich später zu datieren, ist es möglich, dass der Text innerhalb von mindestens zwei Jhd. Veränderun­ gen und Anpassungen erfahren hat, die aufgrund der prekären Überlieferungssituation jedoch nicht nachvollziehbar sind, vgl. Bihrer, Bearbeitungspraxis, und ders., Offenbarungen, S. 241: „Niederschriften christlicher Jenseitsvisionen waren keine stabilen Texte, sondern sie wurden wechselnden historischen Kontexten, anderen Funktionen oder neuen Interessen angepasst.“ Die­ sen Umstand betont auch Baun, Tales, S. 2: „The tales were often reworked, and each version free­ zes a particular moment in the moral, social, and ritual life of the community within which it was written.“ Auch wenn der Text dabei im Kern wohl stabil geblieben sein sollte, wissen wir schlicht­ weg nicht, über welche Version des ‚Timarion‘ sich „[e]in Kritiker des Timarion“ – so der Titel von Treu, Kritiker – echauffierte, vgl. weiter unten. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag vorschlagen, den ‚Timarion‘ als solchen nicht strictu sensu ins 12. Jhd. zu datieren, sondern hier genauer zwischen Werkhandlung, die sicher im 12. Jhd. zu verorten ist, und Werküberlieferung, die sicher aus dem Spätmittelalter stammt, zu differenzieren. Vgl. zu dieser Differenzierung auch Nilsson, Narrative, S. 282–284. Angesichts dieser Datierungskontroverse mag die Einschätzung von Messis, Fortune, S. 37, dass der ‚Timarion‘ „can be dated with no hesitation to the late 11th or early 12th century“, nicht einleuchten, vgl. auch Anm. 37 in diesem Beitrag. Vgl. zur signifikanten Änderung von Aussagegehalt und Rezeption durch ‚kleinere‘ Texteingriffe den Beitrag von Patrick Nehr-Baseler in diesem Band. Vgl. dazu die Ausführungen von Julia Weitbrecht und Andreas Bihrer in der Einleitung dieses Bandes.

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lich aus dem Jenseits zurückgekommen ist – sprich: dass sich der Visionär Authenti­ sierungsstrategien bedient, um seinen Ausführungen Glaubwürdigkeit zu verleihen.30 Mit Blick auf die in der Einleitung dieses Sammelbandes angesprochene Bandbrei­ te an Verbindungsmöglichkeiten von Dies- und Jenseits in mittelalterlichen Vorstel­ lungswelten wird der ‚Timarion‘ folglich nicht nur als Satireschrift in sozio-politischer Hinsicht, sondern als Jenseitsreise und im Kontext der Dogmatisierung des Fegefeuers in Byzanz auch in religiöser Hinsicht funktionalisiert. Ferner ist es damit ein weiteres Anliegen dieses Beitrages, die im Werk formulierte und schon mehrfach untersuchte Gesellschaftskritik um eine weitere Facette zu ergänzen.31 Für diese Ausführungen ist auch die Überlieferung des ‚Timarion‘ relevant: Dazu wird im Folgenden ein bislang kaum bekanntes Textexzerpt präsentiert,32 das nicht nur eine neue Einordnung des ‚Timarion‘ erlaubt, sondern anhand dessen auch diskutiert werden soll, ob das Werk im Kontext des Kirchenstreits möglicherweise als Plädoyer für religiöse Toleranz ge­ lesen werden kann. An diese Überlegungen sind einige Anmerkungen zur Überliefe­ rungsgeschichte, den Sammlungskontexten des Werkes sowie seiner mittelalterlichen Rezeption gekoppelt,33 über die schließlich wieder der Bogen nach Lyon geschlagen werden soll. Stehen die Überlegungen damit ganz im Zeichen einer Verortung des ‚Timarion‘ zwischen ‚Gesicht und Handschrift‘, so möchte der Beitrag mit drei Thesen für die weitere Erforschung mittelalterlicher Jenseitsliteratur schließen. II. Welche Miene zu welchem Spiel? Das ‚ernste‘ Gesicht des ‚Timarion‘ Der ‚Timarion‘ (Τιμαρίων ἢ περὶ τῶν κατ᾽ αὐτὸν παθημάτων, „Timarion, oder über des­ sen Leiden“)34 ist als Vertreter byzantinischer Dichtung in der Forschung ein wohlbe­ kannter Text: Darin erzählt dessen gleichnamiger Protagonist seinem Freund Kydion von dem buchstäblichen Höllenritt einer Rückreise vom Demetriusfest in Thessalo­ niki nach Konstantinopel. Zum Abreisezeitpunkt ohnehin schon angeschlagen sei Timarion dabei auf halber Strecke so krank geworden, dass er nachts – von zwei Dä­ monen fälschlicherweise für tot gehalten – in den Hades entrückt wurde und mithilfe

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Vgl. dazu Weitbrecht, Wissen, bes. S. 105 f., und Bihrer, Offenbarungen. Vgl. dazu Nilsson, Poets, und dies., Hades, S. 323, sowie Anm. 38 und 46 in diesem Beitrag. Einen Hinweis auf dieses niewielki fragment tekstu, dieses „kleine Textfragment“, geben lediglich Marciniak/Warcaba, Timarion, S. 9. Vgl. auch den Eintrag in Pinakes (https://pinakes.irht. cnrs.fr/notices/cote/71889/ [abgerufen am 11.05.2022]), Numéro diktyon: 71889, Anm. 100 in die­ sem Beitrag und weiter unten. Ich danke der ÖNB Wien für die schnelle Anfertigung und Bereit­ stellung des Handschriftendigitalisats. Vgl. zur Rolle von Kompilationen als Text- und Sammlungspraxis Gebauer, Visionskompilationen. Vgl. einführend Hunger, Literatur, S. 151–154, Grünbart, Timarion, Kazhdan, Timarion, Ro­ mano, Introduzione, S. 13–38, Baldwin, Timarion, S. 1–37, und Blachakos, Τιμαρίων, S. 17–38.

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seines dort wiedergetroffenen Lehrers, des Philosophen und Theologen Theodoros von Smyrna (* um 1050, † nach 1112),35 vor einem Unterweltsgericht erfolgreich über seine Rückkehr ins Diesseits verhandeln ließ.36 Um den ‚Timarion‘ kreisen dabei eine ganze Fülle an Forschungsdebatten, die mit der Frage nach der Autorschaft und Datierung zum einen ganz grundsätzliche As­ pekte der Quellenkritik betreffen,37 zum anderen aber auch komplexere Anliegen wie gesellschaftskritische Aussagegehalte,38 die Funktion antiker Reminiszenzen39 oder medizinische,40 juristische41 und bildungsphilosophische42 Textelemente in den Blick nehmen.43 Verkompliziert wird diese Sachlage zusätzlich durch den im Grunde zwar richtigen, aber geradezu formelhaft angeführten Hinweis darauf, dass es sich beim ‚Timarion‘ in seiner starken Anlehnung an das Œuvre des spätantiken Autors Lukian von Samosata (* vor 120, † nach 180 oder um 200) in erster Linie um eine Satireschrift

35 Vgl. Alexiou, After Antiquity, S. 104 f., Kaldellis, Toward, S. 276–278, und Krallis, Harmless, bes. 227–229. 36 Nahezu alle neueren Beiträge bieten eine inhaltliche Zusammenfassung des Textes, vgl. neben Ro­ mano, Introduzione, und Baldwin, Timarion, exemplarisch Alexiou, After Antiquity, S. 100– 102, Menelaou, Satire, S. 55–57, Krallis, Harmless, S. 222, Kaldellis, Toward, S. 275 f., und Marciniak/Warcaba, Timarion, S. 16–18. 37 Auch wenn der ‚Timarion‘ von der jüngeren Forschung generell als „anonymous satirical work that was composed in the 12th century“ (Bzinkowski, Notes, S. 129) beschrieben wird, rekurrieren Beiträge noch regelmäßig und in unterschiedlichem Umfang auf Debatten zu dessen Autorschaft und Datierung. Vgl. für einen Überblick Baldwin, Timarion, S. 28–37, ders., Authorship, sowie Anm. 28 in diesem Beitrag. 38 Vgl. z. B. Menelaou, Satire, Alexiou, Subversion, S. 29–45, Krallis, Harmless, Nilsson, Po­ ets, S. 183 f., dies., Hades, S. 323 f., Kazhdan/Epstein, Change, S. 139 f., zu sozialen Ungleichhei­ ten im ‚Timarion‘ Toševa, Diversity, und Marciniak, Climate, S. 349, und für das angelsächsi­ sche England Foxhall Forbes, Interim. Hier wurden v. a. die Passagen in Thessaloniki mit der Beschreibung des Marktes, der Ekphrasis des Demetriusfestes und dem subversiven Enkomium auf den Stadtherren untersucht, vgl. Alexiou, Stylistic, dies., After Antiquity, S. 105–107, Kal­ dellis, Toward, S. 278–280, ders., Hellenism, 116 f., und Mullett, Laudandus, S. 256 f. 39 Vgl. zum literarisch den ‚Aithiopika‘ des spätantiken Romanautors Heliodor nachempfundenen Demetriusfest in Thessaloniki MacDougall, Festival, „[which] sheds new light on both the text itself and previous interpretations“ (Nilsson, Hades, S. 323). Vgl. auch Bzinkowski, Notes, S. 130 f., Kaldellis, Toward, S. 281–287, zum Konzept der imitatio/μίμησις bei der Identifikation antiker Reminiszenzen zuletzt Nilsson, Narrative, S. 285. 40 Vgl. dazu die Beiträge von Konstantinou, Medizin, Leven, Medizin, und Blachakos, Τιμαρίων, S. 34–36. 41 Vgl. dazu Beaton, Cappadocians, Macrides, Law, bes. S. 139–141, und Krallis, Harmless, S. 237–241. 42 Vgl. dazu Nilsson, Poets, Kaldellis, Toward, S. 276 f., und Merino Castrillo, Introducción, S. xxiv–xxvi. 43 Ferner befassten sich Studien mit der Identifikation von anonymen Personen, vgl. z. B. Reinsch, Identität, mit der Essensthematik im ‚Timarion‘, vgl. Eastmond/James, Eat, Dalby, Tastes, und Anagnostakis, Timarion, dem Vergleich mit anderen Satiretexten, bes. zur anonymen Jenseits­ satire „Totengespräche, oder: Die Hadesreise des Mazaris“ (Νεκρικὸς διάλογος ἢ ἐπιδημία Μαζάρι εἰς ᾍδου) aus dem 15. Jhd., vgl. Menelalou, Satire, S. 57–60, Baldwin, Mazaris, Garland, Mazaris, Leonte, Dramatisation, sowie Angold, Political Arts, S. 87–96.

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handeln würde.44 Obwohl in der Forschung und insbesondere in den in jüngerer Zeit getätigten „literary approach[es]“45 schon mehrfach angeklungen ist, dass im ‚Timari­ on‘ durchaus theologisch-religiöse Aspekte verhandelt würden,46 sind diese Hinweise vor der Prämisse „that all [in this work] is satire“47 weitestgehend unbeachtet geblie­ ben. In dieser Kategorisierung erschöpft sich jedoch nicht der Aussagegehalt des ‚Tima­ rion‘. Gerade wenn satirische Elemente „can perhaps better be thought of as a mode rather than a genre“48, tritt die Medialisierung des Jenseits im ‚Timarion‘ durch die Berufung auf ein gemeinsames Themen- und Beschreibungsrepertoire in die Nähe zu hagiographischen,49 theologischen50 und visionären Erzählformen.51 Dieser Um­ stand zeitigt auch Konsequenzen für den Bezugsrahmen des Textes: Denn aufgrund 44 Vgl. Alexiou, After Antiquity, S. 100 [Hervorhebung i. O.]: „[From] the satirical prose dialogue, usually associated with Lucian of Samosata […][,] [t]he Timarion […] is generally agreed to be the most polished, amusing, and informative.“ Auch bei Lukian überlieferte Elemente sind das Jen­ seitssetting, die (nicht-)anonyme Parodie von Personen, Gruppen, sozio-politischen Zuständen sowie das Auftreten von Sozialtypenfiguren. Vgl. dazu Marciniak, Reinventing, ders., Dealing, und Mestre, Sàtira, sowie zur byzantinischen Satire ders., Art, S. 361, zur Lukian-Rezeption in Byzanz Messis, Fortune. 45 Vgl. dazu MacDougall, Festival, S. 138, Alexiou, Stylistic, Kaldellis, Toward, und Krallis, Harmless. 46 Vgl. einschlägig Alexiou, Stylistic, und dies., After Antiquity, bes. S. 110 f., die jedoch – unter der Prämisse, dass Byzanz strukturell und vorstellungsweltlich anders als das westliche Europa ver­ fasst gewesen sei – außerhalb der Byzantinistik und mit Blick auf lateinischsprachige Jenseitsreisen kaum Widerhall erfahren haben. Vgl. zum Forschungspotential Kaldellis, Toward, S. 277: „It is strange that this work has not attracted more attention. […] The work combines Lucianic dialogue and social satire with travel narrative and ekphrasis; an idiosyncratic vision of Hades; religious his­ tory and relations among different religions; recent imperial history; medical-judicial controversy; courts and justice; classical allusions; and contemporary intellectual history.“ Vgl. auch Cupane, Heavenly, S. 53, sowie Anm. 58 in diesem Beitrag. 47 Kaldellis, Toward, S. 276. Vgl. dazu auch die Differenzierung bei Marciniak, Climate, S. 342. Eher eine Ausnahme bildet die ausgewogenere Einschätzung von Hunger, Literatur, S. 152: „Im Timarion haben wir eine wohlgelungene byzantinische Hadesfahrt mit klug dosierter Satire vor uns.“ 48 Marciniak, Art, S. 351. 49 Constantinou, Elements, bes. S. 81–88, hat kürzlich die Rolle von satirischen Elementen als wesentlichem Bestandteil hagiographischen Erzählens herausgestellt und ebd., S. 83, betont, dass „[i]n order to achieve their purposes, esthetic, religious, and propagandistic, Byzantine hagiogra­ phers often employ the typical elements of satire.“ Vgl. zur Nähe von hagiographischen Texten und Visionliteratur den Beitrag von Sarah-Christin Schröder in diesem Band. 50 Vgl. dazu Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 142 f.: „[T]he boundaries between the two genres are not absolute: theological discussion can appear in or alongside vision narratives and anecdotal accounts of visions can be used as evidence in the context of theological discussion.“ 51 Vgl. Merino Castrillo, Timarión, S. 160: „[E]ste argumento se abordaba habitualmente en ob­ ras cristianas (inserto generalmente en vidas de santos o textos apocalípticos) […].“ Bhalla, Experience, S. 57, verweist auf die problematische Darstellung der Jenseitstopographie, „because Byzantine understandings of the geography and chronology of eschatological processes were not systematic […].“ Letztlich wenig zielführend ist daher auch das – für einen ersten Überblick hilf­ reiche – Schema bei Baun, Apocalypse, S. 259.

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dieser Überschneidungen52 lassen sich einzelne narrative Elemente im ‚Timarion‘ weder ausschließlich der einen noch der anderen Lesart oder gar einem Genre als solchem zuordnen.53 In der Tat mag die Jenseitsthematik im ‚Timarion‘ folglich auf – zweifellos prominente – lukianische und damit satirische Vorbilder rekurrieren; sie generiert dadurch indes nicht nur assoziative Muster als gesellschaftspolitische Satire. Diese finden auch in den didaktischen, paränetischen und unterhaltenden Funktions­ weisen von Visionsliteratur ihre Entsprechung. Die Konstruktion dieses mehrfachen Bezugsrahmens bietet dem Autor damit eine geeignete Möglichkeit, ein gesellschaft­ lich komplexes und höchstgradig brisantes Thema in all seinen Facetten anzusprechen, sei es in der Karikierung von Personen im Rahmen von Herrschaftskritik,54 der schon im dialogischen Aufbau greifbar werdenden Divergenz philosophischer Positionen55 oder dem Rekurs auf ein zunehmendes Interesse am postmortalen Schicksal der See­ le. Zwischen diesen verschiedenen Lesarten besteht im ‚Timarion‘ dabei kein Wider­ spruch:56 Unter dem gleichsam satirischen Deckmantel verschärfen und entschärfen sich gesellschaftliche Referenzen und politische, soziale und religiöse Kritik gleicher­ maßen. Denn „laughter is a means of communication unlike any other. Laughter is a way by which individuals or social groups come to terms with a situation that appears as unacceptable or illogical.“57 Dass der ‚Timarion‘ janusartig zwischen unterschiedlichen Gesichtern changiert, hat die Forschung durchaus benannt. Der Hinweis, dass das Werk eine überzeugende Erzählung „with incidental realistic touches“58 sei, hat in bisherigen Interpretationen jedoch meist keine oder nur eine marginale Rolle gespielt. Dabei entsprechen das dop­ pelte Reisemotiv im diesseitigen wie jenseitigen Raum, die Integration prominenter 52

Vgl. auch Kaldellis, Toward, S. 282, Merino Castrillo, Introducción, sowie Anm. 140 in die­ sem Beitrag. 53 Vgl. deutlich Merino Castrillo, Introducción, S. v: „La adscripción a un género concreto es complicada […].“ 54 Vgl. Marciniak, Climate, S. 343–346. 55 Vgl. dazu v. a. Kaldellis, Toward, S. 280 [Hervorhebung d. Verf.]: „In the introductory sections of this work […], a philosopher more interested in the cosmic and religious questions raised by his experience of the afterworld is being pestered by a fellow Byzantine sophist who is typically more interested in rhetorical display.“ Vgl. kürzlich auch Merino Castrillo, Introducción, S. i [Her­ vorhebung d. Verf.]: „Bajo la especie de diálogo monológico de estirpe platónica hay sátira social, sociología de las religions, filosofía, retórica, un relato de viajes fantástico y una vision particular del Hades, con datos sobre ciertos personajes históricos, vida cotidiana, práctica médica y funciona­ miento de procesos judiciales.“ 56 Ähnlich äußert sich auch Nilsson, Hades, S. 323, auch wenn diese ‚lediglich‘ zwei Lesarten des ‚Timarion‘ in den Blick nimmt: „[T]here is no apparent conflict between these two readings [sc. as satire of contemporary society, its political and religious arrangements, and/or as a parody or cento of ancient Greek literature] […].“ 57 Bernard, Laughter, S. 40. 58 Alexiou, After Antiquity, S. 107. Vgl. dazu die knappe Bemerkung bei Kazhdan/Epstein, ­Change, S. 140, dass zahlreiche Motive im ‚Timarion‘ „were all drawn from contemporary Byzan­ tine life.“

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Figuren und Orte im Jenseits,59 die generell detaillierte Beschreibung gemäß der Stra­ tegie der erzählten Bewegung60 sowie schließlich die verschiedenen Schweregrade der Strafen dem gängigen Erzähl- und Beschreibungsrepertoire von Visionsliteratur. Insgesamt scheint der ‚Timarion‘ damit nur punktuell als das untersucht worden zu sein, was er in seiner werkimmanenten Textlogik zu sein vorgibt: eine Jenseitsreise.61 Folglich blieben auch jüngere Studien zum Werkauftakt noch zu wenig auf die Auf­ machung des Textes als Jenseitsreise bezogen, obwohl in der durch antike Reminis­ zenzen geschaffenen Gefahrenatmosphäre62 oder dem dialogförmig gehaltenen und als „frame-dialogue“63 identifizierten Paratext zweifelsohne eine Gesprächssituation generiert wird, die den Kommunikationsprozess zwischen dem Visionär und seiner Gewährsperson im Vorfeld der Verschriftlichung imitiert.64 Folglich ist die bloße Ge­ sprächskonzeption im ‚Timarion‘ an sich als Authentisierungsstrategie zu bewerten. Das Anliegen des Laienvisionärs wird indes durch die Einwürfe und Nachfragen seines Gesprächspartners konsequent ad absurdum geführt: Timarion will sich schon zu Beginn nicht mit Einzelheiten aufhalten, ja er brennt förmlich darauf, direkt von seiner Rückreise und seinen Erlebnissen ἐπὶ φοβεράν τινα δίαιταν καὶ ἀλλόκοτον (Timarion 15.403 f., ed. Romano, S. 64), „in dieser furchtbaren und seltsamen Lebenswelt“ zu berichten.65 In diesem Bestreben wird er jedoch mehrfach von seinem Freund Vgl. zum Reisemotiv Timarion 2.29–52, 16.426–434, 30.742–747, 42.1055–1064, 46.1170–1178, ed. Romano, S. 50 f., S. 65, S. 76, S. 87 und S. 91, mit Alexiou, After Antiquity, S. 105, und Kaldel­ lis, Toward, S. 276–279. Zum Figuren- und Ortsrepertoire zählt z. B. die Figur des Cerberus vor dem Eisernen Tor in Timarion 14.383–15.402, ed. Romano, S. 63 f. 60 Vgl. dazu Benz, Gesicht, S. 41 f. 61 Vgl. die Beiträge von Alexiou, Stylistic, Kaldellis, Hellenism, ders., Toward, und Bzin­ kowski, Notes. Alexiou, After Antiquity, S. 111, und Nilsson, Hades, S. 323, sprechen von ei­ ner „near-death experience“. Vgl. für einen Einblick zum ‚Timarion‘ im Kontext byzantinischer Jenseitsreiseliteratur kürzlich Merino Castrillo, Introducción, S. xv–xviii und S. xxiif. Gemäß dem „Plädoyer für ein offeneres Verständnis von Vision“ von Gebauer, Visionskompilationen, S. 39–48, hier S. 45, gilt der ‚Timarion‘ als Jenseitsreise, da „auch eine aufgrund eines katalepti­ schen Zustandes erfahrene Jenseitsreise im mittelalterlichen Sinne als Vision zu klassifizieren [ist].“ Hieran möchte der Beitrag anschließen und vor dem Hintergrund der Entwicklung der la­ teinischen und volkssprachlichen Jenseitsreiseliteratur im 12. und 15. Jhd. eine weitere Lesart des ‚Timarion‘ vorschlagen. Vgl. für einen Überblick zur Jenseitsreiseliteratur im europäischen Westen nebst diversen anderen Studien Dinzelbacher, Visionsliteratur. 62 Vgl. Kaldellis, Toward, S. 281–284, mit der Bemerkung ebd., S. 282 [Hervorhebung i. O.], dass „Kydion’s open statement implicitly creates a context of anxiety and fear of death for the traveler.“ 63 Kaldellis, Toward, S. 275 und S. 278 f. Vgl. zu Paratexten Cooper, Paratext, S. 37: „[T]he im­ plication of the term, paratext, suggests that its elements are somehow secondary to the text: they surround it, are found beside or adjacent to it.“ 64 Vgl. dazu kürzlich Nilsson, Narrative, S. 283, sowie deutlich Marciniak, Climate, S. 344: „Basi­ cally, this is a structure of Lucianic dialogue blended with the traditional first-person narration of the Byzantine journey to the otherworld […].“ 65 Ähnlich äußert sich der Protagonist auch in Timarion 2.51 f., ed. Romano, S. 51, und ebd., 10.284– 287, S. 59. Vgl. die antiken Reminiszenzen in ebd., 1.16–22, S. 50, sowie den Hinweis Timarions auf die Schrecklichkeit des Erlebten ebd., 1.22–24: εἰ γάρ σοι κατὰ μέρος διηγησαίμην τἀμά, βέλτιστε, κρεῖττον ἂν φαίης σεσιωπῆσθαι, καὶ μὴ ἐκλαλεῖσθαι πρὸς τοὺς ποθοῦντας ὑμᾶς. „Wenn ich dir die 59

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Kydion unterbrochen, der zwar selbst immer wieder betont, unbedingt mehr erfah­ ren zu wollen,66 damit aber auch den weiteren Erzählfortgang verzögert.67 Durch die Einwürfe fühlt sich Timarion in der Tat nicht nur genötigt,68 sämtliche Details seiner Rückreise offenzulegen. Vielmehr geht Kydion als Gewährsperson mit seinem Freund förmlich selbst ins Gericht – und repräsentiert in ebendieser Bezugnahme auf das Gerichtet-Werden eines, wenn nicht gar das zentralste Element von Jenseitsreisen an sich.69 Spiegelt sich dieses Motiv nochmals deutlicher in der Verhandlung vor dem Un­ terweltsgericht wider, liegt im ‚Timarion‘ mithin nicht nur ein doppeltes Reisemotiv, sondern auch ein doppeltes Urteil über das Individuum vor. Somit geschieht die Me­ dialisierung der Transzendenzerfahrung des Timarion nicht nur durch seinen Bericht allein, sondern wird auch in der strukturellen Parallelisierung im Diesseits und Jenseits untermauert.70 Kydion gibt als Gesprächspartner somit die Struktur für die Berichterstattung des Visionärs konsequent vor: Kydion „wants a different ‚emplotment‘ of Timarion’s sto­ ry.“71 Er will den erlebnisbasierten Bericht des Timarion vor dem Hintergrund seiner eigenen Deutungsmuster systematisieren und vor allem rationalisieren. Während sich der Visionär also so schnell wie möglich seine Erfahrungen von der Seele reden will,

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ganze Geschichte erzählen würde, mein liebster Freund [Kydion], würdest du dir wünschen, du hättest nie gefragt und ich hätte dir nicht erzählt, was du wissen wolltest.“ Diese Aussage steht in unmittelbarem Kontrast zum geoffenbarten Wissen und damit dem Gesicht in bekannten lateini­ schen Jenseitsreiseberichten und konterkariert auch innertextlich den verheißungsvollen Auftakt der Reise, in der θεία τις ἐπικουρήσασα πρόνοια τήν τε ὁδὸν εὐμάρησε καὶ τὰ κατὰ μέρος εὖ διέθηκεν (ebd., 2.33–35), „eine göttliche Vorsehung Hilfe brachte, den Weg ebnete und sich um jedes Detail kümmerte.“ Timarion 1.11–13, ed. Romano, S. 49: Λέγε τοιγαροῦν, ὦ βέλτιστε Τιμαρίων, καὶ μὴ πρόῃ τὸν καιρόν· ἡμᾶς τε γλιχομένους μαθεῖν μὴ ἐπὶ μᾶλλον ἐκκαίῃς καὶ ἀλγύνῃς ὡς μάλιστα. „Nun sag schon, liebster Timarion, und verliere keine Zeit. Ich brenne darauf, [es] zu erfahren, also spanne mich nicht noch weiter auf die Folter.“ Diese wiederholten Zwischenfragen haben Kydion in der modernen Forschung z. T. massive Kri­ tik eingebracht. Vgl. das vernichtende, wenn auch im Kontext der Passage leicht revidierte Urteil von Baldwin, Timarion, S. 14: „Kydion […] is in modern terms only a boring feed to the nar­ rator-star, keeps upbraiding his friend for being late home and for not giving him enough details about his adventures. During the[] opening exchanges the modern reader wants nothing so much as to shout at Kydion to shut up and let him [sc. Timarion] get on with it.“ Timarion 1.14 f., ed. Romano, S. 49: Αἲ αἴ, τί ταῦτα κινεῖς κἀναμοχλεύεις; „Ach, ach, was drängst und belästigst du mich so?“ Vgl. dazu pointiert Marciniak, Climate, S. 350: „[A]fter all, [otherworldly travels] are centred on the issue of being judged according to how a person led his or her life.“ Dafür sprechen auch zahlreiche Hinweise auf das transzendente Wissen der dämonischen Beglei­ ter über den Gesundheitszustand des Timarion (Timarion 15.405–412, ed. Romano, S. 64), dessen Bewusstsein über die Dauer seines Aufenthalts im Jenseits (ebd., 36.895–911, S. 81 f.) und die Insze­ nierung von Mäusen als transzendente Tiere in ebd., 18.476–19.506, S. 67 f. Vgl. zu Mäusen in der Unterwelt Karpolizos/Kazhdan, Mice, in der byzantinischen Satire Marciniak, Dealing, S. 80–86, und die treffende Formulierung von dems., Mouse, S. 507: „Byzantine Literature has no shortage of mice.“ Nilsson, Narrative, bes. S. 282–284, mit dem Zitat auf S. 283.

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hält ihn sein Zuhörer wiederholt dazu an, er solle die Ereignisse – durchaus im Sinne des Linearisierungsproblems72 – in eine geordnete und nachvollziehbare Reihenfolge bringen: Mein Freund, du hast die ärgerlichste Art, eine Geschichte zu erzählen, alles präzise und zusammenfassend, ohne uns etwas Ausführliches zu sagen. […] Man könnte meinen, du wirst von Hunden oder Skythen gejagt, so wie du dich in deiner Erzählung beeilst, recht schnell auf Konstantinopel zuzusteuern, als wäre das der einzige Ort, an dem du Sicher­ heit und Zuflucht vor deinen Verfolgern finden könntest.73

So berichtet Timarion in der Folge ausführlich über seine Reise nach und seinen Aufenthalt in Thessaloniki, das dortige Demetriusfest und seine Begegnung mit dem Stadtherren.74 Erst dann darf er – freilich mit Kydions Einverständnis – mit seinem eigentlichen Anliegen fortfahren und auf die Eingangsfrage antworten, warum er denn um alles in der Welt so lange fort gewesen sei: Nun berichtet der Visionär ganz von selbst ausführlich von den Symptomen und der Selbstdiagnose seiner Krankheit, wie er wie ein Päckchen auf den Rücken eines Pferdes geschnallt nach Konstantinopel ge­ tragen wurde und wie er schließlich an den Hebrosfluss kam, um zu rasten.75 Dort sei sein raptus ins Jenseits geschehen: [D]a ruhte ich [sc. Timarion] mich aus, nicht nur von der Reise, sondern auch vom Leben selbst. Denn ich war am Ende einer Lebensreise angelangt. Denn der Schlaf, der Vater des Todes, wie man sagt, ergriff mich und führte mich hinab in den Hades – ich weiß nicht, wie ich es [anders] sagen soll. Und mich überkommen Angst und Zittern, wenn ich mich an das Geschehene erinnere, und meine Stimmbänder verkrampfen sich vor Angst.76

Hier ist es erneut Kydion, welcher der so ernst vorgetragenen Erzählung seines Freun­ des nicht zu glauben scheint: Οὐκ ἂν φθάνοις, ὦ κάλλιστε Τιμαρίων, τὸν σύλλογον τοῦτον, διαλυσάμενος, εἰ μὴ καὶ τὴν ἐν Ἅιδῃ ἀποδημίαν, ὅπως ἔσχε σοι, διηγήσαιο (ebd.,

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Vgl. dazu Benz, Gesicht, S. 40 f. Timarion 3.53–61, ed. Romano, S. 51: Ὡς λίαν αἰεὶ σχέτλιος εἶ περὶ τὰς διηγήσεις, ὦ λῷστε, οὓτω συνεπτυγμένως κἀπιτροχάδην ἀεὶ διηγούμενος, ἐνδιάσκευον δὲ μηδὲν ἀπαγγέλλων ἡμῖν. […] καὶ ὥσπερ ὑπὸ κυνῶν ἢ Σκυθῶν διωκόμενος, σπεύδεις τάχιον εἰσδῦναι τῷ λόγῳ πρὸς τὸ Βυζάντιον, ὡς ἐνταῦθα μόνον κειμένης σοι τῆς σωτηρίας καὶ τῆς τῶν διωκόντων ἀπαλλαγῆς. Als aussagekräftig erweist sich in diesem Kontext auch der sich anschließende Hinweis von Kydion zur Sicherheit des Ortes, ebd. 3.61–63: δεινὸν οὐδέν τι πεισόμενος, ἂν τὰ σαυτοῦ σχολαιότερον ἡμῖν διηγῇ, μηδενὸς ἐπικειμένου σοι φοβεροῦ. „Es lauert kein schreckliches Schicksal auf dich, es wird nichts Schlimmes passieren, wenn du mir ganz entspannt deine Geschichte erzählst.“ Vgl. dazu kürzlich MacDougall, Festival. Vgl. für die gesamte Passage Timarion 11.291–12.333, ed. Romano, S. 60 f. Timarion 12.324–330, ed. Romano, S. 61: […] ἐνταῦθα καὶ τῆς ὁδοιπορίας καὶ τῆς βιώσεως ἔστημεν ὡς οὐ βιώσιμον ὂν ἡμῖν τοῦ λοιποῦ. ὕπνος γὰρ ἐνταῦθα ὁ θρυλλούμενος καὶ θανάτου πατὴρ κατασχὼν ἡμᾶς, εἰς ἀποδημίαν οὐκ οἶδα πῶς εἴπω τὴν εἰς Ἅιδου ἐστείλατο· καί μοι φρίκη καὶ τρόμος ἔπεισι τοῦ πράγματος μνημοσεύοντι καὶ τὸ φωνητικὸν ἆσθμα τῷ φόβῳ ἐπέχομαι.

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12.331–333, S. 61), „Du wirst es wohl nicht schaffen, liebster Timarion, dieses Gespräch zu beenden, ohne mir zu sagen, was genau mit dir auf dieser Reise in den Hades pas­ siert ist.“ So ist es zwar erneut die Mahnung Kydions, die eine detaillierte(re) Schil­ derung der Entrückung ins Jenseits bedingt:77 Hierauf formuliert Timarion nun aber ein förmliches Arsenal an Authentisierungsstrategien, um das Erlebte glaubhaft zu machen – dazu zählen die genaue Beschreibung der Bewegungsrichtung und der dä­ monischen Begleiter, der Rückgriff auf sämtliche Aspekte multisensorischer Wahr­ nehmung, der Verweis auf die eigene Sprachlosigkeit sowie vielfache Vergleiche mit Formen und Funktionen aus dem Diesseits. Dabei steht nicht nur das verwendete Repertoire, sondern auch das aktive Erleben der Seele des Timarion in starkem Kon­ trast zum erzählten Inhalt der Passage und der insgesamt eher eingeschränkten agency des Visionärs:78 Denn Timarion berichtet eigentlich nur, wie er unfreiwillig erst in die Luft entrückt, durch eine unterirdische Öffnung in die Dunkelheit gezogen und dann von seinen Begleitern zu einem bewachten eisernen Tor geführt wurde. Auf das hier kombinierte Urteil der Seele am Sterbebett und in der Luft folgt also der unmittelbare Abstieg in den Hades.79 Timarion scheint tatsächlich tot. Aus dieser Fülle an Informationen erscheinen Kydion jedoch lediglich zwei Aspek­ te zentral – zwar versichert er: Das finde ich auch gruselig, mein lieber Timarion, und wenn ich nur davon höre, bekom­ me ich eine Gänsehaut. Aber wie in aller Welt konntest du die Gesichter der Türsteher sehen, wenn die Dunkelheit so dicht war, und wie hast du all die anderen Dinge herausge­ funden, die du anscheinend gesehen hast?80

77 Vgl. Timarion 11.291–14.383, ed. Romano, S. 60–63, zur Entrückung des Protagonisten mit noch­ maliger Rekapitulation in ebd., 25.628–26.667, S. 72 f. In diesen Passagen finden sich zudem mehre­ re Elemente aus dem Beschreibungsrepertoire mittelalterlicher Jenseitsreisen, die u. a. von Benz, Gesicht, intensiv untersucht wurden: Dazu gehören die plötzliche, schwere Erkrankung des Pro­ tagonisten (Timarion 11.291–13.337, ed. Romano, S. 60 f.), die von ihm geäußerte Orientierungslo­ sigkeit während des raptus (εἰ γοῦν ὕπαρ ἢ ὄναρ ἦν τὸ πρᾶγμα λέγειν οὐκ ἔχω, τὴν κρίσιν ἀφῃρημένος ὑπὸ τοῦ δείματος [ebd. 13.351–353, S. 62], „Ob es es ein Traum war oder wirklich passiert ist, kann ich nicht sagen, denn der Schrecken raubte mir auch das Urteilsvermögen.“) und die Beschreibung des Hölleneingangs als τὸ ζοφῶδες ἐκεῖνο χάσμα (ebd. 14.383, S. 63), als „jene dunkle Grube“. Vgl. zum raptus in lateinischen Jenseitsreisen auch den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. 78 Vgl. zur agency des Visionärs deutlich dessen Selbsteinschätzung in Timarion 31.768 f., ed. Roma­ no, S. 77: Ἐγὼ γοῦν, ἅτε τῶν ἐκεῖ πραγμάτων οὐκ ἔμπειρος ὤν, ἄλλως τε καὶ λέγειν οὐκ ἐπιτήδειος […]. „Ich jedenfalls war nicht erfahren in den dortigen Dingen und insbesondere nicht geeig­ net zu reden.“ Diesem Befund stehen die erste Kommunikation mit den Toten (ebd., 16.430–434, S. 65), bei der πανταχοῦ πάντες […] συνυπήντων (ebd., 16.432 f.) „alle überall herkamen“, und der Entschluss, angesichts der Pflichtvergessenheit der dämonischen Begleiter selbst mit weiteren Toten zu sprechen (ebd., 20.524–528, S. 68), gegenüber. Vgl. zu den Vorstellungen über den ak­ tiv-miterlebenden oder passiv-schlafenden Status der Seele im Jenseits Krausmüller, Demonic Tollgates, bes. S. 95. 79 Vgl. dazu übersichtlich Marinis, Afterlife, S. 15–24. 80 Timarion 16.413–416, ed. Romano, S. 64 f.: Ταῦτα μὲν οὖν, φίλτατε Τιμαρίων, φοβερὰ καὶ αὐτὸς

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Auch hier bringt Kydion das mit allen Mitteln der Kunst so plausibel gestaltete Erleben von Timarion mit zwei knappen Logikfragen ins Wanken: Der Übertritt ins Jenseits scheint gänzlich unproblematisch, erklärungsbedürftig ist vielmehr Timarions plötz­ lich erlangte Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können.81 Und auch wenn dies vorerst die letzte Zwischenfrage von Kydion gewesen sein sollte und der Visionär den Rest seiner Jenseitserzählung auf so vielseitige Art und Weise glaubwürdig zu machen versucht, so gelingt ihm dieses Unterfangen doch schlussendlich nicht: Die genaue Beschreibung der dort getroffenen Personen, der Bericht über seinen Prozess vor einem weiteren Jenseitsgericht und die dabei erfolgte durchaus spektakuläre Inspektion seiner Seele82 sowie die genaue Schilderung seiner Rückkehr in den diesseitigen Körper83 reichen schlichtweg nicht aus: Timarion läuft vom Regen in die Traufe – denn ganz offensicht­ lich ist Kydion zwar wissbegierig genug, seine Geschichte zu hören, aber nicht bereit, diese auch wirklich zu glauben.84 Aber: Warum ist das eigentlich so? In der Tat verkörpert Timarion allein durch seine kappadokische Herkunft das Paradebeispiel eines Landeis;85 jedoch reicht die Reduktion des Visionärs auf diesen rein satirischen Charaktertyp angesichts seiner Argumentationsfähigkeiten als Erklärung für das Scheitern seiner Erzählung nicht aus. Es sind ja vielmehr die Strukturen und Funktionsweisen, die an Timarions Jen­ seits nicht überzeugen können. Dabei scheinen neben deutlich paganen Einflüssen bei genauerem Hinsehen auch lateinische Konzepte präsent zu sein:86 Denn ganz grund­ sätzlich erfährt Timarion infolge einer Krankheit eine Laienvision, die in ihrer Form

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ἣγημαι καὶ φρίττω κἀκ μόνης τῆς ἀκοῆς. ἀλλὰ πῶς ἐν τοσούτῳ ζόφῳ καὶ σκότει τὰς ὄψεις διεσκέψω τῶν πυλωρῶν καὶ τἆλλα, ὡς εἰκός, κατεμάνθανες; Vgl. dazu weiter unten. Vgl. dazu Timarion 40.997–1005, ed. Romano, S. 85. Vgl. dazu Timarion 46.1170–47.1189, ed. Romano, S. 96 f., sowie weiter unten. Entsprechend resignierend liest sich auch das Gesprächsrésumé von Timarion am Ende des Di­ alogs: ἤδη οὖν ἡ ὥρα πρὸς τῷ καθεύδειν ἐστί, καὶ διαλυθέντες, φιλοπεῦστα Κυδίων, ἀπίωμεν οἴκαδε (Timarion 47.1197 f., ed. Romano, S. 92), „Nun aber, mein sehr neugieriger Kydion, ist es Schla­ fens­zeit, lass uns also Abschied nehmen und getrennter Wege nach Hause gehen.“ Vgl. dazu den Hinweis von Baldwin, Timarion, S. 90 (Anm. 41): „It has to be remembered that Cappadocians were proverbial bumpkins in classical humour, which would suit the narrator’s role of awestruck tourist.“ Mit Blick auf die Idee des Fegefeuers ist indes die knappe Anm. bei Pods­ kalsky, Purgatory, S. 1759, dass „[a]lready in the Cappadocian Fathers the expression ‚purificato­ ry fire‘ is found“, möglicherweise nicht irrelevant. So beobachtet Timarion bereits in Thessaloniki eine ganze Menschenmasse hauptsächlich westeu­ ropäischer Provenienz, vgl. dazu Timarion 5.115–123, ed. Romano, S. 53. Die von MacDougall, Festival, aufgezeigte Orientierung dieser Passage an den ‚Aithiopika‘ des Heliodor bleibt für das Motiv des Zusammenkommens hier unerheblich. Ferner erweist sich die – u. a. von Baldwin, Timarion, S. 130 (Anm. 230), und Marciniak, Climate, S. 345, angesprochene – Absenz von Platon in der Zusammenkunft der Philosophen im Jenseits als auffällig. Auch das allzu genaue juristische Vorgehen vor dem Jenseitsgericht mag nicht ganz zu der byzantinischen Vielheit von Jenseitsvorstellungen passen, vgl. dazu Chryssavgis, Purgatory, S. 63: „The Eastern perception of truth was synthetic and intuitive, while the Western emphasis was on inquiry and analysis.“

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als ‚echte‘ Katabasis in Byzanz fast ausschließlich Christus selbst vorbehalten blieb.87 Dass sich der Status des Visionärs in der Tat von den anderen Bewohnern des Jenseits unterscheidet, stellt auch der Text selbst heraus: So wird Timarion wegen seines Aus­ sehens wiederholt als ὦ νεόνεκρε (ebd., 21.537, S. 69), als „frischgebackener Leichnam“, angesprochen, οἱ γὰρ κατιόντες εἰς Ἅιδου νεόνεκροι ἀποσώζουσί τι μικρὸν ἐρυθήματος ζωτικοῦ κἀκ τούτου τοῖς παλαιοῖς ἑτοίμως γνωρίζονται (ebd., 21.534–536, S. 69), „denn diejenigen, die gerade in den Hades hinabgestiegen sind, behalten ein wenig von ih­ rer lebendigen Farbe, dank derer sie von den Alteingesessenen leicht erkannt werden.“ Darauf, dass Timarion nicht ins Jenseits gehört und ihn ein frühzeitiger Tod zu ereilen scheint, pocht auch sein Lehrer vor dem Jenseitsgericht: Denn das Prinzip der Toten­ rituale gelte eben καθ᾽ ἕκαστον θρήσκευμον (ebd. 39.986, S. 85), „für alle Konfessio­ nen“.88 In diesem Kontext mag auch die Prämisse des ehemaligen Lehrers, Timarion in seinem Jenseitsprozess nur zu helfen, wenn dieser ihm nach seiner Rückkehr ins Diesseits eine Auswahl seines Lieblingsessens ins Jenseits schickt, mit dem lateini­ schen Konzept der Fürbitte verbunden sein, setzt diese doch immerhin voraus, dass nicht wie in Byzanz für alle, sondern eben auch spezifisch personengebunden gebetet werden kann. Schließlich trifft Timarion im Jenseits mit Michael Psellos (* 1017/1018, † um 1078)89 und Johannes Italos (* um 1025, † nach 1082)90 ausgerechnet zwei Philosophen,91 die eine Ansicht vom postmortalen Zwischenzustand der Seele in Byzanz vertraten, wel­ che der Idee des Fegefeuers durchaus ähnlich war: Diese Auffassung war das Konzept der mesoi, das gläubige Menschen beschrieb, die vor ihrem Tod für kleine Sünden ent­ weder keine oder für schwere Vergehen nicht genug Buße geleistet hätten. Dabei zog man durchaus in Betracht, dass ψυχὴν δὲ τυχεῖν ἀναπαύσεως ἁγίων δεήσεσιν ἢ συγγενῶν εὐποιΐαις ἢ προσευχαῖς ἢ νηστείαις πρὸς τὸν θεὸν παρρηεσίαν ἐχόντων, μετὰ θάνατον ἴσως οὐκ ἄτοπον […] (Quaestiones 50, ed. Ioannou, S. 69), „[d]er Glaube, dass die Seele nach dem Tod durch die Fürbitten von Heiligen, die guten Werke von Verwandten

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Vgl. dazu Cupane, Heavenly, S. 54. Aufgrund ebendieser Verknüpfung von körperlicher Vulner­ abiltät und der Möglichkeit zur Transzendenz in der Gestalt des Visionärs vermag die Erklärung bei Bzinkowski, Notes, S. 135 [Hervorhebung i. O.], nicht überzeugen: „Because the author [sc. of the ‚Timarion‘] could not choose a real katabasis, due to the fact that ‚a real‘ descent in the Christian world was reserved only for Christ and exceptionally in apocryphal katabaseis also to the Mother of God, Theotokos, he showed Timarion’s descent into Hades as being the result of a disease.“ Vgl. zu dieser Wendung die Bemerkungen von Baldwin, Timarion, S. 126 (Anm. 215), zu Sterbe­ praktiken in Byzanz allgemein kürzlich Chitwood, Dying, sowie zu den hier im Text angespro­ chenen Totenritualen weiter unten. Vgl. einführend Bernard, Psellos, und ders., Contemporaries, sowie Papaioannou, Psellos. Vgl. einführend Kraft/Perczel, Italos, bes. S. 663–667, mit weiterer Literatur. Vgl. dazu Nilsson, Poets, bes. S. 190–194, Baldwin, Timarion, S. 127 f. (Anm. 224), und Kal­ dellis, Hellenism, S. 281 f. Vgl. zur generellen Relevanz dieser Passage im ‚Timarion‘ auch Kral­ lis, Harmless, S. 240 f. und Alexiou, After Antiquity, S. 111.

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oder die Gebete und Fasten derer, die mit Gott frei reden können, Erlösung finden könnte, […] vielleicht nicht abwegig [ist].“92 Zwar wurden die mesoi als byzantinische Antwort auf das Fegefeuer93 erst im Zuge des Konzils von Ferrara-Florenz für allge­ meingültig erklärt, und auch Johannes Italos hat nicht nur im Jenseits des ‚Timarion‘ wegen seines Glaubens einen schweren Stand.94 Jedoch ließe sich sein persistentes Auftreten im ‚Timarion‘ möglicherweise auch so lesen, dass er sich mit seinen Ideen wortwörtlich im Jenseits – einschließlich der Vorstellungen darüber – festgesetzt hat und nicht mehr wegzudenken ist. Auch Psellos differenziert den Zustand der Seele nach dem Tod in verschiedene Kategorien: Denn [e]inige von ihnen werden mit der Verdammnis konfrontiert, andere werden mäßig er­ leuchtet, andere gehen weiter, wieder andere werden unter dem göttlichen Feuer besser und leuchten durch die Fülle des immateriellen Lichtes.95

Psellos diskutiert in seinen Schriften folglich nicht nur die Existenz des Fegefeuers als solches, sondern auch dessen Fähigkeit zur Reinigung und Besserung. Wenn es im Jenseits des ‚Timarion‘ folglich ἀνεῖται γὰρ τῷ βουλομένῳ τῆς οἰκείας, ὡς βουλητόν, αἱρέσεως ἔχεσθαι (Timarion 29.728 f., ed. Romano, S. 62), „jeder Person erlaubt ist, der Religion seiner Wahl anzuhängen“, so ließe sich das Werk vielleicht mit Blick auf den Kirchenstreit auch als Ausgleichsangebot lesen – ein Angebot freilich, mit dem Tima­ rion bereits seinen ersten Zuhörer nicht überzeugen kann.96

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Die Ansicht, dass das Konzept der Fürbitten für Verstorbene einen Nutzen hat, geht auf Pseu­ do-Dionysius (6. Jhd.) zurück, vgl. dazu Marinis, Afterlife, S. 98. Auch wenn sich der Verfasser im Opusculum ursprünglich gegen die Ansicht wendet, dass eine Seele ihr Schicksal nach dem Tod verbessern könne, und die Passage wohl gerade deswegen mit Blick auf ihre Echtheit umstritten ist, so durchzieht die Argumentation des Italos doch das Anliegen, in der Verbindung bestehen­ der Meinungen nicht nur ein Ausgleichsangebot zu formulieren, sondern mit der Dreiteilung der Seelen auch eine stärkere Differenzierung zu etablieren. Vgl. dazu Krausmüller, Mortal, und ders., Authority. Den Konnex zwischen Fegefeuer und Fürbitten betont bereits Beck, Kirche, S. 320, denn „[d]aß die Byzantiner ihrerseits den Status von Seelen im Jenseits kannten, die bis zur ewigen Glorie noch der Reinigung bedurften, beweisen am besten die liturgischen Fürbitten für die Toten.“ 93 Vgl. dazu insbes. Marinis, Afterlife, S. 105, der kürzlich aufgezeigt hat, dass „the category of mesoi was devised as a response to the Latin concept of purgatory.“ 94 Auch im ‚Timarion‘ wird Italos wegen seiner Ansichten scharf kritisiert, vgl. Timarion 43.1077– 1084, ed. Romano, S. 88. Gerade diese und ähnliche Auffassungen sind im Übrigen der Grund, weshalb er überhaupt im Jenseits anzutreffen ist: Als Häretiker verurteilt wurde Italos auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Vgl. dazu Krallis, Harmless, S. 240 f. und S. 243, sowie allgemein Kraft/Perczel, Italos, und Merino Castrillo, Timarión, S. 166 f. und S. 170 f. 95 Psellos 10–12, ed. Gouillard, S. 184: αἱ μὲν ὑπὸ δίκην ἒσονται, αἱ δὲ μετριώτερον ἐλλαμφθήσονται, αἱ δὲ πορρώτερον διαβήσονται, αἱ δὲ κρείττους ὑπὸ τὸ θεῖον γενήσονται τῦρ, ὃλῳ καταλαμπόμεναι τῷ ἀΰλῳ φωτι. Vgl. dazu auch Marinis, Afterlife, S. 105. 96 Vgl. dazu auch die Anm. von Baldwin, Timarion, S. 118 (Anm. 177), sowie Krallis, Harmless, S. 240: „Religious tolerance was not part of Byzantine official ideology.“

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III. Jenseits der Überlieferung: Das doppelte Scheitern des ‚Timarion‘? Der ‚Timarion‘ scheint nicht nur auf werkimmanenter Ebene, sondern auf den ers­ ten Blick auch aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive als authentische Form der Jenseitsreise gescheitert zu sein: Das Werk ist lediglich als codex unicus in einer Sam­ melhandschrift überliefert,97 die aus dem 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammt und zum Großteil das Œuvre des Lukian enthält.98 Der ‚Timarion‘ beginnt jedoch erst auf fol. 453r und folgt dabei auf ein leeres Versoblatt. Das Werk war kein Teil des ursprüng­ lichen Lukian-Codex, sondern wurde erst nachträglich an die Sammelhandschrift an­ gebunden.99 Somit scheint der vatikanische Codex mit Blick auf die Wahrnehmung des ‚Timarion‘ als Jenseitsreise eher indirekte Hinweise bereitzustellen – vor allem jedoch die Wahrnehmung als reine Satireschrift nach spätantikem Vorbild zu verfestigen. Dass der ‚Timarion‘ jedoch eine religiös-theologische Relevanz besaß, zeigt ein Ex­ zerpt des Werkes, das in der Österreichischen Nationalbibliothek im Codex theolo­ gicus graecus 222 überliefert ist.100 Hierbei handelt es sich um eine theologisch-philo­ sophische Sammelhandschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in der unter anderem mit Abhandlungen zum orthodoxen Glauben und einem anti-lateinischen Traktat Fragestellungen zum richtigen Glauben sowie mit Ausschnitten aus dem Werk von Nemesios von Emesa († vor 400)101 Ausführungen zum Leib-Seele-Problem ent­ 97

Vgl. dazu Bernard, Laughter, S. 54, und Haye, Verlorenes Mittelalter, S. 436, demzufolge es „al­ lerdings zu bedenken [gilt], dass die meisten [satirischen] Gedichte nur unikal tradiert werden, oftmals zudem nur im Rahmen von Sammlungen.“ 98 Zu den weiteren, in BAV Cod. vat. graec.  87 enthaltenen Werken vgl. den Eintrag in Pinakes (https:// pinakes.irht.cnrs.fr/notices/cote/66718/ [abgerufen am 11.05.2022]), Numéro diktyon: 66718. Der ‚Timarion‘ beginnt im Überlieferungsträger nach knapp vier Fünfteln des Manuskripts. Der Teilcodex mit nahezu allen Dialogen des Lukian gehörte dem florentinischen Griechischlehrer Manuel Chrysoloras (* 1353, † 1415), der ihn auf seiner Überfahrt nach Italien mit sich führte, vgl. Rollo, Lettura, S. 274, und Thorn-Wickert, Chrysoloars, S. 163. Die Jenseitsthematik ist darin zweifelsohne präsent: Denn der Besitzer hat seiner Sammlung – anders als bei Lukian-Handschrif­ ten sonst üblich – eine Reihe von Werken mit Unterweltsthematik vorangestellt. Dieser Umstand verdeutlicht laut Marsh, Lucian, S. 14, „probably […] Chrysoloras’s own predilection for Luci­ an’s amusing dramatizations of the memento mori theme – a taste clearly shared by Quattrocen­ to humanists, who soon translated these works.“ Die Jenseitsthematik des Codex und bes. des ‚Timarion‘ wird durch die beiden Ersteditoren jedoch klar erkannt, die nur ihn (obgleich noch Pseudo-Lukian zugewiesen) und keinen anderen Text der Sammelhandschrift mit anderen Jen­ seitsreisen zusammenbringen, vgl. Hase, Notice, und Ellissen, Fahrten, sowie Romano, Intro­ duzione, S. 40. 99 Vgl. Marciniak, Lucianic Cento, S. 129 f., und Papaioannou, Voice, S. 28 mit Anm. 25 [Hervor­ hebung i. O.]: „[…] Pseudo-Lucianic texts […] – such as the 12th-century Timariōn – […] were incorporated, usually at the end, into manuscript corpora of Lucianic works.“ 100 Vgl. den Eintrag in Pinakes (https://pinakes.irht.cnrs.fr/notices/cote/71889/ [abgerufen am 11.05.2022]), Numéro diktyon: 71889, die Handschriftenbeschreibung von Hunger/Lackner, Katalog, S. 77; sowie die folgende Anm. 101 Vgl. einführend zu Autor und Werk Telfer, Introduction, S. 203–223, hier S. 206.

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halten sind.102 Einerseits enthält der Codex somit Werke, die direkt auf den Kirchen­ streit als solchen Bezug nehmen, und verhandelt andererseits einen Aspekt, der ein zentrales Anliegen der Medialisierung christlicher Jenseitsreisen berührt: die Tren­ nung von Körper und Seele des Visionärs. Gerade auf diese Thematik folgt dann das Exzerpt des ‚Timarion‘, das aber keine Gesamtzusammenfassung der Version im vati­ kanischen Codex darstellt. Vielmehr bildet es eine Kompilation einiger weniger Text­ stellen, die wortgetreu aus dem Paratext des ‚Timarion‘ entnommen sind. Die Auswahl und Anordnung der Verspassagen im Exzerpt sind damit nicht arbiträr; vielmehr zielte dessen Verfasser auf die Erstellung einer bestimmten Version des ‚Timarion‘ ab. Inso­ fern handelt es sich bei dem Exzerpt um „eine auf einen Verwendungszweck fokussier­ te Kompilation.“103 Der Text gestaltet sich folgendermaßen:104 Die körperlosen Engelschöre bereiten den Tisch [für die Liturgiefeier], o Allseliger! Lasst uns aus diesem Grund zu dem unsterblichen Christus rufen: Bringe die von uns Gegange­ nen dort zur Ruhe, wo alle glücklich sind. + Timarion. + Kydion. + Sprich, mein liebster Timarion, und verliere keine Zeit, ich nämlich bin wissbegierig, es zu erfahren, ohne dass du mich weiter warten lässt und noch mehr quälst. + || + Ich bin jemand, der ich als Kappadokier von jenseits der Grenze komme; und ich kannte die Sache nur vom Hörensagen. Ich wollte ein Zuschauer von dem ganzen Schauplatz sein, damit meinem Blick nichts entging und ungesehen blieb. Ich stieg also auf einen Hügel in der Nähe des Schauplatzes: Und ich setzte mich und sah mir alles in Ruhe an, es war näm­ lich Folgendes, was es zu sehen gab. || + Und es war eine mitteilungswürdige sehenswerte Sache. + || Dann sah ich mir also alles in Ruhe an. Und als ich mir genug angesehen hatte, ging ich wieder zur Stadt, begierig, andere Dinge zu sehen. || + Der Herr schritt mit ruhi­ ger Bewegung heran. Kleine Engel, Musen und Grazien huschten vor ihm und unter ihm her. O, mein liebster Kydion, wie könnte ich dir jemals die umfassende Freude des Jubels, die damals in meine Seele eindrang, beschreiben? 102 Zu den weiteren, in der Kompilation enthaltenen Schriften zählen mehrere, teils anonyme Ab­ handlungen zum orthodoxen Glauben, Ausschnitte eines antilateinischen Traktats (fol. 133r) sowie die – unmittelbar vor dem Exzerpt des ‚Timarion‘ – auf fol. 193r befindlichen Ausschnitte aus dem Werk des Nemesios von Emesa (4. Jhd.) zum Leib-Seele-Problem: Ἐκ τῆς ψυχῆς τὸ σῶμα τὴν ζωὴν λαμβάνει, τὴν κίνησιν, τὴν αὔξησιν καὶ τὰ ὅμοια· ἀλγεῖ δὲ καὶ ὀδυνηρὰ καὶ τὰ τοιαῦτα παρὰ τοῦ σώματος ἡ ψυχή. „Aus der Seele nimmt der Körper sein Leben, seine Bewegung, seine Größe und alles Ähnliche, und es schmerzt aber Schmerzvolles und ähnliche Dinge aus dem Körper die See­ le.“ Vgl. dazu weiterführend Streck, Gut, S. 30. Im Anschluss an das Exzerpt des ‚Timarion‘ be­ findet sich mit ‚De Sancti Spiritus Mystagogia‘ des Photios (* zwischen 810 und 820, † 893) zudem eine Schrift, die explizit auf den Kirchenstreit Bezug nimmt, vgl. dazu kürzlich Erismann, Dispu­ te. Themenverwandte Aspekte diskutieren auch die in der Handschrift enthaltenen Fragmente des Kirchenvaters Basileios des Großen (* um 330, † 379), vgl. einführend Hauschild, Basilius. 103 Gebauer, Visionskompilationen, S. 20. 104 Ein Transkript des griechischen Textes befindet sich am Ende dieses Beitrags.

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Jenseits seines satirischen Inhalts wird der ‚Timarion‘ im Wiener Codex ganz offen­ sichtlich in Bezug auf die Leib-Seele-Thematik als relevant erachtet – und zwar sowohl im Kontext der Gesamtkonzeption der Sammelhandschrift als auch mit Blick auf die Strukturierung des Exzerptes selbst. Dieser Umstand ergibt in der Tat auch Sinn, wenn man Werk und Exzerpt als Jenseitsreise liest. Dabei berücksichtigt das Exzerpt gerade nicht die als satirische Gesellschaftskritik kategorisierten Passagen, auch nicht die Ab­ schnitte, in denen Charaktere – ähnlich wie angeli interpretes – Timarion Vorgänge und Funktionsweisen im Jenseits erklären. Weder werden hier handlungsstrukturierende Erzählabsätze noch überhaupt im Jenseits des ‚Timarion‘ situierte Kapitel themati­ siert. Die Jenseitsthematik, das Reisemotiv sowie den Aspekt der Transzendenz behält der Text jedoch bei: In äußerst komprimierter Form bietet er für seine Rezipierenden einen Blick ins Jenseits und damit in das Leben nach dem Tod. In Verbindung mit den hymnischen Versen zu Beginn bietet das Folium damit eine komplette Neuinterpretation des Textes: Dessen Inhalt transzendiert dabei bereits in der Überschrift die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, indem er im Rahmen einer Fürbitte sowohl die Lebenden als auch Verstorbenen perspektiviert. Mag dieser Befund in performativer Hinsicht letztlich auf einen dialogischen Wechsel zwischen Priester und Bittgemeinschaft verweisen, unterstützen auch graphische Zeichen in Form von Kreuzen die Kommunikation über die Grenzen von Diesseits und Jenseits hinweg (Abb. 1). Ob sich die Rolle des jenseitigen Sprechparts dabei auf die Offen­ barung transzendenten Wissens durch den Visionär oder im Sinne einer Fürbitte auf bereits Verstorbene bezieht, lässt sich an dieser Stelle nicht entscheiden.105 Für die Me­ dialisierung der im Exzerpt präsentierten Jenseitsvorstellungen sowie für seine erbau­ liche Funktion und Gesamtaussage erweist sich eine klare Zuordnung auch als uner­ heblich, da die ursprüngliche Aufmachung des Jenseits im ‚Timarion‘ als „surprisingly nice realm of the dead“106 erhalten bleibt. Das Exzerpt formuliert damit keine Verweise auf Strafräume, jenseitige Urteile oder diffuse Ängste; wenn nicht für den Visionär, so wird doch immerhin für die Rezipierenden dadurch ein durchweg positives Erlebnis konstruiert. Der Gebrauchskontext wird durch die Überschrift des Exzerpts im religiös-litur­ gischen Raum angezeigt: Dieser laut Handschriftenkatalog „liturgisch nicht fest­ stellbar[e]“107 Abschnitt scheint dabei keinen hymnischen Text an sich darzustellen, sondern mehr die liturgische Gebetspraxis im Rahmen eines Euchologion, eines by­ zantinischen Gebetsbuches, das „für den Gebrauch von Priestern […] neben den sak­

105 Die Überschrift formuliert hier zwar eindeutig eine Adressierung an Verstorbene, wurde aber si­ cher später als der Text des Exzerpts hinzugefügt. Das Exzerpt selbst bleibt in dieser Hinsicht offener: Zwar lassen sich hier deutliche Anlehnungen an visionäre Jenseitsreisen feststellen, ein individueller Kommunikationskontext für den privaten Gebrauch ist jedoch ebenfalls denkbar. 106 Nilsson, Hades, S. 323. Vgl. dazu auch Marciniak, Climate, S. 345. 107 Hunger/Lackner, Katalog, S. 80.

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ramentalen Liturgien auch sogenannte Anlassgebete oder ‚kleine Gebete‘ für konkrete Anliegen unterschiedlichster Art“108 enthält, zu konturieren. Dazu wird in vier aufein­ ander folgenden knappen Sätzen zunächst der zeitliche Bezugsrahmen festgelegt, der mit der Nennung der τῶν ἀγγέλων οἱ χοροὶ τῶν ἀσωμάτων (V. 1–3), der „körperlose[n] Engelschöre“, möglicherweise auf die Synaxis des Erzengels Michael und der ande­ ren körperlosen Mächte anspielen könnte.109 Diese Zuordnung würde zumindest zum zeitlichen Handlungsrahmen des ‚Timarion‘ passen, denn dessen Protagonist reist zum Demetriusfest am 26. Oktober, die Synaxis folgt als liturgische Versammlung am 8. November.110 Wird – gänzlich unabhängig von der Datierbarkeit – hiermit ein Anlass für das Gebet formuliert, so folgt in den nächsten Sätzen eine Festschreibung seines genauen Zwecks mitsamt der Benennung aller beteiligter Instanzen (V. 4–10): Es geht um das Erbitten für das jenseitige Wohl der Verstorbenen von Gott durch die verbliebene Kirchengemeinschaft, um deren Fürbitten im Rahmen eines Begräbnis­ ses und damit die Memoria für die Toten.111 Wenn auch in äußerst reduzierter Form, so wird in der Überschrift des Exzerptes damit eine Begründung für das Totengebet verschriftlicht, die sich – wie angesprochen – in ihrer expliziten Form erst im 15. Jahr­ hundert etablieren sollte. Wird in der Überschrift folglich die dialogische Struktur des Gebets imitiert, so folgt auch das Exzerpt des ‚Timarion‘ der ursprünglichen Struktur des Textes, indem in einer separaten Zeile zunächst Timarion und Kydion als Kommunikationspartner be­ nannt werden (Z. 1). Auf diese Weise wird jedoch nicht nur die Identifikation mit der Vorlage im vatikanischen Codex ermöglicht; mit Blick auf den religiös-theologischen Überlieferungskontext des Exzerpts wäre es im Sinne ihrer sprechenden Namen auch denkbar, die genannten Gesprächspartner gewissermaßen zu entpersonalisieren und

108 Rapp/Schiffer/Afentoulidou, Euchologien, S. 337. Vgl. dazu auch Rapp et al., Prayer Books, sowie allgemein Velkovska, Funeral Rites, und Galadza, Evolution. 109 Follieri, Initia, wie auch andere Incipit-Verzeichnisse bieten dazu keine weiteren Hinweise. Ich danke herzlich Elisabeth Schiffer, die sehr hilfsbereit auch das Wiener Euchologien-Material auf den hymnischen Text hin geprüft und ihre Einschätzungen mit mir geteilt hat. 110 Vgl. dazu Baldwin, Timarion, S. 14, und Shereghy, Liturgical Year, S. 61 f. 111 Diese Lesart unterstützt auch der letzte Satz der Überschrift: Er entspricht im Wesentlichen dem Wortlaut eines Toten-Hymnus aus dem Oktoechos, des ‚Buches der acht Töne‘ (vgl. dazu ­M eyendorff, Byzanz, S. 503 f.): τὸν μεταστάντα ἐξ ἡμῶν ἀνάπαυσον [βοήσωμεν], ἔνθα πάντων ἐστὶν εὐφραινομένων ἡ κατοικία (Officium funereum, ed. Anatolikiotis, S. 442), „Lasst uns für den von uns Entschlafenen Ruhe erflehen, dort wo die Wohnstätte aller Seligen ist.“ Follieri, Ini­ tia, I 121 und III 269, legt nahe, dass der Text nicht nur bei Begräbnissen von Priestern Verwendung gefunden hat. Die Recherche des Troparions Πάντα ματαιότης τὰ ἀνθρώπινα […], „Eitel ist alles Menschliche […]“, wird dem Theologen und orthodoxen Kirchenvater Johannes von Damaskus (* um 650, † vor 754) zugeschrieben, das auch im ‚Sermo in Ioannem Damascenum‘ des Konstan­ tinos Akropolites beinahe wörtlich zitiert wird, vgl. dazu PG 140, S. 812–885, hier S. 868A: Διὸ, Χριστῷ τῷ ἀθάνατῳ βοήσωμεν· Τοὺς μεταστάντας ἐξ ἧμον ἀνάπαῦσον, ἒνθα πάντων ἐστὶν ἡ σωτηρία, „Lasst uns also vom unsterblichen Christus für die von uns Gegangenen Ruhe erbitten, dort, wo die Erlösung aller ist.“

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auf die Sprechrollen im Rahmen des Gottesdienstes zu übertragen. Auf diese Weise würde die in der Überschrift initiierte Kommunikation zwischen Betenden und Pries­ ter fortgesetzt; dieser übernimmt dabei die Offenbarung und damit die Medialisierung transzendenten Wissens gegenüber seiner Glaubensgemeinschaft. Diese Authentisie­ rungsstrategie wird auch unter Beibehaltung der ursprünglichen Gesprächsstruktur gewährleistet: Noch stärker als im codex unicus rückt das Exzerpt die Jenseitsthematik des ‚Timarion‘ in den Vordergrund und fokussiert somit die Unterredung zwischen Gewährsperson und Visionär. Aus den bereits angesprochenen verschiedenen Gesich­ tern des ‚Timarion‘, die sich aus der Fülle an assoziativen Mustern im Text ergeben, verfügt die im Exzerpt generierte Handlung folglich über „a separate existence from its ‚narration‘ since different narrators may tell the same stories in a different manner depending on their different perception of the events and on their own function in the story […].“112 Die so formulierten Bezüge zu Totenriten und Totengaben sind nicht nur für die Vorstellungen über das Verbleiben der Seele nach dem Tod als solche, sondern auch für die diesseitigen Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Zwischenzustand im ‚Timarion‘ relevant und bilden im gesamten Bericht des Jenseitsreisenden ein wieder­ kehrendes Motiv: Die Toten verfügen – wie Timarion auf eine Investigativfrage des Kydion hin erklärt – über verschiedene Arten von Lampen mit unterschiedlich starker Leuchtkraft, um im Jenseits etwas sehen zu können.113 Neben der in diesem Kontext 112 Nilsson, Narrative, S. 282. 113 Vgl. dazu Timarion 16.417–423, ed. Romano, S. 65, sowie die 1152 in dem Typikon für das Koinobi­ tenkloster Kosmosoteira in Feres getroffenen Vorkehrungen des Isaak Komnenos (* 1093; † 1152) in Typikon Kosmosoteira, Cap. 64.1166–1173, ed. Papazoglou, S. 95, dass ἐπὶ δὲ τῶν τῆς ψυχῆς μου μνημοσύνων οὐ χρεών μοι διατάξασθαι, οὔτε σεμνῦναι ταύτην θέλω διὰ φαιδροτήτων τινῶν φωταψίας μεματαιωμένης καὶ τῆς ἄλλης τοῦ κόσμου συνηθείας, ἐσκοτισμένη γὰρ αὕτη τῷ ζόφῳ τῆς ἁμαρτίας τυγχάνουσα πῶς κηριδίων καὶ θρυαλλίδων ἀνάψεσι φωτισθήσεται ἄπορονˑ ἀλλ’ ἵλεως μὲν ταύτῃ Θεὸς γένοιτο, μεσιτείᾳ τῆς Θεομήτορος, καὶ τὸ φῶς ἐλλάμψοι τῆς ἀφάτου φιλανθρωπίας αὐτοῦ, οὗ φωτὸς καὶ τυχεῖν ἐφιέμεθα οἱ τούτου ἀνάξιοι. Ἡ δὲ τοῦ προεστῶτος διάκρισις εὐτελῶς τὰ τῆς ψυχῆς μου τελείτω μνημόσυνα, οἷα χρεὼν τῇ μακρᾷ συνηθείᾳ τοῖς τοῦ βίου ἀπάρασι χριστιανοῖς γίνεσθαι, mit englischer Übersetzung bei Patterson Ševčenko, Kosmosoteira, S. 828: „As for the comme­ morative services for my soul, there is no need for me to make any arrangements. Nor do I want to exalt my soul by the foolish illumination of gleaming [objects], nor by any other customs of this world. For it is difficult to conceive how my soul, benighted as it is by the darkness of sin, would be illuminated by the lighting of wicks and lamps. But may God be gracious unto my soul, by the intercession of the Mother of God, and may the light of his ineffable love for mankind shine forth–which light we, unworthy of him, desire to reach. May the judgment of the superior execute in modest style the commemorative services for my soul–whatever is appropriate, according to long custom, for Christians who depart from this life.“ Zwar finden sich ansonsten keine Verweise, gemäß denen das Anzünden von Kerzen dabei helfen soll, im Jenseits zu sehen bzw. gesehen zu werden. Allerdings taucht ab dem 11. Jhd. in zahlreichen Typika und Testamenten vermehrt der Wunsch auf, Kerzen am Grab dauerhaft brennen zu lassen, vgl. z. B. das 1083 abgefasste Typikon des Gregorios Pakourianos († 1086) für das Theotokos-Kloster Petritzos im heutigen Bulgarien in Typikon Pakourianos, Cap. 12.848–895, ed. Gautier, S. 71–73, mit englischer Übersetzung bei Jordan, Pakourianos, S. 536, das aus dem Jahr 1136 stammende Typikon Kaisers Johannes’ II.

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vielfach hervorgehobenen114 sozialen Differenzierung rekurriert der Text dabei auch auf ein wichtiges Element diesseitiger Praktiken des Totengedenkens.115 Folglich er­ gibt sich die Leuchtkraft der Lampen im Jenseits des ‚Timarion‘ weder aus ihrem Ma­ terial noch aus der Herkunft ihrer Besitzenden. Sie wird durch die Totenrituale und -gaben ihrer Hinterbliebenen im Diesseits beeinflusst: „[D]ark lamps can be filled, and lit again, by prayer, almsgiving, and fasting, either during one’s lifetime or vicariously after one’s death by others.“116 So zentral sich an dieser Stelle also die korrekte Ausführung von Totenritualen für das Leben der Seelen nach dem Tod erweist, so zeitigt das Gegenteil entsprechend massive Konsequenzen: Die fehlerhafte Durchführung der Totenrituale fungiert im Plädoyer des Theodoros von Smyrna, der vor dem Jenseitsgericht als Timarions Für­ sprecher fungiert, als entscheidendes und damit wirkmächtiges Argument.117 Wenn Timarion nach der Rückkehr in seinen diesseitigen Körper zudem dazu angehalten ist, seinem ehemaligen Lehrer als Zeichen der Erkenntlichkeit für seine Hilfe sein Lieblingsessen ins Jenseits zu schicken,118 setzt die rituelle Handlung implizit voraus, dass jenem dieses Geschenk auch zukommt. Die vielfachen Referenzen auf diesseitige Totenrituale erhalten im ‚Timarion‘ somit erst vor der Prämisse, dass die erbotenen Hilfen ihre Toten im Jenseits auch erreichen, ihre Zugkraft. Auch wenn die genaue Funktionsweise der Fürbitten dabei letztlich diffus bleibt,119 beziehen sowohl der Text im vatikanischen Codex als auch das Wiener Exzerpt mit Blick auf ihre Wirksamkeit eindeutig Stellung. In ihrer erleichternden Wirkung richten sich diese dabei an eine

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Komnenos (* 1087; † 1143) für das Pantokrator-Kloster auf dem Berg Athos in Typikon Pantokrator, Cap. 34.860–862, ed. Gautier, S. 81: Εἰς δὲ τὸν τοῦ ᾽Ασωμάτου ναόν, εἰς μὲν τὸν μύακα κηρίον ἀκοίμητον ἒν ἀναφθήσεται, εἰς δὲ τὸν τάφον τῆς περιποθήτου μου συζύγου καὶ αὐτῆς τῆς βασιλείας μου ἀνὰ ἕτερον ἓν, mit englischer Übersetzung bei Jordan, Pantokrator, S. 756: „In the church of [St. Michael] the Incorporeal one candle will be lit to burn continuously in the conch of the apse and another before the tomb of my most beloved wife and one before that of my majesty.“ Für diese Hinweise danke ich herzlich Sibel Ousta. Vgl. dazu z. B. Menelaou, Satire, Alexiou, Subversion, S. 29–45, Krallis, Harmless, Nilsson, Poets, S. 183 f., dies., Hades, S. 323 f., Toševa, Diversity, und Marciniak, Climate, bes. S. 349. Dazu hat Baun, Tales, S. 375–385, mit dem Zitat auf S. 381, aufgezeigt, dass „the disposition and ritual use of lamps and candles […] underlines just how intimately keeping lights burning was bound up with intercession, and therefore a good afterlife outcome, in the Byzantine religious consciousness.“ Dieses Motiv findet sich ferner in der ‚Apokalpyse der Anastasia‘ wieder, vgl. dazu ebd., S. 312. Baun, Tales, S. 312. Vgl. dazu Timarion 39.984–988, ed. Romano, S. 85: ἄλλως τε, νόμων κειμένων νεκρικῶν διαιρεθῆναι τὴν ψυχήν, εἶτα γενέσθαι τὰς καθ᾽ ἕκαστον θρήσκευμον ὁσίας ἐπὶ τῷ τεθνεῶτι […]. καὶ οὕτω παρὰ τὸν Ἅιδην κατῆχθαι. „Außerdem wird die Seele nach den geltenden Totengesetzen vom Körper getrennt, wenn die für jede Religion geeigneten Totenriten stattgefunden haben […].“ Vgl. dazu Timarion 47.1191–1198, ed. Romano S. 92. Vgl. dazu die Einschätzung bei Baun, Tales, S. 311 [Hervorhebung i. O.]: „Exactly how this [sc. in­ tercession] works is not explained, but the sinners […] are sure that it does work. […] Intercession can help.“

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exklusive Gruppe von Seelen im Jenseits: jene angesprochenen mesoi, die Michael Psellos in seiner Kategorisierung selbst mit dem Konzept einer unterschiedlich star­ ken Erleuchtung in Verbindung gebracht hat.120 Dadurch erweist sich das Exzerpt trotz seiner Kürze durch die Rekontextualisierung einzelner Textausschnitte als äußerst be­ deutungsreiche Rezeption des ‚Timarion‘. Schließlich scheint der ‚Timarion‘ nicht nur auf Basis des Exzerpts und seines Samm­ lungskontextes ein Text mit offensichtlich ernst zu nehmendem und ernst genomme­ nem Inhalt darzustellen. Dieser Umstand zeigt sich sehr deutlich in der Eskalation, die das Werk in einem Brief des byzantinischen Beamten Konstantinos Akropolites (* um 1250, † vor 1324)121 aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert provoziert: Denn er bezeichnet den ‚Timarion‘ als ληρωδία (Epistola, Z. 20, ed. Romano, S. 44), als „leichfertiges Gerede“,122 als ἐμβροντήτου τοῦτ’ ἔργον καὶ παραπλῆγος αὐτόχρημα (ebd., Z. 22), als „das Werk eines vom Donner gerührten Narren und gänzlich Unzu­ rechnungsfähigen.“123 Symbolträchtig hätte Akropolites τὸ δὲ ληρῶδες τουτοὶ βιβλίον (ebd., Z. 49 f., S. 45), „dieses törichte Buch“, daher am liebsten verbrannt,124 ὡς μὴ τοῦ λοιποῦ πρὸς θέαν τῶν Χριστωνύμων ἔλθοι τινί (ebd., Z. 44 f., S. 44), „damit es in Zu­ kunft nicht in die Hände von Christen fallen würde […].“125 Angesichts dieser doch sehr deutlichen Worte scheint Konstantinos Akropolites das Werk nicht nur im Sinne einer reinen Geschmacksfrage missfallen zu haben:126 In dem Brief spielen Unvereinbarkeiten, Verharmlosung, fehlende Ehrfurcht und eine falsche 120 Vgl. dazu auch Foxhall Forbes, Apocalypse, S. 153. 121 Vgl. einführend Nicol, Constantine, und Merino Castrillo, Timarión, S. 160, mit Blick auf den ‚Timarion‘ Baldwin, Timarion, S. 24–27, Krallis, Harmless, S. 221, und Kaldellis, Helle­ nism, S. 277. 122 Direkt zu Beginn seines Briefes wählt Akropolites mit dem Begriff δρᾶμα (Epistola 2, ed. Romano, S. 43) für den ‚Timarion‘ eine andere, weniger emotional aufgeladene Bezeichnung. Vgl. dazu auch Marciniak, Art, S. 357: „Drama was thus understood not as a term referring to a particular genre but rather as a signal that the Timarion was categorised as belonging to fictitious narratives.“ Wird die Transzendenzerfahrung des Timarion in dem Brief somit an keiner Stelle erwähnt, so ist die Medialisierung der Jenseitsreise des Timarion auch bei Akropolites damit nicht erfolgreich. 123 Eine Edition des Briefes bieten Treu, Kritiker, S. 361–365, und Romano, Introduzione, S. 42–45, eine englische Übersetzung Baldwin, Timarion, S. 24–26. 124 Möchte man einer wörtlichen Lesart für diese Formulierung folgen, so resultiert hier aus der Be­ fürchtung, dass das Publikum den – sei es satirischen, sei es (anti-)christlichen – Inhalt des ‚Tima­ rion‘ nicht korrekt einordnen könne, eine implizite Empfehlung zur Bücherverbrennung. Eine solche Praxis wurde in der Tat durch den 63. Canon der Trullanischen Synode (691) festgelegt und auch im 12. Jhd. noch praktiziert, vgl. Herrin, Margins, S. 335–356, bes. S. 345–349, sowie Grünbart, Securing, S. 324 f. Dies deckt sich mit den Befunden, die Haye, Verlorenes Mittelal­ ter, S. 436, für Überlieferungsverluste von mittellateinischen Invektiven und Satireschriften aufzei­ gen konnte und die bei Bernard, Laughter, S. 54, auch für die Überlieferungssituation in Byzanz ihre Bestätigung finden. 125 Zur Kritik am Christentum im ‚Timarion‘ vgl. Alexiou, After Antiquity, S. 101, Kaldellis, Hel­ lenism, S. 277, und Krallis, Harmless, S. 221. 126 Vgl. dazu den Kommentar von Baldwin, Timarion, S. 26, der den Brief als „strong stuff “ bezeich­ net.

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Wahrnehmung Gottes eine gewichtige Rolle. Mit Blick auf den historischen Kontext mögen die Einschätzungen des Akropolites dabei gewiss ein bestimmtes quorum der byzantinischen Bevölkerung repräsentiert haben, das der Wiederherstellung der Kirchenunion kritisch gegenüberstand.127 Aufgrund des persönlichen Charakters der Nachricht,128 des nicht überlieferten, nicht verfassten oder als solchen gar nicht erst intendierten Antwortschreibens, aber auch aufgrund der durchaus unterschiedlichen Meinungen mit Blick auf den Kirchenstreit sowie nicht zuletzt der skizzierten Vielheit an Jenseitsvorstellungen ist die tatsächliche Repräsentativität des Briefes nur schwer zu bestimmen. So formuliert Akropolites als „in fact the sole identified Byzantine rea­ der of the Timarion“129 eher eine Einzelmeinung, die sich nicht ohne Weiteres verallge­ meinern lässt.130 Gleichzeitig weisen der nachdrückliche Ton und die Gesamtreaktion des Briefes darauf hin, dass über die Frage des richtigen Glaubens, der in der byzanti­ nischen christianitas als zutiefst authentisch und unanfechtbar galt, mithin über religi­ ös-theologische Aspekte am Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert – einschließlich des Zweiten Konzils von Lyon – keine einheitliche Meinung mehr bestand.131 Auch wenn dabei letztlich unklar bleiben muss, was Konstantinos Akropolites genau mein­ te,132 wenn er nicht verstünde, πότερα γὰρ τὰ τῶν Χριστιανῶν διαχλευάσαι βουλόμενος (ebd., Z. 15 f., S. 43), „warum er [sc. der Autor des ‚Timarion‘] den christlichen Glau­ ben angreifen wollte“, so scheint bei dem Beamten doch die Befürchtung zugrunde gelegen zu haben, dass die im Werk formulierten Aussagen bei einem byzantinischen Publikum tatsächlich auf Zustimmung hätten stoßen können.

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Vgl. dazu Merino Castrillo, Timarión, S. 167. Dies legt auch Baldwin, Timarion, S. 27, nahe. Vgl. dazu Epistola 51–53, ed. Romano, S. 45, und Merino Castrillo, Timarión, S. 167. Nilsson, Poets, S. 185 [Hervorhebung i. O.]. Vgl. dazu Baldwin, Timarion, S. 27 und S. 118 (Anm. 177). Auch Merino Castrillo, Timarión, S. 174, weist darauf hin, dass der Brief des Akropolites bisher z. T. zu wörtlich gelesen worden sei. In der Tat messen sowohl Kaldellis, Hellenism, S. 277, als auch Krallis, Harmless, S. 221, dem Brief in ihren Argumentationen großes Gewicht bei. 131 Vgl. dazu auch Kaldellis, Hellenism, S. 227. Dabei stößt der ‚Timarion‘ auf die Ablehnung eines Beamten, der seine Vorbehalte in privatem Rahmen gegenüber einem spezifischen Rezipienten äußerte und voraussetzte, dass dieser seine Meinung teilte. Zusätzlich fällt diese Reaktion in den historischen Kontext des Kirchenstreits, in dem kurze Zeit vorher die Anerkennung des Fege­ feuers und damit die Anerkennung anderer Jenseitsvorstellungen sowie die daraus resultieren­ den Veränderungen in religiösen Praktiken abgelehnt worden waren. Der ‚Timarion‘ ist – auch mit Blick auf die Sammlungskontexte des Exzerpts – nicht als anti-christliche Schrift zu lesen: Vielmehr ist der Text das Ergebnis einer Kombination verschiedener christlich-religiöser Vorstel­ lungen und präsentiert damit ein heterodoxes Jenseits, das konsequenterweise unterschiedliche Assoziationen und Vorstellungen über das Leben der Seele nach dem Tod generierte. Vgl. auch Merino Castrillo, Timarión, S. 167–170 und S. 175: „La hipótesis del anticristianismo de Tima­ rión parece deberse más a conjeturas y prejuicios actuales que a la realidad religiosa de la Europa del siglo XII.“ 132 Vgl. neben den in Anm. 125 genannten Interpretationen Marciniak, Undead, S. 103 f.: „Akropoli­ tes’ letter is […] the indicator that the poetics of appropriation was not always welcome, that there were limits to it, especially when it comes to mixing pagan myths and Christian beliefs.“

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IV. Die vielen Gesichter des ‚Timarion‘: drei Thesen für ein breiteres Verständnis visionären Erzählens Der Brief des Akropolites erlaubt es schließlich, den Bogen wieder nach Lyon und somit zum Beginn des Beitrags zu schlagen: Denn der subtil greifbar werdende gesell­ schaftlich-religiöse Bezug wird auch durch die Biographie des Briefschreibers gestützt. Er blieb ein „outspoken opponent of […] [the] union with the Roman Church and of the efforts […] to persuade the clergy and people of Constantinople that that po­ licy was dogmatically acceptable“133, während gerade dessen Vater, der byzantinische Diplomat, Beamte und Geschichtsschreiber Georgios Akropolites (* 1217, † 1282),134 in Lyon stellvertretend für ganz Byzanz jenen Eid geleistet hatte, mit dem die Wiederver­ einigung der Kirchen zumindest auf dem Papier für kurze Zeit wiederhergestellt wer­ den konnte.135 Die Konzilsbeschlüsse blieben jedoch nicht nur auf einen innerfamiliä­ ren Dissens beschränkt; mit der schriftlichen Fixierung der Erleichterung von Sünden im Fegefeuer gingen sie auch über Fragen der religiös-theologischen Theorie hinaus: Denn mit der Anlage und Ausführung von Totenritualen betrafen sie – wenn auch bis zum Konzil von Ferrara-Florenz vorerst nur zeitweise – Aspekte der alltagslitur­ gischen Praxis in Byzanz. Auf diese komplexe Diskurslage nimmt auch der ‚Timarion‘ Bezug, indem er satirische Elemente mit hagiographischen, theologischen und visio­ nären Erzählformen vereint. Damit gestaltet sich das Werk als deutlich facettenreicher, als es dessen Forschungsgeschichte mit ihrem starken Fokus auf ebenjene satirischen Aspekte zunächst vermuten lässt. Wie steht der ‚Timarion‘ also im Spannungsfeld zwischen ‚Gesicht und Hand­ schrift‘? Ist er in seiner Funktion als Jenseitsreise werkimmanent wie rezeptionsge­ schichtlich gescheitert? Immerhin unterliegt der ‚Timarion‘ nach wie vor einer starken Wahrnehmung als Satireschrift. Seine Überlieferung als codex unicus in einer Luki­ an-Handschrift scheint diese Kategorisierung zu bestätigen,136 ja nicht einmal der Ge­ sprächspartner im Werk selbst scheint dem Visionär seine Jenseitsreise zu glauben und wendet seine Erzählungen ins Lächerliche. Die Engführung des ‚Timarion‘ auf eine Lesart als Satireschrift resultierte dabei indes weniger aus einer Auseinandersetzung mit seinem Entstehungs-, sondern vielmehr aus einer missverständlichen Annäherung an den Überlieferungskontext des Werkes: So haben Interpretationen des ‚Timarion‘ auf Basis seines Sammlungskontextes vielfach außer Acht gelassen, dass es sich bei der Aufnahme des Textes in den Lukian-Codex um eine nachträgliche Anbindung handelt, das Werk mithin erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Sammelhandschrift

133 Nicol, Constantine, S. 249 f. mit Anm. 10: So sei Akropolites – wohl wegen ebendieser Ableh­ nungshaltung – zeitweise aus dem kaiserlichen Dienst entlassen worden. 134 Vgl. einführend Nicol, Constantine, Prinzing, Akropolites, und Macrides, Introduction. 135 Vgl. dazu Blum, Reisen, S. 133–135, und Roberg, Union, S. 148. 136 Vgl. dazu auch Anm. 97 in diesem Beitrag.

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aufgenommen worden ist. Folglich mag der kodikologische Befund des ‚Timarion‘ als Teil einer Lukian-Handschrift etwas über die Rezeptionsgeschichte des Textes aussa­ gen, nicht jedoch über die Intentionen, die dessen Abfassung ursprünglich zugrunde gelegen haben. Zweifelsohne verfügt der ‚Timarion‘ jedoch auch innertextlich über satirische Ele­ mente. Dabei sollte indes deutlich geworden sein, dass Timarion als Jenseitsreisender über ein ganzes Repertoire an Authentisierungsstrategien versucht, sein transzenden­ tes Erlebnis glaubwürdig zu machen: Diese reichen von strukturellen Merkmalen wie dem dialogischen Aufbau des Textes über inhaltlich-quantitative Aspekte wie der ge­ nauen Beschreibung des Jenseits als solchem bis hin zur Präsentation inhaltlich-qua­ litativer Argumente, mit denen der Visionär die Funktionsweisen im Jenseits zu un­ termauern gedenkt. Zudem existieren mit dem Wiener Exzerpt und dem Brief des Akropolites zwei weitere Quellen, die den Inhalt des ‚Timarion‘ offensichtlich ernst genommen und ihn keineswegs als reine Satire verortet haben: Dieser Umstand wird beim Exzerpt durch dessen Überlieferungskontext in einer theologisch-philosophi­ schen Sammelhandschrift, beim Brief durch dessen Argumentation, die starke Ableh­ nungshaltung mit Blick auf die Synthese unterschiedlicher religiöser Vorstellungen sowie die persönliche Verbindung des Schreibers mit dem Zweiten Konzil von Lyon unterstützt. Die Rezeption des ‚Timarion‘ zeigt gerade mit Blick auf den Brief des Akropolites eines: Humor ist ein Konzept, das historischem Wandel unterliegt. Zweifellos enthält der ‚Timarion‘ satirische Elemente; seine reine Perspektivierung als Satire erweist sich für das Textverständnis indes als zu eindimensional. Diesen Umstand verdeutlichen sowohl das Wiener Exzerpt als auch die Reaktion von Konstantinos Akropolites. So­ wohl der Kompilator des Exzerpts als auch der Verfasser des Briefes rezipierten den Text auf Basis seines religiösen Aussagegehaltes, formulieren dabei jedoch gänzlich konträre Reaktionen: Während das Exzerpt den Inhalt des ‚Timarion‘ kondensiert an eine Glaubensgemeinschaft kommuniziert, versucht Akropolites, wohl genau dies zu verhindern. Bei ihm musste das Werk angesichts seiner religiösen Ansichten und der Haltung im Kirchenstreit zwangsläufig durchfallen.137 Zeitigte die heterodoxe Konzep­ tion des Jenseits im ‚Timarion‘ unter Einbezug des Konzepts der mesoi dabei sowohl Konsequenzen für Ordnungsvorstellungen im Diesseits als auch für Verdienstlogiken im Jenseits, so lässt sich das Werk gerade aufgrund seiner weit voneinander divergie­ renden Rezeptionen auch als Plädoyer für religiöse Toleranz lesen.138 Auf diese Weise wird schließlich ein subtiler und vergleichsweise früher Reflex auf den Diskurs um das Fegefeuer greifbar, da die Jenseitsbezüge des Dialogs im 14. Jahrhundert offensichtlich auch als solche verstanden wurden.

137 Vgl. dazu auch die Feststellung von Krallis, Harmless, S. 240, und Anm. 96 in diesem Beitrag. 138 Vgl. dazu auch Timarion 29. 728–733, ed. Romano, S. 75 f.

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Aus diesen Befunden lassen sich drei weiterführende Thesen für die künftige Erfor­ schung von Jenseitsreisen in ihren Überschneidungen zu themenverwandten Texten ableiten: (i) Jenseitserzählungen bilden keine Gattung. Vielmehr schöpfen sie aus einem brei­ ten, flexibel einsetzbaren und damit durchaus variabel gestaltbaren Repertoire an narrativen Elementen und Beschreibungsmechanismen.139 Treten sie dadurch in Überschneidungen zu Formen hagiographischen, theologischen und nicht zu­ letzt satirischen Erzählens, trifft die Einordnung des ‚Timarion‘ als reine Satire damit schlichtweg nicht zu.140 Vielmehr scheint doch gerade in diesen Überlap­ pungen das Potential für die Vielfältigkeit transzendenten Erzählens zu liegen: ‚Das Jenseits als Thema‘141 kann dabei einen vielversprechenden Ansatzpunkt für die weitere Erforschung des Erzählens von Transzendenzerfahrungen bilden, um bestehende Einzelperspektiven stärker miteinander zu verzahnen. Zweifellos begriffen die zeitgenössischen Schreiber das Jenseits als einen eigenen, anderen Raum, sodass eine Analyse gemäß retrospektiv etablierter Gattungs- und Erzähl­ konventionen den Blick für die vielfältigen Erzählanliegen, Funktionsweisen und Authentisierungsstrategien verstellt.142 (ii) Jenseitserzählungen sind – analog zu den Räumen, auf die sie rekurrieren – dy­ namisch gestaltet. Gerade dieser Umstand ist mit Blick auf ihre Verschriftlichung und Verbreitung jedoch mit Herausforderungen verbunden, die die Authentisie­ rung geoffenbarten Wissens gleichermaßen potenzieren wie einschränken, ver­ fälschen oder misslingen lassen können.143 Auch wenn die Authentisierung des Erlebten zunächst nicht gelingen mag, so potenziert sich die Offenbarung des transzendenten Wissens auch im ‚Timarion‘ mit der Rückkehr des Protagonisten in seinen diesseitigen Körper, der Unterredung mit Kydion sowie seiner Rezepti­ on in Form des Briefes und des Exzerptes von einer individuellen Erfahrung über

139 Vgl. dazu Gebauer, Visionskompilationen, S. 39–48, sowie mit Blick auf die satirischen Elemente des ‚Timarion‘ auch Bernard, Laughter, S. 39: „[C]onsider them [sc. satirical texts] as cultural products that reflect, and engage with, patterns of thought and emotion in a given society. […] The ultimate purpose of this laughter can of course differ greatly: liberation, insight, or humilia­ tion – perhaps almost always a subtle combination of these.“ 140 Vgl. dazu schon Agapitos, Mischung, bes. S. 119 f., mit dem Verweis, dass das Vermischen von Gattungen eine beliebte Praxis im 12. Jhd. in Byzanz darstellte, sowie zum ‚Timarion‘ entsprechend Merino Castrillo, Timarión, S. 164, und Kaldellis, Hellenism, S. 277: „The Timarion mixes genres.“ 141 Vgl. dazu die titelgebende Formulierung von Meyer, Stadt. 142 Vgl. die äußerst anschlussfähigen Ergebnisse von Constantinou, Elements, mit einer Analyse von satirischen Elementen in hagiographischen Zeugnissen. 143 Vgl. dazu auch die Ausführungen in der Einleitung dieses Sammelbandes sowie Weitbrecht, Wissen, Bihrer, Offenbarungen, und ders., Bearbeitungspraxis.

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den privaten Dialog hin zu einer Verbreitung an und durch andere.144 So stellt so­ wohl die Überlieferung visionärer Erzählungen im Sinne einer Erfolgsgeschichte als auch das Scheitern ihrer Medialisierungen großes Potential für weitere For­ schungsperspektiven bereit: Denn auch Vorbehalte, Gegenmeinungen und Ab­ lehnungshaltungen können etwas über Vorstellungen vom Jenseits aussagen. Ein Fokus auf die Momente des Dissenses verdeutlicht die Relevanz von Jenseitsvor­ stellungen und ihren korrelierenden Erzählungen nicht nur in ihren vorstellungs­ geschichtlichen, sondern auch in ihren religiösen, sozialen, politischen und kul­ turellen Kontexten – auch wenn diese Momente zugegebenermaßen nicht immer ohne Weiteres entgegentreten mögen. (iii) Jenseitsvorstellungen und ihre Erzählungen sind ein gesamtchristliches Phäno­ men und damit aus zeitgenössischer Perspektive fast schon zwangsweise hetero­ dox. Die verschiedenen Vorstellungen vom Jenseits mögen dabei an vielen Stellen miteinander konfligieren; dennoch hat der vorliegende Beitrag auch gezeigt, wie produktiv eine Perspektivierung griechischer Quellenbestände in Verbindung mit den Forschungsergebnissen zu ihren lateinischen und volkssprachlichen Pen­ dants sein kann. So lässt sich der ‚Timarion‘ erst in seiner ganzen allusiven Tiefe und (zumindest potentiellen) theologisch-gesellschaftlichen Sprengkraft verste­ hen, wenn man ihn vor dem Hintergrund der vielfältigen religiösen Transfer- und Austauschprozesse liest, die seinen Entstehungsrahmen ebenso bedingten wie re­ gionale sozio-politische Entwicklungen. Damit reiht sich der Beitrag in ein wach­ sendes Forschungsfeld ein,145 verdeutlicht aber auch den Forschungsbedarf, der in diesem Bereich noch besteht: Umso lohnenswerter scheint ein stärkerer Ver­ gleich von Jenseitsvorstellungen über die einzelnen Regionen der europäischen christianitas, über den Mittelmeerraum und damit über die monotheistischen Religionen Europas hinweg. Denn die hier geforderte transkulturelle Perspekti­ ve sollte ihre Grenzen nicht am Bosporus finden, sondern auch die orientalische Christenheit miteinbeziehen. Folglich versteht sich die Studie auch als ein Bei­ trag zu einer kulturübergreifenden Erforschung von Jenseitsvorstellungen und ihren unterschiedlichen Medialisierungen und möchte zu einer Neujustierung etablierter Perspektiven anregen.

144 Vgl. dazu auch den Hinweis von Weitbrecht, Wissen, S. 106, dass „das singuläre Offenbarungs­ erlebnis in einen kollektiven Wahrnehmungsprozess integriert [wird], an dem zahlreiche Augen, Ohren und Hände beteiligt sind, um das Geschaute zu authentifizieren.“ 145 Vgl. dazu Foxhall Forbes, Interim, und dies., Apocalypse, sowie Steckel, Connected History.

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Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. theol. gr. 222, fol. 193v1 (1. Hymnenfragment) † ὢ τῶν ἀγγέλoν οἱ:· ὢ τῶν ἀγγέλων οἱ χοροὶ τῶν ἀσωμάτων χοροὶ· τῶν ἀσωμά:· λειτουργοῦσι μαγίδα, πανμακάριστε, των λιτρουγἱώζι:· δι᾽ὃ Χριστῷ τῷ ἀθανάτῳ βοήσωμεν, μαγίδα πᾶνμακαρι:· τοὺς μεταστάντας ἐξ ἡμῶν ἀνάπαυσον 5 στε· δϊό, Χριστῷ τῷ ἀθάνα:· ἔνθα πάντων ἐστὶν εὐφραινομένων. τo βὸγἴσομεν τους:· μετά σπαν † τὰσ ἐξ ἧμον ἀνά παῦσον εν 10 θα παντὸν ἐστην ευρε μονις

(2. Exzerpt des ‚Timarion‘) + Τιμαρίων + Κυδίων + λέγε τοιγαροῦν, ὦ βέλτιστε Τιμαρίων, καὶ μὴ πρόῃ τὸν καιρὸν, ἡμᾶς τε γλιχομένους μαθεῖν, μὴ ἐπὶ μᾶλλον ἐκκαίῃς καὶ ἀλγύνῃς ὡς μάλιστα + + Ἐγὼ δέ, ἅτε Καππαδόκης ἐκ τῆς ὑπερορίου· καὶ τοῦ πράγματος μήπω 5 πεπειραμένος, ἀλλ’ ἀκοῇ μόνῃ παρειληφώς. Ἐβουλόμην ὅλου γενέσθαι τοῦ θεάτρου κατ᾽αὐτὸν θεατής. ὡς ἂν, μή τι τὴν ἐμὴν ὄψιν ἐκφύγῃ ἀθέατον. ἐφ᾽ ᾧ καὶ ἀνῄειν ἐπὶ τὴν συγκειμένην τῇ πανηγύρει ἀκρώρειαν· καὶ πάντα καθίσας ἐθεώμην κατὰ σχολήν, ἦν δὲ τὰ ἐν αὐτῇ τοιάδε + καὶ ἦν τὸ πρᾶγμα ἐπιεικῶς ἀξιόθεον + ἐπειδὴ ταῦτα οὕτω κατὰ σχολὴν 10 ἐθεασάμην. καὶ θεαμάτων ἔμπλεως γέγονα, πάλιν ἔτι τὴν πόλιν ἠγόμην ἔρωτι θεάματων ἑτέρων + ὁ δοὺξ ἐπῄει γαληνῷ τῷ κινήματι. Ἔρωτες δὲ αὐτοῦ καὶ μοῦσαι καὶ χάριτες προέτρεχον καὶ ὑπέτρεχον· ὢ πῶς ἄν σε διηγησαίμην, Κυδίων φίλτατε, τὴν ἐνσκηνώσασαν χαρμονὴν τῇ ψυχῇ μου τότε καὶ τὸ τῆς ἀγαλλιάσεως πλήσμιον; 1

Zur Verdeutlichung wird der Euchologien-Abschnitt in der linken Spalte als diplomatische Tran­ skription, in der rechten Spalte in standardisiertem Griechisch angeboten. Für die Hilfe bei der Transkription danke ich herzlich Sibel Ousta und Michael Grünbart. 1 ᾧ τῶν ἀγγέλων – 10 ευρε μονις scripsit L1 | 11 τιμαριων – 24 πλήσμιον scripsit L2 5 δϊό – 10 μονις cf. Εὐχολόγιον sive rituale Græcorum, 576 | 11 λέγε τοιγαροῦν – 13 μάλιστα cf. Timarion 1.11–13 | 14 Ἐγὼ δέ – 19 τοιάδε cf. Timarion 5.124–129 | 19 καὶ ἦν – ἀξιόθεον cf. Timarion 5.138; ἐπειδὴ – 21 ἑτέρων cf. Timarion 6.165–167 | 21 ὁ δοὺξ – 24 πλήσμιον cf. Timarion 7.201–205. 1 ἀγγέλoν] -oν legend. -ων | 3 λιτρουγἱώζι] legend. λειτουργοῦσι | 4 f. μακαριστις] -τις legend. της | 5 Χριστῷ] χρο add. ρ; ἀθάνατo] legend. ῳ | 6 βὸγἴσομεν] ut vid. | 9 ante παῦσον del. κ … legi non potui | 10 ante θα παντὸν ut vid. lit. legi non potui | 16 κατ᾽αὐτὸν] κατὰ ταὐτὸν Timarion 5.126 | 18 ἀκρώρειαν] e corr., ante rasuram legi non potui | 22 σε] σοι Timarion 7.203 | 24 post πλήσμιον ut vid. ε cf. εἰπὲ οὖν Timarion 7.206.

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Bibliographie Quellen Handschrift: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex theologicus graecus 222, fol. 193v. ᾿Ακολουθία Νεκρώσιμος εἰς Ἱερεῖς („Beerdigungsritus für Priester“), in: Ευχολόγιον το Μέγα της Ορθοδόξου Εκκλησίας, hg. v. Dionysios Anatolikiotis, Athen 2014, S. 419–447. Constantini Acropolitae ad amicum quendam de Timarione dialogo satirico epistola („Brief von Konstantinos Akropolites an einen Freund über den Satiredialog Timarion“), in: Timarione. Testo critico, introduzione, traduzione. Commentario e lessico, hg. v. Roberto Romano (By­ zantina et Neo-Hellenica Neapolitana 2), Neapel 1974, S. 43–45. Initia hymnorum ecclesiae Graecae, Bde. 1–5, hg. v. Enrica Follieri (Studi e testi 211–215), Va­ tikan 1960–1963. Jordan, Robert, Pakourianos. Typikon of Gregory Pakourianos for the Monastery of the Mo­ ther of God Petritzonitissa in Bačkovo, in: Byzantine Monastic Foundation Documents. A Complete Translation of the Surviving Founders’ Typika and Testaments, Bd. 2, hg. v. John P. Thomas / Angela Constantinides Hero (Dumbarton Oaks Studies 35), Washington D. C. 2000, S. 507–563, hier S. 519–557. Ders., Pantokrator. Typikon of Emperor John II Komnenos for the Monastery of Christ Panto­ krator in Constantinople, in: Byzantine Monastic Foundation Documents. A Complete Trans­ lation of the Surviving Founders’ Typika and Testaments, Vol. 2, hg. v. John P. Thomas / An­ gela Constantinides Hero (Dumbarton Oaks Studies 35), Washington D. C. 2000, S. 725– 781, hier S. 737–774. Πρὸς τὸν βασιλέα κῦρ Μιχαήλ, εἰ αἱ ψυχαὶ ζητήσαωτα, ὡς λέγουσί τινες, ἀνάβασιν δέχονται ἀπολυθεῖσαι τοῦ σώματος, ἐν ᾧ δέδεικται καὶ ὃτι ἀθάνατος („An Kaiser Michael, der gefragt hat, ob die Seelen, wie manche sagen, aufsteigen, nachdem sie aus dem Körper entlassen wurden, [und] wo auch gezeigt wird, dass die Seele unsterblich ist“), in: Ioannes Italos. Quaestiones Quodlibetales (Ἀπορίαι καὶ Λύσεις), hg. v. Perikles Ioannou (Studia Patristica et Byzantina 4), Ettal 1956, S. 63–69. Marci Ephesii Oratio Altera de Igne Purgatorio („Die zweite Rede über das Fegefeuer von Markus von Ephesus“), in: De purgatorio disputationes in concilio Florentino habitae, hg. v. Ludwig Petit / Georg Hofmann (Concilium Florentinum. Documenta et scriptores. Series A 8.2), Rom 1969, S. 60–103. Michael Psellos. Εἰ μνημονεύουσιν αἱ ψυσαὶ τῶν σωμάτων ἀπορραγεῖσαι („Ob die abgetrennten Seelen ein Gedächtnis haben“), in: Gouillard, Jean, Léthargie des âmes et culte des saints. Un plaidoyer inédit de Jean Diacre et Maïstôr, in: Travaux et memoirs du Centre de recherche d’histoire et civilisation de Byzance 8 (1981), S. 171–186, hier S. 184 f. Patterson Ševčenko, Nancy, Kosmosoteira. Typikon of the Sebastokrator Isaac Komnenos for the Monastery of the Mother of God Kosmosoteira near Bera, in: Byzantine Monastic Foundation Documents. A Complete Translation of the Surviving Founders’ Typika and Tes­ taments, Vol. 2, hg. v. John P. Thomas / Angela Constantinides Hero (Dumbarton Oaks Studies 35), Washington D. C. 2000, S. 782–858, hier S. 798–849. Ποίημα Γεωργίου Μητρπολίτου Κερκύρας. Περὶ τοῦ πυρός καθαρτηρίου („Das Werk des Metropo­ liten von Korfu Georgios . Über das Fegefeuer“), in: Georges Bardanèse. Metro-

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Exzerpt des Timarion mit hymnischer Überschrift, ÖNB Cod. theol. gr. 222, fol. 193v. Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Wien

Wie in eine Weinsuppe getunkt Selbstauslegung und Autorisierung in den Visionen Johann Engelbrechts Bernd Roling

I. Einleitung Der Braunschweiger Protestant Johann (Hans) Engelbrecht (1599–1642) gehört zu den frühneuzeitlichen Visionären, die heute kaum noch bekannt sind, obwohl seine Offenbarungen in ihrem strukturkonservativen Charakter und ihrer fast archaischen Typologie den Mediävisten einen breiten Vergleichshorizont bieten müssen.1 Nicht nur der Inhalt der Visionen Engelbrechts scheint von den konfessionellen Verengun­ gen der Zeit ab 1600 frei, ja erhebt sich ausdrücklich über sie, auch die Vermittlungsund Autorisierungsstrategien, die der Niedersachse wählt, um seine Rolle als Visionär zu begründen, unterscheiden sich nur wenig von seinen mittelalterlichen Vorgängern. Engelbrechts bis zur Vision unspektakuläres und eher tristes Leben war ebenso schon von den frühen Kirchenhistorikern seiner norddeutschen Heimat erzählt worden wie die nachfolgenden Ereignisse und Verwicklungen.2 Er selbst hatte seine Biographie zur Vorgeschichte seiner Gesichte erhoben. Ab 1622 sah sich der Handwerker mit einer überschaubaren Serie von Schauungen konfrontiert, die nicht der im Dreißigjährigen Krieg populären Geschichtsprophetie zuzurechnen sind, sondern das Jenseits ins Zen­ trum rücken und ohne konkreten Zeitbezug zur Umkehr aufrufen. Engelbrecht wan­ delte sich im Anschluss an seine Visionen von einem lutherischen Protestanten zum Anhänger einer ‚Geistreligion‘, was ihm von Seiten der lokalen Konsistorien in Nieder­ sachsen und Friesland erheblichen Gegenwind eintrug und in diversen Verurteilun­ gen von Seiten der Amtskirche endete. Die gleiche ‚Geistreligion‘ sollte Engel­brecht 1 2

Mein Dank für Unterstützung geht an die Alte Abteilung der Universitätsbibliothek Göttingen. Rehtmeyer, Historiae ecclesiasticae inclytae urbis Brunsvigae, Bd. 4, c. 6, S. 417–432, S. 472–483. Verschwiegen sei nicht, dass Engelbrecht als Fantast auch mit entsprechender Biographie erwähnt wird bei Adelung, Geschichte der menschlichen Narrheit, Bd. 4, S. 30–48.

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jedoch für die Pietisten im Gefolge Johann Arndts und Philipp Jacob Speners nur we­ nige Jahrzehnte später zum visionären Zeugen eines apostolischen Christentums der Herzensfrömmigkeit machen, wie es in diesen Kreisen leitmotivisch propagiert wurde. Es wundert so nicht, dass Engelbrecht in die Fahrwasser der innerprotestantisch-pie­ tistischen Kontroversen geriet und von den nahezu omnipräsenten apologetischen Historikern des zeitgenössischen Pietismus, von Pierre Poiret oder Gottfried Arnold,3 aber auch von Johann Reitz, der ihn unter den ‚Wiedergeborenen‘ aufführt,4 ebenso in ihre Großnarrative integriert wurde, wie man ihn aus der Front seiner Gegner heraus brandmarken musste.5 Kaum zufällig erscheint Engelbrecht hier in Autoritätenketten mystischer Schriftsteller, die in der Spätantike und im Mittelalter ihren Anfang ge­ nommen hatten und Gertrud die Große in ihrer Reihe wußten oder Hildegard von Bingen.6 Die eindrucksvolle Druckgeschichte der Werke Engelbrechts, die nach den ersten Drucken, die oft nur noch in einem Exemplar vorhandenen sind,7 Übersetzun­ gen ins Englische und Niederländische und auch verschiedene durch die Nachfrage motivierte Rückübersetzungen aus dem Niederländischen ins Deutsche einschließt,8 3

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Poiret, La Théologie réelle vulgairement, Lettre sur les principes et caractéres des principaux au­ teurs mystiques et spirituels des derniers siécles, Nr. 8, S. 44–47; ders., Bibliotheca Mysticorum Selecta, Epistola de principiis et characteribus mystiorum, Nr. 8, S. 153–157; Arnold, Unpartheyi­ sche Kirchen- und Ketzer-Historie, (zuerst 1699), Bd. 3, Theil 3, c. 32, S. S. 217–220; ders., Historia et descriptio theologiae mysticae, S. 587–589; ders., Leben der Gläubigen oder Beschreibung sol­ cher Gottseligen Personen, c. 32, S. 621–683. Reitz, Historie der Wiedergebohrnen, Bd. 2, Historie 11, S. 98–108. Die Debatten um die Bedeutung von Visionen und Prophetie, die vor dem Hintergrund des Pietis­ mus im 17. Jahrhundert ausgetragen werden, sichten z. B. Strom, Jacob Fabritius, Friedrich Breck­ ling und die Debatte um Visionen, S. 249–270; und in Kürze Roling, Mittelalterliche Mystik im Kreuzfeuer des Pietismusstreites (im Druck). Als Beispiel mit einer Fülle von Nachfolgeschriften Stolterfoht, Consideratio visionum apologetica, doch hier ohne Erwähnung Engelbrechts. Aus­ drücklich auf Engelbrecht ein geht Pfeiffer, Anti-Enthusiasmus, oder: Schrifftmäßige Offenbah­ rung, S. 24, S. 177, S. 262, S. 306, S. 325 f. Eine Zusammenfassung der Arnoldschen Aufarbeitung mittelalterlicher Spiritualität liefert z. B. Erb, Pietists, Protestants, Mysticism, passim. Eine Druckgeschichte kann hier nicht gegeben werden. Als frühe deutsche Ausgaben sind unter anderem verifizierbar Engelbrecht, Ein Göttlich und Himlisch Mandat und Befehl (1625) (VD 17: 737936B, in der Stadtbibliothek Braunschweig); ders., Eine Warhafftige göttliche Christliche Offenbarung (1626) (VD 17: 23:283460M); ders., Christlicher Wunderreicher Bind-Brief (1639); ders., Eine Warhafftige Gesicht und Geschicht vom Himmel und der Hellen (1640) (und gleich noch einmal Wahrenburg, 1641); und ders., Christlich Wunderreicher Bind-Brief (1684); zusam­ men gedruckt mit ders., Ein christlich Schreiben an die Gelahrten, und an einen jeglichem inson­ derheit (1684) (VD 17: 3: 311030R). Eines der beiden Göttinger Exemplare (Th.thet 1. 758.7) ist komplett annotiert. Unter den jüngeren Ausgaben Engelbrecht, Eines von Gott erleuchteten Schrifften (1686), dort als Bd. 1: Eine Wahrhafftige Geschicht und Gesicht von Himmel und der Höllen (Band 2 exis­ tiert nicht); ders., Des von Gott hocherleuchteten Mannes Hannß Engelbrecht wahrhaffte Ge­ schichte (1710) (nur das erste Gesicht); ders., Des frommen Braunschweigischen Tuchmachers Lebens-Lauff (1730); ders., Der vom Tode erweckte Protestant (1761); noch einmal einzeln ders., Hans Engelbrechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767), gedruckt noch einmal identisch s. l. 1773. Niederländisch z. B. als ders., Een christelijck geschrift (1643); ders., Een goddelijck ge­

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reicht bis ins 19. Jahrhundert und ist bisher kaum rekonstruiert worden. Die Über­ lieferungsgeschichte ist daher schillernd, zumal viele Ausgaben vielleicht nicht mehr verifizierbar sind. Ende des 18. Jahrhunderts konnte Engelbrecht, wenn auch wohl aus verkaufsfördernden Motiven, als ‚Deutscher Swedenborg‘ tituliert werden, obwohl er mit dem Propheten aus Uppsala kaum Gemeinsamkeiten besaß.9 Als niederländischer Übersetzer zeichnete sich Abraham Willemsz van Beyerland verantwortlich, der auch als Übersetzer von Jacob Böhme und diversen hermetischen Schriften in Erscheinung getreten war.10 Die Paratexte, die Engelbrecht seinen Visionen beigegeben hat, sind ih­ rem Fundament zum Teil erst fünfzehn Jahre nach den Ereignissen beigegeben worden und vollständig nur in den niederländischen Fassungen dokumentiert. Van Beyerland hatte sie offensichtlich aus den ihm verfügbaren Drucken und in weiten Teilen aus den Manuskripten Engelbrechts übertragen. Das Interesse der Forschung an den Visionen Engelbrechts ist bisher gering ausgefallen, auch wenn die Studien von Anika Höpp­ ner und Jürgen Beyer zur lutherischen Laienprophetie hier Hervorhebung verdienen sollten.11 Dass Engelbrecht einige Jahre nach seiner ersten Vision, 1625, in seinem Sen­ dungsbewusstsein mit einem möglichen Konkurrenten, dem lutherischen Chiliasten Paul Felgenhauer, den er brutal zur Buße aufrief, aneinandergeriet, hat erst vor kurzem Aufmerksamkeit erhalten können.12 Felgenheuer sollte im Anschluss immerhin weite­

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sichte ende openbaringhe, vande drie standen, gheestelijck, wereldtlijck ende huysselijck (1645); ders., Goddelyk Antwoord, hem door een Engel geopenbaart (1696); oder ders., De Werken van Hans Engelbrecht van Brunswijk (1697). Englisch z. B. als ders., The German Lazarus (1707); ders., The Divine Visions of John Engelbrecht (1780); und noch in den USA ders., The Life of John Engelbrecht (1819). Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), dort Bd. 1, in der allgemeinen Vorrede des nament­ lich nicht greifbaren Herausgebers S. XII–XXXVII eine Biographie Engelbrechts mit den weiteren Visionen, S. XXXVIII–XLVII, eine Übersicht über die vorangegangenen Ausgaben. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert werden, die im Wesentlichen auf der zweibändigen Ausgabe von dems., Der vom Tode erweckte Protestant (1761) aus Altona beruht, die wiederum in deut­ scher Sprache das Material der zweibändigen niederländischen Übersetzung von dems., De Wer­ ken van Hans Engelbrecht van Brunswijk (1697) bietet. Als letzter Druck erschien, wohl aus dem freikirchlichen Milieu, Engelbrecht, Wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1850), eine Ausgabe, die auf dem Text von dems., Hans Engelbrechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767) be­ ruht. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Vorrede des ersten Bandes, ohne Seitenzählung. Zu Abraham van Beyerland als Vermittler deutscher mystischer und okkulter Traditionen z. B. Law, Hermeti rechte meeningh S. 147–178; van Lamoen, Mit dem Auge des Geistes S. 133–168. Höppner, Gesichte, dort zu Engelbrecht S. 292–312; Beyer, Lay Prophets in Lutheran Europe, dort S. 158–160, und mit einer Liste der gedruckten Texte S. 281–284. Kurz zu Engelbrecht im Ver­ gleich zu Schweizer Visionären auch Bütikofer, Der frühe Zürcher Pietismus, S. 325–327; und vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges Gantet, Politique et activité visionnaire, hier S. 303 f. Als ältere Berücksichtigungen noch kurz Mollenhauer, Der braunschweigische Geis­ terseher Hans Engelbrecht, S. 64 f.; und vor allem Beste, Hans Engelbrecht, dort allerdings eben­ falls im Wesentlichen nur ein Referat der Biographie S. 132–155; ders., Beiträge zur Geschichte des Mysticismus, S. 353–359, S. 361–366. Penman, A Seventeenth-Century Prophet confronts his Failures, hier S. 186–192; dazu auch Fel­ genheuer, Speculum Poenitentiae, S. 57 f.

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re Visionen Engelbrechts verbreiten.13 Das Stadtarchiv in Braunschweig verwahrt noch Handschriften einiger der später gedruckten Briefe und Suppliken Engelbrechts, doch leider keine Manuskripte der Visionen.14 Vergleicht man die Visionen Engelbrechts mit den Gesichten jener Zeitgenossin­ nen, mit Jeanne Guyon oder Antoinette Bourignon, mit denen sie zum Teil gedruckt werden und mit denen schon seine Leser aus dem 18. Jahrhundert sie in eine Reihe gestellt hatten,15 ja stellt man ihnen gar die zeitgleich entstandenen komplexen und reflektierten Offenbarungen einer Katholikin wie Marie de l’Incarnation zur Seite, so wirkt ihr Inhalt hier schlicht und lässt sich auf wenige, oft repetierte Gedanken redu­ zieren.16 Wie viele Stichwortgeber der Pietisten war Engelbrecht ein Gegner definierter Dogmen und theologischer Institutionalisierung und lehnte eine konfessionelle Ver­ einnahmung strikt ab. Auf fixierte Lehrinhalte antworteten die besagte Innerlichkeit des Heiligen Geistes und die direkte Begegnung mit Christus, dessen in Liebe vollen­ detes Gnadenwerk der Mensch annehmen musste, ohne dass Gott eine Vorauswahl getroffen hätte. Äußere Zeremonien und Sakramente waren ebenso zweitrangig wie das Beharren auf dem Buchstaben der Heiligen Schrift. Gott war Engelbrechts ein­ ziger Lehrer, er war sein Sprachrohr, das auf Anerkennung hoffen durfte. Die Vision stand im Zentrum seiner Lehre und war Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. Engelbrecht beruft sich weder auf Vorgänger, noch auf Theologen. Außer der Heiligen Schrift und Liedern aus dem lutherischen Gesangbuch seines norddeutschen Spren­ gels wird kein Text herangezogen. Gerade weil jede weitere explizite Autorität Engel­ brechts Anspruch auf Unmittelbarkeit nur geschmälert hätte, bedurfte der protestan­ tische Visionär besonderer Autorisierungsstrategien, die seine Position begründeten. Wie viele seiner Vorgängerinnen und Vorgänger legitimierte sich Engelbrecht gleich­ sam direkt aus der Transzendenz, durch Mirakel, und seine Gabe, seine Gegner von

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Eine wunderbarliche Vision Eines Catholischen Einsiedlers, dort angehängt der Extract aus einem Sendschreiben Paul Felgenheuers zu einem Gesicht Engelbrechts aus dem Jahre 1626, das die lieblosen und disputierenden Priester für den Krieg verantwortlich macht. Beste, Hans Engelbrecht, mit einer Liste der sieben Handschriften, S. 130, deren Inhalte zum Teil auch bei Rehtmeyer, Historiae ecclesiasticae inclytae urbis Brunsvigae, Bd. 4, S. 473–475, und Bes­ te, Beiträge zur Geschichte des Mysticismus, S. 355–359, referiert werden. Die heutige Signatur des Konvolutes vor Ort lautet B III 15: 14. Engelbrecht, Divine vision et révélation des trois états (1685), mit getrennter Seitenzählung. An­ toinette Bourignon hatte sich selbst begeistert über die Visionen Engelbrechts geäußert und ihn mit Jacob Böhme verglichen, dazu Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, c. 32, S. 628. Beyer, Lay Prophets in Lutheran Europe, S. 160, S. 282, benennt auch den Druck einer älteren schwedischen Übersetzung aus dem 1848 mit dem Titel ‚Berättelse om Hans Engelbrechts lefnad, syner och uppenbarelser‘. Eine allgemeine parallel angelegte Würdigung der Marie de l’Incarnation und Jeanne Guyon lie­ fert für das 17. Jahrhundert z. B. Bruneau, Women mystics confront the modern world, passim. Die enorme Kritik, der sich vor allem Antoinette Bourignon im lutherischen Milieu ausgesetzt sah, dokumentiert aussagekräftig Jäger, Examen theologiae novae et maxime Celeberrimi Dn. Poi­ reti; dazu z. B. Jäger/Osiander, Nova purgatio animae post mortem.

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Gott selbst falsifizieren zu lassen. Dazu gesellten sich eine in stereotypen Formulierun­ gen wiederholte Leidensgeschichte, die Engelbrechts Erwähltheit einleitete, und eine immer wieder neu angeschlossene discretio spirituum, die Scheidung der Geister und der Ausschluss von teuflischer Einflüsterung und Traumphantasien, die den Anspruch Engelbrechts aus dem Echo seiner Visionen ableitete.17 Die historische Resonanz, ihre moralische Unverbrüchlichkeit und die Integrität seiner Rezipienten, die durch die Vision forciert wurde, mussten die Ursache, die Vision selbst, rechtfertigen. Für den Fokus, dem diese Untersuchung verpflichtet sein soll, steht vor allem der Modus der Rechtfertigung im Mittelpunkt und die von Engelbrecht gewählte Strate­ gie. Jede seiner Visionen wird von Engelbrecht einer reécriture unterzogen, die diese Motive, die Scheidung der Geister, das Mirakel, die Unmittelbarkeit des Geistes, in ih­ rer Darstellung bündelt und in einem Moment des Wiederschreibens unmittelbar zur Autorisierung nutzt. Im Unterschied zur Mehrzahl der hier im Band dargestellten For­ men der Autorisierung, die nach dem Visionär neue Akteure ins Spiel bringen, ist es im Fall Engelbrechts also der Seher selbst, der die Visionen auf eine fast augustinische Weise einer retractatio unterwirft. Jedes Gesicht wird von Engelbrecht erst geschildert und dann in einem weiteren Durchgang mit Hilfe eines Engels Schritt für Schritt aus­ gelegt und systematisch dekodiert. Bild und Wort, wie Engelbrecht selbst betont, ste­ hen getrennt voneinander. Selbst wer das Bild, die Vision, aus persönlichem Zweifel nicht beglaubigen wollte, hatte das Wort, so Engelbrecht, das der Geist gesprochen hatte, anzuerkennen und sich zu eigen zu machen. Jeder Vision war auf diese Weise ein hermeneutischer Apparat zur Seite gestellt, der selbst wiederum, durch göttliche Gewalt autorisiert, die Vision authentifizierte. Die von Engelbrecht geschilderte Jenseitsarchitektur ist unspektakulär und erinnert in weiten Teilen in ihrem Charakter an mittelalterliche Jenseitsvisionen. Konkrete An­ schauung und eine lineare Auslegung des Geschauten korrespondieren miteinander. Fast kein Detail bleibt unerklärt. Vielleicht auch deshalb hat der heutige Leser Engelb­ rechts den Eindruck, als sei der mittelalterlichen Erlebnispädagogik und ihrer eschato­ logischen Angstkatechese ohne große Verluste und interkonfessionelle Reibungen der Weg in das frühe 17. Jahrhundert gelungen. Fast zwangsläufig fühlt sich der Mediävist an die ‚Visio Tundali‘ oder die ‚Visio Godeschalci‘ erinnert, die für den Braunschwei­ ger zumindest im ersten Fall durchaus greifbar gewesen wären.18 Beinahe vollständig 17

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Für das 17. Jahrhundert liefert die grundlegende Abhandlung zur discretio spirituum Bona, De di­ scretione spirituum liber unus, dort bes. c. 18, S. 291–309. Wie weit die Debatte zurückreicht, zeigt z. B. schon im 13. Jahrhundert Augustinus Triumphus von Ancona, Tractatus contra divinatores et sompniatores, S. 61–65. Vgl. den Beitrag von Hedwig Röckelein in diesem Band. Die ‚Visio Tundali‘ war bereits als Inkun­ abel in deutscher Sprache gedruckt worden, als Beispiel Von Tondalo, dem Ritter aus Hybernia, Augsburg (Zeissenmair) 1494 (GW: 12829) und auch im Anhang der deutschen ‚Dialogi‘ Gregors erschienen, gemeinsam mit der ‚Visio Fursei‘ Bedas und dem ‚Buch von den heyligen in welschen landen und von iren wunderzaichen‘, Augsburg ( Johann Bämler) 1473 (GW: 7517). Zu dieser

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verzichtet Engelbrecht auf direkte Zwiesprache mit Christus oder mystische Versatz­ stücke, die das abstrakte Gefüge seiner ‚Innerlichkeit‘ und Geistfixiertheit emotional angereichert hätten. Zu einem erheblichen Teil bewegt er sich selbst durch die spiri­ tuellen Räume, deren Ausstattung ihm im Anschluss erläutert wird. Jede Personalisie­ rung wird auf der Ebene der Hermeneutik zugunsten einer allgemeinen moralischen Verbindlichkeit zurückgedrängt. Zur Autorisierungsstrategie Engelbrechts darf auch die bisweilen eigenwillige, an der Alltagswirklichkeit orientierte Metaphernbildung gerechnet werden. Die Nähe zu Laienvisionen des Mittelalters, man denke zum Bei­ spiel an Agnes Blannbekin und ihren eigenwilligen Sprachgebrauch,19 liegt hier eben­ falls auf der Hand, mit dem wichtigen Unterschied freilich, dass Engelbrecht selbst die Exegese seiner Offenbarungen vornimmt und sich damit um die Integration seiner Erfahrungen in den Konsens der Theologie bemüht, oder zumindest in das, was er dafür hält. Ebenfalls Engelbrecht ist es, der durchgehend versucht, den epistemischen Status seiner Visionen zu bestimmen und dabei eine Skalierung vornimmt, die von der körperlichen Entrückung, dem in seinen Augen faktischen Tod, bis zur Verzückung reicht, die als rein geistige Erfahrung abgebucht wird. Wie sich diese allgemeinen Feststellungen vor allem mit Blick auf die Selbstherme­ neutik Engelbrecht mit Bedeutung füllen lassen, soll im Folgenden die Lektüre der vier wichtigsten Visionen des Braunschweigers zeigen. Engelbrecht selbst hatte diesen Visionen eine zentrale Rolle eingeräumt, doch nicht verschwiegen, dass weitere Ge­ sichte sie orchestriert hatten, darunter Visionen zum Jüngsten Gericht, zu der Braut Christi, der Taufe und dem Erzengel Gabriel sowie ein Gesicht zur weiteren Traktie­ rung der Stadt Braunschweig. Zugleich werden wir mit Blick auf diese vier Visionen sehen, welche Gestalt bei Engelbrecht die übrigen Strategien der Selbstauthentifizie­ rung und -autorisierung annehmen, die Scheidung der Geister und die Beglaubigung durch das Wunder. Alle Visionen werden von Vor-, Zwischen- und Nachreden sowie Einlassungen Engelbrechts umrahmt, die den Leser entsprechend bei der Hand neh­ men. In ihrem Umfang übersteigen die vom Visionär selbst verfassten Paratexte die eigentliche Vision um das Fünffache. Dass Engelbrecht dabei seine Kernaussagen, Vermahnungen und Rechtfertigungen leitmotivisch mit nur geringer Variationsbreite und mit einer stakkatohaft-rigiden Unbarmherzigkeit wiederholt, ohne dabei allzu viel Wert auf Strukturierung zu legen, leistete zu seiner Glaubwürdigkeit einen weiteren Beitrag. Der aus ihm sprechende Heilige Geist hatte sich ebenso wenig einem externen Redaktionsprozess unterworfen wie die Vision selbst. Engelbrecht hat neben seinen Visionen noch eine ganze Reihe weiterer Texte verantwortet, die nicht zuletzt seine

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Kompilation s. den Beitrag von Patrick Nehr-Baseler in diesem Band. Zur ‚Visio Godeschalci‘ und ihrer Überlieferung jetzt die aktuelle Ausgabe, Visio Godeschalci. Blannbekin, Leben und Offenbarungen der Wiener Begine, dort mit lateinischem Text, und neu übersetzt noch einmal als dies., Life and Revelations. Agnes vergleicht die Schau Gottes nicht zu­ letzt mit der ‚Süße einer Semmel‘.

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Wiederzulassung zum Abendmahl, von dem ihn der lutherische Klerus ausgeschlos­ sen hatte, in Suppliken erreichen sollten. Dazu kamen diverse Trostschreiben, Briefe ‚Zur rechten Religion‘, die eine allgemein verbindliche Christenlehre entwarfen, und Selbstrechtfertigungen gegenüber Mitbürgern und Geistlichen, die gemeinsam mit den Visionen in den letzten Ausgaben fast 1500 Seiten Text umfassen.20 II. Engelbrechts Berufungsvision Die erste Vision darf als die Berufungsvision des Braunschweigers betrachtet werden, die zugleich die nachfolgenden Gesichte zu legitimieren hatte; sie ereignet sich in Engelbrechts Heimatstadt im Jahre 1622. Die letzten Begleittexte der Vision, die nur wenige Seiten umfasst, werden von Engelbrecht bis zum Jahre 1640 verfasst.21 An mul­ timedialer, die Sinne affizierender Intensität übertrifft sie die übrigen Visionen Engel­ brechts bei weitem. Dem Niedersachsen erscheint das Gesicht als realer Tod, der auch physisch als Trennung von Leib und Seele stattgefunden hatte.22 Der konkreten Vision ist die Biografie des Visionärs vorangestellt, der Engelbrecht alle Züge einer vorbe­ reitenden Passionsgeschichte gibt. Die lichthafte Entrückung musste auch konkret wie eine Befreiung aus dem Dunkel des Lebens erscheinen. Gerade seine Schlichtheit hatte ihn darüber hinaus zum idealen Werkzeug des Heiligen Geistes werden lassen, für den jede theologische Vorbildung auf Seiten des Gefäßes nur zur Verfälschung sei­ ner Botschaft geführt hätte. Engelbrecht schildert seine armen, doch rechtschaffenen Familienverhältnisse und die Verzweigung und Herkunft seiner Sippe bis in die ge­ nealogisch für ihn noch fassbare Vergangenheit hinein und betont die Seelenqual und

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 2/1, dort z. B. ‚Göttlich und himmlisch Man­ dat und Befehl durch einen heiligen Engel, auf was Weise man sich im Kreuz und jeder in seinem Stande zu verhalten‘, S. 1–14, das ‚Göttlich Antwortschreiben, wie man Gott im neuen Testament um etwas fragen soll‘, S. 15–78, die ‚Glaubwürdige Abschrift eines Briefes, welchen ich, Hans En­ gelbrecht (…) an (…) M. Nicolaum Hartknopf (…) ausgehändigt‘, S. 79–134. Wichtig ist vor allem noch der ‚Christliche wunderreiche Bindebrief auf H. Engelbrechts Nahmenstag, den 24. Juni 1638, Bd. 2/1, S. 193–234, der auch, S. 235–256, in Versform präsentiert wird und noch einmal Biografie und Wunder summiert, vgl. auch ders., Christlicher Wunderreicher Bind-Brief (1639), S. 35–41. Fast der gesamte Bd. 2/2 von Der Teutsche Swedenburg (1783) besteht aus Suppliken. Die Ausgabe, Engelbrecht, Der vom Tode erweckte Protestant (1761) mit ihren zwei Bänden ist vom Druckbild komplett identisch mit Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), abgesehen vom Titelblatt. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 1–97; vgl. auch ders., Eine Warhafftige Gesicht und Geschicht vom Himmel und der Hellen (1640), mit einem Teil der Paratexte, pas­ sim; ders., Des frommen Braunschweigischen Tuchmachers Johannes Engelbrechts geführter Le­ bens-Lauff (1730), S. 3–20; ders., Hans Engelbrechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767), S. 3–19; ders., The German Lazarus (1707), S. 1–66; und mit allen Vor- und Nachreden ders., De Werken van Hans Engelbrecht van Brunswijk (1697), Bd. 1, S. 13–70. Zu leiblichen Aspekten der Jenseitsvision in diesem Band auch der Beitrag von Karolin Künzel.

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Traurigkeit, die ihn Zeit seines Lebens bis zur völligen Selbstisolation begleitet hatte und bei ihm selbst Suizidphantasien hervorrufen musste.23 Nicht einmal das norddeut­ sche Bier hatte dem erfolglosen und zu keiner Arbeit wirklich geeigneten Handwerker noch geschmeckt. Am Freitag vor dem zweiten Advent und dem Tag der Lesung der Zeichen und Wunder, die geschehen sollten, schlägt ihn eine Krankheit nieder, nach­ dem er, wie so oft, die für ihn frustrierend leere Kirche aufgesucht hatte. Unfähig jede andere Nahrung als das Abendmahl zu sich zu nehmen, verlässt ihn seine Lebenskraft und sein Leib stirbt von den Beinen aufwärts ab. Wie ein Pfeil, heißt es, wird seine See­ le dann aus dem Körper gen Himmel geschossen. Von außen erhält Engelbrecht den Eindruck, dass man seinem Leichnam schon das Totenhemd anziehen wollte. Die rea­ le Dauer des Vorgangs bleibt dem Visionär verschlossen. Alle Ereignisse hätten, wenn Gott wollte, in einem einzigen Augenblick geschehen können.24 Zunächst steht die entrückte Seele Engelbrechts der Hölle gegenüber, die sich für sie mit den erwartbaren Attributen präsentiert. Engelbrecht umgeben Finsternis, Rauch und grotesker Gestank. Die Verdammten wehklagen. Teufel stellen auch En­ gelbrecht nach, bis der den Namen Christi anruft. Mit dem Anruf verschwinden die Finsternis und der Gestank und die Dämonen lassen von Engelbrecht ab. Der Heilige Geist, so heißt es, erscheint als weißer Mann und setzt die Seele des Visionärs auf ei­ nen goldenen Wagen, mit dem sie in Richtung des Lichtes, in den Himmel gefahren wird. Dort angekommen, sieht Engelbrecht die Chöre der Engel und Propheten und die Seelen der Gerechten vor Gottes Thron in geistiger Gestalt. Die Engel erscheinen dem Visionär als Flammen, die Seelen als bläuliche Funken, Gottes Thron als gewalti­ ge Klarheit, die alle Vernunft übersteigen muss. Engelbrecht überkommt eine unaus­ sprechliche Freude. Zur visuellen Überwältigung tritt, wie so oft, eine akustische Di­ mension. Engelbrecht wird Zeuge der Musik der Engel, deren Schönheit tausendfach alles übersteigt, was er bisher gehört hatte. Alle irdische Musik erscheint ihm dagegen wie eine Blockpfeife. Hatte sich die Hölle durch bestialischen Gestank ausgezeichnet, waren es im Himmel natürlich die delikaten Wohlgerüche, die die Entrückung beglei­ teten. Niemand sollte verdammt werden, so Engelbrecht schon während der Vision, der ihm keinen Glauben schenkt. Wie tröstlich war es dennoch, wenn man seine Er­ fahrungen sah, dass das Quentlein Kreuz des Diesseits mit tausend Zentnern Freude ver­ golten wurde. Im Glauben anzunehmen, was ihm widerfahren war, machte allein nicht selig, wie Engelbrecht betont. Alles Wissen war ihm in der Sprache der Engel, nicht in der Sprache des Verstandes übermittelt worden; sie war für andere nicht nachzuvoll­ 23

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Einer ausführlichen Interpretation unterzieht die Autobiographie Engelbrechts in der ersten Vi­ sion Höppner, Gesichte, S. 296–301, die mit gutem Grund auf das Stereotyp-Exemplarische der Leidensgeschichte Engelbrechts hinweist. Auch die ‚Wiedergeburt‘ Engelbrechts fügt sich, wie Höppner, Gesichte, S. 305–311, zeigen kann, auf ideale Weise in die Vorgaben des Pietismus ein. Auf die Paratexte und die übrigen Visionen geht die Studie Höppners nicht weiter ein. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 40–51, zur Lesung der Zeichen und Wun­ der bes. S. 47.

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ziehen. Wer aber die Schlussfolgerungen, die er aus seiner Vision zog, den Glauben an Christus, die Demut und die Notwendigkeit, Buße zu tun und den Geist der Liebe ins Herz zu lassen, also das Wort nicht akzeptierte, so der Mann aus Braunschweig, auf den wartete dieselbe Szenerie der ewigen Verdammnis, die man ihm vor Augen geführt hatte. Abschließend galt es festzuhalten: Das Reich Gottes war nah, die Aufforderung zur Umkehr, die sich aus seiner Vision ergab, duldete also keinen Aufschub.25 Engelbrechts Entrückungsvision hatte so gut wie keine symbolische Komponente, die sich nicht aus der Tradition selbst erklärt hätte. Sie verlangte daher vom Akteur auch kaum weitere Erklärungen. In ihrem Charakter entsprach sie jenen linear ange­ legten mittelalterlichen Jenseitsvisionen älteren Typs, die den räumlich in Bewegung versetzten Visionär zum Rezipienten äußerer Ereignisse machte und ihn dabei oft zum bloßen Opfer degradierte. Nicht die Hölle kam zum Visionär, er selbst gelangte in die Hölle. Die erste Ebene der Autorisierung des Sehers bildeten so die signa, die sich nach der Rückkehr aus dem Jenseits einstellten und den übernatürlichen Ursprung der Ereignisse ebenso bekräftigten wie die mit ihnen verbundenen moralischen For­ derungen. Engelbrecht zählt die Mirakel, die seine Auferstehung begleiteten, regel­ recht auf. Für zwölf Stunden war er vollständig tot, acht Tage hatte er vorher keine Nahrung zu sich genommen. Gleich nach seiner Rückkehr ins Leben, die in seiner unmittelbaren familiären Umgebung und in der Nachbarschaft Bestürzung und Stau­ nen hervorruft, approbiert der Priester Joachim Jordan aus Braunschweig, im Unter­ schied zu den vielen anderen ihm später so verhassten evangelischen Klerikern, seine Erlebnisse. Als zweites Wunder notiert Engelbrecht den bestialischen Höllengestank, der sein Erwachen begleitet und den er als olfaktorische Beglaubigung seiner Entrü­ ckung wertet. Die Zweifler und Naseweisen, die ihm vorwarfen, er habe die Engel und ihre Wohlklänge vielleicht nur als Resultat von Erschöpfung und Schlafmangel gehört, hatte Gott, so Engelbrecht, darüber hinaus durch eine Frau widerlegt, die das gleiche akustische Szenario stellvertretend für alle weiteren Skeptiker hatte erleben dürfen. Als augenscheinlich aussagekräftigstes Mirakel aber blieben die Fähigkeiten zurück, über die Engelbrecht nach seiner Vision verfügte. Trotz Auszehrung und zwei weiteren Wochen ohne Nahrung war er imstande, ohne Unterbrechung und frei von Ermüdung zu predigen und die Schrift, über deren Kenntnis er vorher kaum verfügt hatte, vor großem Publikum zu erklären. Direkt im Anschluss an seine Erweckung schon hatten ihn in seinen bescheidenen Räumlichkeiten so viele Menschen aufgesucht, dass die Eltern große Sorgen hatten. Über Tage hatte das Licht gebrannt und kein Schlaf wollte sich einstellen. Das wahre Priestertum, der Geist, hatte ihn ergriffen, im Unterschied zu den Lohnpredigern und Bauchpriestern seiner Umgebung.26 25 26

Ebd., Bd. 1, S. 51–62. Ebd., Bd. 1, S. 62–79. Dass Engelbrechts Visionen Produkt von Schlafmangel waren, sollte später tatsächlich im Zuge der Psychiatrisierung von Visionen im 19. Jahrhundert behauptet werden, dazu Fischer, Der Somnabulismus, S. 300–303.

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Eingerahmt wird das erste Gesicht bei Engelbrecht von einer Vor- und Nachrede, die im Wissen um die noch nachfolgenden Visionen auf die erste Entrückung zurück­ blicken und sie aus dieser Perspektive würdigen. Unzweifelhaft hatte der Heilige Geist aus ihm gesprochen. Einer der ersten lokalen Lästerer, Superintendent Mönchmeyer, war auch deshalb gleich im Anschluss mit Schmerzen bestraft worden, wie Engel­ brecht konstatiert. Noch einmal repetiert der Visionär alle Wunder. Vor allem aber hatte die anschließende Zeitspanne ausreichend dokumentiert, so Engelbrecht, dass kein Engel der Finsternis die Larve des Lichtengels übergestreift hatte, um ihn zu täu­ schen. Aus seiner Vision war der Glaube an Christus und die Liebe zu ihm und dem Nächsten hervorgegangen, kein Streit und keine Disputation, für die er sich selbst ver­ antwortlich gezeigt hätte.27 Erscheinungen wie seine Auferstehung, der goldene Wa­ gen, das Reich des Lichtes und der sich selbst bestätigende Höllengestank bedurften, wie es scheint, für Engelbrecht keiner weiteren Auslegung; sie waren selbsterklärende Phänomene. Es folgte noch ein göttliches Testat: Vier Jahre nach der Vision hatte ihn ein Engel im Zimmer des Dietrich Neubauer beauftragt, das Geschaute nicht mehr nur mündlich in Predigten zu verbreiten, sondern auch niederzuschreiben und drucken zu lassen. Wer sie mit dem geistigen Ohr hörte und mit dem geistigen Mund las, dessen Herz, so Engelbrecht, musste von ihr unmittelbar angesprochen werden.28 Auch die abschließende Vermahnung bleibt auf dieser Ebene und bemüht sich nicht um die wei­ tere Auslegung des Erlebten. Die physischen Ereignisse und ihre Konsequenzen soll­ ten für sich selbst sprechen. Wer die Hölle geschaut hatte, ließ alle Heuchelei fahren und verwandelte sich von einem Knecht der Welt zu einem Verkünder Christi. Den Kri­ tikern seiner Person, die den Geist in ihm zum Schweigen bringen wollten, hatte der Engel gesagt ‚Tut Buße!‘. Es war die verhängnisvolle Zwietracht, der Streit unter den Konfessionen, die Engelbrechts Vision hinter sich ließ, doch die für das Unglück unter den Christen verantwortlich war. Papisten, Calvinisten oder Lutheraner mochten sich in ihren Disputationen zerpflücken, das Werk des Geistes, das sich in Engelbrecht ar­ tikulierte, stand über ihnen.29 Ein Katalog von angehängten Beglaubigungsschreiben, darunter von bekannten Figuren wie Paulus Egardus, schließt sich an, der die Schei­ dung der Geister, die aus Engelbrecht quellende Sanftmut, Demut und Tugend, noch einmal illustrierte. Engelbrecht war seine Kritik an einer Überdogmatisierung der Theologie und ihrer Streitsucht, so die Schlussfolgerung für das Publikum, nicht von einem Lästergeist eingegeben worden.30

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 5–30. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 31–39. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 79–95, S. 126–134. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 98–125; und auch schon ders., Eine War­ hafftige Gesicht und Geschicht vom Himmel und der Hellen (1640). S. 144–155. Zu Paulus Egar­ dus, einem bekannten Erbauungsschriftsteller der Zeit, und seiner Unterstützung Engelbrechts kurz Penman, Hope and Heresy, S. 162–164; und Beyer, Lay Prophets in Lutheran Europe, S. 215.

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III. Engelbrechts zweites Gesicht: Der Aufruf zur Umkehr Ganz anders als im Fall ihrer Vorgängerin gestaltet sich das Verhältnis von Vision und Selbstauslegung in der zweiten Vision des Braunschweigers, dem ‚Gesicht der drei Stände‘, die ihn um Jahre 1625 im Bett im Haus des Pfarrers in Winsen an der Luhe erreicht. Die Vision und die durch den Engel gestützte Auslegung werden deutlich voneinander geschieden. Das Gesicht erklärte sich nicht länger selbst. Formal handelt es sich bei der Vision im weitesten Sinn um einen allgemein verbindlichen Aufruf zur Buße, der sich alle Gesellschaftsschichten richtete und zu dessen Werkzeug Engelb­ recht wurde.31 Der Mann aus Braunschweig bestimmt zunächst den Modus der Vision: Es handelte sich um ein Gesicht, das er mit leiblichen Augen geschaut hatte, ohne dabei allerdings wie zuvor seinen Körper verlassen zu haben. Ein feuriges Licht drängt sich ihm, so sein Eindruck, aus dem Herzen empor ins Auge. Direkt über seinem Haupt zeichnet sich eine leuchtende Wolke ab und sein Zimmer füllt sich mit Licht. Vor einem goldenen Altar schlafen drei weiß gekleidete Männer. Neben dem ersten liegen zwei Schwerter, der zweite hat eine goldene Rute und ein entsprechendes Buch bei sich, der dritte ein Schwert und eine Waagschale. Dann treten zwölf weitere weißgekleidete Männer auf, die mit Musikinstrumenten ausgestattet um die drei Schlafenden kreisen, ohne sie da­ bei zu wecken.32 Über ihnen erkennt Engelbrecht einen Stern. Abrupt erscheint im Anschluss ein Engel im hoch geschürzten Gewand, wie es heißt, in der Hand einen goldenen Schlüssel und eine goldene Kette, in der anderen einen goldenen Knüppel, mit dem er den ersten Schlafenden vom Altar schlägt. Alle drei Männer erwachen, der Engel richtet den ersten wieder auf, drückt ihm die beiden Schwerter in die Hand und mahnt, fortan recht zu richten. Mit den gleichen Worten werden auch den ande­ ren beiden Männern die entsprechenden Gegenstände überreicht. Wenn sie erneut einschlafen, so der Engel, werden sie den Weg in die Hölle antreten. Zum Abschluss

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Beyer, ebd., schließt nicht aus, dass Engelbrecht auch Johann Arndts Predigten in Braunschweig gehört haben könnte, doch gibt es dafür, wie er konstatiert, keine direkten biographischen Hin­ weise. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 146–302; dazu auch ders., Des frommen Braunschweigischen Tuchmachers geführter Lebens-Lauff (1730), S. 20–33; ders., Hans Engelb­ rechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767), S. 21–32; und ders., Divine vision et révélation des trois états (1685), passim; mit allen Vor- und Nachreden ders., De Werken van Hans Engelb­ recht van Brunswijk (1697), Bd. 1, S. 75–228; vorher ders., Een goddelijck gesichte ende openba­ ringhe, vande drie standen (1645), passim, ebenfalls mit allen Vor- und Nachreden und Erklärun­ gen. Zur Rolle der Musik in der vorliegenden Vision Engelbrechts, die bei anderen zeitgenössischen Visionären durchaus Parallelen hat, kurz Beyer, Lay Prophets in Lutheran Europe, S. 108 f.

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erscheint ein neuer Engel, nun ohne besondere Merkmale an der Kleidung, und über­ reicht Engelbrecht den Schlüssel und die Kette.33 Man erahnt auch ohne Hintergrundwissen leicht, dass es sich um einen an die Stän­ de der Gesellschaft gerichteten und visionär gerechtfertigten Aufruf zur Umkehr und zur Buße handeln muss, der im Jahr 1625 natürlich durch die ersten Feldzüge des Drei­ ßigjährigen Krieges besondere Relevanz erhalten konnte. Die Selbstauslegung Engel­ brechts und die Autorisierung der Vision finden sich in den bis 1640 entstandenen Vor- und Nachberichten und der eigentlichen Erklärung des Gesichtes, die nun, wie zu erwarten, um einiges ausführlicher ausfällt. Vom beschreibenden, im Tonfall an der Heiligen Schrift orientierten wechselt der Verfasser in den homiletischen Stil. Der Vi­ sionär war das Werkzeug des Heiligen Geistes, wie er ein weiteres Mal betont, er hatte aus ihm gesprochen. Der Vater des Lichtes musste ihm nun helfen, aus der Fülle der Offenbarung einen Blumenkranz zu flechten, ein Engel hatte ihm daher auch die Aus­ legung der Vision bereitgestellt.34 Das Überraschungspotential der in linearer Folge er­ klärten Vision ist gering. Engelbrecht versieht sie mit entsprechenden Vermahnungen, die ebenfalls wenig überraschen. Die Wolke stand für die Liebe Gottes, die drei schla­ fenden Männer für die gottlosen und pflichtvergessenen Scheinchristen in den drei Ständen des klassischen lutherischen Ständemodells, dem Lehrstand, dem häuslichen Stand und dem weltlichen. Die zwölf im Kreis paradierenden Musikanten repräsen­ tieren die Propheten und Apostel, deren Worte und Predigten von den drei Ständen unverdrossen ignoriert werden. Bei den Attributen handelt es sich die Schwerter des Glaubens und der Liebe, die Waagschale der Gerechtigkeit und das Buch der Demut, die Rute erklärt sich gleichsam von selbst. Der in Erscheinung getretene Engel mit dem waffenfähigen Weihestab artikulierte, wie Engelbrecht notiert, die Heimsuchun­ gen und Plagen, die Gott in die Welt gesandt hatte, um den Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Sie waren an alle Menschen adressiert, nicht nur an die Chris­ ten. Niemand konnte allein durch die Schrift selig werden, mochten, so Engelbrecht, die Scheinchristen auch behaupten, was sie wollten. Der Heilige Geist konnte sich nach Belieben offenbaren.35 Der mit Gewalt wieder zu Bewusstsein gebrachte geistliche Stand war durch den Engel, der in das geschürzte Gewand der Gerechtigkeit gehüllt war, gemahnt worden, seine Aufgaben in Liebe und Glauben wieder wahrzunehmen. Nicht mehr in Disputa­ tionen hatte sich die in konfessionellen Kämpfen zerriebene Gelehrtenkaste zu erge­ hen, statt des Herrenlebens galt es, das Kreuzleben Christi zu führen. Statt dem Herrn waren sie der Vernunft gefolgt. Hatten die Kleriker nicht auch im Fall Engelbrechts an seiner Auferstehung gezweifelt, obwohl die einfachen Menschen das Mirakel sofort an­ genommen hatten? Die Vertreter des häuslichen Standes hatten das Buch der Demut 33 34 35

Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 178–185. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 185–202. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 202–224.

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und die Zuchtrute außer Acht gelassen. Die Gottesfurcht aber wollte, wie Engelbrecht bekräftigt, den Kindern so früh als möglich eingebläut werden, verbunden mit ent­ sprechender Demut. Der weltliche Stand verbrachte seine Zeit mit Sauffen und Fressen, obwohl die Herrschaft des Antichristen sich am Horizont abzeichnete. Zu lange hat­ ten sie auf die falschen, disputierenden Priester gehört, die Hauptsecten des verwirrten Babylon, die Papisten, Lutheraner und Calvinisten, und sich von ihnen in den Krieg treiben lassen. Das letzte zu entschlüsselnde Detail des Gesichtes betraf Engelbrecht selbst und seine Prophetenrolle. Der Engel hatte ihm Kette und Schlüssel überreicht, auf dass er mit seinen Worten die Herzen öffnete, das göttliche Liebesherz, und seine Zuhörer erkennen ließ, dass Christus für sie gestorben war. Wer sich der Liebe Gottes geöffnet hatte, konnte sie nicht mehr verlieren. Sie war, so Engelbrecht, wie ein Feuer, dessen Funken sich in jedes Herz einsenken wollte. Die Kette schließlich stand für die Auslegung der Schrift. Jedes Wort griff wie ein Glied ins andere. Das Desaster nahm seinen Anfang, wenn über die Interpretation der Offenbarung gestritten wurde.36 Der Nachbericht erfüllt, wie schon bei der ersten Vision, eine Doppelfunktion. Er hatte die signa hinzuzufügen, die das Geschehen beglaubigten; zugleich rahmte er die Vision homiletisch ein und übersetzte sie weiter in moralische Forderungen. Gott be­ stätigt Engelbrecht die Vision durch ein Mirakel. Nachdem der Engel ihn verlassen hatte, trat wieder Dunkelheit ein und eine Stimme fordert den Braunschweiger auf, die Vision zu verbreiten. Als Engelbrecht zunächst noch im Bett liegen bleibt, schlägt ihm eine Faust ins Gesicht, daß mir das Feuer aus den Augen stob. Der Pfarrer, der den Visionär beherbergt hatte, blickt mit Staunen auf das blaue Auge. Zu trennen aber war wieder, wie die Nachrede ohne große Variation betont, zwischen dem Bildmaterial der Vision und ihrem Gehalt. Er war als Visionär nicht auf fundierendes Schriftmaterial angewiesen, der Geist sprach aus ihm. Wer den Glauben an seine Schauungen nicht teilte, war nicht zu verdammen, wer seine Mahnungen nicht befolgte, verfiel jedoch in der Tat der ewigen Verdammnis. Er selbst, Engelbrecht, war das Licht, das in die Dunkelheit der Welt gekommen war, um den Schatten des Scheinchristentums zu ver­ treiben. Der Wiedergeborene lebte mit ihm in der Liebe Christi.37 Der im Jahre 1640, wie Engelbrecht vermerkt, in Emden vollendete Vorbericht wie­ derholt die Selbstautorisierung Engelbrechts. Niemand musste hinnehmen, was er gesehen hatte, solange er das transportierte Wort annahm. Das Gesicht war die Schule, mit deren Hilfe Gott dieses Wort weitergetragen hatte. Durch ihren direkten göttlichen Ursprung musste die Lehre Engelbrechts, die auf der Innerlichkeit des Herzens beruhte, aller äußerer Zeichenhaftigkeit weit überlegen sein. Keine Beschneidung, keine Vorhaut, keine Taufe und kein Nachtmahl, damit aber überhaupt keine in Dogmen gefass­ te Konfession wog so schwer, wie die durch den Geist geborene Kreatur. Inwendig war

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 224–278, Zitat S. 278. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 278–304.

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das Reich Gottes zu suchen, sonst blieb die Schrift, so Engelbrecht, als toter Buchstabe zurück. Hatte der Geist den Leser erleuchtet, hatte sich auch die Bibel vollständig mit Bedeutung erfüllt: Aber demjenigen nun, wer in dem Geist lebt, der lebendig macht, dem ist die Schrift kein todter Buchstab, sondern ein helles göttliches Licht. Damit aber lag auf der Hand, dass die visionär gebündelten Vermahnungen Engelbrechts nicht nur den Glauben und den singulären Wahrheitsanspruch der Papisten, Calvinisten oder gar der Mennoniten, deren Existenz Engelbrecht als Norddeutscher ebenfalls nicht ent­ gangen war, transzendierten, sondern auch dass sie rückhaltlosen Gehorsam einfor­ dern durften.38 IV. Die symbolische Architektur des Himmels Subtiler als in den ersten beiden Visionen gestaltet sich das Verhältnis von Vision, Selbstautorisierung und Exegese in der dritten Vision, mit der Engelbrecht ein neues Niveau erreicht. Sofort erkennt man, wie viel der Braunschweiger dazu gelernt zu ha­ ben scheint, sowohl mit Blick auf die komplexer ausgestaltete Vision selbst, als auch mit Blick auf ihren Transfer. Das ‚Gesicht über den neuen Himmel und die neue Erde‘ widerfährt Engelbrecht wie die Vorgängervision in Winsen an der Luhe im Jahre 1625. Die letzten Paratexte entstehen wieder erst im Jahre 1640 in Groningen.39 Wie der Eingang festhält, handelt es sich um ein Gesicht, das er nicht mit lebenden Augen sieht und auch nicht um eine Auferstehungserfahrung, wie sie Engelbrecht zu Beginn in Braun­ schweig zuteilwurde. Es handelte sich um eine Verzückung, wie der Visionär konsta­ tiert. Engelbrecht befand sich in Ekstase, doch war sie deutlich spiritueller Natur.40 In ihrem Versuch, auch Glaubensinhalte wie die Dreifaltigkeit oder die Auferstehung in der Sprache des Gesichtes schriftkonform zu veranschaulichen und sie anschließend in einem eigenen Auslegungsteil freizulegen, kann sie im Charakter durchaus den Offenbarungen einer Hildegard von Bingen oder Elisabeth von Schönau an die Seite gestellt werden, die in dieser Zeit leicht greifbar gewesen wären.41 Vor allem die Selbst­ 38 39

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 163–178, Zitat S. 173 f. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 305–532; dazu ders., Des frommen Braun­ schweigischen Tuchmachers Johannes Engelbrechts geführter Lebens-Lauff (1730), S. 33–50; ders., Hans Engelbrechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767), S. 32–48; und mit allen Vorund Nachreden ders., De Werken van Hans Engelbrecht van Brunswijk (1697), Bd. 1, S. 229–458; und vorher ders., Een christelijck geschrift (1643), passim, ebenfalls mit den Voor-Reden und Erklä­ rungen; und ders., Ein christlich Schreiben an die Gelahrten, und an einen jeglichem insonderheit (1684), ebenfalls schon mit den Paratexten. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 368–374. Als Ausgabe Hildegards der Liber trium virorum et trium spiritualium virginum, hg. von Jac­ ques Lefèvre d’Étaples (1513), der Hildegards ‚Scivias‘ und dazu noch Elisabeth von Schönau und Mechthild von Magdeburg, enthielt, dazu Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566), und Hildegard von Bingen/Elisabeth von Schönau, Revelationes (1628).

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rechtfertigung Hildegards, die eine durch Krankheit verstärkte göttliche Aufforderung kannte, die Visionen niederzuschreiben, und für sich ebenfalls zur Autorisierung eine Dichotomie aus schlichter Sprache, nicht vorhandener Bildung und Inspiration in An­ spruch nahm, ähnelt dem Selbstbild Engelbrechts in weiten Teilen.42 Konfrontiert wird Engelbrecht in seiner Vision, die wieder linear erzählt wird und ihn zum Akteur macht, der selbst den Ablauf des Geschehens bestimmt, mit dem neuen Himmel und der neuen Erde, wie sie die Offenbarung des Johannes prophe­ zeit hatte. Zu einem erheblichen Teil richtet sich die Abfolge der Ereignisse nach den direkten Wünschen Engelbrechts und scheinen sich, wie die Vision deutlich macht, auf seine Initiative hin die Dinge nach Belieben für ihn gruppieren zu wollen. Die neue Erde scheint aus klarem Glas und Engelbrecht ist imstande, durch sie hindurch­ zusehen. Sonne und Himmel strahlten in ihrer Verklärung tausendfach heller als im vorherigen Zustand. Mit der Sonne waren auch alle anderen Gestirne zeitgleich am Himmel erkennbar. Den Erdboden, den Engelbrecht wahrnimmt, schmücken glänzende und flinkernde Blumen. Dann erscheint dem Visionär Christus, dessen verklärter Leib ebenfalls zur Gänze durchsichtig ist und noch heller als die Sonne strahlt. Im Rumpf des Heilandes kann Engelbrecht dessen schlagendes Herz erkennen und die Wundmahle, zugleich spiegelt sich sein eigenes Gesicht im Körper Christi. Als Engel­ brecht den Erlöser bittet, ihm den Vater und den Heiligen Geist als weitere Personen der Dreifaltigkeit zu offenbaren, schlägt als Signum des Vaters eine Flamme aus dem Herzen des Heilands, als Signum des Geistes erscheinen tausend Lichtstrahlen aus dessen Gliedmaßen. Auf die Aufforderung des Visionärs hin, ihm auch die erlösten Seelen der Gerechten zu zeigen, lässt Christus unzählige Feuerflammen in der Hand Gottes erkennen, so zahlreich, so Engelbrecht, als würde eine Stadt verbrennen. Engel­ brecht jedoch möchte noch mehr sehen, die Seele seiner Mutter, die kurz nach seiner Geburt verstorben war. Zunächst weist Gott ihn an, bis zur allgemeinen Auferstehung zu warten. Doch zeigten sich nicht auch, wie der Visionär zu Bedenken gibt, die Engel in leiblicher Gestalt, wenn sie die Welt aufsuchten? Warum nicht seine Mutter? Gott maximiert das mögliche Szenario. Engelbrecht soll selbst zum Werkzeug der Aufer­ stehung werden. Auf einen Berg der alten Welt gehoben, darf er die Toten zur Aufer­ stehung auffordern und sieht eine Prozession von verklärten Leibern in Richtung der neuen Welt an sich vorbeiziehen. Christus leuchtet durch ihre durchsichtigen Kör­ per hindurch, wie eine Kristallkugel, die in der Mitte der Stube hing und durch kleine Glaskugeln in ihrer Umgebung hindurchstrahlte.43 Nach den Stammvätern und Patri­ 42

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Hildegard von Bingen, Revelationes (1628), Prooemium (ohne Seitenzählung), und in der aktu­ ellen Ausgabe dies., Scivias, Liber I, Protestificatio, S. 3–6. Zu Hildegards Selbstverständnis als Prophetin und seiner sprachlichen Markierung unter vielen z. B. Meier-Staubach, Eriugena im Nonnenkloster?, S. 466–497; dies., Ildegarde di Bingen. Profezia ed esistenza letteraria, S. 271– 303. Allgemein zu den Debatten um die Natur des auferstandenen Leibes zwischen den Konfessionen Roling, Light from within, S. 122–156; ders., Narben und Blut, S. 81–104.

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archen, deren verklärte Leiber ebenso strahlen, sieht Engelbrecht auch seine Mutter und konstatiert gerührt seine Ähnlichkeit mit ihr. Dann erkennt der Visionär, wie sich David und Salomon, zwei der Auferstandenen, in die Luft erheben und goldgefiederte Vögel sich auf ihre Finger setzen, um dort zu musizieren.44 Bevor er sich allzu sehr wundern kann, wendet sich Gott direkt an Engelbrecht und fordert ihn auf, in die Welt zurückzukehren. Dem Visionär missfällt die Rückkehr, doch Gott weist ihn an, die anstehenden Lästerungen im Diesseits geduldig zu ertra­ gen. Statt Gott gehorsam zu sein, bittet Engelbrecht den Schöpfer, sich ebenfalls wie die beiden biblischen Regenten emporheben zu dürfen. Gott gewährt ihm die Gna­ de und auch auf Engelbrechts Finger lassen sich goldene Vögel nieder, um zu singen. Noch weitere Bitten des Visionärs schließen sich an, die der Schöpfer bereitwillig er­ füllt. Engelbrecht darf die Sonne in die rechte Hand nehmen und den Mond in seine linke, dann erhält er Gelegenheit, die Sterne des Himmels nach der göttlichen, nicht der menschlichen Weisheit zu zählen. Nachdem er die Gestirne passiert hat, lässt Gott ihn, wie Engelbrecht weiter berichtet, in die ewige Weite, wo er seinen Wohnraum hat. Hier steht der Visionär, wie er betont, zunächst nur dem himmlisch-göttlichen Wesen gegenüber, dann gesellen sich der durchsichtige Heiland und die Seelen der Aufer­ standenen hinzu. Bevor Engelbrecht im weiteren Verlauf endgültig angehalten ist, in die diesseitige Welt zurückzukehren, treten aus der Schar der auserwählten Seelen drei Kinder an ihn heran mit der Bitte, ihren Eltern eine Botschaft zu übermitteln. Ihre kristallinen Körper erscheinen zur Linken und Rechten Christi, das dritte Kind steht hinter ihm, ist aber für Engelbrecht durch den gläsernen Heiland hindurch erkennbar. Das erste Kind, ein Junge mit Namen Christian, war der Sohn des Pastors zu Winsen und im Alter von eineinhalb Jahren verstorben. Er trägt Engelbrecht auf, seinen Eltern mitzuteilen, er sei selig dem irdischen Jammerthal entronnen. Die zweite, die Tochter eines Zöllners, war mit 15 Jahren aus dem Leben getreten. Sie lässt den Hinterbliebe­ nen ausrichten, sie hielte im Himmel bald Hochzeit und versende bereits die Einla­ dungsbriefe. Der dritte Junge war 18 Jahre alt und der Sohn des Kaplans zu Winsen. Er lässt seiner Mutter durch Engelbrecht bestellen, dass sie schon bald die Reise zu ihm antreten würde, um ihre irdische Armut hinter sich zu lassen. Engelbrecht verlässt den neuen Himmel. Als Abschiedsgabe gewährt ihm Christus einen goldenen Becher, mit dem er, wie es heißt, dem Menschen den himmlischen Wein einschenken möge.45 Dass die Vision schon aufgrund der scheinbaren Hybris des Visionärs und seiner exklusiven Wünsche und der zum Teil bizarren Szenerie erklärungsbedürftig war, verwundert kaum. Ohne den Einbezug einer symbolischen Komponente hätte En­ gelbrecht dieses Gesicht wohl kaum auf sich beruhen lassen können. Wieder ist es ein Engel, der sich für die Exegese der Vision verantwortlich zeigt. Der Auslegung

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 374–386. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 386–396.

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vorangestellt ist eine Zwischenrede, die zunächst die Scheidung der Geister garantiert. Niemand musste mit den Maßgaben der Vernunft nachvollziehen, was der Heilige Geist aus ihm gesprochen hatte. Wären seine Einlassungen der Macht des Teufels zu­ zuschreiben oder bloßer Fantasie, hätten sie, so Engelbrecht, wohl kaum die Gabe zu Gott zu führen, eine Gabe, die sie schon wiederholt unter Beweis gestellt hatten. Sein Licht leuchtete in die Welt hinein, Zweifel, die ihm von Seiten des Amtsklerus entge­ gengeschlagen waren, hatte der Teufel gesät. Wer den Geist in seinem Herzen regieren ließ, so Engelbrecht, und den bloßen Buchstaben verließ, musste die Wahrheit seiner Visionen anerkennen.46 Die angeschlossene Auslegung befreite die Vision des neuen Himmels von ihren Unstimmigkeiten, ihrer Unverfrorenheit gegenüber Gott und ihren scheinbaren All­ machtsphantasien, indem sie, anders als bei den beiden Vorgängergesichten, die ge­ schilderten Vorgänge auf eine innere Ebene verlagerte. Der exegetische Zugriff unter­ scheidet sich im Fall der dritten Vision damit deutlich von den übrigen. Zunächst hält Engelbrecht fest: Der neue Himmel und die neue Erde hatten ihren Sitz im Herzen des Menschen, das damit zum Ausgangspunkt seiner Verklärung wurde. In das Herz hinein hatte Christus zu wirken, in ihm musste auch die Dreifaltigkeit, die sich Engelb­ recht geoffenbart hatte, wirksam werden. Der Vater strahle als Gnade, wie der Geist in der Liebe, die dargebotenen Seelen der Verstorbenen erinnerten den Gläubigen daran, sich die verheißene Verklärung der Gerechten ebenfalls ins Herz zu schreiben. Schein­ bar in Verlegenheit bringt den Selbstausleger Engelbrecht die Seele der Mutter, deren Manifestation er ausdrücklich gefordert hatte. War es aus Hoffart geschehen, wie En­ gelbrecht rhetorisch fragt? Gewiss nicht, doch mit einer Erklärung kann Engelbrecht nicht aufwarten. Ohne seine Visionen, so gibt er wie zur Entschuldigung zu bedenken, wäre sein Leben leichter gewesen, als einfacher Handwerker in Braunschweig hätte er, wie er deutlich macht, kaum ein solches Maß an Anfeindungen ertragen müssen: Ich aber für meine Person wollte wol lieber zu Braunschweig still in meinem Hause bleiben, und meines Handwerks warten, so hätte ich Ruhe und Frieden […].47 Die nachfolgenden Einzelheiten werden von Engelbrecht auf fast triviale Anwei­ sungen reduziert und so ihrer spekulativen Provokation weitgehend beraubt. Die vom Visionär eingeleitete kollektive Auferstehung stand für den Wunsch, die alte Welt zu überwinden, um Christus im Herzen leuchten zu lassen. Die sich gegen Himmel em­ porschwingenden biblischen Könige, auf deren Hände sich die Vögel gesetzt hatten, verstanden sich als Aufforderung an den Menschen, sich von der Welt und der irdi­ schen Weisheit abzuwenden. Mit den Vögeln saß der Heilige Geist auf dem Finger der Gerechten und führte ihm die Hand. Auch Sonne und Mond in der rechten und linken Hand Engelbrechts waren kein Produkt von Größenwahn, sondern simple Zeichen.

46 47

Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 396–414. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 414–427, Zitat S. 427.

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Gerechtigkeit und Liebe sollten im Handeln des Christen wirken, damit er seinem Nächsten mit Solidarität und Nachsicht begegnete. Letzteres hatte, wie er hinzufügt, nicht zuletzt Engelbrecht gegenüber seinen Feinden wiederholt in die Tat umgesetzt. Eine ähnliche Bedeutung hatte die Zählung der Gestirne. In allen Völkern, unter Ju­ den, Muslimen oder Heiden, fanden sich Gerechte, die auf das Reich Gottes hoffen konnten. Niemand, der sich von Willens-Sünden fernhielt, verfiel der Verdammnis. Die Erlösung, die dem Gerechten in Aussicht gestellt war, hatte Engelbrecht in der finalen Schau Gottes in Gestalt seiner Vision dann selbst kosten dürfen.48 Ein eigenes Segment bildet die Interpretation der drei Kinder, die Engelbrecht zum Abschluss präsentiert werden. Auch sie bemüht sich, das Allgemeinverbindli­ che im Besonderen hervorzuheben. Warum Kinder? Ihre Einfachheit hatte schon der Heiland gelobt, sie waren als direkte Positionierung gegen alle Vernünftelei und Dis­ putationswut zu lesen, die für die Konflikte der Epoche verantwortlich waren. Moch­ te Engelbrecht auch friedlich sein und dem Streit abhold, mochte er auch alle Secten lieben und ihnen ihre Ceremonien lassen, der Teufel setzte ihn jedoch immer wieder mit den Verfolgungen der Calvinisten oder Lutheraner aus, weil er nicht bereit war, eindeutig Stellung zu beziehen und sich für eine Partei zu entscheiden. Der erste Junge trug den Namen Christian, weil alle Menschen Kreuzesbrüder Christi werden sollten. Die Zöllner-Tochter rief zur Hochzeit, denn alle gerechten Seelen waren zur Braut Christi berufen. Zeichen und Wunder luden wie Briefe zur letzten Gemein­ schaft mit dem Erlöser ein. Für Engelbrecht bedeutete dies auch, wie er noch hinzu­ fügt, dass die Prädestinationslehre, wie sie vor allem die reformierten Gemeinden in den Niederlanden vertraten, keine Grundlage besaß. Christus hatte nicht den Tod des Sünders gewollt, sondern dessen Bekehrung. Die Debatten um das rechte Abend­ mahl oder die gültige Taufe mussten ins Leere greifen, solange der Mensch durch das Innere seines Herzens gerettet wurde. Dass der dritte Jüngling durch den gläsernen Heiland erkannt werden konnte, war ein Hinweis auf den Geist der Liebe, mit wir uns erkennen mussten, so Engelbrecht. Verklärt und ausgestattet mit dem Körper der Jugend werden wir unsere Auferstehung erwarten dürfen. Das übrige Szenario der Vision, wie Engelbrecht wortreich schließt, die flugfähigen Lichtkörper und flackern­ den Tiere, illustrierten die Verheißungen des ewigen Lebens, die jeder Einzelne nach seinem Tod zu erwarten hatte. Es musste ihm keine weitere Bedeutungsdimension mehr abgerungen werden.49 Beinahe ein Fünftel der Erklärung des Gesichtes gebührt am Ende, als wäre es der Be­ lege nicht genug gewesen, noch einmal der Kette der Mirakel, die Engelbrecht schon vorher aufgezählt hatte, um seinen Visionen die notwendige Autorität zu verleihen. Seine Schlaflosigkeit, seine Gabe ohne Nahrung auszukommen und die rhetorischen

48 49

Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 427–450. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 450–495.

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Fähigkeiten, die ihn seit seiner Entrückung auszeichneten, mussten auch die dritte Vision mit ausreichend Glaubwürdigkeit versehen. Wie in eine Weinsuppe getunkt war Engelbrecht in den Quell himmlischer Freude versetzt worden, hatte mehr und mehr davon genossen, ja sich zur Gänze daran sattessen dürfen und konnte ohne Wissen um die dogmatische Theologie vom Jenseits berichten.50 Das Bild, das Engelbrecht hier für seine Entrückung und die mit ihr verbundene Seligkeit wählt, ist mehr als aussagekräftig für die Metaphern, die der Mann aus Braunschweig schätzte. Sie waren aus dem Alltag gegriffen, in sich in ihrer Handfestigkeit plausibel und gewannen ihre Autorität gerade aus dieser Schlichtheit. Der Beschluß, der im Jahre 1640, so Engel­ brecht, in Groningen entstanden war, und die kurze Nachrede kann diese Selbstpro­ klamation ebenso noch einmal bekräftigen wie die umfangreiche Vorrede. Oh welche Tiefe, die alle Vernunft übersteigen musste, so proklamiert Engelbrecht selbst, hatte die Schauungen Engelbrechts ausgezeichnet: Oh welch eine Tiefe des Reichtums, beyde der Weisheit und der Erkänntnüß Gottes!51 Dass der Engel des Lichtes aus ihm gespro­ chen hatte, untermauerte das Resultat seiner Visionen hinreichend. Jeder Fromme würde dies ohne Schwierigkeiten anerkennen können. Warum aber gab es dennoch Menschen, die Engelbrechts Glaubwürdigkeit schmälern wollten? Ebenso wie sich Innerlichkeit, Geist, Konsensfähigkeit, Toleranz und Kompromissbereitschaft auf der Seite des Visionärs befanden, dessen Offenbarungen sich bewusst überkonfes­ sionell, ja religionsübergreifend gaben, verortete sich auf der Seite der Opponenten das Gegenteil, Streit, Buchstabengläubigkeit, Ritual- und Dogmenversessenheit und zudem auch die Angst, Engelbrecht könne ihre Sündhaftigkeit bloßlegen. Gott hatte die Partei Engelbrechts ergriffen, der Teufel mit seinem Zwistgeist die Partei seiner Widersacher. Gestalt gewonnen hatte diese Partei in Friesland, wie der Visionär noch einmal hinzufügt, in den calvinistischen Anhängern einer konsequenten Prädestina­ tionslehre, die nicht erkannt hatten, dass ein Mensch nur für seine Sünden bestraft werden konnte, und nicht weil Gott eine Vorauswahl getroffen hatte. Alle Gerechten unter allen Völkern hatten ein Recht auf Erlösung. Zu lange, so Engelbrecht, hatte er selbst das lutherische Abendmahl für seligmachend gehalten. Beinahe zu spät, als er schon fast der Verzweiflung verfallen war, hatte er erkannt, dass der Teufel ihm diesen Irrglauben eingeflößt hatte. Allein im Herzen hatte der wahre Christ sein Abendmahl zu halten.52

50 Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 495–525, die Weinsuppe als Vergleich S. 495–497. 51 Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 525–531, Zitat S. 525. 52 Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 316–358, und die Zueignungsschrift S. 309– 313.

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V. Engelbrecht, das Werkzeug der Errettung Die letzte der vier von Engelbrecht aneinandergereihten Visionen, das ‚Gesicht vom Berg‘, die uns hier interessieren sollen, datiert der Braunschweiger nicht. Sie erreichte ihn im Umfeld der übrigen Visionen. Die Kette ihrer Paratexte wird, wie Engelbrecht notiert, ebenfalls erst Jahre später, im Jahr 1641, abgeschlossen.53 Betrachtet man die Abfolge der vier Gesichter, so lässt sich eine kompositorische Logik erkennen. In ih­ rem Inhalt gehört die vierte Vision zu den nicht selbsterklärenden Gesichten, deren korrekte Lektüre durch einen angelischen Exegeten garantiert wurde. Dennoch trans­ portiert sie, im Unterschied zur dritten Vision, keine theologischen Überlegungen, sondern dient unmittelbar der Autorisierung des Visionärs, dessen Rolle noch einmal begründet wird. In dieser Funktion korrespondiert sie mit dem ersten Gesicht, der Berufungsvision Engelbrechts, und umrahmt damit die beiden anderen. Engelbrecht nimmt sie, wie er selbst konstatiert, mit geistigen Augen wahr, nicht mit den Augen des Leibes. Der Visionär wird auf einen Berg geführt, der von Wasser umgeben ist. Überall rund um den Berg befinden sich Menschen im Wasser und versuchen auf die Insel des Ber­ ges zu gelangen. Diejenigen, die in Richtung der Insel schwimmen, haben den Wind im Rücken und es treibt sie in Richtung ihres Ziels, die übrigen werden vom selben Wind fortgetrieben. Engelbrecht wird aufgefordert, Gott um Hilfe für die Schwimmer zu bitten. Auf seinen Ruf hin erscheint ein Engel und zieht die im Wasser Treibenden heraus. Als alle, die auf die Insel wollten, gerettet sind, wacht Engelbrecht auf. Ein En­ gel erscheint neben ihm, um die Vision, wie gewohnt, auszulegen.54 Man ahnt, worauf es hinausläuft. Der Berg steht für Gott, die Wasser für die Sünde, die in der Welt do­ miniert. In den Sündenwassern schwimmen Gerechte wie Ungerechte. Die Stürme und Wellen, die sie in verschiedene Richtungen treiben, veranschaulichen die Strafen und Plagen, die Gott den Menschen unterschiedslos sendet. Die Gutwilligen allerdings treibt dieser Sturm in Richtung Erlösung, die Sünder in die andere Richtung. Es han­ delt sich hier, wie Engelbrecht noch vermerkt, nicht zuletzt um jene Schein-Christen, die sich auf äußere Werke wie das Abendmahl verlassen hatten. Der Engel, der die Gutwilligen aus den Fluten zieht, ist Gott selbst. Alle Leiden helfen, den Menschen zu Gott zu führen, solange er nur willig ist, sein Kreuz zu tragen. Wer den Geist, die Voraussetzung, nicht besitzt, muss Gott um ihn anrufen. Exemplarisch für andere, so erfährt der Visionär, hatte Engelbrecht dies selbst erlebt. Ihn hatte Gott als Vorbild für

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Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 533–616, dazu ders., Des frommen Braun­ schweigischen Tuchmachers Johannes Engelbrechts geführter Lebens-Lauff (1730), S. 50–67; ders., Hans Engelbrechts wunderbarer Beruf und Lebens-Lauf (1767), S. 49–64; und mit den Vorund Nachreden ders., De Werken van Hans Engelbrecht van Brunswijk (1697), Bd. 1, S. 459–540. Die basale niederländische Ausgabe aus dem Jahre 1641 konnte ich nicht ausfindig machen. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 571 f.

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seine Mitmenschen aus den Angstwassern gezogen, ihm sollten die Gerechten daher auch nachfolgen und sich von den scheiternden Scheinchristen abwenden. Wer ihm nachstellte, verfolgte Christus, wer ihm Gutes tat, tat es für den Erlöser.55 Auch diese autorisierende Selbstexegese begleitet normgerecht eine Scheidung der Geister. Der Vorbericht, der direkt dem Gesicht vorangestellt ist, warnt zunächst die Skeptiker, die das Wort hinter der Vision verachteten.56 Kein Zweifel bestand, so die Vorrede, dass der Engel des Lichtes die Auslegung bewerkstelligt hatte, so die erwartba­ re Feststellung, denn Engelbrecht hatte allein die Lehre Christi dargelegt. Dem Teufel wäre dieser Zugriff versagt geblieben. Wer Engelbrecht tadelte, stellte sich gegen den Heiligen Geist, der aus ihm sprach. Nicht die Menschenkunst mit ihren künstlich-zier­ lichem Schreiben war seine Sache, sondern das Wort Gottes. Die Vorrede dient ein weiteres Mal der Autorisierung und hebt vor allem Mediatorenfunktion Engelbrechts hervor, auf die die ganze Vision abgezielt hatte. Die Menschen überwarfen sich mit dem Braunschweiger, weil sie den Geist nicht hatten. Sie stritten sich, so Engelbrecht, über die Anlage einer Stadt, die sie selbst noch gar nicht betreten durften. Engelbrecht aber hatte den Himmel gesehen. Es verwunderte nicht, dass der Teufel die Disputan­ ten und Skeptiker gegen ihn aufhetzte und ihn bekämpfen ließ. Ihn aber hatte Gott erleuchtet, die anderen mochten beten, dass Satan von ihnen abließ. Selbst wenn sie seine Vision nicht akzeptierten, waren sie genötigt, das Wort anzunehmen, das der Geist durch ihn weitergetragen hatte.57 VI. Fazit Unschwer lässt sich in der Abfolge der Visionen und der Anlage ihrer Paratexte eine einheitliche Linie erkennen, ein Schema, das trotz der im Charakter heterogenen Vi­ sionen beibehalten wird und einem festen Regiekonzept verpflichtet ist. Engelbrecht scheint dieses Regiekonzept innerhalb von der zwanzig Jahre, die seit der ersten Vi­ sion vergangen waren, konsequent weiterverfolgt zu haben. Alle Visionen bedurften beim Braunschweiger Seher der externen Beglaubigung und dignifizierten sich erst in einem zweiten Zugriff, wenn auch in unterschiedlicher Reichweite. Drei Faktoren ka­ men hinzu, zunächst das aus der historischen Kausalität abgeleitete Mirakel, dann die Scheidung der Geister, schließlich die Auslegung, deren Authentizität für Engel­brecht selbst wieder durch einen Engel garantiert wurde. Keine Vision war, wie gesehen, ohne die Scheidung der Geister ausgekommen, die Engelbrecht jedoch fast stereotyp abgehandelt hatte. Dass er auch die Zwistigkeiten um seine Person ins Positive hatte 55 56 57

Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 573–616, zu Angst- und Sündenwassern S. 573 f., den Scheinchristen bes. S. 575–577. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 572 f. Engelbrecht, Der Teutsche Swedenburg (1783), Bd. 1, S. 539–570.

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wenden müssen, hatte in der Natur der Sache gelegen. Welche Option hätte er auch sonst gehabt? Die Wunder bestätigten nicht nur die apostolische Geistunmittelbarkeit des Visionärs in seinen neuen Fähigkeiten, seiner unermüdlichen Predigergabe und seinen Bibelkenntnissen, sie schrieben sich in Engelbrechts Körper ein, wie im Fall des blauen Auges im zweiten Gesicht, oder griffen zumindest aus der Domäne der Vision in die Domäne des Diesseits über, wie der Höllengestank der ersten Vision. War es Zufall, dass Engelbrecht, der sich nicht mehr als Vertreter der lutherischen Orthodo­ xie verstand, hier auf das katholische Arsenal des Mittelalters zurückgriff? Auffällig ist vor allem, wie sehr auch der Leib Engelbrechts in Mitleidenschaft gezogen wird. Auch andere Visionäre, genannt sei nur Gottschalk, dem die Dornen, durch die er während seiner Vision gewandert war, das Gehen auch nach der Rückkehr erschwerten, hatten die Auswirkungen ihrer Schauung als Verwundung in den Leib gepresst bekommen.58 Deutlich geworden ist auch, wie sehr Engelbrecht im Gefolge der klassischen au­ gustinischen Dreiheit von visio intellectualis, spiritualis und sensualis über den epistemi­ schen Grad seiner Schauung reflektiert hatte. Vision und Selbstauslegung standen bei Engelbrecht in einem besonderen Verhältnis zueinander, das alle Gesichte begleitete. Der Geist hatte ihn in der Vision individuell adressiert und seine Bildsprache auf ihn persönlich ausgerichtet. Das in den Bildern eingeschlossene Verbum, die intellektuel­ le Substanz der Vision, die vom angelischen Hermeneuten zutage gefördert wurde, durfte keine individuelle Note mehr besitzen. Es musste daher seiner Bildhaftigkeit beraubt, entpersonalisiert und auf das Universale moralischer Anweisung und allge­ meiner eschatologischer Verheißung zurückgeführt werden. Auch deshalb durfte, wie gesehen, Engelbrechts Mutter für die Lektüre des Heiligen Geistes keine Bedeutung mehr besitzen und ließ sich die Gestalt jedes Kindes in eine allgemeinverbindliche Moraldidaxe übersetzen. Die Überkonfessionalität des Heiligen Geistes und seiner Herzensfrömmigkeit, die auf den Buchstaben und das sakramentale Ritual nicht mehr angewiesen war, hatte sich auf diese Weise gleich doppelt artikuliert, zunächst im Bildmaterial, dem Medium, das wieder auf das Metaphernreservoir der Tradition zurückgegriffen hatte, dann im autoritativen Übersetzungsakt, dessen Horizont sich ausdrücklich über die lutherische Herkunft des Visionärs hinwegsetzte. Erst im An­ schluss, nachdem alle persönlichen Elemente getilgt worden waren, war es für Engel­ brecht, wie gesehen, durchaus wieder möglich gewesen, auch dem persönlichen As­ pekt in einer conclusio vom Allgemeinen auf die singularia Rechnung zu tragen. Auf die gleiche Weise hatte ihn zuvor, wie gesehen, seine Biografie zum Visionär ermächtigt und überhaupt in seinem Selbstverständnis erst zum Sprachrohr des Heiligen Geistes qualifiziert. Hatte nicht sein eigenes Schicksal, um nur ein Beispiel der erneuten Rück­ führung auf die eigene Person zu nennen, also die Anfeindungen von Seiten der Kon­ 58

Zur leiblichen Komponente der Vision der Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band und z. B. mit Blick auf den ‚Tundalus‘ auch sehr wertvoll Weitbrecht, Mystische Offenbarung, hier bes. S. 109–114.

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sistorien in Braunschweig, deutlich dokumentiert, wie depraviert der Priesterstand allgemein agierte? Auf ihren verbindlichen Aussagewert hin war jede Vision, wie gesehen, gleichsam ein zweites Mal geschrieben worden. Ihre individuelle Erfahrungswirklichkeit hatte sich für Engelbrecht in einen kollektiven Imperativ verwandelt. Dass die erste Vision in ihrer organischen Konkretheit und Evidenz kaum eines Transfers bedurfte, lag auf der Hand; ihr hatte das Mirakel genügt. Im zweiten Fall generalisierte die Exegese ein Bildgefüge und übersetzte es in Zeitkritik und den Aufruf zur Buße, der sich in sei­ ner Schablonenhaftigkeit ausdrücklich an alle Konfessionen richtete, die gemeinsam in ihrer Unversöhnlichkeit das Desaster des Dreißigjähriges Krieges zu verantworten hatten. Den Probstein der Selbstauslegung hatte, wie gesehen, die dritte Vision gebil­ det, deren visuell-imaginäres Programm Punkt um Punkt schon deshalb rückübersetzt werden musste, weil die visionäre Erfahrung sonst kaum zuträglich gewesen wäre, ja vermutlich den planetenschwingenden Allbeherrscher, der zur Auferstehungsposau­ ne geworden war, der Lächerlichkeit preisgegeben hätte. Die letzte Vision hatte auch deshalb einer Selbstauslegung bedurft, weil die allgemeinverbindliche Homiletik, die aufrief, sich auf die Gnade Gottes einzulassen, nur über diese Auslegung wieder an die Person Engelbrechts rückgekoppelt werden konnte. Der Kreis hatte sich damit für den Visionär geschlossen. Bibliographie Quellen Adelung, Johann Christoph, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibun­ gen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden (7 Bde.), Leipzig 1785–87. Arnold, Gottfried, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, vom Anfang des Neuen Testa­ ments bis auf das Jahr Christi 1688 (4 Bde.), Frankfurt 1729. Ders., Leben der Gläubigen oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen, welche in denen letzten 200 Jahren sonderlich bekandt worden, Halle 1701. Ders., Historia et descriptio theologiae mysticae, seu theosophiae arcanae et reconditae, itemque veterum et novorum mysticorum, Frankfurt 1702. Augustinus Triumphus von Ancona, Tractatus contra divinatores et sompniatores, in: Pierangela Giglioni, Il ‚Tractatus contra divinatores et sompniatores‘ di Agostino di Ancona. Introduzi­ one e edizione del testo, in: Analecta Augustiana 48 (1985), S. 5–111. Blannbekin, Agnes, Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin, hg. und übers. v. Peter Dinzelbacher, Göppingen 1994. Dies., Life and Revelations, übers. v. Ulrike Wiethaus, Cambridge 2002. Bona, Giovanni, De discretione spirituum liber unus, Brüssel 1674. Buch von den heyligen in welschen landen und von iren wunderzaichen, Augsburg ( Johann Bäm­ ler) 1473.

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II. Kodifizierung von Visionen in Sammelhandschriften und im Frühdruck

Vision und Devotion Zu Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979 Maximilian Benz

Lieber mit Gott in der Hölle, als ohne ihn im Himmel (Der arme Mensch I)1

In liebevoller und dankbarer Erinnerung an Thomas Lentes (1962–2020) Die Jenseitsstrafen und -verheißungen prägen das Christentum und vor allem den Blick auf es in kaum zu überschätzender Weise, auch in einer auf die säkulare Option pro­ grammatisch setzenden Zeit. Dabei handelt es sich nicht um einen Popanz, denn ange­ sichts der Tatsache, dass Religion immer stärker unter immanent-ethischen Gesichts­ punkten begriffen wird, verweist gerade das Jenseits auf Prinzipien der sakramentalen Heilsordnung. Im Kern der Jenseitsthematik steht nämlich nicht nur das schwierige Verhältnis von ‚Tun und Ergehen‘, sondern auch das Spannungsfeld zwischen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Dass sich dies bis heute trotz aller Umakzentuie­ rungen nicht grundsätzlich geändert hat, zeigt folgende Anekdote. Gerhard Polt ver­ knüpft in einem 2013 von Herlinde Koelbl für das ‚Zeit-Magazin‘ geführten Gespräch eine immanente Gerichtsszene mit der Frage nach dem Status der Jenseitsstrafen.2 Wie es einem gängigen Brauch entspricht, kam der heilige Nikolaus auch zu ihm, dem jungen Gerhard Polt, um ihn mit seinen Taten zu konfrontieren. Offensichtlich hatte dieser sich nicht immer so verhalten, wie es Gott oder zumindest seine Eltern sich wünschten, denn der heilige Nikolaus, hinter dem sich passenderweise ein Metz­ gergeselle aus Altötting verbarg, steckte Polt in den Sack, nahm ihn mit und hing ihn in den Schweinestall. Dies alles nun ist nicht der Anlass für eine harsche Anprangerung

1 Vgl. Hopf, Mystische Kurzdialoge um Meister Eckhart, S. 231 f. 2 Den Hinweis verdanke ich Friedrich Vollhardt (München).

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bayerischer Erziehungsmethoden, sondern der Ausgangspunkt für eine Apologie der Jenseitsstrafen. Polt führt aus: Ohne Angst, ohne Hölle, gibt’s nur noch Himmel, das ist ja fürchterlich! Wenn es diese Bestrafung, diesen ganzen Katalog mit Sünden und Vergebung nicht gäbe, müsste die Kir­ che sich schon was überlegen. Ja, was versprechen sie denn, wenn der Sünder vor sich hin sündigt, und immer geht er straffrei aus? Wenn die Kirche jetzt aber die Hölle abschafft, dann braucht doch keiner mehr die Religion.3

Es ist die Frage, ob die Begründung der Religion vornehmlich durch die Annahme von Jenseitsstrafen zu leisten wäre, aber Polt trifft durchaus einen richtigen Punkt. Morali­ sches Fehlverhalten wird nicht dadurch besser, dass es nicht geahndet wird. Hier nun ist der Reihentitel weiterführend, unter dem dieses Interview gedruckt wurde: „Das war meine Rettung“. Man kann das wortwörtlich nehmen: Die Jenseitsstrafen können eine Rettung sein. Es ist mit einem Vorurteil aufzuräumen, das sich zäh hält und leider auch in mediävistischen Sammelbänden verbreitet wird:4 Die Kirche habe die biblisch kaum bezeugten Jenseitsstrafen in aller Differenziertheit ‚erfunden‘, um die Menschen zu terrorisieren, vielleicht gar um ihnen im Zuge des Ablasshandels Geld abzupressen. Schon allein die Vermengung von Fragen nach dem Status der Religion und dem der Institution zeigt, dass diese Annahme zu kurz greift. Demgegenüber lassen sich die Erzählungen von Jenseitsstrafen im religiösen Zu­ sammenhang einerseits als Instrument zur Bearbeitung von Selbstsorge begreifen, andererseits ist es Charakteristikum der christlichen Jenseitsimaginationen, dass sie gerade in den frühen Entwürfen den Aspekt der Strafe – und damit die Retributions­ logik – ergänzen durch Rettungsmöglichkeiten, die nicht nur auf der Gnade Gottes beruhen, sondern auch auf dem Mitleid der Auserwählten und Gerechten: Barmher­ zigkeit gegenüber den Sündern, verstanden als Gerechtigkeit gegenüber den für sie bittenden Auserwählten, ist eine Möglichkeit, die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit aufzulösen. Im Jenseits kann so eines der wesentlichen Prinzi­ pien des christlichen Glaubens, die Feindesliebe, umgesetzt werden: ego autem dico vobis: diligite inimicos vestris, benefacite his, qui oderunt vos, et orate pro persequentibus et calumniantibus vos (Mt 5,44).5 Im Laufe der Kirchengeschichte lassen sich durchaus vielfältige Akzentuierungen entdecken; in dem Maße, in dem das Prinzip postmorta­ ler Reinigung und Buße gegenüber dem Strafcharakter hervortritt, ja sogar in einem schließlich dritten Raum – dem Purgatorium – hypostasiert wird, treten Rettungs­ phantasmen zurück, was schon bei Dante zur vielfach diskutierten Mitleidlosigkeit

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Koelbl, Ohne Hölle, erschienen auf ZEIT Online, 26.09.2013. https://www.zeit.de/2013/40/ rettung-gerhard-polt [abgerufen am 10.05.2022]. Vgl. die Beiträge in Tuczay, Jenseits, bes. Dinzelbacher, Formen. Vgl. hierzu Benz, Die Wiederbringung des Texts.

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im Jenseitsraum führt.6 Die Ausrichtung des imaginierten Jenseitsraums auf Heil und Heilung allerdings bleibt. Ein markanter Einschnitt ist freilich auch in diesem Feld die Reformation. Offen­ sichtlich ist dies mit Blick auf die bei Luther maßgeblich vollzogene, auf mystischem Gedankengut gerade Johannes Taulers beruhende Interiorisierung der Hölle,7 also die Verlegung der Hölle in das Gewissen des Gläubigen.8 Aber auch in diesem Punkt pointiert Luthers Theologie eine kontroverse Entwicklung spätmittelalterlicher Fröm­ migkeit und Theologie, um die es mir im Folgenden gehen soll. Ein historisch signifikanter Ansatzpunkt für die oben in ihrer systematischen Relevanz eingeführten Umgangsweisen mit dem Jenseits liegt in den Anfängen der Devotio moderna. So berichtet Henricus Pomerius in seiner berühmten Schrift ‚De origine monasterii Viridisvallis‘ von einer Diskussion, die im Herbst 1377 zwischen Geert Grote, fons et origo modernæ devotionis in Bassa Almania inter canonicos regulares,9 und Jan van Ruusbroec im Brabanter Kloster Groenendaal stattfand, das seit 1350 der Gemein­ schaft der Augustiner-Chorherren angehörte.10 Während Geert Grote die Furcht vor den Jenseitsstrafen akzentuiert, fokussiert Jan van Ruusbroec, dessen Gottvertrauen Grote erschüttern will (sed non potuit), die göttliche Gnade:11 … contigit post crebras quas mutuo habuere familiaritates, ut dicto magistro videretur de­ votum priorem minus quam decuit timore affici. Tanto enim interdum amoris pondere fe­ rebatur ut sibi diceret æque conveniens mori vel vivere pro nomine Christi, immo nec plus gaudia cœli quam pœnas inferni desiderare, nisi pro quanto voluntas Dei talia sibi vellet contingere. Super quibus et similibus verbis dictus magister, timoris aculeo plus quam amoris igniculo saucius, satis admodum mirabatur. Quamobrem, ut homini sic affecto ti­ morem incuteret, cœpit multis Scripturæ auctoritatibus et industriosis assertationibus in quadam collatione priorem arguere super hoc quod tantum presumeret de divina miseri-

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Zur romanistischen Diskussion, die von Hugo Friedrichs Thesen ausgeht, vgl. Schumacher, Die Höllenfahrt des Visionärs. 7 Vgl. Die Predigten Taulers, Predigt 40 (S. 154–162), S. 161, Z. 24 f.: Moͤ chte helle gesin in diesem lebende, so dúchte si das me denne helle: sere minnen und des geminten gůtes darben, und Luther, Der Prophet Jona ausgelegt, S. 225: Denn eyn iglicher hat seyne helle mit sich, wo er ist, so lange er die letzt noͤ ten des todes und gotts zorn fulet. Zu Nähe und Distanz Luthers gegenüber Tauler vgl. z. B. Hamm, Der frühe Luther, S. 200–250. 8 Vgl. Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, sowie Luther, Verantwortung der aufgelegten Aufruhr, S. 113: Denn ein boͤ se gewissen ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himelreich. 9 De Leu, De origine monasterii Viridisvallis, S. 288. 10 Vgl. Bollmann, The Influence of the Devotio moderna, S. 233 f. 11 Vgl. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 4, S. 66 f. Zur Auseinandersetzung zwi­ schen Grote und Ruusbroec vgl. auch Epiney-Burgard, Gerard Grote, S. 133–136.

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cordia, ut nec gehennæ supplicium formidaret. Sed prior hæc verba humiliter sustinens, tanto vehementius amore efferbuit quanto diligentius timorem incutere ille studuit.12 Es geschah nach zahlreichen Freundlichkeiten, die sie ausgetauscht hatten, dass dem ge­ nannten Lehrer [i. e. Grote] der fromme Prior [i. e. van Ruusbroec] weniger, als es ange­ messen ist, Furcht zu spüren schien. In diesem Leben spüre er ein so großes Gewicht der Liebe auf sich, dass er sagte, es sei ihm gleichermaßen recht im Namen Christi zu leben oder zu sterben, ja sogar nicht mehr die Freuden des Himmels als die Strafen der Hölle zu ersehnen, sofern nur der Wille Gottes wolle, dass ihm solches geschehe. Über diese und ähnliche Äußerungen wunderte sich der genannte Lehrer ziemlich, der durch den Stachel der Furcht mehr verletzt wurde als durch das Flämmchen der Liebe. Um dem so aufgeleg­ ten Menschen Furcht einzuflößen, fing er durch die Zusammenstellung von autoritativen Schriftverweisen und wirkmächtigen Argumenten an, den Prior zu tadeln, dass er so viel auf das göttliche Erbarmen hoffte, dass er die Höllenstrafe nicht fürchtete. Aber der Prior ertrug diese Worte demütig. Desto heftiger entbrannte er in Liebe, umso sorgfältiger jener sich bemühte, ihm Angst einzuflößen.

Die Konfrontation zwischen den mystischen Kreisen Groenendaals, ihrer æquanimi­ tas,13 und den modernen Devoten, ihrer Selbstsorge, steht für unterschiedliche Auffas­ sungen über religiöse Selbsttechniken, wobei Grote freilich maßgeblich durch Ruus­ broecs Theologie beeinflusst wurde.14 Institutionell wurde der Graben 1413 durch den Anschluss des Klosters Groenendaal an die Windesheimer Kongregation überbrückt. Für die auch von Thomas von Kempen und Johannes Busch auf Geert Grote zurück­ geführte Bewegung der Devotio moderna bedeutet dies allerdings, dass für die medit­ ativen Praktiken neben der Fokussierung auf das Leben und Leiden Christi – mit der wichtigen Schrift des Thomas von Kempen: auf die ‚Imitatio Christi‘ – gerade auch das Bedenken des jenseitigen Geschicks, und das heißt hier vor allem auch der Höl­ lenstrafen, von zentraler Bedeutung ist. Das im Spätmittelalter so beliebte ‚Cordiale de IV novissimis‘ Gerhards van Vliederhoven, also ein Traktat über die vier letzten Dinge (Tod, Gericht, Hölle, Himmel), legt davon Zeugnis ab, das wie Thomas’ von Kempen ‚Imitatio Christi‘ zwar aus dem niderlant stammt, als lateinischer Text aber überregio­ nal rezipiert werden konnte.15 Damit verbunden und doch darüber hinaus wird auch

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De Leu, De origine monasterii Viridisvallis, S. 290. Eine englische Übersetzung eines Teils der Passage bei Bollmann, The Influence of the Devotio moderna, S. 252. 13 Vgl. Ruusbroecs Antwort in De origine monasterii Viridisvallis, S. 290: Qui, facto silentio, respondit: ‚Magister Gerarde, sciatis pro vero: adhuc nullo timore sollicitor; sed ecce, æquanimiter paratus sum sufferre omnia quæ Dominus de me fieri decrevit, sive ad vitam sive ad mortem. Nihil melius, nihil salubrius, nihil jocundius mihi existimo, nec aliud opto vel desidero quam quod ille me promptum semper inveniat ad suæ arbitrium voluntatis.‘ 14 Vgl. Bollmann, The Influence of the Devotio moderna, S. 236. 15 Texte aus dem niderlant – wobei es wichtig ist, zu betonen, dass in den Niederlanden verbreite­ te Texte auch in Niederdeutschland und Mittelfranken umstandslos rezipiert wurden (vgl. Ruh,

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ein im gesamten Mittelalter besonders beliebtes Genre für die Kreise der Devotio moderna interessant: das der Erzählungen von Jenseitsreisen. Um es zu pointieren: Devotion und Vision stehen in einem engeren Zusammen­ hang, den ich im Folgenden mit Blick auf die bislang nicht hinreichend erforschte Re­ zeption der ‚Imitatio Christi‘ im oberlant16 darstellen möchte – ein Fallbeispiel aus dem Bereich kartäusischer Spiritualität, die für die Devotio moderna ihrerseits von großer Bedeutung war. Ein analoger Fall, auf den ich hier nicht eingehe, ist der Cgm 458, um 1482 im Kloster Rebdorf geschrieben, der mit dem zweiten Buch der ‚Imitatio Christi‘ eröffnet wird – das erste folgt später – und an noch späterer Stelle auch die ‚Visio Tnug­ dali‘ (Übersetzung C) überliefert.17 In der am 25. Januar 1326 von Herzog Heinrich IV. von Kärnten gestifteten Kartause Allerengelberg in Schals, im Vinschgau (Südtirol) gelegen,18 wurden in den 1460er und frühen 1470er Jahren sowohl für das eigene Kloster – und darin wohl vor allem für die Laienbibliothek19 – als auch für die Bibliothek des Anton von Annenberg mehrere Codices verfasst und gebunden, die maßgeblich mit den Übersetzungen des Kartäusermönchs Heinrich Haller zusammenhängen. Er war unter Prior Friedrich (1466–1473), der für die Bibliothek Handschriften u. a. in Erfurt mit Werken Jakobs von Paradies kaufte und diese abschreiben ließ,20 als Übersetzer äußerst produktiv.21 Insgesamt sechs autographische Handschriften und zwei Konzepte sind überliefert,22 aber seine Werke wurden auch in drei Codices von anderer Hand23 jeweils mutmaß­

Altniederländische Mystik in deutschsprachiger Überlieferung, bes. S. 95–99) – wurden im Sü­ den generell nicht sehr intensiv überliefert, mit einigen Ausnahmen im mystischen Bereich, vgl. ­W illiams-Krapp, Zur Rezeption von mystischem Schrifttum aus dem niderlant. 16 Vgl. den Überblick bei Williams-Krapp, Die süddeutschen Übersetzungen der ‚Imitatio Christi‘. 17 Vgl. Palmer, ‚Visio Tnugdali‘, S. 249–253. 18 Vgl. Schöpf, Vom Wirtschaften in der Kartause Allerengelberg, S. 28. 19 Vgl. Bauer, Heinrich Hallers Übersetzung der ‚Hieronymus-Briefe‘, S. 9*. 20 Vgl. Neuhauser, Beiträge zur Bibliotheksgeschichte der Kartause Schnals, S. 70–72. 21 Auch für die Lexikographie findet sich im Corpus Relevantes: Es können einige Erstbelege Haller zugeordnet werden (z. B. künstler oder nachlessig), wobei offen ist, inwiefern es sich um Sprach­ schöpfungen Hallers handelt, vgl. Bauer, Der Übersetzer Heinrich Haller; Bauer, Wörterbuch zu den Übersetzungen Heinrich Hallers. 22 Die Autographen befinden sich in der Innsbrucker Universitäts- und Landesbibliothek Tirol: Cod. 773 (‚Hieronymus-Briefe‘; 1464), Cod. 641 (verschiedene Übersetzungen, darunter die ‚Imitatio Christi‘; 1466), Cod. 635 (‚Leben der Altväter‘; 1467); Cod. 618 (‚Von der Ankunft Jesu Christi‘, Predigten; 1470); Cod. 626 (Passion nach den vier Evangelien, Predigten, Paternosterauslegung; 1471). Ebenfalls in der ULBT befindet sich auf einem Nachsatzblatt ein Konzept Hallers für einen erbaulichen Text: Cod. 206, Bl. 255r (vgl. Neuhauser, Katalog: Cod. 201–300, S. 27–30). Der in der Bibliothek des Ferdinandeum aufbewahrte Cod. FB 1065 enthält kein Konzept, sondern eine neuerliche Überarbeitung der Übersetzung der ‚Hieronymus-Briefe‘, vgl. Bauer, Beobachtungen an autographischen Übersetzungen. 23 Darunter ist eine Abschrift von Innsbruck, ULBT, Cod. 626, in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. 12787. Auf die weiteren Abschriften für die Annenberger-Bibliothek (Wien, ÖNB, Cod. 12460, und Innsbruck, ULBT, Cod. 979) wird noch ausführlicher eingegangen.

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lich für Anton von Annenberg geschrieben,24 der auch für den Beginn von Hallers Übersetzungstätigkeit entscheidend gewesen sein mag.25 Die Bibliothek des von Annenberg26 umfasste wohl um die 250 Bände und ging damit weit über den Umfang einer als gut sortiert geltenden Adelsbibliothek des 15. Jahrhunderts hinaus; immerhin 29 Bände sind auf uns gekommen. Darunter findet sich neben Rechts- und medizinischer vor allem geistliche Literatur. Anton besaß aber auch eine ‚Nibelungen‘- (Sigle J; Berlin, SB, Ms. germ. fol. 474) und eine ‚Titu­ rel‘-Handschrift (Berlin, SB, Ms. germ. fol. 475), die den für Adelsbibliotheken obli­ gaten Text unter dem von Anton selbst auf der Versoseite des Vorsatzblatts notierten pragmatischen Rubrum fasst: ‚Dyterell de disciplina hominis‘.27 (Den auf religiös-so­ ziale Verbindlichkeit abzielenden Umgang mit Handschriften sieht man übrigens auch daran, dass zur Bindung einer Rechtshandschrift für Anton ein Gottfried’scher ‚Tris­ tan‘ makuliert wurde.28) Anton von Annenberg, der auf vielfältige Weise der Kartause Allerengelberg ver­ bunden war und sein Lebensende wohl dort verbracht hat,29 scheint zumindest einen Teil seiner Handschriften aus der Kartause bezogen zu haben. Es mag Zufall sein, aber mit dem mutmaßlichen, von Überarbeitungen eingeleiteten und möglicherweise doch unfreiwilligen Ende30 von Hallers Tätigkeit als Übersetzer, das mit den Zuständen in der Kartause, möglicherweise einer Kritik daran, der Absetzung seines Förderers und dessen Ersetzung durch Prior Wolfgang zusammenhängen muss, werden in Antons Bi­ bliothek – abgesehen „von der Nibelungenhandschrift J und einer Sammelhandschrift medizinischen Inhalts“31 und freilich stets ausweislich des Überlieferten – nur noch Inkunabeln angeschafft. Für unsere Fragestellung ist nun eine Handschrift besonders aufschlussreich, die wahrscheinlich für Anton von Annenberg geschrieben wurde und teilweise Übersetzun­ gen Hallers32 enthält: Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979.

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Dies lässt sich aus einer Reihe von Indizien erschließen, vgl. die umfassende Argumentation bei Palmer, Ein Handschriftenfund zum Übersetzungswerk, S. 60–65. 25 Vgl. Neuhauser, Beiträge zur Bibliotheksgeschichte der Kartause Schnals, S. 69 f. 26 Hierzu und zu den unmittelbar folgenden Angaben vgl. Lackner, Bücher für den Adel. 27 Vgl. Fürbeth, Eine unbekannte deutsche Übersetzung des Vegetius, S. 286. 28 Vgl. Lackner, Bücher für den Adel, S. 115, zum Fragment im Museum Ferdinandeum FB 1519/III: „Bei der Bindung einer Rechtshandschrift für Anton von Annenberg (Ferdinandeum FB 32029) kam ein Tristan aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu zweifelhaften sekundären Verwen­ dungsehren.“ 29 Vgl. Lackner, Bücher für den Adel, S. 111. 30 Vgl. hingegen Bauer, Beobachtungen an autographischen Übersetzungen, S. 418. 31 Lackner, Bücher für den Adel, S. 118. 32 Dies erwiesen zu haben, ist das Verdienst von Palmer, Ein Handschriftenfund zum Überset­ zungswerk.

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Die Papierhandschrift,33 deren Datierung nicht ganz einfach ist, da zwei konkur­ rierende Jahresangaben (1463 und 1473) genannt werden,34 beginnt mit einem Vor­ wort Hallers (Bl. 1ra–4vb), gefolgt von Jenseitserzählungen: der Übersetzung der ‚Vi­ sio Tnugdali‘ (Bl. 5ra–32vb), des ‚Tractatus de Purgatorio S. Patricii‘ (Bl. 32vb–49va) und der ‚Navigatio S. Brendani‘ (Bl. 49va–90va). Daran anschließend sind Texte versam­ melt, welche die in den ersten drei Texten angelegte eschatologische Thematik in je unterschiedlicher Konfrontation mit Christi Leben und Sterben oder Formen seiner Nachfolge fortführen: eine Übersetzung der ps.-origenischen ‚Magdalenenpredigt‘ (Bl. 81vb–90va) mit ihrem Fokus auf Klage und Trost nach der Kreuzigung Christi,35 die das Jenseits deutlich aufgreifende Legende von Udo von Magdeburg (Bl. 90va–97va) und schließlich erneut ein christologischer Akzent durch die Briefe des Lentulus und des Pilatus (Bl. 97va–98vb). Die Haller-Übersetzungen werden abgeschlossen durch die Ordenslegende der Kartäuser (Bl. 98vb–101ra) und den ‚Rigor ordinis‘ (Bl. 101ra–103rb). Es folgen drei ‚Trans­ latzen‘ des Niklas von Wyle (Bl. 103va–113vb), ein noch nicht hinreichend bestimmter Tugendwettstreit (Bl. 113vb–118va) und schließlich eine Übersetzung von Thomas’ von Kempen ‚Imitatio Christi‘ (Bl. 118vb–204ra), die nicht mit Hallers Übersetzung (Inns­ bruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 641) übereinstimmt – im Codex 641 folgt Buch I übrigens auf das Buch II, wodurch die eschatologischen Kapitel, die gleich noch im Zentrum stehen werden, an das Ende des Gesamttexts gerückt werden.36 Das Thema der Handschrift könnte umrissen werden mit einer zunächst durch Jenseitserzählungen stimulierten Reflexion auf letzte Dinge, die über die genuin kar­ täusischen Ansätze schließlich in das Programm der Devotio moderna mündet. Der Handschrift ist im Ganzen noch weiter nachzugehen. Im Folgenden möchte ich mich auf den Zusammenhang von jenseitiger Vision und moderner Devotion konzentrie­ ren, der durch die die Kompilation rahmenden Texte – die ‚Visio Tnugdali‘ und den ‚Patrick-Tractatus‘ nebst dem beiden Texten gewidmeten Vorwort sowie die ‚Imitatio Christi‘ – ausgewiesen wird. Wie gut sich die ‚Imitatio Christi‘ zum Konzept der Handschrift fügt, zeigen die letzten drei Kapitel des ersten Buchs:37 ‚Von de pedëchtnüß des todes‘ (Bl. 134ra), ‚Von 33

Vgl. die Beschreibung von Alexandra Ohlenschläger in: Neuhauser, Katalog: Cod. 951–1198, S. 133–137. 34 Palmer, Ein Handschriftenfund zum Übersetzungswerk, S. 59 f., hat dafür argumentiert, dass „die Datierung 1473 für die meisten Übersetzungen Hallers in dieser Hs. zu gelten hat, daß aber einzelne Werke früher entstanden sein können.“ (S. 60) Dagegen argumentiert Bauer, Die Vor­ reden und Kolophone, S. 128, dafür, die Angabe 1463 auf die Entstehung der Übersetzungen (im nicht überlieferten Autograph Hallers), 1473 auf die Entstehung der Handschrift zu beziehen. Oh­ lenschläger in: Neuhauser, Katalog: Cod. 951–1198, S. 133, datiert die Handschrift „nach 1463“. 35 Löser, Art. ‚Pseudo-Origenes‘; von Moos, Consolatio, Bd. 3/2, S. 57 und S. 183. 36 Vgl. Bauer, Heinrich Hallers Übersetzung der ‚Imitatio Christi‘, S. 96–105. 37 Diese Kapitel konnten auch in anderem Zusammenhang in die ars moriendi übernommen werden unter Absehung des Rests der ‚Imitatio Christi‘. Vgl. den Hinweis bei Chinca, Innenraum des

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dem gericht vnd pein der sunder‘ (Bl. 135rb) und schließlich, darauf aufbauend: ‚Von der inprunstigen pesrung seins lebens‘ (Bl. 136vb). Im exhortativen Duktus wird der Rezipient gewarnt: Es ist gar pald hye umb Dich geschehen (Bl. 134ra),38 um – ganz der ars moriendi folgend – sowohl die Unsicherheit der Todesstunde zu betonen als auch hervorzuheben, dass derjenige diese nicht zu fürchten hat, dessen Gewissen rein ist. Ein Leben als meditatio mortis wird empfohlen,39 gerade da soziale Bindungen als un­ zuverlässig gebrandmarkt werden. Eindringlich wird der Mensch zur Selbstsorge auf­ gefordert. Eine erste Verbindung zum Schicksal des Tnugdalus (in der Handschrift: Tang­ dalus, Bl. 5rb, so auch in der lateinischen Vorlage, auf die auch Innsbruck, Universitätsund Landesbibliothek Tirol [= ULBT], Cod. 146, Bl. 241r–250v, zurückgeht)40 wird dort hergestellt, wo die Plötzlichkeit des Todes illustriert wird durch den Verweis auf den, der ist am tisch erstiket (Bl. 135ra). Der Inhalt der Jenseitsreisen wird aber explizit aufgegriffen, wo es um das Strafprinzip des Jenseits geht, dem im Diesseits entgegen­ zuarbeiten ist. Denn die Jenseitsstrafen antworten auf die caritas inordinata des Sün­ ders, wobei die Qualen ins Unermessliche gesteigert sind: Wir petriegen vns sicher selbs mit unserer vngeordenter lieb, dye wir haben czw unseren fleisch. Was wirt das kuͤnftig feur an dir anders verczërn dann dy suͤnd. So vil dw dir selbs yetz übersichst vnd nach deines fleisch lust geest, dester hërter wirt du darnach gepeinigt. Mit dem der mensch gesündet hat, mit dem wirt er swërlicher gereinigt. Dye hinlässigen werden mit prinnunden lanczen gerainigt vnd dye frässigen mit grossem hunger und durst gekestigt. Dye unkeẅschen vnd des wollustz liebhaber werden mit prynnendem pech vnd stinkunden swebl pegossn [usf.] (Bl. 135va–b)

Die ‚Imitatio Christi‘ fokussiert entsprechend die caritas ordinata, in der Selbst- und Gottesliebe in einem Zusammenhang stehen, zu welcher der Sünder auch durch die Selbstsorge gebracht werden kann: Darumb wer got von gantzen herczen lieb hat, der fuͤrcht weder den tod noch pein noch das lest gericht noch dÿe hell. Wann dy volkömen lieb macht ain sicheren czuegankch zu got. […] Doch ist guet, so dich nicht dy lieb von sünden zeucht, das dich doch dÿ forcht der helle czëm. (Bl. 136rb–va)

Die Reflexion über die Strafen des Jenseits soll so zu einer nachhaltigen Besserung des Lebens führen, die freilich auch durch Beispielfiguren angeregt sein kann, von denen

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Selbst, S. 364, Anm. 28: „Die bei Heinrich Quentell in Köln erschienenen Drucke des ‚Speculum‘ (GW 2608, 2610, 2613) enthalten außerdem am Schluß des Traktates eine lange Reihe von meditationes über Tod, Gericht und Jenseits, die u. a. der ‚Imitatio Christi‘ (I,23) entnommen sind.“ Der Fettdruck zeigt an, dass es sich um eine Initiale handelt. Vgl. Bl. 134rb–va: O wÿe saͤ lig vnd weyß der ist, der sich also uͤ bet ze sein in seinem leben, als er pegert in dem tod erfunden werden. Zum Verhältnis der Handschriften Palmer, ‚Visio Tnugdali‘, S. 133 f.

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in der Handschrift einige versammelt sind. Furcht vor der Strafe und Reflexion der Grundlagen des eigenen Handelns in Abgleichung der eigenen Gründe mit Vorbil­ dern verbinden sich schließlich: Nym uͤ beral ursach deins fuͤ rnemen. Das ist wo du siecht oder hoͤ rst ain guetz exempel, dem fleis dich nachczwvolgen. (Bl. 137ra) Der Aspekt der Nachfolge – verstanden als meditativ stimulierte Ausbildung eines moralischen Habitus – prägt den gesamten Traktat, doch von den eschatologischen Ausführungen aus gibt es eine besondere Nähe zur Vorrede, die Heinrich Haller sei­ nen Übersetzungen vorangestellt hat und die nicht nur auf die ‚Visio Tnugdali‘ und den ‚Tractatus de Purgatorio S. Patricii‘ ausgerichtet ist, die Haller beide mit Gregor d. Gr. cz ainem ebenpild vnd warnung der getreuen cristenmenschen (Bl. 2va) gebrauchen will. Haller setzt zu Beginn seiner Vorrede, die von Sap 17,17 (Magna sunt enim judicia tua, Domine) ausgeht,41 auf einer Ebene höherer Allgemeinheit, nämlich bei der In­ kommensurabilität des göttlichen Gerichts an, wobei er sichtbare (in seiner Termino­ logie: sichtige) von nicht-sichtbaren (unsichtigen) Gerichten scheidet. Die sichtbaren sind ain tayl begreyffenleichen der natur, das sind dye czeytlichen guͤ eter der naturlichen pewegung, dye wir sehen mit den leiplichen augen. Von den ist nicht vil czesagen. (Bl. 1rb) Nur anmerken möchte ich, dass die Grenze des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren nicht mit der Grenze von Immanenz und Transzendenz zusammen­ fällt, denn dye leipliche[…] pein, durch die Gott in dyser welt (Bl. 1rb) straft, gehört zum verborgenen Gericht. Im Bereich des Nicht-Sichtbaren breitet Haller unter Rekurs auf seine Übersetzung des Traktats ‚De quattuor novissimis‘ indes nicht alle Bereiche aus, sondern konzentriert sich auf dye pein der raÿnigumb oder der weyczen (Bl. 1va–b). In die­ sem Zusammenhang dienen zwei Ritter – Tnugdalus und Owein – als Vorbilder für die sündigen Rezipienten: Wann der allmechtig got, der wuͤrkcht offt durch ainen menschen grosse wunder czw ai­ nem ebenpild der annderen menschen. Vnd also list man auch des gleichen in dysen ge­ genbuͤrtigen hystorien vnd sachen, dye hernach geschriben stenn von zwaÿn rittern, dye vil manigerlay grosser pein gesehen haben vnd geliten haben. (Bl. 4ra)

Wie die zitierten eschatologischen Passagen der ‚Imitatio Christi‘ sind die Erzählun­ gen der Jenseitsreisen Zeugnisse der göttlichen Liebe: Wann er wil nicht den tod des suͤ nders. Aber er wil, das er leb vnd das er sich peker. (Bl. 3vb) Anders aber als die diskur­ sive Drohung in der ‚Imitatio Christi‘ muss die Jenseitserzählung abgesichert werden, gerade da sie ja eigentlich dem Bereich des Nicht-Sichtbaren angehört. Hier ist der Ort für Authentifizierungsstrategien im Sinne dieses Bands, die sich von allgemeinen Fra­ gen der Vermittlung unterscheiden lassen: In materialphilologischer Hinsicht wird die Jenseitsreise durch die gerahmte Inserierung in den Codex authentifiziert; in ideeller

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Eine Edition der Vorrede bei Palmer, ‚Visio Tnugdali‘, S. 140–145.

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Hinsicht stützen die habitualisierten meditativen Praktiken die Texte, indem sie auf ein Bedürfnis antworten. Das altbekannte Problem der Bestrafung von Seelen durch ein körperliches Feu­ er wird dabei (anders als etwa bei den Viktorinern) mit einem invertierten Leib-See­ le-Zusammenhang gefasst.42 Dennoch bleiben die Erzählungen laut Haller ettwas froͤ md vnd selczam (Bl. 3rb)43 – ein Zweifel, den er nicht ausräumen kann, sondern der die Rezipienten unter Rekurs auf dye verporgen gericht gotz zum ‚Glauben‘ auffor­ dert.44 Die Erzählungen von Jenseitsreisen sind aber per se intelligibel, anders etwa als komplexere Zusammenhänge in den Hieronymus-Briefen, für die Haller kommen­ tierende Zusätze ankündigt, die das Verständnis erleichtern: […] die obgenanten epistlen / die sint etwas klüeg / vnd frömd / mit den sinnen / das pekenn ich / vnd darum so ist notürft / die erleüchtung der vernufft / an etlichen steten.45 Konsequenterweise wird die Differenzierung zwischen einer ekstatischen Jenseitsreise – wie bei Tnugdalus – und einer in corpore – wie im Fall von Owein – nur genannt, aber nicht weiter zu erklären versucht. Haller vertraut, gerade was die Wirkung betrifft, auf die erzählerische Kraft der Texte. Analytische Differenzierungsleistungen stehen dieser eher im Wege. Die Zusammenhänge dürften ohnehin bereits klar geworden sein. Der demütige Christ muss in beständiger Übung versuchen, sich zu bessern. Von zentraler Bedeu­ tung ist die Selbstprüfung, für welche die Instanz des Gewissens ausschlaggebend ist, was sich – laut ‚Imitatio Christi‘ – beim Endgericht zeigen wird: Dann wirt mer erfreÿen ain rayne vnd guete gewissen wenn ain hochgelerte phylozophey. (Bl. 136ra) Dem Sünder wird empfohlen, sich im Vertrauen auf die Liebe Gottes an Vorbildern auszurichten; wo dies nicht gelingt, ist auch die Furchtreue ein valables Instrument. Die Imagination der eschatologischen Konsequenzen diesseitigen Tuns ist deshalb in die Gewissens­ prüfung einzubeziehen. Wie nun Haller versichert, ist allein die Tatsache, dass einigen Menschen Jenseitsvisionen zuteil wurden und dass diese gelesen werden können, eine Wirkung der göttlichen Liebe. Mag dy volkömen lieb auch einen sicheren czuegankch zu got schaffen – wen aber lust nach sünden leitet, für den gibt es Offenbarungen wie die Jenseitsreisen. Die mehrfach beobachtete Tendenz Hallers, die Qual der Höllenstrafen rhetorisch besonders evozieren zu wollen,46 ist in diesem Sinne motiviert: Die Vision Vgl. Bl. 3ra: Ist nun das das der vnleyplich geist des lebentigen menschen aufwürt gehalten in dem fleisch: Warumb solt den der geÿst, der da vnleiplichen ist, nicht aufgehalten werden nach dem tod in dem leiplichen feur? 43 Vgl. hierzu den Beitrag von Patrick Nehr-Baseler in diesem Band zur ‚Visio Tnugdali‘ (D), dort heißt es nutz vnd seltzam. 44 Vgl. programmatisch Koch, Fideales Erzählen. 45 Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 773, Bl. 10v, zit. n. Palmer, ‚Visio Tnugdali‘, S. 134. 46 Vgl. Palmer, ‚Visio Tnugdali‘, S. 136. – Die wenigen Zusätze Hallers bei der Übersetzung der ‚Visio Tnugdali‘ lassen zudem ein Abheben auf die Notwendigkeit guter Werke erkennen; die Bedeutung der Lebenspraxis ‚krümmt‘ gelegentlich sogar das Verständnis des lateinischen Texts, vgl. ebd., S. 136 f. 42

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erweist sich im Rahmen der Devotion als funktional, zugleich verleiht der übergeord­ nete devote Zusammenhang den Visionen Geltung. Mit dieser Handschrift und den in ihr greifbaren Inhalten sieht man die Position Geert Grotes in der Auseinandersetzung mit Jan van Ruusbroec in paränetischer Ab­ sicht umgesetzt. Der in diesen Zusammenhängen streitbare Status der Jenseitsreisen als einer Textgruppe, die die Hölle ‚zugänglich‘ macht, resultiert wohl aus einer je un­ terschiedlichen Einordnung des Jenseitsorts, die in beiden Fällen auf Selbstreflexivität drängt. Haller steht auf der Seite Grotes. In dieser durchaus traditionellen Sicht geht es um die Imagination der Hölle als Medium der Sündenerkenntnis. Die Hölle wird hier in den Bahnen der von Augustinus vorgestellten sündhaften Selbstnihilierung47 begriffen, wobei der auf Dauer gestellte, strafende Prozess der Nihilierung im Vorder­ grund steht. Im mystischen Diskurs hingegen erscheint die Hölle weniger als Strafort denn als Ort der Gottesferne, der Entbehrung Gottes, die wiederum „Bedingung der Möglich­ keit von Einheit“48 ist. Die Konzeption wird auf höchst paradoxe Weise von Meister Eckhart entfaltet: Ja bi got: waͤ r dirre mentsch in der hell, got muͤ st zů im in die hell, vnd die hell můst im ain himelrich sin.49 Beide Höllenauffassungen berühren sich in Vorstellun­ gen der gelâzenheit (Eckhart) respektive der sein selbs verlassung (Thomas von Kempen in der Übersetzung des Cod. 979, Bl. 168v). Sie messen der Imagination des Jenseits als Strafort aber entschieden unterschiedliche Bedeutung bei, wobei der hier untersuchte Codex pragmatisch im Sinne der devotio auf die Nutzung der Kraft der sprachlich evo­ zierten Höllenbilder setzt. Luther hingegen wird, ähnlich wie Jan van Ruusbroec, für die resignatio ad infernum votieren,50 also dafür, „auf das eigene Heil bei Gott verzichten zu wollen, d. h. selbst in die Hölle gehen zu wollen, um so noch ausdrücklicher die Ergebung in den Willen Gottes kundzutun.“51 Dies freilich hielt den Reformator nicht davon ab, die Hölle so zu fürchten, dass er für seine eigene Todesstunde den Beistand eines Kirchendieners wünschte.

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Vgl. hierzu die entscheidenden Hinweise auf die augustinische ‚Psalmenpredigt‘ VII,19 bei Voll­ hardt, Bußtheologie für Laien?, S. 231 f. 48 Hasebrink, Entbehrung des Anderen, S. 107. 49 Meister Eckhart, Predigten, Predigt 15, S. 246, Z. 18–20. 50 Die resignatio ad infernum findet Ansatzpunkte im Alten und Neuen Testament, wird dann aber bei Mystikerinnen und Mystikern (Wichmann von Arnstein, Margareta Contracta, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch, Margareta Porete, Meister Eckhart, Tauler) bedeutend, bei jedem aber mit unterschiedlicher Zuversicht entwickelt; vgl. Schiewer, Der Zagel Luzifers und das Paradies in der Hölle, S. 241: „Bei Eckhart ist es im Gegensatz zu den Visionsberichten von Wichmann, Mechthild, Margareta, der Fünfzehnjährigen und anderen begnadeten Frauen nicht die Demut, die den Menschen in die Hölle fahren und diese in einer besonderen Art der imitatio Christi be­ zwingen lässt, sondern es ist – wie bei Tauler – das Lassen des Eigenwillens, von Eckhart aber gesteigert zum absoluten Lassen, dem Lassen Gottes um Gottes willen“. 51 Laarmann, Art. ‚Resignation, resignieren‘, Sp. 910.

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Mit der göttlichen Gnade ist es eben so eine Sache, vor allem angesichts der re­ formatorisch hervorgehobenen „absoluten Unverfügbarkeit und Alleinwirksamkeit Gottes“.52 Das Verhältnis von Gott und Mensch lässt sich gerade mit Blick auf die Hölle reflektieren und bearbeiten, die – entschieden paradox – als Ort maximaler Gottferne in Gott doch einem gottlosen Himmel vorzuziehen ist. Für Grote, Tho­ mas von Kempen, aber auch die Kartäuser in Schnals war die Hölle demgegenüber ein instrumentell begreifbarer Ort, den der Mensch meditativ aufzusuchen hat, um, der eigenen Sündhaftigkeit bewusst, seiner selbst zu entsagen und sich der göttlichen Gnade zu öffnen. Für manche Zeitgenossen wie Gerhard Polt mag das bis heute eine Verheißung sein. Bibliographie Quellen Handschrift: Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979. Meister Eckhart, Predigten, hg. v. Josef Quint, Bd. 1 (Die deutschen Werke 1), Stuttgart 1958. J. B. De Leu, De origine monasterii Viridisvallis una vum vitis B. Joannis Rusbrochii primi prioris hujus monasterii et aliquot coaetaneorum ejus, in: Analecta Bollandiana 4 (1885), S. 257–322. Luther, Martin, Der Prophet Jona ausgelegt, in: D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), Bd. 19: Schriften 1526, Weimar 1908, S. 169–251. Ders., Verantwortung der aufgelegten Aufruhr (1533), in: D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), Bd. 38: Schriften 1533/36, Weimar 1912, S. 86–127. Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften (Deutsche Texte des Mittelalters 11), hg. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910.

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Vor der Erlösung Höllenangst und Heilsgeschichte in Lazaruslegende und ‚Visio Lazari‘* Julia Weitbrecht

I. Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44) Lazarus, komm heraus.1 Mit diesen Worten erwirkt Jesus die im ‚Johannesevangelium‘ berichtete Auferweckung des Lazarus von Bethanien. Der eigentliche Wunderakt wird mit wenigen Worten abgehandelt, doch wird zuvor recht umfänglich geschildert, dass Jesus, nachdem er von der Erkrankung seines geliebten Freundes gehört hat, zunächst noch zwei Tage am Jordan bleibt. Als er dann doch nach Bethanien zurückkehrt und sieht, wie vehement die Schwestern Maria und Martha um Lazarus trauern, ist auch Jesus innerlich erregt;2 am Grab angekommen bricht er in Tränen aus. Von den Be­ wohnern Bethaniens wird Kritik geäußert, dass er diesen Tod ja durchaus hätte ver­ hindern können. Daraufhin inszeniert Jesus vor zahlreichen Zeugen wirkungsvoll die Auferweckung: Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: ‚Lazarus, komm heraus.‘ Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden, und laßt ihn weggehen.3

Im ‚Johannesevangelium‘ geht dieses Wunder der Passion und Auferstehung Jesu un­ mittelbar voraus. Anders als Jesus aber liegt Lazarus vier Tage im Grab und riecht be­

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Für die fruchtbare Diskussion meiner Überlegungen danke ich Maximilian Benz und den Mitglie­ dern des Bielefelder Mediävistischen Kolloquiums. Lazare veni foras. Joh 11,43. Zitate nach der Biblia sacra vulgata, S. 492–499. „stöhnte er im Geist und erregte sich“ – fremuit spiritu et turbavit se ipsum; Joh 11,33. haec cum dixisset voce magna clamavit Lazare veni foras et statim prodiit qui fuerat mortuus ligatus pedes et manus institis et facies illius sudario erat ligata dicit Iesus eis solvite eum et sinite abire. Joh 11,43 f.

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reits ( Joh 11,39), wie Maria Jesus berichtet, als dieser befiehlt, das Grab zu öffnen. Die konkreten Umstände dieser Erweckung werden in ihrer Kreatürlichkeit und existenti­ ellen Schwere nicht geschönt. Demgegenüber ist die Deutung des Geschehens bereits intradiegetisch als ambivalent gekennzeichnet, es changiert zwischen Verbergen und Enthüllung, der Befähigung Jesu als Thaumaturg und der Ohnmacht der Hinterbliebe­ nen angesichts des leiblichen Todes. Es verwundert daher nicht, dass die Exegeten einen gewissen Aufwand betreiben, um diese Wundererzählung zu plausibilisieren. Bernd Roling hat gezeigt, dass bereits in den spätantiken Kommentaren zum ‚Johannesevangelium‘ die ostentative Inszenie­ rung der Auferweckung, die ‚Choreographie des Wunders‘4, Anlass zu Irritationen ge­ boten hat. Das Zögern Jesu, zurück nach Bethanien zu reisen und seine in den Augen mancher Theologen allzu menschlichen Tränen boten Kritikern Anlass, seinen Sta­ tus als Gottessohn in Zweifel zu ziehen. Versuche der Plausibilisierung setzen etwa in den einflussreichen Deutungen des Augustinus und Johannes Chrysostomos an der Bedeutung des Todes an.5 Dieser bilde gegenüber den weniger eindrucksvollen Heilungswundern die Voraussetzung dafür, die Wirkung dieses Wunders maximal zu steigern; Jesus habe daher bewusst abgewartet, um ganz sicherzugehen, dass Lazarus sich nicht nur in einem Zustand der Bewusstlosigkeit befinde.6 Diese bereits von den frühen Exegeten benannte spezifische Wirkungsästhetik liegt in der Darstellung des ‚Johannesevangeliums‘ begründet.7 Jesus selbst betont hier von Beginn an den spezifi­ schen Zeichencharakter von Krankheit und Tod: Durch Lazarus’ Krankheit soll Gott verherrlicht werden ( Joh 11,6), der Tod sei lediglich ein Schlaf ( Joh 11,11), und er be­ fragt Maria, ob sie an ihn und damit auch an die Auferstehung glaube ( Joh 11,25–27). Unmittelbar bevor er das mit großer Geste angekündigte Wunder durchführt, weist Jesus darauf hin, dass er dieses für „die Menge, die um mich herum steht“8, bewirkt. Der Evangelist ist in der Gestaltung dieses Mirakels somit intensiv damit befasst, die Reaktionen und Deutungen rund um den Tod des Lazarus für die Profilierung des Thaumaturgen Jesus fruchtbar zu machen. Lazarus selbst dagegen bleibt stumm, die Ikonographie zeigt ihn verharrend im Moment des Heraustretens aus dem Grab,

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„Not that anyone cast doubt on the miracle of raising Lazarus itself: rather, the choreography of the miracle did not seem entirely coherent. What had Christ intended by such an ostentatious kind of wonder?“ Roling, Return [Typoskript], S. 2. Bernd Roling danke ich dafür, dass er mir das Manuskript vorab zur Kenntnis gebracht hat. Vgl. den umfassenden Überblick über die Kommentar- und Homilientradition bei Kremer, Laza­ rus, S. 119–146. Vgl. die Nachweise bei Roling, Return [Typoskript], S. 3, Anm. 8. Das Argument findet sich etwa auch bei Ephräm dem Syrer im Sinne einer Beglaubigung, „Jesus habe jeden Verdacht, nur einen Scheintoten erweckt zu haben, ausschließen wollen.“ Kremer, Lazarus, S. 139. So „zeigt besonders der Episodenanfang, wie Jesus die Wirkungsbedingungen des Wunders erst aufbauen muss.“ Gebert, Erbe, S. 37. Propter populum qui circumstat, Joh 11,42.

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gesichtslos und noch in die Tücher gehüllt, die seinen Übergang vom Tod ins Leben markieren. Es ist gerade diese Übergänglichkeit, die eine Wirkungsgeschichte von langer Dauer auslöst.9 Der liminale Status des Lazarus hat in der Kommentar- und Homilientradi­ tion immer wieder Fragen aufgeworfen, wo er, ins Leben zurückgekehrt, in rechtlicher und heilsökonomischer Hinsicht eigentlich zu verorten sei. Ist er als ‚lebender Toter‘ überhaupt erbberechtigt (das ist in Bezug auf die geschwisterlichen Beziehungen zu Maria und Martha relevant)?10 Ist er bereits für seine Sünden verurteilt worden, oder muss er in der Sorge um sein Seelenheil wieder von vorne beginnen? Für diese Fragen ist es auch von erheblicher Bedeutung, wo sich Lazarus während der vier Tage auf­ gehalten hat. Jesu Tränen erklärt etwa Hugo von Saint-Cher in seinem Kommentar zum ‚Johannesevangelium‘ damit, dass dieser trauere, weil er Lazarus aus dem Paradies zurückholen müsse.11 Diese Auslegung des 13. Jahrhunderts ist möglicherweise bereits unter dem Einfluss der Lazarus-Hagiographie zu sehen, die sich ebenfalls mit seinem Verbleib auseinandersetzt. Dass Hugo Lazarus im Paradies vermutet, kann aber auch damit zusammenhängen, dass Lazarus von Bethanien mitunter mit dem im Luka­ sevangelium überlieferten Gleichnis vom reichen Mann genannten armen Lazarus identifiziert wurde, der nach seinem Tod in Abrahams Schoß geborgen wird, während der Reiche in die Unterwelt muss.12 Die Bitte des Reichen, man solle Lazarus als eine Warnung zu seinen noch lebenden Brüdern schicken, schlägt ihm Abraham zwar ab, doch ist hier bereits der Keim gelegt für eine in der mittelalterlichen Jenseitsliteratur zentrale Vorstellung einer Durchlässigkeit der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zur Besserung der Lebenden. Beide biblischen Figuren namens Lazarus besitzen somit den Status eines in die letzten Dinge Eingeweihten, der sich zwischen sich den Sphären von Diesseits und Jenseits bewegt.13 Dies ist bedeutsam für seine Rezeption in Zusammenhang mit der ‚Visio Lazari‘, um die es im Folgenden gehen soll. Diese kurze Visionserzählung imagi­ niert, wo Lazarus sich aufgehalten und was er gesehen hat, während er nicht unter den Lebenden weilte. Mit dem inszenierten Blick ins Jenseits steht die Vision in Zusam­ menhang mit den mittelalterlichen Jenseitsreisen in der Tradition der ‚Visio Pauli‘ und weist zugleich auffällige Idiosynkrasien auf, die in Verbindung mit zwei Aspekten der Darstellung des Jenseits in der Visionsliteratur stehen: Zum einen fällt in Bezug auf die spezifische Gestaltung des Jenseits auf, dass in diesem Imaginationsraum verschiedene 9 10

Vgl. die Beiträge in: Hennigfeld, Lazarus. Kulturgeschichte einer Metapher. Zum Streitgedicht ‚Discussio litis super hereditate Lazari et Marie Magdalene‘ des Drogo de Alto­ villari, das einen Erbstreit zwischen Martha und Lazarus in Szene setzt und auch die Ambivalenz von Tod und Schlaf aus dem ‚Johannesevangelium‘ wieder aufnimmt, vgl. Gebert, Erbe, S. 29–36. 11 Vgl. Roling, Return [Typoskript], S. 4 (Anm. 13). 12 Lk 16,19–31. Vgl. Pollard, Raising; Lang, Lazarus; Kremer, Der arme Lazarus. 13 Das nimmt auch seine mittelalterliche Verehrung als Patron der Leprakranken auf, die ebenfalls den Status ‚lebender Toter‘ besitzen. Vgl. Jankrift, Lazarus, S. 47.

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Temporalitäten (im Sinne von Zeitordnungen) miteinander konfrontiert und zur Ver­ handlung gebracht werden. Vor diesem Hintergrund ist zum anderen die spezifische Kontextualisierung der ‚Visio Lazari‘ interessant im Hinblick auf den Zusammenhang von Vision und handschriftlicher Überlieferung.14 Der erste Punkt soll zunächst anhand der lateinischen Lazaruslegende vorgestellt werden, in der entfaltet wird, wie das Jenseits beschaffen ist, das Lazarus schaut, und wo bzw. wann es heilsgeschichtlich zu verorten ist. Im Zentrum der folgenden Analyse steht die Jenseitsdarstellung der ‚Visio Lazari‘ im Überlieferungskontext des Berliner Ms. Lat. Quart. 374, in der Lazarus auf spezifische Weise im Spannungsfeld von ‚Ge­ sicht und Handschrift‘ kontextualisiert wird. II. Die ‚Vita beati Lazari‘ Vor dem Hintergrund der biblischen Darstellung erfährt Lazarus in der mittelalterli­ chen Tradition eine große Verehrung.15 Dabei spielt die Nähe zu Jesus eine Rolle, ins­ besondere aber der Verbund der bethanischen Geschwister Maria Magdalena, Martha und Lazarus, die der Legende nach etliche Jahre nach der Passion selbst verfolgt und aus Rom vertrieben werden. Sie landen schließlich in Südfrankreich und beginnen dort zu missionieren, Lazarus wird der erste Bischof von Marseille. Ähnlich wie im Falle seiner berühmten Schwester Maria Magdalena, deren Legende aus unterschiedli­ chen biblischen Marienfiguren zur Konversionslegende modelliert wird,16 ist Lazarus’ Lebenserzählung nicht gefüllt; seine Identität als Heilsmittler verdankt er vielmehr je­ ner Leerstelle, die der Evangelist Johannes so vielsagend auslässt: der Zeitspanne von vier Tagen, in der er nicht unter den Lebenden weilt. Eine selbständige lateinische ‚Passio‘ bzw. ‚Vita beati Lazari‘17 entsteht wahrschein­ lich erst im Hochmittelalter in Zusammenhang mit seiner Verehrung in Marseille.18 Diese Vita bringt die wenigen biblischen Verweise in eine biographische Ordnung: Es wird erzählt, wie Lazarus dadurch bekehrt wird, dass er selbst Zeuge einer wun­ 14 Vgl. die Einleitung zu diesem Band. 15 Vgl Engemann, Lazarus; Kremer, Art. ‚Lazarus‘. 16 Vgl. Nowakowski, Biblische Heilige. 17 Edition in: Gallia christiana novissima 11, Sp. 1–5. Im Folgenden zitiert unter der Sigle VBL. Die ‚Vita‘ findet in deutscher Übertragung auch Eingang in das Legendar ‚Der Heiligen Leben‘ (Der Heiligen Leben 1, S. 16–22). Vgl. Palmer, Visio Lazari, Sp. 408 f., sowie ders., Visio Tnugdali, S. 408, dort jeweils als ‚Passio Lazari‘ bezeichnet. 18 Die ‚Visiones Georgii‘ nennen ein ‚Buch des seligen Lazarus‘, aus dem in den Kirchen des Bistums Marseille von den Strafen der Hölle vorgelesen werde: Item vidit ibi, sicut beatus Lazarus in libro suo, quem fecit de penis purgatorij, qui et comuniter et publice legitur in ecclecijs eius quondam episcopatus. Visiones Georgii, S. 169, 18–20, zit. nach Weitemeier, Visiones Georgii, S. 58–64. Die Passage (nach Bamberg KB. Q III 31a, Bl. 202va) wird auch schon zit. von Voigt, Beiträge, S. 4. Vgl. Palmer, Visio Lazari, Sp. 409.

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dersamen Auferweckung durch Jesus wird.19 Im Anschluss an die Darstellung seiner eigenen Wiederbelebung20 wird geschildert, dass er Jesus in der Pessachwoche in das Haus Simons des Aussätzigen folgt und dort „beim Essen von den Strafen der Hölle erzählt, die er dort gesehen und gehört hat.“21 Zurückgekehrt aus diesen Schrecken solle er nie wieder gelacht haben.22 Seine Erlebnisse in der Zeit des Überganges werden somit zum zentralen Aspekt seiner Heiligenidentität. Was er gesehen hat, wird recht ausführlich geschildert, danach setzt die Vita mit den Verfolgungen und dem Exil in Südfrankreich fort: Lazarus missioniert, lässt sich nach anfänglichem Widerstand zum Bischof weihen und erleidet zuletzt das Martyrium. Um die biblische Leerstelle zu füllen und Lazarus mit einer kohärenten Legende zu versehen, verknüpft die Vita somit unterschiedliche Optionen legendarischen Er­ zählens (conversio, Verfolgung, Mission, das Bischofsamt), wobei die erfahrenen Höl­ lenqualen in der erzählerischen Gestaltung der Legende quantitativ wie auch in der Markierung als einschneidendes Erlebnis hervorgehoben werden.

Et cum esset, ex ordinatione divina, presens in resuscitacione prefati juvenis, de equo falerato descendens, prostrates ad pedes domini Jhesu, conversus est ad Christum. VBL, Sp. 1. 20 Diese wird – mit Anleihen aus dem ‚Evangelium Nicodemi‘ (XX,2–3), hier Johannes Chrysosto­ mos zugeschrieben – zunächst aus der Perspektive des Teufels gezeigt, Lazarus sei auf Ansprache durch Christus aus „meinem Schlund gefahren wie ein Löwe aus der Höhle zur Jagd oder wie der Adler“ (et sic statim Lazarus factus tutus, exivit se sinu meo, sicut leo de spelunca ad venationem, aut sicut aquila exiliens; VBL, S. 1). Vgl. dazu Kremer, Lazarus, S. 144. 21 […] narrabat in mensa penas inferni, quas ibi viderat et audiverat. VBL, Sp. 1. Bernd Weitemeier stellt für die späteren Fassungen eine „hoffnungsstiftende Verlagerung von der Hölle ins Fegefeu­ er“ (Weitemeier, Visiones Georgii, S. 59) fest. In der Handschrift Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 159 (2. Hälfte 14. Jhd.), fol. 253v–254r, wird Lazarus explizit nach Himmel, Hölle und Fegefeuer gefragt: Zu der wirtschaft komen vil juden.niht alein von Jesu wegen/sunder daz si ouch sehen Lazarum.den er von dem tod erkükt het . Di juden paten Lazarum mit allem fleizz . und ernst . daz er in sagt von dem wesen und tune der sel in der vorhell . in der helle . und in dem vegfeuer [Hervor­ hebung durch Verf.]. Und er hub an ob tem tysch als uns scribt iohannes mit tem guldin mund. Und sagt in vil von der pin di/di sel haben in der hell. Di er all ser in gepil[d]et het daz er fürpaz nimer tet lacht. Und wi daz wer daz Lazarus da niht enphenklich leyden het. Doch wann er waz gewesen in der vor hell der heiligen alten veter sagt er in di pin die er het gesehen von der pein der helle. – Auch in ‚Der Heiligen Leben‘ (ca. 1400) sind die Straforte ausdifferenziert: Ez schreibt sant Iohannes mit dem guldein munde, di vier tag, di weil Lazarus tot was, daz er die selben weil gar vil leidens vnd pein seh, di die sel heten, die in der vor helle warn vnd in dem vegfeur. (Der Heiligen Leben 1, S. 17). Im ‚Büch­ lein von den peynen‘ (Erstdruck Straßburg: Kistler 1506) wird die Rahmenerzählung noch stärker auf den Authentisierungscharakter der ‚Visio‘ hin zugespitzt: Wann als unser herr jhesus cristus zuo tisch saß. In dem hauß Simonis des vßsetzigen do lazarus auch bey was/von welches erkückung Symon zwifelt/do gebott vnser herr Lazaro das er den menschen die do zu tisch sassen sagen solt die ding so er gessehen/ vnd empfundenn hatte. Do fing Lazarus ane vor in allen/vnd erzalt Alle peinen die herz nach volgen seind. Zit, nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig, Syst. Theol. 937-l. Vgl. zum ‚Büchlein‘, in dem die Jenseitsschau des Lazarus mit der Konversion des Tnugdalus hybridi­ siert und nach den Sieben Todsünden neu geordnet wird, Palmer, Illustrated Printed Editions, ders., Visio Tnugdali, S. 206–209, sowie Kren, Illuminated Manuscripts. 22 Unde, ex horrore ibi concepto, nunquam postea risit. VBL, Sp. 1. 19

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Die Spezifik der Lazaruslegende liegt darin, dass seine Positionierung zwischen den Lebenden und den Toten als eine Form der Heilsmittlerschaft paränetisch und di­ daktisch fruchtbar gemacht wird. Im Rahmen dieses Programmes wird die Jenseitser­ fahrung des Lazarus in Beziehung zu den populären Jenseitsreisen gesetzt, die andere religiöse Experten, nämlich Jesus selbst und der Apostel Paulus, unternommen haben sollen. Erstmals entfaltet wird das im ‚Descensus ad inferos‘, also in dem Teil des apokry­ phen ‚Nikodemus-Evangeliums‘, in dem Jesu Abstieg in die Hölle in der Zeitspanne zwischen Passion und Auferstehung geschildert wird und der eine der wichtigsten Quellen für die mittelalterlichen Jenseitsvisionen bildet.23 In der konkreten Darstellung der Höllenorte greift die ‚Vita Lazari‘ auf eine Redak­ tion der ‚Visio Pauli‘ zurück24 und betont dabei den Aspekt der sinnlichen Wahrneh­ mung des Geschauten. Verbunden durch Formulierungen wie Vidit enim, Et postea vidit, In quo loco vidit, Post hec, vidit werden die unterschiedlichen Strafen in knapper Form aneinandergereiht: brennende Bäume, an denen Sünder aufgehängt werden; glühende Öfen; sieben „Plagen“ (Schnee, Eis, Feuer, Blut, Schlangen, Blitze, Gestank); ein feuriges Rad, ein schrecklicher Fluss, ein dunkler Ort, ein finsterer Brunnen, ein dunkler See.25 Abschließend heißt es, Lazarus habe noch von unendlich vielen ande­ ren Strafen erzählt, die er danach noch gesehen habe, diese werden aber nicht wieder­ gegeben. Es werden somit gut eingeführte Vorstellungen von Straforten des Jenseits lediglich aufgerufen, hier aber nicht in Bezug auf ihre Funktion erläutert. Lazarus habe nämlich die Strafen nicht selbst erfahren müssen, sondern im lymbo patrum lediglich geschaut und darüber berichtet.26 Diese Verortung des Erfahrenen in der den Propheten vor­ behaltenen Vorhölle ist wichtig für das Verständnis von Lazarus als einem Visionär und Mittler zwischen den Zeiten, denn in der Chronologie der Heilsgeschichte bereist Lazarus das Jenseits unmittelbar vor Jesus. Dieser soll ja, so entfaltet es der ‚Descensus‘, erst nach seiner Kreuzigung hinabgestiegen sein und diejenigen alttestamentlichen Gestalten aus der Gewalt des Satan befreit haben, die aufgrund ihres Status als Unge­ taufte in der Hölle verbleiben müssen, bis das Zeitalter der Gnade anbricht. Lazarus erlebt somit den Zustand der Hölle, unmittelbar bevor dies geschieht. Nicht nur er selbst befindet sich damit in einer liminalen Sphäre zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits. Er markiert zugleich auch einen universal-heilsgeschicht­

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Lateinisch seit dem 5. Jhd. handschriftlich bezeugt, vgl. Klauck, Apokryphe Evangelien, S. 118– 131. Redaktion IV, vgl. Palmer, Visio Lazari, Sp. 408. Vgl. Voigt, Beiträge, mit Aufführung der Stra­ fen, S. 9 f. VBL, Sp. 2. Et quamvis ibi Lazarus non sustinuerit penas sensus, tamen existens in lymbo patrum, penas dampnatorum quas ibi viderat, enarrabat. VBL, Sp. 1.

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lichen Status ‚vor der Erlösung‘, an dem das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade verhandelt werden kann.27 Damit steht die ‚Vita Lazari‘ einerseits stabil in der Tradition, ihre spezifische Tem­ poralität wirkt sich aber andererseits auf die Darstellung des Jenseits aus, die in einem gewissen Kontrast zu den mittelalterlichen Jenseitsreisen steht. Diese entwerfen in der Regel das gesamte Spektrum an Jenseitsorten – also Straf- und Lohnorte, Hölle(n) und Paradies(e) – als einen Ordnungsraum, dessen Offenbarung, übermittelt durch den Visionär, der Besserung der Rezipienten dienen soll (und dies durchaus auch schon vor der Dogmatisierung des Purgatoriums im Jahr 1274). Die ‚Vita Lazari‘ ist textgeschichtlich also deutlich nach den prägenden Jenseits­ reisen entstanden, imaginiert aber einen visionären Blick in das Jenseits zu einem Zeitpunkt, bevor andere christliche Heilsbringer dieses betreten haben. Von dieser Zeitstruktur aus erklärt sich nun die spezifische Jenseitsdarstellung der mittelhoch­ deutschen ‚Visio Lazari‘. Die bereits im ‚Johannesevangelium‘ in Bezug auf den Grenz­ gänger Lazarus eingetragenen Ambivalenzen werden hier rekontextualisiert, wenn die ‚Visio‘ nun ausführlich imaginiert, was Lazarus im liminalen Schwellenzustand seiner viertägigen Entrückung gesehen hat. III. Die mittelhochdeutsche ‚Visio Lazari‘ Die mittelhochdeutsche ‚Visio Lazari‘28 ist in fünf bairischen Handschriften aus der 2. Hälfte des 14. und aus dem 15. Jahrhundert überliefert, die unterschiedliche Kontextu­ alisierungen belegen. Neben legendarischen Überlieferungszusammenhängen, die im schon genannten Kontext der Verehrung des Lazarus bzw. der bethanischen Geschwis­ ter zu sehen sind und zu denen insbesondere die früheste Bamberger Handschrift zu rechnen ist,29 finden sich insbesondere eschatologisch-paränetisch ausgerichtete Ver­

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„Daß Lazarus die Väter im Limbus findet, ist die auszeichnende Eigentümlichkeit seiner Vision, ihr historisches Moment (historisch im Sinne der universalen Heilsgeschichte genommen) […] Gewiß ist sie christlich; ihr genaueres Charakteristikum jedoch ist, daß sie noch vor der Heilstat des Erlösers stattfindet. S. Paulus trifft im Jenseits bereits ganz andere Zustände an.“ Voigt, Beiträ­ ge, S. 33. Ediert in: Voigt, Beiträge, S. 86–113. Auch in: Killy, Die deutsche Literatur, S. 32–52, Zitate im Folgenden unter der Sigle VL nach dieser Ausgabe. Vgl. Palmer, Visio Lazari; ders., Visio Tnug­ dali, S. 408f.; Williams-Krapp, Legendare, S. 432. Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 159 (früher E.VII.53) (2. Hälfte des 14. Jhd.) versammelt Texte zu Martha, Lazarus und Maria Magdalena, vgl. Nowakowski, Biblische Heilige, S. 261– 264. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 3973 (3. Viertel 15. Jhd) ist eine Handschrift der ‚Regensburger Legenda aurea‘, die mit der Lazaruslegende aus ‚Der Heiligen Leben‘ auch die ‚Visio Lazari‘ enthält (fol. 67r–72r), vgl. Williams-Krapp, Übersetzungen, S. 267.

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bünde30 aus dem Umfeld der Wiener Pastoraltheologie.31 In ausgeprägter Weise weist die Handschrift Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Lat. Quart. 37432 (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts) auf einen engen Konnex von Höllenvision und Meditation auf das Ende hin, der in Zusammenhang mit ihrer Herkunft zu sehen ist. Nekrologische Einträge lassen eine Entstehung in oder im Umfeld der Kartause Mau­ erbach bei Wien vermuten,33 ein Besitzeintrag aus dem 17./18. Jahrhundert verortet die Handschrift in der Kartause Buxheim. Im Rahmen dieses Kodex ist die ‚Visio Lazari‘ in eine lateinisch-deutsche Kompilation ‚Memento mori‘ eingefügt, die dem Wiener Grundbuchverwalter und Ratsherrn Stephanus Lang (gest. 1420) zugeschrieben wird und „das Thema des nur unzureichend auf den Tod vorbereiteten Menschen“34 behan­ delt. Die Kompilation besteht aus dem lateinisch-deutschen ‚Spruch der Engel‘, dem Exempel ‚Gute Meinung von dem Sünder‘ sowie der ‚Memoria improvisae mortis‘, einer „textnahen Bearbeitung von Seuses Horologium sapientiae II.2“35. Hier wird, im

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Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1396 (1. Hälfte des 15. Jhd.) enthält ver­ schiedene Exempla und Legenden (Hiob, Tobias, Maria Aegyptiaca, Elisabeth) sowie paräneti­ sche Texte. Insbesondere in der unmittelbaren Umgebung der ‚Visio Lazari‘ wird über die Kon­ texte die Höllendarstellung in einen Zusammenhang mit der Reflexion von Werksgerechtigkeit und Sündhaftigkeit gebracht: Voran steht eine Anselm von Canterbury zugeschriebene Gebets­ betrachtung zum Jüngsten Gericht (Siech vor so nit vollich werden geoffenbart all mein poshait So nit schain werden chimmt all mein sünd. Nicht allein der werck Sunder auch der gedenkchen und der wort. Berlin, mgf 1396 fol. 182va), im Anschluss an die ‚Visio‘ (fol. 183rb–189va) folgt ein Gedicht Peter Su­ chenwirts zu den Sieben Todsünden. Vgl. Williams-Krapp, Übersetzungen, S. 267 (Anm. 42). München, Bayrische Staatsbibliothek, Cgm 534 (2. Hälfte 15. Jhd.) enthält vor der ‚Visio Lazari‘ un­ ter dem Titel ‚spigel menschlichs hails‘ eine wohl eigenständige, unikal überlieferte Übersetzung des ‚Speculum humanae salvationis‘. Vgl. Stork/Wachinger, ‚Speculum humanae salvationis‘, Sp. 61 f. Diese Fassung der ‚Visio‘ ist der Berliner Handschrift Ms. Lat. Quart. 374 „nahe verwandt“, vgl. Schipke, Handschriften, S. 471. „Die Spezifik der Wiener Schule ist über ihre damalige ‚Modernität‘ hinaus in ihrer utilitas-Fokus­ sierung und ihrem auf Alltagstauglichkeit gerichteten Praxisbezug zu sehen. Dieser wird auch in der Orientierung an den Bedürfnissen der laikalen Rezeption deutlich. Ihnen wird eine überaus verständliche katechetische und erbauliche Theologie geboten, die ebenso hierarchiekonform wie frei von jeglicher theologischen Spekulation ist.“ Wolf, Hof, S. 255. Zu Gattungen der Wiener Schule, die „Tod und Jenseits“ reflektieren, vgl. ebd., S. 159 f., sowie Haberkern, ‚Wiener Schule‘. Zur Ars moriendi s. Glassner, German Ars moriendi. Beschreibung in: Schipke, Handschriften; Voigt, Beiträge, S. 42–47. Vgl. auch Schiewer, Visio Lazari (deutsch). Schipke, Handschriften, S. 469. Zum „geistig-religiöse[n] Leben“ und literarischen Aktivitäten in der Kartause vgl. Hantschk, Geschichte, S. 57–60. Hantschk weist hier auch auf Beziehungen zur Wiener Schule und direkte Kontakte Heinrichs von Langenstein nach Mauerbach hin (ein bruder Ulrich kartuser übersetzt Heinrichs ‚Speculum animae‘ ins Deutsche, ebd., S. 59), die auf ein für eschatologische Kompilationen produktives Umfeld verweisen. Glassner, Lang, Stephanus, Sp. 909. Vgl. dies., German Ars moriendi, S. 146–151, mit Beschrei­ bung der Handschriften. Glassner, Lang, Stephanus, Sp. 909. Zur ‚Memoria improvisae mortis‘ vgl. auch Rudolf, Ars moriendi, S. 18 f.; Heinrich Seuses Horologium sapientiae, S. 242 f.; Edition von Spruch, Exempel und dem Beginn der Memoria nach zwei Münchner Handschriften (Cod. lat 7747 und Clm. 23833) bei Cosacchi, Makabertanz, S. 266–268.

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Rahmen kartäusischer Meditation und Sündenreflexion, die Schwellenposition des Lazarus auf spezifische Weise inszeniert und seine heilsgeschichtliche Positionierung ‚vor der Erlösung‘ im Spannungsfeld von Gesicht und Handschrift refunktionalisiert. Die ‚Visio‘ beginnt mit einem ausführlichen Prolog, in dem der Verfasser Gott adres­ siert: got, ich wolts geren das verstan, was trost der mensch auf erd schol han oder wes er sich mag freuen. (VL, V. 13–15)

Er verweist dann auf eine geschrift (VL, V. 24), die ihn sehr erschreckt habe, in der Lazarus gar sentlich ret / von im selb und maint uns all (VL, V. 26 f.). Aufgrund dieses Hinweises nahm der Editor Max Voigt eine verschollene lateinische Prosavorlage an,36 insbesondere weil Anzahl und Beschreibung der in der Visio geschilderten Strafen (fünf ungemach) von der ‚Vita Lazari‘ (die sieben plage nennt) wie auch vom wirk­ mächtigen ‚Elucidarium‘ des Honorius Augustodunensis (bzw. den neun Strafen des dort beschriebenen infernus inferior, der unteren Hölle) abweichen37 und die Straforte in der Visio nicht mit bestimmten Vergehen assoziiert werden. Es ist jedoch nahelie­ gend, dass hier motivische Übernahmen aus beiden Texttraditionen vorliegen, die mit einer veränderten Wirkungsabsicht rekontextualisiert werden.38 Im Rahmen der spe­ zifischen Jenseitsdarstellung der ‚Visio Lazari‘ wird Lazarus als ein Augenzeuge und Jenseitsexperte eingeführt und in eine Reihe von Autoritäten (u. a. Aristoteles, Hiero­ nymus, Augustinus und Bernhard von Clairvaux) gestellt, um seinen anschließenden Visionsbericht zusätzlich mit Geltung zu versehen (VL, V. 36–119). Im Anschluss an diese Authentisierung entwirft der Verfasser ein denkbar pessimis­ tisches Weltbild: Der Mensch sei von snöden sachen chomen (VL, V. 23), er sei von Be­

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Voigt, Beiträge, S. 4. Vgl. Palmer, Visio Lazari, Sp. 409. Das betrifft auch das Verhältnis von ‚Pas­ sio Lazari‘ und ‚Visiones Georgii‘. Weitemeier, Visiones Georgii, S. 60–63, fasst die Diskussion bündig zusammen und bleibt in Bezug auf Vorlagenfragen zu Recht zurückhaltend. Sie entsprechen jedoch, wie Voigt und Gottschall hervorheben, einzelnen Strafen in Elucidarium III.14, vgl. Voigt, Beiträge, S. 32, sowie Gottschall, Elucidarium, S. 66–87, zur ‚Visio Lazari‘ S. 69 und S. 80. Zur Differenzierung in eine untere „Hölle der Verdammten“ und eine obere „Hölle der Erlösbaren“, die auch mit dem limbus patrum identifiziert wird, vgl. Rathjen, Höllenvorstel­ lungen, S. 13. „Doch gerade die geschlossene Übernahme auch nur einer der beiden Strafreihen ist [in den volks­ sprachlichen Darstellungen, Verf.] nicht zu finden. Die Entsprechungen beschränken sich auf Ein­ zeltermini, aus dem Kontext genommene Versatzstücke, die über die Frage der Rezep­tion kaum etwas aussagen können.“ Gottschall, Elucidarium, S. 73. Das entspricht auch Forschungspo­ sitionen, welche die Dynamizität in der mittelalterlichen Gestaltung von Jenseitsräumen hervor­ hebt, vgl. zur Emergenz der Jenseitsräume in dieser Zeit Benz, Gesicht und Schrift, zum Jenseits als einem dynamischen Ordnungsraum Weitbrecht, Welt.

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ginn seiner Existenz an ein Sünder, und wenn er es geschafft habe, die irdischen jamer tage[] (VL, V. 94) zu überstehen, werde er den snöden würmen (VL, V. 88) übereignet. Eine Aussicht auf ein besseres Leben nach dem Tod besteht kaum, denn: mein guttat über ain hohen perch ich überleicht tragen wil, aber der ungenämen ist als vil das ichs mit nichteu chan erheben. Got herr, was schol des menschen leben, schol er hie leiden und dort chlagen? (VL, V. 136–141)

Der Visionsbericht selbst wird durch den Hinweis gerahmt, dass er den Verfasser mit vorcht (VL, V. 153) erfüllt habe und er darüber hart erschrocken (VL, V. 158) sei. Die Darstellung wechselt nun zur Ich-Rede des Visionärs Lazarus. Nach dem willen got des herren und ze lob seinen eren starb ich (schreibt von im Lazarus) des jamerpittern tods unsůss der allen wetagen überzeucht und dem auf erd doch niemt enpfleucht. Von dem ich nicht will seczen gar (und ich vor got auch nicht entar) Wie we und überwe der tůt. (VL, V. 159–167)

Diese schmerzhafte Übergänglichkeit zwischen Tod und Leben wird in den Jenseits­ reisen häufig thematisiert. Zur Markierung dieser Grenzüberschreitung hebt die ‚Visio Lazari‘ auf eine Affizierung aller Sinne ab: Die erste unmittelbare Jenseitserfahrung, die Lazarus schildert, ist infernalischer Lärm. Alle jemals existenten Seelen erheben ihre Stimme und klagen mit sendem don (VL, V. 209), dass Gott sie überhaupt er­ schaffen hat. Im Anschluss an diesen akustischen Auftakt ist das geschaute Jenseits in fünf Zonen unterteilt, die auf unterschiedliche Sinneseindrücke abheben. Die ersten beiden Strafen, Feuer (ab V. 231) und Eis (ab V. 275), betreffen den Tast-, die dritte (Dunkelheit, ab V. 329) den Sehsinn. Die vierte ungemach (ab V. 375) besteht in grässli­ chem Gestank: Dieser Ort ist derart mit Fäkalien angefüllt, das in der diesseitigen Welt keine Handvoll unsaubrichait (VL, V. 389) übriggeblieben ist. Als letzte, schlimmste ungemach (ab V. 431) erblickt Lazarus viele tausend Seelen gefesselt, von Teufeln mit Zangen gefoltert und im Feuer geröstet, die nach dem Tod rufen. Dieser Ort wird als einziger etwas detaillierter beschrieben. Anders als in der Darstellungstradition nach der ‚Visio Pauli‘ bereist Lazarus nicht das Jenseits: Es wird keine Bewegung zwischen einzelnen Wegstationen beschrieben,

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die ungemach sind auch keine Straforte im funktionalen Sinne, sie werden, wie auch in der lateinischen ‚Vita Lazari‘, also nicht danach unterschieden, welche Verfehlungen dort geahndet werden. Vielmehr wird auf die Universalität der Hölle als einem immer­ währenden Zustand abgehoben: Wiederholt begegnet die Formulierung, dass sich in der Hölle maniger můter chind (VL, V. 234) aufhalten: Stets ist die gesamte Menschheit adressiert, keiner kann diesem Inferno entrinnen. Vor diesem Hintergrund fällt – gera­ de im Vergleich zur spröden Darstellung der lateinischen Vita – auf, dass die Erfahrung der Hölle nicht nur aus Sicht des Visionärs, sondern auch in der extensiven Wiederga­ be der Klagen der gequälten Seelen in wörtlicher Rede vermittelt wird: ‚awe‘ wird geschriren vil, des ich nicht gar geschreiben will: doch was solch grisgram an der stat, das jede sel besunder pat got, das er si verderben liess. (VL, V. 319–323)

Die Klagen und Bitten der Seelen adressieren nicht Erlösung, sondern Linderung: In der Dunkelheit bitten die Seelen darum, nur für einen Wimpernschlag etwas Licht sehen zu dürfen. Im Gestank der wol tausent haufen (VL, V. 387) haben die Seelen den Wunsch, lediglich ains adems lanch (VL, V. 397) angenehmere Luft zu atmen. Die ers­ ten vier ungemach generieren somit im Modus der Klage einen Klangraum, der Furcht und Schrecken evoziert. Im Anschluss daran wird in der letzten ungemach die für die ‚Visio Lazari‘ spezifi­ sche Zeitordnung dieses Jenseitsraumes entfaltet. Die Zeitrechnung dieser grundlosen Hölle bemisst sich am empfundenen Ausmaß des Leides: ainer chlagt, funf tausent jar wär sein, das er wär choman dar, ainer tausent, ainer hundert: iederman sich da besundert mit ainer chlag und herczen ser. mich daucht, vier tausent jar und mer wär ich pei den armen waisen. Mich daucht auch das dem selben fraisen Aller jamer wär ungeleich. (VL, V. 509–517)

Selbst Lazarus ist von diesem jamer nicht ausgenommen. Ihm nimmt dauerhaft alle Freude, dass niemand dieser Qual entrinnen kann, nicht einmal die alttestamentlichen Propheten.

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Mein hercz ewicleich swirt, mein sel schreit dick und erchumpt, das niemt sein gut werck haben gefrumpt, weder Abraham noch Ysaac noch Jacoben der gots dients phlag, chunig Daviden noch Jeremie, Zacharie noch Ysaie, Osee, Zophonie den gerechten, und andern vil den gotes chnechten, Danieli, Abacuc propheten, die gotes werck khuntten und retten, das sich die vant all in der hell. (VL, V. 524–535)

Die ‚Visio Lazari‘ markiert den heilsgeschichtlichen Zeitpunkt vor der Erlösung, der mit dem Grenzgänger Lazarus zusammenhängt, noch zusätzlich, indem sie das Schick­ sal der alttestamentlichen Propheten entfaltet, die heilschronologisch ja noch lange vor Lazarus Einblicke in diese Zusammenhänge erfahren haben. Just zu dem Zeitpunkt, zu dem Lazarus von einem Gottesboten ermahnt wird, wieder in seinen Leib zurückzu­ kehren, wird er von einem greise[n] man mit ainem part (VL, V. 580) angesprochen, der sich erkundigt, wann der will sterben, der uns hat verdampt (VL, V. 582): ich hiet auf erd von im ein ampt das ich sagt der werlt das über ain zeit so wird den pas die da selbs liten: nu leid ich auch und pin der sinn ein rechter gauch worden seit sich das verzeucht und die zeit vor anhin fleucht und es nicht laider chan geschehen. (VL, V. 584–591)

Die Propheten, die das Kommen des Messias und die Erlösung der Menschheit schon vor langer Zeit angekündigt haben, müssen angesichts des grenzenlosen Leides, das sie im Limbus erleben, nun an ihren eigenen Prophezeiungen zweifeln. Weitere Männer dringen in Lazarus und fragen nach dem verheißenen Kind, das die Welt erlösen soll: o scholts geschehen, / das ich den scholt ansehen, / den ich vor lang gechundet han! (VL, V. 607–609) Lazarus hat Mitleid mit den Propheten und kann ihnen, ehe er jäh ins Diesseits zurückgerufen wird, eben noch zurufen:

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Ich sag euch, ein chind ist geporen, das tůt der alten e zoren, das nennt sich es sei gotes sun und tůt auch solcheu wunder tůn die chain mensch nie hat getan: (VL, V. 625–629)

Der Raptus der Auferweckung – initiiert durch den Ruf Jesu stand auf, Lazare, und geh herfür! (VL, V. 641), der in keiner legendarischen Bearbeitung fehlt – wird hier für eine dramatische Markierung der Grenze genutzt: Hier die Freude der im Diesseits hinter­ bliebenen Schwestern über die Wiederkehr des tot Geglaubten, dort das unendliche Leiden der Hölle ohne Hoffnung auf die Erfüllung der eigenen Prophezeiungen; eine Hoffnung, die lediglich im Zuruf aus der diesseitigen Welt aufscheint, in der man um die Ankunft des Messias bereits weiß. Zurückgekehrt bleibt Lazarus traurig darüber, das die hell so raine gest, / so weis, so frum hiet in ir. (VL, V. 654 f.) Er beendet seinen Visionsbericht mit der Ermahnung an seine Zuhörer, stets seiner und der Not zu ge­ denken, die er gesehen hat. Die ‚Visio Lazari‘ zeichnet somit ein verheerendes Bild von der Welt und dem Schicksal der Menschen im Jenseits. Die anfangs vom Verfasser aufgeworfene Frage was schol des menschen leben, / schol er hie leiden und dort chlagen? (VL, V. 139–141) kann man nach Lektüre der Vision nur bejahen. Wenn sogar die alttestamentlichen Heils­ künder von den Höllenstrafen betroffen sind, scheint es keinerlei Hoffnung zu geben. Das wirkmächtige Bild eines heillosen Zustandes vor der Erlösung erfährt zusätzliche Geltung, da der Visionär aufgrund seiner eigenen Todeserfahrung über ein exklusives Wissen verfügt: Micht [= mich nicht] wundert das chain mensch wirt fro. das holcz, stain, laub und stro mächten wainen, das scholt heben an und nimmer aufhören lan, wenn es das west, das ich da wais. (VL, V. 547–551)

Lazarus in seiner spezifischen Funktion als Grenzgänger ergänzt und bestätigt so­ mit das im Prolog entworfene Verständnis einer von umfassender Sündhaftigkeit ge­ prägten Welt, hier wie dort. Vor der Folie der ‚Visio Pauli‘ und anderer Jenseitsreisen erscheint dies, blickt man alleine auf die räumliche Jenseitskonfiguration, zunächst radikal, denn diese suchen ja gerade ihren Wissensvorsprung – das Wissen um die Existenz des Paradieses – didaktisch fruchtbar zu machen. Es gehört zur Wirkungsäs­ thetik von Jenseitsreisen, die Schrecken der Hölle genüsslich auszumalen, sie verwei­ sen aber in der Regel zugleich auch stets darauf, was denjenigen in Aussicht steht, die sich immer wohlverhalten haben oder wenigstens Reue empfinden und beizeiten um­

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kehren. Im Kontrast mit der ‚Visio Lazari‘ wird besonders deutlich, dass das didakti­ sche Anliegen dieser Texte maßgeblich davon abhängt, dass neben den Höllenstrafen auch eine Alternative angeboten wird.39 Warum sollte ich mein Leben ändern, wenn mich ohnehin nur der Höllenschlund erwartet? Die ‚konventionellen‘ Jenseitsreisen machen daher nicht zuletzt über die Rückkehr der Reisenden und die Vermittlung des Geschauten deutlich, dass jeder, der den Höllenstrafen entgehen will, dafür noch immer die Weichen stellen kann. Hier werden auf Grundlage der räumlichen Dimen­ sion auch Reflexionen von Zeitlichkeit fassbar, für die das Jenseits in der Konfronta­ tion irdischer und himmlischer Zeitordnungen einen äußerst produktiven Imagina­ tionsraum bietet. Vor diesem Hintergrund wird in der ‚Visio Lazari‘ die auf mehreren Ebenen liminale Position des Visionärs – zwischen den Welten und zwischen den Zeiten – im Rahmen einer Wirkungsästhetik genutzt, die insbesondere die temporalen Ambivalenzen ge­ zielt einsetzt und so unterschiedliche Lesarten ermöglicht: Die ‚Visio‘ kann man, folgt man der Darstellung des Visionärs selbst, zum einen als Medium einer zum Äußersten forcierten Höllenangst verstehen, vor der es kein Entrinnen zu geben scheint, zum an­ deren erzeugt sie auch eine produktive Spannung, indem sie den Moment unmittelbar vor der Auferstehung im – rezipientenseits sicheren – Wissen um das Anbrechen der Gnade inszeniert: Während Lazarus den Propheten zumindest schon die Ankunft des Messias verkünden kann, verfügen die Rezipienten noch über einen zusätzlichen Vor­ sprung, da sie auch um seine Auferstehung wissen. Während die Jenseitsreisen Sünde und Gnade in der räumlichen Durchschreitung von Straf- und Lohnorten aggregieren und anordnen, synchronisiert die ‚Visio Lazari‘ die unterschiedlichen Heilszustände und kann sie somit simultan erfahrbar machen. Diese temporale Konfiguration des Jenseits erfährt nun insbesondere im Hinblick auf die Reflexion der letzten Dinge in der spezifischen Kontextualisierung des Berliner Codex eine geeignete Umgebung, denn in Zusammenhang mit der die Kompilation ‚Memento mori‘ bestimmenden Vergänglichkeitsthematik wird die spezifische heils­ geschichtliche Position der ‚Visio Lazari‘ erneut relevant. Im Nachdenken über die Möglichkeiten einer rechtzeitigen Veränderung des eigenen Heilsstatus, um der Hölle zu entgehen, fokussiert die Frömmigkeits- und Andachtspraxis des späten Mittelal­ ters nämlich zunehmend die Todesstunde. In diesem Zusammenhang steht auch die Integration der ‚Visio Lazari‘ in einen Textverbund, der sich mit den Gefahren eines unzeitigen Todes, zugleich aber auch mit den Möglichkeiten befasst, durch intensive Versenkung und Nachdenken über die Vergänglichkeit unserer ‚snöden‘ Existenz eine Verbesserung des Heilsstatus zu erwirken.

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Das prägt auch schon diejenigen Texte, die noch keine dezidierten ‚Dritten Orte‘ entwerfen, aber über Möglichkeiten der Linderung oder Suspendierung der Strafen nachdenken, vgl. Benz/ Weitbrecht, Otherworld Spaces.

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Die Anlage erscheint planvoll, denn die Reihenfolge der Kompilation ist im Ber­ liner Kodex gegenüber anderen Überlieferungen umgestellt.40 Zunächst ist die latei­ nische ‚Memoria improvisae mortis‘ verzeichnet, das Zwiegespräch eines Sterbenden mit dem Tod, an dessen Anschluss der Tote von einem Dämon in die Hölle geführt wird. Es folgt der ‚Spruch der Engel‘, erst lateinisch, dann in sechs mittelhochdeut­ schen Reimpaarversen, die auf die Flüchtigkeit der irdischen Existenz verweisen: Vns engel wundert alle geleich Daz ir mit fleizz auf erdreich Pawt stet, hewser vnd vesst Vnd seyt doch alle nwr ellent gesst Aber do ir got mit vns ewicleich scholt an schawen Do habt ir chaynen fleis hin ze pawen. Amen.41

Die ‚Visio Lazari‘ setzt auf einem neuen Blatt ein,42 auf das sie abschließende „Amen“ folgt auf derselben Seite (fol. 127v) das Exempel ‚Gute Meinung von dem Sünder‘,43 das in anderen Überlieferungen mit dem ‚Spruch der Engel‘ am Beginn der Kompi­ lation steht. Dieses erzählt von einem dreißigjährigen Mann, der sein Weltleben bit­ ter bereut, als er unvorbereitet stirbt und in die Hölle kommt. Mit einer „gewisse[n] Radikalität“44 eröffnet das Exempel gerade keinen hoffnungsvollen Ausblick, sondern endet mit einem Aufruf an die Rezipienten, rechtzeitig das Leben zu ändern, um nicht zu enden wie der Mann: Mit haissen zehernn twt er chlagen das er in seinen iungen tagen Sein zeit nicht hat rechtleich hat verziert 40 Christine Glassner führt den Berliner Kodex als frühestes Zeugnis und die einzige Kompilation auf, welche von der Reihenfolge Spruch – Exempel – ‚Memoria improvisae mortis‘ abweicht; Glassner, German Ars moriendi, S. 147. Der kartäusische Kontext wirft allerdings Fragen auf, ob sich die Rezeption hier tatsächlich direkt auf eine (in anderen Quellen belegte, heute verscholle­ ne) Tafel im Wiener Stephansdom zurückführen lässt, vgl. dies., Lang, Stephanus, Sp. 908. 41 Die Transkription von Schiewer, Visio Lazari (deutsch), S. 263, habe ich nach der Handschrift leicht modifiziert. Zur Überlieferung von Spruch und Exempel vgl. Eis, Gedicht; Assion, Spruch. 42 Überlegungen zum veränderten Kompilationsprinzip haben zu berücksichtigen, dass der Kodex unvollständig ist. In den Beschreibungen der Handschrift wird nicht erwähnt, dass zwischen den Blättern 114 und 115 eines herausgeschnitten wurde, auf dessen Vorderseite möglicherweise auch Verse verzeichnet waren (8 und 6). Das Blatt wurde offenbar entfernt, bevor die (moderne) Pagi­ nierung vorgenommen wurde. Auch auf Blatt 115, das den Anfang der ‚Visio Lazari‘ enthält, finden sich Schnittspuren. Der ‚Spruch der Engel‘ scheint somit eher einen Abschluss für die ‚Memoria improvisae mortis‘ gebildet zu haben als der ‚Visio‘ thematisch vorangestellt worden zu sein (so Schiewer, Visio Lazari [deutsch], S. 263). 43 Vgl. Assion, Gute Meinung. Edition in: Tod und Sterben, S. 228 f. (Nr. 43) unter dem Titel ‚Mahn­ gedicht an die Vorbereitung auf das jüngste Gericht‘. 44 Assion, Gute Meinung, Sp. 331.

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die im got zu gut beschiert. Er wolt der werlt lob und er erberben Den leit sy nw mit leib vnd sel verderben.45

Die modifizierte Kompilation des Berliner Kodex führt somit eine ganze Reihe von furchterregenden Höllendarstellungen auf und setzt an die Stelle des Ausblicks auf den Lohn einen forcierten Appell zur Verinnerlichung und rechtzeitigen Besserung. Wirkungsvoll platziert zwischen ‚Memoria improvisae mortis‘ und dem Exempel er­ scheint die Radikalität der Höllendarstellung in der ‚Visio Lazari‘ zusätzlich gesteigert, denn das Moment des ‚Beizeiten‘ steht hier niemandem in Aussicht: Ebenso wie dem Sterbenden in der ‚Memoria‘ und den Patriarchen im Limbus eröffnet sich auch dem anonymen Mann im Exempel keine Hoffnung auf Erlösung. Stattdessen wird die Höl­ le als Raum der Erfahrung endlos unerträglichen Leids, das alle Sinne erfasst, entwor­ fen. Und so macht sich auch der Verfasser der ‚Visio Lazari‘, der im Anschluss an den Visionsbericht wieder das Wort ergreift, keinerlei Illusionen darüber, wie es für ihn ausgehen wird, wird ihm nicht göttliche Gnade zuteil:46 Her, nim sel und leib hin wider, wenn mich der tod nu vellet nider: es ist doch vor gewesen dein! Aber mit den wercken mein wais ich laider wo ich hin chäm, wenn es dein genad nicht gnädicleich aufnäm. (VL, V. 773–778)

*** Die Auferweckung des Lazarus, das wird schon in der Darstellung des ‚Johannesevan­ geliums‘ deutlich, wirft zahlreiche Fragen in Verbindung mit der Übergänglichkeit von Tod und Leben, Diesseits und Jenseits auf. Im Vergleich von ‚Vita beati Lazari‘ und ‚Visio Lazari‘ ist deutlich geworden, in welcher Weise die Legende die mit Lazarus ver­ bundenen Ambivalenzen aufgreift und in Bezug zur Heilsgeschichte setzt. Dieser wird 45

Ms. Lat. Quart. 374, fol. 127r. Vgl. Cosacchi, Makabertanz, S. 267 (dort nach München BSB, cod. lat. 7747). 46 Die Erbarmungslosigkeit der ‚Visio Lazari‘ scheint auch schon zeitgenössische Rezipienten irri­ tiert zu haben. Als Kommentar zu den Versen 148–152, die chein parmung, lieb noch gůt (V. 151) für Gottes arme handgetat (V. 148) sehen, ist auf Blatt 117r die folgende Marginalnote eingetragen worden: plasphemia est / letabitur iustus cum viderit vindictum [sic] / non est verum sed falsum. Zit. nach Voigt, Beiträge, S. 41, mit Hinweis auf Ps. 48.11, der offenbar falsch auflöst (nach der Hs.: vindictam). Für den Hinweis danke ich Ruben Herrmann (Bielefeld). Neben V. 154 (Ich han gelesen geschrift verporgen) ist Apocrifa nescit ecclesie eingetragen, vgl. Voigt, Beiträge, S 42.

Vor der Erlösung

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in der ‚Visio‘ als spezifische jenseitige Zeitordnung entfaltet. Die heilsgeschichtliche Positionierung ‚vor der Erlösung‘, wie sie sich bereits in der ‚Vita‘ andeutet, wird hier dazu genutzt, die Höllenangst in didaktischer Absicht noch zu forcieren: Dieses Infer­ num erscheint als eine einzige sinnliche Zumutung, ein hoffnungsloser Abgrund ohne jede Aussicht auf Erlösung. Diese Jenseitsdarstellung wird schließlich im Rahmen der eschatologischen Kompilation refunktionalisiert, denn aus der Kombination mit den übrigen Texten wird deutlich, dass es aus diesem Zustand nur einen Ausweg geben kann: Die göttliche Gnade, auf die auch der Verfasser der ‚Visio‘ hofft. Man kann da­ her – in Kenntnis der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge – das Gesicht des Laza­ rus stets auch als einen Blick in eine vergangene Welt unmittelbar vor dem Anbrechen besserer, gnadenvoller Zeiten verstehen. Ob man sich für die optimistischere Lesart entscheidet oder es für geboten hält, sich meditativ in die grundlose Hölle zu versen­ ken, wird dabei je nach individueller Disposition und Sündenstatus unterschiedlich ausfallen – in jedem Fall wird hier die historisch signifikante Verbindung einer von Defizienz geprägten negativen Anthropologie mit der an Bedeutung zunehmenden Gnadentheologie fassbar, innerhalb der Lazarus, und mit ihm die Inszenierung sei­ ner Vision unmittelbar vor der Erlösung durch die ‚wahre‘ Auferstehung, im Rahmen der eschatologischen Kontextualisierung des Berliner Kodex eine zusätzliche Bedeu­ tungssteigerung erfährt. Bibliographie Quellen Handschriften: Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 159 (früher E.VII.53). Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1396. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Lat. Quart. 374. München, Bayrische Staatsbibliothek, Cgm 534. München, Bayrische Staatsbibliothek, Cgm 3973. Biblia sacra vulgata, hg. v. Michael Fieger / Widu-Wolfgang Ehlers / Andreas Beriger, Bd.5, Berlin/Boston 2018. Büchlein von den peynen. Straßburg: Kistler 1506. Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig, Syst. Theol. 937-l. Der Heiligen Leben, Bd. 1. Der Sommerteil, hg. v. Margit Brand u. a. (Texte und Textgeschichte 44), Tübingen 1996. Heinrich Seuses Horologium sapientiae, hg. v. Pius Künzle (Spicilegium Friburgense 23), Frei­ burg, Schweiz 1977. Tod und Sterben. Lateinische und deutsche Sterbeliteratur des Spätmittelalters, hg. v. Hiram Kümper (Texte zur mittelalterlichen Literatur in Stoffgruppen 1), Duisburg/Köln 2007.

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Gebet, Gesicht, Antlitz Wahrnehmungen des Antlitzes Christi in einem spätmittelalterlichen Gebetbuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen* Gia Toussaint So vielfältig sich die Geschichte des religiösen Erlebens im Mittelalter auch zeigt, phänomenologisch lassen sich zwei unterschiedliche Auffassungen ausmachen, die als charismatischer Individualismus und mystische Frömmigkeit bezeichnet werden können.1 Charismatischer Individualismus betont die Gaben des Heiligen Geistes, die einzelnen Individuen zugedacht werden und ihnen auf diese Weise ein unverwech­ selbares und unwiederholbares Profil geben. Berichten Charismatiker von besonderen Ereignissen wie Jenseitsreisen und Visionen, beruhen diese auf dem Anspruch indivi­ duell verliehenen Charismas – und setzen den Charismatiker gleichzeitig der Prüfung von Kritikern aus, die nach Beweisen für die Echtheit berichteten Erlebens suchen. Anders verhält es sich bei der mystischen Frömmigkeit. Zumindest die spätmittelal­ terlichen Mystiker sind weit davon entfernt, für sich besondere, nur ihnen selbst zuteil gewordene, sie von anderen Gläubigen unterscheidende Gnadengaben zu beanspru­ chen; vielmehr sehen sie alle Menschen mit derselben Seele ausgestattet und vom sel­ ben Wunsch beseelt, die mystische Begegnung mit Christus zu erlangen. Jede gläu­ bige Person hat dieselbe Anlage, dieses Ziel zu erreichen. Das Leben im Kloster, und insbesondere das intensive Erleben der dort gefeierten Liturgie, bieten die günstigste * 1

Für die kritische und anregende Lektüre dieses Beitrages danke ich Dr. Mordechay Lewy, Bonn. Mit dieser Unterscheidung lässt sich ein in der Forschungsliteratur oft beobachtetes, aber nicht prägnant hervorgehobenes Phänomen benennen. In der Darstellung von Dinzelbacher, Deut­ sche und niederländische Mystik, werden ohne deutliche begriffliche Differenzierung zwei Typen des Mystikers unterschieden: die große, für sich stehende Einzelpersönlicheit (S. 13 und S. 140) und die Vertreter einer mystischen Frömmigkeit. Letztere wird zunächst nur von einer klöster­ lichen Elite angestrebt (S. 22), um zuletzt „demokratisiert“ (S. 24) zu einem Massenphänomen (S. 140) zu werden. Die vorliegende Untersuchung eines Gebetbuches zeigt die „demokratisierte“ mystische Frömmigkeit in ihrem konkreten Vollzug in klösterlichem Kontext.

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Grundlage, Christus nahe zu kommen und seine Gegenwart in einer Weise zu erfah­ ren, die visionärem Erleben entspricht oder verwandt ist. In der mystischen Frömmig­ keit stellt sich nicht die Frage nach der Authentizität berichteter Erlebnisse, sondern die Frage nach der richtigen, von der Bibel, der liturgischen und theologischen Tradi­ tion gedeckten Anleitung zu mystischem Erleben. Eine solche, in der Erforschung mittelalterlicher Visionen und Jenseitsreisen bisher nicht berücksichtigte Anleitung findet sich in einem privaten Nonnengebetbuch des 15. Jahrhunderts aus dem Zisterzienserinnenkloster St. Mauritius zu Medingen in der Lüneburger Heide. Dieser Quelle zufolge dienten während der Osterzeit gepflegte in­ tensive Gebets- und Andachtsübungen dem Ziel, das in den Evangelien grundgelegte österliche Offenbarungsgeschehen nachzuerleben, es mit inneren und äußeren Augen wahrzunehmen und mit allen Sinnen bis zum visionären Blick in das Angesicht Christi zu erfahren. Den Rahmen boten das Divinum Officium während Osternacht und Os­ tertag sowie die Früh- und Hauptmesse am Ostersonntag; das Medium zur Entwick­ lung einer personalen Gottesbegegnung sowie der damit verbundenen Generierung innerer Erfahrungen und imaginativ-visionärer Bilder aber war das die Liturgie beglei­ tende, thematisch konzipierte Gebetbuch. Dieses Gebetbuch, heute als MS J 29 in der Dombibliothek Hildesheim aufbe­ wahrt, bildet die Grundlage der vorliegenden Studie.2 Mit 133 Miniaturen, Schmucki­ nitialen und üppiger Vergoldung ist die für die Osterzeit eingerichtete Handschrift die am reichsten ausgestattete der Medinger Überlieferung. Eckdaten wie Provenienz, Datierung und Besitzerin sind gesichert. Das Datum der Fertigstellung, der 11. Septem­ ber 1478, wird im Kolophon auf fol. 212r genannt. Anhand der Datierung ist ablesbar, dass die Handschrift vor Einführung der Klosterreform in Medingen entstanden ist.3 Winheid,4 die Besitzerin, nennt sich selbst auf fol. 118r und ist im Jahr 1481 im Me­

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Die Handschrift wird unter der Sigle HI1 der Medinger Handschriften geführt. Zur Handschrift vgl. die Beschreibung von Giermann/Härtel, S. 177–184. Für das Gesamtverzeichnis der Medin­ ger Handschriften vgl. Henrike Lähnemann auf ihrer Homepage: http://medingen.seh.ox.ac.uk/ index.php/manuscripts/ [abgerufen am 07.05.2021]. Bei manchen Handschriften ist die Zuschrei­ bung nach Medingen nicht gesichert. Weiterhin ist bemerkenswert, dass in Medingen die Über­ lieferungslage für Gebetbücher ausgezeichnet ist. Bücher für den Chordienst sind allerdings nicht erhalten, was mit der Reformation im 16. Jahrhundert zusammenhängen mag. Die Visitationsurkunde ist auf den 4. Februar 1479 datiert. Zur Begründung der Herstellung der Handschrift vor der Klosterreform vgl. Toussaint, Selbstdarstellungen. Fol. 118r: bene fac et sanctifica me indignam famulam tuam Winheydem et omnes amicos et benefactors meos et cunctum populum christianum (tu mir Gutes und heilige mich, deine unwürdige Dienerin Winheyd und alle meine Freunde und Wohltäter und das ganze Christenvolk). Der Eintrag ist unspektakulär in schwarzer Tinte ausgeführt und der Name der Besitzerin durch Zeilenumbruch getrennt: Wi-heydem. Es handelt sich nicht, wie andernorts behauptet, um die Schreiberin. Ein Schreibervermerk im Kolophon fehlt, ebenso Hinweise auf eine Namensnennung im Zusammen­ hang mit scripsit o. ä.

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dinger Konvent nachweisbar.5 Private Gebetbücher zur Osterzeit waren in diesem Kloster nicht singulär. Ein weiteres, in der Text- und Bildüberlieferung weitgehend übereinstimmendes Gebetbuch, heute in Kopenhagen, entstand kurz vorher oder gleichzeitig.6 Zudem ist wenigstens ein weiteres Ostergebetbuch überliefert, das, ähnlich konzipiert, wie das Kopenhagener Exemplar die Schau des Antlitzes Chris­ ti thematisiert.7 Diese Art von Gebetbüchern, in Medingen für einen Zeitraum von mindestens zwanzig bis dreißig Jahren nachzuweisen, spiegelt eine ungebrochene spi­ rituelle Tradition, die durch die Klosterreform nicht beeinträchtigt wurde. Stets wer­ den die Schwestern persönlich angesprochen, auch wenn viele Gebete und Rubriken in den einzelnen Büchern übereinstimmen. Was genau ist der Inhalt des Ostergebetbuchs? Die Hildesheimer Handschrift J 29 gehört zu der bisher nur wenig untersuchten Gattung persönlicher paraliturgischer Gebetbücher. Insgesamt erfasst der Codex den Zeitraum von Karsamstag bis zum Sonntag vor Pfingsten; der Schwerpunkt liegt auf dem Ostersonntag, dessen Gebete und Andachten sich von fol. 32r bis 131v erstrecken. Als die Osterliturgie begleitendes Gebetbuch konzipiert, enthält es Gebete, Meditationen sowie visionäre Vorstellungen und Wahrnehmungen, die parallel zu Ostermesse entfaltet werden, in deutlich gerin­ gerem Umfang auch zum Stundengebet. Es gibt keine Hinweise darauf, wer das Text- und Bildcorpus zusammengestellt hat. Gerade weil aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts mehrere eng verwandte Os­ tergebetbücher aus Medingen überliefert sind, liegt die Vermutung eines Redaktors nahe, der jeder Schwester und damit dem Konvent einen speziellen spirituellen Er­

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In der Medinger Urkunde des sog. Türkenablasses vom 27. Juli 1481 werden zwei Konventualinnen mit demselben Vornamen genannt: Wynheydi Dusterhope und Wynheydi de Wynsen. Eine dieser beiden wird die Besitzerin des Orationale gewesen sein. Urkundenbuch des Klosters Medingen, S. 487 (Nr. 534). Es handelt sich um: Ms Thott 120–8°, Königliche Bibliothek, Kopenhagen. Die Datierung lässt sich nur mit einem terminus ante quem bestimmen: Das Gebetbuch zeigt Nonnen beim Orgelspiel, eine Tätigkeit, die nach Einführung der Klosterreform zumindest für die ersten Jahre nach der Reform untersagt war. Es wird damit vor dem 4. Februar 1479 (Datum der Visitation) entstanden sein, vermutlich noch vor dem Hildesheimer Gebetbuch MS J 29. Im Kopenhagener Gebetbuch wird in demselben Gebet, in dem in der Hildesheimer Handschrift die Besitzerin Winheid genannt wird, auf eine namentliche Nennung verzichtet, sondern nur von einer indigna famula tua (fol. 153r) ge­ sprochen, so dass dieses Gebetbuch keiner Konventualin direkt zugeordnet werden kann. Ein heute im Staatsarchiv Münster aufbewahrtes Medinger Gebetbuch, Msc 301 (M), gleicht in auffälliger Weise ikonographisch dem Hildesheimer Gebetbuch MS J29 (HI1), obwohl das Ora­ tionale aus Münster deutlich später (nach 1494) entstanden sein muss, wie ein Gebet für die erst 1494 eingesetzte Äbtissin auf fol. 22v belegt (zuvor stand eine Priorin dem Kloster vor). Zahlrei­ che Bildmotive wie zum Beispiel die ungewöhnliche Schau des Antlitzes Christi (HI1: fol. 41r; M: fol. 86r) stimmen in beiden Gebetbüchern überein, nur sind die Nonnen in der späteren Müns­ teraner Handschrift mit spitzen Hauben dargestellt, eine Veränderung der Tracht vermutlich nach Einführung der Reform, vgl. Toussaint, Selbstdarstellungen. In der Darstellung des Christusge­ sichts spiegelt sich damit eine Bildtradition, die in Medingen bruchlos aus der Zeit vor der Klos­ terreform bis in die Zeit danach weitergeführt wurde.

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fahrungshorizont der Osterereignisse eröffnen wollte.8 Als Mastermind hinter der ge­ lehrten Text-Bild-Gestaltung wäre etwa ein Propst oder Beichtvater vorstellbar.9 Die Intention des Inhalts des Gebetbuchs ist eindeutig: Es formuliert eine Art Anleitung zu vertieftem religiösen Erleben und zielt auf eine innere, unmittelbar erlebte imagina­ tiv-visionäre Teilhabe der Rezipientin, Winheid, am österlichen Heilsgeschehen. Kon­ zeptionell ist der Text deskriptiv angelegt und leitet Winheid von den Weihevorgän­ gen des Karsamstags über die Osternacht, den Ostertag bis zum Ende der Osterzeit. Strukturiert wird der Text durch Rubriken, die Gebetszeiten, Abschnitte der Messfei­ er oder sonstige Gelegenheiten kennzeichnen und angeben, was jeweils von Winheid (oder dem Konvent) zu bedenken, meditieren, beten, singen oder zu tun ist.10 Eine unbenannte Stimme gibt Anweisungen, die sich an Winheid, aber auch den Konvent richten; mehrheitlich wird Winheid angesprochen; beides kann sich mischen. Sehr oft entstehen Dialoge, wenn Winheid selbst spricht, indem sie z. B. auf Anweisungen der Erzählstimme oder des Auferstandenen reagiert oder selbst (Gebets- oder Für)Bitten gegenüber Maria, Christus oder Christus als sponsus formuliert, wenn sie selbst in die Rolle der Braut (sponsa) schlüpft. Zu den Texten treten zahlreiche, fast immer bas de page gestellte Illustrationen. Dar­ gestellt sind zumeist kirchliche Autoritäten wie Päpste, Kirchenväter, Bischöfe, aber auch weltliches und biblisches Personal sowie Engel, die das im Text ausgebreitete Ge­ schehen aufgreifen und affirmativ oder kommentierend begleiten. Am bemerkenswer­ testen sind Darstellungen, in denen der Konvent oder eine einzelne Nonne auftreten; letztere darf als Vorbild oder Rollenmodell für die Beterin verstanden werden. Diese Darstellungen sind enger und präziser mit dem Text verknüpft und bilden im ergän­ zenden Zusammenklang mit ihm eine vollständige Sinneinheit zur Unterstützung der inneren Prozesse während des Betens und Betrachtens (contemplatio), das sich mit körperlichen und zugleich inneren Augen vollzieht.

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Zur Rollenfigur des Redaktors als hagiographischer Erzähler vgl. Kügler-Race, Frauenmystik, S. 340–356. Es wäre denkbar, dass diese Art von Texten über die Bewegung der Devotio Moderna in den Niederlanden, speziell deren Frauenkommunitäten, inspiriert oder vermittelt wurde. Diese spirituelle Bewegung des 15. Jahrhunderts strahlte von den Niederlanden über die Handelsrouten der Hanse in die Städte Nordeuropas aus und beeinflusste auch die norddeutschen Heideklös­ ter; Bollmann, Influence, S. 231. Bollmann, S. 233 betont, dass „the unio mystica remained the ­highest aim of an ‚inner life‘ that renounced the world“; dazu gehören auch Motive aus der Braut­ mystik, Bollmann, S. 242–244. Auf letzteres verweist die gelegentliche Anrede mit filia, vgl. etwa fol. 53r: O Paschalis deuota filia. Z. B. fol. 117r: Quando descendis in ecclesiam, processionem age in memoriam … (wenn du zur Kirche heruntergehst, mache eine Prozession zum Gedenken …).

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I. Das Antlitz Christi Ostern ist das Fest der Auferstehung, das Fest, an dem Christus sein göttliches Wesen offenbart. Ihn in seiner Göttlichkeit wahrzunehmen, ja ihn sogar schauend zu erfassen, in sein Angesicht zu blicken, ist eine der Zielvorgaben, die im Gebetbuch für die Zis­ terzienserin Winheid entwickelt werden. Bereits in ihrem irdischen Leben soll sie ei­ nen Vorgeschmack auf die himmlische Begegnung mit Christus nach der eigenen Auf­ erstehung bekommen. Was Paulus in 1 Korinther 13,12 ankündigt und im Gebetbuch aufgegriffen wird (fol. 69r; 160r) – „wir sehen jetzt durch einen Spiegel im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“ –, soll Winheid am Ende des Ostertags erfahren: die Schau Christi von Angesicht zu Angesicht.11 Diese exzeptionelle Schau soll der Rezi­ pientin zugänglich gemacht werden; Instrument ist das Gebetbuch. Texte und Bilder führen Winheid von erzählter zu erlebter Vision: Am Ende des Ostertags ist sie in der Lage, in Christi Antlitz zu blicken. Doch ist Winheid weder eine Mystikerin noch ein Visionärin sui generis. Vielmehr wird sie im Verlauf des Gebetbuchs schrittweise, be­ ginnend mit einem Rekurs auf das geschundene Antlitz Christi während der Passion, tief in brautmystisches Gedankengut hineingeführt, das sie sich bis hin zur visionären Schau kreativ aneignen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Motive aus der Pas­ sions- und Brautmystik mit den biblischen Ostereignissen sowie dem Stundengebet und der Messfeier geschickt verknüpft. Bei der Rezeption des Gebetbuchs spielen alle Facetten des Sehvorgangs bis zum visionären Sehen eine entscheidende Rolle. Immer wieder wird an Winheid appelliert, zu schauen: mit körperlichen Augen, Augen des Geistes, der Seele oder des Herzens. Mit seinen textbegleitenden zahlreichen Miniaturen in Deckfarbenmalerei, veredelt mit üppigen Goldauflagen, wird zunächst das körperliche Auge angesprochen. Beson­ ders die textbegleitenden Darstellungen des Konvents oder einer einzelnen Nonne dienen der Betrachterin als Rollenmodell und ziehen sie in das geschilderte biblische, liturgische und visionäre Geschehen hinein. Verstärkt wird die Einbeziehung der Re­ zipientin bei den Darstellungen im Dialog mit Christus oder einem Engel durch ei­ nen Kunstgriff: Die Protagonisten des Zwiegesprächs neigen sich zwar einander zu, schauen sich dabei aber nicht direkt in die Augen. Vielmehr geht ihr jeweiliger Blick zur Betrachterin, deren Blick wiederum in den ihren fällt und so eine direkte Kommu­ nikation zwischen der Beterin und den Dargestellten herstellt (Abb. 4, 5, 6). In der Bewegung durch die liturgischen Feiern des Osterfestes entwickelt sich pa­ rallel zu dem vielschichtigen Sehprozess eine Seelenreise der Rezipientin. Die einzel­ nen Abschnitte der Stunden- und Messliturgie begleiten die Seelenreise der Braut in den Himmel, vor das Angesicht des Auferstandenen. Dabei bildet die Kommunion, die unmittelbare körperlich-sinnlich-geistige Begegnung mit Christus, den Ausgangs­

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1 Kor 13,12: videmus nunc per speculum in aenigmate tunc autem facie ad faciem.

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punkt für die anschließende himmlische, von Motiven der Brautmystik gesättigte Schau, die Vereinigung von Winheids Seele mit Christus. Die unio markiert das Ende der Seelenreise: Winheid verbindet sich als Braut (sponsa) im Brautgemach in Lie­ be mit dem Bräutigam (sponsus), dem Auferstandenen. Der ersehnte Blick in Christi Antlitz findet nun seine Erfüllung. Zeitpunkt dieser Begegnung ist das Ende des Tages, nach der Komplet des Ostertages, kurz vor dem Schlafengehen. Erst jetzt, außerhalb der liturgischen Gebetszeit, an der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen, kommt es in Winheids innerem, zugleich himmlischem Brautgemach zur endgültigen Vereini­ gung von sponsa und sponsus. Von der Sehnsucht nach dem Blick in das Antlitz Christi ist bereits Paulus erfüllt. Im ersten Korintherbrief stellt er das Schauen als künftiges Heilsgut dar: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1 Kor 13,12). Doch Paulus selbst scheint nach diesem Wort bereits über eine im irdischen Leben mögliche, wenngleich eingeschränkte Schau für möglich halten. Davon waren viele Gläubige überzeugt. Besonders die Bewegung der Devotio Moderna, unter deren Einfluss auch die Medinger Zisterzienserinnen standen, propagierte eine schauende Wahrnehmung. Gerhard Zerbolt von Zutphen, ein Autor der Devotio Moderna, emp­ fahl etwa, während der Messe die Passion zu meditieren und sich im Geiste der imitatio Christi hinzugeben.12 Dieser Rat wurde in Medingen ausgiebig befolgt. Der leiden­ de Christus stand den Nonnen stets vor Augen und wird in Medinger Gebetbüchern zur Passionszeit ausführlich geschildert. Reflexe auf Passionsmeditationen finden sich auch in den ersten Teil von Winheids Ostergebetbuchs, und das aus gutem Grund, dient doch das geschundene Antlitz Christi als Folie, vor der das Antlitz des Auferstan­ denen umso strahlender aufleuchtet. Ein am Ostermorgen während der Frühmesse als Anrufung gestaltetes Gebet zu den auferstandenen membra Christi formuliert die Differenz zwischen dem versehrten und dem leuchtenden Antlitz. Passion und Auf­ erstehung werden direkt kontrastiert. Die hohe Bedeutung dieses Gebets ist daran er­ kennbar, dass es mehrfach im Gebetbuch erscheint: zuerst während der Frühmesse, dann als lange ausführlichere, während der Ostermesse („Resurrexi“) zu sprechende Variante im Gebetsanhang gegen Ende der Handschrift (fol. 192r–196v)13 und schließ­ lich in Kurzform auf einem beigelegten Gebetszettel. Betend wendet sich die Nonne den verherrlichten Gliedmaßen zu, auch dem Gesicht, indem sie spricht: Fol. 192v: Sal[ve] (193r) facies regia impiorum sputis illita grauissimis a lapis tumida splen­ didissimo Resurreccionis fulgore decorata tibi dixit cor meum faciem tuam domine re­ quiram conuerte hodie benignissimam faciem tuam misericorditer ad me.14 12 13 14

Schuppisser, Schauen, S. 170. Rubrik auf fol. 192r: Inter auream missam Resurrexi saluta melliflua et rosea membra Resurgentis cristi. Als Resurrexi wird nach dem ersten Wort des Introitus die Ostermesse bezeichnet. Dieser Abschnitt ist der längeren Variante aus dem Gebetsanhang entnommen. Der Text, der im Gebetbuch während der Frühmesse notiert ist, lautet (fol. 49v–50r): Salue facies deliciosissima et

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Sei gegrüßt [193r], königliches Antlitz, beschmutzt vom Gespei der Gottlosen, entstellt von schlimmen Backenstreichen, doch vom hellsten Glanz der Auferstehung geschmückt! Zu dir spricht mein Herz: Dein Antlitz, Herr, will ich suchen (Ps 26 [27],8). Wende am heutigen Tage dein barmherziges Antlitz mir zu!

Die von Winheid selbst ausgesprochenen, aus Psalm 26 zitierten Worte „Dein Ant­ litz, Herr, will ich suchen“ lenken Gebet, Betrachtung und imaginative Anschauung am Ostersonntag. Sukzessive baut sich in ihr im Zusammenklang mit den liturgischen Feiern ein innerlich erfahrenes, durch Miniaturen sichtbar gemachtes Bild des unsicht­ baren Gottessohnes auf, der sich zu Ostern offenbart und dem sie am Ende des Tages visionär begegnen wird (Abb. 1–5). II. Maria als Mediatrix Zunächst bleibt der Auferstandene jedoch den Augen Winheids verborgen. Er er­ scheint vorerst nur der Gottesmutter und danach im Garten Maria Magdalena, die ihn für den Gärtner hält. Um ebenfalls dieses Anblicks teilhaftig zu werden, bittet die Non­ ne Maria (fol. 26r): fac me eum tecum aspicere contemplando (gib mir, dass ich ihn mit dir [Maria] zusammen schauen kann). Unmittelbar vor der Matutin des Ostersonn­ tags geht dieser Wunsch zumindest für die äußeren Augen in Erfüllung. Winheid sieht das Antlitz Christi – als Illumination am unteren Rand von fol. 41r (Abb. 1). Zugleich erhofft sie eine größere Schau, will sie ihn doch mit Hilfe der Gottesmut­ ter auch mit den Augen des reinen Geistes erblicken, den oculis pure mentis. Sie bittet Maria als Individuum, aber zugleich als Teil des Konvents, die Gottesmutter möge sich dafür einsetzen, dass sie „den Glanz des auferstehenden Christus mit den Augen des reinen Geistes betrachten (contemplare)“ können: Fol. 41r: Jocundare et letare, imperatrix egregia, in hac hora deliciosissima, in qua con­ templata es felici et iocundo intuitu speculum oculorum tuorum rediuiuam porcionem carnis tue, tenentem regnum et imperium in celo et in terra, exardessent omnia membra et viscera tua in iubilacione defluente. […] O mater regis inmorta(41v)lis, memor esto nostri in tuis delicijs et optine nobis, vt gloriam cristi Resurgentis mereamur contemplare oculis pure mentis, amen. Frohlocke und freue dich, erhabene Herrscherin, in dieser allersüßesten Stunde, in der du mit glücklichem und frohem Blick den Spiegel deiner Augen, den wiedererstandenen Teil deines eigenen Fleisches betrachtest, den, der die Macht und Herrschaft im Himmel preclarissima, cujus pulchritudinem sol et luna (50r) mirantur, in cujus contemplacione iocundatur tota celestis curia, in quam prospicere cherubin et seraphin sunt delicie, in passione impiorum sputis illita, grauissimis alapis affecta, splendidissimo Resurrectionis fulgore decorata.

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und auf Erden besitzt. Alle Glieder und dein Innerstes entbrennen in dem Jubel, der sich ergießt. … Mutter des unsterblichen Königs, gedenke unser in deiner Wonne und erlange für uns, dass wir verdienen, den Glanz des auferstehenden Christus mit den Augen des reinen Geistes zu betrachten. Amen.

Das anspruchsvolle Text- und Bildarrangement dieser Seite spricht mehrere Ebenen des direkten und indirekten Sehens an, die eng miteinander verwoben sind. Die Miniatur selbst befriedigt Winheids Blick mit körperlichen Augen: Goldstrahlend ins Zentrum der Szene gesetzt, erscheint das Angesicht Christi zwischen Maria und dem Konvent. Maria wendet sich von links, die Nonnen von rechts dem in ein blauge­ fasstes Oval golden gerahmten Antlitz Christi zu. Bei der Goldrahmung handelt es sich nicht um einen Nimbus, sondern um rot akzentuierte goldene Blütenblätter, deren Mittelpunkt das Christusantlitz bildet.15 Umschlossen ist das Blütengesicht von einer Inschrift, die die ikonographisch originelle Darstellung erklärt: In hac florida nocte flos vite florum refloruit (in dieser blühenden Nacht erblühte die höchste Blüte [die Blüte der Blüten] des Lebens).16 Christus ist das neu (aus dem Tod) erwachte Leben, aus­ gedrückt in einer Metapher aus der Natur: der aus der Nacht kommenden, am frühen Morgen eines neuen Tages sich öffnenden Blüte. Was genau sieht Maria, was sehen die Nonnen? Zur Linken des goldblühenden Ge­ sichts steht Maria, sich mit erhobenen Händen ihrem Sohn zuwendend und bezeu­ gend, dass sie bereits in der Lage ist, mehr als nur das gemalte Bild zu sehen (Abb. 1): Ego mater resurgentis exulto delicijs m[ultis] (ich, die Mutter des Auferstehenden, jubele in großer Freude). Maria erkennt den auferstandenen Christus als Spiegel ihrer Augen (speculum oculorum tuorum). Wohl nicht zufällig wirkt das goldene Blütengesicht wie ein kreisrunder Spiegel, auf den Maria blickt und in dem sich Maria und Christus, Mutter und Sohn, im Akt des Sehens, d. h. des Erkennens, ineinander spiegeln.17 Maria 15

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Eine ähnliche Darstellung eines blütenhaften Antlitzes der göttlichen Gestalt, in der allerdings das Antlitz selbst vollständig verdeckt wird und es damit für den Betrachter unsichtbar macht, ist aus ei­ nem anderen Kontext bekannt. In einem Psalterium des 13. Jahrhunderts ist das Gesicht Gottvaters in einer Gnadenstuhl-Darstellung auf diese Weise dargestellt: MS B.11.4, fol. 119r, Cambridge, Trinity College. https://mss-cat.trin.cam.ac.uk/manuscripts/uv/view.php?n=B.11.4#?c=0&m=0&s=0&cv =0&xywh=-2612%2C-208%2C7950%2C4048 [abgerufen am 30.01.2021]. Die Illustration füllt eine D-Initiale von Ps 109 (Vg): Dixit Dominus Domino meo: Sede a dextris meis, donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum (So spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten und ich lege deine Feinde als Schemel unter deine Füße). Die Vorstellung einer Blüte (flos) als Bild für die Gottheit ist in Jes 11,1–2 grundgelegt: Et egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice ejus ascendet. Et requiescet super eum spiritus Domini (Und es wird ein Reis hervorgehen aus der Wurzel Jesses und eine Blüte wird aufsteigen aus seinem Wur­ zelstock. Und der Geist des Herrn wird sich auf ihn niederlassen). Auch Maria wurde mit Bezug auf Sap 7,26 als Spiegel gelesen: „Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts, / der ungetrübte Spiegel (speculum sine macula) von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkom­ menheit.“ Vgl. Schmidt, Identität, S. 243.

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und Christus sind in gewisser Weise eins, denn das wiederbelebte Fleisch ihres Sohnes gilt als Marias eigenes Fleisch. Wie das Angesicht Christi strahlt ihr Kleid in purem Gold – ein offensichtlicher Verweis von ihrer Leiblichkeit auf die Leiblichkeit Chris­ ti, die im Gebetstext schon angesprochen wurde: rediuiuam porcionem carnis tue (den wiedererstandenen Teil deines Fleisches). In der durch massiven Auftrag haptisch er­ fahrbaren Goldauflage, die Mutter und Sohn verbindet, spiegelt sich die immer wieder im Gebetbuch verwendete Kennzeichnung des Ostertages als goldfließend, aurifluus. Golden ist der Tag, goldleuchtend die Körperlichkeit Marias und des Auferstandenen; alles ist vom Goldfluss des Tages ergriffen, geformt, vergoldet. Marias Leiblichkeit wird in den Auferstehungsleib Christi hineingenommen – ein Privileg, dass zunächst nur der Gottesmutter zukommt. Weniger prachtvoll nähern sich von der rechten Seite die Nonnen (Abb. 2); ihnen kommt eine zurückgenommene Rolle zu, erscheinen sie doch lediglich als Anwärterin­ nen auf diese Schau. Im Bild drückt sich zwar keine unmittelbare Hierarchie zwischen Maria und dem Konvent aus, doch durch Farbigkeit und Goldauflagen liegt die Beto­ nung auf Christus und Maria, die im Vordergrund der Szenerie stehen. Die Begegnung des Konvents mit dem Antlitz wirkt dagegen blass. Wird die Präsenz des Konvents nur angedeutet, so erhält die Präsenz Marias Prägnanz durch die volle Leuchtkraft der Farben. Mit den Spruchbändern wenden sich die Nonnen nur an Maria, die Mediat­ rix. Aus der erhobenen rechten Hand der dem Christusgesicht am nächsten stehen­ den Schwester entrollt sich: Gaude, quia tui nati, quem videbas mortem pati (freue dich, denn für dich ist wiedergeboren, den du den Tod erleiden sehen musstest), aus ihrer Linken entspringt: Regina celi et mundi domina (Königin des Himmels und Herrin der Welt). Das Antlitz Christi wird von ihnen (noch) nicht direkt angesprochen, wohl aber werden die Schwestern in eine unmittelbare Beziehung zum Antlitz gesetzt, indem sie sich ihm nähern. Winheids Vorstellung des Antlitzes wird vorerst nur äußerlich über die Miniatur ge­ formt, die innere Erfahrung bleibt auf die Mittlerschaft Marias angewiesen, um deren Hilfe sie betet. Maria verbürgt die Wahrnehmung des Auferstandenen, der sich ihr ge­ zeigt hat. Mit Hilfe des gemalten Bildes werden Winheids imaginäre Kräfte stimuliert und damit der Weg zur unmittelbaren Schau des Antlitzes Christi bereitet. III. Maria Magdalena Einen nächsten Schritt auf der Suche nach dem Antlitz des Auferstandenen vermittelt Maria Magdalena. Nur wenige Seiten weiter während der Matutin als nächste Mittler­ gestalt eingeführt, dient sie als Rollenmodell für Winheid: Fol. 43r: Memorare o deuota anima, quomodo misericors dominus beatam magdalenam, illum super omnia diligentem et anxie querentem, non est passus dilacione fatigari, sed

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suauiter apparuit ei non in passionibus, miserijs, sed rutilans inmortalitatis delicijs. O se­ pulchrum gloriosum, mirum decus seculi [Lied]. In hujus gloriosissime Diei diluculo cum maria magdalena te, sponsum meum amantissimum, queram in tumulo amore cordis se­ dulo, mente queram, non oculo. Gedenke, o fromme Seele, wie der barmherzige Herr die selige Maria Magdalena, die ihn über alles liebt und ängstlich sucht, nicht lange warten ließ, sondern ihr in Milde erschien, nicht leidend, nicht im Elend, sondern wonniglich in strahlender Unsterblichkeit. O herrliches Grab, herrlichster Schmuck der Welt [Lied, angezeigt durch Noten]. In der Morgendäm­ merung dieses herrlichen Tages suche ich dich, mein geliebtester Bräutigam, mit Maria Magdalena im Grab, ich suche dich mit eifriger Liebe des Herzens, im Geiste, nicht mit dem Auge.

Weist zunächst die Erzählstimme Winheid imperativ an, der Begegnung Maria Mag­ dalenas mit Christus im Garten zu gedenken, wechselt nach dem Einschub des Ge­ sangs O sepulchrum gloriosum (O herrliches Grab) die Sprecherposition auf Winheid selbst. In performativer Aneignung formuliert sie die biblisch grundierte Suche Maria Magdalenas für sich und macht sich auf die Suche nach ihrem allerliebsten Bräutigam (amantissimus sponsus): queram in tumulo amore cordis sedulo, mente queram, non oculo (ich suche dich mit eifriger Liebe des Herzens, im Geiste, nicht mit dem Auge). Ihre geistige Suche wird in zweifacher Weise unterstützt: mit einem kurzen Gebet an Maria Magdalena sowie einer Illustration auf der folgenden Seite (fol. 43v, Abb. 3). Winheid spricht Maria Magdalena als Botin des Auferstandenen an, als Herrin und Zeugin des Ostertags sowie als erste Sterbliche, die auf der Erde als würdig erachtet wurde, die wahre Sonne zu sehen. Sie möge sich als Fürbitterin für Winheid einsetzen, damit schließlich beide gemeinsam Christus im Himmel sehen können: Fol. 43v: Ad sanctam mariam magdalenam, Resurgentis nunciam. Aue precordialissima maria magdalena, paschalis es domina, teste ewangelista. Celsi meriti femina maria mag­ dalena, que verum solem Resurgentem ab inferis videre meruisti prima mortalium in ter­ ris. Optine tuis sacris precibus, vt nos visu (44r) sue maiestatis tecum letificare dignetur in celis.18 An die heilige Maria Magdalena, die Botin des Auferstandenen. Sei gegrüßt, herzaller­ liebste Maria Magdalena, du bist die Herrin des Ostertags, Zeugin und Botin; eine Frau, des Himmels würdig, die als erste (weibliche) Sterbliche auf der Erde als würdig erachtet wurde, die wahre Sonne zu sehen, die aus der Hölle aufersteht. Erlange durch deine heili­ gen Gebete, dass wir uns freuen dürfen, ihn in seiner Majestät mit dir im Himmel zu sehen.

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Der biblische Bezug findet sich in Mk 10,16 und Joh 20,17.

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Als erste unter den Sterblichen (prima mortalium) und Sünderin eignet sich Maria Magdalena besonders als Rollenvorbild, deren Begegnung mit Christus Winheid in der Noli me tangere- Szene am unteren Seitenrand vor Augen steht. Indem Winheid die biblische Begegnung im Garten memoriert, zu Maria Magdalena betet und zugleich die Miniatur betrachtet, wird sie Teil der Offenbarung und kann mit den Augen Mag­ dalenas blicken, wenn sie zum Auferstandenen spricht: Sancte deus, sancte fortis, sancte et im[mortalis], worauf Christus antwortet: Maria / Noli me tangere sed vade et dic fratribus meis (Heiliger starker Gott, heiliger unsterblicher Gott / Maria, rühre mich nicht an! Geh aber hin zu meinen Brüdern und berichte [ihnen]). Maria Magdalena berührt Christus nur mit den Augen, eine physische Berührung wird ihr untersagt. Gleiches gilt für Winheid, nur dass ihr Sehen auf zwei Ebenen stattfindet. Imaginativ schaut sie mit Maria Magdalena, mit körperlichen Augen blickt sie auf die Miniatur, die als se­ parate Szene auf Dauer gestellt ist. Die angestoßene Imagination hingegen ist flexibler, kann sich von der verstetigten Malerei lösen und bereitet Winheid darauf vor, bald selbst in das Antlitz des Auferstandenen zu blicken. IV. Sponsa und sponsus Während ihrer gemeinsamen Suche mit Maria Magdalena spricht Winheid Christus als sponsum meum amantissimum (mein liebster Bräutigam) an. Damit klingt schon während der Matutin ein Motiv an, das im Verlauf des Gebetbuchs, insbesondere in den Gebeten und Meditationen während der Ostermesse, immer stärker in den Vor­ dergrund tritt und am Ende des Ostertags den Höhepunkt erreicht: Winheids in der Nonnenweihe grundgelegtes Selbstverständnis als Braut Christi, die Christus, ih­ ren Bräutigam, liebt. Es entfaltet sich ein visionäres Panorama aus Braut- und Min­ nemystik, wie sie etwa aus Schauungen der Gertud von Helfta bekannt sind.19 Das Braut-Bräutigam-Narrativ kulminiert in der unio, der Vereinigung der Liebenden im Brautgemach, nach der Komplet am Ende des Tages, wenn Winheid sich zur Ruhe bettet. Auf diese Begegnung, in der sie ihren Geliebten, den Auferstandenen, von An­ gesicht zu Angesicht begegnet, wird die Schwester schrittweise vorbereitet. Im Jahreslauf ist dieser Bräutigam nicht in gleicher Weise nahbar. Das Osterfest ist ein Fest besonderer Christusnähe, an dem sich der Auferstandene den Gläubigen zeigt. Am Ostersonntag bietet die Kommunion während der eucharistischen Feier diese Möglichkeit – ein Gedanke, der im Gebetbuch aufgegriffen, auf das Verhältnis von sponsa und sponsus bezogen und auf das Sehen des Angesichts Christi erweitert 19

Auch wenn bestimmte Motive, wie etwa das Herz als Begegnungsort mit Christus, von Gertrud der Großen stammen, fand im späten Mittelalter eine „Diffusion mystischer Motive in die allge­ meine Frömmigkeit“ statt, die sich nicht mehr auf eine spezielle Quelle zurückführen lassen. Din­ zelbacher, Deutsche und niederländische Mystik, S. 299–303.

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wird. Entsprechend spricht Winheid, wenn sie sich zum Kommuniongang anschickt, den Auferstandenen an,20 er möge ihr erscheinen (fol. 101v): Veni desiderabilis, appare rex amabilis, eternitatis donum (komm, Begehrter, erscheine, lieber König, ewiges Geschenk).21 Die nächste, direkt anschließende Rubrik suggeriert, dass Winheid den König, Christus, bereits sehen könnte, wenn er sich nur zeigte: Intuere ardencius regem glorie et dic: Betrachte mit heißem Begehren den König der Herrlichkeit und sage (fol. 101v): Ostende preclaram faciem, ornantem celi aciem florentem suauitatem (zeige dein leuchtendes Angesicht, das den Himmelsbogen mit blühender Süße schmückt). Mit Veni-Rufen – komm! – wird Christus im Folgenden mehrfach angerufen, zu kom­ men und sein begehrtes Antlitz zu zeigen (fol. 102r). Nachdem Winheid kommuniziert, d. h. Christus empfangen hat, weist eine Rubrik darauf hin, dass damit die Freuden des Himmelreichs – die Begegnung mit Christus bei der eigenen Auferstehung – vor­ weggenommen wurden (fol. 105r): Post perceptas delicias, per quas pregustauimus celestis regnis diuicias (nach dem Empfang der Freudenspeise, durch die wir die Freuden des Himmelreichs vorweggenommen haben). Hat Winheid während der Kommunion tatsächlich in Christi leuchtendes Antlitz geblickt? Der Text liefert bis zu diesem Zeitpunkt dafür kaum Anhaltspunkte; anders die Illustrationen: Sowohl auf fol. 97r (Abb. 4) als auch auf fol. 104r (Abb. 5) kniet eine Schwester vor dem Auferstandenen. Das ikonographische Schema für beide Miniatu­ ren entspricht der Noli me tangere-Szene (fol. 43v, Abb. 3) und scheint bewusst einge­ setzt, denn an die Stelle von Maria Magdalena tritt die Nonne, die nun, wie zuvor Ma­ ria Magdalena, anbetend den Auferstandenen erkennt und die Worte spricht (fol. 97r, Abb. 4): Gloria tibi domine qui surrexisti a mortuis (Ehre sei dir, Herr, der du von den Toten auferstanden bist), worauf Christus antwortet: Erit vobis hic dies memorialis alleluia (dieser Tag wird euch denkwürdig sein, Alleluja). Wenige Seiten weiter (fol. 104r, Abb. 5) wird die Szene variiert und enger an die Kommunion gebunden: Abweichend von der Darstellung auf fol. 97r ergießt sich ein Blutstrahl aus der Seitenwunde Christi in einen auf dem Boden stehenden Kelch – Symbol für das eucharistische Blut, das am Ostertag den Nonnen gereicht wird. Wäh­ rend der Ostermesse empfangen sie zunächst die Hostie, dann den Kelch: Dum sumis poculum vite (während du den Kelch des Lebens zu dir nimmst) wird die Nonne in einer Rubrik direkt angesprochen (fol. 104v), um anschließend zu singen: Cruore eius roseo gustando vivimus deo (wir leben für Gott, indem wir sein rotes Blut schmecken).22 Die Illustration und der kleine Dialog beziehen sich auf die Kelchkommunion: O mira circa nos tue pietatis dig[natio] (oh, welche wundersame uns erwiesene Güte, derer du uns erwürdigt hast), spricht die Nonne, und Christus antwortet: O sponsa ecce patet 20 21 22

ante accedere vis ad Paschale communion (Rubrik, fol. 101v: bevor du dich zum Kommuniongang anschickst). Fol. 101v. Winheid wiederholt damit eine Bitte, die bereits auf fol. 98v ausgesprochen wurde. Die Zeilen stammen aus dem Hymnus ‚Ad cenam Agni providi‘.

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tibi ostium cordis mei ut securum ad me habeas accessum (O Braut, siehe, es steht dir das Tor meines Herzens offen, damit du sicheren Zugang zu mir habest). Im begleitenden Fließtext des Gebetbuchs fasst der Auferstandene die komplexe Beziehung von Sei­ tenwunde, Herz, Gnadenquell und Eucharistie zusammen: Fol. 104r–v: O electa sponsa, accede cum magno trepudio ad glorificatum vulnus (104v) dominici cordis, quod hodie liquefactum est ex ineffabili dulcedine, bibe vinum leticie de vena fontis misericordie. Oh erwählte Braut, eile mit flottem Tanzschritt zur verherrlichten Wunde des Herzens des Herrn, die heute mit unaussprechlicher Süße verflüssigt wurde. Trinke den Wein der Freude aus der Ader des Gnadenquells.

Winheid, von Christus als Braut angesprochen, sieht nun wie zuvor Maria Magdale­ na den goldglänzend gewandeten Auferstandenen. Nach der Kommunion ist sie nicht mehr auf die Augen Magdalenas angewiesen, vielmehr kann sie selbst mit inneren Au­ gen sehen und den Auferstandenen wahrnehmen. Anders als Maria Magdalena, die vom Auferstandenen in die Schranken gewiesen wurde und nur schauen, aber nicht berühren durfte, wird Winheid aufgefordert, zur verherrlichten Wunde des Herzens zu eilen und aus dieser Wunde zu trinken – ein Motiv, das besonders in der Frauenmystik breit belegt ist.23 Der Höhepunkt der Begegnung mit dem Auferstandenen wird zur Komplet erreicht, beim Übergang in die Nacht. Im letzten, unmittelbar vor der Nachtruhe (fol. 128r: antequam vadis ad quiescendum) gesprochenen Gebet soll sich Winheid, als erwählte Braut tituliert, darauf vorbereiten, vom Bräutigam ins königliche Brautgemach geführt zu werden: Antequam vadis ad quiescendum, tu electa sponsa regis inmortalis prepara te, vt possis cum sponso tuo regalem thalamum introire (Bevor du zur Ruhe gehst, du erwählte Braut des Königs, bereite dich vor, damit du mit deinem Bräutigam in das königliche Brautgemach eintreten kannst). Winheid, genauer: ihre hingebungsvolle Seele, wird an diesem Tag zur (Ehe)frau des Lammes (fol. 128v: o deuota anima, hodie vxor agni effecta). Es folgt nun in Parallelität mit dem Gang zur eigenen Bettstatt eine Prozession zum Ehebett des Bräutigams (ad thorum sponsi) in ihrem Herzen: Fol. 128v: Et ecce in nupciali thalamo silicet virginei cordis, quo sponsa sociatur agno im­ maculato, concurrit tota celestis yerarchia cum ymnis et canticis, cum lyris et cytharis ac vniuersis instrumentis musicis. Und siehe, im Brautgemach – nämlich im Herzen der Jungfrau, wo die Braut sich mit dem makellosen Lamme vereint – treffen sich alle himmlischen Hierarchien mit Hymnen und Liedern, mit Leiern und Saitenspiel und sämtlichen Musikinstrumenten.

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Dinzelbacher, Blut Christi, S. 173–178.

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Hatte Winheid zuvor noch aus der Wunde des Herzens Christi getrunken, verbin­ den sich nun die Herzen der Liebenden. Winheids Herz steht im Vordergrund. In ihm vollzieht sich die unio der jungfräulichen Nonne mit Christus, geschildert und imaginiert im erotischen Vokabular der Brautmystik als hochzeitliche Begegnung im Brautgemach. Das Brautgemach im Herzen der Jungfrau ist ihr Erfahrungsraum,24 ein Erlebnisinnenraum, der im Gebetbuch nicht systematisch von der Seele (anima) un­ terschieden wird.25 In beeindruckender visionärer Schau wird dieser Innenraum als ein himmlischer, von musizierenden Engeln und Heiligen bevölkerter Ort mit einem goldenen Palast des Bräutigams vorgestellt, den die Braut nun betreten soll (fol. 130r): O sponsa electa, trit nv in dat … guldene palas dines brudegammes.26 Im Palast kommt es zu einem inti­ men Zwiegespräch zwischen Braut und Bräutigam. Sie umarmend spricht er zu ihr (fol. 130v): Leua nunc oculus tuos, quibus subtraxisti omnes delicias mundi propter me et contemplare in spiritu delicias et amenitates cordis mei (erhebe nun deine Augen! Du hast sie von allen Freuden der Welt um meinetwillen abgewandt, um im Geiste die Freu­ den und Annehmlichkeiten meines Herzens zu betrachten). Nach der Aufforderung des Auferstandenen, die Augen zu erheben, vollzieht sich das Sehen von Angesicht zu Angesicht. Im eigenen, zugleich himmlischen Herzens-Raum, dem Brautgemach, legt die Braut nun ihr Haupt auf das allersüßeste Herz Christi.27 Sie ist nun am Ende ihrer

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Den treffenden Begriff des „Erfahrungsraums Herz“ prägte Spitzlei, Erfahrungsraum Herz. Darin, aber auch in der Schau von Angesicht zu Angesicht gleichen die im Gebetbuch entwickel­ ten Vorstellungen den Berichten der Helftaer Mystikerinnen. Zur Schau von Angesicht zu An­ gesicht vgl. Luislampe, Gottes Antlitz; zum Herzen: Spitzlei, Erfahrungsraum Herz, S. 82 f. Auch in der prominenten Schrift Gertruds von Helfta, dem ‚Legatus divinae pietatis‘, „ist die Ver­ knüpfung der mystischen Ereignisse mit liturgischen Vorgängen und dem persönlichen Gebet“ bekannt; Unger, Interaktion, S. 138 f. Aus Medingen ist keine direkte textliche Überlieferung der mystischen Vorstellungen aus dem Zisterzienserinnenkloster Helfta belegt. Ob sie in Teilen die Grundlage für die im Gebetbuch entfaltete Brautmystik bildete oder ob aus dem reichhaltigen spätmittelalterlichen Reservoir brautmystischer Motive, speziell des Herzens als Brautgemach, geschöpft wurde, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Im 15. Jahrhundert entstanden z. B. Meditationen über die Frage, wie das Brautgemach im Herzen für den Bräutigam vorbereitet sein muss, damit er dort eine Wohnstatt findet – eine Schrift, die in den Niederlanden bei den Gasthu­ iszusters Augustinessen zur Vorbereitung auf die Nonnenweihe diente; vgl. Rudy, How to Prepa­ re, S. 369–375. Zum Motiv des Herzens als Behausung Christi vgl. Hamburger, Nuns as Artists, S. 137–175; ders., On the Little Bed. Die Sprache innerhalb dieses Abschnitts wechselt, oft mitten im Satz, zwischen Niederdeutsch und Latein. Das Ruhen am Herzen Christi ist als Bildmotiv in der sog. Christus-Johannes-Gruppe etabliert, die allerdings aus der biblischen Abendmahlserzählung hervorgeht ( Joh 13,23–25). Dort ist es Johannes, der als Jesu Lieblingsjünger an dessen Brust ruht. Der Kontext ist im Gebetbuch ein deutlich anderer, dennoch ist das Motiv einschlägig, denn nur jene, die Christus liebt, ruhen an seiner Brust. Deshalb diente die Figurengruppe häufig als Andachtsbild, nicht zuletzt in Frauenge­ meinschaften. Ob in Medingen die Christus-Johannes-Gruppe bekannt war, lässt sich nicht verifi­ zieren. Die meisten Bildwerke dieser Art sind aus dem süddeutschen Raum überliefert, was nicht

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Seelenreise angekommen und bestätigt diese Erfahrung, wenn sie mit außerordentli­ cher Süße des Herzens (dicens cum ingenti cordis dulcedine) spricht:28 Fol 131r: Vere hodie intraui terram fluentem lac et mel, quia vidi dominum facie ad faciem et salua facta est anima mea. Hec requies mea in seculum seculi, hic habitabo, quoniam elegi eam. Wahrlich, heute habe ich das Land betreten, wo Milch und Honig fließen, denn ich habe den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen und meine Seele ward heil. Das ist meine Ruhe in alle Ewigkeit, hier wohne ich, denn ich habe es [das Land] erwählt.

Ziel der Seelenreise ist die terra promissionis, das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen, das Heilige Land, das sinnbildlich für den Seelen- und Herzensort steht, den Ort der Gottesbegegnung.29 Im Blick von Angesicht zu Angesicht, facie ad faciem, ist der in 1 Korinther 13,12 genannte Spiegel entfernt, der Blick ins Rätselhafte der Unmittelbarkeit gewichen. Winheid reiht sich mit Maria und Maria Magdalena in den Kreis jener Frauen ein, die Christus in seinem gesamten Wesen schauen und erkennen können. Damit hat sie am Ostertag ihren Bund mit dem auferstandenen Christus erneuert und gefestigt. Am Ende dieses herausgehobenen Tages schläft sie beruhigt in den Armen Christi ein (fol. 131r): Et in hijs sponsa tunc dulciter obdormit (und in diesen [Armen] findet die Braut süßen Schlaf). Wie eine Traumsequenz mutet diese letzte intensive Begegnung mit Christus an, deren traumhaft-visionären Bilder die Nonne in den Schlaf begleiten. Winheids während der Messe – am Beginn des Ostergebetbuchs – formulierter Wunsch, den Auferstandenen von Angesicht zu Angesicht zu sehen, ist der Ausgangs­ punkt für eine Schau des Antlitzes Christi im Brautgemach am Ende des Ostersonn­ tags. Die Suche nach dem Auferstandenen und seinem Angesicht gewinnt im Verlauf des Ostertages mehr und mehr an Kontur. Zunächst handelt es sich für Winheid bei

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heißt, dass sie in Norddeutschland unbekannt waren, z. Zt. ist jedoch die Überlieferungs- und Forschungslage für Süddeutschland eindeutig besser. Fol. 131r: … inclinans capud suum super dulcissimum cor cristi […] dicens cum ingenti cordis dulcedine. Das mystische Unio-Gebet am Ende des Ostertages unterscheidet sich von anderen Gebeten, in denen während des Gebetvorgangs z. B. während einer geistigen Wallfahrt Imaginationen von We­ gen und Orten entwickelt werden. Trotz der gedanklichen Reise und inneren, imaginativen Teil­ nahme an Geschehnissen, bleibt die Betende im Raum orientiert und wird nicht visionär entrückt. Ein Beispiel für eine Kombination von geordneter geistiger Wallfahrt und Gebet liegt etwa im 1436 entstandenen Pilgerführer innerhalb des ‚Geographischen Traktats‘ des Nürnberger Kartäusers Erhart Groß vor. Groß selbst war nie im Heiligen Land und schöpft seinen Text aus Augenzeugen­ berichten und anderweitigen Quellen, z. B. biblischen Ortsbeschreibungen. Sein gesamter Traktat ist Gespinst seiner Imagination, die wiederum Anderen zur Quelle von Heilig-Land-Imaginatio­ nen wird. Strukturiert wird sein Werk durch das Beten des Vaterunsers in Kombination mit dem Abschreiten des Wegs nach Palästina und der Heilsstätten. Die imaginär zurückgelegten Meilen wurden in Gebete umgesetzt: 420 Vaterunser bringen den Betenden direkt zum Heiligen Grab nach Jerusalem. Vgl. dazu Lähnemann, Imaginäre Reise.

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der Schilderung der Ostereignisse und den österlich verwandelten himmlischen Räu­ men um erzählte Wahrnehmung. Appellative Anreden sowie auf sie zugeschnittene Rollenangebote, oft im Zusammenklang mit Illustrationen, ermöglichen es ihr, sich das Geschilderte imaginativ anzueignen, in das Geschehen eintreten und es damit zu bezeugen. Hinzu treten sinnliche Erfahrungen insbesondere während der Kom­ munion, die nicht nur die äußeren Sinne – Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Tasten – bedienen, sondern zugleich innere Sinneswahrnehmungen anregen. Aus der eucharistischen Begegnung entsteht ein neuer, visionär geprägter Erzählraum, den Winheid sich als inneren Heilsraum aneignet. Die eucharistische Begegnung erweist sich als prospektive mise en abyme. Auf fol. 88r–v, während der Vorbereitung auf die Kommunion, wird die Rezipientin in ei­ nen brautmystischen Dialog einbezogen, der sie empor reißt und kurzzeitig entrückt (rapitur): Nachdem der Priester den Friedensgruß Pax domini sit semper vobiscum (fol. 87v) gesprochen hat, wird die Braut ins Brautgemach geführt und sie – Christus und die Braut – werden ein Fleisch: Fol. 87v: Minister cristi pacem populis nunciando dicit: Pax domini sit semper vobiscum. Postea introducta in thalamum efficiuntur duo in carne vna, et ipsam alloquitur hoc nunc „os ex ossibus meis et caro de carne mea“. Et ipsa reuerenter intuens cycatrices vulnerum fixuras clauorum, considerans ipsum speciosum forma pre filijs hominum. Der Diener Christi (= der Priester) kündigt dem Volke den Frieden Christi an, indem er spricht: „Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch.“ Danach wird sie (die Braut) ins Brautgemach geführt und beide werden ein Fleisch, und er (Christus/der Bräutigam) sagt zu ihr: Du bist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleische“ (Gen 2,23). Und sie blickt andächtig auf die Narben der Wunden von den Nägeln, wobei sie ihn anblickt als den, der schöner ist als alle Söhne der Menschen (Ps 45,3).

In einer längeren Rede wendet sich nun der Bräutigam an die Braut, an deren Ende die Braut entrückt wird, schließlich einschläft und im Schlaf der Liebe ihren Bräutigam betrachtet: Fol. 88r: Ardens cor meum, quod erga te semper habeo, nunc tibi aperte demonstro. San­ guinem meum decor de meo tibi do. Spiritum oris mei tibi infundo, quia caritate debrius nil retinere possum. Quid amplius dirupta corporis mei vulnera tibi pandunt, nisi quod totus misericordia sum plenus? Quomodo tibi claudentur ianue celi, cui aperta est porta corporis mei? Tibi nascendo veni, tibi viuendo militaui, tibi moriendo condolui, te res­ urgendo mihi conglorifico. Quid a me amplius requires, factus sum tibi omnia in omni­ bus. Suscipe corpus meum in cibum, sanguinem meum in potum Quid amplius est, quod desideras? Scio quid vis, quid queris, ecce negare nolo, desideras spiritum meum. Accipe spiritum per osculum amoris mei, quia totum, quod est in me, totum possidebis. In isto autem osculo sponsa supra se rapitur et quasi vnus (88v) spiritus cum domino efficitur et

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quicquid tunc p[er]cipit verbis non exprimit, sed dicit: „O quam bonus et suauis est, do­ mine, spiritus tuus“. Tunc illa feruenti desiderio accedens ad mensam summi regis ibique preponitur ac porrigitur ei ille agnus immaculatus, qui tollit peccata mundi. Illa autem reficitur eius sacratissimo corpore et inebriatur illius roseo sanguine, et quasi inebriata so­ poratur et per so[m]pnum amoris contemplatur illum agnum Paschalem, scilicet sponsum suum Jhesum cristum, qui seipsum dedit in refectionem et viaticum peregrinacionis sue, ad fouendum et ad nutriendum, ad confortandum et ad incorporandum. Mein glühendes Herz, das ich zu dir allezeit habe, zeige ich dir nun deutlich. Dir gebe ich mein Blut, meine Zierde. Den Geist meines Mundes gieße ich dir ein, denn, von Liebe trunken (debrius = ebrius), kann ich nichts zurückhalten. „Was weiter eröffnen dir die offe­ nen Wunden meines Leibes, als dass ich von Barmherzigkeit erfüllt bin? Wie könnten dir die Pforten des Himmels verschlossen sein, wo dir die Pforte meines Leibes offen steht? Zu dir bin ich gekommen durch Geburt, für dich habe ich im Leben gekämpft, mit dir habe ich gelitten im Sterben, im Auferstehen verherrliche ich dich mit mir. Was willst du von mir sonst noch, nachdem ich dir alles geworden bin? Empfange meinen Leib als Spei­ se, mein Blut als Trank. Was ist es, das du sonst noch begehrst? Ich weiß, was du willst, worum du bittest, siehe: Ich will es nicht verweigern – du willst meinen Geist! Empfange meinen Geist durch den Kuss meiner Liebe, denn alles, was in mir ist, sollst du ganz besit­ zen. Bei diesem Kuss wird die Braut über sich emporgerissen und gleichsam eines (88v) Geistes mit dem Herrn gemacht, und was sie dann erlebt, sagt sie nicht mit Worten, son­ dern spricht: „O wie gut und süß ist, Herr, dein Geist.“ Dann tritt sie mit heißem Begehren zum Tisch des höchsten Königs; dort wird ihr vorgesetzt und (als Speise) gewährt jenes makellose Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Sie wird also gespeist mit dessen heiligstem Leib und berauscht mit seinem roten Blut, und berauscht schläft sie ein und im Schlaf der Liebe betrachtet sie jenes Paschalamm, nämlich ihren Bräutigam Jesus Christus, der sich selbst zur Speise und als Wegzehrung für ihre Pilgerschaft gibt, zur Erquickung, zur Ernährung, zum Trost und zur Einverleibung (in den Leib Christi).

Ganz eindeutig wird bereits an dieser Stelle mit dem Raptus auf das visionäre Erleben am Ende des Tages und die Vereinigung mit Christus im Brautgemach rekurriert, es gleichsam perspektivisch angekündigt. Die mise en abyme schafft einen Zeiten-Raum, in welchem sich real ablaufende Zeit, liturgische Zeit und himmlische Zeit miteinan­ der verschränken und auf eine ‚erfüllte‘ Ewigkeit verweisen.30 Gleich einer implantier­ ten Kapsel beinhaltet sie alles, was während der bevorstehenden Eucharistie bis zum Ende des Tages geschehen wird. Das mag verwirrend sein, bereitet aber die Rezipien­ tin auf die bevorstehende innere Dynamik des weiteren Tagesablaufs vor.

30

Hier liegt ein mittelalterliches Konstruktionsprinzip vor, dessen Gestalt und Bedeutung Kiening, Zeitenraum, bes. S. 5–7 und S. 25 f. in Bezug auf literarische Werke erörtert. Gleichzeitig verweist er auf die Relevanz des imaginären Zeiten-Raums auch in der Theologie (S. 5).

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Unterstützt wird der kurze Einblick in die himmlische Begegnung zwischen Braut und Bräutigam durch je einen musizierenden Engel auf den Seiten 87v und 88r. Auf fol. 87v schwingt ein Engel zwei Glocken; das Spruchband erläutert: Imnite nunc superi pariter resonate inferi (singt Hymnen, ihr droben [Engel], und stimmt ein, ihr drun­ ten) – ein Text, der auf die Verbindung zwischen Irdischem und Himmlischem ver­ weist. Einen Schritt weiter geht auf der gegenüberliegenden Seite (fol. 88r) der zweite Engel, der in eine Posaune stößt, während er mit der anderen Hand eine Glocke (?) betätigt: Dignus est agnus qui occisus accipere potesta[tem] (würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu empfangen die Macht). Dieses Spruchband zielt nicht nur auf die im Text vom Bräutigam angekündigte (himmlische) Kommunion, sondern zugleich auf die unmittelbar bevorstehende liturgische (irdische) Eucharistie. V. ‚Vision‘ und ‚Erscheinung‘ Wir wissen nicht, ob im Kloster bestimmte Voraussetzungen wie Fasten (während der Passionszeit), Schlafmangel oder intensive Meditation Bedingungen schufen, die visi­ onäres Sehen begünstigen konnten.31 Dass intensive Versenkung ausdrücklich gewollt wurde, geht jedoch nicht nur aus den Gebeten und Meditationen selbst hervor, son­ dern wird am Ende des Gebetbuchs in bildlicher Sprache gesagt: Fol. 211r–211v: Iste liber habet formam mense omnibus delicijs referte, in qua tot fercula sponse (211v) cristi proponuntur, quod dulces meditaciones et oraciones in eo scripte in­ veniuntur. Dieses Buch hat die Gestalt eines Tisches, gedeckt mit allerlei Köstlichkeiten; da werden der Braut Christi so viele Gerichte dargeboten wie dort süße Meditationen und Gebete aufgeschrieben sind.

In Winheids Gebetbuch erscheint der Übergang von erzähltem zu imaginiertem und erlebtem Heilsraum prozesshaft und fließend.32 Sind die Texte und Bilder des Gebet­ buchs eine Instruktion zu visionärem Erleben? Wandelt sich die betende Nonne zur Vi­ sionärin? Diese Fragen machen eine Erkundung des semantischen Feldes von ‚Vision‘ unumgänglich. Dafür kann auf die terminologische Differenzierung zwischen ‚Vision‘ 31 32

Zu den eine Vision begünstigenden körperlichen und seelischen Voraussetzungen vgl. Dinzelba­ cher, Vision und Magie, S. 64–85. Karl Baier begründet dieses Phänomen damit, dass „die Zunahme von Visionen und Visionsbe­ richten mit der Verbreitung von Imaginationsübungen zusammenhängt. Bezeichnenderweise lässt sich etwa im autobiographischen Werk einer Mechthild von Magdeburg nicht immer ausmachen, wo die Meditation aufhört und die Vision beginnt. Auch die Visionsberichte, die Margery Kempe hinterließ, klingen an manchen Stellen wie Paraphrasen von Stellen aus den Meditationes Vitae Christi oder den Passionsmeditationen von Richard Rolle.“ Baier, Meditation, S. 57.

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(visio) und ‚Erscheinung‘ (apparitio) zurückgegriffen werden, die Peter Dinzelbacher vorschlägt.33 Obwohl in den überlieferten Texten selbst nicht einheitlich benannt, ist deren Unterscheidung typologisch deutlich.34 Zum Visionstypus gehören (1) Ekstase oder Traum, (2) die Versetzung in einen anderen Raum, (3) das Sich-Zeigen einer außerweltlichen Macht – eines Engels oder Christus – (4) als visuelles Erlebnis, das sich beschreiben lässt, (5) die Kommunikation mit der sich zeigenden jenseitigen Macht, z. B. das Entgegennehmen einer an den Visionär gerichteten Mitteilung oder Aussprechen einer Bitte an sie. Die Unterschiede zum Erscheinungstypus lassen sich tabellarisch hervorheben: Vision

Erscheinung

Ekstase, Traum

Bewahrung des Tagesbewusstseins

Versetzung in einen anderen Raum

Bewahrung des Umraums

Sich-Zeigen einer überweltlichen Macht

ebenso

visuelles Erlebnis

ebenso

Kommunikation mit der jenseitigen Macht

ebenso

Mehrere Merkmale scheinen dafür zu sprechen, dass Winheid während des Gebrauchs ihres Gebetbuchs zumindest in die Nähe visionsartiger Zustände kam: der Raum­ wechsel – im Gebetbuch: vom Ort des Geschehens, d. h. mehrheitlich dem Nonnen­ chor, zum zeitweiligen Eintauchen in die biblisch vorgeprägten Ereignisse im Garten, wo der Auferstandene sich erstmals zeigt bis hin zur Begegnung im Brautgemach. Das Walten einer überirdischen Macht – im Gebetbuch: das Wirken des auferstandenen Christus, der seinerseits auf Winheid zugeht und dem sie mit allen Sinnen begegnen kann. Die bildhafte Beschreibbarkeit und die Interaktion – im Gebetbuch: die Offen­ barungen während der Kommunion und dem Verweilen im Brautgemach. Von eksta­ tischem oder traumhaftem Erleben finden sich während Stundengebet und Messfeier nur vereinzelt Spuren im Gebetbuch; zumeist scheint Winheid in ihrer gewöhnlichen klösterlichen Umwelt orientiert. Liegt also eher der Typus der ‚Erscheinung‘ vor? Als Erscheinung bezeichnet Din­ zelbacher eine paranormale eidetische Wahrnehmung …, die einem Menschen ohne Verlust der gleich­ zeitigen Sinneswahrnehmung seiner natürlichen Umwelt widerfährt, also ohne Verlust

33 34

Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, S. 67–113, bes. S. 67–83. So vorteilhaft eine typologische Unterscheidung ist, die Übergänge zwischen einer Erscheinung und einer Vision sind oftmals fließend, wie Dinzelbacher selbst konstatiert: „Für viele der Vi­ sionärinnen […] ist es bezeichnend, daß sich aus dem Inhalt der Beschreibung ihres bildlichen Erlebens oft nicht sagen läßt, ob sie eine Erscheinung hatten oder visionär aus ihrer Umwelt ins Jenseits versetzt wurden.“ Dinzelbacher, Visionen des Mittelalters, S. 123.

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des Tagesbewußtseins, ohne Ekstase oder Traum. Während der Visionär sich in einem stark veränderten Bewußtseinszustand befindet, gestaltet derjenige, der eine Erscheinung hat, lediglich einen Teil des Wahrnehmungsfeldes um, erlebt sich also nach wie vor als am selben Ort gegenwärtig. […] Die für Erscheinungen charakteristischen Merkmale sind demnach: Einbruch eines Außerweltlichen, Bewahrung von Tagesbewußtsein und Umraum, bildhafte Beschreibbarkeit und, meist, Offenbarungen, Warnungen und Befehle beziehungsweise Bitten als Inhalt der Kommunikation mit dem Erscheinenden.35

Tatsächlich trifft diese Beschreibung recht genau auf das zu, was im Gebetbuch ge­ schildert wird. Winheid hat Erscheinungen, die ihre Teilnahme an Offizium und Mes­ se wenig beeinträchtigen. Solange sie ihren monastischen Verpflichtungen im Chor als Konventualin nachkommt, ist ihre Wahrnehmung offensichtlich nicht soweit einge­ schränkt, dass sie dem liturgischen Geschehen nicht mehr folgen könnte. Am Ende des Tages tritt jedoch eine signifikante Veränderung ein, die die Frage nach visionärem Erleben erneut aufwirft, denn was nun geschieht, geht über das Phä­ nomen der ‚Erscheinung‘ hinaus. Die Gelegenheit, sich einer traumartigen Vision zu öffnen, bietet sich für Winheid nach der letzten gemeinsamen Gebetszeit (Komplet), jenseits ihrer offiziellen Verpflichtungen, wenn sie sich zur Ruhe begibt. Erst jetzt, am Ende des Ostertages, kann sie sich in einen hypnagogischen, traumähnlichen Zustand begeben, der mit der Schilderung des Eintritts in das Brautgemach beginnt (fol. 128r): Antequam vadis ad quiescendum, tu electa sponsa regis inmortalis prepara te, vt possis cum sponso tuo regalem thalamum introire. Dort wird sie zur Gemahlin des Lammes (fol. 128r): Idcirco, o deuota anima, hodie vxor agni effecta, dispone te ad ista. Sie betritt darauf den goldenen Palast des Bräutigams (fol. 130r): O sponsa electa, trit nv in dat […] guldene palas dines brudegammes, wo sie im Brautgemach ihren Bräutigam, Chris­ tus, von Angesicht zu Angesicht erblickt. Ihre visionäre Schau spiegelt sich in der letzten Illustration des gesamten Gebet­ buchs auf fol. 131r, die diese Phase als Vision ausweist und für Winheid als postvisionä­ re Selbstvergewisserung dient (Abb. 6). In gleicher Weise wie bei den Begegnungen mit dem Auferstandenen kniet sie anbe­ tend auf einer grünen Wiese – das Bildschema wurde unverändert übertragen (vgl. Abb. 4 und 5). Doch steht ihr nicht Christus gegenüber. Ein aus einer Wolke ragender Engel beugt sich zu ihr herab, spricht sie an und deutet beziehungsreich nach oben. Der Dialog bleibt ohne Worte. Was gesagt, welche Antwort gegeben wird, bleibt offen. Obwohl die gesamte Handschrift sorgfältig durchgestaltet ist, bleiben die Nonne und Engel zugehörigen Spruchbänder leer. Ein Versehen? Wohl kaum, denn im weiteren Verlauf wird der Initialschmuck mit Fleuronnée sorgfältig fortgesetzt.

35

Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur, S. 73 f.

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Die letzte figürliche Randillustration markiert einen Einschnitt: das Ende des Oster­ sonntags.36 Und sie markiert zugleich ein besonderes Ereignis: den (äußerlich) wort­ losen Dialog mit einem Engel, der Winheid in andere (himmlische) Sphären führt. Er mag für das Zwiegespräch mit dem geliebten Bräutigam im Brautgemach stehen, das zu intim ist, um in die profane sichtbare Außenwelt getragen zu werden. Die äußerlich stillen, innerlich umso bewegenderen Prozesse der Begegnung mit Christus im himm­ lischen Palast, die Schau seines goldglänzenden Antlitzes, haben ihren verborgenen Ort in der Seele der traumhaft entrückt visionär schauenden Nonne, die nun, am Ende des Tages, in den Schlaf fällt. Winheid ist keine Mystikerin, die, aus eigenem Charisma schöpfend, ohne Anlei­ tung in Ekstase gerät und ihrer klösterlichen Alltagswelt entrückt wird. Wie die an­ deren Nonnen, die sich eines Gebetbuchs bedienen, bedarf sie einer Instruktion und Lenkung, der sie sich anvertrauen kann. Der Redaktor des Gebetbuchs lenkt die be­ tende Nonne schrittweise auf einem Weg der Verinnerlichung durch Karsamstag und Ostersonntag, an dessen Ende sich in der Seele eine himmlische Schau, ein visionäres Panorama entfaltet. Diesen Vorgang bilden auch die Miniaturen ab, die nacheinander die Einbindung der Betrachterin verdeutlichen (Abb. 2–6). Wird zunächst mit den Augen Marias und Maria Magdalenas geschaut, steht die Nonne bald Christus selbst gegenüber, bis sie schließlich wortlos mit einem himmlischen Boten kommunizie­ ren kann. Die Grundlage hierfür bietet eine etablierte Noli me tangere-Ikonographie, die mehrmals variiert wird. Schlüpft die Betrachterin zunächst in die Rolle der Maria Magdalena, die anbetend vor Christus kniet und mit ihm spricht, setzt sie in den nach­ folgenden Miniaturen in persona diesen Dialog fort – und geht damit weit über den Noli me tangere-Dialog Maria Magdalenas im Garten hinaus. Das Zwiegespräch ist nun in der geistigen Welt zu verorten, das ikonographisch rückgebunden ist in einer bib­ lisch fundierten Begegnung: Maria Magdalena vor dem Auferstandenen im Garten. Die Medinger Nonnen sollten nicht in äußerer Gebetsausübung verharren, sondern zu vertieftem religiösen Erleben geführt werden, zu einem Erleben, das, gesteuert über Texte und Miniaturen, zur Wahrnehmung einer ‚Erscheinung‘ und schließlich in vi­ sionäres Schauen und Erleben einmünden darf. Angereichert durch brautmystische Visionselemente werden die beim betrachtenden Gebet entwickelten Imaginationen visionär überschritten. Damit wird die Schwelle aufgehoben, so dass es zu einer tat­ sächlichen Begegnung mit Christus in einer Unio kommt. In Winheids Gebetbuch spielt der von außen stimulierte innere Blick die entschei­ dende Rolle. Im Wechselspiel des Blicks mit körperlichen Augen sowie den Augen des Herzens und des Geistes entstehen Vorstellungen und innere Bilder, die nicht im

36

Auf fol. 131v schließen Gebete zum Ostermontag sowie zur gesamten Osterzeit bis zum 5. Sonntag nach Ostern an (bis fol. 189r). Danach folgen verschiedene Gebete zu einzelnen Anlässen.

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Imaginären verharren, sondern eine eigene Dynamik entfalten und endlich in visions­ artige Wahrnehmungen einmünden. VI. Liturgie und Authentizität An dieser Stelle ist auf die eingangs genannte Unterscheidung zwischen charismati­ schem Individualismus und mystischer Frömmigkeit zurückzukommen. Tatsächlich lassen sich anhand von Winheids Gebetbuch die Züge der mystischen Frömmigkeit ebenso deutlich erkennen wie das Bemühen, den Weg zum mystischen Erleben als von Bibel und theologischer Tradition vorgezeichnet darzustellen. In Winheids Ge­ betbuch gibt es keinen Anspruch auf charismatische Individualität einer besonders und einmalig begnadeten Persönlichkeit. Das Fehlen solcher Individualität zeigt sich schon an dem Umstand, dass Winheids Gebetbuch kein isoliertes Unikat darstellt. Ihr Gebetbuch ist, wie schon erwähnt, nicht das einzige dieser Art aus Medingen. Ob mehrere oder alle Mitglieder des Konvents ein derartiges Gebetbuch hatten, lässt sich nicht mehr nachweisen. Sicher ist jedoch, dass diese Art von Gebetbuch nicht nur für eine individuelle Nonne konzipiert wurde; gleichwohl sollte bei jeder Rezipientin eine persönliche und intensive Wahrnehmung des Osterfestes evoziert werden. Die für ei­ nen Konvent relativ hohe Anzahl überlieferter Gebetbücher mit einer regelrechten Anleitung zur brautmystischen Seelenreise belegt deren Wirksamkeit. Der Weg zum Visionären erwächst aus der Liturgie des gesamten Ostertages und lässt sich als dynamische Spiritualisierung der Liturgie verstehen. Je nach Vermögen und Begabung der Rezipientin führt die brautmystisch inspirierte Unterweisung zur unio mystica. Da die Autorität der Liturgie fest in sich steht, fordert sie keine von au­ ßen herangetragene, von Verdachtsmomenten des Betrugs genährte rational-theolo­ gische Rechtfertigung heraus. Im Fall des Gebetbuchs hat die Liturgie eine Art zwei­ te Sprachform, die ins Emotionale und Visionäre ausgreift. Charakterisiert die erste Sprachspur die offizielle Liturgie mit ihren Texten und Gesängen, die im Gebetbuch vor allem durch Rubriken angegeben und durch den aktuellen Vollzug lebendig ge­ macht werden, legt das Gros der Gebetbuchtexte eine zweite Sprachspur, die mit der Liturgie korrespondiert: Sie leitet die Rezipientin an zu bestimmten, engstens auf das liturgische Geschehen abgestimmten Gedanken, Gebeten und Meditationen. Alle Sta­ tionen des daran entwickelten Erlebens stützen sich auf die Liturgie, die sie grundiert, führt und stabilisiert. Fortlaufend in den Text eingebaute Bibelzitate, vorrangig aus den Evangelien und dem Hohelied, sorgen für eine über die Liturgie hinausgreifende weitere Bindung, nämlich die heilsgeschichtliche Rückbindung an die Autorität der Heiligen Schrift. Hinzu treten die zahlreichen, bas de page gesetzten Illustrationen von Kirchenvätern und -lehrern, Päpsten, Bischöfen und biblischen Gestalten, insgesamt ca. fünfzig Mi­ niaturen. Obwohl ihre Spruchbänder meist nur affirmativ und wenig spezifisch die Be­

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gebenheiten des Ostertages bestätigen oder kommentieren, garantieren auch sie die Verankerung einer zweiten Sprachspur in (zumeist nicht nachweisbaren) autoritativen Schriftzeugnissen. Der Weg zum mystischen Erleben im Medinger Konvent kann beanspruchen, fest und sicher gebahnt zu sein. Winheid – und alle anderen Nonnen, die sich eines ähnli­ chen Gebets- und Meditationsbuches bedienten – wurden angeleitet, diesen gebahn­ ten Weg zu beschreiten. Besonderes, nur individuell verfügbares, einmaliges und damit auch einer besonderen Verifizierung bedürftiges Charisma kommt nicht in den Blick. Liturgie und Gebetbuch sind in Medingen eine Schule der mystischen Spiritualität. Bibliographie Quellen Handschriften: Cambridge, MS B.11.4, Trinity College. Hannover, Ms I 74, Niedersächsische Landesbibliothek (Sigle HV2). Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1). Kopenhagen, Ms Thott 120–8°, Königliche Bibliothek (Sigle K2). Münster, Msc 301, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, V 502 Verein für Geschichte und Alter­ tumskunde Westfalen, Abteilung Münster (Depositum) (Sigle M). Urkundenbuch des Klosters Medingen, bearb. von Joachim Homeyer, Hannover 2006.

Forschungsliteratur Baier, Karl, Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien, Bd. 1, Würzburg 2009. Bollmann, Anne, The Influence of the Devotio Moderna in Northern Germany, in: A Compani­ on to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. v. Elizabeth Andersen / Henrike Lähnemann / Anne Simon, Leiden/Boston 2014, S. 231–259. Dinzelbacher, Peter, Die Visionen des Mittelalters, in: Zeitschrift für Religion und Geistesge­ schichte 30 (1978), S. 116–128. Ders., Das Blut Christi in der Religiosität des Mittelalters, in: ders., Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007, S. 147–180. Ders., Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch, Berlin/Boston 2012. Ders., Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, 2. überarbeitete und wesentlich erweiterte Auf­ lage, Stuttgart 2017. Ders., Vision und Magie. Religiöses Erleben im Mittelalter, Paderborn 2019.

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Giermann, Renate / Härtel, Helmar, unter Mitarbeit von Marina Arnold, Handschriften der Dombibliothek zu Hildesheim, 2. Teil: Hs 700–1050; St. God. Nr. 1–51; Ps 1–6; J 23–95 (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen 9), Wiesbaden 1993. Hamburger, Jeffrey F., Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley 1997. Ders., „On the Little Bed of Jesus“. Pictorial Piety and Monastic Reform, in: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, hg. v. dems., New York 1998, S. 383–426. Kiening, Christian, Zeitenraum und mise en abyme. Zum ‚Kern‘ der Melusinegeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 3–28. Kügler-Race, Simone, Frauenmystik im europäischen Kontext. ‚The Book of Margery Kem­ pe‘ und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2020. Lähnemann, Henrike, Eine imaginäre Reise nach Jerusalem. Der Geographische Traktat des Erhart Groß, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. v. Ri­ carda Bauschke / Sebastian Coxon / Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 408–424. Luislampe, Pia, Gottes Antlitz hülle dich in Licht. Gott und Mensch in der Lichtmetaphorik Gertruds von Helfta, in: Aufbruch zu neuer Gottesrede. Die Mystik der Gertrud von Helfta, hg. v. Siegfried Ringler, Ostfildern 2008, S. 61–74. Rudy, Kathryn M., How to Prepare the Bedroom for the Bridegroom, in: Frauen – Kloster – Kunst. Neue Forschungen zur Kulturgeschichte des Mittelalters, hg. v. Jeffrey F. Hambur­ ger / Carola Jäggi, Turnhout 2007, S. 369–375. Schmidt, Margot, Identität und Distanz. Der Spiegel als Chiffre in der höfischen Dichtung des Mittelalters, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 19 (1978), S. 233–255. Schuppisser, Fritz Oskar, Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittel­ alterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug / Burg­ hart Wachinger, Tübingen 1993, S. 169–210. Spitzlei, Sabine B., Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jahrhundert, Stuttgart 1991. Toussaint, Gia, Die Selbstdarstellungen der Nonnen im Medinger Konvent, in: Die Hambur­ ger Beginen bei St. Jacob im Kontext ihrer Handschriften und Kultur, hg. v. Barbara Mül­ ler / Monika Müller, Stuttgart 2022, S. 339–368. Unger, Helga, Interaktion von Gott und Mensch im ‚Legatus divinae pietatis‘ (Buch II) Ger­ truds der Großen von Helfta. Liturgie – Mystische Erfahrung – Seelsorge, in: Liturgie und Literatur, hg. v. Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl, Berlin/ Boston 2015, S. 133–165.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (Detail).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2 Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (ganzseitig).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3 Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen im Garten: Noli me tangere, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 43v. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen im Garten, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 97r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen, aus dessen Seitenwunde sich ein Blutstrahl in einen Kelch ergiesst, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 104r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor einem Engel, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 131r.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Copyright: Dombibliothek, Hildesheim

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Zwischen Heilsungewissheit, Hoffnungsgewissheit und Sozialkritik Die frühneuhochdeutschen Übersetzungen C und D der ‚Visio Tnugdali‘ im Fassungsvergleich Patrick Nehr-Baseler Jenseitsreisetexte, mit denen im Zuge der Etablierung mentalitäts- und frömmigkeits­ geschichtlicher Forschungsmethoden sich die Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren verstärkt beschäftigt hat, vermitteln dem Leser dem Visionär offenbartes Wis­ sen über die jenseitigen Räume und deren Straf- und Belohnungsmechanismen. So standen im Mittelpunkt ihres Interesses vor allem die Bezüge zur mittelalterlichen Jenseitsvorsorge, also zu den Buß-, Straf- und Lohnorten. Zudem ging es ihr um den historischen Entstehungszusammenhang und die Etablierung des Fegefeuers 1274.1 Die Literaturwissenschaft schenkte zuletzt vornehmlich den antiken Grundlagen und den früh- und hochmittelalterlichen Transformationen der Jenseitsreiseliteratur sowie den frühen volkssprachlichen Fassungen Beachtung. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf die Raumsemantik und das Reisemotiv.2 Spätmittelalterliche Übertragungen von Jenseitsreisen wurden bisher fast aus­ schließlich überlieferungsgeschichtlich untersucht, vor allem die ‚Visiones Georgii‘,

1 2

Für die ältere Forschung vgl. beispielhaft v. a. Spilling, Visio; Dinzelbacher, Vision. Klaus Düwel vergleicht die lateinische ‚Visio Tnugdali‘ mit der norwegischen ‚Duggals leizla‘ und Albers ‚Tundalus‘. Dabei konzentriert er sich v. a. auf die Einflüsse der irischen Mythologie und die Rolle des „Wunderbare[n] und Phantastische[n]“. Zugleich bietet er Ergebnisse zu den Straf- und Lohnorten, die aber nicht wesentlich von der älteren geschichtswissenschaftlichen For­ schung abweichen. Vgl. Düwel, Lohnorte, S. 85–100. Es sind aber dann v. a. Julia Weitbrecht und Maximilian Benz, die diese conversio an dem Durchschreiten des jenseitigen Raumes festmachen können, indem sie einen raumsemantischen Zugang zum Gegenstand wählen. Nicht nur die conversio, sondern auch der Jenseitsraum an sich konstituiert sich ihrer Auffassung nach erst durch die Bewegung Tnugdals und durch den geistigen Nachvollzug seiner Reise durch den Rezipienten. Vgl. Weitbrecht, Welt, S. 155–169; Benz/Weitbrecht, Formierung, S. 229–243; Benz, Ge­ sicht, S. 151–165.

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die ‚Visio Pauli‘ und nicht zuletzt die ‚Visio Tnugdali‘.3 Unter den zahlreichen Jenseits­ visionen erreichte im Spätmittelalter wohl keine eine solche Popularität wie dieser Text – zu diesem Ergebnis kommt Nigel F. Palmer in seiner wegweisenden überlie­ ferungsgeschichtlichen Studie aus dem Jahr 1982 zu den deutschsprachigen und nie­ derländischen Übersetzungen der Vision. Palmer dokumentiert zwölf verschiedene Übersetzungen der ‚Visio Tnugdali‘, die im 12. Jahrhundert ursprünglich auf Latein verfasst wurde. Erste mittelhochdeutsche Fassungen – zum Beispiel die versifizierte Fassung des Alber – folgten schon im 12. und 13. Jahrhundert. Die meisten deutsch­ sprachigen Übersetzungen entstanden aber im späten 14. und im Verlauf des 15. Jahr­ hunderts. Palmer vertritt die These, die Fassungen C und D seien hier am einfluss­ reichsten gewesen. „The indirect transmissions and the numerous medieval allusions to the Visio Tnugdali show that knowledge of the work was widespread – one might say universal – in both lay and religious circles“, urteilt Palmer über die Bekanntheit des Textes im 15. Jahrhundert.4 Trotz dieser Vorarbeiten, weiteren Aufsätzen und einer Edition des ‚Tundalus-D‘ durch Palmer, befindet sich die Untersuchung der spätmittelalterlichen Tun­ dalus5-Bearbeitungen noch in ihren Kinderschuhen.6 Dabei ist die Untersuchung dieser Übersetzungen nicht nur wegen der Reichwei­ te des Textes im 15. Jahrhundert von Bedeutung, sondern auch deshalb, weil sich die Konversionsgeschichte des irischen Ritters Tnugdal/Tundalus, der von einem En­ gel geführt durch verschiedene Jenseitsräume reist und so selbst zu einer Läuterung kommt, im Zuge des Übertragungsprozesses aus dem Lateinischen in die deutsche Volkssprache im 15. Jahrhundert wandelt. Andreas Bihrer hat programmatisch deut­ lich gemacht, dass die Untersuchung [der] beständigen Veränderungen und Transformationen mittelalterlicher Offenbarungstexte […] eine präzise Einsicht in den zeit- und kulturgebundenen Umgang mit zentralen Glaubensinhalten derjenigen Gesellschaften und Gruppierungen [erlaubt], die solche Texte aufzeichneten, bearbeiteten, rezipierten und verwarfen.7

3 Vgl. Weitemeier, Visiones; Jiroušková, Visio; Palmer, Visio. 4 Vgl. Palmer, Visio, S. 1 und S. 363 mit Zitat ebd. Zu den Fassungen aus dem 12. und 13. Jhd. vgl. ebd., S. 33–41. Zur Bedeutung der ‚Visio Tnugdali‘ im späten Mittelalter vgl. zudem Wieck, Visi­ ons, S. 119. Die Popularität der ‚Visio Tnugdali‘ gilt v. a. für das lateinische Europa. Für eine Analyse einer byzantinischen Jenseitsreise vgl. den Beitrag von Rike Szill in diesem Band. Maximilian Benz untersucht in seinem Beitrag zudem die Übersetzung der ‚Visio Tnugdali‘ durch den österreichi­ schen Kartäuser Heinrich Haller. 5 In den frühneuhochdeutschen Fassungen der ‚Visio Tnugdali‘ wird der Jenseitsreisende nicht als Tnugdal, sondern als Tundalus bzw. Tondolus bezeichnet. 6 Für die Edition vgl. Tondolus; vgl. zudem Palmer, Editions. 7 Bihrer, Offenbarungen, S. 241.

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Ein Fassungsvergleich, der die Unterschiede der beiden einflussreichsten frühneuhoch­ deutschen Fassungen C und D aufzeigt und diese frömmigkeitsgeschichtlich kontextu­ alisiert, ermöglicht uns also Einsichten in die verschiedenen rezeptionsästhetischen Po­ tentiale dieser Fassungen, die sich – so wird zu zeigen sein – aufgrund inhaltlicher und formal-struktureller Änderungen auch von den Rezeptionspotentialen der bekannten lateinischen Fassung unterscheiden. Der Vergleich ermöglicht uns Aufschluss über die spezifischen Funktionalisierungen der beiden frühneuhochdeutschen Fassungen.8 Nigel F. Palmer hat einen solchen Versuch im Rahmen seiner überlieferungsge­ schichtlichen Studie und mit Fokus auf aus seiner Sicht besonders repräsentative Handschriften der Vision vor vierzig Jahren schon angestrengt: Seine Referenzarbei­ ten waren damals zwangsläufig andere als heute, berief er sich doch vor allem auf Hui­ zinga und Ariès, um dann die Übersetzungen im Kontext der Sterbekultur und der Bußtheologie des ausgehenden Mittelalters zu verorten.9 Es ist – vor dem Hintergrund all der neuen Entwicklungen in der Forschung zur Frömmigkeitsgeschichte des spä­ ten Mittelalters10 und des Einflusses neuerer methodologischer Ausrichtungen wie der Emotionsgeschichte oder der sensual history11 – aber an der Zeit, die Fassungen erneut zu vergleichen. Dieser Beitrag vertritt die These, dass die Unterschiede zwischen Fassung C und D in der Konzeption des Jenseitsreisenden Tundalus und in der Gestaltung seiner Konversionserzählung so gravierend sind, dass sich unterschiedliche Bearbeitungs­ tendenzen ablesen lassen, die Rückschlüsse auf verschiedene intendierte Leserkreise zulassen. Während Fassung C eine erhebliche Verinnerlichung des Konversionspro­ zesses aufweist, die mit einer Intensivierung der Ansprüche an den Jenseitsreisenden einhergeht (I), lässt sich im Kontrast dazu in Fassung D eine Vereinfachung des Kon­ versionsprozesses erkennen, die mit einer starken Sozialkritik verknüpft wird (II). Die Ergebnisse des inhaltlichen Fassungsvergleichs werden im Anschluss vor dem Hin­ tergrund der überlieferungsgeschichtlichen Daten historisch kontextualisiert. Der Fo­ kus liegt hier weniger auf der handschriftlichen Überlieferung (III) – diese ist durch

8 Vgl. dazu die Einleitung von Julia Weitbrecht und Andreas Bihrer in diesem Band. 9 Vgl. Palmer, Visio, S. 47–56, S. 71–81 und S. 376–382. 10 Hier sind stellvertretend v. a. die Arbeiten von Berndt Hamm zu Frömmigkeitstheologie, Gnadenund Heilsmedialität sowie Bußtheologie zu nennen. Vgl. hierfür den Band Hamm, Religiosität. 11 Die Fülle emotions- und sinnesgeschichtlicher Studien kann und soll hier nicht wiedergegeben werden. Als einführend und bes. einschlägig im Hinblick auf frömmigkeitsgeschichtliche Frage­ stellungen vgl. für die Emotionsgeschichte Boquet/Nagy, Sensibilites, und für die sensual history den Sammelband MacDonald/Murphy/Swann, Sacred. Bisher hat für die ‚Visio Tnugdali‘ le­ diglich Emerson einen sinnesgeschichtlichen Zugang gewählt. Seine Ergebnisse sind allerdings zu einem großen Teil nicht mehr mit aktuellen Tendenzen der sensual history vereinbar, bspw. unter­ scheidet Emerson deutlich zu stark zwischen höheren und niederen Sinnen. Vgl. Emerson, Har­ mony, S. 25. Ohne direkt auf die sensual history zu verweisen, hat jüngst Benz, Einleitung, S. XIIf. und S. XVIf., eine auf (Sinnes-)Wahrnehmung bezogene Analyse des ‚Purgatorium Patricii‘ gebo­ ten.

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Palmer weitestgehend bearbeitet – als vielmehr auf der Überlieferungssituation der Fassungen C und D im Inkunabel- und Frühdruck (IV): Im Buchdruck werden die unterschiedlichen Funktionalisierungen der beiden Fassungen nämlich besonders deutlich. In einem Ausblick (V) wird schließlich darüber reflektiert, inwieweit in der medialen Konstellation des frühen Buchdrucks Beglaubigung und Funktionalisierung von Fassung D in Spannung treten. I. Wandel der Textgestalt in Fassung C: Gewissen, Hoffnung und edification of the senses – das Innere des Jenseitsreisenden Tundalus In der Fassung C12 lassen sich in Bezug auf die bekannte lateinische Fassung13 drei er­ hebliche Unterschiede ausmachen, die allesamt die geistigen Kompetenzen des Jen­ seitsreisenden Tundalus betreffen. Dies zeigt sich erstens zunächst im entscheidenden Moment seines Übergangs von der diesseitigen Existenz zur jenseitigen Existenz im Schwellenraum. Fassung C konzipiert neu, das Bewusstsein für seine Schuld an sei­ nem eigenen Tod ist hier in Tundalus selbst angelegt: Wissent da die sele fuor auß seinem mund / da bekannt sy das sy den todt wol verdie­ net hett mir iren sünden / davon wars ir gewissen her beschwaert / vnd vor vorchten west sy nicht was sy tuon solt oder wa sy hin wolt / vnd saß nider auff iren todten leib […] Also ward die arm sel vmbfangen vnd gepeinigt in irer gewissen [Hervorhebung durch Verf.]) / sy hett kein gedingen mer dann nur auff die goetlichen barmherczikeit.14

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Für die Analyse werden der erste Druck der Fassung C aus dem Jahr 1473 verwendet und das Ex­ emplar aus der BSB München genutzt: BSB München 2 Inc. c. a. 213. Die Druckfassung wurde an den entscheidenden Stellen mit der ältesten erhaltenen Handschrift verglichen. Es konnten dabei keine signifikanten inhaltlichen Änderungen erkannt werden, vgl. Providence (Rhode Is­ land, USA), Brown University, John Hay Library, Ms. German Codex 1, fol. 97vb–99rb (https:// repository.library.brown.edu/studio/item/bdr:658188/ [abgerufen am 29.09.2021]). Für die lateinische Fassung wird die Edition von Hans-Christian Lehner und Maximilian Nix ge­ nutzt, die allerdings nur aus Handschriften des 12. und 13. Jhds. erarbeitet wurde. Vgl. Lehner/ Nix, Einleitung, S. 52 f. Um die Vergleichbarkeit dieser Edition für das 15. Jhd. sicherzustellen, wurde der Text der Edition mit dem lateinischen Druck der Gebrüder Hist abgeglichen. An den für diesen Aufsatz entscheidenden Stellen ist keine inhaltliche Abweichung erkennbar. Vgl. BSB München 4 Inc. s. a. 1808 t. Die Untersuchung der lateinischen Fassungen der ‚Visio Tnugdali‘ des 14. und 15. Jhds. – ob es überhaupt verschiedene Fassungen gibt, wäre eine entscheidende, aber bisher nicht geklärte Frage – stellt dennoch ein schwerwiegendes Forschungsdesiderat dar, was sicherlich auch mit der schlechten Digitalisierungssituation jener Handschriften zu tun hat, die eine lateinische Fassung der Vision aus dem späten Mittelalter enthalten. Die in diesem Aufsatz angegebenen Übersetzungen der lateinischen Passagen sind ebenfalls der Edition von Lehner und Nix entnommen. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 140v–141r. In der lateinischen ‚Visio‘ lautet die Passage vielmehr: Cum, inquit, anima mea corpus exueret et illud esse mortuum cognosceret, reatus sui conscia cepit for-

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In der Präsenz seines unter sich befindlichen, toten Leibes, also im Bewusstsein der Loslösung vom eigenen weltlichen Körper,15 wird Tundalus einer Gewissensprüfung unterzogen. Das Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit macht sein eigenes Gewissen zum Ort seiner ersten Peinigung, die ganz ohne Teufel, Höllenfeuer oder Ähnliches auskommt. Die Einsicht in seine Schuld ruft in seinem Gewissen eine starke Furcht hervor, die ihn rat- und reglos macht. Trotz dieser zunächst scheinbar ausweglosen Si­ tuation kann seine Gewissensprüfung jedoch als geglückt angesehen werden, erkennt Tundalus in seiner Not doch als Lösung das Hoffen auf die Barmherzigkeit Gottes.16 Palmer vertritt die Ansicht, in Fassung C spiele das Thema der göttlichen Barm­ herzigkeit eine geringere Rolle als in den anderen Fassungen.17 Seiner These ist jedoch nur bedingt zuzustimmen: Tatsächlich geht es in Fassung C zwar weniger darum, die Macht der göttlichen Barmherzigkeit selbst zu zeigen, allerdings nimmt der Text dafür die Kraft des Vertrauens auf eben diese in den Fokus. So verzweifelt Tundalus – anders als in der lateinischen Fassung – im Zuge seiner ersten seelenkörperlichen Peinigung in der oberen Hölle nicht an der göttlichen Barmherzigkeit, er ist bloß nahend verzagt.18 Durch diese erste Peinigung, sein damit einhergehendes Sündenbewusstsein und seine Reue, also den Bußprozess, kommt er selbst zu dem Ergebnis, es verdient zu haben, diese Pein ewig leiden zu müssen.19 Tundalus selbst schätzt seine eigene Schuld also so ein, dass sie nicht lediglich eine zeitliche, sondern vielmehr eine ewige Sün­ denstrafe zur Folge haben müsse. Und trotz dieser Erkenntnis verzweifelt Tundalus nicht, sondern hofft weiter auf die Barmherzigkeit Gottes als einzigen Ausweg. Nach

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midare et quid faceret nesciebat. Equidem timebat, sed quid timebat ignorabat. Volebat ad corpus suum redire, sed non poterat intrare; foras etiam ire volebat, sed ubique pertimescebat. Et sic miserrima volutabatur anima reatus sui conscia in nullo confidens nisi in dei misericordia (Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 2, 1–4: „Als, sprach er, meine Seele den Körper verließ und erkannte, dass jener gestor­ ben war, hat sie – sich ihrer Schuld bewusst – begonnen sich zu fürchten und wusste nicht, was sie tun sollte. In der Tat fürchtete sie sich, aber was sie fürchtete, wusste sie nicht. Sie wollte zu ihrem Körper zurückkehren, aber sie konnte nicht hineingehen; sie wollte auch hinausgehen, aber über­ all fürchtete sie sich sehr. Und so überlegte die elendste Seele – sich ihrer Schuld bewusst – hin und her und vertraute auf nichts, außer auf Gottes Barmherzigkeit“). Der Stelle in der lateinischen ‚Visio‘ fehlt das Gewissen als innerer Ort, auch wenn es im Begriff der conscia angelegt ist. Für Überlegungen zum Zusammenhang von Leib und Seele, v. a. in den Rahmenerzählungen hochmittelalterlicher Jenseitsreisetexte vgl. den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. Vgl. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 141r–141v. Palmer, Visio, S. 48. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 144r, fol. 145r. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 145r; Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 7, 33 f.: His et similibus ibi compertis, quid aliud misera, nisi semet ipsam de preteritis accusare et proprias genas pre nimia tristicia et desperation potuit lacerare? Cumque misera reatum suum cognosceret et eternum pro suis meritis se pati suplicium pertimesceret, nescia quo ordine exierat ac se extra bestiam esse sentiebat („Als sie dieses und ähnliches dort erfahren hatte, was konnte die Elende da anderes tun, als sich selbst wegen des Vergangenen anzuklagen und die eigenen Wangen vor übermäßiger Traurigkeit und Verzweiflung zu zerfleischen? Und als die Elende ihre Schuld wahrnahm und sehr fürchtete, dass sie für ihre Vergehen ewige Qual erleiden müsse, war sie irgendwie hinausgegangen und spürte, dass sie sich außerhalb der Bestie befand“).

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dem Ende der Strafe erweist sich Tundalus’ Vertrauen als richtig, bestätigt der Engel ihm doch, eben jener göttlichen Barmherzigkeit sei es zu verdanken, dass Tundalus die Peinigung nur zeitlich erleiden musste. Auch führt er ihm vor Augen, Tundalus habe dieses Verhalten doch am Anfang der Reise selbst verbalisiert. Tundalus’ Vertrauen zeigt sich darüber hinaus auch sprachlich darin, dass er den Engel nicht wie in der la­ teinischen Fassung als einzige Hoffnung, sondern als ewige Hoffnung bezeichnet – eine kleine, aber doch für diesen Zusammenhang evidente Umformulierung:20 Der Engel als handelnde Instanz der göttlichen Barmherzigkeit spendet Trost, weil er das, was in Tundalus bereits im Zwischenraum von Leben und Tod aus der Peinigung des eigenen Gewissens erwachsen war, die Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit als heilsame emotionale Haltung, verifiziert und honoriert. Ein deutlicher Unterschied zur lateinischen Fassung wird zweitens zudem beson­ ders im Zwischenraum von oberer und unterer Hölle erkennbar und damit in der letz­ ten Peinigung, die Tundalus zu erleiden hat. Vom Engel verlassen ist Tundalus voller Furcht, was – wie auch im ersten Zwischenraum nach dem Verlassen seines Körpers – zu seiner Paralyse führt. In der Fassung C verzweifelt Tundalus erneut bloß nahend an der Barmherzigkeit Gottes. Er zeigt auch körperliche Äußerungen dieser emotio­ nalen Haltung: Voller Zorn zerkratzt er sich sein Antlitz. Diese emotionale Haltung versuchen die Teufel, die statt des Engels anwesend sind, in eine für sie vorteilhafte Richtung umzuleiten: Sie spiegeln Tundalus vor, dass der Engel ihn betrogen habe, er keinen Trost und vor allem in Ewigkeit keine Hoffnung mehr haben werde. Sie wol­ len ausnutzen, dass Tundalus an die Grenzen seines Hoffens gekommen ist, und ihn zur Verzweiflung bringen. Doch noch rechtzeitig erscheint der Engel und tröstet ihn, betont die Macht der göttlichen Barmherzigkeit und verkündet Tundalus das Ende seiner Peinigungen.21 Dieser Dreischritt – Tundals eigene emotionale Haltung, die Argumentation der Teufel und das Auftauchen des Engels, das diese ad absurdum führt – ist auch aus der lateinischen Fassung bekannt. Dort jedoch verzweifelt der Jen­ seitsreisende, die Teufel können ihn von der ewigen Absenz göttlicher Barmherzigkeit überzeugen, doch bringt ihm Gott diese dennoch entgegen.22 Während also in den 20 21 22

BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 145r; Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 7, 36. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 152v–153v. Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 12, 4: Videns igitur misera longe se inferiorem esse ab omnobus, quos ante viderat, peccatoribus et suo lumine ac solacio desolatam, quid aliud nisi omnino de die misericordia desperare potuit? („Als die Elende also sah, dass sie weit unter allen Sündern, die sie zuvor gesehen hatte, und von ihrem Licht und Trost verlassen war, was konnte sie anderes tun, außer gänzlich an der Barmherzigkeit Gottes zu verzweifeln?“); ebd., Kap. 13, 9: Nullam consolationem, nullum refugium, nullum videre aut invenire poteris lumen, nullum auxilium, nullam misericordiam amplius sperare valebis („Du wirst keinen Trost, keine Zuflucht, kein Licht sehen oder finden kön­ nen, du wirst keine Hilfe und keine Barmherzigkeit mehr erwarten können“). Nix und Lehners Übersetzung könnte hier insofern angepasst werden, dass man auch „erhoffen können“ lesen könnte, was die lateinische Fassung näher an Fassung C bringt. Allerdings ist die Betonung der Hoffnung auf göttliche Barmherzigkeit dennoch in der Fassung C stärker.

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anderen Fassungen durch diesen Dreischritt die Macht der göttlichen Barmherzigkeit herausgestrichen wird, wird in Fassung C vielmehr die Bedeutung der Hoffnung auf die große göttliche Barmherzigkeit für den Heilsprozess in den Vordergrund gestellt. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins dieser emotionalen Haltung wird in der unte­ ren Hölle nochmals untermauert: Die dort ewig verdammten Seelen werden explizit als jene beschrieben, die kein gedingen in Gottes Barmherzigkeit gehabt hätten.23 Diese Umgestaltungen der Fassung C zeigen eine erstaunliche Nähe zu Trostkonzep­ ten in der Frömmigkeitstheologie des 15. Jahrhunderts. Angefangen bei Gerson, weiter­ geführt bei Autoren wie Dambach und Nider, artikuliert die Frömmigkeitstheologie Trostmechanismen, die auf einer gesicherten emotionalen Haltung gründen. Diese schwankt im Angesicht von Heilsungewissheit produktiv zwischen fruchtbarer Furcht und Hoffnung, ohne jemals in die Verzweiflung abzurutschen. Wichtiges Element ist hier das Gewissen als Ort der Selbst- und somit auch Schulderkenntnis sowie als Syn­ onym für den inneren Menschen als Ganzes. Es ist die Sorge vor der scrupolositas, die die Autoren zu diesem Trost antreibt, in dem Sinne, dass der Skrupel eben jenes Gleich­ gewicht von Hoffnung und Furcht zu stören wisse. Tundalus passt dabei perfekt ins Schema: Die Gefahr der scrupolositas ist bei ihm durch seine negativen Anlagen und gleichzeitig durch sein dann im Jenseits stetig wiederholendes Reuen durchaus gege­ ben. Er fürchtet sich vor den Höllenstrafen – ein timor servilis, die in den Trostbüchern als sinnvolle Vorstufe zum timor filialis verstanden wird. Zugleich verliert er aber nie die Hoffnung auf Barmherzigkeit und damit Gnade: Er verzweifelt nicht. Der Tundalus-C erzählt, wie der Fürchtende eben niemals seine Hoffnung auf die göttliche Gnade auf­ gibt. Angelegt ist diese Hoffnung bereits in seiner eigenen Gewissensprüfung.24 Neben diesen beiden Aspekten – das Gewissen als Ort der Selbstreflexion und die Betonung der heilsspendenden Kraft der emotionalen Haltung der Hoffnung – unter­ scheidet sich die Fassung C von den anderen Fassungen zudem drittens darin, dass sie eine edification of the senses des Jenseitsreisenden erzählt. Mit diesem Terminus fasst die sensual history das in den letzten Jahren herausgearbeitete Ergebnis, dass gerade im religiösen Bereich durch normative, vor allem aber auch erzählende Texte versucht worden sei, die Art und Weise der Sinneswahrnehmung des Lesers zu schulen, in dem zwischen falscher und richtiger Wahrnehmung in den Texten unterschieden wird.25 In diesem Fall lernt Tundalus seine spirituellen oder inneren Sinne heilsam einzuset­ 23

BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 155r. Palmer weist richtig darauf hin, dass einige Stellen über die misericordia in der Fassung C im Vergleich zum lateinischen Text fehlen. Allerdings resümiert Pal­ mer, der Übersetzer sei nicht am Aspekt der Barmherzigkeit interessiert gewesen, vielmehr habe er den Fokus stärker auf den Aspekt der Bestrafung und Verdammung gelegt. Vgl. Palmer, Visio, S. 48. 24 Vgl. zum Verhältnis von Furcht, Hoffnung und Verzweiflung in der Frömmigkeitstheologie der ersten Hälfte des 15. Jhds. Grosse, Heilsungewissheit, S. 40–44. Grosse hat zudem den mittelal­ terlichen Diskurs über die scrupolositas detailliert aufgeschlüsselt. Vgl. ebd., S. 8–34. 25 Vgl. zur edification of the senses den Überblick bei Newhauser, Introduction, S. 12–17.

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zen. Er durchlebt mit seiner Reise somit eine edification of the senses. Dass Tundalus diese Sinne im Diesseits vor seiner Reise nicht gut zur Anwendung führte, wird, wie in den anderen Fassungen auch, verdeutlicht: Er habe Arme weder gerne angesehen noch gehört; vielmehr noch, er habe auf den Rat der Teufel gehört. Den Engel, der ihn sein Leben lang begleitet hat, konnte er nicht wahrnehmen.26 Der Konversionsprozess selbst ist dann eine multisensorische Angelegenheit.27 Die ganze Thematik erhält in C aber doch eine neue Qualität, nämlich in der Gott­ esschau. Die Gottesschau-Konzeption gleicht den anderen Fassungen zunächst, außer dass die Passagen nach der Gottesschau getilgt sind, sodass sie als Höhepunkt und Abschluss der Reise deutlicher wird: Tundalus sieht also alles und erhält auch Wis­ sen.28 Sehen und Wissen werden hier wie üblich verknüpft, doch geht die Fassung C hier einen Schritt weiter. So heißt es: Ir ward auch das verlichen ein soelliche spitzige vernunfft das sy nichtz fragen bedorfft / wann alles das sy wissen wolt das sach sy aygentlich vnd vnverborgen.29 Die entscheidende Veränderung zu den anderen Fassungen besteht darin, dass die Wissensgenerierung hier mit dem Sehen verknüpft wird. Die vernunfft wird der Seele verlichen, aber sie muss den Blick auf die Dinge richten, die sie sehen möchte. Sie muss also selbst aktiv erblicken. Dieser Blick ist dann in einem Modus, in dem nichts mehr verborgen bleibt (vnverborgen) und alles zu sehen ist, wie es wirklich ist (aygentlich). Tundalus lernt also hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare, hinter dem Irdischen das Geistliche zu erkennen.30 26 27

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BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 140r und fol. 141v. In Interaktion mit dem angelus interpres erweisen sich entsprechend Sehen, Sprechen und Zuhö­ ren als entscheidender Prozess der sinnlichen Aufschließung des Jenseits; das Muster ist wieder­ holend. Tundalus erblickt eine Pein oder Belohnung, spricht mit dem Engel, der Engel antwortet und deutet somit das Geschehene für Tundalus aus: Der Engel erzeugt somit Wissen. Tundalus Sehen, Sprechen und Hören gehen damit eine bedeutsame Symbiose ein. Die Peinigungen selbst leben zugleich von einer Multisensorik: Man erblickt die Teufel, hört das Geschrei und Klagen sowie das Zähneknirschen, fühlt zugleich das Knirschen der Zähne, die Schärfe der teuflischen Waffen, Höllenfeuer und Frost und riecht den Gestank des Schwefels. Vgl. Marcus von Regens­ burg, Visio, Kap. 4–23; BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 142r–161r; vgl. für die lateinische ‚Visio‘ zudem Emerson, Harmony. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 160v–161r. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 161r. In der lateinischen Fassung wird der Wissenserwerb durch die Gottesschau folgendermaßen beschrieben: Non solum autem visus, verum etiam scientia dabatur ei insolita ita, ut non esset sibi opus interrogare amplius aliqua, sed omnia sciebat apte et integre, quecumque volebat („Aber es wurde ihr nicht nur der Anblick gewährt, sondern es wurde ihr auch ungewöhnliches Wissen gegeben, sodass sie nichts weiter mehr erfragen musste, sondern korrekt und vollständig alles wusste, was auch immer sie (wissen) wollte“). Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 23, 14. Die frühneuhochdeutsche Übersetzung verbindet somit Sinneswahrnehmung und Wissen deut­ lich stärker als die lateinische ‚Visio‘. Mit dieser kleinen Veränderung bricht die Übersetzung mit der Vorstellung des Augustinus, die Seele könne durch eine Abkehr vom Sinnlichen das wahre Wissen erhalten. Vgl. dazu Vance, God, S. 14. Die Differenz liegt nicht im Akt der Gottesschau an sich, sondern in der Tatsache, dass Tundalus sehen kann, was er wissen möchte. Das Wissen er­ langt Tundalus zwar einerseits mit der Gottesschau – hier ist der Text mit Augustinus konform –,

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Nicht von ungefähr stellt nun die Fassung C – und damit erzählt sie chronologisch und nicht durch eine Prolepse wie die anderen Fassungen – sein Lob Gottes nach seinem Wiedererwachen an das Ende des Textes und erweitert dieses entscheidend: Tundalus erwacht, ist schwach und erhält die endgültige Stärke erst nach vollzogener Kommunion: da lobt er got vnd sprach O herre wie wol das mein vngerechtigkeit groß ist, dannocht enpfind ich dein barmhertzikeyt noch groesser sein. Ach wie vnaussprechenlich pein vnd truebsal hast du mir erzaiget / aber nun so hast du dich verkehrt vnd mich wider lebendig gemacht / vnd hergefuert von dem grund des ertrichs.31

In dieser Aussage kulminieren die besprochenen Aspekte: Tundalus zeigt Sündenbe­ wusstsein, anders als in den anderen Fassungen empfindet er in sich selbst die göttli­ che Barmherzigkeit als größer als seine Sündhaftigkeit und zuletzt erkennt er, dass ihn die Verkehrung Gottes erst richtig zurück ins Leben gebracht hat. Die von Tundalus wahrgenommene Verkehrung – also Veränderung – Gottes kann im Zuge des Abend­ mahls als Verweis auf die Transsubstantiation gedeutet werden. Tundalus erkennt – anders als vor seiner Reise – hinter dem Materiellen das Geistige, hinter Hostie und Wein Fleisch und Blut Christi. Durch kleine Veränderungen des Textes sind in Fassung C drei Verschiebungen zur lateinischen Visio zu erkennen. Erstens sind das eigene Sündenbewusstsein und die ei­ gene Reue im Jenseitsreisenden bereits zu Beginn der Reise angelegt. Zweitens erwei­ sen sich die damit verbundene Gewissensprüfung und unabdingliche Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit als die Eckpfeiler für den gelungenen Konversionspro­ zess des Jenseitsreisenden. Drittens schult dieser Prozess zugleich stärker Tundalus’ Kompetenz, hinter dem Weltlichen das Geistliche zu erkennen. Fassung C hat somit für ihren Jenseitsreisenden einen viel höheren Anspruch, fordert eine noch viel stärke­ re und aktivere spirituelle Arbeit an sich selbst als die anderen Fassungen. Das Innere des Jenseitsreisenden steht hier stärker im Fokus.32 Wie ist nun der frömmigkeitsgeschichtliche Ort dieser Fassung zu greifen? Von der kirchengeschichtlichen Forschung wurde der spätmittelalterlichen Seelsorge be­ ziehungsweise Frömmigkeitstheologie ein „Dilemma“ attestiert, nämlich jenes der

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aber Tundalus muss zugleich andererseits aktiv jene Dinge schauen, die er wissen möchte. Vgl. dagegen Emerson, Harmony, S. 4 und S. 12 f., der diese Verbindung schon in der lateinischen Fassung erkennen will. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 140v. In der lateinischen Fassung steht diese Passage vor dem Reisebericht von Tundalus. Vgl. Marcus von Regensburg, Visio, Kap. 1, 33. Zu dieser Umstellung vgl. auch Palmer, Visio, S. 47 f. Eine solche Interiorisierung zeigt sich auch in den Überlieferungszusammenhängen der Überset­ zung der ‚Visio‘ durch Haller. Auch hier nehmen Selbst- und Gewissensprüfung für den seelsor­ gerischen Impetus des Textes eine bedeutsame Rolle ein. Vgl. hierzu den Beitrag von Maximilian Benz in diesem Band.

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Spannung zwischen „angestrengter Gewissenserforschung und getröstetem Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit“.33 Dies zeigte sich besonders im Zuge der zunehmenden Gerson-Rezeption im 15. Jahrhundert, in der Hoffnung selbst zu einer Haltung wur­ de, die sich keinesfalls als gegeben oder sicher erweist: Hoffnung kann angefochten werden, Hoffnung kann verloren werden, Hoffnung kann in Verzweiflung umkippen. Und zugleich wird Hoffnung gerade aus der Not dieses Anfechtungsmoments als af­ fektives Element der Heilsakkumulation zu einem trainierbaren Aspekt. Man denke an die ‚Artes moriendi‘-Literatur, die immer wieder dazu anregt, Hoffnung als Haltung gegenüber Gott einzuüben.34 Hoffnung kann – laut Gerson – einerseits gewiss sein, andererseits ist sie dennoch an die Eigenleistung des Menschen gebunden. Zu hoffen ist hier Leistung des Menschen selbst, und für Gerson ist es vor allem die Hoffnung auf göttliche Barmherzigkeit, die der Mensch anzustreben habe.35 Bezieht man dies auf Tundalus, kommt seine Hoffnung an eine Grenze, aber er schafft es, gepaart mit seiner Gewissenserforschung seine Hoffnung nie ganz zu verlieren. Tundalus löst die oben beschriebene „Spannung zwischen angestrengter Gewissenserforschung und getröstetem Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit“, er erkennt zugleich seine eigene Unzulässlichkeit und die barmherzige Heilskraft der christlichen Passion in Form der Eucharistie. Somit kann der Tundalus der Fassung C doch als Vorbild für den Skrupe­ lösen gelten, für jenen, der an der scheinbaren Unvereinbarkeit von Heilsungewissheit und Hoffnungsgewissheit zu verzweifeln droht. Tundalus wird anders als der Skrupu­ löse eben nicht durch „de[n] Schmerz über das Ungenügen“ und durch Verzweiflung „übermann[t]“. Der raptus der Jenseitsreise ermöglicht die Reinigung des Gewissens und die Vereinigung mit Gott. Fassung C steht damit in ihrer Neufunktionalisierung in erstaunlicher Nähe zu Trostkonzepten Gersons.36

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Vgl. so zusammenfassend Hamm, Luther, S. 75; ders., Theologie, S. 280–283, sowie die Ausfüh­ rungen bei Grosse, Heilsungewissheit, S. 35–44. 34 V. a. die christliche Tugendlehre seit Thomas von Aquin versteht Hoffnung als eine christliche Kardinaltugend und somit auch als eine Haltung, die durch Verzweiflung ins Wanken gebracht werden kann. Vgl. Sauter, Hoffnung, S. 495. Dies ist in der Ars moriendi-Literatur insofern um­ gesetzt, als dort die Verzweiflung als die zweite Anfechtung des Sterbenden durch den Teufel ge­ gen dessen Hoffnung gilt. Vgl. als ein Beispiel die Passage im ‚Speculum artis bene moriendi‘, das mit dem ‚Tundalus-C‘ in einem Sammeldruck gemeinsam überliefert ist: BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 170v–171v. Zur Hoffnung als Haltung in den Artes moriendi vgl. Grosse, Heilsungewiss­ heit, S. 223 und S. 231–234. 35 Die certitudo spei, abgeleitet von der Gewissheit des Glaubens, habe sich laut Grosse in einer Linie von Thomas von Aquin über Bonaventura bis zu Gerson etabliert. Vgl. zur Hoffnungsgewissheit und deren theologischer Entwicklung vom hohen zum späten Mittelalter Grosse, Heilsungewiss­ heit, S. 106–111; Hamm, Theologie, S. 282 f. 36 Zu dieser Symptomatik des Skrupulösen und zur Bedeutung von Reinigung und raptus bei Gerson vgl. Grosse, Heilsungewissheit, S. 125–128, Zitate: S. 128.

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II. Wandel der Textgestalt in Fassung D: attritio, Verzweiflung und Hilfe von außen – das Minimalprogramm einer conversio Welche entscheidenden Veränderungen lassen sich nun für die Fassung D im Ver­ gleich zur Fassung C ausmachen?37 Do min arm sel von minem lichnam fur do wurent ir zu erkennen geben all ir sund die sie ie gedet.38 So schildert der Jenseitsreisende sei­ nen Übergang von Dies- zu Jenseits. Im Vergleich zu Fassung C fallen zwei Aspekte auf. Erstens bekennt Tundalus hier keinesfalls seine Sünden. Sie werden ihm offen­ bart, also von außen an ihn herangetragen. Es fehlt die Gewissensprüfung, wie sie in Fassung C vorkommt. Wie aber in C bleibt Tundalus’ einzige Hoffnung die göttliche Barmherzigkeit.39 Schon an dieser Stelle wird ein viel geringerer Anspruch an den Jen­ seitsreisenden gestellt als in der anderen Fassung. Diese andere Konzeption führt sich in zweierlei Hinsicht fort: in Bezug auf den Bußprozess und in Bezug auf Tundalus emotionale Verfasstheit gegenüber der göttlichen Barmherzigkeit. Anders als in Fassung C, aber auch anders als in den lateinischen Fassungen geht die Errettung des Tundalus aus der ersten Peinigung nicht mit einem solch starken Reu­ eschmerz einher. Zwar erkennt Tundalus’ Seele nun in Anschluss an die Sündenof­ fenbarung im Zwischenraum ihre eigene Sündhaftigkeit als Ursache ihrer Peinigung. Aber ihre Reaktion – das Zerreißen der Wangen als Akt der Verzweiflung – ist vor al­ lem aus der Einsicht ewiger Verdammung und vor allem aus der Sehnsucht nach kör­ perlichem Leben motiviert. Im Anschluss an die Peinigung erklärt der Engel, Gottes Güte habe Tundalus errettet.40 Dem spätmittelalterlichen Leser wird somit vermittelt, dass schon eine attritio, also ein Sünden- und Reueschmerz aufgrund drohender Ver­ dammung, für die Barmherzigkeit Gottes genüge.41 Gleiches Bild zeigt sich auch in der

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Für die Analyse der Fassung D wird die Edition von Nigel F. Palmer herangezogen. Die Edition basiert auf dem ersten volkssprachlichen Speyerschen Druck der Gebrüder Hist. Vgl. hierzu Pal­ mer, Einleitung, S. 13. Tondolus, S. 48 f. Tondolus, S. 49: Do von kam sie an so groß vnusprechlich pin das sy nit wist wz sy tun sollte vnd forcht sich vnd wist nit wz sy beginnen solt sy wolt wider in den lib farn vnd sy enkond nit darin komen Sie enwolt auch nit gern von dem lib scheiden wan sy sich ser vorcht Solichen angst het mein sel vnd het kein hofnung me dan zu gottes barmhertzikeit. Tondolus, S. 55 f.: So wissend das mein hertz vnd meins hertzen leben dz ich nun trage vff erden das ich groß pin han gelitten vnd ich wol erkante dz ich billich leit vmb solich sunde do mit ich got teglich erzurnet hette vnd in solichem leide do ich in was do zerreiß ich meinen backen wan mir begund zu zwifeln das mein niemer rot solt werden vnd do ich in sollicher pin vnd leide was. […] Do sprach der engel zu meiner sel / Du solt gedencken dz du gesprochen hast gottes gut sie grosser dan alle din missetan / vnd dz ist ware vnd ist an dir bewiset / wan got vrteilet iglichen nach seinen wercken. Der Bußdiskurs ist in der zweiten Hälfte des 15. Jhds. v. a. durch die zwei Gegenpositionen des ock­ hamistischen Kontritionismus und der des Attritionismus geprägt. Der Kontritionismus erwartet wahre Reue aus eigenen Kräften, sprich ein vollkommener Herzschmerz angesichts der eigenen Sündhaftigkeit – die contritio. Der Attritionismus versucht das Problem zu lösen, dass eine solche

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nächsten Strafe.42 Erst kurz vor der unteren Hölle, in der Herberge Phristini, wandelt sich Tundalus: Do kam ich zu mir selber vnd erkant min groß sund vmb die ich billich pein leit.43 Die immer wieder eingreifende Barmherzigkeit Gottes hat Tundalus attritio zu einer contritio erhoben. Und dennoch – und hier ist die zweite entscheidende Änderung zum Tundalus-C zu verzeichnen – darf Tundalus auf dem Weg in die untere Hölle an der göttlichen Barmherzigkeit verzweifeln.44 Der Fokus liegt dann weniger auf der trostspendenden Kraft der Hoffnung als vielmehr auf der Macht der göttlichen Barmherzigkeit selbst. Sogar dem verzweifelten Sünder wird die Barmherzigkeit Gottes zuteil. Ganz deutlich wird dies an einer Ergänzung zu Anfang des Textes. Wie die lateinische Fassung erzählt Fassung D proleptisch, die Lobrede nach Wiedererwachung ist also am Textanfang vor dem eigentlichen Visionsbericht zu finden. Der Erzähler zieht die Erkenntnis von Tundalus somit vor: Gott habe ihn, Tundalus, wieder lebendig gemacht: des danck ich diner grundlosen barmhertzikeit.45 Der Text verdeutlicht also einen im Vergleich zu den anderen Fassungen in Bezug auf die geistigen Kompetenzen des Jenseitsreisenden leichteren Konversionsprozess; man könnte es in Anlehnung an Berndt Hamm und Sven Grosse als „Minimalforde­ rung“ bezeichnen. Dieses Minimalprogramm sei eine Reaktion auf die gesteigerte Wahrnehmung der eigenen Unzulänglichkeit und der „affektiven Schwäche der Men­ schen“ in der Seelsorge des 15. Jahrhunderts gewesen.46 Für Tundalus’ Heil bedarf es keiner so starken innerlichen Arbeit des Jenseitsreisenden wie in Fassung C, keine Ge­ wissensprüfung ist von Nöten, attritio reicht für die Gnade Gottes und der Sünder darf sogar verzweifeln – er darf also affektive Schwäche zeigen. Dennoch wird dem Sünder Gottes Barmherzigkeit, die Tundalus letztlich als grundlos erkennt, zuteil. Die deutliche Aussage des Textes ist folglich: Reue und Buße sind die Grundbedingungen der Heilsakkumulation. Aber Sünden werden dem Sünder sogar offenbart, sein Reu­ eschmerz darf aus der Sehnsucht nach Leben entstehen und er darf sogar verzweifeln. ‚Tundalus-D‘ kann somit eine größere Variabilität an Lesern ansprechen, unabhängig von deren geistlichen Kompetenzen.

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Reue nur schwerlich zu erreichen ist. Daher geht dieser davon aus, dass auch ein „unvollkomme­ ne[r] Sündenschmerz“ – die attritio –, sogar einer, der nur aus dem timor servilis, also der Furcht vor der jenseitigen Strafe, erwachse, genüge. Durch Gnadenakte werde diese attritio dann in den Zustand der vera contritio gehoben. Vgl. Hamm, Ablass, S. 136–144, Zitat: S. 138. Tondolus, S. 58 f. Tondolus, S. 61. Tondolus, S. 68–71. Tondolus, S. 47 f. Hamm spricht von der „Minimalisierung der menschlichen Bedingung und der Maximalisierung der göttlichen Barmherzigkeit“. Hamm, Wollen, S. 357, S. 361 und S. 366–370, Zitate: S. 357 und S. 361. Grosse wiederum nutzt den Begriff der „Mindestforderung“. Grosse, Heilsungewissheit, S. 93–96.

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Eine weitere entscheidende Veränderung findet sich auch in Fassung D am Ende des Jenseitsreisetextes:47 Als Anforderungen an den Leser wird die Vermeidung von Sünden, und wenn dies nicht gelingt, das Büßen von Sünden angepriesen, sei die Überzeugung doch, dass in Diesseits oder im Jenseits die Sünden gebüßt werden. Am Schluss ergänzt Fassung D aber nun eine Passage über die Glaubhaftigkeit der Vision: O her himelscher vatter wir armen wollent dir alzit gern dancken das du vns disse pin zu frommen geoffenbart hast wan wir glaubent dz alle sund antweders hie oder dort gepinigt wurt Vnd hast es verborgen den weisen vnd den edeln vnd den richen dieser falschen welt die diß nit glaubent.48

Schon in der unteren Hölle hatte die Fassung eine sozialkritische Note bekommen, wird dort doch eine große Zahl verdammenswürdiger Ämter ergänzt.49 Diese Kritik wird an dieser Stelle aufgenommen und in Bezug zu der Bußleistung gesetzt. Den Armen wurde dieses gesicht offenbart, damit sie lernen, dass sie ihre Sünden zu büßen haben. Den Reichen, den Gelehrten und denen von hoher Geburt, also jene, die die weltlichen Ämter ausführen, bleibt diese heilsspendende Botschaft verwehrt. Die Armen büßen durch die Erschwernisse des Lebens schon im Diesseits ihre Sünden. Den Mächtigen, Reichen und Gelehrten, die das Leben so gut behandelt, sind aus der Gruppe der Of­ fenbarten exkludiert, obwohl gerade sie doch über jenseitige Buße lernen müssten. Auch die Veränderungen der Textgestalt in der Fassung D weisen also auf Neufunk­ tionalisierungen des Textes hin. Erstens vermittelt ‚Tundalus-D‘ über die Identifika­ tionsfigur des Jenseitsreisenden ein frömmigkeitstheologisches Minimalprogramm. Zweitens verbindet die Fassung dieses Programm mit einer erheblichen Sozialkritik: Dem Armen wird göttliche Barmherzigkeit zuteil, Gerechtigkeit bleibt aber für den Mächtigen, denn den Armen ist das Gesicht offenbart, den Mächtigen bleibt es ver­ wehrt. III. Die handschriftliche Verbreitung von Fassung C und D Die in den ersten beiden Abschnitten erarbeiteten Neufunktionalisierungen in Fas­ sung C und D sollen nun vor dem Hintergrund der überlieferungsgeschichtlichen Daten historisch kontextualisiert werden. Da Palmer den handschriftlichen Bereich 47 48 49

Es ist auffällig, dass beide frühneuhochdeutschen Fassungen signifikante Veränderungen inner­ halb der Rahmenhandlung aufweisen. Vgl. zur Bedeutung der Rahmenerzählungen die Einleitung von Julia Weitbrecht und Andreas Bihrer sowie den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. Tondolus, S. 87 f. Tondolus, S. 73: Auch komment in diese iemerlich pin brieffelscher vnd alle die bischoff / Epte Dechen Probst Prior pfaffen vnd alle glaubigen diser welt keiser kunig Hertzogen Grafen Fursten Ritter knecht Schultheissen Burgenmeister Amptman Schoffen Richter furminder vnnd der gelich nieman vsgenommen bed geistliche vnd weltliche […]. Zu dieser Aufzählung vgl. auch Palmer, Visio, S. 78–81.

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umfassend aufgearbeitet hat, sollen seine Ergebnisse, die durch den Handschriften­ census50 überprüft wurden, kurz resümiert und mit den inhaltlichen Ergebnissen des Fassungsvergleichs in Verbindung gebracht werden. Eine Einordnung der handschrift­ lichen Überlieferungssituation ist zudem für die Bewertung der Inkunabeln und Früh­ drucke der frühneuhochdeutschen ‚Visio Tnugdali‘ unumgänglich. Die Fassung C der ‚Visio Tnugdali‘ ist auf vor 1410, die Fassung D auf vor 1441 zu datieren. Beide Fassungen entstanden laut Palmer unabhängig und ohne Kenntnis voneinander; die Überlieferung beider Übersetzungen lässt sich geographisch sauber trennen. Fassung C zirkulierte vor allem im Raum zwischen Augsburg und Nürnberg – und in Straßburg; die in diesem Fall verwendete Vorlage stammt aber nachweislich aus dem Augsburger Raum. Fassung D wiederum lässt sich entlang des Rheins und der Mosel finden. In Bezug auf die handschriftliche Überlieferung zeigt sich – gemäß der gesteigerten Überlieferungschance in Klöstern – bei beiden Fassungen ein Über­ gewicht monastischer Provenienz, zugleich ist aber auch laikaler Buchbesitz nach­ weisbar. Die früheste Handschrift der Fassung C stammt aus dem Dominikanerinnen­ kloster St. Katharina in Nürnberg, wobei allerdings diese Fassung später anscheinend besonders unter Benediktinerinnen und Benediktinern der Kastler beziehungsweise Melker Reform zirkulierte. Insgesamt sind sieben klösterliche Provenienzen für die Fassung C bekannt. Fassung D liegt in fünf Handschriften aus verschiedenen Klöstern vor. Was alle diese Klöster unterschiedlicher Ordnen miteinander verbindet ist laut Palmer vor allem die Nähe zur devotio moderna.51 Hinsichtlich der Texte, die gemeinsam mit der ‚Visio Tnugdali‘ überliefert wer­ den, sind keine wesentlichen Unterschiede zu erkennen. Grundsätzlich häufen sich bestimmte Inhalte; so finden sich zahlreiche Texte zur Christus- und Passionsfröm­ migkeit, zur Marienfrömmigkeit, aber auch eschatologische Texte und andere Visions­ texte. Während sowohl mit der Fassung C als auch mit der Fassung D jedoch häufig andere Visionstexte überliefert sind, überwiegen in Manuskripten mit der Fassung C leicht die Texte zur Christusfrömmigkeit und in Handschriften mit der Fassung D eschatologische Texte.52 Es ist also zu resümieren, dass die Fassungen C und D im 15. Jahrhundert unter ähnlichen Bedingungen in zwei unterschiedlichen Gebieten ver­ breitet gewesen sind: D in der Region entlang von Rhein und Mosel, C im nordbai­ risch-schwäbischen Gebiet. Dass die Fassung C vor allem in benediktinischen Klöstern rezipiert wurde, ver­ wundert nicht, kann die Kernaussage der Fassung C doch gerade vor der Folie monas­

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Vgl. dazu https://handschriftencensus.de/werke/2019 [abgerufen am 24.09.2021]. Zur handschriftlichen Verbreitung der beiden Fassungen vgl. Palmer, Visio, S. 41–56, S. 71–81 und S. 366–373. Vgl. zur Mitüberlieferung die Informationen im Handschriftencensus unter https://handschriften census.de/werke/2019 [abgerufen am 24.09.2021] sowie die Auflistung bei Palmer, Visio, S. 231– 275, S. 295–322.

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tischer Frömmigkeitstheologie der Melker Reform – man denke an Trostschriften von Bernhard von Waging oder dem Tegernseer Anonymus – ihr volles Potential entfal­ ten:53 Sie modelliert die Konversionserzählung so, dass sie für einen Leser Trost bietet, der großen Wert auf Arbeit am spirituellen Selbst legt und zugleich Gefahr läuft sich vor dem Vordergrund der eigenen Schuld, geistig zu überanstrengen. Diesem Leser bietet die Figur des Tundalus zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten, was zur Au­ thentisierung seiner Offenbarung beiträgt. Aber sicherlich sprach die Fassung C auch engagierte Laien in den Städten an, schließlich zeigt sich doch eine Verinnerlichung der Melker Frömmigkeitsformen ebenfalls in der spätmittelalterlichen Stadt.54 In die­ sem räumlichen Kontext wird auch die Fassung D Einfluss gehabt haben, wird doch gerade in der Stadt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und im 16. Jahrhundert ein Minimalprogramm der Heilsakkumulation propagiert.55 Die Fassung D spricht da­ mit ein breiteres, spirituell und affektiv weniger geübtes Publikum an. Während sich in der handschriftlichen Überlieferung bis auf die geographische Verbreitung also kaum Unterschiede zwischen beiden Fassungen beobachten lassen, entwickeln sich im be­ ginnenden Buchdruck die Fassungen C und D im Hinblick auf Textproduktion wie -rezeption auseinander. IV. Transposition in ein neues Medium: die frühneuhochdeutschen Drucke der ‚Visio Tnugdali‘ Bei der Analyse der Transposition der frühneuhochdeutschen Fassungen C und D der ‚Visio Tnugdali‘ in das neue Medium des Buchdrucks56 müssen einige Aspekte bedacht werden: Die wirtschaftliche Situation der Drucker, die Vorlagensituation und auch die Gesetzmäßigkeiten des Buchverkaufs – zumeist waren die Drucker selbst Buchführer 53

Vgl. zu diesen Trostschriften Hamm, Theologie, S. 258 f.; zur Trostschrift von Waging und zu den in Kloster Tegernsee rezipierten Schriften vgl. Hohenadel, Consolatorium, S. 35–98 und S. 121–131. 54 Zur städtischen Frömmigkeit im 15. Jhd. vgl. Hamm, Theologie, S. 260–268. 55 Überliefert ist der Besitz von Handschriften mit der Fassung C von Johannes und Hartmann Sche­ del sowie Anton von Annenberg und Johannes von Kettner aus Ulm, der den Codex 1469 sel­ ber niederschrieb. Fassung D ist nur für einen sog. Petter Fries nachweisbar. Vgl. Palmer, Visio, S. 366. Stichhaltige Aussagen zur Gebrauchssituation dieser Handschriften sind hierüber nicht zu machen. Die genaue Untersuchung dieser einzelnen Handschriften könnte hier Abhilfe schaffen. 56 Generell harrt die Entwicklung der Jenseitsreisetexte im Buchdruck noch ihrer Erforschung. Überprüft man die vorhandenen Kataloge, stellt man mit Erstaunen fest, dass sich in Bezug auf Jenseitsreisetexte eine deutliche Konzentration auf einige wenige Texte ausmachen lässt: Im fran­ zösischen Bereich handelt es sich um das ‚Purgatorium de Sancti Patricii‘, im niederländischen und deutschsprachigen Raum v. a. um ‚Brandan‘ und die ‚Visio Tnugdali‘. Die ‚Visio Tnugdali‘ überwiegt hier deutlich gegenüber den anderen Texten. Von ihr sind 34 Druckausgaben bekannt, vier lateinische Drucke, fünf niederländische, je ein italienischer und ein spanischer und v. a. 23 deutschsprachige Drucke. Zu den französischen Drucken des ‚Purgatorio de Sancti Patricii‘ vgl. GW, Nr. M29819, Nr. M2981905, Nr. M2981910, Nr. M29820 und Nr. M29821. Zum ‚Purgatorio‘

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oder eng verwoben mit dem Buchhandel. So können auch Aussagen über die potenti­ ellen Lesenden getätigt werden, schließlich mussten die Drucker ihre Lesenden ken­ nen, um ihre Bücher zu verkaufen.57 1473 wird im Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra zum ersten Mal eine deutsch­ sprachige Fassung der ‚Visio‘ gedruckt – und zwar Fassung C in einer Kompilation mit den ‚Dialogi‘ Gregors des Großen, weiteren Jenseitsreiseberichten und ‚Artes morien­ di‘-Texten.58 Melchior von Stammheim, Abt des Klosters, war kurz zuvor – 1470 – auf einem Treffen der Äbte des Melker Reformkreises zum Druckbeauftragten ernannt wurden. In seiner Druckerei sollten schnell und einheitlich Texte für das Reformanlie­ gen produziert werden.59 Der Augsburger Druck zirkulierte dann auch in den Klöstern der Melker Reform.60 1476 legte Johann Bämler – es ist unsicher, ob er nicht schon vgl. jüngst Benz, Einleitung. Für die niederländischen und deutschsprachigen Brandandrucke vgl. GW, Nr. 5004–5012. Zu den niederländischen Drucken der ‚Visio Tnugdali‘ vgl. Palmer, Visio, S. 355 f., sowie GW, Nr. 12835–12839. Zu den lateinischen Druckausgaben vgl. GW, Nr. 12822–12825 und Nr. M10837. Zur italienischen Fassung, die fünfmal in einem Sammeldruck mit Texten von Hieronymus gedruckt wird, vgl. GW, Nr. 50936, Nr. 50944, Nr. 50950, Nr. 50951 und Nr. 50955. Der spanische Druck konnte in den bekannten Katalogen nicht identifiziert werden. Zu den deutsch­ sprachigen Drucken vgl. GW, Nr. 11405 f., Nr. 12826–12828, Nr. 1282820N, Nr. 12829–12835; VD 16, Nr. T 2263–2268; ZV 15085–15087 und Nr. 18493. 57 Zur Vorlagensituation und der Koexistenz von Buchdruck- und Handschriftenproduktion in Augsburg vgl. Janota, Handschrift, S. 125 f. und S. 136–139. Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck vgl. den Sammelband von Dicke/Grubmüller, Gleichzeitigkeit. Zur Verbindung von Buchdruck und Buchhandel vgl. Künast, Augsburg, S. 119; Schmitz, Grundriss, S. 201. Zu­ letzt hat Falk Eisermann einen programmatischen Aufsatz zum Umgang mit Inkunabeln und Früh­ drucken sowie der Einschätzung ihrer Reichweite veröffentlicht. Vgl. Eisermann, Reichweiten. 58 Die Zuweisung des Druckes an das Kloster St. Ulrich und Afra ergibt sich aus dem Kolophon des Exemplars in der British Library. Vgl. Palmer, Visio, S. 228. Zudem berichtet der Klosterchronist Wilhelm Wittwer in seiner Chronik aus dem Jahr 1492, dass die ‚Dialogi‘ Gregors des Großen das erste Buch gewesen sei, das in der Klosterdruckerei fertiggestellt wurde. Dies ist eine Fehlinforma­ tion, auch wenn die Zuordnung des Werkes zur Klosterdruckerei damit an Plausibilität gewinnt. Vgl. Schmidt, Klosterdruckerei, S. 145. Vgl. zum Druck GW, Nr. 11405. Neben dem ‚Tundalus-C‘ und den ‚Dialogi‘ Gregors des Großen enthält die Kompilation eine frühneuhochdeutsche Über­ tragung der ‚Visio Fursei‘, eine Jenseitsreiseerzählung, die als ‚Das Wunderzeichen von Sizilien‘ bezeichnet wird, das ‚Speculum artis bene moriendi‘ sowie einen Auszug aus Geralds von Vlieder­ hoven ‚Cordiale de quattuor novissimorum‘. Vgl. zu diesem Druck GW, Nr. 11405; Palmer, Visio, S. 225–229, sowie Weitbrecht, Offenbarung. Weitbrecht hat damit eine erste Analyse des Über­ lieferungsverbundes der drei Jenseitsreisetexte mit den Artes moriendi-Texten vorgenommen. Mein seit 2018 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstehendes Dissertationsprojekt zu deutschsprachigen Texten zur Sterbevorbereitung wird in seiner ersten Hälfte eine ausführliche Interpretation und frömmigkeitsgeschichtliche Einordnung dieser Kompilation bieten. Vgl. für erste Ergebnisse Nehr-Baseler, Unvermeidlichen. 59 Zur Klosterdruckerei vgl. Hägele, Reform. Zur Rolle Melchiors als Beauftragter des Reformkrei­ ses für den Buchdruck vgl. ebd., S. 199 f. 60 Beleg hierfür ist ein Exemplar aus der BSB München, das einen zeitgenössischen Besitzvermerk des Klosters Tegernsee aufweist. Vgl. BSB München 2 Inc. C. a. 213, Buchrücken, fol. 1rf. Neben Zeichnungen der Tegernseer Lilie als Wappenpflanze des Klosters findet sich zudem immer wie­ der folgender Besitzvermerk in einer Schrift des späten 15. bzw. frühen 16. Jhds.: Tegernsee ist duz buoch. Die Verbreitung der Bände durch das Kloster selbst – ob durch Verkauf, Tausch oder Schen­

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beim Erstdruck mithalf – die Kompilation nochmals auf. Wie schon die Erstausgabe, so kam auch die Neuauflage im Folioformat und versuchte im Layout eine Handschrift zu imitieren, typisch für die dadurch auch nach wie vor sehr kostspieligen Drucke in den 60er und 70er Jahren des 15. Jahrhunderts.61 Die Tatsache, dass Bämler bereits drei Jahre später einen Nachdruck der Kompilation auflegte, zeugt vom Erfolg des ersten Druckes. Die Kompilation mit Fassung C fand nun – das ist über die Provenienzen ausmachbar – sowohl im laikalen Absatzmarkt der Stadt als auch im überregionalen monastischen Bereich ihre Abnehmer.62 Eine überregionale Ausrichtung der Produk­ tion solch umfangreicher Drucke war wirtschaftlich auch unumgänglich.63 In Bämlers Sammeldruck werden die Identifikations- und Deutungspotentiale der Fassung C, wie sie bereits in Abschnitt I und III erläutert wurden, erneut erkennbar – allerdings auch in einem größeren Kontext: Die speziell den Tundalus-C bestimmen­ den Aspekte – die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, die Passionsfrömmigkeit und die Betonung der Hoffnung als bedeutsame Emotion des Umgangs mit der eigenen Sündhaftigkeit – durchziehen auch die anderen Texte dieses Sammeldruckes und tre­ ten zudem in einem dezidiert eschatologischen Zusammenhang auf. Jenseitsschau, Sterbemediation und Sterbevorbereitung werden somit aufs Engste verknüpft.64 Die­

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kung – zeigt sich zudem an den Einbänden der erhaltenen Exemplare, von denen „ein großer Teil […] Einbände aus (oder für) St. Ulrich und Afra“ besitzt. Schmidt, Klosterdruckerei, S. 144. Auch Palmer sieht die benediktinische Klosterreform als Kontext des Druckes an. Vgl. Palmer, Editions, S. 157. Für den Druck von Bämler vgl. GW, Nr. 11406. Zur Imitation von Handschriften durch frühe In­ kunabeldrucke vgl. Schmitz, Grundriss, S. 1, Janota, Handschrift, S. 136, und für das Verhältnis von Handschrift und Druck in Augsburg im Speziellen Künast, Frühdrucker, S. 57. Neben der Tegernseer Provenienz findet sich zudem ein zeitgenössischer Besitzvermerk in Cam­ bridge UL: Inc. 3. A.6.3. [782], der auf das Dominikanerinnenkloster Hl. Kreuz in Regensburg ver­ weist. Vgl. Oates, Catalogue, Nr. 898. Zudem sind zwei Abschriften des Druckes aus dem 15. Jhd. bekannt: eine für die Laienbrüder der Augustiner in Rebdorf sowie eine für die Benediktinerinnen aus St. Thomas in Straßburg. Vgl. zu diesen Abschriften Palmer, Visio, S. 249–253 und S. 267 f. Für den laikalen Bereich haben wir zudem einen Provenienzeintrag aus Augsburg selbst. Dort wurde 1474 Ursula Sultzer sowie Magdalena und Ulrich Goldschlager ein Exemplar der Kompilation ge­ schenkt, wie eine Widmung und ein Inhaltsverzeichnis im Exemplar des Druckes aus der British Library belegen. Vgl. London BL I. B.5653, fol. 1r. Zur Widmung vgl. zudem Palmer, Visio, S. 228, sowie Oates, Catalogue, S. 332; und umfassend Nehr-Baseler, Annotieren. Die Sultzer waren eine angesehene Kaufmannsfamilie aus Augsburg. Zu den Sultzern in Augsburg und deren wirt­ schaftlicher Stellung vgl. Geffcken, Schichtung, S. 138, S. 146 und S. 165. Zudem sind sowohl Ur­ sula Sultzer als auch Magdalena und Ulrich Goldschlager als Mitglieder der 1440 an St. Ulrich und Afra gegründeten und 1468 erneuerten Ulrichsbruderschaft bezeugt. Vgl. St. Ulrichs-Bruderschaft Augsburg, Nr. 117, Nr. 447 und Nr. 545. Zu dieser Einschätzung vgl. Duntze, Verleger, S. 314 f. Dieser Absatz bezieht sich auf vorläufige Ergebnisse meines Promotionsprojektes. An dieser Stelle können nur einige Beispiele genannt werden. Der Jenseitsreisetext ‚Das Wunderzeichen von Sizi­ lien‘ stellt die Eucharistie ins Zentrum der edification of the senses, insofern als es die Hostie ist, die den Jenseitsreisenden auf seiner Reise vor den Strafen der Hölle schützt. Damit verbunden zeugen das ‚Speculum artis bene moriendi‘ und der ‚Cordiale-Auszug‘ von der intensiven Christus- und Passionsfrömmigkeit der Kompilation, wenn in Sterbevorbereitung und -meditation des Leidens

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se Verknüpfung ist für die Rezipienten des Melker Reformkreises nicht neu: Bernhard von Waging – Abt des Klosters Tegernsee – verfasste 1458 einen Sterbetraktat, der Sterbemeditation, Sterbevorbereitung und Informationen über das Jenseits miteinan­ der verband.65 Über die Möglichkeiten der laikalen Rezeption gibt zudem eine Wid­ mung aus dem Exemplar des Druckes der British Library Aufschluss. Sie beinhaltet eine Leseanweisung für Jungfrau Ursula Sultzer und ihre Familie und möchte eine stete und fleißige Lektüre über die letzten Dinge als Weg zum eigenen Heil initiieren. Die Bezeichnung oder Betitelung als Jungfrau weist zudem auf einen semireligiösen Zu­ sammenhang hin.66 Mit Bämlers Druck wirkt die im monastischen Bereich beliebte Fassung C auch außerhalb der Klostermauern und findet bei einem spirituell inter­ essierten laikalen Publikum Anklang, das fleißig an sich selbst und seinem Inneren arbeiten möchte, um den Qualen der Hölle zu entkommen. 1483 kommt es in Speyer zum parallelen Druck jeweils einer lateinischen und einer deutschen Fassung durch die Gebrüder Konrad und Johann Hist.67 Beide Texte stan­ den einzeln für sich und die Gebrüder entschieden sich für die Fassung D der ‚Visio‘. Auf Grundlage dieses Druckes beginnt die Erfolgsgeschichte der frühneuhochdeut­ schen Fassung D im Buchdruck: Es folgen nach einer zweiten Auflage der Gebrüder Hist in Speyer 1488, angestoßen durch einen Augsburger Nachdruck von Johann Schobser, 1494 bis 1521 zahlreiche weitere Nachdrucke in Augsburg, Ulm, Straßburg und Erfurt.68 Konkrete Abnehmer sind hier über Provenienzen nicht ausmachbar, es ist aber anzunehmen, dass Kleindrucke für eine immer noch wirtschaftlich gut dastehende, aber dennoch deutlich breitere (vor allem städtische) Käuferschaft ge­ dacht waren.69 Auch wenn der Austausch der Vorlagen unter den Druckern für eine Christi gedacht und es sinnlich vergegenwärtigt werden soll. Gerade in der Sterbevorbereitung ist die Hoffnung dann eine entscheidende Haltung für ein gutes Sterben. Vgl. BSB München 2 Inc. C. a. 213, fol. 167v, fol. 170r–173v, fol. 188r und fol. 189rf. 65 Vgl. Kaup, Waging, S. 28 f. und S. 48–59. 66 London BL I. B. 5653, fol. 1r und fol. 193r: Mein kind tů ernstlichen fleiß dadurch du / Mügest erlangen vnd komen zům ewigen / wūnsamen vatterland vnd bitt gott für mich. Zur Widmung siehe zudem Anm. 62 in diesem Beitrag. Der Begriff Jungfrau ist hier als Hinweis auf ein Leben unter Keusch­ heitsgelübde zu sehen. Ob Ursula Sultzer etwa als Begine oder in einem Tertiärorden gelebt hat, ist nicht rekonstruierbar. 67 Zum lateinischen Druck vgl. GW, Nr. 12823. Zum deutschen Druck vgl. ebd., Nr. 12826. 68 Zu den weiteren Auflagen der Gebrüder Hist vgl. GW, Nr. 12827 und Nr. 12830 f. Zu Schobsers Druck vgl. ebd., Nr. 12828 und Nr. 1282820N. Für die Nachdrucke aus Augsburg vgl. ebd., Nr. 12829 und Nr. 12832; VD 16 T 2263 und T 2265, für die Ulmer Ausgabe vgl. GW, Nr. 12833, für die Straß­ burger Ausgaben ebd., Nr. 12834 f.; VD 16 ZV 15085–15087, für die Erfurter Ausgabe VD 16 ZV 18493. Zu in älteren Katalogen erwähnten, aber heute nicht mehr auffindbaren Drucken vgl. Pal­ mer, Visio, S. 282 f. Zur Produktion des ‚Tundalus-D‘ in Straßburger Offizinen vgl. Duntze, Ver­ leger, S. 140–142. Zudem hat Palmer zurecht darauf hingewiesen, dass viele Auflagen durch die schlechten Überlieferungschancen der kleinen illustrierten Broschüren verloren gegangen sein könnten. Vgl. Palmer, Editions, S. 158. 69 Zur Vergrößerung des Publikums vgl. Duntze, Verleger S. 312; zum Hinweis, dass Inkunabel und Frühdruck dennoch keinesfalls als Massenmedium gesehen werden sollten, vgl. Eisermann,

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überregionale Verbreitung spricht, zielten die nachgedruckten Broschüren auf einen lokalen Absatzmarkt ab. Ein überregionaler Vertrieb hätte sich wirtschaftlich nicht ge­ lohnt, denn er hätte die produktionsbedingt geringen Verkaufspreise wieder unnötig erhöht. Vor allem aber entstünde bei „einem groß angelegten überregionalen Vertrieb eine Konkurrenzsituation zwischen den etwa zeitgleich in Straßburg und anderen Druckorten erschienenen Ausgaben“.70 Wenngleich das Schätzen von Auflagenhöhen von Inkunabeln und Frühdrucken ein komplexes und ansonsten keineswegs vollkommen stichhaltiges Unterfangen ist, können die mit den in der Inkunabelkunde gängigen Schätzwerten errechneten Zah­ len verdeutlichen, wie der Buchdruck die Reichweite des ‚Tundalus‘ multiplikatorisch verstärkt: Glaubt man den geschätzten Auflagenhöhen der Inkunabelkunde, könnten zwischen 1473 und 1521 deutlich über 10000 Exemplare des ‚Tundalus‘ verbreitet wor­ den sein, wobei nur ein Bruchteil davon die Fassung C ausmachen würde (ca. 400– 600).71 Die Erzählung über Tundalus erhält folglich eine nie gekannte Verbreitung und erreicht in neuer medialer Form ein altes wie auch ein neues Publikum. Allerdings treten nun beide Fassungen in Konkurrenz zueinander. Während in der handschrift­ lichen Verbreitung, wie gezeigt wurde, eine klare geographische Trennung zwischen beiden Fassungen zu erkennen ist, wirkten die gedruckten Texte doch in einem ge­ meinsamen lokal bis regional geprägten Produktions- und Rezeptionsraum (süddt. Bereich). Dass in St. Ulrich und Afra als Druckvorlage die Fassung C vorhanden war, während man in Speyer durch die Vorlagensituation für den Druck auf Fassung D zurückgriff, ist aufgrund der klaren geografischen Verteilung der handschriftlichen Überlieferung nicht verwunderlich (s. Abschnitt III). Überraschen kann aber, dass nach dem Druck durch die Gebrüder Hist 1483 nur noch die Fassung D abgedruckt wird: Denn Vor­

Reichweiten, S. 96 und S. 99. Schmitz wiederum zeigt sich hinsichtlich des „Kleinschrifttum[s], nämlich Legenden, religiöses Schrifttum, Volksliteratur“, worunter auch der ‚Tundalus‘ zu zäh­ len wäre, optimistisch, dass „breite Bevölkerungsschichten“ Zugang zu den Texten erhielten. Schmitz, Grundriss, S. 217. Dieser Aufsatz folgt der oben beschriebenen Mittelposition: Die Tundalus-Drucke fallen in einen Prozess der Popularisierung, der zwischen Inkunabeldruck und Frühdruck der Reformationszeit von statten ging. 70 Vgl. Duntze, Verleger, S. 312–314, Zitat: S. 314. 71 „Die durchschnittliche Auflagenhöhe der Wiegendrucke wird heute meist übereinstimmend zu Beginn des Buchdrucks auf ca. 100–200 Exemplare geschätzt, bis 1480 auf ca. 200–300 und nach 1480 auf 400–500 Exemplare, in den neunziger Jahren bis 1000“. Schmitz, Grundriss, S. 186, der zudem die Komplexität und Schwierigkeit der Auflagenschätzung thematisiert. Vgl. ebd., S. 186– 192. Für nach 1500 konnten solche Schätzungswerte nicht ausgemacht werden, es ist aber plausibel, mit ähnlichen Werten wie in den 90er Jahren zu rechnen. Mit diesen Werten würde sich für Fas­ sung C eine Anzahl von 400 bis 600 Exemplaren in zwei Auflagen ergeben. Für Fassung D käme man – rechnete man die in älteren Katalogen erwähnten, aber nicht mehr auffindbaren Auflagen sowie Fragmente heraus – auf 13800–14000 Exemplare in 15 Auflagen. Insgesamt ergäbe dies 14200 bis 14600 Drucke der frühneuhochdeutschen ‚Visio Tnugdali‘ in 17 Auflagen. Palmer schätzt die Anzahl der gedruckten Exemplare vorsichtiger auf 5000. Vgl. Palmer, Editions, S. 158.

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lagen für beide Fassungen werden zumindest in Augsburg vorhanden gewesen sein, dafür spricht der enge Austausch zwischen den Druckern verschiedener Städte; die Distribution von Fassung D ist selbst der beste Beleg dafür.72 Wirtschaftliche und in­ kunabelkundliche Überlegungen könnten hier einen Grund für die Engführung der Texte liefern: Fassung D kam bereits bebildert; wohlmöglich druckte Schobser in Augsburg lieber eine Fassung als Broschüre, mit der er nicht in Konkurrenz zu Bämler trat, und der Erfolg des kleinen Druckes verselbstständigte sich daraufhin. Es könnten aber auch inhaltliche Gesichtspunkte ausschlaggebend gewesen sein für den Erfolg der Fassung D. Mit dem in D propagierten bloß minimalen Programm der Heilsakkumulation des Jenseitsreisenden konnte diese Fassung sicherlich niedrig­ schwelliger eine breitere Leserschaft ansprechen und fand mit ihrer sozialkritischen Note in den süddeutschen Städten einen fruchtbaren Nährboden.73 Tundalus kann vor diesem Hintergrund – durch seinen Bußprozess – sowohl für den einzelnen Gläu­ bigen Identifikationsfigur sein als auch das stereotype Abbild eines die Armen heim­ suchenden Mächtigen sein, der durch Buße zur Umkehr kommt und nun die Cari­ tas ausübt. So aber entsteht eine Spannung zwischen Gesicht und Druckschrift: Die Verbreitung des Textes über die mediale Form der Broschüre, die immer noch ein Luxusgut darstellte, karikiert allerdings die im Text selbst postulierte Exklusivität des Offenbarten als Geheimwissen der Armen; denn es sind schließlich nicht die Ärmsten, die den Text kaufen und lesen können. Damit entsteht eine Spannung zwischen dem Inhalt der Visio und den sozialen Voraussetzungen der Textrezeption. Aber es gibt noch einen weiteren inhaltlichen Grund für den Erfolg von D: Das Incipit der Fassung D weist auf zwei unterschiedliche Lesemöglichkeiten des Textes hin. Die Erzählung des Jenseitsreisenden vermittelt laut Incipit zum einen dem Leser für sein eigenes Seelenheil nützliches Wissen – dies lässt sich auf den Konversionspro­ zess Tundalus’ beziehen. Zum anderen kommuniziere die Erzählung aber auch Wis­ sen, das seltzsam sei, also unerwartet und außergewöhnlich. Einen solchen Hinweis findet man weder im lateinischen Druck noch im frühneuhochdeutschen Druck der Fassung C, die sich bezüglich der Incipits sehr ähnlich sind.74 Damit kann der Text also womöglich auch Leser ansprechen, die lediglich unterhalten werden wollen, die 72 73

74

Exemplarisch zeigen sich die überregionalen Verbindungen der Drucker am Rechnungsbuch des Speyerschen Druckers und Verlegers Peter Drach; hier lassen sich auch deutliche Verbindungen zwischen Speyer und Augsburg finden. Vgl. Mäkeler, Rechnungsbuch, S. 55–59 und S. 97–100. Hiermit zeigt die Fassung Nähe zu den Totentänzen. Vgl. hierzu und zur Sozialkritik Palmer, Visio, S. 382; zum sozialen Hintergrund der Totentänze, v. a. zum Tod als Gleichmacher vgl. jüngst Gertsman, Dance, S. 42–49. Für antiklerikale Tendenzen in süddeutschen Städten vgl. einfüh­ rend nach wie vor Scribner, Antiklerikalismus. Tondolus, S. 47. Das Incipit des lateinischen Druckes der Gebrüder Hist von 1483 lautet: Incipit libellus de raptu anime Tundali et eius visione Tractans de penis inferni et gaudiis paradisi. BSB Mün­ chen 4 Inc. s. a. 1808 t, fol 1r. Das Incipit im Druck der Fassung C von 1473 lautet: Hie hebt sich an das puech der pein der selen vnd von den freüden der erwelten / vnd ist zuo latein genant visio Tundali / zuo teütsch die gesicht Tundali. BSB München 2 Inc. c. a. 213, fol. 140r.

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neugierig auf eine gute Geschichte sind.75 Anders als Fassung C streicht Fassung D deshalb auch die verschiedenen kurzen irischen Passagen nicht aus der Jenseitsreise.76 Ein eindrückliches Beispiel für eine solche unterhaltende Funktionalisierung des Tex­ tes bietet die Einbindung des ‚Tundalus‘ in das Druckprogramm des Matthias Hupfuff aus Straßburg. So hat Duntze darauf hingewiesen, dass Hupfuff seine ‚Tundalus‘-Aus­ gaben immer in direkter zeitlicher Nähe zu seinen Ausgaben des ‚Brandan‘ und seinen Ausgaben des ‚Mirakel‘ des Arndt Buschmann herausbrachte, „was darauf hindeutet, dass er die drei Texte als zusammengehörige Gruppe betrachtete“. Nicht nur die Er­ baulichkeit ihrer Inhalte sei hier von Relevanz gewesen, sondern eben auch der Aspekt der Unterhaltung.77 Resümierend lässt sich feststellen, dass die frühneuhochdeutschen Fassungen C und D durch den Buchdruck eine nie dagewesene Verbreitung erfuhren. Die in einem Folio-Sammeldruck gedruckte Fassung C wurde allerdings nur zweimal in Augsburg (1473, 1476) verlegt, die Fassung D hingegen fand von Speyer aus über Augsburg im gesamten süddt. Bereich als Einzeldruck im Quartformat Verbreitung. Während Fas­ sung C mit ihrer thematischen Konzentration auf Hoffnung, Verzweiflung und Ge­ wissensprüfung monastische wie engagierte laikale Leser ansprach, zielte Fassung D mit ihrem Minimalprogramm der Heilsakkumulation, den irischen Passagen und der Sozialkritik auf eine laikal-städtische Leserschaft in den Jahrzehnten um 1500 ab. V. Zusammenfassung und Ausblick – das Ende der Offenbarung In seiner Wochenpredigt über Matth. 5–7 nutzt Luther eine Passage aus der ‚Visio Tnugdali‘. In der Predigt, die er zwischen Oktober 1530 und April 1531 gehalten ha­ ben soll, verdeutlicht Luther, dass die alten – hiermit meint er pejorativ die mittelal­ terlichen Zeitgenossen – den Text insofern falsch verstanden hätten, als dass sie die Schilderung über das Jenseits auch auf die jenseitige Existenz bezogen hätten. Doch Eine „Neugier auf seltzsam und unerhört Wunderding“ und ein „Interesse der Augsburger Bevöl­ kerung an Kuriosem und Exotischem“ hat Mark Häberlein für die letzten Jahrzehnte des 15. Jhds. und für das frühe 16. Jhd. in Augsburg erkennen wollen. Vgl. Häberlein, Monster, S. 353. Es wäre zu überlegen, ob auch Jenseitsreisetexte im Kontext eines Diskurses über das Wundersame zu bedenken wären. Z. B. werden noch zwei weitere Jenseitsreisetexte – die ‚Visio Fursei‘ und ‚Das Wunderzeichen von Sizilien‘, beide in der Kompilation aus St. Ulrich und Afra von 1473 das erste Mal gedruckt – 1507 aufgelegt. Auf beiden Titelblättern wird das Wunder, das hinter diesen beiden Erzählungen stehe, bes. hervorgehoben: Es seien wunderzaichen. Vgl. BSB München 4 P.lat. 126 m, fol. 1r; SBB-PK Berlin Yu 2946 fol. 1r https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN= PPN845646869 [abgerufen am 29.09.2021]. Zum Begriff seltzsam in mittelalterlichen Jenseitsrei­ sen vgl. auch den Beitrag von Maximilian Benz in diesem Band. 76 Tondolus, S. 47 und S. 86 f. 77 Vgl. Duntze, Verleger, S. 142 f., Zitat: S. 143. 75

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vielmehr sollte man die Erzählungen in Hinblick auf die Beschwerlichkeit christlichen Lebens hin ausdeuten: Der Teufel ficht im Leben an und bringt Ungeduld und Ver­ zweiflung, so die Kernaussage der Passage.78 Die Schau vom Jenseits wird zur Schau des Diesseits, dass durch Verzweiflung und Beschwerlichkeit geprägt sein kann. In Luthers Äußerungen spiegeln sich zwei zentrale Aspekte der textuellen Verände­ rung der ‚Visio Tnugdali‘ in ihren frühneuhochdeutschen Fassungen C und D wider. Fas­ sung C zeigt einen Jenseitsreisenden, in dem Reue schon angelegt ist, der sein Gewissen selbst prüft und der unter keinen Umständen an der Barmherzigkeit Gottes verzweifelt. Vielmehr erlernt er auf Grundlage dessen während seiner Jenseitsreise die rechte An­ wendung seiner sinnlichen Fähigkeiten und ist in der Lage das Göttliche im Leben zu erkennen. Fassung D wiederum zeigt einen Jenseitsreisenden, dem die Sünden offen­ bart werden, der eine Reue zeigt, die allein auf dem timor servilis basiert, und dem die Barmherzigkeit Gottes sogar in der Verzweiflung zuteilwird. Zudem erzählt Fassung D durch die Aufzählung verschiedenster Ämter von einer Hölle, in der die, die das Leben der Armen im Diesseits beschwert haben, verdammt werden. Beide Fassungen reagie­ ren somit unterschiedlich auf eine zentrale frömmigkeitstheologische Entwicklung des 15. Jahrhunderts: die Spannung zwischen Heilsungewissheit und Hoffnungsgewissheit. Während Fassung C auf diese Spannung mit der Idealität eines zwischen Hoffnung und Gewissensstrenge balancierten Jenseitsreisenden reagiert und somit ein Publikum – wie Ordensleute und Semireligiose – anspricht, das Fleiß und spirituelle Arbeit anstrebt, re­ agiert Fassung D auf die gleiche Spannung mit einem Minimalprogramm.79 Während die beiden Fassungen in der handschriftlichen Verbreitung geographisch parallel voneinander existierten und es zu keinen überlieferungsgeschichtlichen Über­ schneidungen kam, kommt es zu unterschiedlichen Funktionalisierungen der Texte in der Konkurrenzsituation des Inkunabel- und Frühdrucks. Fassung C wird in einer eschatologischen Kompilation 1473 und 1476 in Augsburg im Umkreis von Melker Re­ form gedruckt und rezipiert; neben dem monastischen Bereich eignet sie sich durch ihre Anlage aber auch für ein Laienpublikum, das eine intensive Arbeit an der eigenen Spiritualität forciert. Für Fassung D zeigt sich eine andere Situation. Fassung D – in kleinen illustrierten Broschüren von 1483 bis 1521 zahlreich gedruckt – wirkt im lokalen Absatzmarkt der Städte; ihr Minimalprogramm der Konversionserzählung und ihre sozialkritische Note mögen für eine bessere Zugänglichkeit des Textes gedient und für seine Beliebtheit gesorgt haben. Die frühneuhochdeutschen Fassungen C und D der ‚Visio Tnugdali‘ verweisen so­ mit auf verschiedene zentrale Konstellationen, die die Entwicklung der Visions- und

78 79

Vgl. WA 32, S. 502 f.; zudem Palmer, Visio, S. 209 f. Hier zeigt sich, was Hamm auch für die Frömmigkeitstheologie des 15. und frühen 16. Jhds. im All­ gemeinen resümiert: „Minimalisierung nach unten schloss forciertes Bemühen nach oben nicht aus, da in der Jenseitserwartung die abgestufte Spannweite zwischen der Bewahrung vor der Hölle und den obersten Gnaden der paradiesischen Seligkeit sehr groß ist“. Hamm, Wollen, S. 369.

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Jenseitsreiseliteratur im Mittelalter und beginnender frühen Neuzeit prägen. Erstens gehen mit der Übertragung der ‚Visio Tnugdali‘ in die Volkssprache zahlreiche Ver­ änderungen der Textgestalt einher, die zu einer Neufunktionalisierung der Erzählung führen. Zudem kann als zweite Konstellation die Transposition der Jenseitsreiseerzäh­ lungen in das Medium des Buchdrucks angesehen werden, wodurch die Texte für ein neues und breiteres Publikum zugänglich gemacht wurden. Keinesfalls – dies hat das Beispiel der frühneuhochdeutschen Fassungen der ‚Visio Tnugdali‘ erneut gezeigt – können Visionstexte und Jenseitsreiseerzählungen als feste Textform gesehen werden, vielmehr sind sie in ihrer Textgestalt fluide. Dieser medialen Spannung zwischen Be­ kanntheit des visionären Texts und der Verfügbarmachung des Textes in unterschied­ lichen Kontexten sollte die Forschung dadurch gerecht werden, indem eine Unter­ suchung einerseits an der Vielfalt der Textgestalt und andererseits an der Vielfalt der Überlieferungskontexte ansetzt.80 Die Vielfalt der Textgestalt – dies kann aus heutiger Perspektive resümiert werden – nimmt für die deutschsprachige ‚Visio Tnugdali‘ mit dem letzten Druck der Fassung D 1521 ein Ende – der Text hatte sich im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert durch die Dominanz der Fassung im Buchdruck verfestigt.81 Gesicht und Druckschrift geraten hier doch aber in eine erhebliche Spannung: Zwar könnte man sagen, dass mit jedem neuen Druck die Zahl der Textzeugen und somit auch die Bekanntheit des Offenbar­ ten erweitert wurde. Andererseits steht dieses erhebliche Popularisierungspotential in Konflikt mit der textinternen Beglaubigungsstrategie der Fassung D, heißt es hier doch am Ende: Vnd hast es verborgen den weisen vnd den edeln vnd den richen dieser falschen welt die diß nit glaubent.82 Diese Exklusivität der Offenbarung, ihre Verborgenheit, ging mit dem Buchdruck verloren. Der Einfluss zeigt sich vielleicht schon bei Luther, der mit hoher Wahrscheinlichkeit über den Erfurter Druck in Kontakt mit der Erzählung gekommen sein könnte, bezeichnet er die Erzählung vom Ritter Tundalus nicht mehr als Vision, nicht mehr als etwas, das verborgen ist und offenbart werden muss. Es dient ihm vielmehr als ein den Zuhörern bekanntes Exempel: Aus dem Gesicht ist ein geticht geworden.83 80 81

82 83

Vgl. die Einleitung von Julia Weitbrecht und Andreas Bihrer in diesem Band. Keineswegs sollten Drucktexte unreflektiert als fest angenommen werden: Auch im Buchdruck kommt es zu Textveränderungen. Vgl. hierzu Eisermann, Reichweite, S. 96–98. Für die Drucke der frühneuhochdeutschen Fassung D sind aber keine relevanten inhaltlichen Änderungen er­ kennbar. Die Änderungen spielen sich hier vornehmlich auf Ebene der Illustration ab. Vgl. zu den Illustrationen Palmer, Editions. Tondolus, S. 88. WA 32, S. 501. In der frühen Neuzeit wurde die ‚Visio Tnugdali‘ in frühneuhochdeutscher Spra­ che vornehmlich nur noch als Exemplum verwendet. Siehe dazu Palmer, Visio, S. 209 f. und S. 215–217. In lateinischer Sprache findet sich zumindest noch ein auf dem Stoff beruhendes Jesu­ itenschauspiel. Vgl. hierzu Benz, Faustus. Insgesamt kann aber die Erforschung von Jenseitsrei­ setexten in der Frühen Neuzeit als Desiderat der Forschung angesehen werden, insbes. weil für diesen Zeitraum noch erhebliche quellenheuristische Schritte zu tun wären. Eine kurze Durch­

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III. Offenbarung und Authentisierung in der Hagiographie

Von Zeit und Heiligkeit Zur Konstruktion und Vermittlung von Heiligkeit im eschatologischen Kontext der ‚Vita sancti Martini‘* Sarah-Christin Schröder

So wie mittelalterliche Redaktoren1 sich bemühten, die Erfahrungen von Visionär­ Innen für die hiesige Welt glaubhaft erzählerisch in Jenseitsreiseberichten zu (re)pro­ duzieren und zu vermitteln,2 so oblag diese Aufgabe den Hagiographen in Bezug auf Authentizität und Wirksamkeit der Heiligkeit3 jener Personen, von denen sie Figuren in ihren Viten zeichneten.4 Wenn dieser Schritt der Vermittlung gelang, konnten beide *

Mein besonderer Dank gilt Rike Szill. Die ‚Vita sancti Martini‘ wird im Folgenden abkürzend mit VM bezeichnet. Dem vorliegenden Beitrag liegen die Ausgabe der Martinsvita von Fontaine und die Übersetzung ins Deutsche von Huber-Rebenich zugrunde. Die Kapitelzählung orientiert sich an Fontaine. Kommentierte Ausgaben mit Übersetzung liegen z. B. auch von Burton, Vita Mar­ tini, ins Englische und von Ruggiero, Vita di Martino, ins Italienische vor. 1 Vgl. Bihrer, Bearbeitungspraxis, S. 91 f. 2 Dazu Bihrer, Journeys, S. 822: „[T]he veracity of journeys to the Otherworld always remained controversial, as confirmed by the diverse authentication strategies and debate on the credibility of both individual texts and the genre as a whole, as well as by the fact that otherworldly journeys entered into the genres of poetry, parody and satire.“ Vgl. zu letzterem und dem ‚Timarion‘ den Beitrag von Rike Szill in diesem Band. Vgl. auch weiter unten Anm. 11. 3 Heiligkeit kennt keine allgemeingültige Definition, vgl. z. B. Weitbrecht, Aus der Welt, S. 11 f.; Hammer, Erzählen, S. 6–10. Dabei vereint der Versuch, sich Heiligen wissenschaftlich anzunä­ hern, die Disziplinen seit langem, vgl. z. B. den Forschungsüberblick bei Kleine, Heilige Öko­ nomie, S. 34–36. Die neuere geschichtswissenschaftliche Heiligkeitsforschung setzt indes neue Akzente, indem sie u. a. die Ansätze der letzten großen turns produktiv umsetzte, vgl. dazu ent­ sprechende Publikationen der Reihe ‚Beiträge zur Hagiographie‘. Dass Heiligkeit nicht einheitlich gedacht werden könne, betonen Fritz, Heiligkeiten, S. 7, und Schmieder, Heiligkeiten, S. 230 f. Vgl. auch Czock, Einführung, S. 11 f. mit Anm. 1. So werden nun die multiplen Optionen, „Hei­ ligkeit darzustellen und geltend zu machen“, im „legendarischen Erzählen“ pointiert, so Koch/ Weitbrecht, Einleitung, S. 14, mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick zur Legende aus germanistischer Perspektive ebd., S. 9–12. 4 So diente laut Kunze, Vita, S. 786 f., die Heiligenvita u. a. dazu, die „Hilfsfähigkeit der Heiligen“ zu veranschaulichen. Vgl. ferner zu narrativen (Re-)Produktionsprozessen von Jenseitsvisionen ausführlich Benz, Gesicht und Schrift, und mit Blick auf Heiligkeit Weitbrecht, Aus der Welt.

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Textsorten ihre Funktionen in der Welt entfalten.5 Ihre Absichten6 und ihr Rekurs auf die in ihnen kommunizierte Verbundenheit mit dem Göttlichen7 zeigen deutlich die Nähe beider Textsorten zueinander auf. Texte der Visionsliteratur und Hagiographie standen dabei ob ihrer Gegenstände vor ein und demselben Problem: Jenseits, sin­ guläre Gesichte und Heiligkeiten entziehen sich der menschlichen Greifbarkeit, sind nicht überprüfbar, kurzum: Sie sind im Glauben existent,8 doch transzendent.9 Damit die Texte ihre Funktionen erfüllen konnten, mussten die Rezipierenden das jeweilige Transzendenzphänomen anerkennen.10 Dieser Problembefund wirft – wie in diesem Tagungsband behandelt – Fragen nach Authentisierungs-,11 aber auch nach Konstruktions-12 und Vermittlungsstrategien von Transzendentem auf. Vor allem narrative Strategien, durch welche un(be)greifbare Gegenstände aus der Textimmanenz heraus in die Welt (re)transportiert wurden, sind von Interesse. Mit Blick auf sich entwickelnde christliche Zeitvorstellungen und die

5

Vgl. zur Hagiographie des frühen Mittelalters Palmer, Hagiography, S. 36, zu Jenseitsvisionen Bihrer, Journeys, S. 822 f., sowie z. B. Lehner/Nix, Einleitung, S. 11–13. 6 Visionen verfolgten u. a. eine „erbauliche respektive didaktische Funktion“, so Lehner/Nix, Ein­ leitung, S. 12, und auch hagiographische Schriften dienten als „edificatory readings“, so Palmer, Hagiography, S. 36. 7 Berichte über die qua Vision erfahrenen Jenseitsreisen sind der mittelalterlichen Offenbarungsli­ teratur zuzurechnen und „[i]n religiösen Gesellschaften sind göttliche Offenbarungen die letzte Instanz in allen Belangen“, so Bihrer, Offenbarungen, S. 241. Gott und Mensch wirken im Modus der Vision folglich zusammen. Diese Synergie zeitigt auch Heiligkeiten, die durch visionäre und prophetische Eigenschaften konstruiert werden, vgl. Herbers, Vision. Beide Textsorten berufen sich auf Gottes Wirken. 8 Vgl. auch Benz, Konkurrenz, S. 129, mit dem Verweis zur Martinsvita, „die Frage nach der ‚Wahr­ heit‘ des Erzählten [sei] für obsolet [zu] erklären, schließlich wurde der Text ‚geglaubt‘“. Zwischen Hagiographie und Historiographie kann vor dem Hintergrund der beanspruchten Wahrheitsver­ mittlung nicht unterschieden werden, weil, so Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, S. 26 (Anm. 14), „das mittelalterliche Verständnis […] ‚Legenden‘ und ‚Mythen‘ als Teil der Ge­ schichte einschloss.“ 9 Vgl. auch die Einführung von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht in diesem Band. Transzen­ denz wird hier mit Vorländer, Transzendenz, S. 20, als Forschungsbegriff verstanden im Sinne einer „Produktion oder Bewältigung von ‚Unverfügbarkeiten‘“. „Als ‚unverfügbar‘ sollen solche Sachverhalte angesehen werden, die in der Perspektive von Akteuren der unmittelbaren, alltäg­ lichen Lebenswelt entzogen sind und deshalb quasi entrückt erscheinen, die gleichwohl aber auf sie zurückwirken und ihr Sinn und Geltung verleihen“, so ebd. Zu Heiligkeit und Transzendenz vgl. Strohschneider, Textheiligung; Hammer, Erzählen, bes. S. 3–10; Weitbrecht, Aus der Welt. Aktuell wird auch auf die Problematik im Umgang mit der „Differenz- und Transzendenzter­ minologie“ verwiesen, vgl. Koch/Weitbrecht, Einleitung, S. 15 mit Anm. 20. 10 Vgl. Lehner/Nix, Einleitung, S. 10: „Einfluss konnten sie [Berichte über Visionen] nur gewinnen, wenn sie für echt gehalten wurden.“ 11 Zu verschiedenen Authentisierungsmöglichkeiten in der Visionsliteratur vgl. zusammenfassend die Einführung von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht und bes. zur körperlichen Symptomatik als Authentisierungsstrategie den Beitrag von Karolin Künzel jeweils in diesem Band. 12 Konstruktion soll hier im Anschluss an Fritz, Heiligkeiten, S. 7, als praktizierte „Formen der Zu­ schreibung des Heiligenstatus und seiner Begründung“ verstanden werden.

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Uneinigkeiten innerhalb des Christentums im vierten Jahrhundert13 stellt sich zudem die Frage, ob nicht auch Zeit als „grundlegende Kategorie der Weltdeutung“14 für ein bestimmtes Publikum im Sinne einer Brückenfunktion zur Anerkennung transzen­ denter Gegenstände beitrug.15 Dabei geht es nicht um die Konzeption von Zeit als solcher, sondern um ihre Verwendung in einer Erzählung. Denn diese war weniger obligatorisch als vielmehr – wie im Folgenden gezeigt werden soll – eine Strategie zur Vermittlung und Relevanzbildung von glaubhafter Heiligkeit, der dadurch Nachdruck verliehen wurde. Von dieser Überlegung ausgehend widmet sich der vorliegende Beitrag dem Zu­ sammenspiel von Heiligkeitskonstruktion und -vermittlung am Beispiel Martins von Tours. Der Blick fällt auf die spätantike Vitenliteratur, denn noch bevor die Redak­ toren des Mittelalters sich in ihren Schilderungen im großen Stil mit dem Jenseits auseinandersetzten16 – und sich somit auf einen spezifischen Bestandteil der späte­ ren Eschata konzentrierten – wurden in der Martinsvita transzendent-eschatologi­ sche Elemente wie eine Christuserscheinung (VM 3), das Gericht nach dem Tod (VM 7) und die Präsenz biblischer Endzeitfiguren (VM 23–24) verarbeitet.17 Heili­ genviten und Visionsliteratur berühren sich folglich nicht nur in ihrer Behandlung

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Ausführlich dazu Wieser, Weltchronik; dies., Schatten der Endzeit. Czock/Rathmann-Lutz, Einleitung, S. 9. Die der Vita zugrundeliegende Zeitauffassung kann insofern „in Rezeptionshinsicht mit Prakti­ ken der Textaneignung in Verbindung“ gebracht werden, so Weitbrecht/Bihrer/Felber, Einleitung, S. 13. Vgl. auch Koch, Zeit und Wunder, S. 82, zum Zusammenhang von Zeit und „Anschlussmöglichkeiten zu der Erfahrungswelt des heiligen Abtes [Brendan] und seiner mitrei­ senden Mönche“ für das Publikum der Brendanlegende, Zitat ebd., vgl. auch ebd., S. 98. Vgl. zum Thema Zeit im Mittealter Czock/Rathmann-Lutz, ZeitenWelten, mit dem Forschungsstand von dens., Einleitung, S. 20 f., und Weitbrecht/Bihrer/Felber, Einleitung, S. 10 f. mit wei­ terführender Literatur. 16 Vgl. Bihrer, Journeys, S. 822. 17 Vgl. Aertsen, Einleitung, S. 71: „Seit Petrus Lombardus bildet der Traktat über ‚die letzten Dinge‘, für welche im 17. Jahrhundert der Terminus ‚Eschatologie‘ geprägt worden ist, den Abschluß der Gesamtdarstellung der christlichen Theologie“. Um die eschatologischen Phänomene in der Mar­ tinsvita im Folgenden zu fassen, dient die Definition nach Möhring, Traditions, S. 271: „Eschato­ logy: the study of the last things, whereby a distinction is drawn between, on one hand, the indivi­ dual eschatology concerning the individual human being in terms of death, resurrection, the Last Judgment and bliss or perdition and, on the other hand, the universal eschatology including the downfall of the previous world and humankind, which is to be followed by a new world. At the point of transition to this, a cosmic catastrophe usually occurs, entailing the collapse of heaven and the falling of the stars, a world Judgment or even a battle of the gods.“ Von Bedeutung für den vorliegenden Beitrag ist ferner, dass ‚eschatologisch‘ v. a. ein zeitliches Implikat trägt, vgl. z. B. Mc­ Ginn, Eschatologische Vorstellungen, Sp. 6. Vgl. dazu auch die Feststellung zum Zusammenhang von Zeitlichkeit und letzten Dingen bei Weitbrecht/Bihrer/Felber, Einleitung, S. 8. Aktu­ ell Palmer/Gabriele, Introduction, S. 1. Zuzustimmen ist Fried, Aufstieg, S. 11: „Denn beides, Apokalyptik und Eschatologie, lassen sich – anders als in der heutigen systematischen Theologie – im Mittelalter nicht scharf gegeneinander abgrenzen.“ Die Frage nach Synergien zwischen Visionsund Vitenliteratur stellte bereits Fros, L’eschatologie.

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transzendenter Gegenstände, sondern auch in ihrer eschatologischen Rahmung.18 Die Martinsvita eignet sich insbesondere für diese Untersuchung, da die endzeitli­ chen Passagen in VM 22–24 in der Forschung in kontinuierlichen Abständen zumin­ dest punktuelles Interesse hervorriefen.19 Der vorliegende Beitrag fragt nun nach den Synergieeffekten von Heiligkeitskonstruktion und eschatologischem Erzählkontext. Dazu wird die Martinsvita zunächst im Rahmen zeitgenössischer Vorstellungen von Zeit verortet. Im Anschluss richtet sich das Augenmerk auf ausgewählte eschatolo­ gisch konnotierte Textpassagen der Martinsvita, darunter die Christuserscheinung nach der Mantelteilung vor Amiens (VM 3), der Tod und die Auferweckung eines Katechumenen (VM 7) und die expliziten Rekurse auf die Endzeit (VM 22–24). Das Ziel des Beitrags ist es aufzuzeigen, dass vielfach eschatologische Bezüge in der Martinsvita im Rezeptionsgeschehen einen Berührungspunkt zwischen Text- und Umwelt boten. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengeführt, wobei ver­ deutlicht wird, dass Martins Potenzial als Heiliger sich wesentlich in einem eschato­ logischen Erzählkontext entfalten konnte, denn: Sterben und Weltuntergang tangier­ ten jede/n Christen/in.

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Forschungsbeiträge zur mittelalterlichen Eschatologie liegen aktuell in nicht mehr zu überschau­ ender Fülle vor. Vgl. zu den grundlegenden Publikationen bis zur letzten Jahrtausendwende den Forschungsüberblick bei Bynum/Freedman, Introduction, S. 2–5, mit weiterführender Litera­ tur. Jüngere Publikationen finden sich bei Czock/Rathmann-Lutz, Einleitung, S. 18–20, mit weiterführender Literatur. Erst in jüngster Zeit rückten die letzten Dinge als Momente erfahrbarer Vergänglichkeiten unter dem Aspekt verschränkter Temporalitäten in den Blick der Forschung, vgl. Weitbrecht/Bihrer/Felber, Zeit der letzten Dinge, und den Stand der Forschung bei dens., Einleitung, S. 7 f. mit Anm 1–5. Zur vorstellungsgeschichtlichen Forschungskontroverse um die endzeitliche Naherwartung im Mittelalter vgl. Goetz, Mensch, S. 46–52, und zuvor bes. weitsichtig Palmer, Apocalypse, S. 4–9. Quellensammlungen zur apokalyptischen Literatur lie­ gen z. B. mit Daley, Hope, und mit McGinn, Visions of the End, vor. Vgl. explizit zu den Jhdn. am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, welche die Entstehungszeit der VM ein­ schließen, Wieser, Schatten der Endzeit. Zu Jenseitsvisionen vgl. die Ausführungen bei Bihrer, Offenbarungen, S. 242–244. Zum Thema Tod im Mittelalter vgl. z. B. Weitbrecht/Bihrer/ Felber, Einleitung, S. 7 f., und Kleine, Schätze des Heils, S. 163–165. Insbes. zum Sterben der Heiligen, z. B. umfassend von der Nahmer, Der Heilige, mit dem Forschungsstand ebd., S. 16– 21, und Goodich, Death of a Saint. Vgl. z. B. Wieser, Schatten der Endzeit, S. 229 mit Anm. 71, und Kap. 2 in diesem Beitrag.

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I. Heiligkeit und Eschatologie in der Martinsvita – ein Forschungsüberblick Die ‚Vita sancti Martini‘ zählt zu den bedeutendsten hagiographischen Schriften des Mittelalters.20 In den Jahren 396 oder 397 entstanden,21 gehört sie unter den Werken des Sulpicius Severus22 zu einer Reihe von Schriften über seinen Zeitgenossen, den heili­ gen Mönch und Bischof Martin von Tours († 397), von dessen Leben und Wirken sie erzählt.23 In der Martinsvita – so weiß es die Forschung – manifestieren sich tradierte neben innovativen Heiligkeitsmerkmalen in einer Person.24 So steht Martins Heilig­ keit im Zusammenhang mit der Propheten-,25 Apostel-26 und Christusnachfolge,27 dem Martyrium,28 dem Bekennen des rechten Glaubens,29 dem Bischofsamt30 sowie einer monastisch-asketischen Lebensweise.31 Heilige wurden als wunderwirkend32 und be­

20

Zur Rezeptionsgeschichte vgl. z. B. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 121–124, und Prinz, Mönch­ tum, S. 454 f., S. 481. Vgl. zum frühen Martinskult McKinley, First Two Centuries. Die For­ schungsliteratur zu Martin von Tours liegt in einer nicht mehr überschaubaren Fülle vor. 21 Vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 102 f. 22 Zu Sulpicius Severus vgl. ausführlich Stancliffe, St. Martin, und z. B. Wieser, Weltchronik, S. 665–668. 23 Vgl. zu Severus’ Schriften Stancliffe, St. Martin, S. 71–107, zur Datierung vgl. ebd., S. 111–133, bes. S. 117. 24 Vgl. auch Benz, Konkurrenz, und zu Martin bes. ebd., S. 127–133. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 119, verweist darauf, dass Martin auf diese Weise verschiedenen zeitgenössischen Vorstellungen von Heiligkeit entsprechen konnte. Dies beobachtete Diem, Vita Vel Regula, S. 125, auch in Bezug auf die Antoniusvita. Umfassend zeichnet ANGENENDT, Heilige und Reliquien, die Genese und Ausdifferenzierung struktureller Elemente christlicher Heiligkeit respektive Heiliger nach. 25 Vgl. Burton, Introduction, S. 32–40; vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 118. Auch Visionäre in Jenseitsreisen muten partiell prophetisch an, vgl. Bihrer, Journeys, S. 824. 26 Vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 118. 27 Vgl. z. B. Vielberg, Divergierende Formen, S. 135 mit Anm. 1; Müller, Antonius redivivus, S. 76–80, und Huber-Rebenich, Nachwort, S. 117 f. Umfassend zur Nachahmung Christi vgl. Hammer, Erzählen, bes. S. 11–15, S. 153–219 und S. 271–331. 28 Vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 118. Das Novum der VM liegt in ihrer Darstellung des marti­ nischen ‚unblutigen Martyriums‘, in dessen Folge asketische Bekenner das Ensemble der Heiligen, die sich zuvor meist durch das Martyrium auszeichneten, erweiterten, vgl. Heinzelmann, L’ha­ giographie mérovingienne, S. 32 f. 29 Vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 118. 30 Vgl. Bertrand, Rezeption und Verbreitung, S. 74*f. mit Anm. 126, und Vauchez, Heiligkeit, Sp. 2014 f. In der Martinsvita tritt das Bischofsamt nun in Personalunion mit einer monastischen Lebensweise auf, vgl. ebd. Eingang fand der Episkopat in die Hagiographie indes im 3. Jhd. durch die ‚Vita Cypriani‘ des Pontius, vgl. Leonardi, Anfänge, Sp. 1841. 31 Diese kristallisierte sich v. a. im 4. und 5. Jhd. als Charakteristikum der Hagiographie heraus, vgl. Leonardi, Anfänge, Sp. 1841. Vgl. zu Martin z. B. Rosen, Barmherzig, S. 176 f., und Müller, An­ tonius redivivus, S. 71–75. 32 Vgl. zum christlichen vir Dei Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 69–74, insbes. zur VM, S. 71, und zu ‚Verdienst und Wunder‘ ebd., S. 74–80, zur VM ebd., passim, sowie die Einschätzung von Hammer, Erzählen, S. 15: „Im Wunder manifestiert sich die Partizipation des Heiligen an der Hei­ ligkeit Gottes“.

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sonders gottverbunden gedacht,33 wobei ihre gemeinhin die menschlichen Erfahrungsund Handlungsmöglichkeiten übersteigende Eigenart – und hierin manifestiert sich insbesondere ihr sozialer Nutzen –34 durch die Nähe zu Gott in den Vordergrund trat und sie als auserlesen profilierte.35 Somit wird Heiligkeit in einem Text konstruiert,36 erfährt allerdings erst durch gesellschaftliche Anerkennung Geltung,37 weshalb gerade die Frage nach vermittelnden, die außertextuelle und textimmanente Welt nachdrück­ lich verbindenden Textmechanismen von Interesse ist. Das Argument göttlicher Nähe verbindet überdies die Viten- mit der Visionsliteratur, denn während in und durch Vi­ sionen Weltliches transzendente Sinnstiftung und Berechtigung erfuhr,38 beruht auch Heiligkeit letztlich auf Gott als der höchsten Form christlicher Transzendenz. Für die Martinsvita ist folglich eine Vielzahl an Heiligkeitsmerkmalen bekannt, die sich auf textimmanenter Figuren-Ebene verorten lassen,39 nicht aber, welche Strategie Martins Heiligkeit jenseits dessen auf temporaler Ebene vermitteln konnte.40 Um eine übergeordnete Erzählstrategie festzustellen, ist nun der Blick auf wieder­ kehrende eschatologische und mithin zeitliche Implikate in der Martinsvita hilfreich. Dabei gilt es, sowohl die offenkundigen als auch die subtilen eschatologischen Inhal­ te heranzuziehen. Die Forschung befasste sich indes vorrangig mit den Kapiteln der 33 Vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 70 f., S. 74 f., S. 80–82, bes. zu Martin ebd., S. 82, sowie Vauchez, Heiligkeit, Sp. 2015: Heilige „galten […] als wirksame Helfer und Vermittler gegenüber Gott“. 34 Vgl. Hamm, Heiligkeit, S. 630, Weitbrecht, Aus der Welt, S. 12, mit dem Verweis auf „Heiligen­ verehrung (als Funktionszusammenhang) und […] Transzendenzbehauptung (als Legitimie­ rungsstrategie)“ und Strohschneider, Textheiligung, S. 117–128, über Geltung und Geltungs­ verlust in differierenden Verwendungskontexten. 35 Heilig sein ist laut Hammer, Erzählen, S. 11, demnach nur „durch die Gnade Gottes“ möglich. Czock, Einführung, S. 11, verweist auf die „besondere Macht- und Kraftdimension“, die mit „dem Umgang mit dem Heiligen“ einhergeht. Vgl. auch Hamm, Heiligkeit, S. 629 f. Denn für die Heilig­ keitskonstruktion brauchte es Momente, die dem Heiligen einen einzigartigen Charakter attestier­ ten, vgl. Palmer, Hagiography, S. 6: „We might like heroes or celebrities who are in some sense just like us, but by definition they aren’t: there always has to be something about them – some deed, some ability – which sets them apart in a way which makes them hard to imitate“, anschlie­ ßend unter Verweis auf Brown, Enjoying the Saints, S. 16 f.: Wenn die Nachahmung eines Heili­ gen ohne Schwierigkeit umsetzbar wäre, „the distance between sacred and profane would quickly collapse“, so Palmer, Hagiography, S. 6 mit Anm. 8. 36 Zeitgleich repräsentieren legendarische Texte Heiligkeiten, vgl. Strohschneider, Textheili­ gung, S. 113. 37 Vgl. Weitbrecht, Aus der Welt, S. 12: „Als Medium von Heil und als intercessor ist der Heilige nicht nur auf die Transzendenz, sondern ebenso auf seine Anhänger- bzw. Rezipientenschaft bezo­ gen“ [Hervorhebung i. O.]. Vgl. auch Strohschneider, Textheiligung. 38 So die Annahme in diesem Tagungsband, vgl. dazu die Einführung von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht in diesem Band. 39 Vgl. dazu Kleine, Heilige Ökonomie, S. 35: „Heiligkeit wurde und wird im lateinischen Christen­ tum personal gedacht“. 40 Und so wurde mit Blick auf die „imitatio, die meist als Leitkonzept legendarischen Erzählens be­ trachtet wurde,“ zurecht die Frage nach „Konzepte[n], die vor und neben diese treten“, gestellt, Koch/Weitbrecht, Einleitung, S. 16 [Hervorhebung i. O.].

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Martinsvita, in denen ein besonders expliziter Endzeitbezug vorliegt – so geben sich z. B. in VM 23–24 Figuren als Propheten und als Christus aus – und zwar im Rahmen von Untersuchungen, die ihre Erkenntnisse aus Severus’ Gesamtœuvre schöpfen.41 Bezüglich Severus’ „Expectation of the Future“42 erklärte bereits van Andel in seiner Untersuchung zu dessen Chronik: Severus wrote the Chronicle in order to open the eyes and ears of his contemporaries to the life and doctrine of the last truly prophetic or apostolic figures [Hilarius und Martin43] in the Church. He did so with an eye to the imminent coming of Antichrist and the horrors which would accompany it.44

Dass Severus den Rezipierenden Martin qua Chronik anempfahl, erfolgte also aus dem einen, die gesamte christliche Welt einenden Grund: ihrem nahenden Ende. Mit Bezug auf die Martinsvita fährt van Andel später fort: „In the Vita (and later in the Epistulae and the Dialogi), Severus displays the exemplary figure of St. Martin to the full.“45 Er verweist somit nicht nur auf die Funktion der Vita, Martin als Vorbild zu empfehlen, sondern auch auf die bedeutsame Rolle der zeitlichen mithin eschatologi­ schen Konzeption, durch die Martin erst an Relevanz gewinnt.46 Doch kann die Mar­ tinsvita diese Funktion übernehmen, wenn lediglich die so oft zitierten, fast letzten Kapitel Bezug auf das Weltende nehmen? Umso vielversprechender dürfte es nun sein, die Martinsvita detaillierter, also über die bekannten Passagen hinaus, nach eschato­ logischen Implikaten – die die Zeitgenossen sicherlich zu deuten wussten – zu befra­ gen und zusammenzuführen. Der Fokus soll in diesem Beitrag daher ganz bewusst auf die temporalen Einschübe in der Vita gerichtet werden.47 Denn in Ergänzung zu den 41

42 43 44 45 46 47

Vgl. z. B. Wieser, Schatten der Endzeit, und dies., Weltchronik, S. 677–679, dort nebst Passagen aus Sulp. Sev., Chron. I und II, sowie Dial. II mit Bezug auf VM 24. Fontaine, Perception, stellte zu Severus’ Schriften unter Einbezug von VM 22, ebd., S. 173, und VM 23 f., ebd., S. 174, fest: „Le temps qui reste à courir avant la Parousie y est déjà programmé comme un drame grandiose qui récrit et simplifie les prophéties de l’Apocalypse johannique.“ Fontaine, Perception, S. 175 [Her­ vorhebung i. O.]. McGinn, Visions of the End, S. 51 f., bezieht sich auf Sulp. Sev., Dial. I, 41, und Daley, Hope, S. 126 f., ergänzt zu Sulp. Sev., Dial. II, 14, Sulp. Sev., Chron. I, 2, und Chron II, 3, und 33, ebenfalls VM 22 und 24. Laut Seeliger, Beobachtungen, S. 307–314, unterscheide Martin sich von den Bischöfen seiner Zeit u. a. durch seine eschatologischen Vorstellungen (Sulp. Sev., Dial. II, 14; Chron. II, 28; 29 und VM 22), vgl. ebd., S. 113. Vielberg, Divergierende Formen, bemerkte in seiner Arbeit zu unterschiedlichen Heiligkeitsformen in der Réécriture der Martinsvita Anfänge einer „eschatologische[n] Ausrichtung“ bei Severus, ebd., S. 138. Van Andel, Christian Concept, S. 117–138, Zitat S. 117. Vgl. zu Martin als Apostelnachfolger und Prophet van Andel, Christian Concept, S. 135–138, bes. S. 135. Van Andel, Christian Concept, S. 139. Van Andel, Christian Concept, S. 140 [Hervorhebungen i. O.]. Ähnlich auch Vaesen, Sulpice Sévère, S. 70. Stancliffe widmete sich in ihrer umfassenden Studie auch den ‚Literary Forms of the Martinian Writings‘, so Stancliffe, St. Martin, S. 86, zur VM vgl. ebd., S. 86–102; eschatologische Kompo­ nenten im Aufbau der Vita spielten bei ihrer Untersuchung der VM jedoch keine Rolle, vgl. ebd.,

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häufig zitierten Passagen gen Ende der Vita gewinnt im Anschluss an das Thema des vorliegenden Sammelbandes und in Bezug auf eine eschatologische Lesart der Mar­ tinsvita vor allem der Beitrag von Moreira an Relevanz, in dem sie anhand der Rezep­ tion des Auferstehungswunders am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter plausibilisiert, dass Martin in der Nachfolge Christi und der Apostel als Retter der Ver­ storbenen aus der Hölle galt.48 Das in den Visionen so oft geschilderte Jenseits kann also im Anschluss an Moreira für die zeitgenössische Rezeption der Martinsvita als ein Ort verstanden werden, der dem Heiligen prinzipiell zugänglich war. Nun liegen – textchronologisch betrachtet – das Auferstehungswunder (VM 7) und die auftreten­ den endzeitlichen Figuren (VM 23–24) weit auseinander. Es zeichnet sich daher ab, dass die Forschung im Umgang mit der Martinsvita bisher kaum die Vielfalt textinter­ ner Phänomene, die in einem eschatologischen Kontext erzählt werden, hinsichtlich ihrer Wirkung auf Heiligkeitskonstruktion und Vermittlungsstrategie betrachtet hat. Somit scheint die Frage nach übergeordneten Zusammenhängen und einer dahinter liegenden Erzählstrategie umso lohnender: Gibt es eine Lesart, bei der diese endzeit­ lich konnotierten Passagen in dieser Hinsicht produktiv werden? Liegt die Annahme nicht nahe, dass die Martinsvita die Heiligkeit des Protagonisten mehr noch als nur in den nahezu letzten Kapiteln vor dem Hintergrund eines eschatologischen Gedanken­ horizonts verdeutlichen sollte? Müssen wir nicht angesichts eines zeitgenössischen ‚Apokalypse-Diskurses‘ geradezu nach einer eschatologischen Lesart der Martinsvita fragen?49 Im Folgenden soll eine solche Lesart vorgeschlagen werden, die im Rezeptionspro­ zess als Vermittlungsstrategie fungieren konnte, indem entsprechende Erzählpassagen über ihre Verweise auf außertextuelle Eschata einen lebensweltlichen Bezug aufwei­ sen. Denn ganz gleich, zu welchem Zweck Severus die Vita verfasste50 – sie musste

S. 86–95. Zur Endzeitvorstellung werden hingegen die bekannten Passagen der VM – die Kap. 24, 3 und 21, 4 – aufgegriffen, vgl. ebd., S. 248 mit Anm. 97 f. 48 Vgl. Moreira, Plucking Sinners. 49 Vgl. den Untertitel bei Wieser, Schatten der Endzeit. 50 Martins Lebensweise sollte das Publikum zur Nachahmung anregen, so Severus in VM 1, 6, ed. Fontaine, S. 252. Vgl. dazu weiter Huber-Rebenich, Nachwort, S. 111. Die Forschung ergänzte indes weitere Intentionen. So zielte die Vita darauf ab, Martins Heiligkeit zu bezeugen, vgl. Stan­ cliffe, St. Martin, S. 96, und seine Person sollte verteidigt werden, so Diem, Vita Vel Regula, S. 126. Zum apologetischen Ton in Bezug auf Martins militärische Laufbahn und Bildung vgl. See­ liger, Beobachtungen, S. 307–313, zum Bildungshintergrund auch Stancliffe, St. Martin, S. 21 f. Zur asketischen Lebenspraxis vgl. McKinley, First Two Centuries, S. 176 f., und zu politischen Intentionen vgl. ebd., S. 179. Vgl. zur Charakterisierung Martins als Imperator Dei Berschin, Bio­ graphie und Epochenstil, S. 195–211, bes. S. 203 f.; als miles Christi auch knapp Huber-Rebenich, Nachwort, S. 112–114, oder als „Magier und Thaumaturg“ Brennecke, Commemoratorium, S. 74–76. Ferner diente die Vita der Durchsetzung des „ascetic ideal“, so Stancliffe, St. Mar­ tin, S. 96. Prinz, Mönchtum, S. 455 f. mit Anm. 16, verweist darauf, dass die monastische Art zu leben in klerikalen Kreisen des 4. Jhds. nicht allseits akzeptiert war. Vgl. zu Differenzen zwischen

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sich auch gegen zeitgenössisches Misstrauen behaupten51 und hatte gerade deshalb die Wirksamkeit des Heiligen in das Alltagsleben der Rezipierenden zu integrieren. Erst im Zuge dessen konnte sich eine Akzeptanz des Transzendenzphänomens etablieren und das Absichtenspektrum ob dessen gesellschaftlicher Bedingtheit entfalten. Da hier vor allem die zeitliche Dimension als Bindeglied zwischen der erzählten und der außertextuellen Welt interessiert, dient der vorstellungsgeschichtliche Kon­ text der Vita als Referenzrahmen, unterlag doch das Verständnis von Zeit keiner sta­ tischen Kontinuität.52 Severus selbst empfand sich als dem Weltende nahe lebend.53 Damit war er im ausgehenden vierten Jahrhundert nicht allein, denn auch jenseits seiner Werke konstatierte die Forschung vielen Zeitgenossen eine ausgeprägte End­ zeitstimmung.54 Die Veränderungen, die das Römische Reich in dieser Zeit erfuhr, evozierten eine Selbstverortung in der Endzeit.55 Jene „neue Einstellung zu Tod und Jenseits“ kristallisierte sich heraus – so Vielberg mit Blick auf Grabstätten, die von der Peripherie in die städtischen Mittelpunkte verlegt und dadurch gesellschaftlich mehr beachtet wurden.56 So stellt Wieser fest: „Im Verlauf des vierten Jahrhunderts trans­ formiert der christlich-eschatologische Diskurs die allgemeine Wahrnehmung der Welt“.57 In dieser Zeit befand sich die hagiographische Literatur in ihren Anfängen58 und die für die mittelalterliche Visionsliteratur so bedeutsame ‚Visio Pauli‘ fand erst in Form der ‚Paulus-Apokalypse‘ ihren Niederschlag.59 Aufgrund dieser Dynamiken, die eine intensive zeitgenössische Auseinandersetzung mit eschatologischen Themen zeigen, gilt es, auch eschatologischen Konnotationen in der Martinsvita eine entspre­

Episkopat und Asketentum auch McKinley, First Two Centuries, S. 175 f. Zur Verbreitung der christlichen Religion unter gebildeten nicht christlichen Gruppen qua Integration von Elementen aus der traditionellen Profanliteratur in der VM vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 110, und zur Absicht, christliche Literatur zu etablieren, ebd., S. 108. 51 Vgl. Stancliffe, St. Martin, S. 6 f. Vgl. auch van Andel, Christian Concept, S. 140 f. 52 Vgl. Czock/Rathmann-Lutz, ZeitenWelten. 53 Vgl. Möhring, Traditions, S. 274; Vaesen, Sulpice Sévère, S. 53. 54 Vgl. Palmer, Apocalypse, S. 25–54. Van Andel, Christian Concept, S. 118, verortet Severus’ An­ tichristvorstellung mit Bezug auf VM 24 als „part of a current tradition in the ancient Church“; zu Martin ebd., S. 135. Meier, Eschatologie, S. 52 f. mit Anm. 40, verweist auf „die Tatsache, daß of­ fenbar auch um 400 vielfach konkrete Endzeitängste bestanden“, ebd., S. 52. Im Gegensatz zu den oströmischen Erwartungen, dass die Welt um 500 ihr Ende finden würde, so ebd., S. 46–50, zähle Severus zu den wenigen im Westen, die sich dieser Berechnung anschlossen, so unter Verweis auf VM 24, 3, Sulp. Sev., Dial. und Chron., Meier, Eschatologie, S. 51 mit Anm. 33. Vgl. auch Wieser, Weltchronik, S. 676 f. 55 Vgl. Wieser, Weltchronik, und dies., Schatten der Endzeit. 56 Vielberg, Divergierende Formen, S. 137, Zitat ebd. 57 Wieser, Weltchronik, S. 682. 58 Vgl. Stancliffe, St. Martin, S. 102. 59 Vgl. ausführlich dazu Jiroušková, Visio Pauli, S. 5–20. Zum Entstehungszeitraum der ‚Pau­ lus-Apokalypse‘ bes. ebd., S. 8 f., und zur Rezeption einer lateinischen Fassung im 6. Jhd. im süd­ italienischen, gallischen und provenzalischen Raum bes. ebd., S. 13 f. mit Anm. dort.

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chende Bedeutung beizumessen – ihre christlichen, Severus gleichgesinnten Adressat­ Innen wussten diese gewiss zu deuten.60 II. Eschatologischer Wegweiser Die Martinsvita beginnt mit einer brieflichen Widmung,61 ehe die Lebensbeschrei­ bung im übernächsten Kapitel62 einsetzt. Zentral für die Zwecke des vorliegenden Beitrags ist jenes Vorwort, das sich zwischen diesen beiden Abschnitten befindet.63 Dies beruht nicht nur darauf, dass Severus sich darin direkt an die Rezipierenden wendet.64 Es erklärt sich auch durch die programmatische Funktion einleitender Pas­ sagen in Erzählungen: Diese wirken gedanklich richtungsweisend, steuern die Auf­ merksamkeit auf einen bestimmten Sachverhalt und wecken erste Assoziationen, um den weiteren Lesefluss zu beeinflussen.65 Worauf stimmen die ersten Sätze der Mar­ tinsvita also ein? Gar viele Sterbliche versprachen sich in eitler Hingabe an weltliches Streben und weltli­ chen Ruhm ein, wie sie meinten, fortdauerndes Andenken an ihren Namen davon, wenn sie das Leben berühmter Männer mit ihrer Feder verherrlichten. […] Doch für jenes se­ lige und ewige Leben hatte dieses ihr Bestreben keinerlei Bedeutung. Was nämlich nützte ihnen der mit der Welt vergehende Ruhm ihrer Schriften […]?66

Die Hervorhebung weltlicher und menschlicher Vergänglichkeit legt den Fokus gleich zu Beginn der Vita auf den Tod als individual-eschatologisches Ereignis. Auch wird an dieser Stelle der gedankliche Schritt vollzogen, das Ende (in) dieser Welt mit dem Beginn eines Lebens jenseits der irdischen Existenz zu verbinden, indem auf Gottes Ewigkeit verwiesen wird. Dieser Grundgedanke setzt sich fort, wenn Severus mahnt,

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Die VM richtete sich ob ihrer Figur des asketischen respektive bischöflichen Mönches an Asketen und Bischöfe, vgl. McKinley, First Two Centuries, S. 178, doch auch an senatorische Gruppen westlicher Provinzen, vgl. Huber-Rebenich, Nachwort, S. 106. Vgl. auch Stancliffe, St. Mar­ tin, S. 82. 61 Vgl. VM ep. ded., ed. Fontaine, S. 248–250. 62 Vgl. VM 2, ed. Fontaine, S. 254–256. 63 Vgl. VM 1, ed. Fontaine, S. 250–254. Zu diesem Kapitel zuletzt auch Müller, Antonius redivi­ vus, bes. S. 67–71. 64 Vgl. VM 1, 6 und 8 f., ed. Fontaine, S. 252–254. 65 Vgl. Moennighoff, Vorwort, S. 809. 66 VM 1, 1–3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 9, ed. Fontaine, S. 250–252: Plerique mortales, studio et gloriae saeculari inaniter dediti, exinde perennem, ut putabant, memoriam nominis sui quaesierunt, si uitas clarorum uirorum stilo inlustrassent. […] Sed tamen nihil ad beatam illam aeternamque uitam haec eorum cura pertinuit. Quid enim aut ipsis occasura cum saeculo scriptorum suorum gloria profuit? aut quid posteritas emolumenti tulit legendo Hectorem pugnantem aut Socraten philosophantem.

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dass „es doch Aufgabe des Menschen ist, eher ewiges Leben als ewiges Andenken zu erstreben“.67 Der individuelle Tod und ein Dasein nach dem weltlichen Ende bilden folglich den gedanklichen Fluchtpunkt und so ist Sulpicius Severus’ erstes Kapitel der Martinsvita bereits geprägt von einer eschatologischen Denkweise. Diese eschatologische Prägung ergibt sich auch aus einem Vergleich des ersten Ka­ pitels mit dem Brief des Paulus an die Kolosser. Der gedankliche Inhalt des Briefes steht in auffälliger Nähe zum ersten Kapitel der Martinsvita. Paulus warnt in seinem Brief vor der Weltlichkeit und der Philosophie: „Seht zu, dass niemand euch verführt: durch Philosophie und leere Täuschung, nach der Lehre der Menschen, nach den Elementen der Welt“.68 Die inanem fallaciam secundum traditionem hominum secundum elementa mundi69 korrelieren mit dem ersten Satz des ersten Kapitels der Vita: Plerique mortales, studio et gloriae saeculari inaniter dediti.70 Eitle Täuschung ist bei Paulus von Menschlichem und Weltlichem bedingt. Severus interpretierte Paulus Worte vor dem Hintergrund seiner Zeit: Eitel sei es, sich den weltlichen Dingen – das sind für ihn Studium und Ruhm – zu widmen. Die Vorstellung aus dem Brief an die Kolosser, dass weltlichen Belangen Täuschung inhärent sei, wird folglich in der Martinsvita repro­ duziert. Dies wird umso deutlicher, als Severus auch den Begriff der Philosophie auf­ greift, der im Brief als ein Mittel des Betruges einem nicht namentlich genannten Sub­ jekt zugeordnet wird: ne quis vos decipiat per philosophiam.71 Severus hingegen besetzt diese Leerstelle mit einem bekannten Namen – dem des Sokrates: „[O]der welchen Vorteil zog die Nachwelt daraus, wenn sie von den Kämpfen des Hektor oder der Phi­ losophie des Sokrates las?“72 Im Kolosserbrief noch auf einen Satz begrenzt, entfaltet sich der gedankliche Inhalt in der Martinsvita und ist dabei eingesponnen in ein Netz von eschatologischen Bezügen, denn „nicht durch Schreiben oder Kämpfen und Phi­

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VM 1, 4, übers. v. Huber-Rebenich, S. 11, ed. Fontaine, S. 252: [C]um hominis officium sit perennem potius uitam quam perennem memoriam quaerere. Kol 2,8, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 921, mit dem lateinischen Text auf S. 920: [V]idete ne quis vos decipiat per philosophiam et inanem fallaciam secundum traditionem hominum secundum elementa mundi. Die Bibelzitate in diesem Beitrag folgen der Ausgabe der Biblia sacra vulgata von Beriger, Ehlers und Fieger. Parroni, Introduzione, S. VIII, vermutet, dass Severus die la­ teinischen Bibeltexte der Vetus Latina/Itala vorlagen; auch die Septuaginta könnte ihm bekannt gewesen sein, die Nutzung der Vulgata möchte er hingegen ausschließen und gibt exemplarisch Wortformen aus Severus’ Chronik an, die über das Alter der Vulgata hinausgehen und somit auf eine frühere Textform zurückreichen würden, ebd. S. IX. Zugunsten der Einfachheit wird hier und im Folgenden für die Bibelpassagen dennoch stets die Biblia sacra vulgata von Beriger, Ehlers und Fieger herangezogen, da der Schwerpunkt auf dem Inhalt, nicht auf den Wortformen liegt. Kol 2,8, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 920. VM 1, 1, ed. Fontaine, S. 250. Kol 2,8, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 920. VM 1, 3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 9, ed. Fontaine, S. 250–252: [A]ut quid posteritas emolumenti tulit legendo Hectorem pugnantem aut Socraten philosophantem […]?

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losophieren“73 könne „ewiges Leben“74 erreicht werden – dies sei nur möglich „durch ein frommes, gottgefälliges und gottesfürchtiges Leben.“75 Der Bezug der beiden Texte zueinander liegt in Severus’ Deutung begründet: Wenn Paulus vor Weltlichkeit und Philosophie warnt, dann folgt Severus ihm darin, indem auch er den Rezipierenden von Weltzugewandtheit und leerer Philosophie abrät und stattdessen eine christliche Ausrichtung auf das Leben nach dem Tod empfiehlt. Indes trägt ebendiese Passage des Kolosserbriefes selbst eine eschatologische Konnotation, die hier erst später aufgegrif­ fen werden soll. Festzuhalten bleibt vorerst, dass ein Bewusstsein der Rezipierenden im ersten Kapitel für das Ende von Leben und Welt erzeugt wird. III. Mantelteilung und Heiligkeitsstiftung Severus berichtet, dass Martin eines Winters einem unbekleideten Bettler vor den To­ ren von Amiens eine Hälfte seines Mantels schenkte. Ringsherum standen einige Leu­ te und verlachten ihn. Andere bereuten, nicht selbst wie er gehandelt und dem Armen wärmende Kleidung gespendet zu haben. Die Mantelteilung vor Amiens76 hat sich wie keine zweite Szene aus der Martinsvita in außertextueller Präsenz niedergeschlagen.77 Die Kleidungsspende vor Amiens stellte dabei jedoch weder das erste noch das einzi­ ge derart gute Werk dar, das Martin bis dahin verrichtet hatte. Bereits während seines Militärdienstes hatte er Bedürftige bekleidet, so berichtet Severus es schon im vor­ angehenden Kapitel.78 Doch diese eine Mantelteilung wird durch die anschließende Passage, die zur ‚transzendenten Begründung‘79 der Heiligkeit des Protagonisten führt, singulär: Des Nachts80 erscheint Christus vor Martin, gewandet in dessen Mantel, um ihm sein gutes Handeln zu bezeugen.81 Severus lässt Christus direkt zu Martin spre­ chen: „Martin, der noch Katechumene ist, hat mich mit diesem Gewand bedeckt“,

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VM 1, 4, übers. v. Huber-Rebenich, S. 11, ed. Fontaine, S. 252: [N]on scribendo aut pugnando uel philosophando. VM 1, 4, übers. v. Huber-Rebenich, S. 11, ed. Fontaine, S. 252: [P]erennem […] uitam. VM 1, 4. übers. v. Huber-Rebenich, S. 11, ed. Fontaine, S. 252: [P]ie sancte religioseque uiuendo. Vgl. zu diesem Abschnitt VM 3, ed. Fontaine, S. 256–258. Erwähnt sei hier nur, dass der Mantel seit 679 als Reliquie zum königlichen Hort der Merowinger zählte, vgl. von der Nahmer, Martin, Sp. 345. Vgl. zur Tradition des Mantels in der Vitenlitera­ tur Benz, Konkurrenz. Vgl. VM 2, 8, ed. Fontaine, S. 256. Vgl. den Titel dieses Tagungsbandes. Gesichte ereigneten sich häufig nachts, vgl. z. B. Gregor d. Gr., Dial. IV 14, 16, 18 und 27, ed. de Vogüé. Vgl. VM 3, 4, ed. Fontaine, S. 258: [E]t ad confirmandum tam boni operis testimonium in eodem se habitu, quem pauper acceperat, est dignatus ostendere. Müller, Antonius redivivus, S. 74 f., verweist auf die Bedeutsamkeit der Christuserscheinung innerhalb Martins Entwicklung vom Taufanwär­ ter zum Heiligen.

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heißt es in der Vita.82 Die Erscheinung ist ein Zeichen Gottes, mithin höchster Auto­ rität, dass Martins herausragendes, christlich-tugendhaftes Handeln beweist – seine Heiligkeit wird von Christus selbst bezeugt.83 Severus autorisiert daraufhin diesen Passus mit Christi Worten aus dem Evangeli­ um: „Was immer ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“.84 An entsprechender Stelle im Matthäus-Evangelium heißt es: „[I]ch sage euch: Solange ihr […] einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, habt ihr […] für mich getan.“85 Nun ist diese Bibelstelle nicht lediglich ein Verweis auf christliches Verhal­ ten.86 Bedeutender für die Rezeption ist der Befund, dass sie dem evangelischen Be­ richt über das Ende der Welt entstammt,87 womit die Annahme nahe liegt, dass Sever­ us sie ob ihrer endzeitlichen Botschaft in die Passage einpflegte. Die eschatologische Wirkung dieses Bibelzitates in der Vita wird mit Blick auf den unmittelbaren Kontext der Bibelstelle eindeutig. Ferner heißt es im Matthäus-Evangelium einige Zeilen vor der von Severus übernommenen Bibelstelle nämlich: Wenn aber der Menschensohn kommt in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf dem Sitz seiner Herrlichkeit sitzen. Und vor ihm werden alle Völker versam­ melt werden, und er wird sie voneinander trennen, wie der Hirt Schafe von den Ziegen­ böcken trennt. Und er wird die Schafe zwar zu seiner Rechten aufstellen, die Ziegenböcke aber zu seiner Linken. Dann wird der König denen, die zu seiner Rechten sein werden, sagen: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmt das Königreich in Besitz, das für euch seit der Erschaffung der Welt vorbereitet ist! […] Ich war nackt, und ihr habt mich bedeckt88.

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VM 3, 3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 17, ed. Fontaine, S. 258: Martinus adhuc catechumenus hac me ueste contexit. Vgl. auch Müller, Antonius redivivus, S. 75. Zur Rezeption dieser Textpassage vgl. auch die Dar­ stellung im Fuldaer bzw. Göttinger Sakramentar bei Winterer, Sakramentar, bes. S. 550, und im Bamberger Sakramentar, ebd., S. 319. VM 3, 4, übers. v. Huber-Rebenich, S. 17, ed. Fontaine, S. 258: [Q]uamdiu fecistis uni ex minimis istis, mihi fecistis. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 78 (Anm. 40), verweist auf Mt 25,40. Auch in der Visionsliteratur fungierten Bibelzitate als autoritative Belege für Glaubwürdigkeit, vgl. die Einführung von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht in diesem Band. Mt 25,40, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 162 f.: [D]ico vobis quamdiu fecistis uni de his fra­ tribus meis minimis mihi fecistis. Der Verweis findet sich bei Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 78 (Anm. 40). Die Tat birgt sowohl asketische als auch soziale Züge: zur Stilisierung Martins nach dem Vorbild des Barmherzigen Samariters vgl. Rosen, Martin, S. 12 f.; Müller, Antonius redivivus, S. 74. Zum Zusammenhang zwischen Askese und Gesellschaft bei der Heiligkeitskonstruktion als charismati­ scher Mensch vgl. Münkler, Amicus Dei, bes. S. 375 f. Vgl. Mt 25,31–46, in: Beriger/Ehlers/Fieger, S. 160–163. Vgl. zum Zusammenhang von VM 3, 1–4 und Mt 24–25 auch Benz, Konkurrenz, S. 132. Mt 25,31–36, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 160 f.: Cum autem venerit Filius hominis in maiestate sua et omnes angeli cum eo tunc sedebit super sedem maiestatis suae et congregabuntur ante eum omnes gentes et separabit eos ab invicem sicut pastor segregat oves ab hedis et statuet oves quidem a

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Wie im Evangelium dargelegt, befindet sich auch Martin in Folge seiner Mantelspende nun zur rechten Seite Christi. Dies ergibt sich aus einem logischen Transfer von der Bi­ belpassage auf die Beschreibung in der Martinsvita, denn wie diese erzählt, ist Martin diejenige Person, von der im Evangelium gesprochen wird – Christus war nackt und Martin kleidete ihn. Damit hatte er sich den rechten Platz und den Eingang ins Him­ melreich verdient. Im Anschluss an Mt 25,40 ist die Rede auch von denjenigen, die ihr Dasein aufgrund ihrer Untätigkeit künftig in der Hölle fristen müssen: Dann wird er auch denen, die zu seiner Linken sein werden, sagen: Geht weg von mir, Ver­ fluchte, ins ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet worden ist! […] [I]ch war nackt, und ihr habt mich nicht bedeckt89.

Beide Jenseitsorte – Himmel und Hölle – werden also in Folge des Gerichts ange­ sprochen und dabei als finale Bestimmungsorte ausgewiesen: „Und diese werden zur ewigen Strafe gehen, die Gerechten aber ins ewige Leben.“90 Vita[…] aeterna[…]91 – ist es nicht dies, was Severus zu Beginn der Vita programmatisch den Rezipierenden anempfahl?92 Die Mantelteilung kann somit dahingehend eschatologisch verstanden werden, dass sie nicht losgelöst von der sich anschließenden Erscheinung Christi gele­ sen werden kann: Erst diese bewirkt eine transzendent autorisierte Heiligkeitsstiftung für Martin, jener, der zur rechten Christi stehend in den Himmel eingehen wird. Gerade aufgrund dieser Schlussfolgerung verdienen die weiteren eschatologischen Zusammenhänge, die Burton in seinem Kommentar zur Martinsvita angibt, beson­ dere Aufmerksamkeit. Zunächst nennt er im Zuge der Gegenüberstellung von Arm und Reich das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus als Teilvorlage für den Passus in der Vita.93 Das Lukas-Evangelium berichtet davon, dass ein wohlha­ bender Mann schon zu Lebzeiten Gutes erhielt, seine Glückseligkeit daher von imma­ nenter Natur und an die Vergänglichkeit von Welt und Leben gebunden ist und er im Umkehrschluss seine jenseitige Existenz in der Hölle verbringt. Der arme Lazarus hin­ gegen hatte in der Welt nichts Gutes erfahren – doch nach seinem Tod geht er „in den Schoß Abrahams“94 ein; dort widerfährt ihm die Güte, die ihm im Diesseits verwehrt blieb.95 Das Gleichnis akzentuiert nicht nur den Unterschied zwischen diesseitigem dextris suis hedos autem a sinistris tunc dicet rex his qui a dextris eius erunt venite benedicti Patris mei possidete paratum vobis regnum a constitutione mundi […] nudus et operuistis me. 89 Mt 25,41–43, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 162 f.: [T]unc dicet et his qui a sinistris erunt discedite a me maledicti in ignem aeternum qui paratus est diabolo et angelis eius […] nudus et non operuistis me. 90 Mt 25,46, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 162 f.: [E]t ibunt hii in supplicium aeternum iusti autem in vitam aeternam. 91 Mt 25,46, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 162. 92 Vgl. VM 1, 2, ed. Fontaine, S. 250: [B]eatam illam aeternamque uitam. 93 Vgl. Burton, Commentary, S. 159. 94 Lk 16,22, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 380 f.: [I]n sinum Abrahae. 95 Vgl. Lk 16,19–31, zu diesem Abschnitt.

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und jenseitigem Ergehen. Die Erinnerung an das Gleichnis stiftet einen eschatologi­ schen Sinn der Mantelteilung: Das weltliche Leben beeinflusst den Aufenthaltsort und Zustand der Seele im Jenseits.96 Vor diesem eschatologischen Hintergrund, der in der Mantelteilungsszene durch die Bibelstellenassoziationen mitgedacht werden kann, rückt Martin durch seine freiwillige Mantelteilung und die so provozierte Armut ins Licht des Lazarus. Der Himmel und somit eine explizite Nähe zu Gott erwartete also auch Martin, der aktiv zu seinem jenseitigen Aufenthaltsort beiträgt, indem er sich von seinem Besitz trennt. Seine Heiligkeit – dies exemplifiziert Severus an dieser Textstel­ le – wird durch seine eschatologische Handlungsabsicht unterstützt. Dem Publikum wird hier somit durch ein Beispiel die programmatische Einleitung der Martinsvita noch einmal vor Augen geführt: hominis officium sit perennem potius uitam […] pie sancte religioseque uiuendo.97 In Severus’ Briefen, in denen er die Erzählung der Vita um den Tod des Heiligen erweitert, klingt die Lazarus-Szene ebenfalls an.98 Im Moment des Sterbens entgegnet Martin in Form direkter Rede dem ihm erscheinenden Teufel: Abrahae me sinus recipit 99 – so wie auch Lazarus von Engeln in sinum Abrahae100 geleitet wurde. Burton erblickte ferner in Martins Mantel als „symbol or vehicle of spriritual cha­ risma“ eine Parallele zur alttestamentlichen Passage über Elias Entrückung.101 Im Rah­ men der vorliegenden Untersuchung lohnt es sich, diese Szene genauer zu betrachten, denn die implizierte Berührung der Figuren Elia und Martin über den Mantel stellt Martin nicht nur in die Prophetennachfolge:102 Und Elija nahm seinen Mantel und wickelte ihn zusammen und schlug die Wasser, die sich teilten nach beiden Seiten, und sie gingen beide zusammen über trockenen Boden. […] Und als sie weitergingen und sich im Gehen unterhielten, siehe: Ein feuriger Wagen und feurige Pferde trennten die beiden. Und Elija stieg durch einen Wirbelsturm in den Himmel hinauf.103

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Die „Vorbildfunktion“ Martins für die sich um ihr jenseitiges Wohlergehen sorgenden wohlhaben­ den Rezipierenden wurde in der Forschung bereits erkannt, vgl. Zimmermann, Wert der Armut, S. 80 f., mit Zitat auf S. 80; vgl. ausführlich zu Lazarus den Beitrag von Julia Weitbrecht in diesem Band. 97 VM 1, 4, ed. Fontaine, S. 252. 98 Vgl. von der Nahmer, Der Heilige, S. 96. 99 Sulp. Sev., Ep. 3, 16, ed. Fontaine, S. 342. Der Verweis auf die Verbindung mit Lk 16,22 findet sich bei von der Nahmer, Der Heilige, S. 96. 100 Lk 16,22, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 380. 101 Vgl. Burton, Commentary, S. 161. 102 Vgl. zu Parallelen zwischen Martin und Elia Burton, Introduction, S. 32–34. 103 4 Rg 2,8–11 (= Malachim II 2,8–11), zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 662 f.: [T]ulitque Helias pallium suum et involvit illud et percussit aquas quae divisae sunt in utramque partem et transierunt ambo per siccum […] cumque pergerent et incedentes sermocinarentur ecce currus igneus et equi ignei diviserunt utrumque et ascendit Helias per turbinem in caelum.

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Der Mantel ist folglich gleichermaßen das Attribut von Elia und Martin. Die Analogie besagt, dass auch Martin gen Himmel fahren wird, als der vom Herrn Auserwählte. Zumindest dürfte bei einer Reminiszenz an Elias Mantel der eschatologische Kontext durch ein bibelkundiges Publikum mitgedacht worden sein. Es manifestiert sich in der Mantelteilung somit eine plurale eschatologische Assozi­ ationsfülle, die es nahelegt, Heiligkeit und endzeitliche Kontextualisierung zusammen zu denken, um die synergetische Wirkung ihres Ineinandergreifens im Vollzug der Hei­ ligkeitskonstruktion verstehen zu können. Derjenige Publikumsanteil der Martinsvita, der sich am Ende der Zeiten verortete, konnte in Martin gerade ob seiner Wirksamkeit in dieser dramatischen Zeit einen heiligen Helfer erkennen und annehmen. Die aus­ bleibende Einordnung der Mantelteilung in einen weltlichen Zeitrahmen innerhalb der Vita wurde in der Forschung mit dem geschwundenen Erinnerungsvermögen des Heiligen und des Hagiographen begründet.104 Angesichts der eschatologischen Kon­ notationen erfährt die Passage der Mantelteilung jedoch durch die Christuserschei­ nung innerhalb des christlichen Zeitverständnisses bereits eine Datierung: Innerhalb der Zeitspanne, in welcher diese Welt existiert, verweist sie auf ihr nahendes Ende. Diese Zeitauffassung liegt der gesamten Vita zugrunde. IV. Tod, Gericht und Heiligkeit Die eschatologische Perspektive tritt schon bald nach der Christuserscheinung erneut in der Vita auf, als ein neues Mitglied aus Martins gerade gegründeter Gemeinschaft105 noch während des Katechumenats in Martins Abwesenheit verstirbt.106 Mit dem Tod des Katechumenen beginnt die Schilderung einer Szene, die nicht nur Berührungs­ punkte mit späteren Berichten über Jenseitsreisen aufweist, sondern auch Martins Heiligkeit vor einem individual-eschatologischen Hintergrund mithin einer Vision des jenseitigen Gerichts profiliert. Wie spätere Visionäre, so erkrankt auch der junge Schüler Martins von Fieber begleitet vor seinem Tod: Zu dieser Zeit schloss sich ihm [Martin] ein Katechumene an, der begehrte, in den Leh­ ren des hochheiligen Mannes unterrichtet zu werden. Nach wenigen Tagen befiel ihn eine Schwäche, und er litt an hohem Fieber.107

104 Vgl. Rosen, Martin, S. 12. 105 Logociacum bzw. Ligugé, vgl. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 81 (Anm. 59). 106 Vgl. VM 7, ed. Fontaine, S. 266–268. 107 VM 7, 1, übers. v. Huber-Rebenich, S. 25, ed. Fontaine, S. 266: Quo tempore se ei quidam catechumenus iunxit, cupiens sanctissimi uiri institui disciplinis. Paucisque interpositis diebus, languore correptus ui febrium laborabat.

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Zum Vergleich sei hier stellvertretend auf die mit Fieber einhergehenden Erscheinun­ gen im vierten Buch der Dialoge Gregors des Großen, das gleich mehrere Berichte über Gesichte verschiedener Art im Moment des Sterbens bündelt,108 und die früh­ mittelalterliche ‚Visio Baronti‘ verwiesen, in der es über Barontus heißt: repente febre correbtus109. Bereits die Initiation der Entrückung verbindet diese Passage aus der Mar­ tinsvita mit der Jenseitsreiseliteratur. Während letztere jedoch einer Erzählung aus der Perspektive der Entrückten folgt, begeht die Erzählung in der Vita einen anderen Pfad. Das Augenmerk wird auf Martin gelegt, dessen Heiligkeit sich, als er zurückkehrt, im Vollzug eines Wunders „nach biblischem Vorbild“ offenbart:110 Da aber fühlte er [Martin] sein ganzes Herz erfüllt vom Heiligen Geist, hieß die übrigen die Zelle, in der der Leichnam lag, verlassen und warf sich hinter verschlossener Tür über die entseelten Glieder des verstorbenen Bruders. Und als er eine Zeitlang inbrünstig gebe­ tet und gespürt hatte, wie sich durch den Geist des Herrn Wunderkraft einstellte, da rich­ tete er sich ein wenig auf und erwartete, den Blick auf das Gesicht des Toten geheftet, un­ verzagt die erfolgreiche Wirkung seines Gebets und der göttlichen Barmherzigkeit. Und kaum waren etwa zwei Stunden vergangen, da sah er, wie sich nach und nach alle Glieder des Toten regten, wie seine Augen zuckten und sich öffneten, um zu sehen.111

Mit Blick auf das Thema Jenseitsvisionen ist insbesondere die sich anschließende Aus­ führung zu beachten: Derselbe [der Katechumene] pflegte aber auch zu berichten, wie er, seines Körpers ent­ ledigt, vor den Richterstuhl geführt worden und das strenge Urteil an ihn ergangen sei, er solle an einen finsteren Ort mit gemeinem Gesindel verbracht werden. Da hätten zwei Engel dem Richter zugetragen, dass er derjenige sei, für den Martin bete. So sei er von den­ selben Engeln auf […] Befehl zurückgeführt, Martin zurückgegeben und in sein früheres Leben wieder eingesetzt worden.112

108 Vgl. z. B. Gregor dr. Gr., Dial. IV 12, 17 und 18, ed. de Vogüé. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 81 (Anm. 61), verweist auf eine biblische Vorlage der Auferweckung, in der Elisa einen toten Jungen zurück ins Leben holt – dessen Todesumstände sind nicht näher beschrieben als mit der Äußerung caput meum caput meum, 4 Rg 4,19 (= Malachim II 4,19), zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 672. 109 Visio Baronti, ed. Levison, 1, S. 377. 110 Vgl. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 81 (Anm. 61). 111 VM 7, 3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 27, ed. Fontaine, S. 268: Tum uero, tota sanctum spiritum mente concipiens, egredi cellulam, in qua corpus iacebat, ceteros iubet, ac foribus obseratis super exanimata defuncti fratris membra prosternitur. Et cum aliquandiu orationi incubuisset sensissetque per spiritum Domini adesse uirtutem, erectus paululum et in defuncti ora defixus, orationis suae ac misericordiae Domini intrepidus expectabat euentum. Vixque duarum fere horarum spatium intercesserat, uidet defunctum paulatim membris omnibus commoueri et laxatis in usum uidendi palpitare luminibus. 112 VM 7, 6, übers. v. Huber-Rebenich, S. 27, ed. Fontaine, S. 268: Idem tamen referre erat solitus se corpore exutum ad tribunal iudicis ductum, deputandumque obscuris locis et uulgaribus turbis tristem excepisse sententiam; tum per duos angelos iudici fuisse suggestum, hunc esse pro quo Martinus oraret; ita per eosdem angelos se iussum reduci, et Martino redditum uitaeque pristinae restitutum.

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Drei Aspekte verdienen hier nähere Aufmerksamkeit. Zum Ersten betrifft dies den Tod, der vor der Taufe eintritt, und die Frage, welches Vorwissen dieses Erzählereignis bei den Rezipierenden aktivierte. Unter Anbetracht der zeitgenössischen Vorstellung, dass erst die Taufe die Chance auf einen himmlischen Platz in Gottes Jenseits sichern konnte,113 lässt sich die Dringlichkeit der Taufe im Angesicht des Sterbens als individu­ al-eschatologische Zäsur, die über ewige Freude oder ewiges Leid entscheidet, begrei­ fen. Erst vor diesem Hintergrund einer persönlichen Endzeit entfaltet sich die Bedeu­ tung der Auferweckung und mithin Martins Heiligkeit, die ihn zum Gehilfen in der Not macht. Der Fokus liegt nach einer eschatologischen Lesart dieser Passage dem­ nach auf der zweiten Chance zu sterben, die der Katechumene erhält – diesmal unter günstigeren Voraussetzungen: Denn er wurde ohne weitere Verzögerung statim nach der Wiedererweckung getauft.114 Der Vorfall hat die Taufe schneller nötig gemacht, da­ mit es kein weiteres Mal geschehe, dass seiner Seele der Weg zu Gott nach dem Tod verwehrt und er erneut, wie er selbst berichtete, in die Hölle überführt werden soll. Martin erweist sich hier über das göttliche durch ihn gewirkte Wunder als exklusiver Helfer und mithin als Heiliger.115 Der Tod und die Auferweckung des einen bedingen – und bezeugen – erst die Heiligkeit des anderen. Erst die Erzählung des Katechumenen generiert die transzendente Fähigkeit des Heiligen als Gehilfe im Angesicht des Todes. Zum Zweiten wird Martin hier als im Jenseits handlungsfähig inszeniert.116 Martin agiert im individual-eschatologischen Kontext durch seine Gebete zu Gunsten seines Schützlings. Dass diese Inszenierung sich in ihrer Rezeption besonders wirkmächtig entfaltete, bezeugt eine spätere Aussage Gregors von Tours. Dieser hofft, dass Martin ihm beim jenseitigen Gericht ebenfalls zur Seite stehen werde.117 Dass Martin hierzu fähig ist, weiß er: Der Bericht des Katechumenen in der Martinsvita hat es gezeigt.118

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Vgl. dazu die Einschätzung von Kretschmar, Katechumenat, S. 2: „Nach Gottes Ordnung ist die Taufe der Weg zum Heil. Bei schwerer Krankheit kann der Katechumene vorzeitig getauft werden“. Vgl. auch Moreira, Plucking Sinners, S. 43: „Authoritative opinion held that those who were not baptized would go to hell“. Zur Taufe als Eingang in die Gemeinschaft vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 33–35. 114 VM. 7, 5, ed. Fontaine, S. 268. 115 Mit diesem Wunder wird die Taufe ermöglicht, die Hölle vermieden und Martin so zum Apostel stilisiert, vgl. Moreira, Plucking Sinners, S. 47. 116 Zur Interpretation dieser Szene als ‚Amicus Dei‘, der zwischen Menschheit und Gott durch sein Beten vermittelt, vgl. Stancliffe, St. Martin, S. 245 f. 117 Den Hinweis gibt Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 82 mit Anm. 65. Gregor v. Tours, Mar­ tin II 60, ed. Krusch, S. 180: Cumque eo iudicante fuero flammis infernalibus deputatus, sacrosancto pallio, quo ille tegitur a gloria, me contectum excuset a poena, dicentibus regi angelis, quod quondam de monacho resuscitato dixerunt: ‚Iste est, pro quo Martinus rogat‘. 118 Vgl. zu Gregor von Tours auch Moreira, Plucking Sinners, S. 49 f.: „In associating Martin with Christ’s descensus ad infernos, Gregory reflects an ancient view of the descent as an ongoing mis­ sion to rescue Christian souls“ und ebd., S. 51: „As evidence for the way Martin was venerated in the sixth century, the Bobbio Missal reveals that in what were probably the older prayers, Martin’s power to raise the dead was an important focus for his cult“. [Hervorhebungen i. O.]

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Die Verzahnung von effektiver Heiligkeit und eschatologischem Kontext leistet an dieser Stelle offenkundig einen Transfer des Heiligen aus der Textimmanenz in die Lebenswirklichkeit der Rezipierenden, die ihm ob seiner Wirksamkeit am (lebens-) zeitlichen Ende Relevanz beimessen. Zum Dritten trägt auch die zwar knappe, doch eindringliche Schilderung des jen­ seitigen Gerichts zur eschatologischen Konzeption der Textstelle bei.119 Aus der Per­ spektive des Taufschülers, der erst jüngst der Gemeinschaft beigetretenen war,120 hat dessen Seele den Körper verlassen – Martin „fand […] bei seiner Rückkehr […] den entseelten Leib.“121 Sie findet sich im Jenseits vor dem Richter in der Anwesenheit von Engeln wieder.122 Diese geleiten die Seele des Taufschülers zurück ins Diesseits, ein Motiv, dem auch Jenseitsreiseberichte verhaftet sind, übernehmen dort doch ebenfalls Engel – namentlich bekannt oder nicht – häufig die Rolle der Begleiter.123 Die Text­ passage zeigt die späteren Visionen folglich aus einer anderen Perspektive, in der der Fokus nicht auf dem Jenseitsreisenden liegt, sondern auf der Wirkmacht des Heiligen, den es heilig zu erzählen gilt und der auf den Prozess von Sterben und Gericht ein­ wirkt – bis hin zur zweiten Chance, in Gottes Ewigkeit zu gelangen. Herbers erläuterte, wie Visionen in hagiographischen Texten funktionalisiert werden, um den Status der Heiligkeit von Personen zu belegen.124 Einen ähnlichen Zweck erfüllt auch die Ge­ richtsvision in der Passage der Martinsvita. Zwar ist es nicht der Heilige selbst, dem das Gericht offenbart wird, doch autorisiert ihn das Gesicht des anderen als wirksamer Heiliger, sodass dieses Mal festgehalten werden kann: Die Vision des einen bedingt die Heiligkeit des anderen.

119 Ausgeprägtes Interesse am jenseitigen Gericht zeigte auch Severus’ Umfeld, vgl. zu Paulinus von Nola Wieser, Weltchronik, S. 676 f., und dies., Schatten der Endzeit, ed. Levison, 1, S. 286–290. 120 Auch hierin besteht eine Parallele zu Barontus, vgl. Visio Baronti, S. 377: Frater […], Barontus nomen, nuper conversus pervenit ad monachatus ordinem. 121 VM 7, 2, übers. v. Huber-Rebenich, S. 25, ed. Fontaine, S. 266: [R]egressus exanime corpus inuenit. 122 Vgl. VM 7, 6, ed. Fontaine, S. 268. Fried, Aufstieg, S. 185: „Die ältere Christenheit entwickelte […] nur verschwommene Vorstellungen von der Zeit der Seele nach dem irdischen Tod bis zum Jüngsten Gericht. Alle Läuterung der Seele nach dem Tod vollzog sich nach Auffassung frühmit­ telalterlicher Theologen ohne voraufgegangenes Gericht.“ Die hier von Severus angeführte Erwäh­ nung eines jenseitigen Tribunals lässt sich jedoch mit dem Ausdruck tribunal iudicis (VM 7, 6, ed. Fontaine, S. 268) als Vorstellung eines unmittelbar nach dem Tod einsetzenden Gerichtes lesen. So deutet auch Moreira, Plucking Sinners, S. 43, die Passage in der VM: „He [der Katechumene] had not been simply dead, awaiting some future judgment. Rather, at the moment of his rescue he had already been brought to judgment and condemned to a gloomy place.“ Darauf, dass die Vorstellung des Individualgerichts parallel zur Vorstellung vom Weltgericht gleichfalls in der Bibel begründet liegt, nämlich in dem Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann, verweist Dinzelbacher, Persönliches Gericht und Weltgericht, bes. S. 97. Dabei zeigt er auf, dass be­ reits Augustinus und Hieronymus diese Vorstellung kannten, z. B. zu Augustinus ebd., S. 97 mit Anm. 10, und zu Hieronymus ebd., S. 99 mit Anm. 15. 123 Vgl. VM 7, 6, und zur Jenseitsreise Bihrer, Journeys, S. 821. 124 Vgl. Herbers, Vision.

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V. Zum erzählchronologischen Ende der Vita und zum Ende der Weltzeit Die Kapitel, die sich der Passage über die Wiedererweckung des Katechumenen an­ schließen, berichten zunächst von Martin während seiner Amtszeit als Bischof von Tours,125 ehe die Rekurse auf die Endzeit erneut explizit zutage treten.126 In VM 22 dis­ putieren Martin und der Teufel sodann über die Barmherzigkeit Gottes und darüber, ob diese auch ehemaligen SünderInnen zuteilwerden könne.127 Der Teufel behauptet, wer einst Sünden beging, hätte die Taufgnade eingebüßt; Gottes Barmherzigkeit stün­ de ihm nicht mehr zu.128 Martin vertritt dabei die folgende Position: Durch die Hin­ wendung zu Gott würden frühere Sünden beglichen, weshalb auch ehemalige Sünder­ Innen ins Kloster zurückkehren könnten.129 Abermals befindet sich diese Botschaft integriert in einen endzeitlichen Deutungsrahmen und zwar ob Martins Erläuterung, dass „der Tag des Gerichts ganz nahe“ sei.130 Hierin liegt eine doppelte eschatologische Bedeutung, einerseits auf wörtlicher Ebene, indem eine zeitliche Einordnung erfolgt, und andererseits auf assoziativer Ebene, da der Verweis auf die Offenbarung an den biblischen Bericht über das Ende der Welt erinnert: tempus enim prope est.131 Die marti­ nische Klosterführung wird somit eschatologisch kontextualisiert. Martins Heiligkeit erfährt eine deutliche Konturierung durch die eschatologischen Bezüge. Diese Perspektive wird auch in den folgenden Textpassagen noch eingängiger pro­ voziert, da es heißt: Als er [Clarus, ein ehemaliger Gefährte Martins] daher nicht weit von dem Kloster des Bischofs [Martin] für sich eine Klause errichtet hatte und viele Brüder sich bei ihm auf­ hielten, kam ein junger Mann namens Anatolius zu ihm. Er heuchelte unter dem […] Mönchsgelübde […] alle Demut und Unschuld und lebte eine Zeitlang in Gemeinschaft mit den übrigen. Mit der Zeit sagte er dann wiederholt, dass Engel mit ihm zu sprechen pflegten.132

125 Vgl. VM 9–21, ed. Fontaine, S. 270–300. 126 Vgl. VM 22–24, ed. Fontaine, S. 300–308. Anschließend folgen noch drei weitere Kapitel, ehe die Vita endet. 127 Vgl. VM 22, ed. Fontaine, S. 300–302. 128 Vgl. VM 22, 3–5, ed. Fontaine, S. 300–302. 129 Vgl. VM 22, 3–5, ed. Fontaine, S. 300–302. 130 VM 22, 5, übers. v. Huber-Rebenich, S. 59, ed. Fontaine, S. 302: [U]el hoc tempore cum dies iudicii in proximo est. 131 Offb 1,3, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 1110. Vgl auch McGinn, Visions of the End, S. 51 f., zur nahen Endzeiterwartung um 400. 132 VM 23, 2 f., übers. v. Huber-Rebenich, S. 61, ed. Fontaine, S. 302–304: Itaque cum haud longe sibi ab episcopi monasterio tabernaculum constituisset multique apud eum fratres commorarentur, iuuenis quidam ad eum Anatolius nomine, sub professione monachi omnem humilitatem atque innocentiam mentitus, accessit habitauitque aliquandiu in commune cum ceteris. Dein, procedente tempore, angelos apud se loqui solere dicebat.

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Die Beschreibung des Anatolius lässt uns noch einmal zu dem bereits erwähnten Brief an die Kolosser zurückkehren. Die gedankliche Überschneidung zwischen der Cha­ rakterisierung von Anatolius als eine den Engeln nahestehende Figur von falscher De­ mut und derjenigen Person, vor der Paulus in seinem Brief warnt, ist evident, denn auch letzterer mahnte: „Niemand soll euch verführen, der in Demut und Ehrfurcht vor Engeln sein will, der durchwandert, was er nicht sieht“.133 Diese Beschreibung findet ihre Personifikation in der Figur des Anatolius in der Martinsvita, der als Täuscher auf­ tritt und dabei die paulinischen Zuschreibungen von humilitate et religione angelorum134 in angepasster Weise reproduziert. Anatolius tritt in der Rolle eines Verführers auf, der durch Zeichen seine Heiligkeit heuchelt: Da keiner [ihm] traute, nötigte er die meisten durch gewisse Zeichen dazu, [ihm] zu glau­ ben. Schließlich ging er so weit zu verkünden, dass zwischen ihm und Gott Boten verkehr­ ten, und wollte auch schon für einen der Propheten gelten.135

Während wiederkehrende biblische Propheten als Ankündigung des baldigen Welten­ des galten,136 konstruiert sich Martins Heiligkeit indes durch seine singuläre Fähigkeit, die monastische Gemeinschaft respektive Gesellschaft vor Betrügern im Anblick der Endzeit zu bewahren,137 denn er ist es schließlich, der Anatolius als einen Betrüger of­ fenbart: Bei Tagesanbruch ergriff Clarus Anatolius bei der Hand und wollte ihn zu Martin schlep­ pen, da er sich wohl bewusst war, dass der sich nicht durch Teufelskunst täuschen ließ. […] Als sie ihn gegen seinen Willen zum Gehen drängten, verschwand unter den Händen derer, die an ihm zerrten, das Gewand.138

Es ist an dieser Stelle Martins Verdienst, nach der Ermahnung zur Vorsicht vor falschen Propheten aus dem Evangelium, diese erkennen und überführen zu können: „Hütet euch vor falschen Propheten, die zu euch kommen in Schafspelzen, drinnen aber sind

133 Kol 2,18, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 922 f.: [N]emo vos seducat volens in humilitate et religione angelorum quae non vidit. 134 Kol 2,18, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 922. 135 VM 23, 3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 61 [Ergänzungen i. O.], ed. Fontaine, S. 304: Cum fidem nullus adhiberet, signis quibusdam plerosque ad credendum coartabat. Postremo eo usque processit ut inter se ac Deum nuntios discurrere praedicaret, iamque se unum ex profetis haberi uolebat. 136 Vgl. z. B. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 88 f. (Anm. 137 und 130). 137 Vgl. Vaesen, Sulpice Sévère, S. 57, zur Erwartung von kommenden falschen Propheten und Mar­ tins Funktion. 138 VM 23, 9 f., übers. v. Huber-Rebenich, S. 63, ed. Fontaine, S. 304–306: Vbi inluxit dies, adprehensum dextera ad Martinum trahere uolebat, bene conscius inludi illum diaboli arte non posse. […] Cum inuitum ire conpellerent, inter trahentium manus uestis euanuit. Anatolius gab vor, das Klei­ dungsstück vom Herrn erhalten zu haben, vgl. ebd., 23, 5, S. 304.

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sie reißende Wölfe!“139 Es schlägt sich jedoch von diesem Gebot zur Vorsicht erneut eine gedankliche Brücke zum Kolosserbrief. Denn in diesem warnt Paulus: „Dies aber sage ich, damit euch niemand mit der Spitzfindigkeit von Reden verführt.“140 Mit der Erinnerung an die Notwendigkeit stetiger Wachsamkeit, um heuchelnde Redner zu erkennen, schließt sich ein Kreis innerhalb der Vita. Die eingangs aufgezeigte Verbin­ dung zwischen dem Beginn der Martinsvita mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Philosophie des Sokrates wird hier noch einmal aufgegriffen und erfährt ihre voll­ ständige Aussage. Auf Paulus’ Worte nämlich, dass er zum Wohlergehen der Rezipie­ renden berichte, damit diese nicht der Täuschung anheimfallen,141 folgt einige Zeilen später besagte, anfänglich zitierte Passage zur Warnung vor Philosophie und Weltlich­ keit.142 Severus stellt auch diese Warnung, indem er sie gedanklich mit der Warnung vor falschen Propheten im Evangelium verknüpft, in einen endzeitlichen Kontext und macht diese somit für die eschatologische Erzählstrategie der Martinsvita fruchtbar. Es lassen sich sowohl aus Kol 2,4 und 2,8 als auch aus Mt 7,15 warnende Botschaften vor prophetisch respektive philosophisch-weltlichen Rednern ableiten. Die beiden Text­ stellen des Kolosserbriefes lassen vor dem Hintergrund der in der Vita verarbeiteten Endzeitpropheten – Anatolius wird als solcher nach dem Vorbild aus Kol 2,18 gezeich­ net – die Schlussfolgerung zu, dass Severus auch diese Bibelpassagen vor einem end­ zeitlichen Hintergrund verstand und sie daher in die Vita integrierte. Wenn Severus anschließend bekräftigt, dass sich auch in der Hispania ein Mann befände, der sich für Elia, später sogar für Christus hielte,143 und am anderen Ende der Welt, nämlich in Oriente, zudem jemand aufgetaucht sei, der vorgab, Johannes zu sein,144 dann vermittelt er qua biblischer Namen hier noch einmal Elemente der endzeitlichen Symptomatik an die Rezipierenden.145 Denn sowohl Elias als auch Johannes der Täu­ fer – so die Erwartung – würden zum Weltende hin zurückkehren.146 Die Deutung für das Publikum übernimmt indes der Text: „Daraus, dass derartige Lügenpropheten auftreten, können wir vermuten, dass die Ankunft des Antichristen kurz bevorsteht, der in diesen bereits das Geheimnis des Frevels wirkt.“147 Der Forschung ist bekannt,

139 Mt 7,15, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 64 f.: [A]dtendite a falsis prophetis qui veniunt ad vos in vestimentis ovium intrinsecus autem sunt lupi rapaces. Der Hinweis zur Bibelstelle findet sich bei Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 89 (Anm. 137). 140 Kol 2,4, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 920 f.: [H]oc autem dico ut nemo vos decipiat in subtilitate sermonum. 141 Vgl. Kol. 2,4, in: Beriger/Ehlers/Fieger, S. 920. 142 Vgl. Kol 2,8, in: Beriger/Ehlers/Fieger, S. 920. 143 Vgl. VM 24, 1 f., ed. Fontaine, S. 306. 144 VM 24, 3, ed. Fontaine, S. 306. 145 Vgl. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 90 (Anm. 145) und S. 89 (Anm. 137). 146 Vgl. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 90 (Anm. 145) und S. 89 (Anm. 137). 147 VM 24, 3, übers. v. Huber-Rebenich, S. 65, ed. Fontaine, S. 306: Ex quo conicere possumus, istius modi pseudoprofetis existentibus, Antichristi aduentum imminere, qui iam in istis mysterium iniquitatis operatur.

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dass jene Formulierung aus 2 Thess 2,7, die nam mysterium iam operatur iniquitatis148 lautet, in der Martinsvita, in der es qui iam in istis mysterium iniquitatis operatur149 heißt, aufgegriffen wurde.150 Auch im Kontext dieser Bibelpassage wird prophezeit, dass sich ein homo peccati filius perditionis zeigen wird, ehe Christus zurückkehrt –151 die eschato­ logische Konnotation ist somit ersichtlich. Ferner – so Burton – erinnere Rufus, der Name des Bischofs, der dem Mann in Spa­ nien Glauben schenkte,152 an jene Textstelle aus der Offenbarung, die das Erscheinen des zweiten endzeitlichen Zeichens am Himmel beschreibt: „[U]nd es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe: ein großer roter Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und auf seinen Köpfen sieben Diademe“.153 Auch in Anbetracht dieser Bibel­ stelle liegt es nahe, dass ihr Inhalt auf mehrere Textpassagen in der Vita übertragen wur­ de. Denn während der Name Rufus noch mit der Beschreibung des Drachen korreliert, tauchen die Diademe als Attribute des Teufels in der anschließenden Textpassage in der Martinsvita auf. Dort erscheint Martin der Teufel, der sich ebenfalls als Christus aus­ gibt:154 „[A]uch war er [der Teufel] mit kaiserlichem Gewand angetan, bekrönt mit ei­ nem Diadem aus Gold und Edelsteinen, seine Schuhe waren mit Gold überzogen“.155 Das Diadem, das der Drache als eschatologisches Merkmal trägt, stellt ebenfalls das Attribut des Tieres, das sich gemäß der Offenbarung zur Endzeit hin aus dem Meer erhebt, dar: „Und ich sah, wie dem Meer ein Tier entstieg, das sieben Köpfe hatte und zehn Hörner, und auf seinen Hörnern zehn Diademe“.156 In der Martinsvita wird sodann die eschato­ logisch konnotierte äußerliche Erscheinung des Teufels mit weiteren Vorzeichen des nahen Weltendes zusammengeführt, denn alsdann spricht dieser in seiner purpurnen Gewandung zu Martin: „Erkenne, Martin, wen du siehst! Ich bin Christus. Im Begriff, auf die Erde herabzusteigen, wollte ich mich zuerst dir offenbaren.“157 In diesem Zusam­ menhang erinnerte ein bibelkundiges Publikum wohl die Worte Christi aus den Evan­

148 2 Thess 2,7, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 946 f.: „Denn das Mysterium des Unrechts ist schon am Werk“. 149 VM 24, 3, ed. Fontaine, S. 306. 150 Vgl. Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 90 (Anm. 146), und ausführlich zu iniquitatis (vgl. wei­ ter oben) in der VM Vaesen, Sulpice Sévère. 151 2 Thess 2,3, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 946. Vgl. auch Vaesen, Sulpice Sévère, S. 54. 152 Vgl. VM 24, 1 f., ed. Fontaine, S. 306. 153 Offb 12,3, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 1142 f.: [E]t visum est aliud signum in caelo et ecce draco magnus rufus habens capita septem et cornua decem et in capitibus suis septem diademata. Der Verweis findet sich bei Burton, Commentary, S. 248. 154 Vgl. VM 24, 4–8, ed. Fontaine, S. 306–308. 155 VM 24, 4, übers. v. Huber-Rebenich, S. 65, ed. Fontaine, S. 306–308: [U]este etiam regia indutus, diademate ex gemmis auroque redimitus, calceis auro inlitis. 156 Offb 13,1, zit. nach Beriger/Ehlers/Fieger, S. 1144 f.: [E]t vidi de mare bestiam ascendentem habentem capita septem et cornua decem et super cornua eius decem diademata. Der Verweis findet sich bei Burton, Commentary, S. 247. 157 VM 24, 5, übers. v. Huber-Rebenich, S. 65, ed. Fontaine, S. 308: [A]gnosce, inquit, Martine, quem cernis: Christus ego sum; descensurus ad terram prius me manifestare tibi uolui.

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gelien über die Zeichen der Endzeit: „Seht […], dass ihr nicht verführt werdet! Viele werden nämlich kommen in meinem Namen und sagen: ‚Ich bin es,‘ und: ‚Die Zeit ist nahe gekommen.‘ Geht ihnen also nicht nach! […].“158 Die Zeitgenossen waren durch die Worte Christi demnach gewarnt und für Perso­ nen, die sich als Christus behaupten wollten, sensibilisiert. Diese jedoch zu erkennen, wird an Martins Heiligkeit exemplifiziert: Da ließ ihn eine Offenbarung des Geistes erkennen, dass es sich um den Teufel handele, nicht um den Herrn, und er sprach: ‚Der Herr Jesus hat nicht angekündigt, dass er in Pur­ pur und mit einem strahlenden Diadem kommen werde. Ich werde erst an die Ankunft Christi glauben, wenn er sich in der Erscheinung und Gestalt zeigt, in der er gelitten hat, wenn er die Wundmale der Kreuzigung aufweist.‘159

Zu beachten ist in dieser Argumentation auch die Authentisierung des Herrn qua körperlicher Beweise, die der Beweisführung in der Jenseitsreiseliteratur entspricht: Transzendenzkontakt zeitigt Spuren.160 Hier zeichnet sich in der Vitenliteratur ein Krite­ rium der Glaubwürdigkeit ab, das auch für Jenseitsreisende relevant wurde – die Nähe ist gegeben, denn Christus ist, da göttlich, ebenso unverfügbar und mithin transzendent wie das Jenseits. In beiden Fällen kann eine Beweisführung nur über sichtbare Mitbringsel geschehen.161 Auch die Authentisierung über den Abgleich mit den autoritativen Worten der Heiligen Schrift nutzt der Heilige bereits, um den Teufel zu überführen. Es wird folg­ lich in einer komplexen Assoziationsverschränkung endzeitlicher Motive ein eschatolo­ gischer Bezugsrahmen geschaffen, in dessen Zentrum Martin als Heiliger profiliert wird.

158 Lk 21,8 f., übers. v. Beriger/Ehlers/Fieger, S. 404 f.: [V]idete ne seducamini multi enim venient in nomine meo dicentes quia ego sum et tempus adpropinquavit nolite ergo ire post illos. Zu den neutes­ tamentlichen Ankündigungen über die bald endende diesseitige Welt vgl. Meier, Eschatologie, S. 46 mit Bibelstellen in Anm. 13. 159 VM 24, 7, übers. v. Huber-Rebenich, S. 65–67, ed. Fontaine, S. 308: Tum ille, reuelante sibi spiritu ut intellegeret diabolum esse, non Dominum: non se, inquit, Iesus Dominus purpuratum nec diademate renidentem uenturum esse praedixit; ego Christum, nisi in eo habitu formaque qua passus est, nisi crucis stigmata praeferentem, uenisse non credam. 160 Vgl. auch den Beitrag von Karolin Künzel in diesem Band. 161 Huber-Rebenich, Anmerkungen, S. 90 (Anm. 148), verweist auf Joh 20,29, wo Thomas ebenfalls darauf besteht, die Stigmata sehen und fühlen zu können, vgl. Joh 20, 24–29, zit. nach Beriger/ Ehlers/Fieger, S. 542–545.

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VI. Schlussbetrachtung Severus wählte die Passagen, die er in die Martinsvita integrierte, bewusst aus: „Gleich­ wohl haben wir auch von dem, was wir sicher in Erfahrung gebracht hatten, vieles aus­ gelassen“.162 Die Einbindung eschatologischer Bezüge und Erklärungen ist daher kei­ neswegs selbstverständlich und als Teil einer bewussten Konzeption zu verstehen.163 Diese endzeitlichen Färbungen, mit denen er das Leben und Wirken Martins model­ lierte, mögen auf den ersten Blick auf seine eigene Lebenswelt schließen lassen.164 Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse zu Welt- und Zeitauffassungen in der christlich-lateinischen Spätantike165 ist es jedoch zulässig, sie als gesellschaftliche Deu­ tungsmuster in einen größeren Bezugsrahmen zu stellen, innerhalb dessen eschatolo­ gisch kontextualisierte Szenen von den Rezipierenden entsprechend begriffen werden konnten. Mit Blick auf die endzeitlich ausgerichtete Programmatik der Martinsvita, die im Vorwort artikuliert wird, die eschatologischen Bedeutungen zentraler Passagen wie der Mantelteilung und Christuserscheinung, der Auferweckung des Katechume­ nen, der Vision vom jenseitigen Gericht sowie der biblischen Figuren, die in Relation zum Weltende stehen, ist es plausibel, dass die eschatologische Aufladung der Vita nicht nur vor dem Hintergrund der Vorstellungen von Severus selbst zu verstehen ist. Vielmehr stellen sie ein erzählerisches Programm dar, das an Zeitauffassungen der Rezipierenden anschließen konnte. Dies ermöglicht eine Lesart der Vita, in der der Heilige im eschatologischen Kontext einerseits profiliert und in der andererseits eine Anschlussfähigkeit an die Lebenswelt der Rezipierenden gebildet wird. Die inhaltlich auf Tod und Jenseits ausgerichtete temporale Ebene wird zur vermittelnden Instanz und verortet den Heiligen und seine Hilfsfähigkeit erst in diesem Zusammenspiel in der eigenen Wirklichkeit. Gleich mehrfach zeichnet sich demnach eine gedankliche Engführung zwischen eschatologischer Geschichtsvorstellung und dem Hauptanlie­ gen der Heiligenviten, der Heiligkeitskonstruktion, ab: Martins Heiligkeit ist vielseitig konstruiert, zeigt jedoch ihren gesellschaftlichen Nutzen besonders in den eschatolo­ gischen Textstellen: Martin wird als wirkmächtiger Gehilfe beim jenseitigen Gericht inszeniert, er korrespondiert mit Christus und bewahrt die Gemeinschaft davor, dass sie sich heuchelnden Propheten anschließt.166 Dabei zeigt sich, dass die Heiligkeits­ konstruktion vielfach vornehmlich mit Bibelstellen zur Endzeit korreliert, sei es durch Anklänge aus den Evangelien, der Offenbarung oder dem Brief an die Thessalonicher. Auch die warnende Botschaft des Paulusbriefes an die Kolosser findet ihre inhaltliche 162 VM 1, 8, übers. v. Huber-Rebenich, S. 11–13, ed. Fontaine, S. 252: Quamquam etiam ex his, quae conperta nobis erant, plura omisimus. 163 Herrick, Introduction, S. 6: „Every text – indeed every version of every text – represents the out­ come of a series of choices by those who created it.“ 164 Vgl. von der Nahmer, Bibelbenutzung, S. 14. 165 Vgl. die Forschungsliteratur in Kap. 2 in dieser Arbeit. 166 Vgl. Vaesen, Sulpice Sévère, S. 57.

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Entsprechung in ebendiesem Kontext der Martinsvita. Die ausgewählten Beispiele weisen darauf hin, dass die eschatologische Sinnrichtung die gesamte Vita durchzieht. Vaesens Schlussfolgerung zu den Kapiteln 22–24 in der Martinsvita –, dass [l]’intention première de Sulpice Sévère n’a pas été de décrire la fin du monde, mais plutôt d’exhorter ses lecteurs à la vigilance et de leur donner Martin comme exemple. Ce souci explique pourquoi, dans une œuvre hagiographique, il revient à plusieurs reprises sur les problèmes de la fin des temps167,

kann daher dahingehend erweitert werden, dass Martins Heiligkeit sogar von Anbe­ ginn des Textes gezielt vor einem eschatologischen Hintergrund entfaltet wird. So er­ zählt die Martinsvita eben doch an vielen Stellen vom Ende der Welt und vom Ende des Lebens und erst in diesem Kontext wird Martins Heiligkeit profiliert. Es ist daher die (End)Zeit der erzählten Welt, der eine besondere Bedeutung bei der Vermittlung des Heiligen und seiner Wirkmacht von der Textimmanenz in die außertextuelle Le­ benswirklichkeit der Rezipierenden zufällt. Mit der hier vorgeschlagenen Lesart der Martinsvita könnten nun methodische An­ sätze der letzten Jahre aufgenommen werden, und zwar zumindest in zwei Richtun­ gen: Auf der einen Seite ließe sich die Konstruktion der Martinsvita noch deutlicher bestimmen, indem die eschatologische Perspektive für Untersuchungen zum Entste­ hungsprozess der Vita fruchtbar gemacht wird. Anschließend an Überlegungen zum Einfluss der Antonius- auf die Martinsvita könnte in einem Vergleich nach Parallelen und Divergenzen hinsichtlich der endzeitbezogenen Erzählstrategie gefragt werden – den Erkenntnisgewinn aus einem Vergleich der beiden Viten konnte zuletzt Müller veranschaulichen.168 Ferner wäre weiterhin zu fragen, ob zeitliche Implikate bei Heiligkeitskonstruktio­ nen anderer Viten ebenfalls produktiv sind, indem auch dort narrative Gestaltungen von Handlungen, die topisch anmuten, als Teil einer übergeordneten Erzählstrategie auf die proklamierte Heiligkeit der Figuren wirken.169 Die Fähigkeit vieler Heiliger, Tote zu erwecken, mag hier als Beispiel dienen, wenngleich nur in einem als Beob­ achtung zu verstehenden Umfang: Während die Totenerweckung in der Martinsvita

167 Vaesen, Sulpice Sévère, S. 70. 168 Vgl. Müller, Antonius redivivus, zu vergleichenden Ansätzen bes. S. 66 mit Anm. 3. 169 Vgl. ausführlich zum Zusammenspiel von Zeit und Legende Koch, Zeit und Wunder. Zu Topoi vgl. von der Nahmer, Bibelbenutzung, S. 7–16, bes. S. 9 f. und S. 15, hier S. 8, der die stereo­ typ wirkenden Heiligkeitsdarstellungen historisch erklärt: „Es wäre aber danach zu fragen, ob sich nicht im menschlichen Leben selber immer wieder verwandte Situationen ereignen, die zu gleichartigen Schilderungen Anlaß geben“. Ähnlich auch Müller, Antonius redivivus, S. 65. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 144, hingegen erklärt die typischen Elemente der Hagio­ graphie mit einer Loslösung vom Eigenen zugunsten eines Übergeordneten und stellt fest, Topoi dienten dazu, Heiligenleben in „autoritative[…] Tradition“ zu stellen, um mithin Gültigkeit zu beanspruchen.

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eschatologisch gerahmt ist und Martin gerade deshalb als Heiliger mit gesellschaftli­ chem Nutzen aus der Szene hervorgeht, erfährt die Totenerweckung beispielsweise in der Radegundsvita eine andere Ausrichtung. Dort nämlich bewirkt Radegunde die Auferstehung einer jungen Nonne zwar „nach dem Vorbild des heiligen Martin,“170 die expliziten Bezüge aber, die den Fokus in der Martinsvita nachdrücklich auf das indi­ viduelle Lebensende und das Jenseits legen, bleiben aus.171 Wenn also in dieser Text­ passage der Radegundsvita die transzendent-eschatologische Dimension weniger in Erscheinung tritt, fungiert die Auferstehung folglich in einem anders zu bestimmen­ den Kontext, in dem die erzählte Heiligkeit – so lässt es diese Stichprobe vermuten – weniger einer (end)zeitbasierten Vermittlungsstrategie folgt. Auf der anderen Seite lenkt die zeitlich bedingte Heiligkeitskonstruktion in der Martinsvita die Aufmerksamkeit vor allem auf ihr Fortwirken. So könnte weiterfüh­ rend nach dem Vorbild von Vielberg172 die Rezeption der Martinsvita genauer betrach­ tet werden: Wie wird später mit den eschatologischen Kontextualisierungen umge­ gangen? Dieser Beitrag schließt mit der Erkenntnis, dass Martins Heiligkeit ihre besondere Wirkmacht vielfach durch die endzeitliche Kulisse entfaltet, vor der sein Hagiograph ihn als Heiligen inszenierte. Bibliographie Quellen Gregor der Große, Dialoge IV, in: Grégoire le Grand, Dialogues, Bd. 3, hg. v. Adalbert de Vogüé, übers. v. Paul Antin (Sources Chrétiennes 265), Paris 1980. Gregor von Tours, Libri I–IV. De virtutibus sancti Martini episcopi, in: Gregor von Tours, Li­ bri octo miraculorum, ed. Bruno Krusch (MGH SRM 1,2), Hannover 1969, S. 1–370, hier S. 134–211. Hieronymus, Biblia sacra vulgata 2. Iosue – Iudices – Ruth – Samuhel – Malachim – Verba dier­ um – Ezras – Tobias – Iudith – Hester – Iob. Lateinisch-deutsch, hg. v. Andreas Beriger / Wi­ du-Wolfgang Ehlers / Michael Fieger (Sammlung Tusculum), Berlin/Boston 2018. doi. org/10.1515/9783110490435 [abgerufen am 14.10.2021]. Ders., Biblia sacra vulgata 5. Evangelia – Actus Apostolorum – Epistulae Pauli – Epistulae Catholicae – Apocalypsis – Appendix. Lateinisch-deutsch, hg. v. Andreas Beriger / Wi­ du-Wolfgang Ehlers / Michael Fieger (Sammlung Tusculum), Berlin/Boston 2018. doi. org/10.1515/9783110489972 [abgerufen am 13.10.2021].

170 Fortunatus, Vita sanctae Radegundis 37, übers. v. Huber-Rebenich, S. 43. 171 Vgl. Fortunatus, Vita sanctae Radegundis 37, hg. v. Huber-Rebenich, S. 43 f. 172 Vielberg, Divergierende Formen.

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gie der Endzeit, hg. v. ders. u. a. (Kulturgeschichte der Apokalypse 1), Berlin 2013, S. 661–692. doi.org/10.1524/9783050057989.577 [abgerufen am 14.05.2022]. Dies., Im Schatten der Endzeit. Zur Konstruktion des Apokalypse Diskurses im 4. bis 6. Jahrhun­ dert, Diss. Wien 2015. Winterer, Christoph, Das Fuldaer Sakramentar in Göttingen. Benediktinische Observanz und römische Liturgie (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 70), Pe­ tersberg 2009. Zimmermann, Philip, Der Wert der Armut und der Armen für die Heiligen bei Venantius Fortu­ natus, in: Der Wert des Heiligen. Spirituelle, materielle und ökonomische Verflechtungen, hg. v. Andreas Bihrer / Miriam Czock / Uta Kleine (Beiträge zur Hagiographie 23), Stuttgart 2020, S. 63–84.

Der abwesende Bischof Überlegungen zur Funktion des Wechselspiels von Vision und Narration in der Severin-Legende Daniel Eder

Das legendarische Subgenre der Vitendarstellung heiliger Bischöfe ist – seit seiner spätantiken Begründung durch die Martinsbiographie des Sulpicius Severus1 über die hochmittelalterlichen Viten der mächtigen ‚Reichsbischöfeʻ2 bis zu den vielfälti­ gen Retextualisierungsvorgängen von ‚episkopaler Heiligkeitʻ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit3 – nicht nur ein formal sehr variantenreiches Erzählen (Latein vs. Volkssprache, Lang- vs. Kurzversionen, eigenständige Vita vs. kompendialer Gesamt­ kontext, Handschrift vs. Druck),4 sondern auch auf dem Schnittpunkt verschiedenster Diskursfelder angesiedelt.5 Dadurch ergeben sich in höchst signifikanter Weise diver­ gierende Anforderungen an ein vorbildliches Bischofsleben, das neben den Erforder­

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Vgl. dazu bes. Angenendt, Martin; Pfeifer, Die Martinsvita; Benz, Konkurrenz; Scheuer, Das Martiniloben, S. 298–303. Vgl. zu deren Vitendarstellungen von geschichtswissenschaftlicher Seite Coué, Hagiographie im Kontext; Haarländer, Vitae episcoporum; für die Kunstgeschichte bes. Schuster, Visuelle Kultvermittlung. Einen demgegenüber noch erweiterten zeitlichen Fokus haben Figge, Das Bild des Bischofs, und aus kirchengeschichtlicher Sicht Alt, Sanctus episcopus. Dieser diachron weiter anhaltende Prozess der stetigen Umdeutung und Aktualisierung von Konzepten einer ‚Bischofsheiligkeitʻ ist freilich unabhängig zu sehen vom – sich auch rein zah­ lenmäßig – in Spätmittelalter und Früher Neuzeit ergebenden Bedeutungsverlusts der episkopa­ len Heiligen bei den aktuellen Kanonisationen (vgl. die Darstellungen bei Vauchez, La sainteté, 302–306, und 352–358; sowie Figge, Das Bild des Bischofs, 12 f.). Eindrücklich zeigt sich dieses Spannungsfeld etwa an den diversen hoch- und spätmittelalterli­ chen Retextualisierungen im Falle des Bischofsheiligen Ulrich von Augsburg, die mit der ‚Crono­ graphia Augustensium‘ des Sigismund Meisterlin bis ins 15. Jahrhundert reichen (vgl. Hammer, Geschichtlichkeit, S. 208–216; ders, Institutionalisierung, S. 241–245). Für die immense Bedeu­ tung der in das Genre eingespielten Bischofsviten gerade auch bei der gedruckten Stadtchronistik vgl. demnächst am Beispiel der ‚Koelhoffschen Chronikʻ: Eder, Stadtheilige als Schutz. Vgl. dazu auch: Eder, Das Leben des Bischofs.

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nissen eines besonderen kirchenhierarchischen Status6 und der daraus abgeleiteten Vorbildfunktion sowie einer untadeligen Amtsführung, die persönliche Integrität mit machtbewusstem Herrschaftshandeln korreliert,7 gerade auch nach einer gelungenen Synthese von disparaten geistlichen Biographiemustern zwischen karitativer und pastoraler Weltzugewandheit und asketischer Kontemplativität verlangt.8 Dies gilt umso mehr, wenn – wie in legendarischen Texten über heilige Bischöfe – dazu noch die gesteigerten Perfektibilitätsansprüche einer sanctitas-Idealität hinzu­ treten, die den Bischof mit christlichen Exorbitanzvorstellungen und dem Charisma eines „religiösen Ausnahmemenschen“9 ausstatten.10 Dass ein derartiges Stilisierungs­ 6

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Die historische Entwicklung vom frühchristlichen Kollegiatsamt zum kirchenhierarchischen Monepiskopat, für die freilich auch gegenläufige Tendenzen der Machteinschränkung (wie Kon­ zilsentscheidung, Metropolitanaufsicht oder die Sonderautorität des Bischofs von Rom) nicht ganz übersehen werden dürfen, zeichnen etwa Neumann, Bischof I; Rapp, Holy Bishops, S. 24– 32; Schöllgen, Zur Entstehung, nach. Besonders die dem Episkopat in Fortführung apostoli­ scher Befugnisse zugeschriebene Binde- und Lösegewalt lässt bereits in der Spätantike die Bischö­ fe zur zentralen lokalen Leitungsinstanz werden (vgl. Rapp, Holy Bishops, S. 29, 32 und 98 f.; für die Situation im 9. und frühen 10. Jahrhundert zudem Patzold, Episcopus S. 154 f., 483 f. und 486 [hier für die im Folgenden von mir ebenfalls besprochene ‚Vita et Translatio Severini‘]). Bereits in den Pastoralbriefen (so 1 Tim 3,1–7 und Tit 1,7–9) ist auf die enorme Bedeutung ei­ ner untadeligen Lebensführung im Episkopat verwiesen, da sonst dessen Lehrautorität und der Heilsweg der mit dem Bischof verbundenen Gemeinde bedroht seien (vgl. Bieberstein, Weder ‚Bischof ʻ noch ‚Vollmachtʻ, S. 35–37; Rapp, Holy Bishops, S. 27 f., 33, 41 und 54 f.; Patzold, Epis­ copus, S. 157 f.); besonders wirkungsmächtig ist in dieser Hinsicht auch die förmlich als Bischofs­ spiegel rezipierte ‚Regula Pastoralis‘ Gregors des Großen (vgl. Alt, Sanctus episcopus, S. 20 f.; aus­ führlicher zum Fokus der ‚Regula‘ auf das Episkopat, wenn auch in deren Text begrifflich gar nicht vorherrschend, vgl. Floryszczak, Die ‚Regula Pastoralis‘, bes. S. 252–275). Gleichwohl ergibt sich schon früh auch eine dezidierte Eingebundenheit des Amtes in weltliche Herrschaftszusam­ menhänge, die mithin eine gewisse Gefahr der Korrumpierung des Amtsträgers nach sich zieht (vgl. etwa Elm, Die Macht der Weisheit, S. 22–27). Dies betrifft freilich auch den Aspekt ‚gelebterʻ Vorbildlichkeit des Bischofs im Sinne eines mustergültigen asketisch-kontemplativen Lebenswan­ dels; da jedoch, wie Rapp schon für die Spätantike gezeigt hat, aus dem weltabgewandten, spiritu­ ellen Profil des Amtsinhabers stets auch dessen machtpolitische Autorität ableitbar ist (vgl. Rapp, Holy Bishops, etwa S. 6–22 und 290), wird man wohl die Opposition von religiösem Weltrückzug und in der Welt verankertem Herrschaftshandeln für das Bischofsamt dann gerade nicht zu absolut setzen dürfen. Diese Harmonisierungserfordernisse, die in den Vitendarstellungen durchaus zu ganz unter­ schiedlichen ‚Lösungenʻ führen, untersuchen – unter der Perspektive des vormodernen Lebens­ formdiskurses und seinen sozio-kulturellen Aushandlungen – zuletzt Hoffmann, ‚Kartäusischeʻ Mönchsbischöfe, und Eder, Das Leben des Bischofs; zu den verschiedenen Möglichkeiten, das Bischofsamt im Spannungsfeld einer religiösen vita activa und vita contemplativa zu verorten, vgl. ebd., S. 336, Anm. 23. Speyer, Der christliche Heilige, S. 260. Vgl. dazu die für die Hagiographie-Forschung wirkungsmächtige Formel einer heiligmäßigen vita perfecta bei Goodich, Vita perfecta, für den die/der Heilige als „ideal cultural type“ fungiert (ebd., S. 3); Gumbrecht, Faszinationstyp Hagiographie, S. 54–56, fasst diesen Teilaspekt der Konzep­ tualisierung von Heiligkeit unter dem Begriff der ‚ethischen Virtuositätʻ, die allerdings nicht völlig ungebrochen in eine direkte rezipierendenbezogene Imitabilität der Heiligen mündet, für die eben bisweilen auch eine tiefgreifende Inkommensurabilität zu registrieren ist (vgl. etwa Wyss, Legen­ de, S. 42–44). Daher fallen in der Legende Exemplarizität und Exorbitanz – selbst wenn jene

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bündel teils auch divergierender oder konfligierender Zuschreibungen nicht immer spannungsfrei geschnürt werden kann, ist aber gerade kein ‚Fehlerʻ der hagiographi­ schen Textsorte Bischofsvita, sondern ihr entscheidender narrativer Motor, der immer wieder ambitionierte Erzählverfahren erfordert und geradezu hervortreibt und somit bis in die frühe Neuzeit hinein die Attraktivität des Erzählgenres sichert.11 Besonders aufschlussreich wird es aber für das im vorliegenden Band in den Blick genommene Zusammenspiel von Gesicht und (Erzähl-)Kontext, wenn demgegenüber Bischofs­ heiligkeit noch mit der Aura visionärer Kompetenz ausgestattet werden soll. Dafür soll im Folgenden das Beispiel das Erzählen vom dritten Kölner Bischof Severin (wohl gest. um 400?)12 einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden, weil es in eben jener „Sprosslegende“13 aus der Vitentradition des paradigmatischen Bischofsheiligen Martin von Tours und somit „Proliferationsform[] der Martinsheiligkeit“14 zu noch einmal zu gesonderten narrativen ‚Herausforderungenʻ kommt, die nicht nur den Sta­ tus der zuletzt verstärkt diskutierten Ereignishaftigkeit15 ‚legendarischen Erzählensʻ16

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Grundzüge der ProtagonistInnen, wie Hübner, Historische Narratologie, S. 47–51, argumentiert, für die Textsorte weniger polar denn integrativ zu denken sind – als deren Stilisierungstendenzen gerade nicht völlig in eins (vgl. dazu ausführlicher Eder, Von Wundern, S. 263–266). Vgl. etwa Eder, Das Leben des Bischofs, S. 338 und 363. Damit soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass für die anhaltende Beliebtheit des Textgenres auch außertextliche Gründe wie etwa die institutionelle Verankerung des Bischofsamtes eine entscheidende Rolle spielen. Vgl. dazu etwa die Angaben in: Oepen/Steinmann, Der Severinzyklus, S. 54 f.; inwiefern man sich hierbei in der Tat auf die Datierung der im Kölner Severinsschrein aufgefundenen Skelettreste und deren 14C-Datierung (vgl. grundlegend: Tegtmeier u. a., Die AMS-Datierungen, S. 130–133 und 152 f., sowie Oepen u. a., Zusammenfassung, S. 583–586) berufen will, ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Scheuer, Das Martiniloben, S. 303. Ebd. Vgl. dazu auch Scheuer, Das Heilige im Gebrauch, S. 248 f. Vgl. die noch eher ambivalente Diagnose bei Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 5, der davon spricht, dass der „Einbruch der Transzendenz in die Immanenz […] in jedem Fall gerade nicht als Entwicklung“ begreifbar sei, sich jedoch die im Rahmen einer Heiligenvita präsentierte „final aus­ gerichtete Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen als prozesshafte Ereignisfolge“ darstelle; dagegen plädiert Standke, Freundschaft, S. 27 f., dezidiert für eine narrativ ausgefaltete Statusdif­ ferenz der legendarischen Protagonisten, die sogar als sujethaft im Sinne Lotmans zu beschreiben sei (s. dazu auch meine Bemerkungen unten, S. 304). Anhand der Elisabeth-Hagiographie betont überdies auch Emmelius, Gelübde, die enorme Bedeutung von „ereignishaften Wegmarken“ (S. 105) für die narrative Erschließung eines (sonst eher paradigmatisch-reihend gefassten) Be­ kennerInnenlebens; zwischen (bewussten) Einspielungen von ‚Ereignishaftigkeitʻ und ‚Nicht-Er­ eignishaftigkeitʻ differenziert – im Abgleich mit stärker an mystischen Darstellungskonventionen orientierten Textsorten – für die Legendarik von Müller, Vulnerabilitätsmetaphern, und – be­ zogen auf die (bisweilen auch verweigerte) Ereignispotentialität des narrativen Endes – dies., Auf der Suche. Vgl. zur ‚Ereignishaftigkeitʻ des Wunders zudem Eder, Von Wundern, S. 278–280, und – wenn auch für das Wunder als „Antitypus des Ereignisses“ letztlich Narrativität in Diskursi­ vität transformierend – Bleumer, Ereignis, S. 149–169 (Zitat: ebd., S. 156). Für diese gerade in der germanistischen Legendenforschung omnipräsente Begriffsprägung – als besonders wirkungsmächtig in dieser Hinsicht erwies sich Strohschneider, Textheiligung – hat sich in jüngster Zeit eine Abkehr von allzu essentialisierenden Zuschreibungen angedeutet; so betonen nicht zuletzt Koch/Weitbrecht, Einleitung, S. 13 f., nachdrücklich die Flexibilität und

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betreffen, sondern auch die Bedeutungspotenziale und das tektonische Funktions­ spektrum von Einspielungen des Visionären für die Textsorte weiter ergründen und noch einmal neu pointieren helfen.17 Dabei versucht der vorliegende Beitrag, die sich über Akte des Visionären ergebende ‚Ereignishaftigkeitʻ auch für die Legendarik allein auf der Ebene der Technizität eines narrativen Effekts zu beschreiben, der als Faktor die Diegese des jeweiligen Einzeltexts in spezifischer Weise formatiert.18 Den Ausgangspunkt hierfür soll aber ein Negativbefund bilden, der vor dem Hinter­ grund, dass die (ältere) Legendentradition des Severin von Köln sonst ein narratives Profil aufweist, das evidentermaßen mit Erzählfigurationen des Visionären als beson­ derem Heiligkeitserweis angereichert ist,19 ebenfalls höchst signifikant ist. Denn die um 1400 in Nürnberger Dominikanerkreisen entstandene, wirkungsmächtige Legen­ densammlung ‚Der Heiligen Lebenʻ20 präsentiert in ihrer Version einer – freilich aus einer ganz spezifischen Ordensperspektive und Observanzdiskussion heraus dargebo­ tenen21 – Kurzvita eben jenes Kölner Bischofs, von dem offensichtlich an biographi­ scher Konkretion nicht mehr viel bekannt zu sein oder berichtenswert erscheint, als zentrales Motiv gerade das Ausbleiben von Visionen, wo für die heiligmäßige persona ihr Eintreten doch im Grunde erwartet würde oder zumindest wünschenswert wäre.22 Für den Severin in ‚Der Heiligen Lebenʻ ist es nämlich bemerkenswert, dass, ob­ wohl er an sich als ein guter mensch23 einzuschätzen ist, der sich um Gott mit peten, mit fasten, mit wachen vnd vil andern guten vbung24 bemüht, er einen entscheidenden Fehler begeht, der etwas mit den für das Episkopat gerade aus Sicht der Orden problemati­

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Vielgestaltigkeit der narrativen Optionen des Textgenres, die darunter – zusammen mit den weite­ ren Autor/innen des betreffenden Netzwerk-Bandes – weniger eine spezifische literarische Form als eine durchaus in pluralen oder gar divergierenden Resultaten zutage tretende Praxis verstanden wissen wollen. Vgl. in dieser Hinsicht etwa bereits Haubrichs, Offenbarung; zuletzt Herbers, Vision. Im Unterschied zu Bleumer verorte ich diese Inszenierungen von Ereignishaftigkeit für die Text­ sorte strikt innerhalb von deren narrativer Struktur; vgl. dazu etwa Bleumer, Ereignis, S. 161: „Damit entgrenzt das Wunder in seiner Transgressivität auch den Begriff der Geschichte als Struk­ tur aus Anfang, Mitte und Schluss: […] Das Wunder evoziert den Begriff der Ereignishaftigkeit mit aller Macht, löst dabei zugleich seine Iterativität [erg.: als Wiederholung einer semantischen Konstellation der Heilsgeschichte, D. E.] aus dem Rahmen der narrativen Struktur heraus“. So bereits Scheuer, Das Martiniloben, S. 303 f.; ders., Das Heilige, S. 249. Dieser ergibt sich über die zentrale Audition in der Todesstunde des heiligen Martin von Tours, die die beiden Bi­ schöfe (und damit auch ihre Viten) eng aneinanderbindet, so dass sich beide gegenseitig in ihrer sanctitas bestätigen; s. dazu auch das Folgende. Vgl. zu der Sammlung allgemein Kunze, Art. ‚Der Heiligen Lebenʻ. Vgl. schon Williams-Krapp, Die deutschen und niederländischen Legendare, S. 188 und 295– 301; sowie nun ders., Die Literatur, S. 45 und 221–223. Vgl. zu der hier betrachteten Textstelle auch Eder, Das Leben des Bischofs, S. 365 f., die dort frei­ lich unter einer etwas anders gelagerten Perspektive ausgewertet ist. Der Heiligen Leben, S. 87,20. Ebd., S. 87,21 f.

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schen möglichen Vereinnahmung durch die Amtsgeschäfte, die die Bemühung um das eigene Seelenheil ins Hintertreffen geraten lassen,25 zu tun hat. Denn dort heißt es: Der heilig bischoff was allwegen in der hernn hof, do man vil must auß richten vnd besor­ gen vnd aller maist werltlich sach vnd kumernuß. Dar vmb sang er sein czeit all tag frue, e dy recht zeit köm, vnd maint, es wer pesser, den das er sy mit ain ander versaumt. […] Vnd darumb, das sant Seuerinus sein czeit vor der czeit sang, dauon ward sein sele dreissig iar des gotlichen anplickes beraubet, vnd was doch ain guter mensch. Daran schull wir mercken, das got kain sund vngepust lest. […] Vnd do der heilig bischoff sant Seuerinus in ainem seligen leben het gelebt vncz an sein ende, do ward er siech vnd starb seliglichen.26 Der heilige Bischof war ständig am Hof der adligen Herren, wo man vieles in Ordnung bringen und für vieles Sorge tragen musste, vor allem weltliche Dinge und Betrübnisse. Deshalb sang er seine Tagzeiten jeden Morgen, bevor die richtige Zeit dafür gekommen war, und dachte, dies sei besser, als wenn er sie allesamt versäume. […] Und deshalb, weil Sankt Severin seine Tagzeiten vor der richtigen Zeit dafür sang, wurde seine Seele dreißig Jahre des göttlichen Anblicks beraubt, wobei er dennoch ein guter Mensch war. Daran sollen wir erkennen, dass Gott keine Sünde ohne Buße auf sich beruhen lässt. […] Und als der heilige Bischof St. Severin ein seliges Leben geführt hatte bis an sein Ende, da wurde er krank und starb in einer seligen Weise.

Das Leben des Bischofs, dessen Heiligkeitsstatus hier zwar formal unangetastet bleibt und weiter über zumindest ein seliges leben (S. 87,15), vor dem Tod aufscheinende Krankheit und ein heiligmäßiges Sterben propagiert wird, scheint hier nämlich auch mit einem entscheidenden Makel versehen, der sich aus der amtsgeschuldeten Affi­ zierung mit weltlichen Angelegenheiten ergibt: Weil Severin sich durch seine Amts­ geschäfte ständig an der hernn hof (S. 87,25) habe aufhalten müssen, wo er vornehm­ lich mit werltlich sach vnd kumernuß (S. 87,25 f.) beschäftigt gewesen sei, habe er seine spirituelle Pflicht zur Einhaltung der Tagzeiten – und man wird dagegen als positiven Kontrapunkt schon ein Idealbild klösterlicher Lebensführung impliziert sehen kön­ nen – vernachlässigen müssen bzw. durch ersatzmäßiges Vorgreifen durch das Beten aller Tagzeiten am Morgen nicht mehr in der korrekten Weise erfüllen können. Denn Gott – so gibt der Text als Erklärung bei – will durch den Tagzeitengesang in einer von ihm vorgegebenen Zeitordnung gelobt sein, und das ist im Gleichklang mit den himmlischen Chören: Der dinst gefelt aber got nicht, es sey den zu rechter moß vnd zu

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Vgl. etwa generell sowie für den in dieser Hinsicht noch ungleich komplizierteren Fall der Bischöfe aus dem Kartäuserorden, die zudem – anders als die Dominikaner – über ein zudem extrem ere­ mitisches Ordensideal verfügen: Hoffmann, ‚Kartäusische‘ Mönchsbischöfe, S. 279 f. und 283 f. Der Heiligen Leben, S. 87,24–88,16; eigene Übersetzung nachstehend.

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rechter zeit, als wir sein schuldig sein vnd als sy dy engel in dem himel begen.27 Die Konse­ quenzen aus einer derartig verfehlten Praxis sind fatal: Severins Seele wird dadurch dreißig Jahre lang des gotlichen anplickes beraubet (S. 88,9 f.), da Gott keine Sünde unge­ büßt lässt, wie es weiter heißt. Was also dem Kölner Bischof in äußerst bezeichnender Weise abgeht und ihn damit letztlich – zumindest vor dem Hintergrund des neueren Vorstellungsideals einer introvertierten, näher am Register der Mystik liegenden Hei­ ligkeitskonzeption28 – als gegenüber gesteigerten Perfektibilitätsansprüchen von sanctitas als defizitär erscheinen lässt, ist nicht nur die gescheiterte Ausrichtung an einem strikt kontemplativ gefassten Leben, sondern gerade auch die in der Welt erreichbare Disposition für Gottesnähe, die eine transzendenzgesättigte Erfahrungshaltigkeit von Leben in der visio Dei erst ermöglicht. Eine Anreicherung der Bischofsheiligkeit dieses Severin mit Vorstellungen visionärer Auratizität ist damit für ‚Der Heiligen Lebenʻ aus­ geschlossen, so dass sich für diese Legendenversion – anders als in anderen – gerade kein Wechselspiel von Vision und Narration entspinnt, das vor dem Hintergrund einer kontemplativen Anreicherung des Bischofsideals als ‚gelungeneʻ Synthese aus Welt­ rückzug und weltbezogener Aktivität, wie es etwa seit der Spätantike nicht zuletzt mit der Vita Martins von Tours seine wirkmächtige Ausprägung erhält, ausdeutbar wäre.29 Umso mehr schärft aber der Blick auf die Severin-Tradition von einem ihrer End­ punkte aus, als welchen man das spannungsreiche Konstrukt einer als fehlerbehaftet konterkarierten, aber dennoch formal weiterbehaupteten Heiligkeit des Severin in ‚Der Heiligen Lebenʻ durchaus werten kann, das Bewusstsein für die enorme Band­ breite an Möglichkeiten des legendarischen Zusammenspiels von Visionsdarstellung und rahmender Biographie, dessen eines Extrem also auch in einer deutlichen Prob­ lemanzeige hinsichtlich der höchst fragilen, aus dem Blickwinkel bestimmter monas­ tischer Reformbestrebungen geradezu unmöglich zu erscheinenden Ausbalancierung

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Der Heiligen Leben, S. 88,1–3 (oben ausgespart); Übers. (D. E.): „Ein solcher Dienst gefällt je­ doch Gott nicht, es sei denn auf die richtige Weise und zur richtigen Zeit, wie wir es ihm schuldig sind, und wie sie die Engel im Himmel begehen“. Dementsprechend verbindet sich das (negative) Exempel des heiligen Severin mit der dringenden Aufforderung an das vom Text intendierte Re­ zipierendenkollektiv: Dauon ist notdurftig, das wir sy volbringen nach vnderm vermugen. […] wann wir derwerben do mit vmb got dy obristen vnd dy hohsten notdurft, das ist dy ewig frewde in dem himelreich, wenn wir sy mit andacht begen vnd czu rechter zeit (ebd., S. 88,3–8; Übers.: „Deswegen ist es zwingend erforderlich, dass wir sie [die Tagzeiten] unter Aufbietung all unserer Kräfte verrichten. […] denn wir erwerben uns mit ihnen bei Gott das wichtigste und höchste Bedürfnis, nämlich die ewige Freude im Himmelreich, wenn wir sie andächtig und zur richtigen Zeit begehen“). Ja später heißt es sogar: Was muß wir sunder denn fegfewrs dar umb leiden, wenn wir dy tag czeit on andacht singen vnd in dy werlt gedencken vnd sy oft mit ain ander versaumen! (ebd., S. 88,11–13; Übers.: „Wie­ viel Fegefeuer müssen wir Sünder später dafür erleiden, wenn wir die Tagzeiten ohne Andacht sin­ gen und in Gedanken der Welt anhängen oder sie oft allesamt versäumen!“). Dies wirft natürlich wiederum kein allzu günstiges Licht auf den Heiligen selbst, auch wenn dieser sie doch immerhin nicht mit ain ander versäumt. Vgl. dazu jetzt auch Bürkle/Eder, Register des Religiösen. Vgl. dazu zuletzt Eder, Das Leben des Bischofs.

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kontemplativer und aktiver Komponenten in der Lebensführung eines Bischofs lie­ gen kann. Darüber hinaus lässt sich anhand dieses Beispiels die Notwendigkeit eines Beschreibungsinstrumentariums erkennen, das die Referenz auf Visionen durch das Erzählen für die Legendarik – selbst in ihren äußerst zugespitzten Formen wie der völligen Negation derselben – kategorisierbar macht. Dem soll im Folgenden genau­ er nachgegangen werden, wofür ich am narratologischen Begriff des Ereignisses – bzw. besser: der Ereignishaftigkeit30 – ansetzen und ihn im Hinblick auf die Visionseinspie­ lungen der Severin-Legende in der frühsten Kölner Fassung diskutieren möchte. Denn eines scheint doch auffällig: Da, wo wie in ‚Der Heiligen Lebenʻ die Visionsanreiche­ rung der Geschichte verloren geht, fehlt auf einmal auch ein Weiteres: die klar profilier­ te Ereignishaftigkeit des Erzählten. In der Severins-Kurzvita dort ist allenfalls noch das Nicht-Ereignis, oder besser, das Sich-nicht-Ereignen31 – nämlich der Gottesschau – the­ matisch emergent. Ganz anders verhält sich dies etwa in der ersten Kölner Version der Severinslegende (nach der gebräuchlichen Einteilung Levisons stoffgeschichtlich aber die „2. Vita“32), die um 900 in lateinischer Prosa wohl von einem oder mehreren Klerikern des ihm gewidmeten Stifts angefertigt worden sein dürfte33 und jenen mutmaßlich dritten Bi­ schof der Stadt – nach dem zwischen Köln und Trier umstrittenen Gründer des Bis­ tums, dem heiligen Maternus, sowie dessen als Identifikationsfigur ausscheidenden, weil arianischen Nachfolger Euphrates – zum wichtigen hagiographischen Fixpunkt der frühen Stadtgeschichte im Sinne eines fundierenden episkopalen Heiligen pro­ filiert.34 Sie ist – im Unterschied etwa zu späteren Legendenfassungen französischer Provenienz, die den zweiten Teil einer (partiellen) Heimholung des heiligen Leich­ nams nach Köln bezeichnenderweise weglassen35 – grundlegend zweiteilig angelegt und weist einen Vitenteil im eigentlichen Sinne sowie einen mit der Translatio der Gebeine befassten Anhang auf, so dass sich für jene der – wohl auch durch konkurrie­ rende Aneignungsbestrebungen des Heiligen in Köln und Bordeaux stoffgeschichtlich

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Die ‚Ereignishaftigkeitʻ – oder englisch eventfulness – des Erzählten hat in der Erzähltheorie für die Taxierung eines ausgeprägten narrativen Gestus von Texten (narrativity) eine bedeutende Rolle gespielt; vgl. dafür etwa die überblickshafte Zusammenstellung bei Hühn, Event and eventful­ ness. Nachgeahmt sei hier die entscheidende Begriffsumstellung bei Bleumer, Ereignis, S. 179 f., auf ein im Erzählvorgang von literarischen Texten sich als Qualität einstellendes ‚Ereignenʻ, was dem Dilemma entgehen hilft, für das ‚Ereignisʻ mehr oder minder substanzielle Bestimmungen finden zu müssen (s. dazu auch unten, S. 316 f.). Vgl. dazu den Fassungsüberblick von Oepen/Steinmann in: Der Severinzyklus, S. 56 f., die sich an der älteren Einteilung von Levison, Die Entwicklung, orientieren. Vgl. die Angaben von Päffgen/Pangerl in: Die Vita, S. 543 f. u. 550. So zumindest die Einordnung von VTS 2. Vgl. wiederum Oepen/Steinmann in: Der Severinzyklus, S. 56.

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angeregte36 – Erzählzusammenhang eines geistlich gewendeten exile and return-Plots37 ergibt. Als zentrales, ja geradezu ‚sujethaftesʻ Ereignis38 der eigentlichen Severins-Vita erweist sich somit der Weggang des Bischofs aus Köln, der insofern zur syntagmati­ schen Schaltstelle eines kausallogischen Konnexes39 zwischen ‚Vita‘ und ‚Translatio‘ wird, als mit der – vor dem Hintergrund des pastoralen Amtsverständnisses sicher nicht ganz unproblematischen40 – Angabe, Severin habe nach einiger Zeit sein Bistum verlassen, um in Bordeaux weiterzuwirken, wo er auch schließlich verstorben sei,41 der narrative Ausgangspunkt für den Handlungsverlauf des zweiten Teils gelegt ist. Aus der Erfahrung einer Heilsferne der Kölner Bürger, die mit der lokalen wie me­ morialen Abwesenheit ihres Bischofs zusammenhängt, entspinnt sich somit die situ­ ative Notwendigkeit, den Heiligen – respektive seine Gebeine – wieder in sein altes Bistum zurückzuholen,42 so dass über die Ausfahrt der Kölner und deren Rückkehr mit der Hälfte des heiligen Leichnams eine zweite sujethafte Raumbewegung als Ge­ genstück des Aufbruchs Severins nach Bordeaux im Vitenteil erzählt wird, die nicht nur als notwendiger Bestandteil des exile und return-Schemas erwartbar ist, sondern die Zusammengehörigkeit von Bischof und Stadt (zumindest partiell) überhaupt erst wieder herstellen muss. Somit spannt sich im spatialen Setting der Legende über die Pole Köln und Bordeaux ein signifikantes Nähe/Distanz-Verhältnis auf, das über die Gegenwärtigkeit des sanctus episcopus bestimmt ist. Zu diesem ist mit Tours und dem für die Severinsheiligkeit als präfigurierend aufgerufenen Vorbild des heiligen Mar­ tin jedoch noch ein dritter Ort der Zirkulation des Heils hinzuzudenken, so dass eine triadische Raumstruktur erkennbar wird, die gerade über die Darstellungspotenziale visionärer Entgrenzung und Überbrückung räumlicher Ferne, so wird zu zeigen sein,

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Bei der Kölner Vitenerstellung ist auch auf älteres Material zurückgegriffen worden, das für Bor­ deaux einen gleichnamigen Heiligen, der aus dem Osten kommend als Fremder in Aquitanien das Bischofsamt übernimmt, ausweist, so etwa im 44. Kap. des Liber in gloria confessorum des Gregor von Tours (Abdruck als „Anhang 3“ in Päffgen, Der heilige Severin, S. 515–517); vgl. zu diesem Heiligen auch Oepen/Päffgen, Exkurs. Vgl. etwa für die Alexiuslegende Strohschneider, Textheiligung, S. 129. Insofern wäre mit Standke, Freundschaft, S. 27 f., in der Tat die raumsemantisch ausgefaltete Er­ zählstruktur der Severinslegende als ein zwei- bzw. dreifacher Übertritt einer Grenze zwischen den beiden Sphären Köln und Bordeaux zu denken; vgl. dazu Lotman, Die Struktur, S. 347–358. Anders als Feistner, Historische Typologie, S. 23–49, geht es mir nicht um eine mögliche ty­ penspezifizierende Valenz der strukturalistischen Beschreibungsparameter von ‚Syntagma‘ und ‚Paradigma‘, die eine spezifische Dominanz für die beiden basalen Textformationen der Legenda­ rik (Märtyrerlegende: syntagmatischer Basisnexus/Bekennerviten: paradigmatische Reihung) behauptet, sondern um eine präzise Strukturbeschreibung der Severinslegende, die am syntagma­ tischen Rahmen einer ‚Lebensgeschichte‘ und dem Paradigma der biographischen Einzelepisode gleichermaßen ansetzt, ohne eine der beiden Relationen für den Text(typ) – unter Vernachlässi­ gung der jeweils anderen – absolut setzen zu wollen. Vgl. z. B. Müller, Amtsflucht. Vgl. VTS 11 f. und die hier folgenden Ausführungen. Vgl. VTS 16–20 und die Angaben unten.

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die Plotstruktur von ‚Vita‘ und ‚Translatio‘ in entscheidender Weise perspektiviert und absichert. Dies zeigt etwa paradigmatisch eine Passage, die schon im ersten Martinsbuch des Gregor von Tours überliefert ist und auf welche die Kölner Vita zurückgreifen kann. Hier wird erwähnt, dass der „heilige Severin, Bischof der Kölner Bürgerschaft“, wie es dort heißt, anlässlich der Himmelfahrt des heiligen Martin wie durch ein Wunder im fernen Köln himmlischen Psalmengesang vernimmt (Liber I, cap. 4).43 Diese Informa­ tion bildet dann auch das Zentralmoment aller Kölner Severinsvitenfassungen, da sich dieses nun nicht nur als Bestätigung der außerordentlichen Heiligkeit Martins aus­ deuten lässt (über den der Teufel keine Macht hat, so dass er – mit nur geringer Ver­ zögerung – direkt in die Seligkeit aufgenommen werden kann44), sondern auch als die der sanctitas Severins, der in einen direkten Zusammenhang mit eben jenem enorm populären und prestigeträchtigen Heiligen gerückt werden kann, wobei jener – bevor andere ihm diesen Rang streitig machen – als der vornehmliche fränkische Reichshei­ lige auch den Kölner Bischofsheiligen mit einem enormen Geltungsprestige ausstat­ tet. Auch die Beiträge im 2011 von Joachim Oepen u. a. herausgegebenen Sammelband zum heiligen Severin, die auf einer detaillierten natur- und kulturwissenschaftlichen Auswertung der Befunde nach der spektakulären Öffnung des Severinsschreins von 1999 beruhen, betonen mehrfach, wie eng der Kölner Severinskult auf das prägende Vorbild der Martinsverehrung bezogen bleibt.45 Insofern scheint es sinnvoll, auch an dieser Stelle den Blick auf die Kölner Severinslegende mit eben jenem stoffgeneti­ schen wie thematischen Nukleus der sog. ‚Martinsvisionʻ zu eröffnen, obwohl im Sin­ ne eines differenzierteren Begriffsgebrauch diese sicher besser als ‚Martinsauditionʻ zu benennen und insofern vom engeren Bereich legendarischer Visionsdarstellung zu unterscheiden wäre. Denn für die Vita, die mit einem kunstvoll-gelehrten Prolog (VTS 1) eröffnet, der das legendarische Programm als Leitbild installiert, dass das leuchtende Vorbild der

Textabdruck als „Anhang Nr. 1“ bei: Päffgen, Der hl. Severin, S. 511: Beatus […] Severinus Colonensis civitatis episcopus. Der/Die Verfasser der Kölner ‚Vita et Translatio Sancti Severini‘ hat/haben für ihr Wiedererzählen der Episode nach Auskunft der Herausgeber Päffgen/Pangerl jedoch nicht Gregors Text in einer kompletten Handschrift benutzt, sondern sich als Vorlage des ‚Martinellus‘ bedient, vgl. Die Vita, S. 568, Anm. 79. 44 Severin benennt diese Verzögerung in VTS 8 mit einem in der Tat etwas irritierenden Bezug auf die (nicht zeitgleich durch Audition wahrnehmbare) Bestattungsfeier des Heiligen: „Propter quod et paululum morae fuit, quod exsequiarum ejus digna celebratio a nobis audiri non potuit.“ („‚Deswe­ gen gab es auch ein ganz kleines Hemmnis, weswegen die würdige Feier von dessen Bestattung von uns nicht gehört werden konnte.‘“) Päffgen/Pangerl erklären dies als Missverständnis der „bei Gregor von Tours vorhandene[n] Unterscheidung, die Severin von Köln am 8./9. November Zeu­ ge der Himmelfahrt einige Stunden nach dem Tod sein lässt, während Ambrosius von Mailand die Vision der dann später anzusetzenden Leichenfeier vor der Beisetzung (depositio) am 11. Novem­ ber zuteil wurde“ (Die Vita, S. 570, Anm. 86). 45 Vgl. etwa dort Oepen u. a., Zusammenfassung, bes. S. 587–589. 43

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Kirchenväter nicht wie Licht unter den Scheffel gestellt werden soll (Lk 11,33), kann demgegenüber von Severin zunächst nur angegeben werden, dass dieser – nach seinem dem arianischen Irrglauben anhängenden und durch Synodalbeschluss abgesetzten Amtsvorgänger Euphrates – zum dritten Bischof der Stadt ernannt worden sei und sich um eine konsequente Wiederherstellung der Orthodoxie in seinem Bistum verdient gemacht habe (vgl. VTS 2 f.). Allerdings ließen sich – so wird von der Erzählinstanz eingeräumt – dessen genaue Wundertaten als Heiliger leider nur noch summarisch registrieren, so dass es für die Legendennarration zunächst so scheint, als sei deren konkreter Gegenstand die eigentliche Leerstelle des Erzählens. Jedoch sei immerhin dessen Wirken als katholischer Kirchenlehrer und sein leuchtendes Tugendvorbild unbestritten (vgl. VTS 4) und das Fehlen weiterer Informationen durch Überliefe­ rungsverluste in Folge der Kriegszüge der Hunnen überdies zu erklären (vgl. VTS 5 f.). Auf der Wiedergabe des zentralen Bestätigungswunders, die Audition der Himmel­ schöre beim Eingang des heiligen Martins in die Ewigkeit (VTS 7 f.), die – wie bereits erwähnt – schon bei Gregor von Tours zu finden ist, liegt also die ‚Hauptlastʻ eines biographischen Erweises von erinnerungswürdiger sanctitas des Kölner Bischofs, wes­ wegen sie – neben ihrem Seitenstück, der Parallelerzählung eines asketischen Einsied­ lerlebens, das dem weltzugewandten, episkopalen Lebensentwurf Severins bezüglich der Verdienste im Himmel als gleichkommend evaluiert wird (vgl. VTS 9 f.)46 – auf­ fällig detailliert erzählt ist. So begründet schon die hagiographische Erzählerstimme ihren Zugriff auf die Episode mit der durch sie angezeigten außergewöhnlichen Nähe Severins zum Glaubensvorbild des Martin von Tours, indem ein regelrecht reziproker Verweisknotenpunkt von gegenseitiger Heiligkeitsbestätigung aufgebaut wird,47 der gleichzeitig – einmal mehr – die exorbitante sanctitas Martins (durch zeugenhafte Be­ glaubigung seines Eingangs in die Herrlichkeit) und über die exklusive Verbundenheit Severins mit diesem natürlich wiederum den religiösen Ausnahmestatus des Kölner Bischofs demonstriert. Denn in VTS 7 heißt es dementsprechend: In laude igitur hujus Deo digni pontificis Severini non minimum sanctitatis indicium, quod contemporalis ejus probatissimi Christi Confessoris, Martini, miraculis inditum reperimus, nequaquam transeundum putamus: in quo lucidissime demonstratur, unum, agone jam bene consummato, coronam justitiae debitam percepisse, alterum, adhuc in certamine positum, eamdem fidei bonorumque operum constantiam meruisse: et, ut aperte dicam, unius ostendit praemium, alterius describit miraculum. (S. 556,21–27) Beim Lobpreis dieses Gottes würdigen Bischofs Severin glauben wir, das nicht geringste Anzeichen seiner Heiligkeit, das wir in den Wundern seines Zeitgenossen Martin, des sehr trefflichen Bekenners Christi, gefunden haben, auch nur irgendwie übergehen zu dürfen:

46 47

Vgl. dazu zuletzt Eder, Das Leben des Bischofs, S. 355–365; Scheuer, Das Heilige, S. 249 f. Vgl. dazu Scheuer, Das Martiniloben, S. 303 f.; ders., Das Heilige, S. 249.

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Durch dieses wird sehr deutlich bewiesen, dass der eine, nachdem er den Glaubenskampf schon gut vollendet hatte, die dafür bestimmte Krone der Gerechtigkeit empfangen hat, und der andere, der sich bis jetzt noch im Kampf befindet, sich um die beständige Aus­ übung des Glaubens und der guten Werke Verdienste erworben hat: und, wie ich es frei­ mütig ausdrücken will, der Erstere [Martin] veranschaulicht den gottgegeben Lohn, der Letztere [Severin] verkörpert das Wunder.48

Postmortales Eingehen in die Transzendenz als Resultat eines durch zahlreiche Wun­ der als heilig erwiesenen Lebens (Martin) und heiligmäßiges Tugendvorbild im Le­ ben (Severin) seien, so wird also versichert, gerade durch die Verbindung beider in der gnadenhaften – als übergeordnetes miraculum die Sphären der Immanenz und Transzendenz für die beiden Heiligen kategorial vereinenden – Audition als zwei Sei­ ten einer Medaille ausgewiesen (auch wenn der Erzähler an anderer Stelle versichert, mehr als auf die Wunderevidenz von Heiligkeit komme es doch auf vorbildliche Glau­ bensverdienste etwa in der Auseinandersetzung mit Häretikern an49). Die entsprechende Passage, die von dieser privilegierten Verbindung Severins mit dem heiligen Martin erzählt und die entsprechenden Ereignisse in Köln mit dem chro­ nologischen Zeitpunkt vom Tod des episkopalen Amtskollegen in Tours genau korre­ liert, setzt wie folgt ein: Quodam itaque tempore, dum solertissimus pastor Ecclesiae, Severinus, gregis sibi com­ missi custodiis invigilans, die dominico, expletis matutinalibus officiis, ex consuetudine loca sancta orandi gratia circuiret, audiro meruit dulcisonam coelestis militiae melodiam, quae illum afflatu Sancti Spiritus docuit, quia Martinus episcopus de saeculo migravit. (S. 556,27–31) Zu dieser Zeit daher, während Severin, der sehr fähige Hirte der Kirche, bedacht auf die Behütung der ihm anvertrauten Herde, am Tag des Herrn, nachdem er die Matutin ge­ feiert hatte, aus Gewohnheit um die heiligen Orte herumging, um zu beten, verdiente er

48 49

Die deutschen Übersetzungen der ‚Vita et Translatio‘ sind dabei unter Heranziehung von Päff­ gen/Pangerl, Die Vita, S. 562–579, erstellt, teils aber eigenständig formuliert. Vgl. mit Bezugnahme auf Gregors Abwägung in Kap. III, 17,7 seiner ‚Dialogi‘, dass Bekehrungen von Sündern mehr wert seien als etwa Wunder wie die Erweckung von Toten im Fleische, in VTS, 4 (S. 555,15–20): Quamvis tot mortuorum resuscitator esse veracissime praedicetur, quot animarum, haeretica pravitate corruptarum, doctrina fidei catholicae et operationis rectae recuperator esse cognoscitur. Plus enim est, animam, in aeternum victuram, a vitiorum sordibus ad immortalitatis desiderium per dulcedinem piae exhortationis accendere, quam corpus, iterum moriturum, de tumulo resuscitare („Mag auch noch so sehr höchst wahrheitsgemäß berichtet werden, dass er der Wiedererwecker so vieler Toten ist, doch von wie vielen Seelen, verdorben durch ketzerische Verworfenheit, Wiedergewin­ ner ist er, wie man weiß, durch die Lehre des katholischen Glaubens und des rechten Wirkens? Es bedeutet nämlich mehr, eine Seele, die ewig leben soll, vom Schmutz der Laster weg durch die Süße frommer Ermahnung zum Verlangen nach Unsterblichkeit zu entzünden, als einen Leib, der abermals sterben wird, aus dem Grab aufzuerwecken.“).

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es sich, die lieblich klingende Melodie der himmlischen Heerschar zu hören, die jenem durch den Anhauch des Heiligen Geistes mitteilte, dass der Bischof Martin aus der irdi­ schen Welt geschieden sei.

Die Audition setzt also nach der Feier der Matutin als liturgischer Rahmung ein, wäh­ rend sich der Heilige im Gebet an verschiedenen „heiligen Orten“, wie es unbestimmt heißt, also in sakraler Örtlichkeit, aber gewisser Mobilität befindet. Severin hört nun unvermittelt und plötzlich – und wenn wir so wollen unerwartet, und damit poten­ ziell ereignishaft50 – eine Melodie aus dem Himmel, die ihm – mittels Sinnaufschlie­ ßung durch die trinitarische Instanz des Heiligen Geistes als ‚Anhauchungʻ – zudem zugleich als transzendenzsphärische Begleiterscheinung des höchst signifikanten Heilsmoment der himmlischen Aufnahme des heiligen Martin erkennbar wird. Doch die Möglichkeit zu dieser Wahrnehmung ist – das macht der Text gleich im Anschluss klar – eine zutiefst exklusive Befähigung: Quam dum intentus ipse diligenti aure perciperet secreti coelestis testem secum habe­ re desiderans, vocato archidiacono, requisivit, si aures ejus cantilena, coelitus immissa, percuteret. Quo tale aliquid se audire negante, rursus episcopus, ut diligenter auscultaret, admonuit. Quumque ille toto corporis et mentis nisu coelestis concentus fieri particeps appeteret et non impetraret, intellexit vir Dei a Deo implorandum fore, ut hujusmodi lau­ des diaconus audiret. (S. 556,31–37) Doch als er selbst es aufmerksam mit gewissenhaftem Ohr wahrnahm, wünschte er sich, neben sich noch einen weiteren Zeugen für das himmlische Geheimnis zu haben, und so fragte er einen herbeigerufenen Archidiakon, ob die vom Himmel ausgesendete Kantilene dessen Ohren auch anrühren würde. Als dieser verneinte, ermahnte ihn wiederum der Bischof, genauer hinzuhören. Und da jener sich mit dem ganzen Körper und mit ange­ strengtem Geist anschickte, des himmlischen Gesangs teilhaftig zu werden, und dies nicht erreichte, verstand der Mann Gottes, von Gott erst erbitten zu müssen, dass der Diakon die besagten Lobgesänge höre.

Hier wird nämlich zum einen die besondere Form der Hinwendung des Heiligen zu diesem kosmologisch transzendierten Heilsgeschehen betont, der diesem mit beson­ derer Aufmerksamkeit folgt und folgen kann, sich aber zugleich weitere Zeugenschaft für diese bedeutsamen Vorgänge – deren Hermetik als himmlisches Geheimnis, secretum coeleste, schon hervorgehoben ist – wünscht. Ein eilig hinzugerufener Archidi­ akon, ein Amt, das sich gerade durch große Bischofsnähe als dessen „Begleiter und Vertreter“ – so die Angaben der Edition von Päffgen/Pangerl51 – definieren lässt, dient

50 51

Vgl. dazu unter dem Stichwort einer ‚Imprädikabilitätʻ Bleumer, Ereignis, S. 61 f. Päffgen/Pangerl in: Die Vita, S. 568, Anm. 81.

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aber nun genau zur Einziehung einer grundlegenden Differenz, die die Amtsheiligkeit des Bischofs mit der spirituellen Besonderung heiligmäßiger Exorbitanz überblendet, ist doch der Diakon gerade nicht befähigt, das Auditionswunder nachzuvollziehen – selbst unter Aufbietung seiner sämtlichen körperlichen und mentalen Kräfte. Vor dem Hintergrund der Augustinischen Dreiteilung der visionären Bewusstseinsarten zwi­ schen visio corporalis, visio spiritualis und – eigentlich zur richtigen Aufnahme des Ver­ mittelten erst entscheidender – visio intellectualis52 ist auffällig, dass hier nur mit einem zweiwertigen Schema von Wahrnehmungsformen gearbeitet wird, aber sich trotz der körperlichen und geistigen Anstrengungen kein Erfolg beim Archidiakon abzeichnen will. Was nämlich fehlt, und das zeigt der weitere Fortgang in VTS 8, ist ein von au­ ßen hinzukommendes Drittes, nämlich die göttliche Gnade, die die Perzeption des himmlischen Geschehens erst ermöglicht, und über die Severin anscheinend schon unausgesprochen zuvor verfügt, während sie für den ihm als Schüler untergeordneten Diakon erst erbeten werden muss: Tunc prostrati simul in terram episcopus et diaconus, ut harmonia, quam magister inten­ tus audierat, etiam discipulum non lateret, orabant. Quibus erectis, quum beatus antistes diaconum iterum interrogaret, si desideratam vocem auribus adhuc quodam modo sen­ tiret: „Voces“, inquit, „psallentium tamquam in coelo audio; sed quid sit, prorsus ignoro.“ (S. 556,38–42) Dann beteten der Bischof und der Diakon, zugleich niedergestreckt auf den Boden, damit die Harmonie, die der aufmerksame Lehrmeister gehört hatte, auch dem Schüler nicht verborgen blieb. Nachdem sie sich aufgerichtet hatten, fragte der selige Bischof wiederum den Diakon, ob er den ersehnten Klang auf irgendeine Weise mit den Ohren wahrgenom­ men hätte. Der sprach: „Ich höre psalmierende Stimmen gleichsam wie im Himmel; aber was das ist, weiß ich einfach nicht.“

Entscheidend ist hierbei, dass durch das gemeinsame, intensive Gebet von Bischof und Archidiakon zwar erreicht werden kann, dass letzterer die himmlischen Klänge ebenfalls wahrnehmen kann (sentire/audire), jedoch sich der eigentliche Sinn der­ selben noch nicht erschließt. Über diesen kann nur der vir sanctus – durch seine Er­ griffenheit vom Heiligen Geist – Aufschluss geben, der das sinnlich Vermittelte noch richtig einzuordnen weiß. Cui secretorum conscius coelestium, quid audita jubilatio designaret, aperuit, dicens: „Dominus meus Martinus migravit a saeculo, et nunc eum hymnidici civium coelestium chori in suum consortium laetantes suscipiunt. Cujus sanctissimam animam, carne so­ lutam, diabolus cum suis angelis retinere curavit, sed nihil in eo suum reperiens, confusus abscessit.“ (S. 556,42–557,3) 52

Vgl. dazu etwa Kamphausen, Traum und Vision, S. 38 f.

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Derjenige, der eingeweiht war in die himmlischen Geheimnisse sowie das, was der gehör­ te Jubel bedeutete, antwortete: „Martin, mein Herr, schied aus der irdischen Welt, und nun nehmen die hymnischen Chöre der himmlischen Bewohner ihn freudig in die Ver­ sammlung der Ihren auf. Dessen hochheilige Seele, vom Fleisch gelöst, bemühte sich der Teufel mit seinen Dämonen zurück zu halten, aber da er in ihm nichts ihm [= dem Teufel] Eigenes finden konnte, zog er sich verwirrt zurück.“

Nur Severin allein ist somit wirklich in die himmlischen Geheimnisse eingeweiht (conscius secretorum coelestium) und kann angeben, wie diese aufgefasst und ausgedeu­ tet werden müssen (vgl. die Verständnisebene des designare). Dies ist umso relevanter, als das Einsetzen der Martinsaudition in der Vita zwar deutlich mit Markierungen der Ereignishaftigkeit wie beispielsweise der Unerwartetheit ausgestattet ist, jedoch für das Plotgerüst der histoire-Ebene für den Protagonisten weder eine wirkliche Statusdif­ ferenz,53 noch weitere kausallogisch mit der Episode verklammerte Handlungsfolgen zeitigt. Allenfalls wird man davon sprechen können, dass das im Paradigma der Mar­ tinsaudition aufgerufene Konzept einer privilegierten Heiligkeit Severins, die ihn mit dem heiligen Martin verbindet und – wie die Erzählinstanz später angibt – als Zeichen der exorbitanten Gottesliebe des Kölner Bischofs gelesen werden kann,54 von den Re­ zipierenden im weiteren Verlauf des Erzählsyntagmas jederzeit wieder eingespielt wer­ den kann und den Heiligen somit mit der Aura einer besonderen Gottesnähe, die zur sensitiven Wahrnehmung und richtigen Ausdeutung der himmlischen secreta befähigt, ausstattet – und insofern auch die noch folgenden Visionsdarstellungen der Severins­ legende in entscheidender Weise perspektiviert. Demgegenüber zeigt der Blick auf die enge syntagmatische Verklammerung der zwei weiteren Visionsdarstellungen in der Severinlegende, dass diese auf einer völlig anderen technischen Realisationsweise beruhen, weil diese – auch wenn sie im Vor­ feld der Geschichte wiederum völlig unvermittelt und unerwartet eintreten – eine enorme Wirkung im Sinne von Handlungsmotoren entwickeln, nämlich derart, dass sie den Plot an bedeutsamen Stellen – und mit nicht gerade unproblematischen Re­ sultaten des Erzählten – geradezu vorantreiben. Sie sichern nämlich zwei recht prekä­ re Ereignisse des Plots (der Bischof verlässt sein Bistum, um woanders weiterzuwir­ ken / zwischen Köln und Bordeaux entspinnt sich ein Reliquien- und Geltungsstreit) durch die Insinuation eines göttlichen Eingreifens per divinatorischer Offenbarung ab und versehen den Handlungsverlauf mit höchstem Autoritätssubstrat, indem suggestiv Gott selbst dafür Sorge trägt, dass sich das Geschehen zu seiner Geschichte

53 54

Anders als etwa die ereignishaften ‚Wegmarkenʻ der Elisabethviten, vgl. Emmelius, Gelübde, S. 116–118. Vgl. VTS 10; s. dazu auch Eder, Das Leben des Bischofs, S. 360 f.

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entwickelt.55 Diese ist ganz am Erzählschema des besagten exile and return-Narrativs orientiert, wobei mit den leiblichen Bewegungen des Heiligen die Raumsphären be­ züglich der Heilsnähe und -ferne signifikant semantisiert sind: Solange Severin Bi­ schof in Köln ist, garantiert er Heilsnähe und Stadtschutz; während sich der Heilige bzw. sein Leichnam in Bordeaux befindet, ergibt sich für Köln ein schlimmer Zustand der Heilsferne; die spätere Reliquienteilung bringt dann schließlich eine Heilszusi­ cherung für beide Städte. Besonders aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist, dass diese beiden Vi­ sionen im Text auch dezidiert als visio begrifflich benannt sind, wobei der Sonderfall der zweiten, der Traumvision des Klerikers, für den Zusammenhang von Vision und Traum, wie ihn sich zumindest die Severinslegende vorstellt, noch einmal sehr bedeut­ sam ist. Doch beginnen wir mit der ersten der beiden Visionen, die dem heiligen Severin selbst zuteilwird, und die Schlussphase des biographisch gerahmten Handlungsver­ laufs einleitet. Ich zitiere aus Abschnitt VTS 11: Corroborata itaque et bene stabilita Dei gratia Coloniensi Ecclesia, sanctus vir Severi­ nus, in Dei opere indefessus, per visionem monetur, ut Burdegalense oppidum et partes Aquitaniae, unde etiam claram traxisse fertur originem, coelestis lucri causa visitare non dubitaret. Quod statim, cognita Dei voluntate, licet jam senili gravaretur aetate, perficere aggressus est. (S. 558, 15–19) Nachdem er somit durch Gottesliebe die Kölner Kirche gestärkt und gut gesichert hat, wird der heilige Mann Severin – im Werk Gottes unermüdlich – durch eine Vision er­ mahnt, dass er nicht zögern soll, die Stadt Bordeaux und die Teile Aquitaniens, von denen man auch sagt, dass er seine glänzende Herkunft daraus ableitete, wegen des himmlischen Lohns zu besuchen. Soweit es ihm, der schon durch das Greisenalter belastet war, möglich war, machte er sich sofort daran, das umzusetzen, was er als den Willen Gottes erkannt hatte.

Somit setzt diese erste Visionsepisode an einer als resultathaft abgeschlossen behaupte­ ten Station der Handlung an, indem angegeben wird, der Heilige habe am Ende seines Lebens in seinem Bistum die Herausforderungen des Kampfes gegen die Häretiker ge­ meistert und dieses in einen unangefochtenen, gesicherten Zustand überführt. Nun habe er die – nicht näher situativ bestimmte und überhaupt irgend auserzählte, sowie schon gar keinen „andere[n] Raum“56 eröffnende visionäre Weisung von Gott erhalten, Köln zu verlassen, um in Bordeaux und Aquitanien sich weiter Lohn im Himmelreich zu er­ 55

Zu diesen beiden Projektionsebenen des narrativen Ebenen-Modells von Wolf Schmid vgl. bes. Bleumer, Historische Narratologie, bes. S. 216–223. Die ‚Geschichteʻ wäre gegenüber dem ‚Ge­ schehenʻ etwa durch die Einziehung einer festen axiologischen Struktur relationiert. 56 So Dinzelbacher, Vision, S. 32.

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werben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Auskunft – so übersetze ich mit spä­ teren Legendenversionen, die dies vereindeutigen,57 die recht kryptische Formulierung unde etiam claram traxisse fertur originem gegen Päffgen/Pangerl58 etwas anders –, Severin habe damit die Stätten seiner biographischen Herkunft wieder aufsuchen mögen, was m. E. in deutlicher Parallelität zu einer Episode der Martinsvita zu sehen ist, als dieser im Traum den Auftrag erhält, aus Poitiers in seine Heimat Pannonien zurückzukehren, um dort seine Eltern und andere aus den Fängen des Heidentums zu befreien (vgl. VM 5,3: per soporem wird Martin „ermahnt“ [admonitus], dies zu tun59). Allerdings – und dieser Unterschied fällt umso deutlicher ins Auge – muss betont werden, dass Martin zu die­ sem Zeitpunkt noch kein Bischof ist, sondern nur Exorzist in den Diensten des Bischofs Hilarius, ja er muss von diesem sogar die Einwilligung zu der Reise erbitten, die Hilarius auch nur unter der Auflage erteilt, dass Martin nach Vollendung seiner Aufgabe wieder zurückkomme (vgl. ebd). Demgegenüber ist die entsprechende Stelle in der Severins­ vita doch deutlich prekärer: Zwar ist der Aufbruch Severins nicht explizit als vor dem Hintergrund einer nach dem episkopalen Amtsverständnis nur schwer auflösbaren Bin­ dung des Bischofs an seine Gemeinde sich äußerst problematisch erweisenden Amts­ flucht inszeniert, davon allerdings, dass Severin eine Rückkehr nach Köln überhaupt beabsichtigt, ist genau nicht die Rede – ebenso wenig von Abklärungen und Regelungen mit seinem Klerus. Umso bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang die explizite Be­ tonung, dass es sich bei dieser Vision um eine Offenbarung göttlichen Willens handelt, so dass Severin nicht nur von den heiklen Implikationen einer Amtsaufgabe entlastet, sondern auch noch einmal als gehorsamer Diener des Herrn insinuiert wird, der diesen beschwerlichen Auftrag sogar noch in hohem Alter auf sich nimmt. Dem entspricht dann übrigens auch, dass Severin bei seiner Ankunft in Bordeaux äußerst freudig und ehren­ voll vom dortigen Bischof Amandus aufgenommen wird, wobei wiederum diesem die Ankunft des heiligen Mannes durch göttliche revelatio – mithin ebenfalls ein Terminus, der für das Wortfeld der Vision einschlägig ist60 – angekündigt wird: Interea dum iter ageret, revelatum est a Domino Beato Amando, ejusdem civitatis praesuli, Severinum, magnificae sanctitatis episcopum, visitatum Aquitanicos cives advenire, et se

57

58 59 60

Vgl. etwa in dieser Hinsicht die lateinische Beischrift zur entsprechenden Tafel Nr. 9 des um 1500 entstandenen Severinzyklus (Chorraum St. Severin, Köln), wo es heißt: Ecclesia Coloniensi bene stabilita cum diocesi sua in fide revelatum fuit sancto Severino, quod spe spritalis lucri deberet visitare partes Aquitanie et presertim Burdegulam, unde claram duxit originem […] („Nachdem die Kölner Kirche zusammen mit seiner Diözese im Glauben gut gefestigt war, wurde dem hl. Severin of­ fenbart, dass er in der Hoffnung auf geistlichen Gewinn Aquitanien und insbesondere Bordeaux besuchen müsse, von wo er seine ruhmvolle Herkunft ableitete […]; lat. Text und Übers. zitiert nach der Edition von Oepen/Steinmann, Der Severinzyklus, S. 26). Päffgen/Pangerl in: Die Vita, S. 572: „von wo auch berichtet wird, dass sie einen ruhmvollen Ursprung erhalten haben“. Zitiert nach der Edition von Huber-Rebenich. Vgl. etwa Dinzelbacher, Vision, S. 46.

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ei cum cleri populique coetibus obviare debere. […] Quem mox ut appropiavit, prior pro­ prio nomine, velut per revelationem doctus fuerat, salutare curavit, prosequente clero et dicente: „Benedictus, qui venit in nomine Domini.“ (S. 558,19–26) Während er sich unterdessen auf den Weg machte, wurde dem Heiligen Amandus, dem Vorstand derselben Bürgerschaft, durch Gott offenbart, dass Severin, ein Bischof von großartiger Heiligkeit, herannahe, um die aquitanischen Bürger zu besuchen, und er die­ sem mit Versammlungen von Klerus und Volk entgegenziehen müsse. […] Als er sich bald näherte, pflegte er, wie er durch die Offenbarung angeleitet war, diesen als erster mit einem passenden Namen zu begrüßen, indem er seinem Klerus voranschritt und sprach: „Gesegnet sei der, der da kommt im Namen des Herrn.“

Insofern ist der vor dem Hintergrund der Vorstellung einer dauerhaften Bindung des Bischofs an seine Gemeinde möglicherweise nicht recht verständliche oder gar irri­ tierende Fortgang Severins nach Bordeaux durch die (implizite) Bezugnahme auf das Modell der Martinsvita plausibilisiert sowie durch gedoppelte Vision, nämlich beim Heiligen selbst als auch bei seinem aquitanischen Amtskollegen Amandus, als göttli­ cher Wille abgesichert, der den Kölner Bürgern als Prüfung den Heiligen wieder ent­ zieht, so dass sie sich seiner – und davon erzählt dann der ‚Translatio‘-Teil – überhaupt erst als würdig erweisen müssen, indem sie sich des in der Folgezeit vergessenen Bi­ schofs kollektiv wiedererinnern und sich – diesem nachfolgend – auf den Weg in die Fremde machen, um ihn zurückzugewinnen. Wiederum ist diese Begebenheit einer Rückerinnerung der Kölner Bürgerschaft an ihren heiligen Bischof und die Wiedergewinnung von Teilen seiner eine Heilsprä­ senz in der Stadt garantierenden Gebeine durch die Erzählung von einer Vision ab­ gesichert, die im Kontext der ‚Translatio‘ jedoch unter ganz anderen narrativen Vor­ zeichen inszeniert ist. Zwar wird man von einer wirklich kausallogisch zwingenden Herleitung dieser Vision – stricto sensu – doch nicht ganz sprechen wollen, jedoch fällt auf, dass diese – anders als die völlig unvermittelte Weisung an Severin zum Fortgang aus Köln – auch vorab schon viel stärker in das Plotgerüst eingebaut und durch eine sie vorbereitende Vorgeschichte syntagmatisch verklammert ist. Denn einige Zeit nach dem Ableben Severins in Bordeaux, so erfahren wir in der ‚Transla­ tio‘, haben die Kölner ihren Erzbischof vergessen und kommen so ihrer – gerade im Interesse des Stadtschutzes doch so gebotenen – memoria-Pflicht61 nicht mehr nach (vgl. VTS 16). Die Folgen sind verheerend: Regen bleibt aus und so kommt es zu ei­ ner dreijährigen Hungersnot, aus der ein Ausweg gefunden werden muss, weswegen der Grund für die offensichtlich eingetretene Heilsferne entdeckt werden muss (vgl. ebd.).62 Die Aufklärung darüber gestaltet sich nun derart, dass ein Stiftsherr der eige­ 61 62

Vgl. für die Legendarik bes. Feistner, Imitatio. Dass diese die göttliche Sanktionierung der ausbleibenden Severinsverehrung ist, wissen Klerus und Bürger aber zu diesem Zeitpunkt natürlich – anders als wir Rezipierende – noch nicht.

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nen Kirche des Heiligen, also von St. Severin – die es zu diesem Zeitpunkt eigentlich so noch gar nicht geben kann, da der Patronatswechsel erst später erzählt ist63 – nach einer als kollektive Bußübung von der Kölner Gemeinde durchgeführten Fastenzeit im Traum eine Vision empfängt, die er zunächst gar nicht recht deuten kann. In VTS 17 heißt es diesbezüglich: Tertia namque transacta solemnis parsimoniae die, quemdam ejusdem Ecclesiae clericum Angelus per visionem arguit, dicens: Pastorem et episcopum vestrum non habetis et cau­ sas tantae iracundiae quaeritis? Qua territus allocutione clericus, evigilavit, et quorsum ista portenderent, admodum miratus, de incolumitate pontificis, qui tunc temporis ibi praefuit, sollicite requisivit. (S. 560,24–28) Und am dritten Tage des abgemachten feierlichen Fastens nämlich rügte ein Engel einen gewissen Kleriker von dessen Kirche durch eine Vision, indem er sprach: „Ihr habt euren Hirten und Bischof nicht bei Euch, und fragt nach den Ursachen eines so großen Zorns?“ Durch diese Anrede erschreckt wachte der Kleriker auf, war ganz verwundert, worauf sich diese Prophezeiungen bezogen, und erkundigte sich sorgenvoll nach dem Wohlergehen des Bischofs, der damals dort an der Spitze stand.

Wichtig ist also zunächst einmal, dass diese Vision – der Begriff visio fällt ja wiede­ rum – deutlich konkreter auserzählt ist als die vorausgehende: Die Situation ist be­ stimmt (nachts, Traumgesicht), es gibt als eine Instanz ein Verkündigungs-Gegenüber (den Engel) und wir finden eine personale Rede, die wörtlich wiedergegeben ist (nicht einfach nur einen raffenden Bericht des Erzählers). Gleichwohl ist die Reaktion des Visionsempfängers doch grundlegend anders als im Falle von Severins Visionsauftrag zum Aufbruch nach Bordeaux. Der Kleriker reagiert erschrocken, wacht auf, fragt sich, was das Gesehene/Gehörte zu bedeuten hat, und unterliegt sofort einer Fehlausle­ gung, weil er zunächst glaubt, die Ermahnung des Engels beziehe sich auf den aktu­ ellen Kölner Bischof und seinen Gesundheitszustand. Da sich dies als unzutreffend herausstellt, wird daraufhin das Geschaute vom Stiftsherrn insgesamt als täuschendes Traumgesicht hinterfragt und zunächst geheim gehalten: Sed quum illum integra resciret sanitate vigere, primum metuens narrare, quod viderat, reticendum esse putabat, deinde quibusdam sibi familiarius adhaerentibus visionem, quasi pro somnii phantasia, pandebat. Sicque paulatim illa omnino laudabilis fama per singulorum omnia, cunctorum pene pervagabatur ora. Fit conventus cleri totius ac po­ puli, clericus, velut hujus oraculi vates, productus in medium, ut visa cunctis per ordinem exponat, rogatur. (S. 560,28–34)

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Dieser ergibt sich erst mit der Bestattung des in seinen Reliquien heimgekehrten Bischofs in der zuvor den Heiligen Cornelius und Cyprian geweihten, späteren Basilika St. Severin (vgl. VTS 20).

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Als er aber erfuhr, dass jener bei unversehrter Gesundheit und voller Lebenskraft war, glaubte er zunächst, dass – weil er fürchtete, das zu erzählen, was er gesehen hatte – dieses verschwiegen werden müsste; danach verbreitete er die Vision bei gewissen Personen, die ihm sehr vertraut anhingen, gleichsam als einen Traumeinfall. Und so streifte allmählich jene gänzlich lobenswerte Kunde umher durch allerlei Reden von Einzelnen, eigentlich von fast allen. Es gab eine Zusammenkunft des ganzen Klerus und des Volkes, bei der der Kleriker, gleichsam als Seher dieser Weissagung, in die Mitte geführt und gebeten wurde, allen das Gesehene der Reihe nach darzulegen.

Was nun also erzählt wird, ist eine Durchbruchsgeschichte von Offenbarungswahr­ heit, die sich erst ihren Weg in die Welt bahnen muss, da der Kleriker erst nach eini­ ger Zeit mit unbestimmt bleibenden Vertrauten über die Traumvision spricht, aber doch, wenn man so will, traumtheoretisch genau in den falschen Kategorien. Über­ nimmt man die schon seit der Spätantike auch christlich etablierte Unterscheidung, dass mantisch erscheinende Träume entweder ex nobis (also aus uns selbst heraus), ex diabolo (vom Teufel oder seinen Dämonen beeinflusst) oder eben schließlich ex deo geschehen (und nur das wäre eine Traumoffenbarung im christlichen Sinne, da nur ihr, weil sie von Gott veranlasst ist, auch die höchste Wahrheit zukommt),64 so fällt nämlich auf, dass er das Gesicht zunächst – in Verkennung der Eingebung als Got­ teswille – für einen Traumeinfall der ersten oder sogar zweiten Kategorie hält (hier fällt dann auch der Begriff somnium und – noch deutlicher – phantasia65). Erst als sich der Trauminhalt wie ein Lauffeuer verbreitet, und alle davon sprechen, bis sogar eine Versammlung von Klerus und Volk einberufen wird, die letztlich den Wahrheitswert des Geschauten gemeinschaftlich anerkennt und in Handlungskonsequenzen über­ führt, ändern sich wiederum die genutzten Termini (der Traum wird zum oraculum66, der Kleriker zum prophetischen vates). Insofern leitet die Traumvision – wenn auch mit zu überwindenden Hindernissen – erneut eine Handlungskette, nämlich die für die Translationserzählung überhaupt bedeutsame der Rückholung des Heiligen nach Köln ein – und besetzt somit eine entscheidende ‚Schaltstelleʻ im Plotgefüge. Sie kann – ebenso wie die visio des Bischofs Severin im ‚Vita‘-Teil – als entscheiden­ der, syntagmatisch virulenter und mit dem Folgenden eminent verklammerter Ini­ tialpunkt eines neuen Handlungsabschnitts gesehen werden. Im Erzählen von der Heilsnähe/Heilsferne-Relation mit zwei räumlichen Bewegungen der Handlungstra­ genden kommt beiden somit eine Schlüsselfunktion zu, auch wenn über die insze­

64 Vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 246. 65 Vgl. ebd., wo z. B. dezidiert auf die Prägung von den phantasmata des Teufels verwiesen ist. 66 Die oracula sind schon bei Macrobius für divinatorische Offenbarungszwecke als geeignete Form der Verkündigung erachtet und bestehen im christlichen Sinne in einer Handlungsanweisung durch eine heilige Person oder Gott selbst, vgl. Haas, Traum, S. 110; Haubrichs, Offenbarung, S. 245.

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natorischen Differenzen freilich nicht hinweggesehen werden darf. Diese betreffen vornehmlich die Dimension der narrativen Vorbereitung der Visionsepisode, die das Gesicht des Bischofs stärker als ereignishaft (weil völlig unvermittelt und statual weni­ ger unsicher) konturiert, sie berühren aber auch das Spannungsfeld von Vision und Traum, das von der Forschung bereits breit diskutiert worden ist. Dabei ist nämlich die Frage zentral, ob beide phänomenologisch und begrifflich, auch wenn es die Un­ terscheidung zwischen beiden seit der Spätantike gibt, gerade für die mittelalterliche Theoriebildung und – noch deutlicher – die literarische Praxis überhaupt trennscharf separiert werden können.67 Vor dem Hintergrund, dass es in der Legendarik – man denke etwa an Martins berühmte Christusvision nach der Mantelteilung in Amiens, die explizit als im nächtlichen sopor ablaufend gekennzeichnet ist68 – durchaus Traumoffenbarungen an Heilige gibt, die mit keinerlei Zweifel auf der Ebene der histoire einhergehen, ist die Differenz, die die ‚Translatio Severini‘ gegenüber der Martinsau­ dition wie auch der Vision des Bischofs in der Severinsvita einzieht, umso bezeich­ nender. Was in der ‚Translatio‘ nämlich dadurch umso mehr als Leerstelle eingezo­ gen ist, ist der vir sanctus, der, wie es bei Gregor dem Großen heißt,69 allein über die richtige Auslegung und Einordnung der Traumgesichte Entscheidungskompetenz beanspruchen kann. Aber dieser Heilige Mann ist für die ‚Translatio‘ ja gerade als abwesend anzusehen und muss für die Kölner überhaupt erst in Form seiner Reliqui­ en zurückgewonnen werden. Insofern ist die erzählte Rezeption der göttlichen Of­ fenbarungen auch mit Unsicherheiten behaftet, die im gemeinschaftlichen Handeln erst überwunden werden müssen, wo kein vir sanctus zur Verfügung steht, der über den ‚Wahrheitswertʻ des Geschauten kompetent Auskunft geben kann. Der Traum des Stiftsherren muss sich also – zumindest auf der histoire-Ebene – als Vision erst erweisen, damit er zum (syntagmatisch wirksamen) Ereignis der göttlichen Mitteilung werden kann, auch wenn er auf der discours-Ebene durch die Erzählinstanz immer schon als visio (s. o.) aufgefasst worden ist. Besonders deutlich ist in diesem Fall also die Ereignishaftigkeit der Vision eine narrativ erzeugte Qualität, die intradiegetische Unsicherheit der Auslegung auf der Ebene des Erzählten in statuale Eindeutigkeit des Erzählens überführt. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ereignishaftigkeit von Visionen im narrativen Kontext von Legendenerzählungen weniger auf einer substanziell zu bestimmenden, kausallogischen Einbettung in das Handlungsgerüst beruht, auch

67 Vgl. dazu schon Haubrichs, Offenbarung, S. 243: „Traum und Vision: wir sind gewohnt, den einen Typus dem Schlaf zuzuordnen, den anderen einer besonderen Qualität des Wachseins, der Ekstase, zuzuschreiben. Weite Strecken der Spätantike und des Mittelalters hätten diese Differen­ zierung aufgrund materialer Kriterien nicht mitvollzogen.“ 68 Vgl. VM 3,3. 69 Vgl. u. a. Kamphausen, Traum, S. 47.

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wenn diese syntagmatisch- folgenreich den diegetischen Progress immer wieder entscheidend vorantreiben mögen, sondern vor allem durch das Erzählen selbst mit der Aura einer ‚ereignishaftenʻ Relevanz ausgestattet werden können, wo sie ein­ mal – trotz gegenteiliger Erwartung – ausbleiben (‚Der Heiligen Leben‘), für die histoire-Ebene auf die einzelne paradigmatische Episode beschränkt bleiben (Mar­ tinsaudition) oder ihre syntagmatische Kontextrelevanz70 erst prozessual entwickelt werden muss (Traumgesicht des Chorherren). In allen diesen Fällen – nimmt man die göttliche Weisung an Severin, seine Bischofsstadt zu verlassen, noch hinzu – wird über den kontextaufspannenden Zugriff des Erzählens eine nicht im engeren Sinne narrativ binnenorganisierte Einkapselung des Visionären als Erzählmotiv wirksam, indem sich dieses als Medium der (auch ausbleibenden) Präsenzstiftung eines Ab­ wesenden ereignet, auch wenn die narrativen Wege dorthin auf vielfältige Weise tech­ nisch realisiert sein können. Das Wechselspiel von Narration und Vision erweist sich somit schon allein für das legendarische Subgenre der Bischofsvita als äußerst varian­ tenreiches Feld von Möglichkeiten, Nähe- und Distanzrelationen im Erzählvorgang einzuziehen,71 und das heißt für die Kölner Severinsvita: den abwesenden Bischof zu seiner Geschichte kommen zu lassen.

70 Diese Prägung zielt in erster Linie auf die syntagmatische Anschlussfähigkeit einer ereignishaft insinuierten Episode; etwas anders perspektiviert setzt Bleumer, Ereignis, S. 180 f., ein Relevanz­ kriterium auf der Ebene der ‚axiologischen Intensitätʻ. 71 Dieses multiperspektivische Spektrum an narrativen Einsatzmöglichkeiten der Vision ergibt sich freilich auch für die Textsorte der Legendarik insgesamt als prinzipiell nutzbare Option, worauf hier leider nur kursorisch verwiesen werden kann: Besonders häufig begegnen derartige Ein­ spielungen etwa in den postmortalen Mirakelsequenzen als Gesichte (oder Erscheinungen) der Nachlebenden, über die nicht nur paradigmatisch die besondere memoria-Würdigkeit der heiligen Person demonstriert wird (vgl. dazu Feistner, Imitatio, S. 271 f.), sondern auch syntagmatisch sich deren Heilswirksamkeit über die Grenzen biographischer Terminierung als ein fortgesetz­ tes Kontinuum der Nähe erweist (der Tod ist kein Ende). Aber auch in der Binnennarration des Heiligenlebens begegnen Visionen immer wieder, bisweilen mit deutlicherer paradigmatischer Fokussierung (z. B. als Erweis besonderer Heiligkeit wie etwa in der von Dominikus geschauten göttlichen Beauftragung der beiden Ordensgründer Dominikus und Franziskus zur Bekehrung der Sünder), teils aber eben auch in stärkerer syntagmatischer Verzahnung als ‚narrativer Motorʻ, so dass kontingenzverdächtige Entscheidungen der Protagonist/innen als durch göttliches Ein­ greifen motiviertes Handeln plausibilisiert und damit im Sinne einer Geschichte als bedeutsame Plotelemente – häufig mit Bezug auf das spatiale Setting – aktiviert werden können. Ein gutes Beispiel dafür liefert etwa – ebenfalls aus dem Bereich der Kölner Hagiographietradition – die Ursulalegende in der Version ‚Regnante domino‘, in der der Entschluss Ursulas zu (vordergrün­ diger) Einwilligung in die Heirat unter ganz bestimmten Bedingungen (Sammlung der elftausend Jungfrauen) sowie später in Köln zur Pilgerfahrt nach Rom und Rückkehr nach Köln, um dort das Martyrium zu erleiden, durch göttliche (Traum-)Vision als Teil des göttlichen Heilsplans abgesi­ chert ist; zur enormen Bedeutung visionärer Beglaubigung für die Stoffgeschichte der Ursulale­ gende vgl. zudem die Ausführungen von Tanja Mattern im vorliegenden Band.

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Authentisierung durch Offenbarung – Authentisierung von Offenbarung Elisabeth von Schönau, die Kölner ‚Reliquienfunde‘ und die Legende der heiligen Ursula Tanja Mattern I. Die Kölner Ursula-Reliquien und Elisabeth von Schönau Die Goldene Kammer der St. Ursula-Kirche in Köln, ein 1643 vom Reichshofrat Jo­ hann Krane und seiner Frau gestifteter Anbau, enthält wie ein „überdimensionierter Reliquienschrein“ 118 männliche und weibliche Reliquienbüsten des 13. bis 18. Jahr­ hunderts, Reliquienschränke und unzählige weitere, teils kunstvoll und als Schrift angeordnete Gebeine, die als die Überreste der 11.000 Jungfrauen gelten, welche mit der heiligen Ursula in Köln das Martyrium erlitten haben sollen.1 Sie sind neben den heiligen drei Königen die wichtigsten Heiligen der Stadt, die bis heute das Wappen be­ stimmen. Der barocke kapellenartige Anbau hatte einen mittelalterlichen Vorgänger­ bau, der bedeutend kleiner war, von dessen Ausstattung jedoch viel in die neue camera aurea übernommen wurde.2 Anton Legner bezeichnet sie als „schönste Visualisierung der Imagination vom locus amoenus, vom Gefilde der Seligen, dessen irdischen Ab­ glanz sie darstellt“; im heiteren Lächeln der Gesichter der Reliquienbüsten zeichne sich zudem „ein Abbild von der Seligkeit im erworbenen Paradies derer ab, die schon auf Erden Gefäße göttlicher Gnade waren“.3 Während also die äußeren Holzfassun­ gen der mittelalterlichen Reliquienbüsten4 ein Bild der Frauen präsentierten, das als ästhetisch-visuelle Evidenz ihrer der Transzendenz verbundenen Heiligkeit verstan­

1 Vgl. Urbanek, Goldene Kammer, S. 11–15; vgl. auch Raschkewitz, Goldene Kammer; vgl. spe­ ziell zu den Reliquienbüsten Holladay, Relics. 2 Vgl. Urbanek, Goldene Kammer, S. 13; zur Rekonstruktion der älteren camera aurea, S. 26–36. 3 Legner, Locus amoenus, S. 9. 4 Die „aus Silberblech getriebene[n] Masken und Gewandteile“ stammen aus der Zeit des Barock (Urbanek, Goldene Kammer, S. 15 und 31).

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den werden kann, lieferten die durch Klappen und Öffnungen einsehbaren Gebeine, die nach Augenzeugenberichten noch sichtbare Spuren des Martyriums trugen, den Beweis ihres Sterbens für den Glauben auf Erden.5 Die Gläubigen konnten an diesem geistlichen locus amoenus, ganz umgeben von der Überfülle an Reliquien, an deren Heilversprechen und Verbindung zur Transzendenz partizipieren.6 Die Art und Weise, wie hier die Gebeine präsentiert wurden, trug also wesentlich zu ihrer Wahrnehmung und Wirkung als Relikte von Heiligen und Mittlern zwischen Transzendenz und Im­ manenz bei. Der Ursprung dieses Reliquiensegens war dagegen profaner Natur: Bei Bauarbeiten Anfang des 12. Jahrhunderts stieß man in der Nähe der Kirche auf ein antikes Gräber­ feld. Die Goldene Kammer zeugt also auch von einer langen Geschichte der Deutung der Gebeine, ihrer Transformation in Reliquien und der Anpassung der Ursula-Le­ gende an die Funde. Diese fielen in eine Zeit der „Expansion der Heiligen- und Reli­ quienverehrung“, die jedoch von einer „kritische[n] Reflexion“ begleitet war.7 Insofern führte die Tatsache, dass auch Skelette von Männern und Kindern darunter waren, was sich mit der Legende nicht in Einklang bringen ließ, zu Irritationen und Fragen nach der Identität der Gebeine. Man bat daher die Benediktinerin Elisabeth von Schönau, die bereits als Visionärin in Erscheinung getreten war, um eine Art ‚Gutachten‘ hin­ sichtlich ihrer Echtheit, was diese in ihrem ‚Liber Revelationum Elisabeth de Sacro Exercitu Virginum Coloniensium‘ auch lieferte.8 Die Authentisierungsfunktion dieses Textes ist also evident und wurde von der Forschung bereits mehrfach beschrieben.9 Im Folgenden soll diese Funktion unter Berücksichtigung der historischen Umstände noch einmal aufgegriffen und um die These erweitern werden, dass es dem Text nicht nur darum geht, die Authentizität der Reliquien zu beglaubigen, sondern auch die der Offenbarungen Elisabeths selbst unter Beweis zu stellen, denn auch ihr Status als Visi­ onärin stand – wenn man ihren eigenen Aussagen glauben darf – unter Kritik.

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Vgl. ebd., S. 30. Vgl. auch die Deutung der Goldenen Kammer als „Abbild des himmlischen Paradiesgartens“ durch Raschkewitz (Goldene Kammer, S. 56). Die Art der Reliquieninszenierung steht in einer schon für das Mittelalter nachzuweisenden Kölner Tradition und weist Ähnlichkeiten zu spätmit­ telalterlichen Reliquiengärten auf. Die Gegenreformation greift hier ihr zufolge bewusst auf vorre­ formatorische Traditionen und Glaubensvorstellungen zurück. Wittekind, Heiligenviten, S. 9. Elisabeths Offenbarungsschriften wurden in mehreren, überwiegend erst nach ihrem Tod von Ekbert verantworteten und überarbeiteten Redaktionen verbreitet, dazu gehören der ‚Liber Visio­ num I–III‘, der ‚Liber Viarum Dei‘, ‚De Resurrectione Marie‘, 22 Briefe sowie der ‚Liber Revelatio­ num de sacro Exercitu Virginum Coloniensium‘, der hier im Zentrum steht. Sie wurden von Roth gesammelt ediert (Visionen und Briefe) und liegen übersetzt vor (Elisabeth von Schönau, Werke). Vgl. auch die englische Ausgabe Elisabeth von Schönau, The Complete Works. Vgl. für die ältere Forschung Levison (Ursula-Legende, S. 15–17), der Elisabeths Vorgehensweise für sehr naiv hält, und zuletzt die Aufsätze von Campbell (Sanctity) und Góngora (Elisabeth von Schönau) mit Schwerpunkt auf den Authentisierungsstrategien des Textes.

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II. Die Entdeckung der Reliquien und der Jungfrauenkult in Köln Anlass für die Bauarbeiten, die zur Auffindung der Gebeine führten, war die Ausei­ nandersetzung zwischen Kaiser Heinrich IV. und seinem Sohn Heinrich V., bei der die Kölner Bürger im Gegensatz zum Erzbischof die Partei des Vaters ergriffen. Dafür erhielten sie die Genehmigung zur Verstärkung und Erweiterung der Stadtmauer, so dass drei der wachsenden Vorstädte in den Befestigungsring einbezogen wurden.10 Bei den Bauarbeiten im Norden stieß man auf die Reste eines in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. angelegten römischen Friedhofs, der an der Handels- bzw. Heer­ straße nach Neuss und Xanten lag, zwischen Kunibert- und Ursula-Kirche.11 Es war daher naheliegend, dass man die Toten mit den 11.000 Jungfrauen identifizierte, die hier schon lange verehrt wurden, auch wenn es in der Kirche bereits elf Sarkophage Ursulas und ihrer Gefährtinnen gab.12 Der wertvolle Fund führte jedoch zu Ausein­ andersetzungen um das ‚Anrecht‘ auf die Reliquien zwischen den Stiftsherren von St. Kunibert und den Stiftsdamen von St. Ursula, beides frühe Gründungen, und auch das vermutlich seit dem 11. Jahrhundert bestehende Makkabäer-Kloster profitierte, zum Missfallen der Äbtissin von St. Ursula, von seiner Lage auf dem ager Ursulanus.13 Die Ursprünge und verschiedenen Bauphasen von St. Ursula sind nicht sicher zu datieren, daher ist die Baugeschichte umstritten.14 Gemäß der Lage auf dem Gräber­ feld und der Ausstattung dürfte es sich zunächst um eine Grabkirche gehandelt haben, ähnlich wie St. Gereon und St. Severin. Die ältesten Fundamente könnten noch auf das 4. Jahrhundert zurückgehen, weitere Bauphasen lassen sich mutmaßlich dem 6./7. Jahrhundert und dem späten 9./frühen 10. Jahrhundert zuordnen.15 Im Jahr 866 wird erstmals ein Stift in den Güterverzeichnissen des Erzbischofs erwähnt. Hermann I. (reg. 889–924) ließ dort 922 ein adliges Damenstift einrichten und mit Stiftsdamen

10 Vgl. Huffman, The Imperial City, S. 192–197; Heinrich IV. belagerte die Stadt ergebnislos, erwirk­ te aber ihre Unterwerfung und eine Auszahlung von 5000 Silbermark. Vgl. auch Dietmar/Jung, Köln, S. 87–89 und ausführlich zu den politischen Hintergründen der Parteinahme und zu den Bauarbeiten Stehkämper/Dietmar, Köln, S. 36–49; Levison, Ursula-Legende, S. 107. 11 Vgl. zur Lage und Datierung des Friedhofs Wagner, Knochenfund, S. 14 (mit weiteren Literatur­ hinweisen); eine vorkonstantinische Christenverfolgung in Köln als historischer Kern der Legen­ de ist bislang nicht nachweisbar (ebd.); Schmitz, Ursprung, S. 53. 12 Diese Reliquienkammern indizieren zudem den Umbau zu einer Märtyrerkirche frühestens im späten 9./frühen 10. Jahrhundert, vgl. Wagner, Knochenfund, S. 15. 13 Vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 109: „Da diese ersten Funde [von Reliquien] im Gebiet von St. Kunibert geschahen, nahmen die Stiftsherren dieser Kirche sie für sich in Anspruch, während die Sanktimonialen zu den Heiligen Jungfrauen die Herausgabe verlangten, weil auch die Reste der jungfräulichen Mitkämpferinnen in ihrer Kirche ruhten.“ Zum Streit zwischen dem Ursulastift und dem Makkabäer-Kloster vgl. Klinkenberg, Studien, S. 175 f. und ausführlich Peters, An­ spruch; vgl. auch Sinderhauf, Abtei Deutz, S. 148 und Anm. 427. 14 Schmitz, Ursprung, S. 53 f. 15 Wagner, Knochenfund, S. 15; zur frühen Baugeschichte der vier ‚Gründungskirchen‘ im Rahmen der Stadtgeschichte vgl. auch Huffman, The Imperial City, S. 67–70.

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aus Gerresheim besetzen, die nach einem Ungarneinfall dorthin umgesiedelt wurden. Dies könnte der Anlass für die dritte Bauphase und den Einbau der elf Reliquiengräber gewesen sein, die den Märtyrerkult belegen und ein Indiz für den Entwicklungsstand des Jungfrauen-Kults geben.16 Spätestens seit dem 9. Jahrhundert ist die Zahl der 11.000 belegt und im 10. Jahrhundert wird erstmals der Name Ursula genannt, der sich dann als derjenige der Anführerin durchsetzte.17 Eine heute im Chor befindliche Bau- oder Weiheinschrift schreibt den Neubau der Basilika zu Ehren der sanctae virgines einem Mann namens Clematius zu. Als Datie­ rung wird in den meisten Beiträgen das 4. oder 5. Jahrhundert genannt, aufgrund ihres Inhalts, der Formulierungen und der Ausführung ist eine zuverlässige Datierung je­ doch nicht möglich; da zudem keine anderen Hinweise auf den Kult aus der Frühzeit bekannt sind, wird eine Spätdatierung in karolingische Zeit ebenfalls erwogen.18 Der Wortlaut er Inschrift ist folgender: Divinis flammeis visionib(us) frequenter / admonit(us) et virtutis magnae mai/iestatis martyrii caelestium virgin(um) / imminentium ex partib(us) orientis / exsibitus pro voto Clematius v(ir) c(larissimus) de / proprio in loco suo hanc basilicam / voto quod debebat a fundamentis / restituit. Si quis autem super tantam / maiiestatem huiius basilicae, ubi sanc/tae virgines pro nomine Chr(ist)i san/guinem suum fuderunt, corpus alicuiius / de­ posuerit exceptis virginib(us), sciat se / sempiternis Tartari ignib(us) puniendum.19

Unabhängig von ihrer genauen zeitlichen Einordnung gehört sie zu den frühesten schriftlichen Belegen einer Verehrung von Märtyrerinnen, die an eben diesem Ort für Christus gestorben sein sollen und denen nun die Kirche geweiht ist. Am Anfang der Überlieferung steht damit der Bericht über wiederkehrende göttliche Zeichen und Vi­ sionen der Heiligen, die als Begründung für bauliche Maßnahmen dienen, die ihrer­

16 Vgl. Wagner, Knochenfund, S. 13. 17 Zur Entwicklung der Legende immer noch grundlegend Levison, Ursula-Legende, hier S. 27 u. 36 f.; eine detaillierte Übersicht bietet Zehnder, Sankt Ursula, S. 18–41; zu den lateinischen und deutschen Textzeugen vgl. Rautenberg, Ursula; zu den Namen und Anführerinnen auch Wag­ ner, Knochenfund, S. 22–24 u. 26–28. 18 Vgl. Schmitz, Ursprung, S. 53 f. Die Befürworter der Spätdatierung sehen Schmitz zufolge den Ursprung der Jungfrauen-Verehrung in der frühmittelalterlichen Suche nach Reliquien und nicht etwa in einem ‚historischen Kern‘. Vgl. zu den Eigenarten der Inschrift auch Wagner, Knochen­ fund, S. 16–18. 19 „Durch göttliche, flammenumstrahlte Visionen oftmals ermahnt und von der mutigen Standhaf­ tigkeit des hocherhabenen Martyriums der himmlischen Jungfrauen, die ihn bedrängten, aus den Gebieten des Ostens herbeigeholt zur Erfüllung seines Gelübdes, hat Clematius, ein Mann senato­ rischen Rangs, aus eigenen Mitteln an ihrem Ort diese Kirche nach dem Gelübde, das er schuldete, von Grund auf wiederhergestellt. Wenn aber jemand ungeachtet der so großen Erhabenheit dieser Kirche, wo heilige Jungfrauen um Christi Namen willen ihr Blut vergossen haben, den Leichnam eines anderen – die Jungfrauen ausgenommen – bestattet hat, soll er wissen, daß er durch die im­ merwährenden Feuer des Tartarus zu bestrafen ist.“ Text und Übersetzung zitiert nach Schmitz, Ursprung, S. 56 f. Vgl. auch Levison, Ursula-Legende, S. 4–22.

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seits dem Kult eine größere Geltung verschafft haben dürften.20 Die Fluchandrohung bei weiteren Bestattungen in der Kirche soll diesem zudem Exklusivität und Dauerhaf­ tigkeit verschaffen,21 was den Anspruch auf Autorität seitens des Clematius und seines anzunehmenden Umfelds belegt. Der früheste Text zeugt also bereits vom Zusammen­ hang von Vision und Legendenbildung sowie dem Willen zur Gestaltung des Kultes. III. Die Grabungen unter Leitung der Abtei Deutz und der Stand der Legende im 12. Jahrhundert Nach dem zufälligen Fund wurde wiederholt und systematisch gegraben, wie auch ar­ chäologischen Untersuchungen bestätigen.22 Schließlich betraute der Erzbischof die Ab­ tei Deutz mit der Sorge für den sog. ager Ursulanus, die in den Jahren 1155–64 eine weitere und wohl die wichtigste und systematischste Grabungscampagne (zunächst) unter Abt Gerlach (1146–1159/60) durchführte.23 Es mag überraschen, dass ausgerechnet die Be­ nediktiner auf der anderen Rheinseite diese Aufgabe erhielten. Das Kloster befand sich zu dieser Zeit in einer Phase ökonomischer Restitution und geistlicher Erneuerung;24 diesen Bestrebungen, das Kloster „erneut zu einem gleichwertigen geistlichen Zentrum innerhalb der Kölner Sakraltopographie zu machen“25, kam dieser Auftrag durchaus ent­ gegen. Monica Sinderhauf vermutet, dass der Erzbischof Arnold II. sein Eigenkloster damit wieder stärker an sich binden und „gegen die seit 1106 begonnenen willkürlichen Ausgrabungen eine Institutionalisierung und Zentralisierung der Reliquienbergung und -verwaltung“26 erreichen wollte, die letztlich unter seiner Kontrolle stand. Im sog. ‚Codex Thioderici‘ hat der damalige Custos des Klosters zudem „die über neun Jahre andau­ 20

Zu dieser Art von Visionen, die seit dem 4. Jahrhundert zuerst im Orient, dann auch im Westen zur Auffindung von Reliquien teils unbekannter Heiliger führten, vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 21 f. 21 Von der Nachwirkung dieses Verbots zeugt ein Sarkophag des 12. Jahrhunderts in der Stiftskirche. Es soll sich um das Grab der Viventia handeln, einer 639 verstorbenen Tochter Pippins des Älte­ ren. Zweimal soll sie im Boden der Kirche beerdigt, jedoch wieder herausgestoßen worden sein, bis der Vater ihren Sarkophag auf Säulen stellen ließ, um das Verbot zu umgehen, vgl. Körner, Grabmonumente, S. 41. Schmitz (Ursprung, S. 57) bezieht die Ausnahme, die der Text für die virgines macht, nicht auf bereits vorhandene Gräber, sondern auf Reliquien, die zu einem späteren Zeitpunkt gefunden werden. 22 Zuletzt 2016, vgl. https://roemisch-germanisches-museum.de/Jahresrueckblick-2016 [abgerufen am 30.9.2021]; zu den Grabungen vgl. Wagner, Knochenfund, S. 13 u. Anm. 17 (mit weiteren Lite­ raturangaben). 23 Vgl. Sinderhauf, Abtei Deutz, S. 145–154. Gerlach starb 1159 oder 1160. Er hatte sich auch um die Erhebung der Gebeine des Klostergründers und -patrons Heribert gekümmert; vgl. zu den an­ haltenden Grabungen im 12. und 13. Jahrhundert sowie zur Verbreitung der Reliquien auch Hol­ laday, Relics, S. 74–80. 24 Vgl. Sinderhauf, Abtei Deutz, S. 134–147. 25 Ebd., S. 147 f. 26 Ebd., S. 148 f.; vgl. zu möglichen Gründen auch Peters, Anspruch, S. 14.

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ernde Reliquientranslation […] ausführlich dokumentiert“27. Mit dieser Institutionali­ sierung wurde offensichtlich auch die Dringlichkeit größer, die Toten zu identifizieren und die offensichtlichen Differenzen zu den vorhandenen Legendenfassungen genauer zu erklären. Die erste Passio ‚Fuit tempore pervetusto‘ stammt aus dem 10. Jahrhundert. Nach Wilhelm Levison entstand sie wahrscheinlich um 975 im flandrischen Kloster St. Bertin und war dem Erzbischof Gero von Köln gewidmet.28 Diese erzählt, dass Ursula, die christliche Tochter des englischen Königs, mit dem Sohn eines heidnischen Königs verheiratet werden soll. Auf eine göttliche Offenbarung hin nimmt sie diese scheinbar an, wenn der Bräutigam sich zum Christentum bekehrt und sie noch drei Jahre jungfräulich bleiben darf. Sie erbittet sich überdies elf Schiffe und dazu zehn Gefährtinnen sowie je­ weils 1000 weitere Jungfrauen. Die Bitte wird gewährt und die Frauen üben vor der Küste das Navigieren der Schiffe. Am Hochzeitstag werden die Schiffe jedoch durch einen von Gott gesandten Wind an die holländische Küste getrieben, von wo sie weiter den Rhein hinauf bis nach Köln fahren. Ein Engel eröffnet Ursula in einer nächtlichen Vision ihr weiteres Schicksal. Wie vorausgesagt fahren die Frauen bis Basel und ziehen dann zu Fuß nach Rom. Nachdem sie dort die Gräber von Aposteln und Heiligen besucht haben, tre­ ten sie die Rückreise an und erleiden in Köln das Martyrium durch die Hunnen, die die Stadt belagern.29 Da Ursula sich den Avancen des Hunnenkönigs verweigert, wird auch sie durch einen Pfeilschuss getötet. An der Plünderung der Schiffe werden die Hunnen jedoch durch die Erscheinung von elf bewaffneten Legionen gehindert und ergreifen die Flucht. Die Stadt ist gerettet und die Kölner können sich um die ehrenvolle Bestattung der Toten kümmern. Am folgenden Tag erleidet auch eine Jungfrau namens Cordula aus freien Stücken das Martyrium, die sich zunächst in einem der Schiffe versteckt hielt. Ihr Schicksal wird erst dadurch bekannt, dass sie sich nach ihrem Tod einer Klausnerin des Stifts Heerse (das auch Reliquien besaß) offenbart. An entscheidenden Punkten in der Erzählung weisen also schon in der ersten Legendenfassung Visionen den weiteren Weg und mit der angehängten Cordula-Episode ist bereits das Muster der selbst erscheinen­ den Heiligen zur Auffindung der Gebeine und Sicherstellung der Verehrung in der Ur­ sula-Tradition etabliert. Spätestens Ende des 11. Jahrhunderts kam die Passio ‚Regnante Domino‘ dazu, die trotz späterer aufgrund von Elisabeths Schrift umgearbeiteter Legen­ denfassungen bis ins Druckzeitalter verbreitet war.30 Ihre Beliebtheit und weite Verbrei­ tung gründet sich wohl darauf, dass sie stilistisch gewandter den Stoff in ‚romanhafter‘ Weise auserzählt.31 27 28 29 30 31

Sinderhauf, Abtei Deutz, S. 149. Vgl. zur ersten Passio Levison, Ursula-Legende, S. 58–90, zur Datierung S. 59 f., Edition des Tex­ tes S. 142–157. Zur möglichen, aber historisch nicht belegten Belagerung Kölns durch die Hunnen im Vorfeld der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 vgl. Huffman, The Imperial City, S. 49 u. Anm. 6; Dietmar/Jung, Köln, S. 54. Edition des Textes bei Klinkenberg, Studien, S. 154–163. Zur zweiten Passio vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 90–107; Zehnder, Sankt Ursula, S. 32 f.

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Der Reliquienfund hatte in der christlichen Welt großes Aufsehen erregt und trug dazu bei, dass Köln unter die großen Wallfahrtsorte gezählt wurde.32 Es war daher es­ sentiell, mögliche Zweifel an ihrer Echtheit oder der Heiligkeit der Jungfrauen zu zer­ streuen, die vor allem dadurch aufkommen konnten, dass sie in der Legende ausdrück­ lich allein unterwegs sind, ohne männliche Begleitung in irgendeiner Form. Wolfgang Peters vermutet, dass es bereits bald nach den ersten Funden die ‚Sprachregelung‘ gab, die Männer als Anführer zu bezeichnen und sie in den geistlichen Stand zu versetzen. Da das Ursula-Stift zu dieser Zeit unter der Aufsicht von St. Pantaleon stand, könnte dort die Entscheidung gefallen sein, das Gräberfeld im Sinne der Ursulalegende zu deuten und die Anwesenheit der Männer in dieser Weise zu erklären.33 Gemäß der Dokumentation im ‚Codex Thioderici‘ wurden auch zahlreiche Tituli in den Gräbern gefunden, die Auskunft über die Toten gaben. Da der Custos an die 200 dieser In- oder Aufschriften nach Abschluss der Arbeiten 1164 im Wortlaut aufgelistet hat, lässt sich feststellen, dass darunter tatsächlich solche spätantiken bzw. frühchrist­ lichen Ursprungs gewesen sein dürften, die allermeisten sind jedoch mittelalterlich, daher wurden sie für Fälschungen gehalten. Winfried Schmitz und Eckart Wirbelau­ er können jedoch zeigen, dass Theoderich immer wieder Bruchstücke originaler In­ schriften verwendet und ‚vervollständigt‘ hat.34 Es ist für den hier verhandelten Zu­ sammenhang bedeutsam, dass er seinen schriftlichen Bericht ‚Revelationes titulorum vel nominum sanctorum martirum et sanctarum virginum‘ überschrieb. Theoderich verheimlicht also keineswegs, dass die Tituli allein keine ausreichende Auskunft über Stand und Namen der Heiligen liefern, sondern benennt, dass es zusätzlich gött­ licher Eingebung bedurfte.35 Sicher ging es hier auch um ökonomische Interessen, doch stellte die Namenlosigkeit mittelalterliche Gläubige vor ernstzunehmende Pro­ bleme: Entweder bestand die Gefahr, dass ‚falsche‘ Heilige verehrt wurden oder dass tatsächlichen Heiligen die pflichtschuldige Ehre versagt blieb.36 Die Benennung von 32 Vgl. Wagner, Knochenfund, S. 35–37. 33 Peters, Anspruch, S. 15 f. Er führt dafür mehrere Quellen an, die die Männer entsprechend dar­ stellen. 34 Vgl. Schmitz/Wirbelauer, Theoderich; Schmitz, Grabinschriften. Die erhaltenen bzw. spä­ ter gefundenen Tituli wurden fast alle im Krieg vernichtet. Schmitz erläutert auch die Namen und wie sie sich z. T. von den Inschriftenfragmenten ableiten könnten. Vgl. zu Theoderich und den Tituli auch Peters, Anspruch, S. 16 f.; Sinderhauf, Abtei Deutz, S. 150 f. u. Anm. 439; zur Ein­ schätzung der älteren Forschung Levison, Ursula-Legende, S. 111 f. – er spricht von einem „gros­ sen Betrug“ – und Klinkenberg, Studien, S. 177 f. Zur grundsätzlichen Frage der Fälschung im Heiligen- und Reliquienwesen vgl. Schreiner, Wahrheitsverständnis. 35 Vgl. zu dem nur noch als Abschrift erhaltenen ‚Codex Thiodorici‘ umfassend Sinderhauf, Abtei Deutz; besonders zu den ‚Revelationes‘ auch Levison, Ursula-Legende, S. 110–115. Der Text ist ediert bei Lacomblet, Benediktiner-Abtei, S. 292–299. 36 Moulinier (Élisabeth, S. 178) weist auch auf das Problem der Namen hin: „on avait soudain beaucoup plus de corps que de noms, dont les deux versions de la ‚passion‘ ne fournissaient qu’un petit nombre“. Wagner (Knochenfund, S. 40) bemerkt, dass es andererseits den Zorn des Heili­ gen erregen kann, wenn die Reliquien nicht erhoben werden.

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Festtagen, die Einträge in Kalendarien, die Formulierung liturgischer Texte und Pat­ rozinien – das alles verlangte schließlich nach einem Namen. Als einer der ersten hat sich Guibert von Nogent mit diesem Problem beschäftigt und die Gläubigen bei einer Verehrung von Heiligen in gutem Glauben in Schutz, aber auch in die Pflicht genom­ men: Sie müssten sich über einen Heiligen vergewissern, um ihn nicht leichtfertig zu verehren und dadurch eine Sünde zu begehen, ein Name allein und Erzählungen ohne jede Beglaubigung reichten nicht aus.37 Theoderich zählt in seinem Codex zunächst die Männer auf;38 in den Inschrif­ ten werden sie als Sanctus und martir bezeichnet, bei fast allen wird ein kirchliches Amt genannt. Auch einige Könige samt Ehefrauen sind darunter, manchmal werden Verwandtschaftsverhältnisse oder Herkunftsorte angegeben: Item. Sanctus Abararius martir et dux et uxor eius faraiua. Pater sancte Pinnose uirginis.39 Schließlich werden auch Mitglieder der Thebaischen Legion genannt wie der Fahnenträger des in Köln verehrten Gereon.40 Es folgen die Frauen, an erster Stelle der Titulus der heiligen Ur­ sula. Auch hier finden sich neben Namen und Bezeichnungen als Heilige und Jungfrau (z. B. Sca. Babila v.) öfters weitere Angaben, etwa zu ihrem Stand (z. B. filia ducis). Eine der Frauen wird als Schwester der in der Legende genannten Cordula identifiziert und so ein Anknüpfungspunkt zur schriftlichen Überlieferung hergestellt. Diese Tituli im Codex erzählen noch keine Geschichte, sie legen aber immerhin nahe, dass sich den Jungfrauen eine ganze Reihe vor allem hochrangiger kirchlicher Würdenträger, aber auch adliger Laien anschlossen, dass es verwandtschaftliche Ver­ bindungen gab und dass sie gemeinsam das Martyrium erlitten. Sofern diese Inschrif­ ten für echt gehalten wurden, hatte man nun zwar Namen, aber die Diskrepanzen zur Legendentradition blieben bestehen und die Zusammenhänge waren vage. Zudem war man soweit gegangen, an die Spitze der männlichen Begleiter einen unbekannten Papst zu setzen. Das verlieh der Schar aus Frauen und Männer zwar besondere Legiti­ mität und Geltung, verlangte aber andererseits nach Erklärung und Verifizierung. Wer diese Tituli anfertigen ließ, ist unklar; dass dies ohne Wissen des Abtes Gerlach, der

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[Guibert von Nogent], De sanctis et eorum pignoribus, Buch I, Kap. 3; vgl. Schreiner, Wahr­ heitsverständnis, S. 147; Fuchs, Zeichen, Einführung in den Text S. 31 f. Theoderich trennt zudem zwischen den unter Abt Gerlach und Abt Hartpern gefundenen Toten; Elisabeth zitiert nur die Tituli aus der ersten Phase, vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 111 u. S. 117; er weist zudem darauf hin, dass ein Verena-Titulus in der Gerlach-Liste fehlt, wohl weil er sich in Schönau befand, und dass Elisabeth über die in den Tituli genannten Namen hinaus weitere erson­ nen habe. Lacomblet, Benediktiner-Abtei, S. 296. Die Thebaische Legion war nach der Legendentradition eine römische Legion aus dem Orient un­ ter der Führung des Mauritius, die auf Befehl des Kaiser Maximian Ende des 3. Jahrhunderts den Märtyrertod erlitten haben soll, weil sie heidnische Kulte oder den Befehl zur Christenverfolgung verweigerte. Da Truppenteile schon vorausgeeilt waren, ziehen sich die Martyrien (in der späteren Rezeption) bis nach Xanten, darunter auch das Martyrium des Gereon in Köln. Anders als bei Ursula ist die Verehrung hier schon früh nachweisbar, vgl. Krüger, Thebaische Legion.

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die Leitung des ganzen Unternehmens hatte, geschah, scheint einigen – vermutlich zu Recht – unwahrscheinlich.41 IV. Elisabeth und Ekbert von Schönau und der Kölner ‚Auftrag‘ Jedenfalls war es Gerlach, der sich an Elisabeth wandte, die durch ihre Visionen, die sie in Zusammenarbeit mit ihrem Bruder Ekbert auch verschriftlichte, eine gewisse Bekanntheit in der Region erlangt hatte. Seit 1155 standen Elisabeth und Gerlach auch in brieflichem Kontakt miteinander,42 darüber hinaus bestand eine Gebetsverbrüde­ rung zwischen den beiden Klöstern.43 Der Abt erhoffte sich von ihr Gewissheit über die Authentizität und Identität nicht nur der Reliquien, sondern auch und gerade der Tituli zu erhalten und den Vorwurf der Fälschung auszuräumen, wie aus der von Eli­ sabeth mutmaßlich 1156/57 verfassten Schrift ‚Liber Revelationum Elisabeth de Sacro Exercitu Virginum Coloniensium‘ hervorgeht:44 Horum precipuos ac maxime notabiles transmisit ad me ex supradicta urbe prefatus abbas, sperens aliquid mihi per gratiam domini de eis posse revelari, et cupiens certificari per me, utrum credendum eis esset, an non. Habebat quippe suspicionem de inventoribus sanc­ torum corporum, ne forte lucrandi causa titulos illos dolose conscribi fecisset. (Kap. 4)45

Elisabeth stammte wohl aus einem rheinischen Adelsgeschlecht und war nach eige­ nen Angaben im Alter von zwölf Jahren in das Doppelkloster eingetreten, eine noch junge Gründung, die zur Hirsauer Reformbewegung gehörte.46 Da sich auch ihr On­ 41 42

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Gerlach soll auch eine ‚gefälschte‘ Kanonisationsbulle für Heribert in Auftrag gegeben haben, vgl. Wittekind, Heiligenviten, S. 12 u. Anm. 36. Die Briefe (Nr. 5, 6, 17) sind ediert bei Roth, Visionen, S. 141 f. u. 150; Sinderhauf (Abtei Deutz, S. 145–147) erläutert sie und betont die darin zur Sprache kommende besondere Verpflichtung zur Einhaltung der monastischen Ideale durch die Anwesenheit der Heiligen in der Abtei und sieht sie als besondere Verpflichtung zur Einhaltung der monastischen Ideale. Dies korrespondiert mit dem Einsatz Elisabeths und ihres Bruders Ekbert für die monastischen Reformen und auch mit der Identifikation Elisabeths mit den Jungfrauen im Text. Vgl. ebd., S. 233. Vgl. zur Datierung Köster, Das visionäre Werk, S. 81 f.; Levison, Ursula-Legende, S. 117. Visionen und Briefe, S. 124 f. „Die wichtigsten und bedeutendsten von ihnen [den tituli, T. M.] übermittelte mir der Abt aus der oben genannten Stadt, weil er hoffte, es könne mir durch die Gna­ de des Herrn etwas über sie geoffenbart werden. Auch begehrte er, durch mich darüber Gewißheit zu erlangen, ob man den Inschriften glauben könne oder nicht. Er hegte nämlich den Verdacht, dass vielleicht Fälscher von heiligen Leibern aus Gewinnsucht jene Inschriften hätten betrügeri­ scherweise zusammenschreiben lassen“ (Elisabeth von Schönau, Werke, S. 148). Gründer war der Graf Duto / Tuto von Laurenburg, Stammvater des späteren Hauses Nassau. Erst 1126 war das seit neun Jahren bestehende und zunächst in Lipporn angesiedelte Männerkloster zur Abtei erhoben worden. Ab wann genau der Frauenkonvent bestand und mit diesem zusammen unter der Leitung des ersten Abtes Hildelin in Schönau ein Doppelkloster bildete, ist nicht endgül­ tig geklärt (vermutlich um 1124/25). Zur Geschichte Schönaus vgl. zuletzt Hartmann, Schönau,

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kel Ekbert, Bischof von Münster, für die Reform der Frauenklöster in seiner Diözese eingesetzt hatte,47 wird die Familie wohl bewusst dieses Kloster einem bedeutenderen Konvent vorgezogen haben. Laut der von Ekbert dem ‚Liber Visionum‘ vorangestell­ ten kurzen Vita Elisabeths und ihren eigenen Aussagen am Beginn des ersten Buchs setzten die Visionen in ihrem 23. Lebensjahr ein, aufgrund textinterner Anhaltspunkte wird dies auf das Jahr 1152 datiert.48 Kennzeichnend ist besonders für die frühesten Visionen, dass sie eng an die Liturgie angebunden sind; in ihnen erfährt Elisabeth im Zustand der Ekstase vor allem biblisches, himmlisches, auch jenseitiges Geschehen, oftmals am selben Festtag wiederkehrend und inhaltlich mit diesem verknüpft. Insbe­ sondere der ‚Liber Visionum‘ führt so vor, wie über die von Hirsau propagierte Einhal­ tung von Ordensregel, Klausur und Offizium Nähe zu Gott hergestellt werden kann.49 In den späteren Visionen geht es im Dialog mit dem Engel des Herrn, ihrem Begleiter50 und anderen Heiligen zunehmend um konkrete theologische Fragestellungen und predigthafte Ermahnungen, was auf den Einfluss ihres Bruders zurückgeführt wird.51 Ekbert gehörte zunächst dem Cassius-Stift an, dem heutigen Bonner Münster, das eines der angesehensten und wohlhabendsten Stifte der Kölner Diözese war.52 Er hatte wohl mit Rainald von Dassel in Paris studiert und verfasste selbst theologische Schriften53 – eine Karriere als Weltgeistlicher stand ihm offen.54 Gegen den Willen der Familie und auf Drängen der Schwester soll er darauf verzichtet und 1155 als Mönch im Männerkonvent von Schönau eingetreten sein, um seine Schwester geistlich zu betreuen und für die Verschriftlichung und Veröffentlichung ihrer Offenbarungen zu

hier S. 25; ausführlich zur Gründung Kemper, Doppelkloster Schönau; Michel, Schönau, hier S. 729. 47 1127–32, gest. 1132. Er war einer der Berater Kaiser Lothars und möglicherweise auch mit diesem verwandt; er könnte ein Sohn des Markgrafen Egbert II. von Meißen gewesen sein, dann wäre Lothars Frau Richenza seine Cousine, vgl. Bistum Münster, bearb. v. Wilhelm Kohl, S. 95 f. 48 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 85 f.; ders., Elisabeth von Schönau. 49 Vgl. zur liturgischen Einbindung der Visionen besonders Heinzer, Imaginierte Passion. 50 Einen solchen angelus interpres kennt auch schon die Paulus-Apokalypse, vgl. Benz/Weit­ brecht, Formierung des Jenseits, S. 230. 51 Vgl. zum ‚Liber Visionum‘ Mattern, Liturgische Visionen. 52 Vgl. Kaiser, Bonn, Sp. 427 f. und Höroldt, Stift St. Cassius, S. 162. 53 Ekberts Schriften sind reich überliefert, manche sogar ins Deutsche übersetzt, aber wenig er­ forscht; seine Autorschaft ist mitunter unsicher. Dazu gehören ‚Expositio super evangelium In Principio erat verbum‘; ‚Sermones per annum‘; ‚Contra Judaeos‘; ‚Stimulus amoris‘; ‚Soliloquium seu Meditationes‘; ‚Sermones XIII adversus Catharorum errores ac haereses‘ sowie Meditationen, Predigten, Kommentare, gebetsartige Stücke, Laudes (z. B. ‚De laude crucis‘), Hymnen und ein Text über den Tod Elisabeths. Seine Schriften zeigen Einfluss durch die mystische Theologie Bern­ hards von Clairvaux und der Viktoriner, sie sind geprägt von Christologie und Mariologie. Er ist ein bedeutsamer Vorläufer der Herz-Jesu- und Mariä Verehrung, dazu gehört auch die Entwick­ lung der Lehre von der leiblichen Auferstehung Mariä, vgl. Köster, Ekbert; Dinzelbacher, Ekbert. 54 Vgl. Köster, Ekbert, Sp. 437: „Noch 1166 – nach seiner Wahl zum Schönauer Abt – schlug er eine durch Rainald vermittelte Berufung an ‚die Spitze einer großen Kirche im Bistum Utrecht‘ aus.“

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sorgen. In dieser Zeit entschied sich allerdings eine ganze Reihe von Mitgliedern des Cassius-Stiftes dazu, in Reformklöster einzutreten, Ekbert war also kein Einzelfall.55 Zwei Jahre später wurde Elisabeth zur magistra des Nonnenkonvents gewählt; er selbst nahm wenige Jahre nach ihrem Tod 1164 die Position des Abtes ein.56 Die Geschwis­ ter haben also sehr erfolgreich Leitungsfunktionen des Reformklosters übernommen, waren hervorragend vernetzt und haben ihre theologischen wie kirchenpolitischen Positionen in ihren sehr unterschiedlichen Schriften gemeinsam vertreten. Besonders deutlich wird dies, wenn Elisabeths in den ‚Visiones de resurrectione beatae Mariae virginis‘ die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel bestätigt, die auch Ekbert ver­ treten hat.57 V. Der ‚Liber Revelationum Elisabeth de Sacro Exercitu Virginum Coloniensium‘ Die Anfrage aus Köln bot nun die Chance, das Ansehen und den Bekanntheitsgrad Elisabeths und Schönaus zu steigern. Zudem implizierte der gewissermaßen offizi­ elle Auftrag aus dem Erzbistum eine besondere Anerkennung ihrer visionären Fä­ higkeiten als glaubwürdig und geeignet zur Wahrheitsfindung. Dazu trug sicher bei, dass Elisabeth bereits in früheren Visionen ähnliche ‚Anfragen‘ entgegengenommen hatte. In Kap. 29 des ersten Visionsbuches bezieht sich Elisabeth explizit auf die Bitte Ekberts, die Patrone des Bonner Münsters anzurufen. Der Hintergrund war vermut­ lich, dass sich die Bonner Kanoniker Mitte des 12. Jahrhunderts nicht sicher waren, ob ihre Kirche zwei oder drei Patrone hatte, da bei Bauarbeiten drei Heiligengräber aus Stein (und überdies eines aus Holz) gefunden wurden, obwohl man bis dahin nur von Cassius und Florentius wusste.58 In der Ekstase an deren Festtag erscheinen Elisabeth tatsächlich drei Patrone, auch wenn ihr der Name des dritten nicht mitgeteilt wird. Aufgrund solcher ‚Offenbarungen auf Bestellung‘ wurde Elisabeth in der Forschung nicht ohne kritischen Unterton als „Orakel“59 und „als eine Art übersinnliche Auskunf­ 55 Vgl. Höroldt, Stift St. Cassius, S. 168; Clark, Elisabeth of Schönau, S. 19. 56 Das genaue Datum ist unbekannt, vielleicht 1165 oder 1167, vgl. Dinzelbacher, Ekbert; Köster, Ekbert, Sp. 437. 57 Vgl. Visionen und Briefe, S. 53–55 (‚Liber Visionum‘ Buch II, Kap. 31 f.). Für solche familiäre Zu­ sammenarbeit und Paare in den Klöstern gibt es etliche berühmte Vorbilder wie Hieronymus und Paula, Benedikt und Scholastika von Nursia, Franziskus und Clara, Abaelard und Heloise. Das Modell, das Ekbert und Elisabeth als geistlicher Betreuer und Visionärin etablierten, war für die spätmittelalterliche ‚Frauenmystik‘ allerdings von besonderer Wirkmächtigkeit, vgl. dazu Clark, Repression; Westphälinger, Beichtväter, S. 11–69, die allerdings Elisabeths Einfluss sehr ge­ ringschätzt. Zum Verhältnis von Seelsorger bzw. Hagiograph und Visionärin vgl. Bürkle, Litera­ tur im Kloster, S. 193–233. 58 Vgl. Höroldt, Stift St. Cassius, S. 196–202. 59 Heinzer, Imaginierte Passion, S. 464.

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tei“60 bezeichnet. Damit wird implizit die Frage nach der Authentizität von Visionen aufgeworfen, die hinsichtlich Zeitpunkt und Inhalt den göttlichen Gnadenakt in dieser Deutlichkeit zu steuern suchen, um gezielte Fragen zu beantworten oder klare Bot­ schaften zu formulieren. Ohne Zweifel war der Auftrag aus Köln sehr bedeutsam, in dieser Hinsicht aber auch heikel: Die Legende musste behutsam und plausibel korrigiert und ergänzt so­ wie die Informationen auf den ausgewählten Tituli, die man ihr nach Schönau brach­ te,61 sinnvoll integriert werden: angesichts der zahlreichen klangvollen Namen und insbesondere eines bislang unbekannten Papstes keine einfache Angelegenheit. Der Zeugniswert ihrer Visionen konnte allerdings darauf aufbauen, dass bereits in der Vor­ geschichte und in der Legende selbst solche Erscheinungen immer wieder eine Rolle gespielt hatten. Schon in der Clematius-Inschrift ist wie gezeigt davon die Rede, dass dieser durch Flammenvisionen und das Erscheinen der jungfräulichen Märtyrerin­ nen veranlasst wurde, seine Heimat zu verlassen und für den Kirchenneubau Sorge zu tragen. Auch die Auffindung der ersten Gebeine 1106 war nach einem Translations­ bericht von einer Vision begleitet. In das Kloster Waulsort nahe der Maas hatte man 1121 Leichname dreier Kölner Jungfrauen gebracht. Gemäß dem um 1130 entstandenen Translationsbericht erschienen den Arbeitern zwei Frauen, die ihnen erklärten, dass sie zu den 11.000 Jungfrauen gehören, die dort ruhen, und dass man auch das Grab des Anführers und Bischofs dort finden würde, was dann auch geschehen sei.62 Als Nor­ bert von Xanten 1121 nach Köln kam, um seinerseits Reliquien zu erbitten, ging auch seiner Grabung die Vision eines seiner Mitbrüder voraus, wie aus der Vita Norberts hervorgeht, und es ging dabei nicht nur um den Ort, an dem er suchen sollte, sondern auch um den Namen der Jungfrau: Nocte vero eadem virgo ex numero undecim milium virginum et nomen virginis et locus mausolei, in quo latebat, per visionem cuidam designatur, et in crastino ex ordine visionis corpus ibidem quaesitum integrum inventum est.63

Elisabeth kommt nun in ihrer Schrift der gestellten Aufgabe, speziell der nachträgli­ chen Authentisierung der Tituli und Reliquien, in sehr spezifischer Weise nach, wie 60 Dinzelbacher, Frauenmystik, S. 91. 61 Wolfgang Schmid (Von den Heiligen Drei Königen, S. 105) gibt an, dass die Tituli – teils auf Basis der römischen und frühmittelalterlichen Fragmente – oft mittels Visionen rekonstruiert worden seien. Es wird jedoch nicht recht deutlich, ob sich das nur auf Theoderich oder auch auf Elisabeth bezieht. 62 Translatio trium virginum S. 1378; vgl. dazu Klinkenberg, Studien, S. 173 f.; Levison, Ursu­ la-Legende, S. 108 f. 63 Vita Norberti Magdeburgensis archiepiscopi, hg. v. Roger Wilmans, S. 682; vgl. Levison, Ur­ sula-Legende, S. 110, Anm. 2. Übersetzung: „In der Nacht wurde ihm durch eine Vision sowohl der Name derselben Jungfrau aus der Schar der 11000 Jungfrauen genannt als auch der Ort der Grabstätte, an der sie lag, und am nächsten Tag wurde nach der Vorgabe der Vision der gesuchte Leichnam eben dort intakt gefunden.“ (Hertel, Leben des heiligen Norbert, S. 31).

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auch ein kurzer Vergleich zeigt. Im letzten Kapitel (21) ist der Schrift ein Brief Ekberts an den Propst des Prämonstratenserklosters Steinfeld in der Eifel angehängt, in dem er auf dessen Anfrage zu dem dort seit dem 10. Jahrhundert verehrten Patron Potentinus und zu seinen Gefährten antwortet, über die man offensichtlich mehr in Erfahrung bringen wollte. Dieser berichtet nun im Brief, was Elisabeth in der Vision von ihrem Engel erfahren habe, dabei handelte es sich um eine vollständige, im ‚Wortlaut‘ des Engels wiedergegebene, durchgängig erzählte Legende.64 Elisabeth geht im ‚Liber Revelationum‘ dagegen ganz anders vor: Anknüpfend an ihre Visionsbücher erzählt sie rückblickend ihre Offenbarungen, die mit der Translati­ on von Gebeinen aus Köln nach Schönau beginnen und sich, wie sie selbst sagt, über etwas mehr als ein Jahr erstrecken (Kap. 19). In diesen erscheinen ihr die translozier­ ten Heiligen, Verena und Caesarius, sowie weitere Märtyrer und schließlich Ursula selbst, die von Elisabeth befragt werden und sukzessive in ihren intradiegetischen Be­ richten die ‚wahren‘ Ereignisse aus erster Hand enthüllen. In einem sehr experimen­ tellen Text werden so Visionsberichte, autohagiographische und historiographische Elemente miteinander verbunden und dadurch die Bausteine einer ‚korrigierten‘ Le­ gende in weitgehend chronologischer Reihenfolge offenbart, ohne diese selbst schon zu liefern.65 VI. Authentisierung durch Offenbarung – Authentisierung von Offenbarung Der Text kombiniert verschiedene Strategien der Legitimierung und Authentisierung. Eine dieser Strategien ist die explizite Thematisierung von Zweifeln. So greift Elisa­ beth die bestehende Skepsis gegenüber den Tituli und Reliquien, wie bereits zitiert, direkt im Text auf. Aber auch die Kritik an ihren Visionen ist bereits Gegenstand des ‚Prologs‘, in dem es heißt: Scio quidem, quoniam et hinc sumpturi sunt occasionem flagellandi me linguis suis hi qui adversantur gratie dei in me […]. (Kap. 1)66

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Im Brief klingt es so, als habe man über Potentinus und besonders über seine Gefährten wenige bis keine Informationen. Köster, Das visionäre Werk, S. 112, schreibt jedoch, dass die von Elisabeth berichtete Legende nicht mit der vorhandenen übereinstimmte und dass daher weitreichende Än­ derungen an der Darstellung des Heiligen im Kloster vorgenommen wurden. Vgl. zur Multiplikation der Sprecher- und Autorrollen in Elisabeths Texten Kleine, Visionäre, S. 83; dies., Les Mots, S. 169; grundsätzlicher zur Mehrstimmigkeit in Offenbarungstexten Emme­ lius, Das visionäre Ich. Visionen und Briefe, S. 123. „Ich weiß wohl, daß auch daher die ihre Gelegenheit nehmen werden, mich mit ihren Reden zu geißeln, die gegen die Gottesgnade in mir eingestellt sind […]“ (Elisa­ beth von Schönau: Werke, S. 147).

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Diese Zweifel an ihren Revelationen sind ein wiederkehrendes Thema im gesamten Werk.67 Über die Topik hinaus verleiht dieser Einstieg dem Text einen legitimatori­ schen Charakter, der sich auf die Offenbarungen selbst und auf Reliquien bezieht. Wenn sie nämlich fortfährt, dass sie die Anfeindungen in der Hoffnung auf Lohn gerne ertrage, wenn die Ehre so vieler Märtyrer zunehme durch ihre göttlichen Offenbarun­ gen, dann bindet sie von vornherein die Authentizität der Reliquien an die Authentizi­ tät ihrer Visionen und vice versa. Diese setzen mit der Translation der Gebeine zweier Heiliger nach Schönau ein, von denen die eine durch den Titulus als heilige Verena identifiziert wurde; der ande­ re ist dagegen ein zunächst namenloser Mann.68 An deren feierlichem Empfang kann Elisabeth klausurbedingt nicht unmittelbar teilnehmen, sieht deren Ankunft jedoch in der Ekstase; nach Mary Marshall Campbell liefern die damit verbundenen göttlichen Zeichen – die begleitenden Engel und die Lichterscheinung – einen ersten Beweis der Heiligkeit.69 Verena erscheint dann – entsprechend dem liturgischen Charakter von Elisabeths Visionen – während der feierlichen Messe zu ihren Ehren erneut in himm­ lischem Licht und mit der Siegespalme. Elisabeth nimmt nun eine kritisch-forschende Haltung ein, indem sie nach der Richtigkeit ihres Namens und des Titulus sowie nach dem Namen ihres Begleiters fragt. Neben dem Beweis der Heiligkeit geht es gemäß Campbell nämlich um die Feststellung der Identität.70 Dieser Begleiter, Caesarius, er­ scheint ihr am folgenden Tag seinerseits und stellt sich als Soldat und Cousin Verenas vor, der mit ihr das Martyrium erlitten habe, doch Elisabeth ist noch nicht überzeugt: Hoc igitur sermone in magnam dubitationem adducta sum. Existimabam enim, quemad­ modum opinantur cuncti, qui legunt historiam Brittanicarum virginum, quod absque virorum comitatu peregrinata fuerit illa beata sodalitas. (Kap. 3)71

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Vgl. auch Visionen und Briefe, S. 2 f. (‚Liber Visionum‘ Buch I, Kap. 1); S. 40 (Buch II, Kap. 1); S. 70 f. (Buch III, Kap. 19: Brief an Hildegard von Bingen). Zu dem Thema vgl. Sinderhauf, Ab­ tei Deutz, S. 152. 68 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 81. 69 Vgl. Campell, Sanctity, S. 160 f. Ihr zufolge bezeugt Gott die Heiligkeit der Gebeine, die ‚Zeugen‘ Maria und der Elisabeth begleitende Engel bezeugen dagegen ihre Identität. Der Text greife mit dieser doppelten Zielsetzung die hagiographischen Funktionen von Translatio (Heiligkeit) und Vita (Identität) auf. Die Gattung Translatio spiele nämlich seit dem 12. Jahrhundert eine Schlüssel­ rolle bei der Frage, ob es sich wirklich um einen Heiligen handelt (S. 169). 70 Campbell, Sanctity, S. 168; vgl. auch Schreiner, Wahrheitsverständnis, S. 145: „Auch nach mittelalterlicher Vorstellung kann eine Reliquie nur dann echt sein, wenn die von ihr gemachte Aussage mit dem Sachverhalt selbst übereinstimmt. In der Echtheit gründet ihre Wunderkraft. Nur von unverfälschten Reliquien sind ungewöhnliche Machtbezeigungen zu erwarten, nur echte Reliquien sind mit bleibender Wundermacht ausgestattet.“ 71 Visionen und Briefe, S. 124. „Durch diese Rede wurde ich aber in große Zweifel gestürzt, denn ich meinte, wie alle glauben, die die Geschichte der Britannischen Jungfrauen lesen, daß diese selige Gemeinschaft ohne männliche Begleitung gepilgert sei“ (Elisabeth von Schönau, Werke, S. 148).

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Die entscheidendste Diskrepanz zur Legendenüberlieferung, die Existenz der Män­ ner und Kinder, wird damit gleich zu Beginn verhandelt. Schrittweise wird nun die tradierte Narration ergänzt und korrigiert. Ausgangspunkt sind immer wieder die Tituli, die sie aus Köln erhält, die in der Regel wörtlich mit dem Theoderich-Text übereinstimmen. Der Titulus des Baseler Bischofs beispielsweise lautet dort Pantulus basiliensis epc. uirgines sacras cum gaudio susceptas. romam perduxit. unde reuersus coloniam peruenit. ibique cum eis martirium suscepit.72 Im ‚Liber revelationum‘ wird die Inschrift zur besonderen Authentifizierung Verena selbst in den Mund gelegt. Sie pa­ raphrasiert zunächst deren Inhalt und zitiert sie dann wörtlich: Huius titulus talis erat: Sanctus Pantulus, Basiliensis episcopus, qui virgines sacras cum gaudio susceptas Romam perduxit, unde reversus Coloniam pervenit, ibique cum eis martirium suscepit (Kap. 6).73 Elisabeth fragt explizit nach der Glaubwürdigkeit der Inschriften, nach solchen, die unvollständig oder ungewöhnlich sind, und erhält so nicht nur Auskunft über den Weg der Jungfrauen und ihrer Begleiter zum Martyrium sowie die (neue) Datierung des Geschehens, sondern auch über die Entstehung der Tituli selbst. Nicht zuletzt wird thematisiert, warum die volle Wahrheit erst jetzt ans Licht kommt: Dies entspreche, so Verena, göttlichem Willen, denn Elisabeth sei auserwählt, das Unbekannte bekannt zu machen und als Lohn dafür dereinst zu ihrer Gemeinschaft zu gehören (Kap. 5). Es wird also eine besondere Verbindung zwischen ihr und den Jungfrauen hergestellt, was wiederum der gegenseitigen Beglaubigung dient. Die Entwicklung der Legende erscheint so, wie die in ihr erzählte Handlung, als durch Visionen gesteuerter Prozess zunehmender Einsicht in den göttlichen Heilsplan. Zugleich ist es typisch für Elisa­ beths Offenbarungen, insbesondere für die des dritten Buchs des ‚Liber Visionum‘, dass solche mit autoreferentiellem Charakter darunter sind, die die Visionen selbst explizieren, legitimieren und autorisieren.74 Nach Campbells These – und ähnlich argumentiert auch Maria Eugenia Góngo­ ra75 – gleicht das Vorgehen einer Art Gerichts- bzw. (späteren) Kanonisationsverfah­ ren und partizipiere am neu erwachten Rechtsinteresse. Dadurch ersetze es ältere Au­

72 Lacomblet, Benediktiner-Abtei, S. 293. 73 Visionen und Briefe, S. 126. 74 Vgl. Mattern, Liturgische Visionen. 75 Góngora (Elisabeth von Schönau, S. 22) beruft sich auf eine Studie von Patrick J. Geary (Living with the Dead). Er betont, dass Gebeine erst durch einen Transformationsprozess zu kostbaren Reliquien werden, wofür ihre Identifikation elementar ist. Da jedoch ihre ‚Biographie‘ selten un­ gebrochen ist, erweist sich diese meist als problematisch. Er unterscheidet hinsichtlich der Iden­ tifizierung extrinsische Kriterien, wie Gräber und Dokumente (authenticae), und intrinsische Kriterien, besonders die Erscheinung der Heiligen selbst, die etwa ihre Grabstelle offenbaren. Entscheidend sei zudem, dass die Reliquien ‚funktionieren‘, dass sie also Wunder bewirken, um ihre Echtheit unter Beweis zu stellen. Aus dieser Perspektive ist am Fall der Jungfrauen interessant, dass zuerst die extrinsischen Hinweise (Gräber und Tituli) auftauchen, jedoch für die Authenti­ sierung nicht hinreichend und daher nachträglich und gezielt durch Elisabeth die Erscheinung der Heiligen herbeigeführt wird (S. 203–205).

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thentifikationsverfahren, wie die seit dem 10. Jahrhundert praktizierte Feuerprobe von Reliquien.76 Elisabeth übernehme gewissermaßen die Rolle der Richterin, die Heili­ gen die der Zeugen und die Schrift sei eine Art Rechtsprotokoll, in dem die Zeugnisse harmonisiert werden. Der Vergleich ist bis zu einem gewissen Punkt sicher erhellend, von einer Richterin Elisabeth würde ich jedoch nicht sprechen. Sie forscht zwar nach, wie sie das im Übrigen auch im ‚Liber Visionum‘ tut, und trägt so stellvertretend für die Rezipienten die offensichtlichen Einwände vor, aber sie bleibt letztlich wie in den früheren Visionen auch in der Rolle derjenigen, die in ihrem begrenzten menschlichen Wissen belehrt wird. Das zeigt auch der bereits erwähnte Brief Ekberts, in dem er be­ richtet, dass er Elisabeth fragen ließ, ob der heilige Potentinus zur Zeit des Bischofs Maximinus von Trier gelebt habe, obwohl ihm dies bereits bekannt war. Der Engel reagiert darauf empört, weil er sich auf die Probe gestellt sieht, und verlangt zum Aus­ gleich besondere Ehrerbietung für die Engel. Mit dem Erscheinen der Heiligen bei der Translation ist die Echtheit der Reliquien gleich zu Beginn des Textes bestätigt, daher geht es in erster Linie darum, sich durch höchste Autorität im Sinne Guiberts von No­ gent Gewissheit zu verschaffen – und nicht etwa die Aussagen der Heiligen in Frage zu stellen – sowie den Text strategisch gegen Kritik zu sichern. Als zweite Strategie des Textes erweist sich, bekannte Heilige gewissermaßen als Garanten zu nutzen. Das Erscheinen der ‚neuen‘ Heiligen in den Visionen gestaltet sich schwieriger, da sie erst einmal vorgestellt und als solche verifiziert werden müssen. Sie treten aus diesem Grund nicht allein auf, sondern werden regelmäßig von bekann­ ten Heiligen flankiert, das gilt insbesondere für den Engel des Herrn und die Gottes­ mutter Maria, die zentralen Figuren von Elisabeths Visionen.77 Dementsprechend er­ scheinen ihr in Kapitel 6 Verena und Caesarius in Begleitung des Engels; in Kapitel 12 beantwortet dieser selbst ihre Fragen, ebenso in Kapitel 14. An einem der Marienfeste ist es wiederum Maria, an die sie sich wendet (Kap. 10). Am Fest des Apostels Andreas erscheint dieser zusammen mit drei weiteren translozierten Heiligen und vermittelt das Gespräch mit ihnen. In einer folgenden Traumvision liest sie zudem wie in einem Buch mit goldenen Buchstaben über diese Heiligen (Kap. 15). Diese Passage ist auch aus dem Grund interessant, weil die seit dem Krieg verschollene Handschrift 3 aus Schönau, entstanden ca. im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, ebenfalls mit goldenen Initialen verziert und überdies illustriert war, u. a. mit der Darstellung zweier Märty­ rerinnen, möglicherweise Ursula und Verena, die zum Schluss des Textes gemeinsam 76 Vgl. Campbell (Sanctity, S. 166), die darauf hinweist, dass noch etwa ein Jahrzehnt vor Elisabeths Text dieses Verfahren zur Überprüfung der Echtheit von Ursula-Reliquien angewandt wurde, be­ vor es in der Mitte des 12. Jahrhunderts obsolet war. Zu den Echtheitsproben vgl. auch Wagner, Knochenfund, S. 39; Schreiner (Discrimen, S. 9) nennt „Fasten und Gebet, Feuer-, Kalt- und Warmwasserprobe“ als Optionen, die Echtheit von Reliquien zu überprüfen 77 Maria erscheint Elisabeth in ihrer ersten himmlischen Vision und danach regelmäßig; der Engel begleitet sie seit dem ‚Liber Visionum‘ Buch I, Kap. 31, dessen Erscheinen zugleich mit ihrer ersten Elevation in den Himmel verbunden ist.

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auftreten.78 Zwar ist ein solcher Schmuck nicht ungewöhnlich, neben der darin zum Ausdruck kommenden großen Wertschätzung von Elisabeths Texten, die er enthielt, könnte aber auch eine Angleichung an das hier beschriebene göttliche Buch intendiert gewesen sein, um den Offenbarungscharakter des Textes für die Rezipienten auch ma­ teriell und visuell erfahrbar zu machen.79 Am 6. Dezember ist es dann der heilige Niko­ laus, der ihr weitere Auskunft gibt, wiederum in Begleitung der drei Heiligen (Kap. 15). Wenn also Elisabeths Erscheinungen der etablierten Heiligen authentisch sind, wie insbesondere der ‚Liber Visionum‘ darzulegen versucht, dann kann ihr gemeinsamer Auftritt dem Erscheinen neuer Heiliger und ihrem Bericht weitere Glaubwürdigkeit verleihen. Die dritte Strategie betrifft die heilige Gemeinschaft und das Verhältnis der Ge­ schlechter. Wie bereits Barbara Newman feststellte, werden die Heiligen des Jungfrau­ enheeres mit einer Geschichte versehen und zu einer heiligen Gemeinschaft gemacht, die untereinander durch Verwandtschaft und Freundschaft verbunden ist. Elisabeth nutzt dazu die Informationen der Tituli, aber erst im Text findet eine programmatische Vervollständigung dieses Ansatzes statt. Sie kreiert das (Vor-)Bild einer geistlichen Gemeinschaft aus Frauen und Männern, die wohl nicht zufällig an das Konzept der Doppelklöster erinnert, wie Schönau eines war.80 Das fällt besonders in Kap. 9 auf, in dem Verena Auskunft gibt, dass die begleitenden Bischöfe getrennt wohnen und nur an Sonntagen zu den Jungfrauen kommen, um ihnen zu predigen und die Eucharistie zu spenden. Darüber hinaus zeichnet sich das Verhältnis durch gegenseitige Unterstüt­ zung im Glauben und Wertschätzung der Frauen aus; das entspricht dem Bild, das Eli­ sabeths Offenbarungen generell vom Zusammenleben in Schönau entwerfen.81 Auch hier lässt sich also ein Konnex feststellen zwischen dem Inhalt der Offenbarungen und

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Sie wurde zuletzt in der Wiesbadener Landesbibliothek aufbewahrt, vgl. Roth, Visionen, S. XXII– XXVI, Stork, Mittelalterliche Codices. S. 32–34. 79 Vgl. zum Verhältnis von Vision und Buch besonders die Arbeiten von David Ganz: Ganz, Medien der Offenbarung; ders., Pforten der Offenbarung. 80 Auch Newman (Preface, S. XVIf.) betont, dass Elisabeth die Legende eines Amazonenheeres überführe in „a vision of harmonious friendship and collaboration between the sexes“; diese ‚heili­ ge Sippschaft‘ sei ein Abbild ihrer eigenen religiösen Familie. Zur Bedeutung von Verwandtschaft für die Doppelklöster vgl. Küsters, Frauengemeinschaften, S. 213: „Das Doppelkloster kommt dem adligen Gemeinschaftsdenken insofern entgegen, da es den Klostereintritt von ganzen Ver­ wandtschaftsgruppen, auch den gemeinsamen Eintritt von Eheleuten begünstigt. Freilich setzt dem Verkehr von Verwandten die asketische Forderung der Klausur eine Grenze.“ 81 Zu den Regeln des Zusammenlebens in den Doppelklöstern vgl. Haarländer, Männliche und weibliche Religiosen. Sie beschreibt strikte Regeln, um ein unkontrolliertes Zusammentreffen von Männern und Frauen zu verhindern. In Elisabeths Offenbarungsschriften ist dagegen immer wieder von einer Anwesenheit des Abtes und der Mönche im Nonnenkonvent die Rede. Vgl. zu den strengen Kontaktvorschriften auch Roitner, Sorores inclusae, S. 89 f. u. 100–107, zu Schönau, S. 104.

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Elisabeths Stand als Nonne in einem Doppelkloster.82 Der Text ist demnach nicht nur geeignet, die Authentizität der Reliquien zu stützen, sondern auch den Wert eines reformorientierten Männer- und Frauenkonvents. Anders als es die ersten Texte zu den Reliquienfunden nahelegen, werden die Män­ ner nicht als Anführer präsentiert, eher ist es ein Verhältnis auf Augenhöhe, bei dem die Männer zumindest was die Martyriumsbereitschaft betrifft den Frauen folgen und nicht umgekehrt. Das herausragendste Beispiel eines Mannes, der sich vom Vorbild der Frauen leiten lässt, ist der Papst Cyriacus. Nachdem er sie ehrenvoll in Rom emp­ fangen hat, bringt ihn eine nächtliche Offenbarung dazu, öffentlich zu resignieren, um mit den Jungfrauen das Martyrium zu erleiden. Er zieht sich dadurch die massive Kri­ tik der Kardinäle zu: […] reclamantibus cunctis, precipue cardinalibus, qui velut deliramentum arbitrabantur, quod quasi post fatuitatem muliercularum declinaret, nescientes ammonitionem divinam, que eum urgebat. (Kap. 7)83

Diese Kritiker erscheinen damit als Echo derjenigen, die auch die göttliche Gnade in Elisabeth nicht anerkennen, wie sie im Prolog sagt. Deren Ärger geht soweit, dass sie Cyriacus aus dem Verzeichnis der Päpste streichen. Peter Strohschneider interpretiert diese Passage der Legende in der Fassung des ‚Passionals‘ so, dass das gottgegebene Charisma der Frauen als alternative Legitimationsform auf den Widerstand der In­ stitution Kirche trifft, die hier nicht fähig und willens ist, das Heilige zu integrieren. In der Narration der Legende werde dann das Charismatische jedoch zugleich institutio­ nell eingehegt und konserviert.84 Elisabeths Text, durch den diese Konfrontation erst Eingang in die Legende findet, inszeniert Ursula und ihre Jungfrauen als Vorbilder, denen sie selbst mit ihrem eigenen prophetischen Charisma folgt, das zumindest nach ihrer Behauptung ebenso auf Kritik stößt.85 Über den Weg, die Anwesenheit von Män­ nern unter den Jungfrauen zu legitimieren, wird im Text allerdings auch eine andere Haltung gegenüber den Frauen vorgeführt, die wie gesagt Ähnlichkeiten zum Konzept der Doppelklöster aufweist. Tatsächlich scheint ja auch Elisabeth mit ihren Offenba­ 82

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Dieser Konnex zwischen dem visionär geschauten Heiligen und der Sakralisierung des Visionärs selbst ist vergleichbar mit dem von Daniel Eder untersuchten Verhältnis des Kölner Erzbischofs Severin und dem Heiligen Martin in dessen Legende (Der abwesende Bischof, S. 305–309, in die­ sem Band). Visionen und Briefe, S. 126 f. „Alle widersprachen, vor allem die Kardinäle, die es als Wahnsinn ansahen, weil er sich weiblichen Albernheiten wegen zurückzog, da sie die göttliche Ermahnung nicht kannten, die ihn motivierte“ (Elisabeth von Schönau, Werke, S. 150). Strohschneider, Religiöses Charisma, S. 583–585. Diese Kritik mag es tatsächlich gegeben haben, in den Offenbarungsschriften wird sie allerdings zu einer grundsätzlichen Ablehnung weiblicher prophetischer Rede stilisiert, die jedoch gerade dann wichtig werde, wenn die Männer von Trägheit befallen seien (vgl. ‚Liber Visionum‘, Buch II, Kap. 1). Damit rücken die Kritiker in die Nähe derjenigen, die sich den von Elisabeth und ihrem Bruder als notwendig erachteten kirchlichen und monastischen Reformen verweigern.

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rungen überwiegend auf eine positive Resonanz bei den Vertretern der Kirche gesto­ ßen zu sein, wie die erhaltenen Briefe, die zahlreichen Anfragen und die rege Rezepti­ on ihrer Schriften beweisen. Die Befürworter konnten sich auf eine Tradition berufen, die den Bräuten Christi eine besondere Nähe zu Gott zuschrieb und den Männern den Dienst für die Frauen empfahl, um an der durch sie vermittelten göttlichen Gna­ de zu partizipieren.86 Elisabeth, die angibt, die Papstverzeichnisse überprüft zu haben (Kap. 8), hat damit jedenfalls den von ihr selbst vorgebrachten Einwand entkräftet.87 Es wird also nicht nur eine Begründung für den unbekannten Papst geliefert, sondern erneut eine Analogie zwischen den Jungfrauen und Elisabeth hergestellt, die zu ihrer Rechtfertigung, aber auch der der Männer, die ihr vertrauen, beiträgt. Auffällig ist schließlich die häufige Thematisierung von Visionen in Elisabeths Visi­ onen. Wie das Beispiel des Cyriacus zeigt, ist auch in den intradiegetischen Berichten der Heiligen von göttlichen Offenbarungen die Rede, und zwar wiederholt. In den Ka­ piteln 6 und 15 wird davon berichtet, dass Ursulas Vater durch göttliche Offenbarungen eingeweiht ist und für den männlichen Begleitschutz sorgt; ihr Bräutigam Etherius wird durch eine Vision ermahnt, auch seine Mutter zum Christentum zu bekehren und zusammen mit ihr und seiner Schwester der Braut entgegenzuziehen; in Kapitel 14 wird dem Bischof Marculus die baldige Ankunft Ursulas in Rom offenbart; er folgt da­ her der Aufforderung, sich zusammen mit seiner Nichte ihr anzuschließen und im 15. Kapitel wird von einem Schönauer Mönch berichtet, dem in einer nächtlichen Vision der Name und Stand des Märtyrers genannt wird, dessen Gebeine er selbst ins Kloster gebracht hatte, wodurch Elisabeths eigene Offenbarung über diesen Mann bestätigt wird. Die Visionen der Märtyrer belegen, dass Menschen, die Gott nahestehen, auf diese Weise in seine Heilspläne eingeweiht werden. Für die Heiligen scheinen sie ge­ radezu selbstverständlich zu sein, die wahren Gläubigen vertrauen ihnen, Kritiker wie die Kardinäle werden dagegen diskreditiert. Die Visionen der Heiligen sind demnach ein impliziter Appell an die Rezipienten, ihrerseits den Offenbarungen Elisabeths zu vertrauen. Ihr Bericht schließt mit dem Festtag der heiligen Jungfrauen am 21. Oktober88 (Kap. 19–21); damit hat er etwas über ein Jahr durchlaufen, denn die Translation von Verena und Caesarius, mit der der Bericht anfängt, wurde laut Schönauer Kalendari­ um am 6. Oktober gefeiert.89 Anhand der zirkulär-liturgischen Zeitstruktur wird eine Zunahme an Wissen über die heiligen Jungfrauen mittels Visionen vorgeführt, das letztlich die Authentizität der Reliquien verbürgt.90 Beim Gottesdienst fällt Elisabeth 86

Solche Ansichten könnten auch für die Haltung der Hirsauer Bewegung von Bedeutung gewesen sein, vgl. Roisner, Sorores inclusae, S. 124 f. 87 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 109. 88 Peter Dinzelbacher datiert exakt auf den 21. Oktober 1157, vgl. Elisabeth von Schönau, Werke, S. 157, Anm. 19. 89 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 81 u. Anm. 17. 90 Vgl. Angenendt, liturgische Zeit.

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in die Ekstase und sieht die Heiligen des Tages: alle Jungfrauen als Märtyrerinnen in weißen Gewändern, mit Nimbus, Palme und blutiger Stirn, also den Insignien ihres heiligen Standes, aber auch die Männer cum signis eisdem, viele von ihnen im Priester­ gewand (Kap. 19).91 Diese Art von Schau der Tagesheiligen ist typisch für Elisabeths Visionen und kann daher hier als nochmalige Verifizierung gelten. Als Höhepunkt der Offenbarungen stellt sich Ursula selbst Elisabeths letzten Fra­ gen; die bisherige Hauptzeugin Verena begleitet sie und wird von ihr als Cousine be­ zeichnet. Das bestätigt wiederum die Bedeutung verwandtschaftlicher Bindungen un­ ter den Heiligen im Allgemeinen und wertet Verenas Stellung unter den Jungfrauen im Besonderen auf, was für Schönau von Bedeutung ist. Die Überlagerung von geistlicher Verwandtschaft und Blutsverwandtschaft spiegelt spezifisch Elisabeths und Ekberts eigene religiöse Lebensform, zumal Elisabeth auf dem Sterbebett eine Verwandte zu ihrer Nachfolgerin als magistra bestimmt und mit Simon von Schönau später ein Neffe Ekbert im Amt des Abtes folgt.92 Mit der Beantwortung der Fragen, warum und wie Ursula getötet wurde und wer sie bestattet hat, ist der Bericht über das Martyrium vollständig.93 Zuletzt wird noch geklärt, dass es einen Clematius gab, der die letzten Toten begrub. Ein Titulus nennt nämlich einen Clematius, der jedoch offensichtlich nicht mit dem der Bauinschrift identisch sein konnte – eine Unstimmigkeit, die Elisa­ beths Text hier ebenfalls ausräumt, indem sie die Existenz zweier gleichnamiger Män­ ner bestätigt (Kap. 21).94 Der Clematius der Bauinschrift kam erst, so Ursula, nach langer Zeit. Mit diesem Namen kehrt der Text ganz am Schluss wieder auf den Boden der bestehenden Überlieferung zurück. VII. Fazit Elisabeths Schrift über Ursula und ihre Gefährtinnen antizipiert potentielle Zweifel an der Authentizität der Reliquien und an ihren Offenbarungen, um dann beiden Legiti­ mität zu verschaffen. Elisabeth tritt auf in ihrer bereits in Briefen und vorangegangenen 91

Typisch ist auch die Visualisierung durch eine genaue Deskription der himmlischen Ordnung und die Orientierung an ikonographischen Traditionen, vgl. Mattern, Liturgische Visionen. 92 Vgl. Kemper, Doppelkloster Schönau, S. 81 f. u. 98 f. 93 Dieser Auftritt Ursulas mit der ‚Pfeilvision‘ findet sich in zahlreichen Einzelhandschriften, aber nicht in allen Redaktionen, der Grund für die (spätere) Tilgung ist allerdings unklar, vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 96. Roths Edition folgt der Redaktion E bzw. der verschollenen Handschrift 3 der Wiesbadener Landesbibliothek, vgl. zuletzt zum Handschriftenbestand des Klosters Schö­ nau Stork, Mittelalterliche Codices, zur Hs. 3 S. 32–34. 94 Der Titulus im ‚Codex Thiodorici‘ dazu lautet: Hic iacet sepultus Clematius. Qui manibus suis sepeliuit sacras uirgines (Lacomblet, Benediktiner-Abtei, S. 294). Die Einleitung zeigt, dass er auf einer antiken Grabinschrift fusst (vgl. Schmitz, Grabinschriften, S. 24). Diesen Clematius wird das Makkabäer-Kloster nutzen, um die eigene Geschichte an die Ursula-Legende anzuschließen, vgl. Peters, Anspruch, S. 10–13.

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Schriften erprobten Rolle als Prophetin, die mit Hilfe der Vision die Augenzeugen des Geschehens befragt und so die bisherige Legendentradition korrigieren und vervoll­ ständigen kann. Visionen zur Begründung eines Kults oder Kultortes sind nicht neu, so erscheint Maria Magdalena im Mirakelanhang zu ihrer Legende, um die Translo­ zierung ihrer Gebeine nach Vezelay zu legitimieren, das als Zentrum ihrer Verehrung hervortrat.95 Hier handelt es sich jedoch um einen ganzen Text, der – wie für Elisabeth kennzeichnend – aus einer Aneinanderreihung von Visionen mit nur wenigen ver­ bindenden Überleitungen besteht und seinerseits eine weitere Transformierung der Legenden einleitet. Elisabeth greift also einerseits auf bereits vorhandene Muster und Strategien der Visionsdarstellung zurück, bettet diese andererseits aber auf neuartige und charakteristische Weise in liturgische Strukturen ein. Daher sind die Visionen oft kein einmaliges Ereignis, sondern iterativ; sie wiederholen sich am gleichen Festtag oder werden fortgesetzt. Hier werden sie im Verlauf eines Kirchenjahres geschildert und während Elisabeths Offenbarungsschriften ansonsten aus programmatischen Gründen mit dem Pfingstfest beginnen,96 setzten sie hier ebenso programmatisch mit der Translation ein und enden am Festtag der Heiligen Jungfrauen. Durch das Inserie­ ren von Visionen in diese hagiographischen ‚Selbstzeugnisse‘ der erscheinenden Hei­ ligen wird aber auch umgekehrt deren Existenz und Relevanz für das Heilsgeschehen unter Beweis gestellt. Auf intrikate Weise verbürgen so die verschriftlichten Visionen Elisabeths nicht nur die Authentizität und Identität der Reliquien, sondern nutzen das Auftreten und Sprechen der identifizierten Heiligen, um autoreferentiell die Wahrhaf­ tigkeit und die Autorität von Elisabeths Rede zu unterstreichen. Das Vertrauen in ihre visionäre Gabe und die im Text angelegte Identifikation Elisabeths mit den Märtyre­ rinnen wird noch einmal dadurch textextern unter Beweis gestellt, dass die Schönauer Mönche im Jahr 1164 mit den inzwischen 14 vollständigen Heiligen aus Köln in feierli­ cher Prozession um das Kloster ziehen, als sie im Sterben liegt.97 Auch die Überlieferung zeugt vom Erfolg des Textes: Von den annähernd 150 Hand­ schriften, in denen Elisabeths Texte überliefert sind, enthalten fast 80 Handschriften ihre Offenbarungen über die Kölner Jungfrauen; sie sind ihr verbreitetstes Werk, das zudem großen Einfluss auf Hagiographie und Historiographie, Ikonographie und Kunst ausübte.98 Abschriften finden sich besonders in Klöstern, die über entsprechen­ de Reliquien verfügten.99 Der Text garantierte die Echtheit der Reliquien und gab ih­ 95

Vgl. ‚Von Sanct Maria Magdalena‘, in: Die Legenda aurea, S. 362–370, hier S. 369; Saxer, Maria Magdalena. 96 Vgl. Kleine, Les mots, S. 161 f.; dies., Visionäre, S. 80 f.; Mattern, Liturgische Visionen. 97 Vgl. Kemper, Doppelkloster Schönau, S. 97. Die Bemühungen um ihre Kanonisation blieben al­ lerdings vergeblich. 98 Vgl. zur Überlieferung von Elisabeths Schriften Köster, Werk und Wirken (Handschriftenver­ zeichnis) und ders., Das Visionäre Werk (Auswertung der Überlieferung und Nachträge zum Handschriftenverzeichnis). 99 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, bes. S. 102 f.

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nen eine Identität und Geschichte, umgekehrt bezeugte die Existenz der Reliquien vor Ort aber auch die Wahrhaftigkeit des visionären Berichts – eine reziproke Authentisie­ rung. Ähnlich geben die zu Beginn erwähnten Ursulabüsten in der Goldenen Kammer den Reliquien ein Gesicht und eine Identität, während die Reliquien in ihrem Innern die Anwesenheit der Heiligen und ihr Martyrium verbürgen. Neben der daher häufi­ gen Einzelüberlieferung ging der Text auch in größere hagiographische Sammlungen unterschiedlichen Zuschnitts ein, er wurde mit anderen Ursula-Textzeugnissen ver­ bunden oder war der Anlass für eine Zusammenstellung von Elisabeths Schriften.100 In der mutmaßlich noch zu Lebzeiten Elisabeths entstandenen ersten Redaktion A sowie in der zweiten Redaktion B schließt der Text mit einer Vision Ekberts:101 Am Festtag Maria Magdalenas steht er zur Prim vor dem Altar des heiligen Heribert in Deutz und sieht plötzlich eine helle Flamme über dem Altar in der Nähe des Heri­ bertschreines, den nach Erhebung des Heiligen 1147 ebenfalls Abt Gerlach herstellen ließ:102 Die festo sanctę Marię Magdalenę horam primam ego Egbertus stabam orans inter duas columnas, que sunt ante altare sancti Heriberti, et vidi flammam rubicundissimam tribus vicibus super altare maius inter tabulam, in qua erat depicta maiestas salvatoris, et inter scrinium sancti Heriberti circa reliquias, quę illic in scrinio reconditę erant. Existimans autem illic esse lampadem ardentem supra reliquias accessi, ut viderem, an ita esset, et non erat. Ipsa autem die obtuli supra easdem reliquias revelationes Elysabeth, quas ostendit illi dominus de exitu sanctę Ursulę reginę.103

Die Flamme erscheint also genau an der Stelle, an der er zuvor die Offenbarungen Eli­ sabeths über Ursula und ihre Jungfrauen, also das fertige Werk, übergeben hatte. Sie ist ein letztes göttliches Zeichen, durch das die Authentizität der Offenbarungen und der Reliquien bestätigt wird und mit ihr schließt sich ein Kreis, denn mit der Flammenvi­ sion des Clematius beginnt in der Rückschau schließlich der Jungfrauenkult in Köln.

100 Vgl. Köster, Das visionäre Werk, S. 104. 101 Vgl. ebd., S. 82 und 96. Er datiert sie auf 1158. 102 Der zentrale Kuppelbau von Alt-Heribert ist nicht erhalten. Der Holzkern des Schreins und die Lade mit den Reliquien Heriberts wurden unter Rupert von Deutz in den 1120er Jahren erstellt; nach der Erhebung erfolgte während der Amtszeit Abt Gerlachs die erste Phase der Ausgestaltung des Schreins, ab 1160 begann die zweite durch Abt Hartpern, vgl. Wittekind, Heiligenviten, bes. S. 10. 103 Der Text ist abgedruckt bei Roth, Handschrift, S. 222 f. Übersetzung: „Am Festtag der heiligen Maria Magdalena bei der Prim stand ich, Ekbert, betend zwischen zwei Pfeilern, die vor dem Altar des heiligen Heribert stehen. Und ich sah eine tiefrote Flamme an drei Stellen über dem Hochaltar zwischen der Tafel, auf der die Majestas Domini gemalt ist, und zwischen dem Schrein des heiligen Heribert um die Reliquien, die dort im Schrein bewahrt werden. Ich dachte aber, dort sei eine brennende Lampe über den Reliquien und ich ging heran, um zu sehen, ob es so sei, aber es war nicht so. Am selben Tag aber brachte ich über eben jenen Reliquien die Offenbarungen Elisabeths dar, die ihr der Herr über das Heer der heiligen Königin Ursula gezeigt hatte“ [T. M.].

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IV. Transzendente Autorisierung in politischen Visionen

Doppelgesichte Medialitäten und Deutungshorizonte mittelalterlicher Träume an einem Beispiel des 12. Jahrhunderts (Johannes von Worcester, ‚Chronicon ex chronicis‘, ca. 1140) Uta Kleine Das folgende Beispiel aus dem hochmittelalterlichen England wurde in der histo­ rischen Literatur schon oft zitiert, beschrieben und abgebildet: Es handelt sich um einen Traum König Heinrichs I., von dem das ‚Chronicon ex chronicis‘ der Abtei Worcester zum Jahr 1130 berichtet. Während eines Aufenthaltes in der Normandie wird der schlafende König in drei aufeinanderfolgenden Träumen von verschiedenen Personengruppen seines Reiches heimgesucht: Nacheinander erscheinen eine Rotte von Bauern, ein Trupp von Rittern und eine Schar von Geistlichen. Sie bedrohen den König mit ihren Ackergeräten, Schwertern und Hirtenstäben und nennen als Grund für ihren Zorn eine vom König nicht beglichene Schuld. Zwischen den Traumepiso­ den erwacht Heinrich voller Schrecken, springt vom Bett auf und greift laut um Hilfe rufend zu den Waffen. Seine Wächter ergreifen verängstigt die Flucht. Nur der medicus Grimbald wacht in einem verborgenen Winkel des Palastes und wird Zeuge des Albtraums. Am folgenden Morgen sucht er den König auf, befragt ihn nach seinem Traumgesicht, legt ihm dessen Bedeutung aus und rät ihm zu einer Buße. Doch es be­ darf erst eines weiteren Warnzeichens – das Schiff des Königs gerät auf der Rückfahrt nach England in einen Meeressturm, und Heinrich rettet sich und sein Gefolge durch ein Gelübde –, damit dieser die gelobten Bußen auch ausführt. Bekannt ist diese Episode nicht zuletzt deswegen, weil die Erzählung des so ge­ nannten ‚Ständetraums‘ in der ältesten Handschrift (Oxford, Corpus Christi Col­ lege, Hs. 157) von einer doppelseitigen kolorierten Federzeichnung begleitet wird (Abb. 1).1

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Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S.  382 f. https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/93b834167972-40d7-9789-18f54e17ae25 [abgerufen am 04.05.2022].

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Sie gilt nicht nur als das früheste Beispiel für eine Traumillustration in einem his­ toriographischen Überlieferungskontext,2 sie ist auch das einzige überlieferte Zeug­ nis vor dem Druckzeitalter, welches das Deutungsschema der tripartiten mittelalter­ lichen Gesellschaftsordnung aus dem Bereich des ‚Imaginaire‘ in ein konkretes Bild überführt.3 In dieser illustrativen Funktion sind Traum und Miniatur in zahlreichen Publikationen mehr oder weniger ausführlich behandelt worden. Von der Traum- und Visionsforschung wurde das Beispiel bislang zweimal umfassend analysiert: In einem Aufsatz von Claude Carozzi, der das Verhältnis von Text, Bild und Erzählung auslo­ tet, sowie in der philosophiegeschichtlichen Monographie von Thomas Ricklin zum intellektuellen Horizont von Träumen und Traumdeutung im 12. Jahrhundert.4 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Traum und Vision ist schon im Mittelalter nicht trennscharf: Bei beiden Formen handelt es sich um visuelle Wahrnehmungen wäh­ rend des Schlafes (Traum)5 oder in einem Zustand der Entrückung (Vision),6 über deren Inhalte, Ursachen und Bedeutung in der Spätantike und im Mittelalter an den verschiedensten Stellen – in der exegetischen, hagiographischen, paränetischen, aber auch in der epischen, medizinisch-naturkundlichen und der theologischen Summenli­ teratur – ausführlich diskutiert wird. Als Vision gilt nach dem allgemeinen Verständnis der Sondertyp des göttlich inspirierten, bedeutungsvollen Traumes. Mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gesicht und Handschrift ist ein Untersuchungsfeld eröffnet, in dem die schillernde Medialität von Traumvisionen zwischen dem Zustand der geheimnisvollen inneren Schau und den Modi ihrer Evo­ zierung und Materialisierung ins Blickfeld gerückt wird. Denn als liminales Phänomen entzieht sich der Traum der Wahrnehmung durch die äußeren Sinne, der Kontrolle durch die/den Träumende/n und der Verifikation des Geschauten durch Augenzeu­ gen. Daher soll die Traumvision hier noch einmal daraufhin befragt werden, wie ein flüchtiges und verborgenes inneres Erleben im Medium der Stimme, der Schrift, des figürlichen Abbildes und des Codex hörbar, sichtbar, verstehbar und greifbar gemacht wird.7 Medialität soll hier im Sinne Sybille Krämers als eine kulturanthropologische Perspektive verstanden werden, die sich mit dem Zusammenhang von Perzeption, Kognition und Sinnstiftung im Hinblick auf die sie vermittelnden Instanzen und In­ 2 3 4

5 6 7

Gransden, Cultural Transition, S. 120. Duby, Die drei Ordnungen; Oexle, Die funktionale Dreiteilung; Jussen, Ständegesellschaft. Carozzi, Die drei Stände; Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 82–124. Ferner sei auf die fundierten kunsthistorischen Einzelstudien von Ganz, Medien der Offenbarung, S. 112–114, und Collard, Henry I’s Dream, hingewiesen. Die jüngsten Beiträge behandeln das Beispiel eher kur­ sorisch: Hehl, Politische Träume, S. 197–215; Wagner, Prophecy and Prognostication. Kruger, Dreaming in the Middle Ages; Ricklin, Der Traum in der Philosophie; Wehrle, Dre­ am and Dream Theory. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur; Carozzi, Le voyage de l’âme; Vauchez, Saints, prophètes et visionnaires; ders, Prophètes et prophétisme; Gerok-Reiter/Walde, Traum und Vision; Henriet/Herbers/Lehner, Hagiographie et prophétie. Schmitt, Rêver au XIIe siècle, S. 291–316; ders., Introduction, S. 7–18.

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strumente beschäftigt. Diese Perspektive folgt der ursprünglichen Etymologie, nach der mit dem ‚Medium‘ ein ‚Mittleres‘, d. h. ein transitorisches, distanzüberwindendes bzw. übermittelndes Objekt oder Verfahren gemeint ist: „Medien verbinden heteroge­ ne Domänen, Systeme, Felder, indem sie Übertragung und Austausch zwischen denen ermöglichen, in deren Zwischenraum sie situiert sind.“8 Medien machen Unsichtbares wahrnehmbar, indem sie ihm eine Stimme und/oder eine Gestalt verleihen. Das Prin­ zip der Materialität ist eine Grundbedingung von Übertragung: Medien wirken, in­ dem sie Sinn verkörpern: „Im Mediengeschehen ist die sinnlich sichtbare Oberfläche also der Sinn, die Tiefenstruktur aber bildet das nicht sichtbare Medium.“9 Für diesen und weitere zentrale Aspekte von Medialität hat Krämer die Modellfigur des ‚Boten‘ etabliert: Boten als Mittler stiften eine soziale Relation, indem sie Sinn übertragen und ihn zugleich durch ihre Präsenz verkörpern.10 Zugleich ist die Heteronomie, das Sprechen mit fremder Stimme, ein Kennzeichen der Botenrede. Hierdurch entsteht das Paradox, dass sich die Boten als körperhafte Vermittler der Botschaft durch ihre „Selbstneutralisierung“ der Wahrnehmung durch den Empfänger zugleich darbieten und entziehen. Sie inszenieren nicht ihre eigene Präsenz, sondern die Botschaft des­ jenigen, in dessen Auftrag sie sprechen. „In einer medientheoretischen Perspektive kommen die nichtsinnhaften, materialen Bedingungen der Entstehung von Sinn, die stummen, prä-signifikanten Prozeduren der Signifikation […] in den Blick.“11 Die kulturanthropologische Medialitätsperspektive bietet sich an, weil der Traum im Mittelalter, anders als in der Moderne, nicht als kreatives Produkt der individu­ ellen menschlichen Psyche verstanden wurde, sondern als ein über das Individuum hinausweisendes, transzendentales, verbindliches und sozial verbindendes Offenba­ rungsgeschehen. Gilt seit Freud der Traum als Königsweg zum individuellen Unbe­ wussten, wurde er in der Vormoderne als Königsweg zum kollektiven Überbewussten verstanden.12 Zwar konnten Träume auch eine Reaktion auf den somatischen oder emotionalen Zustand des/der Träumenden sein. Träume, die sich als Spiegelungen von Tagesresten oder als Reaktion auf ein Zuviel oder Zuwenig von Essen und Trinken erwiesen, galten aber als bedeutungslos; solche, die auf das Einwirken dämonischer Kräfte zurückgeführt werden mussten, gar als gefährlich und irreleitend. Das kollekti­ ve Interesse galt vorrangig den bedeutungsvollen, göttlich inspirierten Traumvisionen. Sie vermittelten Botschaften, die das Schicksal der Träumenden und ihres sozialen Umfeldes betrafen und beachtet werden mussten.

8 9 10 11

Krämer, Medialität und Heteronomie, S. 37. Krämer, Medium, S. 27. Krämer, Konstitutionsleistung, S. 84. Krämer, Konstitutionsleistung, S. 88 f.; vgl. auch dies., Medialität und Heteronomie, S. 37 f.; dies., Medium, S. 29. 12 Vgl. Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 2.

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Für diese Form des bedeutungsvollen Traumes boten die Traumberichte der an­ tiken Literatur, insbesondere Platons Timaios und Ciceros Bericht vom Traum des Scipio Africanus (mit dem Kommentar des Macrobius), sowie die Erzählungen der Heiligen Schrift bekannte Vorbilder. Viele dieser Träume betrafen Angehörige der po­ litischen Elite. Besondere Aufmerksamkeit verdienten die Träume von Königen, wie sie im Alten Testament und in der frühen Kirchengeschichte vorgebildet waren, allen voran die prophetischen Gesichte Nebukadnezars und Pharaos (Dan 39–40; Gen 40– 42). Sie kündigten das bevorstehende Ende von Dynastien und Reichen ebenso an wie den Sieg über den politischen Gegner – man denke an den bekannten Traum Kon­ stantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke 312. Bislang wurde der Typus des Herrschertraumes nur einmal zusammenhängend untersucht: In Paul Edward Dut­ tons Studie zur karolingischen „Traumpolitik“. Im 9. Jahrhundert waren Träume und Jenseitsvisionen von und über den Herrscher und seine Familie Teil eines politischen Diskurses, an dem die großen Reichsklöster sammelnd, deutend und schreibend einen entscheidenden Anteil hatten.13 Duttons Arbeit ist bis heute die einzige Studie, welche die soziale und politische Re­ levanz von Träumen umfassend untersucht hat, obwohl Jacques Le Goff bereits in den frühen 1970er Jahren diese Perspektive umrissen und erste Arbeiten hierzu vorgelegt hat.14 Doch sowohl die seither vorgelegten interdisziplinären Konferenz- und Sam­ melbände als auch die einschlägigen monographischen Arbeiten legen die Schwer­ punkte auf den geistigen und den wissensgeschichtlichen Hintergrund oder auf die Ikonizität von Träumen.15 In diesem Beitrag soll die mediale Perspektive im Vordergrund stehen: Der Traum Heinrichs wird als ein komplexes Vermittlungsgeschehen verstanden, das die verschie­ denen Pole – Leib, Seele, Materie und Geist, Transzendenz und Immanenz – auf viel­ fältige Weise miteinander in Beziehung setzt.16 Um sozialen Sinn zu entfalten, müssen Träume mitgeteilt, gedeutet und autorisiert bzw. verworfen werden. Diese Operatio­ nen der Wahrnehmung und Sinngebung und ihre Verschiebungen im Kontext der so­ zialen, politischen und wissensgeschichtlichen Transformationen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts stehen im Mittelpunkt der Untersuchung.

13 Vgl. Dutton, The Politics of Dreaming; Kleine, Zukunft. 14 Le Goff, Les rêves, S. 299–306 (noch stark vom Paradigma der Psychoanalyse geprägt); stärker mediävistisch dann die späteren Beiträge: ders., Le christianisme et les rêves, S. 171–218; ders., Rêves (DROM). 15 Schmitt, Rêver au XIIe siècle, S. 291–316; ders., Introduction, S. 7–18; außerdem Carty, Dreams in Early Medieval Art; Bogen, Träumen und Erzählen. 16 Grundlegend für diesen Ansatz Krämer, Medium; anregend auch die mediävistischen Arbeiten von Wenzel, Vom Körper zur Schrift, S. 269–291; ders., Die fließende Rede, S. 483–503; ders., Empfängnis durch das Ohr, S. 159–180.

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I. Der Traum als mediales Geschehen Als ‚Traum‘ wird im Mittelalter ein leibseelisches Geschehen jenseits des Tagesbe­ wusstseins verstanden. Für beides, Schlaf und Traum, steht das lateinische somnium. Dieser Zustand gilt als Voraussetzung für einen Kontakt zwischen dem Menschen und dem Übernatürlichen: Das Ausschalten der äußeren, körperlichen Sinne macht den Menschen potenziell empfänglich für innere, spirituelle Wahrnehmungen und ver­ setzt ihn in die Lage, am göttlichen Vorwissen teilzuhaben. Auf diese Weise können im Traum Botschaften empfangen werden, die über das individuelle Wissen und Erleben hinaus auf Ungewusstes, Unsichtbares und (noch) Ungeschehenes verweisen. Dies ist allerdings nicht zwingend der Fall, denn Träume galten grundsätzlich als ambivalent: Vom ‚wahren‘, d. h. visionären Traum ist der ‚falsche‘ bzw. bedeutungslose Traum rein somatischen oder dämonischen Ursprungs zu unterscheiden. Um diese Unterschei­ dung geht es auch in den wichtigsten vormodernen Traumtheorien. Die konziseste und im 12. Jahrhundert stark rezipierte Traumtypologie stammt von Macrobius, der in seinem um 400 verfassten ‚Commentarium in somnio Scipionis‘ fünf Arten von Träumen unterschied und zwar nach Ursache, Sinngehalt und den Modi der Vermitt­ lung. Als visio galt ein bedeutungsvoller Traum, der das Geoffenbarte in bildhafter und authentischer Form vor Augen führte. Von der visio unterschieden sich die von einer Gottheit inspirierte Traumoffenbarung durch Worte (oraculum), das symbolisch verschlüsselte, prophetische Traumbild (somnium), sowie die von somatischen Pro­ zessen (insomnium) oder von Dämonen induzierten Träume (visum) ohne propheti­ schen Charakter.17 In ähnlicher Weise differenzierte Calcidius in seinem Kommentar zu Platons Timaios nach göttlich inspirierten (reuelatio, admonitio, spectaculum) und alltäglich-somatischen Träumen (somnium)18, während sich zur selben Zeit Augusti­ nus in seinem Genesiskommentar aus christlicher Perspektive um eine umfassende Visionstheologie bemühte, mit deren Hilfe er das Verhältnis und die epistemische Funktion von Träumen und anderen menschlichen Wahrnehmungsformen auslotete. Auf Augustinus geht das bekannte Modell der dreifachen visio (visio corporalis, visio spiritalis, visio intellectualis) zurück. Die erste bezieht sich auf die Wahrnehmung mit den äußeren, körperlichen oder fleischlichen Augen (oculi exteriores/corporales/carnales), die zweite auf solche Eindrücke, die ohne das Einwirken der körperlichen Sinne mit den inneren bzw. geistigen Augen (oculi interiores/spirituales) wahrgenommen werden. Die visio intellectualis schließlich erfolgt ganz ohne Vermittlung körperlicher oder geistiger Bilder: Es handelt sich um eine absolute, rein geistige Form der Erkennt­ nis jenseits des Sichtbaren. Das augustinische Modell beschränkt sich auf die bedeu­ tungsvollen, göttlich inspirierten Gesichte, die im Schlaf, im Wachzustand oder in der 17 18

Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 22 f. Calcidius bietet mehrere Bedeutungshierarchien an, die aber untereinander nicht wesentlich von­ einander divergieren, vgl. Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 30 f.

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Ektase empfangen werden und prophetische Züge tragen. Anders als der Traum sind sie kein alltägliches Phänomen, sondern setzen einen Zustand besonderer Empfäng­ lichkeit, den excessus beziehungsweise die extasis mentis, voraus, in dem „das Streben des Geistes (intentio animi) ganz von den körperlichen Sinnen getrennt ist“. Augus­ tinus verstand diesen Zustand als besonderes Charisma, das die Visionär:innen von den gewöhnlichen Träumer:innen unterschied. Nur den ersteren sei es möglich, die Grenzen der sichtbaren Welt hin zum göttlichen Überbewussten zu überschreiten.19 In diesem Modell wird die phänomenologisch-genetisch begründete Typologie der paganen Traumlehren durch die Einführung sozialer und ethischer Distinktionskrite­ rien – moralische Integrität, sozialer Stand, psychische Disposition der Träumenden – hierarchisiert: Denn das augustinische Deutungsmodell beschränkt die Gruppe der potenziellen Visionsempfänger im Grunde auf eine durch geistige Gaben und geistli­ chen Stand privilegierte Elite. Mit dem ‚Hiobkommentar‘ Gregors des Großen setzte sich zu Beginn des 7. Jahr­ hunderts eine kritische Haltung gegenüber Träumen und ihren vielfältigen Ursachen durch. Gregor, und ihm folgend, Isidor von Sevilla, hielten die Gefahr, die von dä­ monisch induzierten (inlusiones), durch menschliche Wahrnehmungen (cogitationes) oder körperliche Prozesse (ventris plenitudine, ventris inanitate) provozierten Träumen ausgeht, für größer als den Nutzen von prophetischen Träumen (revelationes).20 Sie seien den Heiligen vorbehalten, denen die Visionsgabe aufgrund ihrer Tugenden und mit ihr auch die Gabe der Unterscheidung von wahren und falschen Gesichten, die discretio spirituum (1 Kor 1, 10), verliehen worden war.21 Diese doppelte, pagane und patristische Tradition bildete die theoretische Basis für die Reflexionen über Formen und Ursachen menschlicher Träume in den folgenden Jahrhunderten. Während im früheren Mittelalter die gregorianische Traumlehre gro­ ßen Einfluss ausübte, wurden im 12. Jahrhundert Macrobius und Calcidius wieder stär­ ker rezipiert. Mit dem Abrücken vom gregorianischen Deutungsparadigma wurde der Traum entdämonisiert. Die pagane Traumtheorie der Spätantike stellte ein säkulares Gedankenarsenal zur Verfügung, auf dessen Grundlage das Verhältnis von Transzen­ denz und Immanenz und die Rolle von Traumbildern als vermittelnde Instanz zwi­ schen diesen Sphären in neuer Weise gedacht werden konnte: „All these theories de­ picted dreaming as a complex experience, arising from a range of possible causes, and capable of adressing a variety of divergent concerns. The late antique dream was both potentially transcendent and potentially mundane.“22

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Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 36–38; Méhu, Augustin. Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 47–50; vgl. auch Le Goff, Le christianisme et les rêves, S. 194–197 und S. 203–213. Einen Überblick bieten Guillet, Discernement, sowie Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, S. 253–264. Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 64 f.

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Die Auseinandersetzung frühscholastischer Autoren mit der neuplatonischen Wahrnehmungstheorie und die Erweiterung des Erklärungs- und Deutungshorizon­ tes um neues Wissen aus der griechisch-arabischen Naturkunde führte im 12. Jahrhun­ dert zu einer Neukonfigurierung der Rahmenrelationen, in denen sich das mensch­ liche Wahrnehmen und Handeln vollzog: Die Relation zwischen himmlischer und irdischer Sphäre, zwischen den sichtbaren und den unsichtbaren Kräften der Schöp­ fung, zwischen Mensch und Gott wurde ‚naturalisiert‘. Dies bedeutete, dass die Kor­ respondenzen und Vermittlungswege zwischen den beiden Seinsbereichen entmysti­ fiziert und neu bestimmt wurden. Als Mikro- und Makrokosmos waren beide Sphären einem gemeinsamen Regulativ – der universalen Naturordnung – unterworfen. Auch der menschliche Körper war Teil dieses naturhaft geordneten Kosmos, dessen Geset­ ze zum Gegenstand der empirisch beobachtenden, messenden und berechnenden Neugier wurden. In die Abläufe dieser sich selbst regulierenden Ordnung war Gott als Schöpfer des nach Maß und Zahl geordneten Kosmos nur noch mittelbar, als des­ sen Erstursache, involviert. Allerdings konnte er durch sein Offenbarungshandeln – in Visionen und Wundern contra naturam – die von ihm ins Werk gesetzte Ordnung jederzeit durchbrechen.23 Vor dem Hintergrund dieser neuen Verhältnisbestimmung zwischen Dies- und Jenseits vollzog sich die Synthese von spätantiken Traumlehren, griechisch-arabischer Medizin und augustinischer Visiologie. Sie brachte eine Reihe von neuen oneirokritischen Deutungskriterien hervor, welche die somatischen (d. h. mikrokosmischen) und die astronomischen (d. h. makrokosmischen) Ursachen des Traumgeschehens betrafen. Recht früh ist dieser Wandel in Chartres aufzufinden: Im ‚Macrobiuskommentar‘ Wilhelms von Conches († nach 1154) heißt es bündig: Somniorum igitur quedam causae sunt interiores, quedam exteriores. Hec somnia quorum causa est interior, nichil significant. Sed ea quorum causa est exterior aliquid significant.24 Die bedeutungslosen Träume kom­ men aus dem menschlichen Inneren, aus der Seele (ex anima) oder dem Körper (ex corpore); die bedeutungsvollen von einer äußeren Kraft. Diese von Gott inspirierten Träume können in verschiedener Gestalt erscheinen: entweder als ein Bild, welches das zukünftige Geschehen so darstellt, wie es eintreffen wird (aliquando Deus aliquid ita ut futurum est manifestat), oder als eine mündliche Traumbotschaft (aliquando introducit personam in somnis alloquentem), oder aber als ein eigentliches oder uneigent­ liches Bild (aliquando per simile vel per contrarium quod futurum est insinuat).25 Zur spätantiken Traumtheorie gesellte sich das medizinische und astrologische Wissen aus griechischen, arabischen und jüdischen Quellen sowie Teile der aristote­

23 Daston/Park, Wonders and the Order of Nature. 24 Wilhelm von Conches. Glosa super Platonem, zit. bei Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 75. 25 Wilhelm von Conches. Glosa super Platonem, zit. bei Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 75 und S. 78.

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lischen Seelenlehre. Spätestens seit dem 11. Jahrhundert, vielleicht auch schon früher, war es durch das Übersetzungswerk des Constantinus Africanus († ca. 1087) und die vielleicht schon im 9. Jahrhundert übersetzten ‚Solutiones ad Chosroem‘ des oströ­ mischen Philosophen Priskianos Lydos († nach 532) greifbar.26 Über die ‚Solutiones‘ wurde der Westen bereits vor den großen Übersetzungen mit der Essenz der aristote­ lischen Seelenlehre bekannt. Aus dem aristotelischen Postulat von der Materialität der Seele folgte unter anderem auch der Schluss, dass Träume ebenso wie andere Produk­ te rein somatischer Prozesse kein Gegenstand der Reflexion und damit epistemisch bedeutungslos seien. Die Radikalität dieser Lehre wird von Priskianos aber nicht in vollem Umfang nachvollzogen. Für ihn können Träume, obwohl (oder weil) sie an körperliche Vorgänge gebunden sind, sowohl die Ursache (causa) als auch ein Zeichen (signum) oder eine Folge (consequentia) von Erfahrungen bzw. Ereignissen sein – will heißen, sie können vergangene Erlebnisse spiegeln, zukünftige vorhersagen oder auf beides zeichenhaft verweisen.27 Wesentlich einflussreicher als die ‚Solutiones‘ war das Schriftencorpus, welches der gebürtige Carthager Constantinus († ca. 1085) nach seinem Rückzug ins Kloster Mon­ te Cassino ins Lateinische übersetzt hatte. Es versammelte das medizinische Wissen der hellenistischen, syrischen, persischen, jüdischen und muslimischen Tradition, darunter Werke von Hippokrates, Galen, Isaac ben Solomon Israeli, Theophilos Pro­ tospatharios, Ali ibn al-ʿAbbas al-Madschūsi und Johannitius (Hunain ibn Ishāq). Das constantinische Corpus vermittelte dem lateinischen Westen die Grundlagen der Ana­ tomie und Physiologie und etablierte die Humoralpathologie als universales medizini­ sches Erklärungsmodell. Neben der Pulsuntersuchung, der Diätetik und der Urosko­ pie gehörten auch die Astronomie und die Traumdeutung zu den diagnostischen und prognostischen Methoden.28 Adelard von Bath war ein früher Kenner und Vermittler dieses Wissens. In seinen Dialogen ‚De eodem et diverso‘ und den ‚Quaestiones naturales‘ finden sich Einflüs­ se sowohl der neoplatonischen als auch der griechisch-arabischen Naturlehren.29 So werden auch die spirituellen Formen des Sehens nicht auf ein besonderes Charisma zurückgeführt, sondern auf physiologische Ursachen: Adelard zufolge kommen be­ deutungsvolle Traumbilder dadurch zustande, dass die Seele im Schlaf besser dazu in der Lage ist, ihre (Seh)kraft anzuspannen (aciem stringere), „weil sie freier ist von der Störung durch die Sinne […] und etwas Wahres oder Wahrscheinliches (uerum aut uerisimile) über die Zukunft erfasst.“ Im Morgengrauen sei sie weniger von der

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Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 89–91. Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 100. D’Alverny, Translations and Translators, S. 421–462; Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 102–107. Haskins, Mediaeval Science, S. 20–42 und S. 43–66; Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 71–73.

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Verdauung der Speisen irritiert. Doch: „Solange diese hier vorherrschen, ersticken sie die Wahrheit (uerum suffocant).“30 Diese Vorstellung knüpft an die galenische Vapor-Theorie an, nach der die durch die Nahrung im Körper erzeugten Dämpfe den Schlaf hervorrufen, der seinerseits eine notwendige Bedingung für die Steuerung der Verdauung und die Regulierung des Säftehaushaltes ist. Traumgesichte, genauer, ihre Farben, Motive und stofflichen Beschaffenheiten, galten als unmittelbarer Schlüssel zu den mit ihnen verbundenen somatischen Vorgängen, denn man vermutete, dass ge­ wisse materielle Details der Traumbilder wie Farben, Geschmackseindrücke und das Vorkommen der vier Elemente auf die gerade vorherrschenden Körpersäfte verwie­ sen. Träume galten folglich als ein sinnvolles Mittel zur Diagnose und Prognose von Krankheiten und Krankheitsverläufen, weshalb sie auch im zehnten Buch – ‚De signis prognosticorum infirmi ad salutem siue mortem attinentium‘ – des von Constantinus Africanus übersetzten ‚Liber Pantegni‘ (‚Kitab al-Malaki‘) al-Madschūsis abgehandelt werden. Aus diesem Grunde wurden auch das Alter der träumenden Person, der Ort und der Zeitpunkt des Traumes mit beobachtet. Die eigentliche Traumhandlung hin­ gegen spielte bei dieser Form der medizinischen Deutung keine Rolle.31 Sowohl bei Wilhelm als auch bei Adelard werden die griechisch-arabisch Traum­ lehren mit der platonisch-galenischen Sehtheorie zusammengedacht. Denn auch das Sehen wurde als ein materieller Übertragungsvorgang verstanden, bei dem körperli­ che in unkörperliche Seheindrücke umgewandelt wurden. Als Vermittler galt entwe­ der der vom Auge ausgehende Sehstrahl (Extromission) oder der vom betrachteten Objekt ausgehende Sendestrahl (Intromission) oder eine Mischung aus beidem: In Verbindung mit dem Licht vermochte der Strahl den ertasteten Seheindruck an die Seele weiterzuleiten. Ihr körperliches Substrat war im Gehirn ansässig und über den Sehnerv mit dem Auge verbunden; sie selbst aber galt als immateriell. Als Mittlerin zwischen Körper und Geist war sie in der Lage, sowohl sinnlich-materielle als auch rein spirituelle Bilder wie Träume und Visionen zu empfangen und zu erinnern.32 Der Traum Heinrichs belegt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, dass die Rezep­ tion und geistige Aneignung der griechisch-arabischen Naturkunde in England schon sehr zeitig begann. Sie verlief in etwa parallel mit den Übersetzungen Hermanns von Carinthia und Roberts von Ketton33 und der spekulativen Naturphilosophie der Schu­ le von Chartres34 und damit bereits ein bis zwei Generationen vor der großen Überset­ 30 31 32 33 34

Adelard von Bath. De eodem et diverso, zit. nach Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 72; vgl. auch Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 87. Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 104–106. Die Theorie geht auf Galens ‚De dignotione ex insomniis‘ zurück. Schleusener-Eichholz, Auge; dies., Das Auge; Sturlese, Optik; Lindberg, Auge und Licht, S. 186–173. Haskins, Mediaeval Science, S. 43–66; Burnett, Arabic into Latin. Haskins, Mediaeval Science, S. 88–92 und S. 120–122; Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 125–246.

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zungswelle, die mit den Arbeiten Gerhards von Cremona und der Schule von Toledo einsetzte und in die bekannten Traumlehren von Autoren wie Johannes von Salisbury (1159), Pseudo-Augustinus‘ ‚De spiritu et anima‘ (1162) und Pascalis’ Romanus ‚Liber thesauri occulti‘ (1167) mündete. Eine weitere Bereicherung erfuhr die spätantike Traumlehre schließlich durch die neoplatonische Mediationstheorie des Pseudo-Dionysius Areopagita. Mit der ‚Expo­ sitio in hierarchiam coelestem‘ und dem Kommentarwerk Hugos von St. Victor stand seit ca. 1120 ein Modell himmlisch-irdischer Vermittlung zur Verfügung, in dem Engel als himmlische Boten eine zentrale Rolle spielten.35 Es bot Ansätze zu einem besseren Verständnis der spirituellen Verlaufswege von göttlich inspirierten Visionen: Engel waren die Mediatoren, welche das göttliche Wissen aus einem höheren intelligiblen Bereich in einem hierarchisch gestuften Prozess der Erleuchtung (illuminatio) an die Menschen weitervermittelten. Sie konnten – nach den Beispielen der Traumvisionen des Neuen Testaments – entweder selbst in Botengestalt erscheinen oder aber als un­ sichtbare Übermittler von körperhaften Visionsbildern aus der sichtbaren Welt wirken, mittels derer die Botschaft in symbolisch verschlüsselter Form übertragen wurde.36 Dieses Übertragungsmodell war geeignet, die Bedeutung des Sehens und die Rolle der inneren und äußeren Bilder in diesem Mediationsprozess theoretisch zu fassen und zu einer Epistemologie des Visionären zu verdichten.37 In dieser Perspektive gewinnt der Traum als Zwitterphänomen im 12. Jahrhundert an epistemologischer Bedeutung, da er die Grunddimensionen des menschlichen Seins auf eine neuartige Weise miteinander in Beziehung setzt. Er markiert die entscheiden­ de Grenze zwischen der bedeutungsvollen Wahrnehmung göttlichen Ursprungs (visio) und den durch rein körperliche Prozesse hervorgerufenen Erscheinungen ohne Sig­ nifikanz (insomnium, visum). Steht die Vision für eine bekannte Denkbewegung – die Spiritualisierung körperlicher Prozesse –,38 so der Traum für ein neuartiges Streben nach einer Somatisierung geistig-seelischer Vorgänge. Dies äußerte sich unter anderem darin, dass die Tradition der inspirierten discretio spirituum um ein neues Verfahren, die physiologisch und psychologisch fundierte Oneirokritik, ergänzt wurde. Ihr fiel die Aufgabe zu, die in ihrer Ursächlichkeit zunächst unbestimmten Gesichte zu klassi­ fizieren und sie entweder medizinisch oder theologisch zu deuten. Erst der gedeutete Traum galt als Referenzgröße, und nur der als bedeutungsvoll erkannte Traum verdien­ te es, verschriftet zu werden. Die Traumkritik stellte folglich eine epistemische Aufgabe 35

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Im 9. Jhd. wurden Teile seines Werks erstmals von Johannes Scotus Eriugena ins Lateinische übersetzt und kommentiert (darunter die zwei Bücher über die himmlische und die kirchliche Hierarchie). Einen weiteren, stärker rezipierten Kommentar zur ‚Hierarchia coelestis‘ verfasste in der ersten Hälfte des 12. Jhds. Hugo von Sankt-Viktor, vgl. Poirel, Des symboles et des anges; Obrist, Image et prophétie, S. 35–63. Meier, Nova verba prophetae, S. 71–104. Obrist, Image et prophétie, S. 49; Kleine, Elisabeth de Schönau, S. 145–192. Guerreau-Jalabert, Occident médiéval et pensée analogique.

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dar, die eine umfassende theologische, naturphilosophische und medizinische Fach­ kenntnis erforderte. Sie impliziert zugleich einen medialen Transfer- und Transforma­ tionsprozess vom flüchtigen, immateriellen, individuellen Traumbild hin zum kollektiv verfügbaren, oneirokritisch abgesicherten und sozial wirksamen Narrativ. Auf diesem Weg wurde die Traumvision sprachlich encodiert, semiotisch decodiert und materiell fixiert. Aus medialer Perspektive ist der der Traum folglich immer auch eine „élaborati­ on à posteriori“, die sich im Spannungsfeld von visuellem Erleben (Vision), Erzählung (Narration), Sinnproduktion (Interpretation), Verschriftlichung (Impagination) und Verbildlichung (Illumination) vollzieht.39 In dieser Perspektive, als Summe seiner ver­ schiedenen Vermittlungsweisen und Transformationen mitsamt ihren mannigfachen Verschränkungen und Brechungen, soll der Traum im Folgenden analysiert werden. II. Der Traum als Erzählung Den wichtigsten Zugang zum Traumgeschehen bietet der schriftliche Bericht des Jo­ hannes aus dem ‚Chronicon‘ von Worcester, redigiert um 1140. In dieser Fassung, der letzten Transmissionsetappe, präsentiert sich der Traum bereits als ein geordnetes Narrativ, dessen Erzählstruktur und Semantik einen erster Schlüssel zur Deutungsund Transmissionsgeschichte des Traumes bieten.40 Die mira uisio, wie sie genannt wird, besteht aus drei Teilträumen (Abb. 1):41 Umschrift zur linken Randzeichnung (Grimbald): Schlafend sah König Heinrich diese wundersamen Dinge (mira hec rex per somnia vidit), die der Arzt Grimbald vollständig erblickte, während er wachte (vigilando per omnia spectat). Er sprang aus dem Bett, während das Gesicht (visio) den König in Schrecken versetz­ te. Der griff zu den Waffen, erhob sich und verletzte niemanden. Wortlaut der Erzählung links und rechts der Miniaturen: Als der englische König Heinrich sich in der Normandie aufhielt (es war im dreißigsten Jahr seiner Regierung, er war 64 Jahre alt), erschien ihm in seinen Träumen ein wunder­ sames Gesicht (miranda in somnis apparuit visio). Dieses Traumgesicht bestand aus drei unter sich verschiedenen Teilen (triplex erat visio et a se diversa). Erstes Gesicht. Von Müdigkeit übermannt schläft der König ein (sopore gravatus rex obdormit). Plötzlich (ecce) sieht er ganz nahe bei sich eine große Schar von Bauern (multitudinem rusticorum) mit ihren bäuerlichen Geräten stehen (propter astare cernit). Alle wüten

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Schmitt, Rêver au XIIe siècle, S. 291. Marcello-Nizia, La rhétorique des songes; Schmitt, Rêver au XIIe siècle, S. 299–304. John of Worcester. Chronicle, S. 198–202. Zum besseren Verständnis der Transkription ist ein er­ neuter Blick ins Original (Abb. 1) erforderlich; nur so erschließt sich der komplexe und unsymme­ trische Aufbau von Erzählung, Bild und Beischriften.

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auf verschiedene Weise gegen ihn (saeuire), knirschen mit den Zähnen und verlangen von ihm die Rückzahlung ich weiß nicht welcher Schuld. Vom Traum erschreckt, erwacht er (somno territus euigilat), springt – vielleicht barfuß – von seinem Lager auf (exilit), ergreift seine Waffen, denn er wünscht Rache zu nehmen an denen, die er schlafend gesehen hat (qui somnians uiderat) – doch er findet niemanden. Bei diesem Anblick fliehen alle, die sei­ nen königlichen Leib hätten beschützen sollen. Oh, welch ein Ding ist die königliche Wür­ de! Hier ist ein König, gekleidet in Purpur, der nach dem Wort Salomons Schrecken säen sollte wie das Brüllen des Löwen [Spr 20, 2] und der selber in Träumen (in somnis) von Bauern geschreckt wird! Höre auf, König! Höre auf, irgendjemanden zu verfolgen. Kehr zurück in dein Bett und schlafe wieder ein (obdormi) – um noch Schlimmeres zu sehen! Zweites Gesicht. In den Schlaf zurückgefallen (reductus in soporem), sieht er einen gro­ ßen Trupp von Rittern (conspicit numerosam militum cohortem), die Brustpanzer über dem Leib, die Helme auf dem Kopf, in den Händen Schwerter, Lanzen, Spieße und Pfei­ le. Währest du oder irgendjemand sonst anwesend, dann sähest du die durch den Traum [hindurch] gesehenen Ritter (cerneres quisquis adesses milites per somnium uisos), wie sie versuchen – freilich vergebens – den König zu töten und in Stücke zu hauen. In seinem Schlaf vom Schrecken durchschüttelt (terrore perculsus in sopore), erfüllt der König den ganzen Palast mit entsetzlichem Geschrei. ‚Zu Hilfe!‘, ruft er, ‚zu Hilfe!‘ Als er so schreit, schüttelt er den Schlaf aus den Augen (somnum oculis excutit). Er springt auf, ergreift sein Schwert und will zuschlagen, findet aber niemanden, den er verletzen könnte. Überschrift zum dritten Bild: Bischöfe, Äbte und Prioren stehen bei ihm (astant), um geraubtes Kirchengut zurückzu­ fordern. Ein drittes Mal tut der König dem Schlaf Genüge (satisfaciens somno) und sieht nun Erz­ bischöfe, Äbte, Dekane und Prioren mit ihren Hirtenstäben bei sich stehen (aspectat astare). Mit einem scharfen Verstand könntest du bemerken (intellectu perspicaci coniceres), wie sich ihre Stimmung plötzlich verändert und wie sie den Respekt vor der Barmherzig­ keit des Königs wegen der Beraubung des Kirchenguts beibehalten. Sie betrachten sei­ ne furchteinflößende Gestalt und seinen von ihnen beinahe abgewandten Blick, und es scheint, als wollten sie ihn drohend mit den Spitzen ihrer Stäbe anstacheln. In einem geheimen Winkel des Palastes versteckt (secreto angulo latens), schaut jemand se­ hend diese staunenswerten Dinge (hec mira uidens uidit quidam). Solange die Nacht währt, schweigt er über alles. Das war Grimbald, der sehr bewandert war in der medizinischen Kunst. Er erzählte in Winchcombe – ich war zugegen und hörte es – alles dem Abt des Klosters, Gottfried. Beim ersten Tageslicht trat derselbe Mann zum König, der noch zu Bette lag (lecto cubantem), und befragte ihn über das, was er mit ihm [gemeinsam] ge­ schaut hatte (questionem de his que uiderat cum eo facit). Der König erzählte ihm alles, was er im Traum erduldet hatte (in somnis pertulerat enarrauit). Dieses legte ihm Grimbald, der ein Mann von großer Weisheit ist und nun zu seinen Vertrauten gehört, wahrheitsgemäß

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aus (in uera coniectura exposuit) und ermahnte ihn, seine Sünden durch Almosen wieder­ gutzumachen, so wie es einst Nebukadnezar auf den Rat Daniels tat.42

Hier endet die eigentliche Traumerzählung. Über die Deutung (coniectura) des Arztes schweigt der Chronist, doch die äußeren Umstände schildert er ausführlich. Die drei Teilträume ereilen den König während des nächtlichen Schlafes. Die Erzählung betont die passive Haltung des Träumenden: Er wird vom Schlaf „übermannt“ oder „ergibt sich“ seiner Mattigkeit und den folgenden Träumen, wie die Formulierungen somno satisfacere, reductus in somnis, sopore gravatus nahelegen. Die Darstellung zeigt einen Körper im Zustand der Wehrlosigkeit, der von den Traumgestalten überfallen wird. Ganz plötzlich und unvermittelt (ecce) stehen bzw. erscheinen die Personen neben ihm (astare, apparere), so dass die Grenze zwischen Traumbild und realer Begegnung aufgehoben erscheint. Die Traumgestalten entspringen der Alltagswelt, werden aber im Medium des Traumes wahrgenommen (per somnium visos) und fungieren hier als Überbringer einer Traumbotschaft, die nicht in Worte gefasst, sondern lediglich durch den Habitus, die Gesten und die Insiginen (instrumenta) der Traumboten zum Aus­ druck gebracht wird: Die Bauern toben (saeuire) und knirschen drohend mit den Zäh­ nen, die Ritter wollen den König gar töten (occidere). Die Prälaten hingegen begnügen sich mit sanften Drohungen. Keiner freilich kann dem Träumenden ernsthaften Scha­ den zufügen. Eine direkte Berührung – das Sticheln mit dem Bischofsstab – wird nur einmal explizit erwähnt. Die dreifache Wiederholung der gleichen Ereignissequenz steigert die Schreckenswirkung des Traumes und betont die Dringlichkeit der Bot­ schaft, die gleichwohl nur in verschlüsselter Form übermittelt wird. Im Vordergrund des Traumgeschehens stehen die visuellen Eindrücke: videre (im­ mer aktiv) ist das durchgängig verwendete Verb, (a)spectare, cernere bzw. das Substantiv visio werden seltener gebraucht. Auditive, olfaktorische oder taktile Wahrnehmungen werden nicht erwähnt. Die Grenzen zwischen dem Sehen im Schlaf und dem Sehen im Wachzustand sind fließend und semantisch nicht markiert (für beides steht uidere, cernere bzw. spectare). Nicht nur der König hat Mühe, zwischen dem Traumbild und der Wirklichkeit zu unterscheiden, so wenn er, noch bevor er erwacht ist, zu den Waffen greift. Auch die äußeren Betrachter – Grimbald, der Arzt, und die vom Autor direkt angesprochenen Leser:innen – werden mit in das Traumgeschehen einbezogen, so als könnten sie nicht nur den schlafenden König beobachten, sondern auch die Traumi­ maginationen unmittelbar mitverfolgen. Zu Grimbald heißt es ausdrücklich, er habe die Träume des Königs ebenfalls geschaut (spectat) bzw. sie mit ihm geträumt (viderat cum eo), und zwar sehenden Auges (uidens uidit) oder, noch präziser, im Wachzustand 42

John of Worcester. Chronicle, S. 198–202; die Übersetzung ist angelehnt an den Vorschlag von Ca­ rozzi, Die drei Stände, aber mit zahlreichen Präzisierungen im Hinblick auf die Semantik des Schlafens, Träumens und Sehens. Zur Traumsemantik vgl. auch Schmitt, Rêver au XIIe siècle, S. 293 f.

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(vigilando). Mit diesem Detail stellt der Chronist einen impliziten Bezug zum ersten Traum Nebukadnezars vom Standbild und den Weltreichen her (Dan 2,1–49). Dort heißt es nämlich, dass Daniel, mit dem Grimbald an anderer Stelle explizit verglichen wird, der Inhalt des vom König geheim gehaltenen Traumes in einer nächtlichen Paral­ lelvision offenbart worden sei (Dan 2,20). Dieser biblische Verweis weist den medicus Grimbald als einen echten Visionär aus.43 Von ihrem Inhalt her ist die visio ein Warntraum von zunächst unbestimmtem Charakter: Ob es sich um ein dämonisches Trugbild (visum), ein somatisches Ge­ schehen ohne (insomnium) bzw. mit einem vorausweisenden Sinn (somnium) oder einen bedeutungsvollen Traum (visio) handelt, bedarf der Prüfung und Auslegung (coniectura). An dieser Stelle kommt als erster Traumzeuge und -deuter Grimbald ins Spiel. Als Visionär sowie als außerordentlich kluger und in der medizinischen Kunst bewanderter Mann (vir illustris prudentie medicine artis peritus) wird ihm eine dop­ pelte Befähigung attestiert. Doch wie der Arzt dem König den Traum auslegt, bleibt ungesagt. Lediglich indirekt, durch den Hinweis auf das simultane Erleben desselben Traumes sowie durch die Bezeichnung als mira visio, kennzeichnet der Chronist den Traum als ein bedeutungsvolles Gesicht. Diese bezeichnende narrative Leerstelle wird lediglich durch den Hinweis überbrückt, dass der Chronist Johannes den Traum (und vermutlich auch dessen Deutung) von Grimbald persönlich mitgeteilt bekommen hat. In seiner Rolle als doppelter Zeuge, nämlich Augen- und Ohrenzeuge, ist dieser eine wichtige Instanz der Wissensübertragung. Seine Aufgabe ist es – hier sei noch einmal auf die medienphilosophischen Hypothesen Sybille Krämers Bezug genommen –, das sinnlich Wahrgenommene zu diskursivieren und so auch für ein Publikum von Nicht­ wissenden evident zu machen: „Die private Innenwelt des Erlebens ist in ein öffent­ liches Statement, Mentales in sozial Zugängliches zu verwandeln.“44 Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass das Wahrgenommene auch tatsächlich diskursivierbar ist, was besonders bei liminalen Erfahrungen wie dem Traum ein Problem darstellt. Es gilt, das zu bezeugen, was öffentlich gerade nicht zugänglich ist.45 In ihrer Struktur und Semantik hebt die Narration diejenigen Eigenschaften hervor, die den Traum als ein mediales Geschehen im Sinne Krämers kennzeichnen: einen Vorgang der Übertragung, der ein unbekanntes, unsichtbares oder ungewusstes Er­ leben wahrnehmbar macht. Das Grundmodell besteht in einer triadischen Relation von Träumendem, Traumboten (Traumfiguren) und Traumzeugen – in diesem Fall 43

44 45

Die Fähigkeit zur visionären Schau im Wachzustand nimmt z. B. Hildegard von Bingen für sich in Anspruch, dies auch, um eine Verwechslung der Vision mit trügerischen Traumbildern auszu­ schließen, vgl. z. B. Schmitt, Hildegarde de Bingen; Newman, Hildegard of Bingen; McGinn, Hildegard of Bingen. Krämer, Medium, S. 231 und S. 237 (Zitat). Krämer, Medium, S. 247. Als Beispiel für diese Form von existenziellen, kaum diskursiv vermit­ telbaren Erfahrungen verweist Krämer auf das Beispiel der Märtyrer und der Apostel als Zeugen der Auferstehung.

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handelt es sich sogar um zwei Traumzeugen, Grimbald und Johannes. Diese drei Pole bestimmen das mediale Feld, ohne das der Traum sozial irrelevant wäre.46 Besonders hervorgehoben wird die Rolle Grimbalds, der als Mitträumender, als Beobachter und Zuhörer, als Traumdeuter und als mündlicher Berichterstatter in mehrfacher Funktion auftritt. Der zweite, nicht unmittelbar ins Geschehen eingebundene Traumzeuge ist der Chronist selbst: Auch er fungiert als Zuhörer und Berichterstatter, der den Traum durch die abschließende Dokumentation – einen kombinierten Akt der mise en récit, mise en page (mise par écrit und mise en image) und mise en livre – narrativ und iko­ nisch stabilisiert und ihm eine dauerhafte materielle Gestalt verleiht. Dass diese Akte der Narrativierung, Impagination und Kodifizierung mit einer eigenen Deutung ver­ bunden sind, liegt auf der Hand. Durch die sprachliche und ikonische Gestaltung der Traumerzählung und durch ihre Einbettung in das große Narrativ der Chronik setzt Johannes eigene Deutungsakzente. Obwohl er durch den Verweis auf den Augenzeu­ gen Grimbald Unmittelbarkeit, Authentizität und Neutralität suggeriert, macht er sich keinesfalls zum getreuen Übermittler von dessen Deutung: Durch die Übertragung des Vorgefundenen in neue Ausdrucksformen und Sinnzusammenhänge transfor­ miert Johannes vielmehr die empfangene Botschaft und wird – nolens et volens – zum Schöpfer einer neuen Aussage. Um zu zeigen, auf welche Weise Medien das, was sie übertragen, zugleich auch erzeugen, sei zunächst ein Blick auf die Miniatur geworfen.47 III. Der Traum als Bild Die Bildkomposition besteht aus vier Teilminiaturen, die auf zwei Doppelseiten (S. 382 f.) angeordnet sind. Die begleitende Erzählung umrahmt jeweils das Teilbild, auf das sie sich bezieht. Das Traumgesicht (triplex visio) ist Gegenstand der ersten drei Register; das vierte illustriert eine Episode, die Johannes auf den Traumbericht folgen lässt: Auf der Rückfahrt von der Normandie nach England gerät Heinrich mit seinem Gefolge in einen Meeressturm, aus dem er durch ein Votum gerettet wird: Er gelobt eine Wallfahrt nach Bury St. Edmunds und verspricht, die Erhebung des Danegeldes für sieben Jahre auszusetzen.48 Beide Ereignisse, Traum und Meeressturm, datiert Johannes auf das Jahr 1130; sie haben aber aller Wahrscheinlichkeit erst im Folgejahr

46 47 48

Schmitt, Le sujet du rêve, S. 295 f. Krämer, Konstitutionsleistung, S. 80. John of Worcester. Chronicle, S. 201. Die Pipe Roll von 1130 lässt vermuten, dass die Steuer in die­ sem Jahr noch erhoben wurde, vgl. Green, The Last Century of Danegeld; dies., The Govern­ ment of Henry I, S. 69 f. Unter Heinrich wurden aber durch königliche Privilegien zahlreiche Ex­ emtionen ausgesprochen; eine solche Befreiung von der Steuer ist auch für das Kathedralkapitel von Worcester bezeugt, vgl. ebd., S. 152.

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stattgefunden: Für 1131 sind der Aufenthalt in der Normandie ebenso bezeugt wie die Überfahrt nach England und ein knapp abgewendeter Schiffbruch des Königs.49 Die Bildkomposition fasst die beiden sukzessiven Episoden, Warntraum und Ret­ tungswunder, zu einer narrativen Einheit zusammen. Beide werden als zeichenhafte, bedeutungsvolle Ereignisse verstanden, die aufeinander verweisen. Der Traum wird in drei aufeinanderfolgenden Szenen visualisiert. Am linken Rand jeder Teilminiatur ist, vom Traumbild durch einen Schriftblock getrennt, jeweils die Figur des Arztes Grim­ bald zu sehen. Auf allen drei Miniaturen ist der König in der typischen Haltung des Schlafenden am unteren Bildrand platziert: liegend, mit geschlossenen Augen, ruhi­ gen Gesichtszügen, halb aufgerichtetem Oberkörper und in die Hand gestützter Wan­ ge bzw. auf ein Kissen gebettetem Haupt. Nur die Krone markiert seinen königlichen Rang; der Rest des Körpers ist von einer kunstvoll drapierten Decke mit vierfachem Faltenwurf umhüllt. Im oberen Bildregister ist das eigentliche Traumbild dargestellt. Nacheinander erscheinen oberhalb des ruhenden Königs die drei Ständegruppen, in aufsteigender Anzahl und versehen mit ihren Insignien: drei Personen mit Acker­ gerät und einer Schriftrolle, vier Personen in Rüstung mit gezückten Schwertern und Lanzen und fünf Personen in Mönchs- bzw. Bischofsgewandung, die Hirtenstäbe, Kirchenmodelle und eine Schriftrolle tragen. Die Grenze zwischen Träumendem und Traumbild ist lediglich durch den Gegensatz zwischen der Horizontalität des Schla­ fenden und der Vertikalität der Traumgestalten markiert. In der zweiten Teilminiatur wird sie zusätzlich durch den farblichen Gegensatz zwischen dem leuchtendend roten Hintergrund der Traumsphäre und dem dunklen Grün der Decke akzentuiert, das die Sphäre des schlafenden Königs bestimmt. Bauern und Ritter dringen mit ihren Händen, teilweise auch mit ihren Waffen und Geräten, bedrohlich auf den König ein – im Text heißt es, dass sie „wüten und mit den Zähnen knirschen“ (Bauern) bzw. dass sie den König „töten und in Stücke hauen wollten, wenn sie denn könnten“ (Ritter). Ihre übergroßen Gesichtszüge sind grob gezeichnet; die weit aufgerissenen Augen, stark gebogenen Nasen und geöffneten Münder signalisieren Zorn und Gewalt. Die Geistlichen hingegen haben ruhige, wohl­ proportionierte Gesichtszüge und eine verhaltene Gestik; sie scheinen den König mit den Spitzen ihrer Stäbe lediglich „anzustacheln“ (appetere), wie es in der Erzählung heißt. An dieser Stelle wird zum einzigen Male die Grenze zum Traumbild durchbro­ chen: Hier berührt der Stab des Bischofs im Vordergrund das Herz des Königs. In al­ len anderen Fällen können die ‚Waffen‘ der handelnden Personen dem ruhenden Leib, insbesondere dem bekrönten Haupt, nichts anhaben. Als Begründung für die Angriffe von allen drei Seiten wird eine vom König nicht beglichene Schuld genannt – bei den Geistlichen wird explizit die „Beraubung“ (di-

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Auf 1131 datieren u. a. die Anglo-Saxon Chronicle und Henry von Huntingdon in seiner ‚Historia Anglorum‘ das Ereignis. Zur Historizität vgl. auch Hollister, Henry I, S. 353 f.

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reptio) von Kirchengut erwähnt. Angespielt wird hier auf die Praxis, die Einkünfte va­ kanter Bischofsstühle einzuziehen. Heinrich hatte bei der Übernahme des englischen Königstitels 1100 versprochen, den übermäßigen Gebrauch des Spolienrechtes zu be­ grenzen und Neubesetzungen nicht unnötig hinauszuzögern.50 Für beide Forderun­ gen, die der Bauern und die der Geistlichkeit, steht das Attribut der Schriftrollen, für das Verhalten der Ritter wird gar keine Begründung gegeben. Während die Traumfiguren durch ihre Dynamik Bedrohung signalisieren, bleibt der König im unteren Bildregister bewegungs- und tatenlos. Er wird in Entsprechung zur Ikonographie bekannter biblischer Traumepisoden ( Joseph, Nebukadnezar und Jacob) als friedlich und wehrlos Schlafender dargestellt.51 Die Gestalter übernehmen diese kanonische Bildformel, ohne sie an die Erzählung anzupassen. Erst der Text bietet die entscheidenden Verdeutlichungen: Nach den ersten beiden Traumgesich­ ten schreckt der König auf, ruft um Hilfe und greift barfuß zu den Waffen, um sich, hilflos umherfuchtelnd, gegen den unsichtbaren Gegner zu verteidigen. Verschreckt wird hingegen die königliche Leibgarde, die die Flucht ergreift, was der Text dadurch kommentiert, dass er an dieser Stelle an das Vorbild des löwengleichen König Salomo erinnert, mit dem sich Heinrich auch sonst gern vergleichen ließ: Die kurz zuvor ent­ standenen Merlinprophetien Geoffreys von Monmouth evozieren einen „Löwen der Gerechtigkeit“, vor dessen Brüllen die Normandie und die britischen Inseln erzittern und das alle wilden Tiere zum Frieden zwingt.52 Das zentrale Motiv der Traumvision ist die auf den Kopf gestellte soziale Ordnung. Versinnbildlicht wird sie durch die drei Stände, die sich – von unten nach oben – gegen ihren König erheben. Hiermit verstoßen sie nicht nur gegen die gottgewollte gesellschaftliche Hierarchie, sondern auch gegen die ihnen zugewiesenen Aufgaben. Dies gilt besonders für die rustici und die milites: Statt den König durch die Früchte ihre Arbeit zu nähren oder ihn mit ihren Waffen zu beschützen, kehren sie ihre Ar­ beitsinstrumente fordernd und drohend gegen ihn. Zwar wird hier weder von Ständen (ordines) noch von ihren funktionalen Beziehungen explizit gesprochen, doch setzt das Traumbild die Vertrautheit mit dem tripartiten ordo-Modell voraus, das von angel­ sächsischen und anglonormannischen Autoren wie Alfred dem Großen, Aelfric von Eynsham, Bischof Wulfstan I. von Worcester, Anselm von Canterbury, Gilbert von Limerick und Adalbero von Laon zwischen dem ausgehenden 9. und dem 11. Jahrhun­ dert geprägt worden war.53

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Green, The Government of Henry I, S. 19 f.; dies., Henry I, S. 262–266; zum repressiven Abga­ bensystem ebd., S. 241. Schütz, Traum; Dinkler-von Schubert, Schlaf; Schmitt, Récits et images; ders., Bildhaf­ tes Denken, S. 9–29; Bogen, Träumen und Erzählen, S. 22–31. Geoffrey of Monmouth. History, S. 80–82. Duby, Die drei Ordnungen, S. 151–176; Oexle, Die funktionale Dreiteilung; Carozzi, Die drei Stände, S. 156.

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Allerdings fällt auf, dass nicht die Ordnung zwischen den einzelnen Ständen gestört ist, sondern ihr Verhältnis zum Herrscher. Dass übrigens einzig die Geistlichkeit in dieser Beziehung ohne größeren Makel dasteht, dürfte der klerikalen Autorenperspek­ tive geschuldet sein. Trotz ihrer berechtigten Forderungen zollen die Geistlichen der königlichen Majestät den gebührenden Respekt, den Heinrich durch den drohenden Entzug der königlichen Huld einfordert. Doch haben nicht nur die Untertanen ihre Pflichten verletzt, sondern auch der Herrscher. Im Grunde ist er sogar der Haupt­ schuldige, nicht nur, weil sich an ihn die Mahnung des Traumes und die Aufforde­ rung zur Besserung richtet, sondern auch, weil er – im Text weitaus deutlicher als im Bild – als schwache, bisweilen geradezu klägliche Figur erscheint. Im Angesicht der irrealen Bedrohung verliert er seine königliche Würde: Barfuß (statt im Purpurge­ wand), um Hilfe rufend (statt wie ein Löwe respektheischend zu brüllen), hilflos mit dem Schwerte um sich schlagend und von seinen engsten Begleitern verlassen, steht er sinnbildlich für den Herrscher am Ende seiner Macht. Hierin, im drohenden Verlust seines Königtums, liegt offensichtlich die prophetische Botschaft der Traumvision. In diesem Sinne ist auch die ikonographische Darstellung des Königs zu verstehen. Der schlafende Herrscher wird hier nicht als Sinnbild christlicher Friedfertigkeit, sondern als Exempel mangelnder Wachsamkeit vorgestellt. Ein schlafender Herrscher ist ein pflichtvergessener Herrscher, und einem ängstlichen König fehlt es an der Autorität, derer es bedarf, um den Frieden der Gesellschaft zu garantieren. In ihrer Größe und Farbigkeit signalisiert die Miniatur den Vorrang des Bildes vor der Schrift als Instrument der Vermittlung der Traumbotschaft. Die Schrift ist weitaus weniger sorgfältig ausgeführt als die Zeichnung, deren einzelnen Teile sie umrahmt, wobei sie sich auch recht ungeordnet in die Zwischenräume und an den Seitenrand drängt. Diese Anordnung lässt vermuten, dass die Miniaturen vor der Niederschrift des Textes entstanden sind und der Text hier das Bild, nicht das Bild den Text kom­ mentiert. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die epistemische Funktion des Bildes. Seine dominante Position mutet wie ein Versuch an, statt auf die Erzählung zunächst ganz auf die unmittelbare Evidenz des Bildes zu setzen und die zum Verständnis nöti­ gen narrativen Ergänzungen durch Bildtituli zu vermitteln. In ihrer lebhaften Farbig­ keit beansprucht die Miniatur selbst Erscheinungscharakter, indem sie behauptet, mit dem Traumbild identisch zu sein:54 Sie ist kein gewöhnliches Bild, das auf ein kör­ perhaftes Vorbild verweist, sondern das materielle Abbild einer körperlosen Illusion. Diese referenzielle Ambiguität ist eine mediale Strategie, die in der Ikonographie von Träumen und Visionen häufig zu beobachten ist – Silke Tammen deutet sie als eine Antwort auf das grundsätzliche Problem, vor das sich die Gestalter bei der „Inszenie­ rung des spirituellen Sehens im Bilde“ gestellt sahen. Es ging um die Herausforderung, „das Bild über sich selbst hinaus als Medium der Offenbarung […] ‚sprechen‘ zu las­

54

Schmitt, Introduction, S. 12 f.

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sen.“55 Gewöhnlich geht die Text-Bild-Forschung davon aus, dass materielle Bilder zu ihrer Wirkung durch die spirituelle Kraft der menschlichen Imagination – durch innere Bilder also – animiert werden müssen.56 Doch auch das Umgekehrte ist mög­ lich: Materielle Bilder können, wie in unserem Fall, auch dazu dienen, den körperlosen menschlichen Imaginationen (Traum- und Visionsbildern) eine materielle Gestalt zu verleihen, sie in einer „image-objet“ zu verkörpern.57 Oder, wie ich es in Anlehnung an einen Gedanken von Steffen Bogen formulieren möchte: Das materielle Abbild ist das Medium, das es ermöglicht, das Projizierte, „das kein eigenes Dasein besitzt, den­ noch mit den leiblichen Augen zu sehen.“58 In diesem Fall macht sich das Medium selbst unsichtbar, indem es den Betrachter ohne Umschweife wieder auf seine eigenen Imaginationen, seine inneren Blicke, zurückverweist. Dieser mediale Kurzschluss ist ein suggestives epistemisches ‚tool‘, eine Strategie der „présentification“ ( Jean-Claude Schmitt), die auf die Simultaneität von Sehen und Verstehen zielt.59 Von einem Kurzschluss ist auch deswegen zu sprechen, weil die Miniatur ganz of­ fensichtlich nicht auf das Traumgesicht, sondern auf die Traumerzählung referiert: Das zeigt bereits die Verschränkung der Innen- und Außenperspektive: Dargestellt sind sowohl das Traumgesicht als auch die Sicht auf den träumenden König und die Figur des Traumdeuters Grimbald. Dies alles aus der Perspektive des Buchbetrachters, der durch den plötzlichen Übergang vom Perfekt ins Präsens und den Wechsel der Erzählperspektive in das visionäre Geschehen miteinbezogen wird. In seiner besonde­ ren Funktion, als Mit-Seher, der das Geschehen ‚durch-schaut‘, es gleichermaßen sieht und beobachtet, ist Grimbald an der Schwelle zwischen Bild und Schrift platziert.60 Die giebelförmige Umschrift zur Darstellung des Arztes im ersten Traumbild bietet eine (inhaltlich redundante) Zusammenfassung des Traumgesichts, die die Doppel­ perspektive Grimbalds und dessen Rang als eine zentrale Mittlerfigur noch einmal besonders hervorhebt: „Schlafend sah König Heinrich diese wundersamen Dinge, die der Arzt Grimbald vollständig erblickte, während er wachte. Er [Grimbald] sprang aus dem Bett, während das Gesicht den König in Schrecken versetzte.“ Das Bild erweist sich hier als ein Medium, welches nicht nur die Traumvision, son­ dern auch ihre mehrfach gebrochenen Vermittlungsebenen anschaulich zu machen beansprucht und gegenüber dem Text einen Bedeutungsüberschuss produziert. Um­ gekehrt aber sind wichtige Details der Erzählung – das zwischenzeitliche Erwachen, 55 56 57

58 59 60

Tammen, Wahrnehmung, S. 383. Wenzel, Die Narrativik der Bilder. Baschet, Introduction; vgl. auch Krämer, Medium, S. 135: „Bilder bergen auch ein Stück Magie in Gestalt einer realen Wirkungsweise des Abgebildeten, sie sind zugleich unterschieden und un­ unterschieden von dem, was sie darstellen. […] Sie sind die lebendige Gegenwart in einer Ferne, das Hineinragen des Abwesenden in das Anwesende.“ Bogen, Träumen und Erzählen, S. 47–49, Zitat S. 48 f. Schmitt, Introduction; zu diesem Zusammenhang auch Obrist, Image et prophétie, S. 47. Dies in Anlehnung an einen Gedanken von Tammen, Wahrnehmung, S. 384.

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der Schrecken und die hilflosen Verteidigungsversuche des Königs – nicht in das Bild eingegangen. Schrift und Bild, Miniatur und Narration sind nicht analog konstruiert, sondern fol­ gen einer jeweils eigenen Logik, indem sie spezifische Ebenen – die Handlungsebene (Narration, visualisiert durch die Schrift) und die Vermittlungsebene (repräsentiert durch das Bild) – auf ihre jeweils eigene Weise wahrnehmbar machen. Eigentümlich für das Visionsbild ist das bewusste Changieren zwischen Epiphanie und kalkulier­ ter visueller Inszenierung. Zugleich erweist sich, dass die kühne Kombinatorik dieser nicht durch eine vertraute Erzähltradition gestützten Bildkomposition hier – anders als bei den Bibelillustrationen – nicht selbsterklärend ist und sich ihr Sinn folglich erst im Zusammenwirken von Bild und Narration offenbart. IV. Der Traum als Geschichtsprophetie: die Deutung des Johannes von Worcester Niedergeschrieben wurde die Traumepisode ein Jahrzehnt nach dem behaupteten Ereignis. Sie findet sich im letzten Teil des ‚Chronicon ex chronicis‘, einer Weltchro­ nik, an der zwischen ca. 1080 und 1140 im Konvent von Worcester gearbeitet wurde. Das Werk war von Bischof Wulfstan II. († 1095) in Auftrag gegeben und von mehreren Mönchen kompiliert worden, unter ihnen ein gewisser Florentius († 1118) und ‚unser‘ Chronist Johannes. Für die Zeit bis ca. 1070 wurde die Chronik des in Mainz leben­ den irischen Mönches Marianus Scotus benutzt; für die Jahre ab 1100 stützte man sich dann auf Eadmers ‚Historia novorum‘ sowie die ‚Anglo Saxon Chronicle‘.61 Den Quellen entsprechend liegt der Fokus bis 1122 auf der Kirchenreform, dem In­ vestiturstreit und den Reformkonzilien; danach verengt er sich zunehmend auf die Geschichte der englischen Doppelmonarchie und das Problem der Thronfolge. Die Kontinuität der durch Wilhelm den Eroberer begründeten Dynastie drohte abzubre­ chen, nachdem Heinrichs einziger legitimer Sohn Wilhelm Ætheling 1120 bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen war und Heinrichs zweite, 1121 geschlossene Ehe mit Adelheid von Leuven kinderlos zu bleiben drohte. Nach Heinrichs Tod 1135 stehen die politischen Kämpfe zwischen den Anhängern des Nachfolgers Stephan von Blo­ is und Heinrichs Tochter Mathilde im Mittelpunkt der Darstellung. Mathilde, Witwe Kaiser Heinrichs V. und seit 1126 in zweiter Ehe mit Gottfried von Anjou verheiratet, war von Heinrich als Nachfolgerin designiert worden. Im Januar 1127 hatte Heinrich seine geistlichen und weltlichen Barone einen Treueeid auf Mathilde schwören lassen. Dessen ungeachtet gelang es seinem Neffen Stephan 1135, die englische Aristokratie

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Gransden, Historical Writing, S. 144 f.; dies., Cultural Transition, S. 107–124; Brett, John of Worcester, sowie die Einleitung von McGurk in John of Worcester. Chronicle III, S. xix–xxviii.

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für sich zu gewinnen und sich in England durchzusetzen. Doch nachdem Mathilde sich 1139 ebenfalls anschickte, ihre Thronansprüche geltend zu machen, begann ein 15 Jahre währender Bürgerkrieg, in dessen Gefolge die geistlichen und weltlichen Barone versuchten, in rasch wechselnden Allianzen ihre eigenen Macht- und Besitzansprüche zur Geltung zu bringen.62 Die Aufzeichnung der Ereignisse seit 1127 ist das Werk des Johannes von Worcester. Seine Bearbeitung beginnt auf S. 379 der Handschrift. Die­ ser zeitgeschichtliche Teil der Chronik hat keine Vorbilder; Johannes berichtet hier ganz offensichtlich als unmittelbarer Zeitzeuge. Im Oxforder Manuskript endet die Chronik mit dem Jahr 1140. Nachträge bis 1141/42 finden sich in einer Handschrift aus Gloucester; sie wurden von einem dortigen Chronisten angefügt.63 Das Werk ist in fünf Handschriften aus dem 12. Jahrhundert überliefert. Die hier herangezogene Handschrift (Corpus Christi College Ms. 157) ist die älteste erhaltene. Sie wurde zwischen 1118 und 1140 von drei Händen geschrieben: bis 1128 (Hand 1) als Reinschrift nach einer älteren Vorlage, von da an als kontinuierlich fortgeführte Ar­ beitshandschrift, an der zwei weitere Schreiber wirkten, die auch die älteren Teile mit zahlreichen Annotationen versahen. Bemerkenswert ist, dass die knappen Einträge zu den Jahren 1128 bis 1130/1131 (S. 379 f.) einige Jahre später, und zwar nach dem Tode Heinrichs und der Krönung Stephans von Blois im Dezember 1135, von der dritten, Johannes von Worcester zugeschriebenen Schreiberhand radiert und überschrieben wurden. Die Neuredaktion beginnt mit dem Bericht des Konzils von London 1127 und dem Treueeid der Barone auf Mathilde (Abb. 2). Johannes datiert dieses Ereignis aller­ dings auf 1128 und schildert es in großer Ausführlichkeit.64 Der auf Rasur geschriebene Eintrag beginnt mit dem rubrizierten Titel: De iuramento iam mutato in periurium, in multorum periculum. Bei der folgenden Zeremonie, die un­ ter den Auspizien Bischof Rogers von Salisbury und im Beisein Mathildes stattfand, geschah es, dass die weltlichen vor den geistlichen Baronen zum Schwur gerufen wur­ den. Als der Abt von Bury St Edmunds wegen der Zurücksetzung der Äbte Beschwer­ de erhob, wurde er vom König barsch zurechtgewiesen und mit den übrigen Geistli­ chen zum Schwur gerufen. Johannes fasst den königlichen Gehorsamsbefehl in durch Rubrizierung hervorgehobene Verse: Et quidquid iam factus . stet sicut cernitis actus . Fari cessate . mora nulla fate . appropinquate . iuratoteque vos . ut nos iurauimus omnes . Abbates iurant . regem placent quia curant.65 Johannes zufolge trägt also der König die Verantwortung dafür, dass bei diesem religiösen Ritual die traditionelle Schwurord­

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Dalton, Alliance and Intelligence, S. 80–97; Crouch, Reign of King Stephen, S. 24–29, S. 30–41 und S. 107–230; King, King Stephen, S. 41–81 und S. 115–174; vgl. für eine konzise Darstellung ders., Introduction, S. 1–37, sowie Stringer, The Reign of Stephen, S. 1–48. John of Worcester. Chronicle III, Einleitung, S. xxxf. John of Worcester. Chronicle III, S. 172–197 (Edition), S. xxxii–xl (Einleitung). John of Worcester. Chronicle III, S. 179; Handschrift S. 380.

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nung, die den Vorrang der Geistlichen gebot, auf den Kopf gestellt und die Majestät Gottes verletzt wurde. Im ursprünglichen, dann aber radierten Teil der Chronik war dieses Ereignis nicht erwähnt worden; ein kurzer Bericht vom Londoner Konzil fin­ det sich aber an anderer, chronologisch richtiger Stelle, nämlich im Eintrag zum Jahr 1126/27, hier allerdings ohne genaue Angaben zum Ablauf der Zeremonie.66 In Kennt­ nis des weiteren Geschichtsverlaufs hat Johannes den Konzilsbericht dann dupliziert und die zweite, ausführliche Version dem folgenden Jahr 1128 zugeordnet. In dieser Form stilisiert er den fehlgegangenen Eid zu einem Vorverweis auf den Traum von 1130/31, mit dem er das Motiv der verkehrten sozialen Hierarchie teilt. Den Traum wiederum inszeniert Johannes als ein Omen für die Zeit nach 1135, als die Barone den Eid tatsächlich gebrochen und den Umsturz der sozialen Ordnung besiegelt hatten.67 Auf den Konzilsbericht lässt Johannes auf Seite 380 der Handschrift die Schilde­ rung einer ungewöhnlichen Himmelserscheinung folgen, die sich einen knappen Mo­ nat vor dem behaupteten Termin zugetragen haben soll: Im dritten Jahr Lothars, Kaiser der Römer, im achtundzwanzigsten Jahr Heinrichs, König der Engländer, im zweiten Jahr der 470. Olympiade, in der siebten Indiktion, im fünfund­ zwanzigsten Mond, an einem Samstag dem 8. Dezember [1127], erschienen vom Morgen bis zum Abend zwei schwarze Scheiben vor der Sonne. Die erste befand sich im oberen Teil und war groß, die zweite im unteren Teil und war klein, wie in der folgenden figura zu sehen ist. (Abb. 3)

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John of Worcester. Chronicle III, S. 166: Finitis diebus festiuioribus, rex ac tota qui confluxerat dignitas regni Lundoniam uadit, ibique ad iussum regis, Willelmus archiepiscopus et ecclesie Romane legatus, ceterique Anglice regionis episopi omnes, cum principibus terre ipsius, fide et sacramento spoponderunt filie regis se totum regnum Anglorum illi contra omnes defensurus, si patrem suum superuiueret, nisi de legali coniugio filium qui sibi succederet, adhuc ante obitum suum procrearet. Der radierte Inhalt des ursprünglichen Eintrags zum Jahr 1127 kann durch einen Vergleich mit einer Reihe von Parallel­ handschriften erschlossen werden, die vor der Neuredaktion entstanden sind; vgl. hierzu ebd., S. xxxii–xxxvii, sowie die überlieferungskritische Studie von Brett, John of Worcester. Der ko­ dikologische und überlieferungskritische Befund lässt erkennen, dass Johannes die Niederschrift zunächst 1131 (dem Jahr der Überfahrt in die Normandie) abgebrochen hat. Diese Zäsur ist auch in der Handschrift auf S. 379 zu erkennen, einige Zeilen vor der rubrizierten Überschrift De iuramento. Alles Folgende ist Eigengut der Oxforder Handschrift 157 und Teil der nachträglichen Bear­ beitung, die mit dem auf 1128 datierten zweiten Konzilsbericht beginnt. Der Zeitpunkt der Neure­ daktion ist nicht präzise zu bestimmen; er muss zwischen 1136 (Beginn der Herrschaft Stephans) und 1140 (Ende der Aufzeichnungen des ‚Chronicon‘) liegen. In diese Zwischenzeit fällt auch Johannes’ Aufenthalt in Winchcombe, über dessen Dauer und Anlass ebenfalls nichts Genaues bekannt ist, vgl. Gransden, Cultural Transition, S. 117 f. Zum Konzil von 1127 vgl. Green, Henry I, S. 193–195; Hollister, Henry I, S. 317 f. Die Frage, inwieweit die Gründe für die Anarchie bereits in der Zeit Heinrichs I. begründet sind, verfolgen u. a. auch Green, Henry I and the Origins, S. 11–26; Stringer, The Reign of King Stephen, S. 8–13. Zur Bewertung des Eides nach 1135 vgl. Crouch, Reign of King Stephen, S. 34– 39; Hollister, Henry I, S. 478–483.

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Eine mit Goldtinte kolorierte Federzeichnung, ein Abbild der beschriebenen Erschei­ nung (apparitio), steht im Zentrum des Abschnittes und suggeriert wie die Traum­ miniatur Evidenz, in dem sie dem/der Betrachter.in das Phänomen unmittelbar vor Augen stellt. Erneut wird hier ein visionäres Ereignis – in diesem Falle ein äußeres, mit dem menschlichen Auge zu beobachtendes – zu einem bedeutungsvollen Gesicht stilisiert. Auch der unmittelbar anschließenden Erzählung vom Traum Heinrichs geht die Be­ schreibung einer außergewöhnlichen Himmelserscheinung voraus. Johannes zufolge fand sie am 13. Tag vor den Kalenden des März (17. Februar) des Jahres 1130 kurz nach den Laudes statt und wurde gleichzeitig von verschiedenen Personen in verschiedenen Regionen beobachtet. Zu sehen war ein helles Licht von der Art des Vollmonds und von leuchtenden Flammen durchglüht. Johannes beschreibt es als flüchtige, beinahe unwirkliche Erscheinung, deren Form und Farbe sich fortwährend änderte, die ab und an von Wolken verdeckt wurde und ganz unvermittelt wieder verlöschte.68 Diese ge­ heimnisvolle Himmelsvision (visio) bildet den Auftakt zur königlichen Traumvision, mit der sie den liminalen und zugleich ominösen Charakter teilt. Johannes bekräftigt dies erneut durch einen beschwörenden Vers in rubrizierten Lettern: Que didici scripsi, saluet nos gratia Christi.69 Beantwortet wird der Traum Heinrichs von zwei Wundererzählungen, die um das Thema Buße und Sterben kreisen.70 Vor allem die erste, eine stark gekürzte und ver­ fremdete Vita der heiligen Odilia von Hohenburg († um 720), nimmt sich mit ihren teilweise skurrilen Details aus dem Leben der Heiligen wie eine Parabel – oder eine Parodie – auf die Verhältnisse in der königlichen Familie und im Reich aus, dies umso mehr, als Odilia hier als im Jahr 1131 verstorbene Zeitgenossin Heinrichs ausgegeben wird.71 In den folgenden Jahren häufen sich die unheilverkündenden Ereignisse: 1132 wer­ den London und Worcester durch Brände verwüstet, ein Erdbeben erschüttert die In­ sel, Kometen und weitere Himmelserscheinungen häufen sich. 1134 stirbt Heinrichs äl­ tester Bruder Robert Curthose in der Gefangenschaft.72 Die gesamte Darstellung läuft auf Heinrichs eigenen Tod zu, am deutlichsten im Bericht von Heinrichs Überfahrt in die Normandie. Am 2. August 1133, dem Todestag von Heinrichs zweitem Bruder Wil­ helm Rufus und dem Jahrestag seines eigenen Herrschaftsbeginns, ereignete sich eine Sonnenfinsternis, die mit einem Schiffsunglück einherging. Auf dem Wege zum Hafen erblickten der König und sein Gefolge am Himmel 68 69 70 71 72

John of Worcester. Chronicle III, S. 198. John of Worcester. Chronicle III, S. 198. John of Worcester. Chronicle III, S. 202–208. Zur ‚Vita‘ der hl. Odilia vgl. Keller, Reclams Lexikon der Heiligen, S. 453–455. John of Worcester. Chronicle III, S. 212. Andere Quellen datieren den Tod Roberts auf 1135. Zu den Katastrophen der Jahre 1133–1135 und ihrer Darstellung in der zeitgenössischen Historiographie vgl. Hollister, Henry I, S. 464–66.

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eine Wolke, die in ganz England zu sehen war, wenn auch in unterschiedlicher Größe. In manchen Orten schien es nur ein dunkler Tag zu sein, in anderen aber war es so dunkel, dass die Menschen für ihre Verrichtungen das Kerzenlicht zur Hilfe nehmen mussten. Der König und sein Gefolge […] gingen verwundert umher, erhoben die Augen zum Him­ mel und sahen (conspexerunt) die Sonne wie den Neumond scheinen; und dennoch än­ derte sie ständig ihren Anblick: In einem Moment war sie größer, im nächsten kleiner, dann gerundet, dann rechteckig, mal ruhig wie gewöhnlich, mal unruhig und zitternd wie Quecksilber. Einige meinten, es handele sich um eine Sonnenfinsternis. Wenn dies stimmt, dann stand die Sonne entweder im Kopf des Drachenpunktes und der Mond in seinem Schwanz, oder die Sonne stand im Schwanz und der Mond im Kopf des fünften Sternzeichens, das heißt im 17. Grad des Löwen.73

Zugleich riss sich trotz einer Meeresstille ein Schiff vom Anker, trieb ab und beschä­ digte weitere Schiffe der königlichen Flotte. Wenig später erschütterte ein Erdbeben die Insel, und weitere Himmelserscheinungen sorgten für Unruhe und Furcht. In der Darstellung des Johannes bilden die Ereignisse den dramatischen Kontext für eine Überfahrt, die, wie er beim Niederschreiben bereits wusste, Heinrichs letzte sein soll­ te.74 Die Akzeleration der ominösen Ereignisse kulminiert im Tode des Königs am 1. Dezember 1135, der von Johannes in knappem Berichtsstil mitgeteilt wird.75 Es ist unverkennbar, dass bei der Neuredaktion der Chronik die Ereignisse zwischen dem Eidschwur der Barone und dem Tod Heinrichs als bedeutungsvoller, von prog­ nostischen Warnzeichen begleiteter Wendepunkt in der Geschichte der anglonorman­ nischen Herrschaft gedeutet wird. Der Traum ist das Herzstück dieser Réécriture und zugleich der Moment, an dem das Schicksal des Reiches kippt. Um die behauptete Zeit- und Ereignislogik samt ihren symbolischen Bezügen miteinander in Einklang zu bringen, riskiert der Chronist zahlreiche chronologische Sprünge und Ungereimt­ heiten. Die kodikologischen Befunde deuten auf eine bewusste Manipulation hin, durch welche die disparaten Ereignisse in eine schlüssige Sukzession gebracht und in eine symbolisch aufgeladene Narration eingebettet werden. So ist in der Handschrift

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John of Worcester. Chronicle III, S. 210. Die astronomischen Daten hat Johannes aus dem von Walcher von Malvern übersetzten Traktat ‚Sententia de dracone‘ des Petrus Alfonsi übernommen; vgl. hierzu auch Anm. 93. John of Worcester. Chronicle III, S. 208–210. Eine astronomische Konkordanz dieser Sonnenfins­ ternis findet sich in der in Worcester angefertigten Handschrift von Adelards Übersetzung der khoarismischen Tafeln (Oxford, Bodleian, MS Auct. 1. 9), an der auch Johannes beteiligt war, vgl. Haskins, Mediaeval Science, S. 23. Auch das Erdbeben und die Sonnenfinsternis werden in an­ deren Quellen erwähnt und mit dem Tod Heinrichs in Verbindung gebracht, vgl. Hollister, Henry I, S. 465 f.; Green, Henry I, S. 214 f. John of Worcester. Chronicle III, S. 214. Zu den Umständen vgl. Green, Henry I, S. 206–223; Hol­ lister, Henry I, S. 473 f.

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deutlich zu erkennen, dass die Ereignisse seit 1129 durch Rasur des/der letzte/n römi­ sche/n Zahlzeichen vor- bzw. umdatiert wurden. Dieser historische und kodikologische Exkurs war nötig, um zu erweisen, wie ge­ zielt Johannes den Traum ex post in sein Narrativ vom (vermeintlichen) Ende der Dy­ nastie Heinrichs I. eingewoben hat. Offensichtlich hat er selbst das Ende der Bürger­ kriege, den Tod Stephans von Blois 1154 und die Inthronisierung von Mathildes Sohn Heinrich (II.) nicht mehr erlebt. Es handelt sich also um eine sehr elaborierte Deutung post eventum, die sich als sol­ che aber nicht unmittelbar zu erkennen gibt. Für die unbefangenen Leser:innen stellt sich der Traum als eine vom göttlichen Vorwissen bzw. vom Lauf der Gestirne vorge­ zeichnete, von Träumen, Wundern und außergewöhnlichen Himmelszeichen beglei­ tete Revelation dar, die auch das schicksalhafte Thema des Schiffsunglücks aufgreift: Denn bevor Heinrich die von Grimbald angeratene Buße ausführen kann, so vermit­ telt es die Darstellung, gerät er auf der Rückfahrt von der Normandie nach England in einen schweren Sturm, wie im vierten Teilbild zu sehen ist: In einem von den Wellen halb verschlungenen Schiff mit von Wind geblähtem Segel und einem erschreckten Steuermann ist der König mit seinem geistlichen und weltlichen Gefolge zu sehen (Abb. 1). Ihre Blicke und Hände sind gen Himmel gerichtet und weisen zugleich auf die voraufgehende Darstellung, d. h. das dritte Traumbild. Durch diese Geste wird die sinnhafte Verbindung der beiden Ereignisse, Warntraum und Rettungswunder, akzen­ tuiert. Die Narration (und ihr folgend auch die Ikonographie) sind in Analogie zum neutestamentlichen Bericht von Sturm auf dem See Genezareth gestaltet (Mt 8, 24 f.; Lk 8, 22): Ach! Jesus schlief! Der König, seinen nahen Tod befürchtend, beschloss, damit der König der Könige aufwache und ihm und den seinen zu Hilfe komme, für die Dauer von sieben Jahren in England kein Danegeld mehr zu verlangen.76

Außerdem gelobte Heinrich eine Wallfahrt zum hl. Edmund und versprach, in Eng­ land das Recht wieder zur Geltung zu bringen, worauf sogleich eine große Meeresstille eintrat. Der König erfüllte sein Gelübde und konnte den drohenden Schaden für das Königreich – hier symbolisiert durch das von den Winden gebeutelte Schiff – vorläu­ fig abwenden, allerdings nur für wenige, durch Warnzeichen und zahlreiche Unglücke getrübte Jahre. Und auch sein Nachfolger machte sich schuldig, weil er, wie Johannes in Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufes hinzufügt, ebenfalls versprochen hatte, das Danegeld nicht mehr zu erheben, sich an dieses Gelöbnis aber nicht hielt.77

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John of Worcester. Chronicle II, S. 202. Zur Ikonographie vgl. Kemp, Sturm auf dem Meer. Zum Danegeld unter Stephan vgl. White, Royal Income, S. 27–43. John of Worcester. Chronicle III, S. 202: Hoc nefandum scandalum mouet ueridicum dictum, sicut compositum est.

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Die Folgen des doppelten Eidbruchs verdeutlicht der Eintrag zum Jahr 1136, wo es heißt: Nachdem Heinrich beerdigt worden war und Stephan regierte, dauerte es nicht lange, bis überall in England und der Normandie viele Unruhen ausbrachen und das Band des Frie­ dens zerrissen wurde. […] Jeder raubte das Gut des anderen. Der Mächtige unterdrückte den Schwachen mit Gewalt. Kritik hieran beantworten sie mit Gewalt. Sie töten diejeni­ gen, die Widerstand leisten. […] Sie handeln nur noch für sich selbst und die ihren. […] Sie fürchten den Wandel im Königreich und kümmern sich nicht um die göttliche Vorse­ hung, deren Ratschluss unerforschlich ist.78

Die Ereignisse zwischen 1127 und 1136 stehen unter dem Vorzeichen der vom König und der Aristokratie missachteten göttlichen Ordnung und kündigen künftiges Unheil an. Den Traum versteht Johannes als ein solches, an den König gerichtetes Zeichen, das den ‚falschen‘ Eid von 1127 beantwortet: Falsch nicht im Sinne einer politischen Fehlentscheidung für eine ungeeignete Thronfolgerin, sondern wegen der Verletzung eines sakralen Rituals. Denn als solches wurde der Eid in der politischen Kultur der Zeit verstanden. Um diesen Zusammenhang noch deutlicher zu machen, rückt Johan­ nes die beiden Ereignisse durch die Manipulation der Chronologie enger zusammen. Wohl kaum zufällig datiert er das Konzil auf das Jahr 1128, denn nach dieser Zählung beginnen mit dem fehlgegangenen Eid die sieben letzten Regierungsjahre Heinrichs: eine prekäre Zeit des Niedergangs, die in den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung mündet. Von hier aus ist auch die angedeutete Analogie zum zweiten Traum Nebukadnezars zu verstehen. Dieser Traum (Dan 3, 98–4, 34) handelt von einem gewaltigen Baum, dessen Wipfel den Himmel berühren, dessen Krone das gesamte Land überspannt und vielen Kreaturen Schutz und Nahrung bietet, so lange bis vom Himmel ein En­ gel kommt und mit mächtiger Stimme befiehlt, den Baum zu fällen, den Wurzelstock aber stehen zu lassen und mit Ketten an den Boden zu fesseln. Sieben Zeiten sollen so über ihn hingehen. Daniel gibt die folgende Deutung: Der Baum stehe für den König auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der Befehl des Engels, den Baum zu fällen, kündi­ ge seine Vertreibung aus der Herrschaft und seinen siebenjährigen Aufenthalt in der Wildnis an. Ganz offensichtlich stellt Johannes hier eine Analogie zu Heinrichs eigenem Dop­ pelreich und dem künftigen Schicksal des Königs her. Durch den Traum, der sich in der revidierten Chronologie exakt sieben Jahre vor Heinrichs Tod ereignet, durch den soeben abgewehrten Schiffbruch und durch die begleitenden Himmelszeichen wird das Ende von dessen Herrschaft angekündigt. Durch den Danielverweis konstruiert Johannes also im Grunde eine Doppelvision, indem er die Gesichte Heinrichs und

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John of Worcester. Chronicle III, S. 216; Hs. S. 386.

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Nebukadnezars, Text und Subtext, biblischen Typus und zeitgenössischen Antitypus gleichsam nebeneinander herlaufen lässt und so erneut Ereignisse und Zeitschichten überblendet. Dieses Prinzip verfolgt er auch beim Motiv der Schiffskatastrophe, in­ dem er vier Ereignisse typologisch miteinander verknüpft: den Sturm auf dem See Genezareth, den Untergang des White Ship 1120, den drohenden Schiffbruch im Jahr 1131 (symbolisch auf 1130 vordatiert) und das Unglück der königlichen Flotte bei Hein­ richs letzter Überfahrt im August 1133. Johannes ist der letzte Zeuge des Traumgeschehens und zugleich der erste, der es verschriftet und die Episode durch ihre Einbettung in ein größeres Narrativ zum Angelpunkt einer historischen Geschichtsdeutung macht, die auf das Ende der Herr­ schaft Heinrichs verweist. Die Analogien zwischen dem Warntraum mit dem Motiv der gestörten sozialen Ordnung, dem Eid auf Mathilde mit dem Motiv der gestörten Hierarchie der Schwörenden (demjenigen Ereignis, das dem Traum vorausgeht) und dem auf ihn folgenden, realen Umsturz der sozialen Ordnung nach 1139 wirkten vor diesem Hintergrund symbolisch einleuchtend. Es handelt sich offenbar um ein belieb­ tes Erklärungsmodell, dem auch schon die Gestalter:innen des Teppichs von Bayeux folgten, indem sie die Eroberung Englands durch Heinrichs Großvater Wilhelm mit dem politischen Meineid Harold Godwinsons und der Erscheinung eines Kometen auf höchst suggestive Weise in Verbindung brachten.79 Im Großen und Ganzen folgt die Darstellung des Johannes also dem traditionel­ len Modell der typologisch argumentierenden, heilsgeschichtlich orientierten Ge­ schichtsschreibung, wie sie im monastischen Milieu des 12. Jahrhunderts in England und auf dem Kontinent verbreitet war.80 Das Modell der visionären Prognostik folgt dem exegetischen Modell der Verknüpfung von alttestamentarischem Typus und neu­ testamentarischen Antitypus, bzw. es etabliert ein dichtes Geflecht von historischen Verweisen, die sowohl aus der biblischen als auch aus der zeitgenössischen Geschichte schöpfen. Zugleich repräsentiert die Darstellung mit ihrem Interesse für die visuellen Phänomene und Vermittlungsformen, mit ihrer Aufmerksamkeit für astronomische Beobachtungen und mit der prominenten Inszenierung Grimbalds, dem Vertreter der neuen ars medicinae, durchaus auch Züge, die auf einen alternativen Denk- und Deu­ tungshorizont verweisen. Um diesen ‚modernen‘ Horizont, auf den Johannes mit der emblematischen Figur des Grimbald und seinen medizinischen Attributen anspielt, soll es abschließend gehen.

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Wilson, Teppich von Bayeux; Kuder, Teppich von Bayeux; Lethaby, Perjury at Bayeux, S. 19 f.; Logemann, Gestickte Geschichte, S. 29–40. Goetz, Gott und die Welt, bes. S. 213–219; Gransden, Historical Writing, S. 120.

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V. Der Traum als Prognose: Grimbald und der medizinisch-astronomische Deutungshorizont Grimbald ist Johannes’ wichtigster Zeuge. Seine Deutung des Traumes ist derjenigen des Johannes vorgelagert; sie wird aber nicht expliziert, sondern nur ikonographisch angedeutet. Im Chronicon geht es Johannes darum, seine eigene Interpretation des Geschehens zu entfalten. In der biblischen Darstellung fungiert Grimbald sowohl als Protagonist als auch als Antagonist. Er begleitet jedes Traumbild als Randfigur, mit phrygischer Mütze, an der Schulter gerafftem Mantel und wechselnden Gegenstän­ den, auf die er mit Handgestus verweist: einem Uringlas (matula), einem Salb- oder Arzneigefäß (pyxis) und einem Diptychon. Anders als in der Traumerzählung, wo er die Rolle des inspirierten Sehers und Mahners in biblischer Tradition vertritt, er­ scheint er in der Miniatur als naturkundlich geschulter medicus mit den Attributen sei­ ner Disziplin. Als solcher repräsentiert er den modernen Zweig der medizinisch orien­ tierten Oneirologie, die sich am Hof Heinrichs I. schon recht früh etabliert hatte. Hier ist Grimbald erstmals 1101 bezeugt. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Mönchsarzt Faritius von Abingdon († 1117),81 gehörte er zu denjenigen medici, die der Chronik von Abingdon zufolge herbeigerufen wurden, um der Königin Mathilde bei ihrer ersten Niederkunft in Winchester beizustehen und ihre Prognose zu erstellen.82 Wie Faritius stammte Grimbald aus Italien, war Laie und blieb etwa drei Jahrzehnte an der Seite des Königs. Er folgte ihm auf seinen Reisen (so 1113, 1126 und 1131) und wurde durch zahl­ reiche Schenkungen ausgezeichnet: Nach dem Zeugnis der Pipe Roll von 1130, auf der auch Adelard von Bath geführt wird, gehörte er zu den königlichen tenants-in-chief mit Grundbesitz in fünf Counties und trat auch selbst als Stifter verschiedener Klöster in Erscheinung. Grimbald starb um 1137.83 Er hat kein schriftliches Werk hinterlassen, sondern scheint in erster Linie praktisch tätig gewesen zu sein. Sein intellektueller Horizont lässt sich aber anhand seiner biographischen Stationen und seines sozialen Umfeldes recht zuverlässig erschließen. Grimbalds italienische Herkunft legt einen Kontakt mit der Schule von Salerno nahe. Hier bzw. in Monte Cassino waren die Übersetzungen von Bischof Alfanus († 1075) – ‚De natura hominis‘ nach Nemesios von Emesa – und das Corpus des Cons­ tantinus Africanus verfügbar. Es umfasste medizinische Kompendien wie den bereits erwähnten ‚Liber Pantegni‘ des Ibn al-ʾAbbās al-Madschūsi, das ‚Viaticum‘ des Ibn 81 82

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Kealey, Medieval Medicus, S. 65–70. Hauptquelle für das Leben des Faritius ist die Lebensbe­ schreibung in der ‚Kartularchronik‘ von Abingdon. Hier tritt Grimmaldus medicus als Urkunden­ zeuge mehrfach in Erscheinung. Chronicon monasterii de Abingdon, S. 2, 50: Mandatur mox medicis ei curam impendere pronostica edicere ne in aliquo perditetur. Quorum primus abbas Faritius, secundus Grimmaldus uterque gentis et lingue unius et per hoc plurime inter se deuincti amore fuere. Vgl. auch Kealey, Medieval Medicus, S. 67 und S. 70. Chronicon monasterii de Abingdon, S. 67, 70–74.

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al-Ǧazzār, die ‚Diaetae particulares et universales‘ des Isaac Judaeus, die ‚Isagoge‘ des Johannitius (Hunain ibn-Ishāq), die ‚Ars parva‘ Galens, die von Galen kommentierten Aphorismen und das Prognostikon des Hippokrates sowie ältere galenische Bearbei­ tungen (‚de diaetis‘, ‚de urinis‘, ‚de pulsibus‘) und vermittelte dem Westen bislang un­ bekanntes, praxisorientiertes Wissen aus der griechisch-arabischen Heilkunde.84 Zu diesem Wissen gehörten neben der Physiologie auch die Astronomie und die Traum­ deutung. Zusammen mit der Uroskopie, der Diätetik und der Pulsuntersuchung bilde­ ten sie die Grundlage der medizinischen Prognose von Krankheiten.85 Weitere wichtige Vermittler der griechisch-arabischen Medizin und Naturkunde in England waren Petrus Alfonsi und Adelard von Bath. Petrus Alfonsi (ursprüng­ lich Moshe Sephardi), ein spanischer Rabbiner und Astronom, hielt sich nach seiner Konversion zum Christentum für etwa ein Jahrzehnt (ca. 1116–1126) in Frankreich und England auf. Er ist als medicus im Umfeld Heinrichs I. bezeugt.86 Petrus verfügte über ein breites astronomisches Wissen aus der hebräischen, arabischen und persischen Tradition und arbeitete bereits vor oder gleichzeitig mit Adelard an einer lateinischen Bearbeitung der astronomischen Tafeln al-Khwarizmis, zu der ein Vorwort, ein ein­ leitender Brief und einige Fragmente von seiner Hand erhalten sind.87 Bekannt war auch seine ‚Sententia de dracone‘, eine Anleitung zur Berechnung der Mondknoten (in arabischer Diktion: Drachenpunkte), die unter anderem der Vorhersage von Sonnenund Mondfinsternissen diente.88 Dieses Werk ist allerdings nur in einer von Petrus selbst angeregten, lateinischen Paraphrase seines Schülers Walcher, Prior von Great Malvern († 1135), überliefert, der als Petrus’ wichtigster Vermittler in England gilt. Pe­ trus selbst scheint große Teile seines astronomischen Wissens mündlich vermittelt zu haben.89 Anders Adelard von Bath. Er legte das während seiner nordfranzösischen Studien und seiner Reisen nach Süditalien (Salerno), Sizilien, Kleinasien und Palästina erwor­ bene Wissen schriftlich nieder: In zwei Lehrdialogen (‚De eodem et diverso‘, ‚Quaes­

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Keil, Salerno; Baader, Die Schule von Salerno; Jacquard, Die scholastische Medizin. Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 102–105. Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 75–80. Als Henrici primi regis Anglorum medicus wird er in einer Handschrift der ‚Disciplina clericalis‘ bezeichnet, vgl. Gibson, Adelard of Bath, S. 15 (Anm. 65). Zu Petrus vgl. Haskins, Mediaeval Science, S. 113–119; Millás Vallicrosa, L’apor­ tación; umfassend Tolan, Petrus Alfonsi; der neueste Stand bei Burnett, Adelard and the Ar­ abs; ders., Petrus Alfonsi and Adelard of Bath Revisited. Die Beziehungen zwischen den Arbeiten Petrus Alfonsis und Adelards werden kontrovers beur­ teilt. Ich folge hier der Meinung von Burnett, Adelard and the Arabs, S. 104 f., dass Petrus Adel­ ard, dessen Arabischkenntnisse nicht ausreichten, bei der Erklärung und Übersetzung half. Als Mondknoten werden die Schnittpunkte der Mondbahn mit der Ekliptikebene (bzw. nach dem geozentrischen Weltbild: der Umlaufbahn der Sonne) bezeichnet. Die Kenntnis der Mondknoten bildet die Grundlage für die Berechnung und Vorhersage von Sonnen- und Mondfinsternissen. Zu Walcher vgl. Haskins, Medieval Science, S. 116 f.; Millás Vallicrosa, Pedro Alfonso’s Con­ tribution, S. 144 f.

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tiones naturales‘), in astronomischen Abhandlungen über Abakus und Astrolab sowie in ersten Übersetzungen aus dem Griechischen und Arabischen. Außerdem übersetz­ te er erstmals die Elemente Euklids und die astronomischen Tafeln al-Khwarizmis und fertigte kurze Rohübersetzungen von mehreren Abhandlungen zu astrologischen und mantischen Praktiken an: dem ‚Centiloquium‘, einer pseudo-ptolemäische Sammlung von Aphorismen zur Astrologie, dem ‚Liber prestigiorum‘, einer Anleitung zur Her­ stellung von Talismanen von Thabit ben Qurra sowie der ‚Ysagoga minor‘, einer Ein­ führung in die Astrologie von Abu Ma’ashar (Albumasar).90 Es ist davon auszugehen, dass der in al-Andalus sozialisierte Sepharde Petrus Alfonsi diese Übertragungen mit seinem Wissen unterstützt hat.91 Ein weiterer Vermittler des neuen Wissens war Her­ bert von Durham, der Besitzer einer umfangreichen medizinischen Bibliothek, zu der auch die Übersetzungen des Constantinus Africanus gehörten.92 Es liegt nahe, Grimbald in diesem intellektuellen Netzwerk um Petrus Alfonsi, Walcher von Malvern, Herbert von Durham und Adelard von Bath zu verorten – ebenso wie auch Johannes von Worcester. Er kannte die Arbeiten Petrus Alfonsis, Walchers und Adelards: Im ‚Chronicon‘ beruft er sich sowohl auf die astronomischen Tafeln al-Khwarizmis (in der Übersetzung des Adelard) als auch auf die ‚Sententia de dracone‘, aus der er bei der Beschreibung der Sonnenfinsternis des Jahres 1133 zi­ tiert.93 Die Überlieferung des ‚Chronicon‘ weist enge Kontakte zwischen Worcester, Durham, Canterbury und Malmesbury auf.94 Außerdem war Johannes als Schreiber an der Redaktion einer um 1126 in Worcester entstandenen, astronomisch-compu­ tistisch-arithmetischen Sammelhandschrift beteiligt (Oxford, Bodleian Ms. Auct. F.1.9).95 Sie enthält neben verschiedenen Traktaten zu Abakus und Astrolab eine von Robert von Hereford erstellte Sammlung von Exzerpten aus der Chronik des Marianus Scotus, Walchers Synopse der ‚Sententia de dracone‘, Ciceros ‚Somnium Scipionis‘ mit dem ersten Buch des Macrobius-Kommentars sowie die astronomi­ schen Tafeln al-Khwarizmis in der Übersetzung Adelards von Bath. In ihrer Verbin­ dung von computistisch informierter Geschichtsschreibung (wie sie die marianische Chronik mit ihrem gegenüber der dionysischen Zeitrechnung ‚korrigierten‘ Chrono­

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Haskins, Mediaeval Science, S. 30; Gibson, Adelard of Bath, S. 15 (Anm. 65). Adelards Überset­ zungen zur Astrologie gelten als erste, sprachlich tastende Versuche, die schon bald von besseren und vollständigeren Bearbeitungen ersetzt wurden, vgl. Burnett, Adelard, Ergaphalau and the Science, S. 136, 142; ders., Adelard and the Arabs. Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 102–105. Kealey, Medieval medicus, S. 44–47 und S. 132 f.; Bartlett, England under the Plantagenets, S. 589 f. John of Worcester. Chronicle III, S. 210; vgl. auch Anm. 73 in diesem Beitrag. Brett, Johannes von Worcester, S. 118–120. Eine ausführliche Beschreibung findet sich unter https://medieval.bodleian.ox.ac.uk/catalog/manu script_604, ein Teildigitalisat ist verfügbar unter https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/076c5aee3836-4576-aaf3-f39a18193fa7 [beide abgerufen am 06.05.2022].

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logie repräsentiert)96, von spätantiker Traumlehre und neuen Impulsen aus der grie­ chisch-arabischen Naturkunde steht die Handschrift dem von Johannes redigierten Teil des ‚Chronicon‘ sehr nahe.97 Sie spiegelt die gewachsene Bedeutung der astrono­ mischen Beobachtung – auch mit Hilfe neuer Instrumente wie dem Astrolab – eben­ so wie die Vorstellung, dass die Sterne Zeichen künftiger Ereignisse seien – und mög­ licherweise auch deren Ursache – wieder. In beiden Punkten – der Beobachtung und exakten Berechnung der Planetenbewegungen und der Reflexion über den Einfluss der Gestirnsbewegungen auf die belebte und unbelebte Natur, auch und besonders auf den menschlichen Körper – ging das durch die Araber vermittelte Wissen weit über den traditionellen Horizont des christlichen Lateineuropa hinaus. Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich auch das Nahverhältnis von Astronomie, Astrologie und Medizin, das beide Handschriften zum Ausdruck bringen. Alle drei Artes galten als Subdisziplinen einer umfassenden Naturkunde (physica), d. h. dem Wissen über die Beschaffenheit des Kosmos, der Natur und ihrer materiellen Erscheinungen, das auf präziser Beobachtung, (Ver)messung und Beschreibung von Naturphänomenen beruhte. Deutlich werden diese Zusammenhänge in der ‚Epistola ad peripateticos in Francia‘ angesprochen, dem einleitenden Brief, den Petrus Alfonsi seinem nur fragmentarisch erhaltenen Tafelwerk voranstellte. Petrus ordnet die Medizin (physica) dem Kanon der Artes liberales zu; sie sei die Kunst, „die ohne Ausnahme allen Lebewesen auf dieser Welt von großem Nutzen und völlig unentbehrlich ist, da sie […] die Gesundheit zu bewahren und die Länge des Lebens in dieser Welt abzuschätzen gestattet.“ Doch nur in Verbindung mit der Astronomie, so erklärt es Petrus mit Berufung auf Constantinus Africanus, vermag sie ihre volle Wirkung zu entfalten: Denn nur durch die Astronomie lassen sich die Veränderungen der vier Jahreszeiten vor ihrem Kommen bereits erkennen, wodurch man wiederum die Schwankungen des Wet­ ters und die Erkrankungen von Mensch und Tier voraussehen kann; diese Voraussicht aber ermöglicht eine Therapie, mit der sich die Krankheiten verhüten beziehungsweise leichter heilen lassen. Durch die Astronomie kann man auch den rechten Zeitpunkt für Brennen, Schneiden, Öffnen von Geschwüren, Aderlass, Aufsetzen eines Schöpfkopfes, wo es nötig ist, und die Verabreichung oder das Einnehmen von Arzneien bestimmen, Tag und Stunde des Fieberverlaufs und viele andere nützliche Dinge feststellen […]. Es ist also durch das Argument der Erfahrung bewiesen, und wir können der Wahrheit gemäß

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Marianus gelangte durch eigene Berechnungen zu einer revidierten Chronologie. Seine Datierung des Passionsdatums, die auf römischen Konsularlisten, einer Papstliste und Dekretalen beruht, weicht von der Zählung des Dionysius Exiguus um 28 Jahre ab. Das ‚Chronicon‘ datiert jedes Jahr doppelt, nach der dionysischen und der marianischen Zählung, vgl. O’Cróinin, Marianus, Sp. 285 f.; John of Worcester. Chronicle III, S. 198–202, Bd. II, S. lxxvi–lxxix (Introduction). Gransden, Cultural Transition, S. 119 f.; zum intellektuellen Horizont vgl. Brett, John of Worcester, S. 120.

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behaupten, dass die Sonne, der Mond und die anderen Planeten auf Erden ihre Wirkung ausüben und dass vieles auf ihren Einfluss hin geschieht.98

Das Nahverhältnis von Medizin und Astronomie mit der Astrologie erklärt sich dar­ aus, dass beiden Disziplinen neben den experimentell-diagnostischen auch prognosti­ sche Aufgaben zugewiesen sind: Durch das Erfassen der von der Natur vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten und die Erklärung ihrer Ursachen konnten die Gelehrten auch zu Vermutungen über die zu erwartenden Verläufe gelangen: Sonnen- und Mond­ finsternisse und Gezeiten waren ebenso vorhersagbar wie Wetterphänomene und Krankheitsverläufe.99 Insofern gehört zu einer sorgfältigen ärztlichen Prognose auch die Erstellung eines Horoskops.100 Dass diese Kunst zur selben Zeit in England bereits verbreitet war, zeigt eine zusammenhängende Serie von zehn zwischen 1123 und 1160 erstellten Horoskopen aus dem Umfeld des königlichen Hofes, die in einer Londoner Handschrift überliefert sind.101 Grimbald repräsentiert diesen ‚modernen‘ Gleichklang von astronomisch-astro­ logischer Prognose und medizinisch geschulter Traumdeutung, zu der die kritische Prüfung der körperlichen Konstitution und der Abgleich der Befunde mit kosmischen Phänomenen gehörte, die es ermöglichten, die Ursachen – und damit auch die Wahr­ haftigkeit – von Träumen zu ermitteln. Zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge hat der Illustrator der Handschrift die Figur des Grimbald in den Randzeichnungen mit einer Reihe von Attributen versehen, die auf diesen experimentell-naturkundli­ chen Ansatz bei Traumdeutung verweisen und die durch den Zeigegestus mit dem überlangen Finger besonders akzentuiert werden. Die Attribute symbolisieren die In­ strumente zur Ermittlung und Abwägung der verschiedenen möglichen Traumursa­ chen. Diese waren sowohl medizinisch (durch die Uroskopie) als auch astronomisch (durch eigene Himmelsbeobachtungen, durch die Konsultation astronomischer Ta­

98 Der lateinische Text bei Millás Vallicrosa, L’aportación, S. 97–105; die Übersetzung nach Eberhard Hermes, Werk, Zeit und Verfasser, S. 94 f. Vgl. auch den gründlichen Kommentar bei Tolan, Petrus Alfonsi, S. 44–48 und S. 62–64, hier auch der Wiederabdruck der lateinischen Fas­ sung mit einer englischen Übersetzung. 99 North, Astrologie; García Ballester, Astrologische Medizin. 100 Heiduk, Prognostication; Burnett, Astral Sciences; Demaitre, Medical Prognostication; Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 103 f. 101 BL Royal App. 85, fol. 2; vgl. North, Some Norman Horoscopes, S. 147–162, Abb. S. 155. Die Ho­ roskope vom 2. Aug. 1123 und Sept. 1135 möchte ich mit Heinrich I. in Verbindung bringen: 2. Aug. 1123 bezieht sich höchstwahrscheinlich auf die Krönung Heinrichs I.; das zweite ist ebenfalls noch zu seinen Lebzeiten entstanden, doch das Anliegen ist nicht notiert und nicht zu ermitteln. Zum Bücherbesitz von Petrus Alfonsi und Herbert von Durham gehörte übrigens auch eine Hand­ schrift des ‚Secretum secretorum‘, eines esoterisch-okkulten, pseudo-aristotelischen Kompendi­ ums, das neben enzyklopädischen und didaktischen auch arithmologische, alchemistische, astro­ logische und magisch-mantische Texte enthält, vgl. Büchler, A Physician’s Desk Book; Kealey, Medieval Medicus, S. 46.

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feln und durch die Erstellung eines Horoskops) exakt zu ermitteln – für diesen Aspekt dürfte das Diptychon in der dritten Miniatur stehen.102 Die Impulse und Erkenntnisse, die diese intellektuelle Konstellation hervorbrachte, weisen voraus auf spätere Autoren wie Johannes von Salisbury (‚Policraticus‘, 1159), Pascalis Romanus (‚Liber thesauri occulti‘, 1165) und Alcher von Clairvaux, den mut­ maßlichen Autor des pseudo-augustinischen Traktats ‚De spiritu et anima‘ (1167).103 Sie gelten bis heute als diejenigen, welche die neue, astronomisch-medizinisch ins­ pirierte Oneirologie zum ersten Mal zusammenhängend darstellen. Pascalis hielt es beispielsweise für unmöglich, „die Natur und die Bewegungen der Dinge zu kennen, ohne sie mit den höheren Instanzen (superioribus sedibus), von denen sie abhängen, abzugleichen.“ Auch für die Interpretation visueller Phänomene empfahl er die geometrica ratio, will heißen, die Astronomie als eine mathematische Disziplin. Nur sie sei geeignet, Traumbilder von phantastischen Elementen zu reinigen und ihre verborge­ nen Wahrheiten sicher zu enthüllen.104 Die neue Lehre begründete eine klare Abgren­ zung zwischen inspirierter Prophetie und naturkundlich fundierter Prognose. Pascalis ist somit ein frühes, aber keineswegs das früheste Beispiel für den wachsenden Einfluss der exakten Wissenschaften griechisch-arabischer Prägung auf die lateineuropäische Astronomie und Medizin. Englische Klöster und Kathedralkonvente dürfen ebenso wie der Hof Heinrichs I. als frühe Zentren dieses Wissenstransfers und als erste Labore der Wissensfusion gelten. Die Rolle, die reisende jüdische Gelehrte wie Petrus Alfonsi und, kurz nach ihm, Abraham ibn-Ezra in diesem Prozess spielten, scheint mir bislang noch nicht ausreichend beachtet;105 ebenso wenig die Bedeutung der Vermittler auf der mittleren Ebene, die selbst nicht literarisch, dafür aber praktisch tätig waren: Ärzte wie Grimbald und seine weniger bekannten Zeitgenossen, die Bücher, Wissen und prakti­ sche Erfahrungen aus verschiedenen Gegenden Europas nach England brachten und mündlich weitervermittelten, ohne dass ihr Wirken präzise zu fassen wäre.106 VI. Bilanz: das Doppelgesicht des Traumes Der Traum Heinrichs ist an einer entscheidenden Schwelle angesiedelt. Sie mar­ kiert die Grenze zwischen den antiken und frühmittelalterlichen Traumlehren, deren Hauptinteresse auf dem transzendenten Ursprung und dem prophetischen Gehalt von

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Rodríguez-Arribas, Medical Plates; Burnett, Doctors and Astrologers, S. 101–111. Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 66–78; Gregory, I sogni e gli astri, S. 114. Das Zitat bei Gregory, I sogni e gli astri, S. 120; Kruger, Dreaming in the Middle Ages, S. 73–75. Hier ist die frühe Synthese von Haskins, Mediaeval Science, nach wie vor maßgeblich. Das beste zur Sache ist nach wie vor die prosopographisch-sozialhistorische Studie von Kealey, Medieval medicus.

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visionären Träumen lag (repräsentiert durch die Darstellung des Johannes), und den alternativen Deutungsparadigmen der griechisch-arabischen Naturkunde (physica), die Träume als innerweltliches, somatisch und kosmologisch geprägtes Geschehen verstand – für diese moderne Tradition steht die Figur des Grimbald. Unter dem Ein­ fluss der neu bzw. wieder entdeckten Traumlehren wurde auch der alltägliche Traum (somnium, insomnium) zu einem Sinnträger eigener Art. Er galt als Spiegel jener um­ fassenden kosmischen Ordnung, in die auch der menschliche Körper, ebenso wie alle anderen Geschöpfe des irdischen Mikrokosmos, eingebunden war. Mikro- und Makrokosmos galten als ein nach Maß und Zahl geordnetes System von korrespon­ dierenden Kräften, deren verborgenes Wirken durch empirische Beobachtungen und logische Schlussfolgerungen entschlüsselt werden konnte. Vor diesem Hintergrund konnten Träume Ein-Blicke in die verborgenen, humoralpathologisch gedeuteten Vor­ gänge des menschlichen Körpers gewähren. Weitere diagnostische Methoden – die Urinschau und die Pulsuntersuchung, aber auch die Beobachtung äußerer Phänome­ ne wie Ort, Jahreszeit und Gestirnskonstellationen, welche den somatischen Zustand des Träumenden mitbedingten – stellten ein differenziertes Instrumentarium bereit, mit dessen Hilfe die Qualität von Träumen und die Reichweite ihrer Botschaften – prognostisch, phantastisch oder prophetisch – ‚empirisch‘ bestimmt werden konnten. Auf diese Neukonfigurierung des Traumes verweist die Figur des Grimbald mit ihren spezifischen Attributen. Auf welchen Wegen der medicus zu seiner Prognose gelangte und wie diese gelautet haben mochte, ist dem Bericht des Johannes aller­ dings nicht zu entnehmen. Doch ist das Motiv des Träumers, der im Schlafe nach den Waffen greift, in der zeitgenössischen medizinischen Literatur durchaus bekannt: Die gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen ‚Quaestiones Salernitanes‘ beispiels­ weise deuten es rein somatisch: als Reaktion des Körpers auf übermäßige Verdau­ ungsdämpfe, die über die inneren Körpergänge auf den spiritus animalis einwirken, der wiederum die Nerven in Bewegung setzt und so im Körper die beschriebene Reaktion hervorruft: Vel ex consuetudine eo quod consuevit ferre arma in die, vel quod timuerunt in die, et anima circa hoc attenta, surgit et arma arripit.107 In dieser Lesart wäre das bedrohliche Traumbild als ein Reflex auf Erlebtes zu verstehen, nicht als ein prognostischer Blick auf Zukünftiges. In jedem Falle dürfte Grimbalds Deutung ex eventu anders gelautet haben als die post eventum verfasste und durch viele historische und typologischen Verweisen gestützte, prophetische Interpretation des Johannes von Worcester. Die Doppeldeutigkeit des Traumes zeigt, dass sich beide Verfahren, die medizi­ nische Traumprognose und die typologische Traumexegese, im Verständnis des 12. Jahrhunderts nicht ausschließen müssen: Beide Traumtypen vermitteln Ein-Sichten

107 Ricklin, Der Traum in der Philosophie, S. 85 (Anm. 304). Dasselbe Beispiel findet sich auch in den ‚Aphorismi‘ Ursos von Salerno, vgl. ebd. (Anm. 303).

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in unsichtbare, aber individuell und sozial relevante Zustände und Zusammenhän­ ge, und beide Deutungsmodelle dienen der Decodierung von verborgenen oder symbolhaft verschlüsselten Botschaften, seien sie göttlichen oder somatischen Ur­ sprungs. Mit dem Begriff der ‚Doppelgesichtigkeit‘ ist eben diese Komplementarität der Deutungsoptionen gemeint, die das hier untersuchte Beispiel – und möglicher­ weise viele andere derselben Epoche – kennzeichnet. Denn mit dem medizinischen Bestreben nach einer Somatisierung des Traumes im 12. Jahrhundert wird der mögli­ che Offenbarungscharakter von Träumen keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Dies betont unter anderem auch Petrus Alfonsi: Ihm zufolge betreffen die Kräfte des Makrokosmos, insbesondere die Planetenbewegungen, ausschließlich den körper­ lich-materiellen Anteil des Mikrokosmos, nicht die geistigen Erscheinungen oder das menschliche Seelenheil. Daher kann der Mensch durch die Beobachtung, das Experiment und die Prognose auch lediglich die körperhaften Geschöpfe und Her­ vorbringungen (creature corporales) erfassen und vorhersagen, während die geistigen Erscheinungen (creature spirituales) nur durch den Geist der Offenbarung (per spiritum prophetie) erfahrbar sind.108 Als Geschöpf aus Leib und Seele ist der Mensch folg­ lich in der Lage, beide Typen von Träumen, den spirituellen und den somatischen, hervorzubringen. In der neuen Sichtweise sind beide, Traumvision und Alltagstraum, gleichermaßen bedeutungsvoll, ihre Botschaften verweisen aber auf unterschiedliche Sinn- und Wissenssysteme und verlangen nach einer Analyse durch unterschiedliche Experten: den Arzt und den Exegeten. Aufgabe der Oneirologen beider Richtungen ist es, die visuellen Traumbotschaften, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, sicht- und verstehbar zu machen, will heißen: Evidenz zu erzeugen – Evi­ denz im Sinne von Externalisierung, Visualisierung und Materialisierung verborge­ ner, imaginativ vermittelter Erfahrungen: Im gesprochenen Wort, in den visuellen Erscheinungsformen von Schrift(bild) und figürlichem Abbild, in der materiellen Gestalt der Pergamentseite beziehungsweise des Codex.109 Anstelle einer ‚instru­ mentell-funktionalistischen‘ wurde hier also eine ‚prozedurale‘ Perspektive verfolgt. Angesprochen wurden diejenigen Aspekte, die den Fragen nach „Deutung“ und „In­ formation“, nach „Authentisierung“, „Legitimation“ oder „Funktion“ von Wahrneh­ mungs- und Visualisierungsvorgängen vorgelagert sind. Sie sollten aufzeigen, wie durch die unterschiedlichen Formen der Übertragung elementarer Wahrnehmungen die epistemischen Voraussetzungen für divergierende Deutungsoptionen und die hieraus folgenden, sozialen, historischen und literarischen Funktionen von Träumen überhaupt erst erzeugt werden.

108 Millás Vallicrosa, L’aportación, S. 99, S. 101 f. und S. 105; Hermes, Werk, Zeit und Verfasser, S. 104 und S. 109. 109 Krämer, Schrift-Bildlichkeit; dies., Medium, S. 283 f.

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Abbildungsverzeichnis Bericht und Darstellung der mira uisio von der Hand des Johannes von Worcester; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 382 f.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Abb. 2 Rasur und Beginn der Neuredaktion der Ereignisse nach 1128 in den letzten acht Zeilen, beginnend mit dem rubrizierten Titel ‚De iuramento iam mutato in periurium, in multorum periculum‘; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 379. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Abb. 3 Bericht und Zeichnung zur Himmelserscheinung vom 8. Dezember 1127; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 380. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Copyright: Corpus Christi College, Oxford Abb. 1

Gesicht und Schwert Formen und Funktionen von Visionen in der Karlsepik Johannes Traulsen „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Dieses Bonmot, das dem für dergleichen berühmten Altkanzler der BRD Helmut Schmidt zugeschrieben1 wird, weist auf das schwierige Verhältnis zwischen Politik und Vision hin: Von Herrschenden wird er­ wartet, dass sie Visionen haben und über sie sprechen. Die Vision ist ein mächtiges Werkzeug im politischen Diskurs, denn gegen einen kühnen Entwurf des kommenden Guten ist schwer zu argumentieren. Doch muss sich die Divination im Nachhinein als rational erweisen: Die Zukunft, die sich letztlich einstellt, sollte mit dem in der Vision Geschauten kongruieren. Tut sie dies nicht, hätte man besser auf die Vision als politi­ sches Mittel verzichtet, etwa zugunsten des ‚gesunden Menschenverstandes‘, welcher zwar aus einer ähnlichen rhetorischen Schublade wie die Vision stammt, aber eher Schmidts Stil entsprach.2 Für Kulturen, in denen Politik und Religion ungetrennt sind, stellen Visionen und andere spirituelle Ereignisse nicht nur einen Ausdruck des kreativen Geistes ih­ rer Empfänger*innen dar, sondern es kommt ihnen auch die wichtige Funktion der transzendenten Legitimation politischen Handelns zu: In der Vision verbinden sich mehrere zeitliche Ebenen und der Offenbarungsempfang ist Ausdruck der Überein­ stimmung von göttlichem Willen und den Zielen der Herrschenden,3 mithin ulti­ 1

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Ironischerweise ist die Quellenlage zu dem berühmten Satz dünn: Das ursprüngliche Zitat ist nicht aufzufinden. Schmidt hat später mehrfach beteuert, es stamme von ihm. So etwa im Gespräch mit Gi­ ovanni di Lorenzo im ZEITmagazin, 04.03.2010. https://www.zeit.de/2010/10/Fragen-an-HelmutSchmidt [abgerufen am 21.10.2021]; vgl. zu weiteren Quellen https://de.wikiquote.org/w/index. php?title=Helmut_Schmidt&oldid=516829 [abgerufen am 21.10.2021, permanenter Link]. Zu be­ legen ist diese Behauptung indes nicht. Die Pathologisierung des visionären Erlebens ist allerdings auch ein Topos westlicher säkularisier­ ter Gesellschaften, die der wichtigen Stellung von Visionen in anderen Kulturen natürlich nicht gerecht wird. Vgl. Frenschkowski/Mette, Vision. Hier ist ein soziologisches Verständnis des Begriffs der Herrschaft im Sinne von Max Webers De­ finition, Herrschaft sei die Chance, für einen Befehl Gehorsam zu erreichen, zugrunde gelegt. Da­ mit ist noch nichts über eine konkrete Idee von Herrschaft gesagt. Die literarischen Ausformungen

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mativer Ausweis ihrer Glaubwürdigkeit und Legitimität nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der prädizierten Zukunft oder als Teil ihrer Vorgeschichte in der Ver­ gangenheit. Das gilt auch für die christliche Kultur des Mittelalters, der sich die fol­ genden Ausführungen widmen. Sie befassen sich mit den Engelserscheinungen Karls des Großen in deutschsprachigen mittelalterlichen Texten und vergleichen diachron deren herrschaftspolitische Aspekte in mehreren Bearbeitungen desselben Stoffes. Darstellungen von Karl dem Großen sind, in der Literatur und anderswo, vielfach nicht nur von historiographischen, sondern auch von gegenwartsbezogenen politi­ schen Interessen und Themen bestimmt.4 Da Karl den mittelalterlichen Herrschern nicht nur als historische Persönlichkeit, sondern auch als Vorbild, Gründungs- und Reflexionsfigur galt, werden in der mittelalterlichen Karlsepik vielfach politische Kon­ stellationen dargestellt, deren Relevanz über den historischen Zusammenhang hin­ ausgeht. Stets stehen Herrschaft und Herrschaftsethik sowie politisch entscheidende Momente – Sukzession, Krieg, Heirat, Reichseinheit – im Mittelpunkt der Texte.5 In­ sofern ist die Karlsepik nicht nur als Ausdruck historiographischen Interesses an der Vergangenheit, sondern auch als Medium für Entwürfe gegenwärtiger und zukünftiger politischer Entwicklungen, beziehungsweise ‚Visionen‘ zu verstehen. Stets ist das Po­ litische dabei durch sein Verhältnis zur Religion bestimmt. Nicht zuletzt ist Karl, der später heiliggesprochenen Gründer des fränkischen Reichs, in besonderer Weise mit der Transzendenz verbunden.6 Die Verknüpfung von politischen und religiösen Ele­ menten zeigt sich insbesondere in jenen Szenen, in denen Karl eine Berufung erfährt

der Herrschaft sind als Versuche zu verstehen, eine solche bestimmte Vorstellung von Herrschaft zu propagieren beziehungsweise performativ herzustellen. Vgl. dazu Ubl, Herrschaft. 4 Entsprechend führt Lange, Chanson de geste, Sp. 1705 aus: „[D]ie chansons de geste [behandeln] […] in ihrer klassischen Ausprägung Grundfragen der zeitgenössischen Gesellschaft, die sie be­ stimmten Heldenfiguren oder historisch bekannten Namen zuordnen.“ 5 Vgl. Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, S. 69 f. 6 Die altgermanistische Forschung der letzten Jahre hat sich sehr auf diesen religiösen Aspekt der Karlsliteratur konzentriert. Leitend für diese Konzentration waren die umfassenden Studien Bernd Basterts, welche die religiöse Dimension der Karlsfigur zumindest im 13. Jahrhundert unter dem Schlagwort der „Vergeistlichungstendenz“ und „Hagiographisierung“ der deutschen Texte gegenüber ihren französischen Vorlagen in den Mittelpunkt stellen. Vgl. exemplarisch Bastert, Von der Hagiographisierung, S. 59 u. 64. Auch neuere Studien verfolgen diese Spur weiter, so etwa die Arbeit von Fridjof Bigalke, nach welcher die Entwicklung der deutschen Karlsepik einem pri­ mär an der Hagiographisierung orientierten Vektor folgt: „Die Chanson de Roland zeichnet – unter dem Eindruck der Kreuzzüge – eine Karlsfigur vor der Kanonisierung, der Pfaffe Konrad bearbei­ tet den Karlsstoff in zeitlicher Nähe zur Heiligsprechung, der Stricker wiederum kann in seiner an den zeitgenössischen höfischen Geschmack angepassten Bearbeitung des Rolandslieds sicher vom kanonisierten sande Karle sprechen. Das buch vom heiligen Karl des 15. Jahrhunderts schließlich entwirft einen unstrittig heiligen Karl mit Bezügen zur Zürcher Lokaltradition des Karlskultes.“ Bigalke, Literarische Herrscherskaralität, S. 4. Hier geht es hingegen gerade nicht darum, religi­ öse beziehungsweise hagiographische Elemente als Teil der Herrschaftsdarstellung (das heißt als Sakralisierung) vorzuführen, sondern vielmehr darum, die politischen Logiken dieser Elemente und ihrer Transformation aufdecken.

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und seine Kriegszüge durch transzendente Eingriffe, etwa durch das Erscheinen eines Gottesboten, ausgelöst und gesteuert werden, Karls politische Vision also auf eine re­ ligiöse Vision zurückgeführt wird. Karl der Große begann im Jahr 778 einen Feldzug gegen die muslimischen Herrscher der Iberischen Halbinsel.7 Die versuchte Eroberung und Christianisierung Spaniens ging bekanntlich nicht zu Karls Gunsten aus, denn sie endete mit einer ‚krachenden‘ Niederlage der Franken.8 Trotz oder gerade wegen dieser Niederlage nimmt der Kriegszug eine besondere Stellung unter den mittelalterlichen Karlsdichtungen ein. Deren Anfänge in der französisch- und deutschsprachigen Literatur sind insbeson­ dere in den zeitlichen Nexus des 12. Jahrhundert zu stellen, jener Phase europäischer Geschichte, in welcher der Krieg gegen die ‚Ungläubigen‘ durch die Kreuzzüge Be­ deutung gewann. Nicht zuletzt fallen in diese Zeit auch die Bemühungen der Staufer, Karl als Heiligen zu installieren, um auf den Reichsgründer als politische und religiö­ se Bezugsfigur rekurrieren zu können.9 Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die hochmittelalterlichen Dichtungen im Vergleich etwa mit der nüchternen Darstellung von Karls erstem Biographen Einhart10 gerade die Elemente der transzendenten Legi­ timierung und Unterstützung ausbauen.11 Das bedeutet freilich nicht, dass Karl damit zu einer ausschließlich religiösen Figur wird – sofern es so etwas überhaupt gibt. Das transzendente Geschehen, das im politischen Zusammenhang steht, bleibt von den jeweiligen politischen Interessen nicht unberührt. Das zeigt sich insbeson­ dere dann, wenn mehrere Texte dasselbe Ereignis darstellen, dabei aber unterschied­ liche Schwerpunkte setzen und sich auf diese Weise in ihre je spezifischen politischen Kontexte einschreiben. Dieser Umstand lässt sich an der Karlsdichtung besonders gut nachzeichnen, weil darin dieselben Ereignisse vielfach wiedererzählt und aktualisiert werden. Die folgenden Ausführungen eröffnen deshalb eine diachrone Perspektive, indem sie drei Bearbeitungen der Berufung Karls durch einen Engel gegenüberstel­ len, in deren Vergleich sich unterschiedliche politische Ausrichtungen zeigen. Im 7 Vgl. zur Einführung Fried, Karl der Große, S. 164–169; Fleckenstein, Karl (I.) der Große. 8 Vgl. Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter, S. 83 f. Die Quellenlage zum Spanienfeldzug und der Schlacht von Roncesvalles ist vielfältig und die literarische Überformung der Ereignisse hat nicht dazu beigetragen, die Beurteilung zu vereinfachen. Diesem Problem, mit dem die For­ schung schon lange ringt, widmet sich etwa die jüngst erschienene Studie von Xabier Irujo, die der Bedeutung der Schlacht von Roncevalles in der mittelalterlichen Literatur und Kunst ein eigenes Kapitel widmet: Irujo, Charlemagne’s Defeat, zur mittelalterlichen Rezeption bes. S. 139–199. 9 Vgl. Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 106. 10 Einhart schildert die gesamte Spanienepisode nur in wenigen Sätzen. Von irgendeiner Art göttli­ chen Eingriffs ist nicht die Rede. Vgl. Einhart, Vita Karoli Magni, S. 22–25. Vgl. dazu Brecht-Jör­ dens, Einharts ‚Vita Karoli‘; Fried, Karl der Große, S. 598–604; einen Überblick über die Dar­ stellungen Karls in den historischen Quellen bietet Schütte, Karl der Große. 11 Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat sich mit den unterschiedlichen Funktionalisierun­ gen der historischen Karlsfigur der mit ihr verbundenen Ereignisse vielfach befasst. Vgl. dazu den Überblick zur Forschungsgeschichte bis 2000 bei Kerner, Karl der Große, S. 51–63; die Darstel­ lungen bei Fried, Karl der Große, S. 591–633

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Mittelpunkt der Ausführungen steht eine im Mittelalter recht erfolgreiche literari­ sche Darstellung von Karls Spanienfeldzug, nämlich der ‚Karl‘ des Strickers,12 dessen Entstehung auf die 1220er Jahre datiert wird.13 Der ‚Karl‘ stellt eine Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘ dar, das seinerseits eine um 1170 entstandene Übertragung der altfran­ zösischen ‚Chanson de Roland‘ ist.14 Zu den Eingriffen des Strickers in seine Vorlage gehört neben anderem auch eine umfangreiche Amplifikation der Szene, in welcher Karl den göttlichen Auftrag zum Spanienfeldzug erhält. Ausgehend von Überlegungen zum Entstehungszusammenhang werden im Folgenden die Prinzipien der Darstellung und die politischen Implikationen der Veränderungen, die der Stricker gegenüber dem ‚Rolandslied‘ vorgenommen hat, erörtert. Im Anschluss wird eine Fassung von Strickers ‚Karl‘ in ihrem Kontext betrachtet: Um den Blick auch auf überlieferungsge­ schichtliche Aspekte zu lenken, wird die Zusammenstellung und das Bildprogramm einer um 1300 entstandene Handschrift, die den ‚Karl‘ enthält, analysiert. I. Ein Engel von politischem Gewicht in Strickers ‚Karl‘ Für die Chanson de geste-Tradition ergibt sich die besondere Konstellation, dass diesel­ ben Texte häufig – und das heißt häufiger als etwa die höfische Romanliteratur – neu­ geschrieben und dabei auch im Hinblick auf die dargestellten Herrschaftskonstellati­ onen umgewertet werden. So ist Strickers ‚Karl‘ in weiten Teilen eine Neufassung des ‚Rolandslieds‘ des Pfaffen Konrad von 1170.15 Entsprechend heißt es im Verfasserlexi­ kon von 1995 über Strickers ‚Karl‘: Die dabei [bei der Übertragung des ‚Rolandsliedes‘; J. T.] angewendeten Verfahren sind formale Glättung des ‚RL‘ durch Herstellung reiner Reime, ebenmäßiger Verse und eines flüssigeren Sprachstils […], Ordnung und Vervollständigung ungenauer oder inkonse­ quenter Angaben der Vorlage, Auslassung oder Kürzung von Nebenpersonen und Neben­ motiven, Rede- und Kampfszenen […].16

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Stricker, ‚Karl‘. In der deutschsprachigen Literatur taucht die göttliche Beauftragung Karls erstmals in der ‚Kaiserchronik‘, auf. Dort wird der Frankenherrscher zur Hilfe des Papstes gerufen (vgl. Kai­ serchronik [Schröder], V. 14316–14320). Bereits in diesem kurzen Abschnitt wird deutlich, auf wel­ che Weise in der mittelalterlichen Literatur transzendente Eingriffe genutzt werden, um das Han­ deln Karls des Großen zu legitimieren und als Umsetzung des göttlichen Willens auszuweisen. Zwischen 1215 und 1230. Vgl. Singer, Einleitung, S. Xf. Zu Überlieferung, Datierung und Verhältnis von ‚Rolandslied‘ und ‚Karl‘ vgl. Bastert, Helden als Heilige, S. 78–87; Bigalke, Literarische Herrschersakralität, S. 14–24. Eine weitere ‚Neufassung‘ des Stoffes bietet dann der ‚Karlmeinet‘. Vgl. Karl Meinet (von Keller). Der Stoff des ‚Rolandslieds‘ findet sich dort S. 606, V. 51 – S. 824, V. 46. Vgl. dazu Beckers, Die ‚Karlmeinet‘-Kompilation; Fürbeth, Der ‚Karlmeinet‘. Geith/Ukena-Best/Ziegeler, Der Stricker, Sp. 420 f.

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Damit folgt der Verfasserlexikoneintrag derjenigen Forschung, die im ‚Karl‘ vor allem eine Anpassung des ‚Rolandsliedes‘ an die mittlerweile im deutschen Sprachraum eta­ blierte höfische Kultur und Literatur sah.17 Doch schon Wilhelm Grimm hat die Ei­ genständigkeit der Stricker’schen Bearbeitung betont,18 und Elke Ukena-Best führt mit Blick auf die ‚Chanson de Roland‘, das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad und Strickers ‚Karl‘, die alle drei im Wesentlichen denselben Plot haben, aus: Es „handelt […] sich um drei Werke mit spezifischer Eigenart, und die Adaptationen erweisen sich als je­ weils bewußte Neugestaltungen.“19 Bereits früh wurde angenommen, dass in Strickers ‚Karl‘ gegenüber dem ‚Rolandslied‘ die Figur des Herrschers, also Karls, aufwertet wurde.20 Diese These ist insbesondere damit begründet worden, dass der Stricker dem Text eine Kindheits- und Jugendgeschichte Karls voranstellt.21 Doch ergeben sich auch in anderen Passagen Unterschiede, etwa in der Darstellung von Karls göttlicher Beru­ fung zum Krieg. Bereits das ‚Rolandslied‘ erzählt davon, dass Karl den Auftrag zur Eroberung der Iberischen Halbinsel von einem Engel erhält. Doch bleibt die Darstellung bei Konrad sehr knapp: Karl betet, der Engel erscheint und fordert ihn auf, nach Spanien zu zie­ hen: Karl, gotes dinist man, ile in Yspaniam! got hat dich irhoret, daz lút wirdit bekeret; di dír abir widir sint, die heizent des tuvelis kint unt sint allesamt uirlorin; die slehet der gotes zorn an libe unt an sele: die helle puwint di imermere. (‚Rolandslied‘, V. 55–64)22 17 Vgl. Haacke, Konrads ‚Rolandslied‘ und Strickers ‚Karl der Große‘, S. 275. 18 Vgl. Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 51. 19 Ukena-Best, Du solt ouch hin ze Spanje varn, S. 327. 20 Vgl. Ukena-Best, Du solt ouch hin ze Spanje varn, S. 328 (Anm. 7). 21 Vgl. zu dieser These Ukena-Best, Du solt ouch hin ze Spanje varn, S. 328 f. Bernd Bastert deutet die Erweiterung der Handlung um die Kindheitsgeschichte im ‚Karl‘ als Teil der Entwicklung in Richtung einer hagiographischen Karlsvita; vgl. Bastert, Von der Hagiographisierung, S. 60; dazu auch Bigalke, Literarische Herrschersakralität, S. 95–100. Einen allgemeinen Überblick zur Stoffentwicklung gibt Jones, An Introduction to the Chansons de Geste, zu den Kindheitserzäh­ lungen dort S. 31. Im Hinblick auf das ‚Rolandslied‘ ließe sich alternativ zu einer Festlegung, wel­ che Figur für den Text zentral sei, auch argumentieren, dass die Erzählung durch eine Zweiteilung geprägt ist und einen stärker politischen Teil, in dem Karl als Figur dominiert, sowie einen stärker heldenepischen Teil, den die Figur des Roland bestimmt, enthält. 22 Das Rolandslied (Wesle). Übersetzungen hier und im Folgenden von mir.

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‚Karl, Lehensmann Gottes, eile nach Spanien! Gott hat dich erhört, die Menschen werden bekehrt werden; diejenigen aber, die sich dir widersetzen, die sind die Kinder des Teufels und alle zusammen verloren; die vernichtet der Zorn Gottes an Leib und Seele: Sie müs­ sen für immer in der Hölle leiden.‘

Der Stricker, der fünfzig Jahre nach Konrad die Neufassung des ‚Rolandslieds‘ unter­ nimmt, räumt der Erscheinung deutlich mehr Raum ein. Untrennbar werden die po­ litischen Momente der Stricker’schen Darstellung mit der Religion verbunden. Der Text transzendiert wesentliche politische Aspekte (Reichseinheit, Zentralherrschaft, Verbindung mit dem Pontifex), indem er sie dem Gottesboten in den Mund und sei­ nen Zeitgenossen ins Ohr legt, zeigt aber zugleich, dass Herrschaftshandeln nur mit­ hilfe von geistlicher und weltlicher Unterstützung möglich ist. Beim Besuch des Engels befindet sich der Herrscher in Gesellschaft seiner zwölf Paladine. Diese schlafen ein, während Karl betet und bevor der Engel erscheint. Die Konstellation entspricht Christi Gebet in Gethsemane (Mt 26,36–46) mit den schla­ fenden Jüngern, Karl erscheint als figura Christi. Der Engel sagt zunächst Folgendes: Karl, got hat dich vernomen. durch daz bin ich her chomen, daz dů niht ander hast gegert, wan des dich got vil gerne wert. des ist dir din schæffære holt, des dů vil wol geniezzen solt: er git dir noch vil manech lant. (Der Stricker, ‚Karl‘, V. 325–331) Karl, Gott hat dich gehört. Ich bin hierhergekommen, weil du nichts anderes begehrt hast als das, was dir Gott sehr gerne gewährt. Deshalb ist dir dein Schöpfer zugeneigt, was dir sehr zugute kommt: Er gibt dir noch viele Ländereien.

Die mit der Berufung verbundene Auszeichnung Karls ist im Stricker’schen Text viel ausgeprägter als im ‚Rolandslied‘. Karl erhält nicht einfach einen Missionsauftrag, son­ dern der Engel bestätigt, dass die Ziele des Herrschers mit dem Willen Gottes überein­ stimmen.23 Der transzendente Eingriff legitimiert damit nicht nur kommende Unter­ nehmungen Karls als Teil der Heilsgeschichte, sondern auch ex post alle vergangenen. Anders als im ‚Rolandslied‘ geht der Engel auch im Folgenden zunächst nicht auf den Spanienfeldzug ein, sondern stellt Karl die Kaiserkrone in Aussicht: ‚dů solt werben zehant / umbe daz Roͤ missche riche.‘ (Stricker, ‚Karl‘, V. 332, ‚Du sollst sogleich nach der Herrschaft über das Römische Reich streben.‘). Dann werden die noch zu erobern­

23 Vgl. Bigalke, Literarische Herrschersakralität, S. 110.

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den Regionen aufgezählt: Apulien (Puͤ lle, V. 337), Böhmen (Peheym, V. 339), Polen (Poͤ lan, ebd.), Ungarn (Ungern, V. 341), Griechenland (Chriechen, V. 342), Russland (Ruͤ ssen, V. 343), Armenien (Ormenien, V. 344), Serbien (Serven, V. 345), Dänemark (Tenemarchen, V. 347), Schottland (Shotisse erde, V. 348), Irland (Îrlant, V. 350), Eng­ land (Engellant, V. 351) und das Herrschaftsgebiet von Arles (Arle, V. 352). Der Gottes­ bote beschreibt damit ein Reich, das weit größer ist als das Fränkische Reich zu Karls Lebzeiten. Für die zur Entstehungszeit des Karl das Heilige Römische Reich beherr­ schenden Staufer stellt die vom Engel umrissene Landkarte hingegen eine Mischung aus Bestätigung und Anspruch dar: Apulien bildet für Friedrich II., das chint von Pülle (‚Kaiserchronik‘, Anh. I, V. 283), einen Mittelpunkt seiner Herrschaft, das Königreich Böhmen war ein wichtiger Machtfaktor im Reich, Arles markiert den süd-westlichsten Punkt des Reiches. Polen, Ungarn, Griechenland, Dänemark und England bilden die Grenzen des Stauferreichs. Der Text zieht auf diese Weise eine Linie von der Engelser­ scheinung vor Karls Eroberungszügen bis in die Gegenwart der Abfassung des Textes und zur Herrschaft der Staufer. Das ‚Rolandslied‘ steckt zwar einen ähnlichen Herr­ schaftsbereich ab, legt dies jedoch Roland in den Mund, der kurz vor seinem Tod die Stationen seiner militärischen Karriere nennt.24 Während das ‚Rolandslied‘ das Frän­ kische Reich also im Nachhinein als Ergebnis der Kriegszüge Rolands darstellt, weist der ‚Karl‘ die Eroberung des Reiches als göttlichen Willen aus, der Karl offenbart und durch ihn realisiert wird. Indem der Kriegszug nach Spanien vom Engel erst nach der Nennung der weiteren Eroberungsziele in Europa aufgeführt wird, erscheint dieser als in den Kontext des Reichsentwurfs eingebettet. Die Mission wird damit der territoria­ len Konsolidierung des Reichs nebengeordnet: Sone soltůz langer niht sparn, dů solt ouch ze Spanie varn: got wil dich da mit eren. dů solt das liut becheren. (Stricker, ‚Karl‘, V. 355–358) Dann darfst du dich nicht länger zurückhalten, du musst auch nach Spanien fahren: Gott will dich damit auszeichnen. Du musst die Menschen bekehren.

In diesem Zusammenhang übergibt der Engel Karl auch das Schwert Durendart und das Horn Olifant. Diese beiden Objekte soll Karl seinem Neffen Roland für den Kampf gegen die ‚Heiden‘ übergeben. Anders als im ‚Rolandslied‘, in dem auch diese Information erst im Nachhinein im Augenblick von Rolands Tod gegeben wird,25 wer­ den damit die Taten Rolands unmittelbar in den Zusammenhang der gottgewollten

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Vgl. ‚Rolandslied‘, V. 6830–6857. Vgl. ‚Rolandslied‘, V. 6862–6869.

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Reichskonsolidierung durch Karl gestellt. Das ‚Rolandslied‘ stellt den zum Sterben bereiten miles Christianus und die apokalyptische Schlacht um Spanien in den Mittel­ punkt. Der Stricker macht hingegen die Erscheinung des Engels zum Auslöser nicht allein des Spanienfeldzuges, sondern der gesamten Expansionspolitik des Frankenkö­ nigs. Karl werden dazu Werkzeuge in die Hand gegeben, welche er an seinen Neffen Roland weiterreicht. Diese Veränderung der zeitlichen Struktur der Erzählung (nicht der Geschichte) rückt Karl als Schlüsselfigur in den Mittelpunkt und lenkt den Blick auf die Zukunftsorientierung der Vision, welche deren Bedeutung für politisches Han­ deln begründet: Der Herrscher wird in die Lage versetzt, zukünftiges Geschehen zu antizipieren und dadurch zu bestimmen. Auch das schon im ‚Rolandslied‘ zentrale Motiv des Handschuhs als Zeichen der herrschaftlichen Beauftragung wird vom Stri­ cker bereits in die Vision integriert und taucht nicht erst im Augenblick von Rolands Tod auf: Der Engel übergibt den Handschuh Karl, welcher ihn als Zeichen seiner Treue zu Gott anlegen soll. Er fordert Karl auf, mit diesem Handschuh tiuschiu lant (Stricker, ‚Karl‘, V. 402), die Länder deutscher Zunge, zu erobern. Dann soll Karl sich nach Rom wenden, wo der amtierende Papst bald sterben werde, seinen Bruder an dessen Stelle setzen und von diesem die Weihe empfangen. Roland wird dabei zur – wenn auch wichtigen – Helferfigur Karls und in seiner Rolle als Märtyrer und Imitator Christi zurückgedrängt. Horn und Schwert, die im ‚Rolandslied‘ eng mit dem Helden Roland verbunden sind, stehen beim Stricker zunächst Karl zu und gelten zuallererst als Zeichen seiner Erwählung, die seine politische Position gegenüber seinen Vasallen stärken sollen: dů solt morgen fuͤr dich laden di dine liebesten alle, wie in diu rede gevalle. la si horn unt daz swert sehen, so beginnent si jehen, si gesten dir zallen eren. (Stricker, ‚Karl‘, V. 394–399) Morgen sollst du deine Vertrauten alle zu dir rufen, um zu hören, wie ihnen der Plan ge­ falle. Lasse sie Horn und Schwert sehen, dann werden sie sagen, dass sie dir Ehre zollen.

Die Ereignisse der Eroberungszüge Karls des Großen in Zentraleuropa fasst der ‚Karl‘ in knappen Worten zusammen. Dem folgenden, umfassend erzählten Spanienfeldzug geht hingegen zunächst noch ein weiterer Impuls voraus: Karl berichtet dem Papst von seinem Auftrag, der daraufhin zum Kreuzzug gegen die ‚Heiden‘ auffordert.26 Da­ nach ruft Karl erneut seine zwölf Fürsten zusammen, um sich mit ihnen zu beraten.

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Vgl. Stricker, ‚Karl‘, V. 471–478.

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Der Erzähler weist die Rezipienten auf die große Bedeutung dieser Versammlung für die Herrschaftsausübung Karls hin: An in stunt sines dinges vil, als ich iu bescheiden will: ern tet niht an ir rat. (Stricker, ‚Karl‘, V. 507–509) Von ihnen hingen seine Pläne sehr ab, wie ich euch erzählen will: Er tat nichts ohne ihren Rat.

Drei Instanzen werden in Strickers ‚Karl‘ zur Legitimierung des Herrscherhandelns aufgerufen und in Kongruenz miteinander gebracht: Der göttliche Wille, den der Engel vermittelt, die Zustimmung des Papstes, welche im Kreuzzugsaufruf öffentlich gemacht wird, und die Übereinkunft mit den Fürsten, ohne deren Rat Karl keine Un­ ternehmung beginnt. Der Text entwirft ein Herrscherbild, in dem die Herrschaftsaus­ übung göttlich legitimiert ist, zeigt aber zugleich auf, dass diese Legitimierung Teil eines politischen Prozesses ist, an dem mehrere Instanzen beteiligt sind. Erst das Zu­ sammenstimmen aller Einflussfaktoren (Gott, Pontifex, Fürsten) eröffnet die Mög­ lichkeit zum politischen Handeln und zur Herstellung der vorhergesagten Zukunft. Fehlt eines der Elemente, sind dem Herrscher die Hände gebunden. Versuche der Forschung, das Wirken des Strickers auf bestimmte historische Er­ eignisse zu beziehen, sind umstritten.27 Man wird aber zumindest festhalten können, dass die Ausweitung und spezifische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Papst und Kaiser zwar bereits zu Karls Lebzeiten ein Thema war, aber auch gut in die vermute­ te Abfassungszeit passt: 1220 wurde bekanntlich Friedrich II. von Honorius III. nach vorherigen Verwerfungen zum Kaiser gekrönt. Der österreichische Herzog Leopold VI., dessen Hof ein Wirkungsort des Strickers gewesen sein kann, wirkte mehrfach an der Verständigung zwischen dem Papst und dem deutschen König mit.28 Der ‚Karl‘ bezieht – sofern man ihn auf diese Weise kontextualisiert – eindeutig Position für den deutschen König: Einerseits steht nämlich die Herrscherfigur in einem verwandt­ schaftlichen Näheverhältnis zum Papst, andererseits ist er der Garant von dessen Macht. Gleichzeitig weist er die Einstimmigkeit von Papst und König als Ausdruck des göttlichen Willens aus.29 27 Vgl. Schilling, Der Stricker am Wiener Hof?, der versucht auf S. 290 f. den ‚Karl‘ in den Rahmen der Kreuzzugsunternehmungen Friedrichs II. zu stellen und im Gegensatz dazu Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, die auf S. 223 eben diese Zuordnung nachdrücklich bestreitet. 28 Vgl. Schilling, Der Stricker am Wiener Hof?, S. 290 f. 29 Weitere Gesichte und Erscheinungen im ‚Rolandslied‘ und in Strickers ‚Karl‘ dokumentieren die Verbindung der Herrscherfigur mit der göttlichen Sphäre. Dazu zählen Karls prophetische Träu­ me, die auf den Tod Rolands vorausdeuten (vgl. ‚Rolandslied‘, V. 3020–3081 und Stricker, ‚Karl‘, V. 3533–3683). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Karl in den drei Träumen keine

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Als ‚geglättete‘ und ‚höfisierte‘ Fassung des ‚Rolandslieds‘ ist der ‚Karl‘ des Strickers trotz der ähnlichen Handlung nur unzureichend beschrieben. Insbesondere die Engel­ serscheinungen lassen drei Bearbeitungstendenzen erkennen, die politische Implikati­ onen haben und insofern nicht nur der Legitimierung der Herrscherfigur dienen, son­ dern auch eine spezifische Stellung derselben im politischen Gefüge propagieren: 1) Die Konkretisierung der Reichsgrenzen durch den Engel markiert die Kontinuität des Herrschaftsanspruchs des Kaisers bis in die Gegenwart des Verfassers und reklamiert Karl als Gründungsfigur des Stauferreichs; 2) die Positionierungen von Karl als figura Christi und Mittlerfigur sowie die Marginalisierung der Figur Rolands verschieben den Fokus gegenüber dem ‚Rolandslied‘ von den Reichsfürsten auf den Zentralherrscher; 3) der Verweis auf die Funktion Karls als Unterstützer des Papstes markiert die Bedeu­ tung des Königs für die Kurie. Dass dieselbe Erzählung in neuem Zusammenhang aber auch andere Implikationen haben kann, mögen die folgenden Ausführungen zeigen. II. Der Codex 302 der Vadianischen Sammlung: König unter Königen Gerade bei einer Figur wie Karl, die eine derart große Geltung als Bezugspunkt für mittelalterliche Herrscher hatte, kann nicht nur die Entstehungs- sondern auch die Überlieferungsgeschichte für den Zusammenhang von Politik und Vision aufschluss­ reich sein. Im Hinblick auf Strickers ‚Karl‘ und dessen hagiographische Momente ist darauf bereits von Bernd Bastert hingewiesen worden: Die Strickers „Karl“ charakterisierenden massiven hagiographischen Valenzen schlagen sich ebenfalls in Teilen der […] Überlieferung des Werks nieder. Strickers Karl-Vita ist demnach offensichtlich als Teil der Heilsgeschichte aufgefaßt worden. Darauf deutet die zweimalige Überlieferungssymbiose von „Karl“ und der heilsgeschichtlich ausgerichteten „Weltchronik“ Rudolfs von Ems.30

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Möglichkeit hat, in das fatale Geschehen einzugreifen. Die göttliche Inspiration führt dem König seine politische Machtlosigkeit vor Augen, die sich in den folgenden Auseinandersetzungen im Fürstenrat realisiert: Roland wird gegen Karls Willen mit der Nachhut zurückgelassen, während dieser mit dem Hauptheer abziehen muss. Im Gegenzug ermöglicht der göttliche Eingriff auch das Handeln Karls: Nach Rolands Tod bittet der König darum, ihm das Tageslicht zu erhalten, bis er Rache genommen hat (vgl. Stricker, ‚Karl‘, V. 8246–8248), woraufhin die Sonne nach dem Untergang sofort wieder aufgeht (vgl. Stricker, ‚Karl‘, V. 8246–8248). Karl wird auf diese Weise – wie auch schon im ‚Rolandslied‘ – mit dem alttestamentlichen Heerführers Josua (vgl. Jos 10,13) verbunden. Bastert, „der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott“, S. 137 f.

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Es liegt nahe, gerade die politischen Aspekte eines Texts wie Strickers ‚Karl‘, der im Mittelalter nicht nur von historischem Interesse war, sondern auch zeitpolitische Im­ plikationen hatte, im Überlieferungszusammenhang zu untersuchen. Im Folgenden wird daher dem Hinweis Basterts mit dem hier entwickelten Fokus auf politische Mo­ mente nachgegangen, und die gemeinsame Überlieferung von Strickers ‚Karl‘ mit der ‚Weltchronik‘ in der in Zürich entstandenen Handschrift cod. Vad. 302 im Hinblick auf die hier bereits diskutierte Engelserscheinung genauer betrachtet. Die in St. Gallen verwahrte Handschrift 302 der Vadianischen Sammlung wird auf die Zeit um 1300 datiert und enthält zwei Texte, nämlich die ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems und den ‚Karl‘ des Strickers.31 Sie gilt als herausragendes Zeugnis mittelal­ terlicher Buchkunst. Die Handschrift ist planvoll angelegt und besonders prachtvoll ausgestattet, wozu auch ein ausgefeiltes Bildprogramm gehört. Bei der Betrachtung erweist sich, dass die Überlieferungsgemeinschaft mit der ‚Weltchronik‘ auch anders als von Bastert gedeutet werden kann: Durch die Zusammenstellung der Handschrift wird der ‚Karl‘ politisch neu ausgerichtet und auf diese Weise dem Entstehungskon­ text angepasst. Es wird angenommen, dass der Codex 302 in Zürich entstanden ist. Der ‚Weltchro­ nik‘-Teil ist planvoller angelegt als der ‚Karl‘-Teil,32 was den Rückschluss zulässt, die Quelltexte hätten gesondert und nicht in einer gemeinsamen Handschrift vorgele­ gen. Rudolfs ‚Weltchronik‘ ist ein groß angelegtes, aber unvollendet gebliebenes Ge­ schichtswerk, das der alttestamentlichen Geschichte bis zu Salomo folgt. Der Text stellt die Heilsgeschichte entsprechend der Lehre von den sechs Weltaltern (aetates mundi) (Adam, Noah, Abraham, Moses, David, [Christus])33 dar, wobei er Heilsge­ schichte mit Profangeschichte verbindet.34 Da Strickers ‚Karl‘ ebenfalls Herrschaft dar­ stellt, folgt die gesamte Handschrift dem Prinzip mittelalterlicher Chroniken, biblische und christliche Herrschaft aufeinander zu beziehen und in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen.35 Gleichzeitig unterscheiden sich die beiden in dem Codex vereinigten Texte im Hinblick auf Genre und Herkunft. Die vom Stricker umfangreich auserzählte Lebensgeschichte Karls und das besondere Interesse am Fränkischen Reich und dem Schlachtgeschehen in Spanien geht auf die Tradition der Chanson de geste zurück und fügt sich nicht ohne Weiteres zur ‚Weltchronik‘.

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Digitalisat unter http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/vad/0302 [abgerufen am 10.10.2021]. Zur Überlieferungsgeschichte des Codex vgl. Plate, Zur Text- und Überlieferungsgeschichte der ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems, S. 227–229. 32 Vgl. Schneider, Codicologischer und paläographischer Aspekt, S. 19. 33 Vgl. Schmidt, Aetates mundi, bes. S. 292 f. 34 Vgl. Walliczek, Rudolf von Ems, Sp. 340; und mit einer differenzierten Analyse der Konzeption der ‚Weltchronik‘ Benz, Arbeit an der Tradition, S. 149–155. 35 Vgl. zu diesem Aspekt im Hinblick auf die ‚Weltchronik‘ Benz, Arbeit an der Tradition, S. 231–236.

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An der Handschrift haben hauptsächlich drei Schreiber gearbeitet. Der erste ist der Zürcher Schreiberschule zugeordnet worden.36 Für den zweiten Schreiber hat Karin Schneider ein Schülerverhältnis zum ersten Schreiber angenommen, was auf einen Werkstattkontext hindeutet.37 Der dritte Schreiber ist wohl eher in anderen Zu­ sammenhängen als Zürich handwerklich ausgebildet worden. Der erste Schreiber ist identisch mit dem Schreiber der ‚Martina‘ des Hugo von Langenstein. In diesem Text bezeichnet er sich selbst als von sant Gallen Cůnrad,38 weshalb Karin Schneider 1987 annahm, der Schreiber sei mit einem urkundlich belegten Chorherrn des Zürcher Fraumünsters namens Konrad von St. Gallen identisch. Dagegen hat Max Schiendor­ fer 2013 auf der Grundlage neuerer Forschung – unter anderem von Karin Schneider selbst – die Identität des Chorherrn mit dem Schreiber des Manuskripts 302 infrage gestellt und eher einen Berufsschreiber angenommen. Die Frage nach dem Schreiber und auch dem Auftraggeber bleibt offen, doch es lassen sich allgemeinere Aussagen über die politischen Verhältnisse in Zürich um 1300 machen.39 Nach dem Aussterben der Zähringer 1218 wurde Zürich zunehmend eigenständiger. Im Verlauf des 13. Jahrhunderts gewann die Bürgerschaft von Zürich an Selbstbewusst­ sein. Die größte Macht besaß in der Ostschweiz allerdings Rudolf von Habsburg, der 1273 deutscher König wurde. Er versuchte in der Folge mehr Einfluss auf die Stadt zu nehmen, indem er die Reichsvogtei Zürich mit eigenen Kandidaten besetzte und auch die Nachbesetzung vakanter geistlicher Ämter zu bestimmen versuchte. Max Schien­ dorfer hat bereits darauf hingewiesen, dass die Zürcher die Ausweitung der Macht Rudolfs in ihrer Umgebung eher kritisch gesehen haben müssen. Spätestens nach Ru­ dolfs Tod 1291 versuchte sich die Zürcher Bürgerschaft zunehmend dem Einfluss der Habsburger zu entziehen, was in der 1292 beginnenden militärischen Offensive gegen das habsburgische Winterthur mündete. Bei dieser Auseinandersetzung mussten die Zürcher allerdings eine Niederlage hinnehmen und wurden ihrerseits von den habs­ burgischen Truppen belagert. Die Stellung Zürichs im Reich war um 1300 also unsi­ cher. Die starke Bezugnahme des Stricker’schen Textes auf die Reichseinheit und die Zentralherrschaft passt dazu nicht besonders gut. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche politische Idee der Aufnahme dieses Textes in ein Prachthandschrift zugrunde gelegen haben könnte. Hubert Herkommer spricht mit Blick auf den Codex 302 von der „Integration weltlicher Rahmenbedingungen in die biblisch-christliche Geschichtserfahrung“.40 Er zieht politische Interessen als Hintergrund der Beauftragung und Produktion des Codex in Betracht:

36 Vgl. Schiendorfer, Zürich, S. 661. 37 Vgl. Schneider, Codicologischer und paläographischer Aspekt, S. 39. 38 Vgl. Schneider, Codicologischer und paläographischer Aspekt, S. 22. 39 Vgl. Schiendorfer, Ein regionalpolitisches Zeugnis. 40 Herkommer, Der St. Galler Kodex, S. 153.

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[S]o könnte auch für das literarische Programm, das der St. Galler Kodex (und auch das Berliner Fragment) auf höchstem Anspruchsniveau gestaltet, der Anstoß aus der engsten Umgebung des staufischen Königshofes gekommen sein. Denn ein solches Programm, dessen einzelne Elemente von heilsgeschichtlichem Universalismus, Karlskult und Kreuz­ zugsidee von jeher im staufischen Hause ihre besondere Tradition besaßen, mußte sich gerade nach den Jahren des Niedergangs der Staufer nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. (1212–1250) als vorzügliche propagandistische Hilfe anbieten, den zunehmenden realen Machtverlust durch eine überhöhte Ideologie auszugleichen.41

So wertvoll Herkommers umfassende Ausführungen auch sind, bleibt die Annahme einer deutlich älteren Vorlage doch Spekulation. Damit aber stellt sich umso mehr die Frage, wie die Zusammenstellung der Handschrift um 1300 zu deuten ist. Vielleicht lässt sich darin weniger ein Fortschreiben der ursprünglichen Tendenzen als vielmehr ein Bemühen um Integration erkennen, indem die aggressive Reichs- und Expansions­ logik des Stricker-Textes in einen religiös-typologischen Zusammenhang eingebun­ den und damit relativiert wird. Diese These lässt sich am Bildprogramm der Hand­ schrift erhärten.42 Die erste Seite mit Miniaturen im Karlsteil der Handschrift zeigt oben die Übergabe des Schwertes und des Horns an Karl. Unten gibt Karl die beiden Objekte an Roland weiter (Abb. 1, II,3v). Eine weitere Miniatur weiter hinten im Codex (Abb. 2, II,52v) zeigt Rolands Tod. Oben der sterbende Roland, der den von Karl empfangenen Hand­ schuh dem Engel zurückreicht, unten der um seinen Neffen trauernde Karl. Es wird gerade im unteren Bild noch einmal sehr deutlich, dass Karl als Mittler zwischen Ro­ land und den göttlichen Botschafter tritt. Die Miniaturen illustrieren den Text aber nicht nur, sondern markieren auch eine eigene Reihung, welche die historische und politische Ordnungsfunktion von Visio­ nen verdeutlicht. Strickers ‚Karl‘ steht, der historischen Logik folgend, als zweiter Text nach der ‚Weltchronik‘. Diese schließt mit den Königen Israels ab und so gehen der Karlsvita die Geschichten von David und Salomo voran. Die letzte Miniatur im ‚Welt­ chronik‘-Teil stellt Salomos Einweihung des Tempels dar (Abb. 3, I,203r). Es ergibt sich auf diese Weise eine Reihe, die Karl in die Folge der alttestamentlichen Könige stellt. Die in der Tradition der ‚Chanson de Roland‘ ohnehin vorhandene typologische Dimension, die sich etwa in der oben beschriebenen Analogie zu Josua zeigt,43 wird auf diese Weise verstärkt und ergänzt. Die erste Miniatur, die Karl abbildet, stellt ihn dabei aber eben nicht in der Fülle der Macht dar, sondern im Augenblick der göttlichen Be­ auftragung. Ebenso wie das letzte Bild von Salomo diesen nicht als Herrscher, sondern 41 42 43

Herkommer, Der St. Galler Kodex, S. 269. Zur Illumination der Handschrift vgl. Beer, Die Buchkunst der Handschrift 302 der Vadiana. Vgl. Anm. 29.

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im Gebet zeigt. Textzusammenstellung und Bildprogramm des Codex 302 entfalten auf diese Weise eine neue Perspektive: Karl erscheint zwar als Herrscher, doch das weltliche Reich ist in seiner Bedeutung zurückgenommen. Der geistliche Anspruch an den Herrscher tritt in den Vordergrund: Auf Salomos Gottesdienst folgt die göttliche Berufung Karls, die in beiden Fällen von der Geistlichkeit, die in der Figur des Bischofs repräsentiert ist, begleitet wird. Der Herrscher wird auf diese Weise heilsgeschichtlich eingebunden und zwar auf ganz andere Weise, als dies durch das apokalyptische Mo­ ment und die Gotteskriegerschaft im ‚Rolandslied‘ des 12. Jahrhunderts erfolgt. Natürlich gab es in Zürich eine große Wertschätzung und Verehrung Karls des Gro­ ßen. Nicht zuletzt wird ihm die Gründung des Großmünsters nach der Auffindung der Gräber Felix’ und Regulas zugeschrieben.44 Die Stadt beherbergte Karlsreliquien und Karl ist in einem Kapitel des Großmünsters abgebildet. Insofern passt die Pflege der memoria des Fränkischen Kaisers und die Beauftragung einer Karlsvita in einem Prachtcodex gut in den Zusammenhang der Stadt, doch der vom Stricker formulierte Reichsanspruch der deutschen Könige und die Zukunftsausrichtung in der Tradition Karls kann den Zürchern um 1300 nicht gefallen haben. Maximilian Benz hat deshalb mit Blick auf den Codex eine integrierende These formuliert: Ein Codex, der diesseits der aktuellen politischen Auseinandersetzungen ein welt- und heilsgeschichtliches Panorama entwirft, kann ebenso funktional gewesen sein, um mit­ einander in Konflikt stehenden Parteien ein gemeinsames Fundament zu präsentieren.45

Ob nun Abgrenzung oder Pazifikation den Impuls zur Kompilation der Handschrift gaben, beide Deutungen vermögen einen Grund dafür zu liefern, dass die historisch rückwärtsgewandte typologisch-religiöse Anbindung der Karlsfigur über die Konzep­ tion der Handschrift gerade dort stark gemacht ist, wo der Stricker ein politisches Zu­ kunftsprogramm für das Reich in die Engelserscheinung Karls eingewoben hatte. Die politische Vision, die in den 1220er Jahren in Österreich opportun war, konnte achtzig Jahre später in Zürich keinen Bestand haben. In den drei Bearbeitungen derselben Handlung, die hier analysiert wurden, haben sich markante Unterschiede gezeigt: Während im ‚Rolandslied‘ die Erscheinung des Engels nur einen Handlungsimpuls darstellt und den Missionsgedanken klarmacht, lässt die Bearbeitung des Stoffes durch den Stricker eine deutliche Ausrichtung auf die Figur des Herrschers erkennen. Karl wird in die Lage versetzt, die kommenden Ereignisse zu antizipieren, und auch wenn die historische Niederlage bei Roncevalles nicht abzuwenden ist, weist die Engelsvision dennoch auf die zukünftige Entwicklung des Fränkischen Reichs voraus. Auch die Bearbeitung durch die Zürcher Werkstatt

44 Vgl. Gabathuler, Die Kanoniker am Grossmünster und am Fraumünster in Zürich, S. 60. 45 Benz, ‚Weltchronik‘-Codices im Kontext, S. 221.

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um 1300 konzentriert sich auf Karl, gibt der Figur durch das Bildprogramm aber eine neue Ausrichtung: Der Herrscher und sein durch den Engel vermittelter Auftrag wer­ den in die Tradition der biblischen Könige gestellt und dadurch auf die Vergangenheit bezogen. Die Vision erscheint in allen drei Fällen als ein wesentlicher Bestandteil des Herrschaftsentwurfs und der je aktuellen politischen Interessen. Die Relationierung verschiedener Temporalitäten, die spezifische Verschränkung Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft haben daran entscheidenden Anteil. Visionen und Erscheinungen eröffnen exklusives Wissen über die Zukunft und dienen der Legitimierung, aber sie sind auch offen für (Um-)Deutungen. Deshalb sind – und bleiben – sie Elemente des Politischen, deren spezifische Aussage in un­ terschiedlichen Kontexten variiert werden kann. Es lohnt sich insofern, gewesene und kommende politische Visionen zumindest auf die ihnen zugrundeliegenden Interes­ sen hin zu befragen. Mit Visionen sollte man in Zukunft deshalb am besten zur Philo­ log*in gehen. Bibliographie Quellen Einhart, Vita Karoli Magni, hg. v. Evelyn Scherabon Firchow, Stuttgart 1981. Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. v. Edward Schröder (Monumenta Ger­ maniae Historica 1), Hannover 1895. Karl Meinet, hg. v. Adelbert von Keller (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart XLV), Stuttgart 1858. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. v. Karl Wesle, 3., durchg. Aufl. v. Peter Wapnewski (Altdeutsche Textbibliothek 69), Tübingen 1985. Strickers Karl der Große, hg. v. Johannes Singer (Deutsche Texte des Mittelalters XCVI), Ber­ lin/Boston 2016.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302: Rudolf von Ems, Weltchronik / Der Stricker, Karl der Grosse, Teil II, fol. 3v.. . . . . . . 456 Abb. 2 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil II, fol. 52v.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Abb. 3 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil I, fol. 203r. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Copyright: Kantonsbibliothek, St. Gallen, http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/ vad/0302 [abgerufen am 22.09.2022], CC BY-NC 4.0)

Der lange Atem der Ordenspolitik Die frühneuzeitlichen Viten der Visionärin Lucia Brocadelli Cornelia Linde Lucia Brocadelli da Narni (1476–1544) war eine der bekanntesten Dominikanerterzia­ rinnen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert: Die Bekanntheit der stigmatisier­ ten Visionärin reichte weit über Mittelitalien hinaus, und schon zu Lebzeiten wurde sie als Heilige verehrt, gehörte also zu den sogenannten sante vive, den lebenden Heiligen.1 Für den Dominikanerorden erfüllte sie zudem aufgrund ihrer Stigmatisation die fun­ damental wichtige Aufgabe, als Bestätigung der unsichtbaren Stigmata der Ordens­ heiligen Katharina von Siena dienen zu können. Ein Visionszyklus Brocadellis, die ‚Rivelazioni‘, ist ebenso erhalten wie ihre in Zusammenarbeit mit ihren Beichtvätern entstandene Autobiographie. Doch bis ins 21. Jahrhundert sollte keiner ihrer Texte ge­ druckt werden, obgleich der Orden schon zu ihren Lebzeiten proaktiv durch die Pub­ likation von Viten und weiteren Texten die Popularität von Visionärinnen des Ordens förderte. Vielmehr sollte Brocadelli die letzten vier Jahrzehnte ihres Lebens in Ungna­ de verbringen: Trotz ihrer früheren Popularität und ihrer anfänglichen enormen Be­ deutung für den Orden wurde ihre eigene Stimme unterdrückt, und nicht einmal ihre Seligsprechung im Jahr 1710 führte zu einer Verbreitung ihrer Werke. Dieser Aufsatz widmet sich der Repräsentation Lucia Brocadellis in italienischen dominikanischen Viten bis zu ihrer Beatifikation im frühen 18. Jahrhundert. Ihre Visio­ nen und ihre Lebensbeschreibungen wurden der Quellengattung entsprechend darin nur selektiv und geschönt in ganz bestimmten Bahnen verbreitet. Die Funktionalisie­ rung ihrer Figur sowie die Verbreitung von Texten von ihr und über sie – man möchte fast von Vermarktung sprechen – entwickelte sich anders als Brocadellis Anfänge, in denen sie für den Orden eine nützliche Rolle spielte und sich zudem unter der Ägi­ de des mächtigen Herzogs Ercole I. d’Este befand, vielleicht hätten vermuten lassen. 1

Siehe Diario ferrarese, S. 273 (a. 1501): Suor Lucia, che se dice santa. Zu Brocadelli als santa viva siehe Zarri, Tra mistica, S. xv. Zum Konzept der sante vive siehe dies., Le sante vive; zu sante vive siehe jetzt auch Bartolomei Romagnoli, Sante vive in Europa. Mein Dank für kritische Lektüre gilt Miriam Peuker.

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Die Ordenspolitik der Dominikaner im Umgang mit Visionen und Visionärinnen lässt sich dabei an Lucia Brocadellis Fall in gewisser Weise auch ex negativo extrapolieren, wurde sie doch nach anfänglich großer Unterstützung nach Ercoles Tod im Jahr 1505 weggesperrt und zum Schweigen verurteilt. Dieser Aufsatz widmet sich also auch den Umständen und Konstellationen, die dazu führen konnten, dass gewisse Aspekte der Vita und Teile des Visionsœuvres einer Ordensschwester vom Orden nicht funktiona­ lisiert und nicht verbreitet wurden. Die folgenden Darstellungen stützen sich stark auf die unentbehrlichen Arbeiten Tamar Herzigs, E. Ann Matters und Gabriella Zarris, die grundlegende und weg­ weisende Veröffentlichungen zu Brocadelli publiziert haben. Nach einem gestrafften Überblick über Brocadellis Leben sowie über die bereits zeitgenössischen Gründe für ihre Verehrung, aber auch über Schwierigkeiten mit ihrer Person skizziert der zweite Abschnitt, wie es zu Brocadellis tiefem Fall im frühen 16. Jahrhundert kam. Der knappe Blick auf Brocadellis Autobiographie sowie ihre ‚Rivelazioni‘ konzentriert sich dabei auf die Frage der Überlieferung sowie auf die ordenspolitisch problematischen Inhalte ihrer Visionen in den ‚Rivelazioni‘. In der Folge werden vier frühneuzeitliche domini­ kanische Viten auf die Darstellung Brocadellis als Visionärin sowie auf die Rezeption ihrer Stigmata und Jungfräulichkeit untersucht. Es soll erörtert werden, wie Brocadelli von einem vielversprechenden Goldkind der Dominikaner zu einer persona non grata wurde, die später aber doch unter Aussparung einiger problematischer Aspekte vom Orden rehabilitiert wurde. I. Geboren wurde Lucia Brocadelli am 13. Dezember 1476 in der umbrischen Stadt Nar­ ni in eine einflussreiche Familie. Mütterlicherseits war sie adeliger Abstammung, ihr Vater Bartolomeo war Kämmerer (tesoriere) der Stadt. Gleich drei ihrer Onkel arbeite­ ten an der päpstlichen Kurie: väterlicherseits Pietro Paolo und Domenico, letzterer als Datar, und mütterlicherseits Simone, der als auditor an der Römischen Rota tätig war.2 Lucia Brocadelli wurde nicht lange nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1490 mit dem Mailänder Adeligen Pietro di Alessio verheiratet. Ihre Ehe sollte schon unter Zeit­ genossen Skepsis an ihrer angeblichen Heiligkeit aufkommen lassen, legte sie doch Zweifel an ihrer behaupteten Jungfräulichkeit nahe. Potentiellem Misstrauen versucht schon Brocadellis Autobiographie Vorschub zu leisten, indem mehrmals auf ihre in­

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Prosperi, Brocadelli, Lucia; Zarri, Tra mistica, S. xvii; Herzig, Christ Transformed, S. 83. Die vorliegende Zusammenfassung gibt nur die hier wichtigsten Grundzüge der Vita Brocadellis wie­ der. Am detailreichsten ist ebd., S. 83–154, passim. Für einen kurzen Abriss siehe auch Matter, Prophetic Patronage, S. 168–176.

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takte Virginität angespielt wird, ohne selbige jedoch, wie Zarri betonte, explizit zu konstatieren.3 Laut Adriano Prosperi legte der Dominikaner Martin von Tivoli, der Lucia Broca­ dellis Beichtvater werden sollte, ihr am 8. Mai 1494 den Habit der Dominikanerterzia­ rinnen an. Im folgenden Jahr verließ Brocadelli ihren Ehemann, um sich ganz ihrem Glauben zu widmen, und floh zu ihren Onkeln nach Rom. Von dort wurde sie schließ­ lich ins Kloster San Tommaso in Viterbo geschickt.4 Brocadellis Stigmatisation am 4. März 1496 sollte ihre Zukunft grundlegend be­ stimmen, sowohl positiv wie negativ. Der Fall zog viel Aufmerksamkeit auf sich, nicht nur innerhalb Viterbos, sondern auch weit darüber hinaus, so dass ihr Kloster zu ei­ nem Pilgerort wurde.5 Die Echtheit ihrer Stigmata sollte mehrmals und durch ver­ schiedene Instanzen geprüft werden.6 So vermerkte Girolamo Borselli († 1497), ein dominikanischer Chronist und großer Kämpfer für die Anerkennung der Stigmata Ka­ tharinas von Siena, in seiner ‚Cronica magistrorum generalium ordinis fratrum praedi­ catorum‘ für das Jahr 1496, Papst Alexander VI. habe einen Bischof zur Überprüfung der Stigmata Brocadellis nach Viterbo geschickt, die Untersuchung des Falles dauere aber noch an.7 In Borsellis ‚Cronica‘ findet sich auch eine erste wichtige Erwähnung im Hinblick auf Brocadellis Reputation als Visionärin. Für das Jahr 1495 erwähnt Bor­ selli eine Begegnung mit Brocadelli, die „viele Offenbarungen von Gott erfährt“.8 Um diese Aussage zu unterstreichen, berichtete Borselli von einer Vision Brocadellis, die eine Bestrafung der Stadt Rom beschreibt, welche er in der Überschwemmung des Tibers noch im selben Jahr als erfüllt ansah.9 Brocadelli war also, wie sich dieser Passage aus dem Jahr 1495 entnehmen lässt, bereits als Visionärin bekannt, bevor sie im März 1496 stigmatisiert wurde.10 Borsellis Werk dient somit als wichtiges Zeugnis

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Zarri, Tra mistica, S. xliv. Für einige Anspielungen auf ihre Jungfräulichkeit in ihrer Autobiogra­ phie siehe Brocadelli, Vita, S. 65, S. 69 f. und S. 155. Zarri, Tra mistica, S. xxiv, wies darauf hin, dass die behauptete Jungfräulichkeit Lucias auch im späten 17. Jhd. sowohl angezweifelt als auch verteidigt wurde. Prosperi, Brocadelli, Lucia; Zarri, Tra mistica, S. xvii. Laut Prosperi, Brocadelli, Lucia, kann­ te Brocadelli Martin von Tivoli somit schon vor 1495. Anders Zarri, Tra mistica, S. xvii–xviii, die die Bekanntschaft in die Zeit ihres Aufenthalts in Viterbo datiert. Herzig, Christ Transformed, S. 85; Zarri, Tra mistica, S. xviii. Zur Datierung der Stigmatisation siehe Herzig, Christ Transformed, S. 85 (Anm. 7). Hierzu siehe die detaillierte Darstellung in Herzig, Christ Transformed, S. 83–93. Zit. in Herzig, Christ Transformed, S. 85 f.: Summus pontifex Alexander sextus misit ex urbe episcopum quendam qui rem diligentius examinavit. […] Res adhuc perseverat. Die in einer Handschrift überlieferte Chronik Borsellis ist bisher nicht ediert worden. Für eine neue Studie zu Stigmata siehe Muessig, Stigmata. Zit. in Herzig, Christ Transformed, S. 84: Multas revelationes a Deo habet. Herzig, Christ Transformed, S. 84. Herzig zitiert die relevante Passage samt Beschreibung der Vision aus Borsellis ‚Cronica‘. Als Caveat sei angemerkt, dass Borsellis Text noch nicht ediert und seine Arbeitsweise unerforscht ist. Es ist also möglich, dass er diese Passage erst nach ihrer Stigmatisierung schrieb.

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dafür, dass Brocadelli unabhängig von und zeitlich vor ihrer Stigmatisation für ihre Visionen berühmt war. Ihre Jungfräulichkeit ist in den wenigen publizierten Auszügen der ‚Cronica‘ kein Thema. Unter den Zeitgenossen, deren Aufmerksamkeit Brocadellis Visionen und Stigmata auf sich zogen, befand sich auch Herzog Ercole d’Este, der beschloss, die junge Ter­ ziarin zu sich nach Ferrara zu holen.11 Nicht zuletzt angesichts der Zweifel an ihrer Jungfräulichkeit sprach jedoch auch ihre Stigmatisation nicht nur für ihre Heiligkeit, sondern sie konnte und wurde ihr auch als Betrug ausgelegt. Ercoles Ratgeber, der Rechtsgelehrte und Bischof Felino Sandei (1444–1503), riet dem Herzog in klaren Worten von seinem Plan ab, Brocadelli nach Ferrara zu holen, hielt er doch ihre Stig­ mata für gezielte Täuschung. In einem Brief vom 16. Februar 1498 schrieb er an Ercole d’Este, „dass es sich um eine erdichtete Angelegenheit von großer Traurigkeit und bar jeder Wahrheit handelt“.12 Vielmehr, so Sandei weiter, handele es sich um eine Täu­ schung durch eine ihrer Mitschwestern in Kollaboration mit einigen dominikanischen Brüdern in Viterbo auf Kosten der von ihm als naiv bezeichneten Brocadelli. Ebenfalls in den Betrug involviert sei auch einer ihrer Onkel, der das wirtschaftliche Potenzial der Stigmata erkannt habe. Um dem ganzen Schwindel noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, habe der bereits erwähnte Martin von Tivoli eine offizielle Beglaubigung der Stigmata einholen wollen, die der Bischof von Castro, Tito Veltri, jedoch nicht unterzeichnet habe.13 Trotz dieser Einwürfe von Seiten Sandeis beharrte Ercole d’Este auf seinem Willen, Lucia Brocadelli nach Ferrara zu holen, räumte jedoch ein, er werde die Echtheit der Stigmata noch einmal prüfen lassen. Seine Umsiedelungspläne hatte der Herzog je­ doch ohne die Bevölkerung Viterbos gemacht, die ihre santa viva und Prophetin nicht ziehen lassen wollte. Nachdem offen geführte Verhandlungen fehlgeschlagen waren, wurde Lucia Brocadelli schließlich durch Bestechung des Podestà von Viterbo und unter Mitwirkung Sandeis im April 1499 aus der Stadt geschmuggelt.14 In Ferrara, wo

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Zarri, Tra mistica, S. xviii; Herzig, Christ Transformed, S. 89. Samaritani, Lucia da Narni, war mir nicht zugänglich. Sandei [Brief an Ercole d’Este], bes. S. 4: Dopoi che io o cercato per diverse vie se queste stygmate de sor Lucia che è a Viterbo sono vere, tandem con gran secreto et ocultamente ho trovato il vero indubitatamente et trovo che è cosa finta et de gran tristicia, senza alcuna verità. Zu Sandei siehe Arrighi, Felino Sandei. Sandei [Brief an Ercole d’Este], S. 5. Siehe auch die Zusammenfassung in Rusconi, La verità, S. 45–63, bes. S. 58, und Zarri, Tra mistica, S. xviii; Herzig, Stigmatics, S. 142–164, bes. S. 146; Herzig, Christ Transformed, S. 212, gibt als Namen des Bischofs von Castro Maulino Tito an. Ich folge Rusconi, der den Namen „Tito Veltri“ nutzt, der auch bereits von Eubel, Hierarchia Catho­ lica, S. 121, aufgeführt wurde. Matter, Prophetic Patronage, S. 170; Herzig, Christ Transformed, S. 89; Zarri, Tra mistica, S. xviii; Herzig, The Rise and Fall, S. 36 f. Zur Entführung Brocadellis aus Viterbo siehe auch Tuohy, Herculean Ferrara, S. 176. Mehr als 60 Briefe, die insbes. in Zusammenhang mit Brocadel­ lis Umsiedelung von Viterbo nach Ferrara stehen, wurden ediert in Gandini, Sulla venuta.

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Brocadelli am 7. Mai 1499 eintraf, ließ Ercole für sie das passend nach der ersten Stig­ matisierten des Dominikanerordens benannte Kloster Santa Caterina bauen, in das sie am 5. August 1501 einzog.15 Wie angekündigt, ließ Ercole die Echtheit der Stigmata Brocadellis prüfen. Die Un­ tersuchung wurde durch den dominikanischen Inquisitor Giovanni Cagnazzo in Ge­ genwart von niemand geringerem als dem ebenfalls dem Predigerorden angehörenden Heinrich Kramer, dem Autoren des 1487 erstmals gedruckten Hexenhammers, durch­ geführt.16 Die Übertragung der Prüfung der Stigmata auf einen Inquisitoren und den notorischen Hexenjäger mag vielleicht auf den ersten Blick eine kritische Ausgangs­ haltung des Komitees suggerieren, dessen Untersuchungsergebnisse für Brocadelli auch negative Folgen hätten haben können. Doch spielten ordenspolitische Faktoren zweifellos eine tragende Rolle für den positiven Ausgang der Untersuchung der Do­ minikanerterziarin, die – das muss nochmal betont werden – von zwei Dominikanern durchgeführt wurde. Wie eingangs bereits erwähnt, war die Existenz der Stigmata Brocadellis für den Dominikanerorden einem wichtigen Zweck dienlich, wurden sie doch als Bestätigung der Stigmatisierung der Ordensheiligen Katharinas von Siena angesehen.17 Kathari­ na, die 1380 verstorben und 1461 heiliggesprochen worden war, war 1374 stigmatisiert worden, allerdings waren ihre Wundmale stets unsichtbar geblieben. Der Dominika­ nerorden hatte daher mit dem Kampf um die kirchliche Anerkennung ihrer Stigmata ein mühsames Unterfangen auf sich genommen, zumal der franziskanische Papst Six­ tus IV. 1472 die bildliche Darstellung sowie die Erwähnung der Stigmata Katharinas in Predigten verbot. Erst unter Papst Urban VIII. (1623–1644) wurden ihre Stigmata offiziell von der Kirche anerkannt. Bis dahin blieben sie ein Streitpunkt und wurden insbesondere von Franziskanern angezweifelt.18 Auch Brocadellis Stigmata waren zunächst unsichtbar gewesen, doch wurden sie, wie sich einem Notariatsinstrument, das eine Untersuchung der Wundmale vom 23. April 1497 beglaubigt, entnehmen lässt, zu echten Wunden, durch die die Authentizität der

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Diario ferrarese, S. 273 (Anm. 2); Matter, Prophetic Patronage, S. 172; Herzig, Savonarola’s Wo­ men, S. 85–89; Zarri, Tra mistica, S. xx. Das Kloster Santa Caterina wurde im Jahr 1847 zerstört; siehe Tuohy, Herculean Ferrara, S. 372. Wie Kramer überhaupt von Brocadellis Stigmata erfuhr, ist unklar; siehe Herzig, Christ Transfor­ med, S. 89. Zu Cagnazzo siehe ebd., S. 91 f. Zu Kramer und seiner Sicht auf Brocadelli und andere stigmatisierte Dominikanerterziarinnen siehe unten. Zarri, Tra mistica, S. xviii. Zur Verbindung der Stigmatisation Katharinas und Brocadellis durch Ercole d’Este siehe Rusconi, La verità, S. 59 f. Zarri, Tra mistica, S. xiii, unterstreicht die Bedeu­ tung der ‚Vita‘ und ‚Gesta‘ Katharinas für Colomba von Rieti, Osanna von Mantua, Lucia Broca­ delli und Caterina de’ Ricci, die Anfang des 16. Jhds. ihr Heiligkeitsmodell nachahmten. Zu den unsichtbaren Stigmata Katharinas von Siena siehe Klaniczay, Mystical Pregnancy, S. 159–178, bes. S. 163 und S. 165. Zur Anerkennung der Stigmata durch Urban VIII. siehe Par­ sons, Saint Catherine, S. 38. Zu Katharina von Siena allgemein siehe Muessig/Ferzoco/Ki­ enzle, Companion.

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Stigmata Katharinas von Siena bestätigt werden sollten: Auf Fürbitten Katharinas, so die Aussage Brocadellis, habe Christus ihre Stigmata sichtbar werden lassen, um als Bestätigung der Wundmale der Ordensheiligen zu dienen. Dass Brocadellis Stigma­ ta zunächst unsichtbar gewesen waren und somit dem Muster der Wundmale Katha­ rinas von Siena folgten, sollte den Bestrebungen nach der Anerkennung der Stigmata Katharinas zusätzliches Gewicht verleihen, bestätigte doch ihre Sichtbarwerdung die Möglichkeit der Existenz von für das menschliche Auge unsichtbaren Stigmata.19 Einen weiteren ordenspolitischen Faktor, der Einfluss auf den Ausgang der Unter­ suchung der Stigmata Brocadellis gehabt haben mag, stellte für den Dominikaneror­ den das Debakel des 1498 in Florenz als Häretiker und Schismatiker hingerichteten Ordensbruders Girolamo Savonarola dar.20 Die Dominikaner konnten sich kein wei­ teres Öffentlichkeitsarbeitsdebakel leisten, was bei Brocadellis Bekanntheitsgrad und Popularität schwierig zu vermeiden gewesen wäre, wenn sich ihre Stigmata als Betrug erwiesen hätten. Für den Orden war somit die Echtheit der Stigmata Brocadellis von Bedeutung, sowohl um die Anerkennung der unsichtbaren Stigmata der Ordensheili­ gen Katharina von Siena vorantreiben zu können als auch um einen weiteren Skandal zu vermeiden. Die Figur Savonarolas wirkte noch auf weitere Weise auf Brocadellis Schicksal. Denn Ercoles Wunsch, sie nach Ferrara zu holen, war sicherlich auch beeinflusst von seiner eigenen positiven Einstellung zu Savonarola, besaß Brocadelli doch den Ruf einer savonarolanischen Visionärin.21 Der Hof der Este spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Schriften des aus Ferrara stammenden Savonarola in Nordit­ alien, und der Herzog selbst hatte mehrmals politischen Rat bei dem Dominikaner

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Herzig, Christ Transformed, S. 87 f.; diese Untersuchung der Stigmata wurde durch den Domi­ nikaner Domenico de’ Pirri vorgenommen. Herzig zitiert das Dokument wie folgt (ebd., S. 88): De suis stigmatibus dixit [Lucia], et affirmavit ingenue, quod Sancta Katherina Senensis precibus et orationibus obtinuit a domino nostro Ihesu Christo, ut stigmata ipsius Lucie essent visibilia et palpabilia, in fidem et testimonium stigmatum ipsius Sancte Katherine. Ebd., S. 88 (Anm. 19), weist darauf hin, dass der Text dieses Instruments von Heinrich Institoris in seinem 1501 erschienenen ‚Sanctae Romanae Ecclesiae fidei defensionis clippeus adversus Waldensium seu Pickardorum haeresim‘ gedruckt wurde. Zarri, Tra mistica, S. xx. Herzig, The Rise and Fall, S. 43; zu Brocadelli als savonarolanischer Visionärin siehe auch dies., Savonarola’s Women, S. 75–82. Gardner, Dukes & Poets, S. 368 (Anm. 1), äußert fragend die Spe­ kulation, ob es sich bei der Nonne aus Viterbo, die in einer im ‚Diario ferrarese‘ aufgezeichneten Vision Savonarola von singenden Engeln ins Paradies gerufen werden sah, um Brocadelli gehan­ delt haben könnte. Dass es sich bei der suora murata in una colonna um Brocadelli handelte, ist jedoch bestenfalls eine Vermutung, gibt es doch keinen Hinweis darauf, dass sie eingemauert war, noch wird in Verbindung mit Brocadelli eine Säule erwähnt, wie schon Gardner betont. Diario ferrarese, S. 211: Item come in quella hora che frate Jeronimo fu morto, una suora murata in una colonna in una giesia in Viterbo et fa miraculi, vide le anime di frate Jeronimo, frate Dominico da Pesscia, frate Silvestro, suoi compagni on [sic] discipuli, con lui morti et arsi, essere portate da li angeli in Paradiso, cantando.

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gesucht.22 Nach der Übersiedelung Brocadellis von Viterbo nach Ferrara trat bald Sa­ vonarolas Nichte Veronica, deren Vater Ognibene, Bruder Girolamos, in Ferrara den Kult Savonarolas vorantrieb, der Gruppe der Terziarinnen um Brocadelli bei.23 Gerade im Hinblick auf diese Prämissen bezüglich der Bedeutung Brocadellis für den Dominikanerorden erhält die Besetzung des Untersuchungskomitees mit Cagnaz­ zo und Kramer noch in einer weiteren Hinsicht einen Beigeschmack, war doch Gio­ vanni Cagnazzo nicht nur Dominikaner und Inquisitor, sondern zugleich auch noch Beichtvater Ercoles und somit wohl auch unabhängig von ordenspolitischen Überle­ gungen nicht unvoreingenommen hinsichtlich des Ausgangs der Untersuchung.24 So überrascht es nicht, dass das am 2. März 1500 vom Notar Bartolomeo Silvestri ausge­ stellte Notariatsinstrument beurkundete, dass Cagnazzo und Kramer zu dem Schluss kamen, Brocadellis Wundmale seien übernatürlich.25 Jenseits seiner Rolle bei der Begutachtung ihrer Stigmata spielte Heinrich Kramer durch seine Veröffentlichungen für Brocadellis Bekanntheit insbesondere in Mitteleu­ ropa eine maßgebliche Rolle, war er doch in eine Publikation aus Brocadellis Lebzei­ ten, die einen klaren Schwerpunkt auf die Betonung ihrer Stigmata legte, involviert. Das Büchlein mit dem Titel ‚Stigmifere virginis Lucie de Narnia aliarumque spiri­ tualium personarum feminei sexu facta admiracione digna‘ wurde erstmals 1501 von Konrad Baumgarten in Olmütz gedruckt, als Herausgeber fungierte neben Heinrich Kramer sein Ordensbruder Jakob Johannes Streller.26 Neben kurzen Stellungnahmen verschiedener Würdenträger zu Brocadelli, aber auch zu Colomba von Rieti, Stefana Quinzani und Hosanna von Mantua, alle drei ebenfalls Dominikanerterziarinnen, ent­ hält das Werk auch ein Gedicht mit dem Titel ‚Carmen theocasticon de Lucia Narni­ ensis tercii habitus cherubici Dominici‘, das ganz dem Lobpreis Brocadellis und insbe­ sondere ihren Stigmata gewidmet ist.27 Ihre Visionen spielten in dem Büchlein bestenfalls eine Nebenrolle. Stattdessen lag die Aufmerksamkeit auf Brocadellis Stigmata sowie ihrer allgemein heiligen Lebens­ weise. Diese inhaltliche Ausrichtung unterstreicht die Vermutung Roberto Rusconis, Kramer habe in den Stigmata Brocadellis und anderer Dominikanerinnen ein Mittel im Kampf gegen Häresie gesehen.28 Die übernatürliche Gegebenheit ihrer Wundmale 22 23 24 25 26 27 28

Herzig, The Rise and Fall, S. 42. Ebd., S. 42 f., bietet eine kondensierte Fassung der Beziehung zwischen Ercole und Savonarola und umreißt den Einfluss des Dominikaners auf den Herzog. Herzig, The Rise and Fall, S. 47 f. Zur Bedeutung Brocadellis für den Savonarola-Kult allgemein siehe ebd. Herzig, The Rise and Fall, S. 55. Das Dokument wird zitiert von Herzig, Christ Transformed, S. 92. Zu dem Notariatsinstrument siehe auch Zarri, Tra mistica, S. xxf. Herzig, Christ Transformed, S. 158 und S. 279. Zu den italienischen Beziehungen Strellers sie­ he ebd., S. 157 f. Ebd., S. 293–320, bietet eine Edition der in dem Büchlein enthaltenen Texte. Der Band enthält auch Texte zu Colomba von Rieti. Siehe ‚Carmen theocasticon‘, ediert in Herzig, Christ Transformed, S. 313–319. Rusconi, La verità, S. 45–63, bes. S. 59. Ähnlich auch Zarri, Tra mistica, S. xxi.

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zu betonen, war also aus Warte des Ordens für die Bedeutung der lebenden Heiligen im Hinblick auf ihre Nutzung zur Bekämpfung von Häresie bedeutender, als ihre Vi­ sionen zu publizieren. Bemerkenswerterweise – und dies ist für die Rekonstruktion des italienischen Kon­ textes von Interesse – enthält das Büchlein auch die Abschrift eines positiven Gutach­ tens des franziskanischen Bischofs von Telese, Pietro Palagario (oder Palagano; † 1505 in Ferrara), zu Brocadellis Stigmata.29 Dies war potentiell von Relevanz sowohl für Ercole als auch für den Predigerorden, da damit die franziskanischen Rivalen – oder zumindest einer von ihnen – die Echtheit der Wundmale anerkannten. Palagario sei­ nerseits besaß lange Zeit enge Verbindungen zu den Estes und Ferrara, wodurch sich die Verbindung zu Brocadelli und wohl auch das positive Gutachten erklären. Er war Erzieher Ippolitos d’Este, des Sohnes Ercoles und späteren Kardinals und Bischofs von Ferrara, unter dessen Episkopat Palagario zudem Suffraganbischof von Ferrara war.30 II. Wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung Kramers sowie insbesondere den positiven Gutachten zu ihren Stigmata wurde es sehr plötzlich sehr still um Lucia Brocadelli. Diese Stille überrascht umso mehr, wenn man ihre bis dahin trotz aller Schwierigkei­ ten bestehende enorme Popularität bedenkt: In Viterbo und folgend in Ferrara unter der Ägide von Ercole d’Este wurde sie als santa viva verehrt; Anfragen nach von ihren Stigmata blutdurchtränkten Verbänden kamen vom französischen Hof;31 in Spanien diente sie der Dominikanerterziarin María de Santo Domingo als Vorbild.32 Broca­ delli hatte also zu Beginn des 16. Jahrhunderts Bekanntheit und Anerkennung über Mittelitalien hinaus genossen,33 doch das unglückliche Zusammenspiel verschiedener Umstände führte zu ihrem Niedergang, der ein schlagartiges Schweigen von domini­ kanischer Seite nach sich zog. Der Wendepunkt ihres Schicksals ereignete sich für Brocadelli mit dem Tode Erco­ les am 25. Januar 1505, als ihre sichtbaren Stigmata verschwanden. Nun, da ihr Patron und Beschützer verstorben und ein Hauptgrund für ihre Verehrung abrupt verschwun­

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Herzig, Christ Transformed, S. 305–313. Zu Palagario siehe auch ebd., S. 166–172. Herzig gibt als Namen Palagano statt Palagario an. Die Form „Palagario“ findet sich z. B. in Rossi, Catalogo, S. 107 und S. 253, sowie in Morelli, Vite, S. 253. Zu seiner Position als Erzieher Ippolitos siehe Morelli, Vite, S. 253; zu seiner Position als Suffrag­ an siehe Venezia, Biografia serafica, S. 204. Zarri, Pietà e profezia, S. 217, und Anm. 61 in diesem Beitrag. Matter, Prophetic Patronage, S. 173. Für ein weiteres Beispiel ihrer Popularität in Spanien siehe Herzig, Savonarola’s Women, S. 96. Die Bekanntheit war nicht immer positiver Natur; so waren im Königreich Böhmen Zweifel an ihrer Heiligkeit laut geworden; siehe Herzig, Christ Transformed, S. 157.

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den war, konnten sich kritische Stimmen vermehrt Gehör verschaffen, woraufhin die bereits existierenden Risse in ihrem sozialen Umfeld zutage traten sowie die prekäre ordenspolitische Konstruktion ihrer Identität ins Wanken geriet. Das Verschwinden der sichtbaren Stigmata führte wiederum zu Vorwürfen der Täuschung und des Be­ trugs.34 Zur Erklärungsnot, die das Unsichtbarwerden der Wundmale nicht zuletzt im Hinblick auf die erstrebte Anerkennung der Stigmata Katharinas von Siena für den Or­ den verursachte, das zudem etwaigen Kritikern und Zweiflern neue Munition lieferte, stellte nun wohl auch ihre Nähe und Verehrung Savonarolas, die sie mit ihrem Patron Ercole geteilt hatte, ein Problem dar. Neben diesen spezifisch den Orden betreffenden Problemen im Hinblick auf Lucia Brocadelli brachen auch etwaige zwischenmenschli­ che und personelle Schwierigkeiten im Kloster Santa Caterina hervor. In dem Kloster herrschte zum Zeitpunkt des Todes ihres Protektors Ercole schon länger Unfrieden, hatte sich doch Brocadelli als unerfahrene Priorin bewiesen, der nicht zuletzt vorge­ worfen wurde, Almosen, die dem Kloster geschenkt worden waren, unter ihren Ver­ wandten verteilt zu haben. Schon im Februar 1505 wurde sie vom Priorinnenamt abge­ setzt. Folgend wurde sie zum Schweigen verpflichtet und dem Kloster strenge Klausur auferlegt,35 ihre Möglichkeiten für etwaigen Umgang mit der Außenwelt wurden also stark beschnitten. Sie durfte keine privaten Gespräche mehr führen, und auch ihr Beichtvater wurde ausgetauscht: Der ihr freundlich gesinnte Niccolò del Finale wurde abgesetzt und für ihn wurde Benedetto da Mantova eingesetzt, der eine ablehnend kritische Haltung gegenüber der stigmatisierten Visionärin innehatte.36 Brocadelli, die erst vier Jahrzehnte später, am 15. November 1544 versterben sollte, lebte nun in Isola­ tion, und ihre Bekanntheit im katholischen Europa sowie ihre Bedeutung für den Or­ den schwanden. Es begann aber auch das – wie Gabriella Zarri es nannte – „geheime Leben“ der Lucia Brocadelli, das sich in ihren Schriften offenbarte.37 War Lucia Brocadelli in den Jahren vor Ercoles Tod unter anderem durch Girola­ mo Borselli und Heinrich Kramer Aufmerksamkeit zugekommen, gab es vom Able­ ben des Herzogs bis 1577 keine dominikanischen Werke, die sich ihr widmeten. Ein dreiviertel Jahrhundert schwiegen somit die Ordensquellen. In diese Zeit, die fast das

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Zarri, Tra mistica, S. xxi, die das Unsichtbarwerden der Stigmata zeitgleich mit dem Tod Erco­ les ansetzt, ohne hierfür eine Quelle zu nennen. Rusconi, La verità, S. 60, gibt an, allerdings auch er ohne Verweis, dass Brocadellis sichtbare Stigmata bereits zwei Jahre vor dem Tod Ercoles verschwunden seien. Die Umstände, die zu Brocadellis Niedergang führten und ihn folgend be­ gleiteten, werden hier nur angerissen. Herzig, Savonarola’s Women, bes. S. 136–142, bietet eine detailreiche Erörterung der Faktoren. Zu den Entwicklungen nach Ercoles Tod siehe Herzig, The Rise and Fall, S. 53, und Anm. 57 in diesem Beitrag, Zarri, Tra mistica, S. xxi, und insbes. Herzig, Savonarola’s Women, S. 127–142. Herzig, The Rise and Fall, S. 53 f., weist daraufhin, dass auch andere pro-savonarolanische Beicht­ väter von ebensolchen Mystikerinnen des Amtes enthoben wurden. Siehe auch dies., Savonarola’s Women, S. 132 und S. 136. Zarri, Tra mistica, S. xxif.

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gesamte 16. Jahrhundert überdauerte, fallen die Endfassung ihrer Autobiographie und die Komposition ihrer ‚Rivelazioni‘. Die Autobiographie ist in einer einzigen Handschrift ausgerechnet franziskanischer Provenienz aus dem 18. Jahrhundert im Provinzarchiv der Franziskaner in Bologna überliefert. In der Handschrift trägt die Autobiographie den Titel ‚Vita della B. Lucia da Narni Domenicana copiata dall’Autografo della detta beata‘,38 nimmt also für sich in Anspruch, eine Kopie der von Brocadelli selbst geschriebenen Fassung zu sein. Der leider nicht vollständig erhaltene Text, der bis zum Jahr ihres Todes geschrieben oder zumindest überarbeitet wurde, stammt nicht exklusiv aus Brocadellis Feder, sondern es handelte sich um eine Koproduktion: Neben Brocadelli selbst spielten ihre Beicht­ väter eine Schlüsselrolle bei der Aufzeichnung ihrer Visionen, und auch ihre Schwester hat zu dem Werk beigetragen.39 Brocadellis Beichtväter waren nicht nur bei der Komposition der Autobiographie, sondern auch in ihrer Funktion für die Geltendmachung und Authentisierung der Vi­ sionen von Bedeutung, attestierten sie doch durch ihre Mitautorschaft, dass Broca­ dellis Visionen göttlicher Natur waren. Gleichzeitig bietet Brocadellis Vita allerdings mehrmals einen Zirkelschluss, indem im Text selbst die legitimierende Rolle und Stel­ lung der Beichtväter ihrerseits beglaubigt und bestätigt wurde. So beginnt die Vita mit einer Vision dreier ihrer Beichtväter im Paradies, wodurch in sich die Authentizität der Visionen ob der Präsenz der Beichtväter im Himmel angezeigt wird.40 Darüber hinaus tradiert die Autobiographie, Brocadelli habe bereits als Kind mehrmals Visi­ onen gehabt, in denen Gott Vater zu ihr gesprochen und ihr den rechten Beichtvater zugesagt habe.41 Früher in der Vita heißt es schon, der Ordensmeister habe den Do­ minikaner Martin von Tivoli als Beichtvater vorgeschlagen, „und alle stimmten dem Vorschlag einstimmig zu“,42 so dass sowohl ihre Vision als auch ihr Beichtvater, der sie legitimierte, Bestätigung fanden. Gabriella Zarri sah in dem Text eine weitere Leser­ schaft erhofft als nur den der örtlichen Dominikanerinnen.43 Vielleicht hatten somit Brocadellis Beichtväter zunächst geplant, den Text zu veröffentlichen.

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Zarri, Tra mistica, S. li. Zarri, Tra mistica, S. xxxi–xxxiii und S. xxxvii. Brocadelli, Vita, S. 3 f.: El lunedì santo venendo da me, indegna serva de Signor Gesù, quisti tre padri miei confessor, el primo mio madre confessore frate Martino, el secondo padre fra Thomaso da Fiorenza, el terzo il padre frate Domenico da Calvisano, mandati dalla Divina Maestà per essere tutti nella sua celeste e felice patria. Zur Autorisierung von Visionen durch Beichtväter siehe z. B. Zarri, Tra mistica, S. xiii. Brocadelli, Vita, S. 17: Il Signore disse: ‚Figlia mia, io ti voglio dare un buon padre spirituale e di una santa vita, ma non è ancora il tempo‘; siehe auch ebd., S. 19. Brocadelli, Vita, S. 8: ‚La mia fantasia si è de mandarli el padre frate Martino da Tivoli, che altre volte ha hauto cura de lei. Che ve ne pare a voi padri, el debbo mandare?‘ E tutti ad una voce disseno de sì e che niunoo era più a mio proposito de lui. Zarri, Tra mistica, S. xi.

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Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle noch einmal, dass der Text einzig in einem späten codex unicus in franziskanischem Kontext überliefert ist. Obwohl also Brocadellis dominikanische Beichtväter von der Existenz des Textes wussten, ja an sei­ nem Entstehen aktiv beteiligt waren, fand er keinerlei Verbreitung. Dies änderte sich auch nicht, als ab 1541 eine Verwandte Savonarolas Priorin des Klosters Santa Caterina wurde und somit der Wind sich wieder etwas zugunsten Brocadellis gedreht hatte. Das Autograph wie auch eine Abschrift des Textes waren nachweislich noch im 18. Jahr­ hundert im Kloster vorhanden, doch auch die Seligsprechung der Visionärin führte nicht zur Druckfassung des Werkes. Ein Brief des Dominikaners Ferdinando Agostino Bernabei vom 11. März 1722 an die Schwestern des Klosters weist gar darauf hin, dass die Schriften Brocadellis ihr nicht zum Vorteil gereichen würden, und dass die Non­ nen sie unter Verschluss halten sollen.44 Der andere überlieferte Text aus Brocadellis Feder sind ihre ‚Rivelazioni‘, also Of­ fenbarungen, eine Beschreibung von sieben Visionen.45 Sie schrieb die ‚Rivelazioni‘, die stark von Savonarolas ‚Compendio di Rivelazione‘ beeinflusst waren, im letzten Jahr ihres Lebens nieder.46 Auch die ‚Rivelazioni‘ sind, wie schon die Autobiographie, nur in einer einzigen Handschrift überliefert. Dieser Codex stellt jedoch keine Ab­ schrift dar, sondern es handelt sich um ein Autograph.47 Gründe für die mangelnde Verbreitung ihrer spät in ihrem Leben erstellten Schriften, insbesondere für das völlige Fehlen von Abschriften der ‚Rivelazioni‘ gibt es mehrere. Denn neben den problema­ tischen Parallelen zum Werk des häretischen Dominikaners enthalten die ‚Rivelazioni‘

44 Für die Informationen in diesem Paragraphen siehe Zarri, Tra mistica, S. xxvf., S. xxx, S. xxxiii und S. xxxvii. Ebd., S. xxxiii, betont, dass obgleich viele (Co-)Autoren mitwirkten, die Beweislage dafür spricht, dass Brocadelli die Hauptautorin war, und spekuliert ebd., S. xxvi, über die Grün­ de, warum eine Kopie im Archiv der Franziskaner aufbewahrt wurde: vielleicht, um Brocadellis Heiligsprechung vermeiden zu können; aus reinem Interesse; oder aber weil ihr Ehemann Pie­ tro di Alessio nach dem Fortgang seiner Ehefrau dem Franziskanerorden beitrat und somit eine indirekte Verbindung zwischen Brocadelli und den Minoriten bestand. Zarri behauptet, dass in Bernabeis Brief (zit. ebd., S. xxvf.) explizit gesagt werde, eine Abschrift der Autobiographie sei im Archiv der Dominikaner in Rom hinterlegt. Der zitierte Ausschnitt bezieht sich jedoch generell nur auf Schriften Brocadellis und nennt nicht die Autobiographie, ebd., S. xxv: Quanto alli scritti della Beata copiati dal P. Confessore, questi si trovano nell’Archivio della religione, ivi lasciati dal mio antecessore P. M. Ripol; ne ho letto una gran parte; ma, siccome ne‘ discorsi con l’Em. Sig. Card. Sacripante da me tenuti, ebbe l’Eminenza sua la bontà di restar persuaso che detti scritti non solamente non potevano apportare giovamento alcuno alla Causa, ma più tosto cagionare difficoltà insormontabili, così ancora stimo mio dovere pregarla a non farne più commemorazione alcuna con chi che sia, anzi renderli occulti più che sarà possibile, acciò non venghino mai a risapersi da chi deve essere giudice in questi affari. Eine Abschrift des Textes ist im Archiv nach Zarri nicht mehr vorhanden. Zum Schicksal der Handschriften beider Werke Brocadellis siehe auch Herzig, Savonarola’s Women, S. 182 f. 45 Brocadelli, Rivelazioni. Matter postuliert im Kommentar zu ihrer Übersetzung des Textes in Brocadelli, Seven Revelations, S. 305 (Anm. 79), mit gutem Argument, dass die Gesamtzahl der Visionen vermutlich nicht über sieben hinausging. 46 Herzig, The Rise and Fall, S. 37 und S. 54. 47 Matter/Maggi/Lehmijoki-Gardner, Le Rivelazioni, S. 312 und S. 314.

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noch zumindest einen weiteren massiven inhaltlichen Stolperstein, der die Domini­ kaner von einer Veröffentlichung ihrer Visionen abgehalten haben wird und an dem sich die Warnung Bernabeis, ein Bekanntwerden der Texte Brocadellis könnte ihrem Ansehen schaden, eindrücklich illustrieren lässt. Die Autobiographie enthält eine Rei­ he von Visionen, in denen neben Jesus Christus die Jungfrau Maria, Paulus sowie die dominikanischen Ordensheiligen mit Lucia Brocadelli interagieren.48 All diese Figu­ ren sind in einer Vision nicht überraschend, insbesondere das Erscheinen der domini­ kanischen Ordensheiligen passt für die Visionen einer Dominikanerterziarin ins Bild. Doch ist ihr Erscheinen dahingehend von besonderem Interesse, dass sich an dieser letztgenannten Gruppe von Heiligen ein Bruch zwischen der Autobiographie und den ‚Rivelazioni‘ festmachen lässt, der entscheidend zu einer bewusst selektiven und genau kontrollierten Rezeption ihrer Visionen und Werke durch den Orden beigetragen ha­ ben muss. Denn in scharfem Kontrast zu ihrer in Zusammenarbeit mit ihren Beichtvä­ tern geschriebenen Autobiographie wird in den sieben Visionen der ‚Rivelazioni‘ kein einziger dominikanischer Heiliger erwähnt, nicht einmal Katharina von Siena erschien ihr. Stattdessen wird ausgerechnet der Franziskanerorden dreimal erwähnt. Schon in der ersten Vision wird ein „guter Pater“ des Franziskanerordens erwähnt, während in der dritten Vision die Hilfe eines wiederum anonymen Minderbruders betont wird, wobei Brocadelli Franziskus als von ihr geliebt bezeichnet. In der abschließenden sieb­ ten Vision erschien ihr ein Franziskaner namens Chieronimo, der für seine Frömmig­ keit gepriesen wird.49 Aus Perspektive des Dominikanerordens wäre somit die Verbrei­ tung der ‚Rivelazioni‘ dieser problematischen santa viva – ihre Jungfräulichkeit stand zur Debatte, ihre Stigmata waren plötzlich verschwunden – ein unkluger Schachzug, könnten doch die pro-savonarolanischen Inhalte den Orden in Verruf bringen und die positiven Erwähnungen der Franziskaner sowie des heiligen Franziskus selbst, aber keines dominikanischen Heiligen, in den Visionen der Dominikanerterziarin als Ab­ wendung vom Orden oder als Kritik an selbigem gedeutet werden. III. Am Ende des 16. Jahrhunderts, mehrere Jahrzehnte nach Brocadellis Tod, griffen die Dominikaner die stigmatisierte Visionärin ihres Ordens wieder auf und befeuerten ihre Verehrung aufs Neue. 1577 verfasste der Florentiner Dominikaner Serafino Razzi 48 49

Zarri, Tra mistica, S. xvi. Brocadelli, Rivelazioni, S. 316 (Vision 1): Uno padre da bene de l’ordine de Sancto Francesco; ebd., S. 325 (Vision 3): quelo nostro consente frate de l’ordine de mio delecto Francesco […] per diversi e vari modi è venuto al servizio mio, le quale suo servizio ad me content asai bene; ebd., S. 338 (Vision 7): uno reli[gi]oso frate de l’ordine de Santo Francesco … Signore Chieronimo … el dito padre Francescano. Matter (Brocadelli, Seven Revelations, S. 215) hat noch eine weitere Passage als von franziska­ nischem Einfluss gekennzeichnet identifiziert.

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(1531–1613) die erste Vita Brocadellis.50 Als Quelle nannte Razzi Antonino da Ravenna, der Brocadelli kannte und der Informationen von einigen ihrer Beichtväter erhalten hatte.51 Razzi, der ihre Vita in seine Vitensammlung bedeutender Dominikaner und Dominikanerinnen einspeiste, betonte Brocadellis Rolle als Visionärin. So schrieb er: In diesen sechs Monaten [vor ihrem Tod] wurde sie jeden Tag von diesen Heiligen be­ sucht, das heißt jetzt von dem Einen, dann von einem Anderen: von der Jungfrau [Maria], von Johannes dem Täufer, vom Apostel Paulus, mit dem sie gut bekannt war, von dem Evangelisten Johannes, vom heiligen Hieronymus, vom heiligen Dominik, vom heiligen Petrus Martyr und vom heiligen Vinzenz.52

Diese Auflistung von Heiligen, die ihr in den letzten sechs Monaten ihres Lebens in Visionen erschienen, ist aus ordenspolitischer Sicht nicht weiter bemerkenswert, ent­ spricht sie doch dem, was man von einer Dominikanerin erwarten würde: Neben den vier erstgenannten, biblischen Gestalten seien ihr mit Hieronymus ein Kirchenvater sowie die drei dominikanischen Heiligen Dominik, Petrus Martyr und Vinzenz Ferrer erschienen. Das heißt, dass anders als Kramer im Jahr 1501, Razzi im Jahr 1577 Lucias Rolle als Visionärin nicht nur wahrnimmt, sondern auch betont. Die Nennung der drei Ordensheiligen jedoch stimmt zwar mit ihrer Autobiographie, nicht aber mit den in ihren ‚Rivelazioni‘ genannten Personen überein. Die Aufzählung Razzis ist vielmehr klar ordenspolitisch ausgerichtet. Die drei Visionen mit direkten franziskanischen Bezügen aus dem letzten Jahr ihres Lebens, die in den ‚Rivelazioni‘ überliefert sind, werden nicht erwähnt. Ob Razzi Brocadellis ‚Rivelazioni‘ bzw. deren savonarolanischen Inhalte überhaupt kannte, bleibt unklar.53 Als er seine Vita verfasste, so der Standpunkt Herzigs, „her par­ ticipation in the Savonarolan reform had long been forgotten“, und Razzi selbst habe

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Zarri, Tra mistica, S. xxii; Razzi, Vite, S. 151–154. Arcangelo Marcheselli da Viadana, ein Beicht­ vater Brocadellis, hat möglicherweise eine eigenständige Kurzbiographie Brocadellis verfasst, die in ihre Autobiographie eingeflochten wurde, siehe Zarri, Tra mistica, S. xxxvi. Da Entstehungs­ kontext und -zeit dieses eventuell ursprünglich eigenständigen Textes bisher ungeklärt sind, wird er hier nicht berücksichtigt. Laut Elliott, Spiritual Marriage, S. 218, hat Marcheselli eine eigen­ ständige Vita Brocadellis geschrieben, die aber nicht überliefert ist. Quétif/Echard, Scriptores, S. 209, enthält keinen Hinweis auf die angebliche Vita. Razzi, Vite, S. 154: Quanto qui, di questa beata habbiamo scritto, l’hauemo hauuto questo anno, in Pesaro, dal Reuerendo padre frate Antonino da Rauenna, padre di età, & Priore moderno nel conuento di Pesaro; il quale la conobbe viuente, & le parlò, & fu da i confessori di lei informato, & massimamente dal padre frate Arcangelo da Viadana terra del Mantouano. Zarri, Tra mistica, S. xxiif. Zarri verweist auf inhaltliche Parallelen zwischen Razzis Text und Brocadellis ‚Vita‘. Razzi, Vite, S. 154: In quei sei mesi era ogni di visitata da questi santi, hora cioè da vno, & quando dall’altro: dalla Madonna, da san Giouanbatista, da san Paolo Apostolo molto suo familiar, da san Giouanni Euangelista, da san Ieronimo, da san Domenico, da san Pietromnartire, & da san Vincenzio. Die von Matter/Maggi/Lehmijoki-Gardner, Le Rivelazioni, S. 312, angeführte Erwähnung der ‚Rivelazioni‘ durch Razzi habe ich in seiner Vita nicht finden können.

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ihre Bedeutung für den Kult Savonarolas nicht erwähnt.54 Doch Razzi, selbst ein Pia­ gnone, verfasste eine Biographie Savonarolas sowie Texte zu seiner Verteidigung und publizierte zudem Lauden seines Ordensbruders.55 Auch nahm Razzi das Bild Savonarolas im Himmel in seine Sammlung dominikanischer Lebensbeschreibungen mit auf.56 Somit scheint die Vermutung naheliegend, dass ihre Bedeutung zumindest für Razzi keineswegs vergessen war und er Brocadelli ganz bewusst auch wegen ihrer bei­ der savonarolanischen Neigung in seine Sammlung dominikanischer Viten aufnahm, um sie zu rehabilitieren. Dieser Versuch der Rehabilitierung lässt sich auch anhand der Tatsache nachvollziehen, dass Razzi Brocadellis Ehe in seiner Vita wohl bewusst verschwieg,57 wodurch der entscheidende Grund für Zweifel an ihrer Jungfräulichkeit ausgelassen wurde. Gleichzeitig gelang es Razzi auch, gezielt die Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich mit ihrer zweiten Lebenshälfte dem Orden auftaten, sowie potentiell auch der Heraus­ forderung der Visionen mit franziskanischen Inhalten in Brocadellis ‚Rivelazioni‘ zu begegnen, lieferte er doch eine Begründung, mit der der Orden missliebige Visionen hätte erklären können. So schrieb er zu Brocadellis Visionen nach Ercoles Tod: Als der Herzog gestorben war, wurde sie ihres Amtes enthoben und hatte an jenem Ort in den vierzig Jahren, die sie noch lebte, nie mehr eines inne. Stattdessen verfolgten sie mit vielen Belästigungen sowohl der Dämon, der sie mehrmals in Erscheinungen attackier­ te, als auch ihre Mitmenschen, Männer und Frauen, die nur wenig gottesfürchtig waren. Doch sie, die immer geduldig und demütig standhielt, hinterließ der Nachwelt das beste Vorbild ihrer selbst.58

Mit dieser Erklärung, dass ihre späten Visionen durch Dämonen hervorgerufen wur­ den, hätten für den Orden problematische Visionen und Positionen erklärt werden können. Für ihre Stigmata schließlich werden von Razzi zahlreiche Zeugen und Zeug­ nisse angeführt, die die Echtheit bestätigten.59 Die zweite dominikanische Vita Brocadellis stammt aus der Feder Giacomo Mar­ cianeses und wurde erstmals 1616 veröffentlicht, also knapp drei Jahrzehnte nach der 54 55

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Herzig, The Rise and Fall, S. 58 mit Zitat. Macey, Cult of Savonarola, S. 439–483; zur Biographie siehe ebd., S. 440; zu den Lauden z. B. ebd., S. 453. Zu Razzi, insbes. auch zu seinen ‚Brevi risposte alle oppugnazioni di frate Ambrogio Politi Catarino contra la dottrina e contra le profezie del padre fra leronimo Savonarola scritte l’anno 1598‘ siehe dall’Aglio, Catarino contro Savonarola, S. 55–127, bes. S. 63–79. Zarri, Compendium, S. 41–59, bes. S. 59. Zarri, Tra mistica, S. xxix. Razzi, Vite, S. 153: Et morto il Duca fu disposta dall’vfficio [d. i. der Priorin], ne mai piu in quarant’anni, che soprauisse, hebbe in detto luogo administrazione alcuna: ma si bene molte persecuzioni, & dal Dimonio, che assai volte apparendole duramente la batteua; & da i membri suoi, huomini & donne poco diuoti, che la perseguitauano; ma ella sempre pacientissima, & humilissima perseuerando, lasciò ottimo esempio di se à tutti i posteri. Razzi, Vite, S. 152 f.

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Razzis. Marcianese stützte sich auf Razzis Werk und schloss aus dessen Beteuerungen, es bestehe kein Grund, an der Authentizität der Erfahrungen Brocadellis zu zweifeln.60 Doch fügt er zur weiteren Bestätigung auch Inschriften und Abschriften vollständiger Dokumente in seine Vita ein.61 Gleich zu Beginn seiner Vita betont Marcianese die Parallelen zwischen Brocadelli und Katharina von Siena.62 Dabei weist er auch darauf hin, dass Brocadelli schon im Kindesalter Visionen empfing,63 und ihre Visionen bilden einen Schwerpunkt, der sich wie ein roter Faden durch die Vita zieht. Wie schon in Razzis Text findet sich auch in Marcianeses Werk keinerlei Hinweis auf Brocadellis Visionen mit pro-franziskani­ schen Inhalten. Ein besonderes Augenmerk legte Marcianese zudem auf die Prüfung ihrer Stigmata, die er ausführlich behandelte.64 Brocadellis Eheschließung wurde von Marcianese wie wahrscheinlich auch schon von Razzi als mögliches Problem erkannt, doch war der Umgang ein ganz anderer. Marcianese begegnete der Herausforderung, indem er in einem Kapitel zu ihrer Kind­ heit eine mystische Eheschließung Brocadellis mit Gott beschreibt.65 Im Rahmen seiner Ausführungen zu dieser Heirat wird sie mit dem Orden noch enger verknüpft, indem Dominik ihr den Habit überreicht.66 Etwaige noch bestehende Zweifel an ih­ rer Jungfräulichkeit vertreibt Marcianese, indem er ein von Brocadelli im Alter von zwölf Jahren geleistetes Keuschheitsgelöbnis beschreibt, das sie ablegte, um ihre Jung­ fräulichkeit für Christus zu bewahren.67 Ein weiteres Kapitel widmet sich ganz den Versuchen ihres Vaters und nach dessen Tod ihrer Onkel, Brocadelli zu verheiraten,

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Zarri, Tra mistica, S. xxiii; Marcianese, Vita, S. 98: Quanto sin’hora s’è detto, habbiamo ritroiuato [sic] scritto parte in libri scritti à mano da lemedesima, dal suo Confessore, e da vn’altro Padre suo affettionato, e parte nella vita di questa Beata posta trà il numero di quelle, le quali sono … state descritte, e date in luce dal P. Maestro Serafino Razzi dell’Ordine nostro. Die Erstausgabe aus dem Jahr 1616 war mir nicht zugänglich. Zarri, Tra mistica, S. xxiii, verweist darauf, dass Marcianeses ‚Vita‘ im Beatifikationsprozess her­ angezogen wurde. Marcianese, Vita, S. 14: E quà prego i Lettori ad haver consideration sopra i fatti di questa Beata; poiche scopriranno vna rassomiglianza tale tra le attioni di S. Caterina da Siena, e di costei, che se non si sapesse la certa distintione de’ soggetti, e de’ tempi tra loro due, saria forse chi prenderia occasione di stimar, che tutte fossero d’vna sola, e che facesse equiuocatione de nomi, e delle persone. Marcianese, Vita, S. 16: Era dell’istessa età, quando si scorse in lei spirito di Profezia. Marcianese, Vita, S. 109–121, S. 162–189 und S. 197–203. Zu Marcianeses Beschreibung der Stig­ mata und ihrer Prüfung siehe auch Warr, Changing Stigmata, S. 43–62, bes. S. 55–57. Marcianese, Vita, S. 22: Allhora il Signore la sposò, e le diede vn’anello d’oro risplenditissimo da lei poi sin’alla morte serbato. Marcianese platziert auch das Kennenlernen Brocadellis und Martins von Tivoli in ihre Kindheit, siehe ebd., S. 27. Marcianese, Vita, S. 23: Allhora S. Domenico le diede l’habito dell’ordine suo, e le disse, che douesse portarlo sempre sino alla morte; il che esseguì prontamente, poiche anche da secolare portollo sotto i panni, nè mai lo lasciò sin’alla morte, e doppo la morte ancora fù ritrouato intiero, ed incorrotto. Marcianese, Vita, S. 28: Di dodici anni postasi inginocchioni auanti al Figlio di Dio, & alla Madre sua, promise con voto giurato di serbare perpetua Verginità, e mantenere se stessa intatta allo Sposo Celeste. Dieses Gelübde wird in der Folge nochmals aufgegriffen, siehe ebd., S. 36.

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denen sie sich jedoch widersetzte, gefolgt von je einem Abschnitt, der ihre Heirat mit Pietro d’Alessio erklärt und beschreibt, wie sie trotz ihrer Heirat ihre Jungfräulichkeit bewahrte.68 Der spätere Eintritt ihres Ehemannes in den Franziskanerorden wird von Marcianese erwähnt, jedoch wird die Wahl des Ordens in keiner Weise kommentiert.69 Zur Rechtfertigung etwaiger problematischer Handlungen Brocadellis zieht auch Marcianese teuflische Einwirkung als Erklärung heran, die mehrmals das Überthema einzelner Kapitel darstellt und derer sich Brocadelli laut Marcianese stets widersetzen konnte.70 Ihre Verfolgung durch die Mitschwestern nach dem Tod Ercoles wird ten­ denziös beschrieben. Brocadelli selbst habe sich, um die Situation nicht zu verschlim­ mern, nicht wehren wollen. Schließlich sei in ganz Europa das Gerücht kursiert, sie sei eine Heuchlerin, die als Heilige verehrt werden wolle. Die Reaktionen der Prälaten und Oberen seien daraufhin gewesen, sie unter strenger Kontrolle wegzusperren und ihr weitere Restriktionen aufzuerlegen.71 Auch Marcianeses Vita lässt sich nicht entnehmen, ob der Verfasser Brocadellis ‚Ri­ velazioni‘ kannte, doch lässt sich dies in diesem Falle mit etwas größerer Sicherheit ver­ muten als bei seinem Vorgänger Razzi. Marcianese attestiert, dass Brocadelli selbst mit eigener Hand Bücher geschrieben habe, von denen er selbst, wie er schreibt, welche gesehen habe.72 Die Aussage suggeriert, dass Marcianese mehr als drei von ihrer Hand geschriebene Texte gesehen hatte. Zwar könne man, so Marcianese, an der Glaubwür­ digkeit des Inhalts zweifeln, doch sei, da Brocadelli auf Anordnung ihrer Beichtväter geschrieben habe, kein Zweifel angebracht. Die Authentisierung ihrer Visionen, die in ihrer eigenen Hand niedergeschrieben waren, basierte somit auf der Autorität der Beichtväter, die Brocadelli zum Schreiben aufgefordert hatten. Leider bietet Marciane­ se keine weiteren Details dazu, welche Texte er von Brocadelli gesehen hat, ob also die ‚Rivelazioni‘ dazugehörten. In jedem Fall schien allerdings auch Marcianese genau wie Razzi keinen Anlass gesehen zu haben, ihre Texte zu publizieren. Stattdessen nahmen beide ausgewählte Visionen in ihre Viten auf, darunter selbsterklärend keineswegs die aus ordenspolitischer Warte erklärungswürdigen.

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Marcianese, Vita, S. 32–37 (Kapitel VII: Che’l Padre, & i Parenti fecero ogni sforzo per dar marito alla B. Lucia, & ella non lo volse), S. 37–41 (Kapitel VIII: Che la B. Lucia si lasciò sposare da un Nobile Milanese), S. 42–46 (Kapitel IX: Come Lucia sposata saluasse la sua verginità, e come si diportasse in un’anno, che stette in casa de’proprii parenti). Marcianese, Vita, S. 93: Andò da Frati Minori dell’Osseruanza, da quali prese l’habito, e diuentò poi eccellente Predicatore, e fatto imitatore della moglie già sua, si diede ad vna vita spiritualissima. Marcianese, Vita, S. 72–79 und S. 107–109. Marcianese, Vita, S. 209–214. Marcianese, Vita, S. 98 f.: E chi con occhio sincero vorrà rimirare il tutto, non ci scorgerà occasione d’vn minimo neo di suspitione, poiche se bene ella scrisse la sua vita, non fù per ambitione, ò per vanagloria, ma per consolare il suo proprio Confessore, che ne la ricercaua, e per maggior Gloria di Dio; & in trè suoi libri hò appunto ritrouate queste parole sue proprie: ‚Venerando Padre Confessore, scriuo queste cose per obedire à chì mi commanda.‘ Zu dieser Passage und der Kenntnis der von Brocadelli geschriebe­ nen Texte siehe auch Zarri, Tra mistica, S. xxiii und S. xxix.

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Nur in Kürze erwähnt werden soll hier auch die Lebensbeschreibung Brocadellis durch Giovanni Michele Piò († ca. 1644) im dritten Buch seiner nach Jahrhunderten angeordneten Vitensammlung.73 Der Dominikaner widmete ihr lediglich eine Spalte und baute dabei auf das Werk Marcianeses und Razzis. Erwähnt werden von Piò, des­ sen Vita mit einer Vision aus Brocadellis Kindheit beginnt, die mystische Heirat sowie ihre Stigmata und deren Bestätigung. Auch bei ihm finden sich keine Erwähnungen der ‚Rivelazioni‘ oder deren Inhalte. Die Verehrung Brocadellis nahm im 17. Jahrhundert weiter Fahrt auf, sowohl regi­ onal wie auch im Orden. Ihr Beatifikationsprozess, für den auch die Vita Marciane­ ses herangezogen wurde, wurde 1647–1648 abgehalten. In der Folge wurden weitere Kurzbiographien zu Brocadelli verfasst, so von Ludovico Jacobilli (1598–1664), einem Priester und Regionalhistoriker Umbriens, der Region also, in der auch Brocadellis Geburtsort Narni liegt, sowie vom Dominikaner Girolamo Ercolani.74 Ercolani wies gleich zu Beginn seiner blumig-schwülstig ausgeschmückten baro­ cken Vita darauf hin, dass Brocadelli schon früh regelmäßig von Katharina von Siena besucht wurde, womit er noch einmal Brocadellis Funktion als Bestätigung der Stig­ mata Katharinas, die 1628 päpstlich anerkannt worden waren, unterstrich, ja er stilisier­ te sie gar, wie auch schon Marcianese, als ‚altra Caterina‘.75 Doch dient seine Vita vor allem dazu, die Stellung und Verehrung Brocadellis zu zementieren. So betonte Ercola­ ni explizit ihre Jungfräulichkeit. Um hervorzuheben, dass sie trotz ihrer Eheschließung Jungfrau blieb, bezeichnete er sie in Anlehnung an die Märtyrerin Cäcilia, die trotz der von den Eltern arrangierten Eheschließung Jungfrau blieb, als nuova Cecilia.76 Brocadellis seherische Fähigkeiten finden in dieser Vita durchweg Betonung. In ih­ ren Visionen stellt Ercolani vor allem das Erscheinen dominikanischer Heiliger her­ aus, insbesondere Katharinas von Siena, die immer wieder im Text erwähnt wird und ihr auch in ihrer letzten Vision vor ihrem Tode erschienen sei.77 Eine Erwähnung von Visionen franziskanischen Inhaltes findet sich auch hier nicht. Auch verwies Ercolani auf die Bedeutung Ercoles sowie auf den negativen Effekt seines Todes auf Brocadellis Lebensumstände.78 Die auf Ercoles Ableben folgende 73 74 75 76 77 78

Piò, Delle vite, Sp. 458 f. Zarri, Tra mistica, S. xxiii–xxiv. Jacobillis ‚Vita‘ ist, da nicht dominikanischen Ursprungs, im Kon­ text dieses Aufsatzes nicht von Relevanz und wird daher nicht behandelt. Ercolani, Le eroine, S. 613–728, bes. S. 616. Zur ‚altra Caterina‘ siehe z. B. ebd., S. 675. Siehe z. B. Ercolani, Le eroine, S. 626: La nostra Verginella; ebd., S. 635: La nostra nuova Cecilia maritata. Eine dominikanische Publikation, die sich dezidiert der Jungfräulichkeit Brocadellis widmete, ist Anti, L’immobilità; siehe hierzu Zarri, Tra mistica, S. xxiv. Ercolani, Le eroine, S. 702 f. Ercolani, Le eroine, S. 691: Ed ecco con la sua morte aperto il varco a que’pessimi vapori, che fin‘ all’hora dal rispetto douuto ad vn tanto Signore, o sopiti, o incarcerati, e ristretti, hebbero poi campo doppo la sua morte di muouere guerra al Cielo, e condensati insieme, di tentare impetuosi d’ottenebrare i splendori di quella Luce, che non sa che siano tenebre. Es sei Brocadelli gar vergönnt gewesen, Ercole d’Este aus dem Fegefeuer in den Himmel zu holen, siehe ebd., S. 704.

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harsche Behandlung Brocadellis wird thematisiert, wobei Ercolani die Ursache dafür im Neid ihrer Mitschwestern zu finden meinte. Aufgrund dessen wird Brocadelli in eine Reihe von illustren Personen eingereiht, von denen er schrieb: „Ich kenne keinen guten Menschen, der nicht verfolgt wurde“.79 Brocadelli sei folgend aus Missgunst des Betrugs und der Heuchelei bezichtigt worden. In diesem Kontext erwähnt Ercolani die Anschuldigungen, ihre Stigmata seien artifiziell von ihr herbeigeführt worden.80 In der Folgezeit habe sich die Behauptung der Erdichtung ihrer Heiligkeit über ganz Europa ausgebreitet.81 Diese Lügen seien schließlich den Ordensoberen zu Ohren ge­ kommen, die ihnen Glauben schenkten. Denn, so Ercolani, nur zwei, drei Beschuldi­ gungen reichten aus, um die Unschuldige als schuldig erscheinen zu lassen.82 Ercolani betont folgend die Konsequenzen, wie den Verlust des Priorinnenamtes sowie das Kontaktverbot, erklärt dies aber apologetisch damit, dass die Ordensobe­ ren von Frauen in die Irre geleitet worden waren. Die Ordensoberen, ebenso wie die Ordensbrüder allgemein, bleiben somit in Ercolanis Darstellung gänzlich frei etwai­ ger Vorwürfe. Die Verantwortung für die schlechte Behandlung Brocadellis wird den Schwestern zugeschoben. Brocadelli selbst habe zu den Anschuldigungen geschwie­ gen, doch sei ihr das Schweigen als Zustimmung ausgelegt worden.83 Sie habe die folgenden Jahrzehnte ohne Klagen ertragen.84 Nach ihrem Tod habe sie Wunder ge­ wirkt.85 Die Parallelen zur Vita Marcianeses sind offensichtlich,86 und auch bei Ercolani findet sich kein Hinweis zu einer Hinwendung Brocadellis zum Franziskanerorden. Ercolani widmet sich dezidiert ihren Visionen und unterstreicht ihre Heiligkeit durch den Vergleich mit Cäcilia, durch den er einen Hauptangriffspunkt etwaiger Kritiker entschärfte. Gleichzeitig spricht er die Ordensbrüder von etwaigen Vorwürfen frei, in­ dem er die Schuld an der schändlichen Behandlung Brocadellis sowie an ihrem Verruf explizit den Ordensschwestern zuwies. Nach der Veröffentlichung der Vita Ercolanis dauerte es noch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis Brocadellis Kult schlussendlich im Jahr 1710 von der Heiligen Ri­ tenkongregation anerkannt wurde.87 Vorangetrieben wurde ihre Kanonisierung vor allem von Kardinal Giuseppe Sacripante, der in Narni geboren war88 und der somit Ercolani, Le eroine, S. 692: Io non trouo huomo da bene, che non sia stato perseguitato. Zum Neid der Mitschwestern siehe ebd., S. 693. 80 Ercolani, Le eroine, S. 695. 81 Ercolani, Le eroine, S. 696. Auch dieser Aspekt wurde bereits von Marcianese erwähnt. 82 Ercolani, Le eroine, S. 696 f. 83 Ercolani, Le eroine, S. 697 f. 84 Ercolani, Le eroine, S. 699: Giammai ella sciolse la lingua ne’lamenti, ma di tutto rendendo humilissime, e diuote grazie al suo Signore. 85 Ercolani, Le eroine, S. 709 f. 86 Schon Zarri, Tra mistica, S. xiiif., hat auf den Einfluss Marcianeses auf Ercolani verwiesen. 87 Zarri, Tra mistica, S. xxiv. 88 Zarri, Tra mistica, S. xxiv. 79

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ebenso wie der bereits erwähnte Ludovico Jacobilli zwar kein Ordensinteresse, doch aber ein lokalpatriotisches Eigeninteresse an Brocadelli hatte. So kam es schlussend­ lich zu Brocadellis Seligsprechung, obwohl sie eigentlich nach dem Tod Ercoles vom Orden zunächst der Vergessenheit anheimgegeben worden war. Doch war sie für den Großteil des 16. Jahrhunderts wirklich in Vergessenheit gera­ ten? Für die Beantwortung dieser Frage bietet ein weiteres Werk aus dem 17. Jahrhun­ dert, das sich jedoch nicht vorrangig mit Brocadelli, sondern mit den Kirchen Ferraras beschäftigt, einen klaren Anhaltspunkt. Andrea Borsettis ‚Supplemento al compendio historico del Signor D. Marc’ Antonio Guarini Ferrarese‘, erschienen 1670, bietet ei­ nen aufschlussreichen Einblick in den die Zeiten überdauernden örtlichen Kult um Brocadelli, der der Stille der schriftlichen Ordensquellen bis zur Publikation der Vita Razzis im Jahr 1577 nahezu trotzend widerspricht. In seinem Kapitel über die Kirche der heiligen Katharina von Siena in Ferrara schreibt Borsetti: In vergangenen Jahren sah man in dieser gänzlich ausgemalten Kirche Bilder aus dem Le­ ben und von Wundern der seligen Lucia da Narni, der Gründerin dieses edlen Klosters … Ihr Körper hat sich bis heute unverwest bewahrt und wird von den frommen Schwestern außergewöhnlich verehrt, und jedes Jahr am 16. November, ihrem Todestag, ist es jedem erlaubt, diese heilige Reliquie zu sehen, und die frommen Bürger berichten von vielen Gnaden, die durch ihre Fürbitte von Gott zugestanden wurden. Als Schwester Alda Gia­ cinta Crispi diese Kirche mit einer beachtenswerten Decke geschmückt hatte, beschloss sie auch, die oben erwähnten Bilder zu entfernen, die zum großen Teil beschädigt oder ruiniert und vom Laufe der Zeit [antichità del tempo] zerstört waren, eine Handlung, die einigen der Schwestern missfiel, sahen sie doch die Erinnerung an ihre heilige Gründerin beseitigt.89

Die bildlichen Darstellungen des Lebens und Wirkens Lucia Brocadellis in der Kirche waren also alt. Der Passage lässt sich nicht entnehmen, wie alt sie waren, doch kann man, da Borsetti von der antichità del tempo spricht, zumindest vermuten, dass es sich um Werke handelte, die aus dem 16. Jahrhundert stammten. Obgleich also Brocadelli in den dominikanischen Quellen der Zeit mit Schweigen bedacht wurde, blieb ihre

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Borsetti, Supplemento, S. 40: Negli anni andati vedeasi questa Chiesa, tutta dipinta, Historiata con la vita, e miracoli della B. Lucia da Narni fondatrice di questo Nobile Monastero … il di cui corpo sino al giorno d’oggi si conserua incorrotto, e viene mantenuto in gran veneratione da quelle diuote Madri, & ogni Anno li 16. Nouembre giorno del suo felice passaggio à ciascuno è permesso il vedere questa Santa Reliquia, & li diuoti Cittadini riportano dal Signor Iddio di molte gratie alla di lei intercessione raccomandati. Hauendo poi Suor Alda Giacinta Crispi, adornata questa Chiesa, con vna assai riguardeuole soffitta, risolsero ancora leuare le sopraccennate pitture, per essere in gran parte rouinate, e guaste dall’antichità del tempo, cosa, che molto dispiacque ad alcune di quelle Religiose, vedendo abbollite le memorie della loro Santa Fondatrice. Questa Chiesa è adornata di superbi apparati, e ricche argentarie. Vien reso riguardeuole ancora dalle principali Dame di questa Città, che abborrendo li fasti Secolari, hanno vestito questo Santo Habito.

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Verehrung vor Ort in Ferrara lebendig. Diese andauernde regionale Popularität attes­ tierte auch Ercolani, als er über den Tod Brocadellis und die andauernde Klage der Bevölkerung berichtete.90 Die auch die schwierigen Zeiten überdauernde Popularität in der lokalen Kultur­ landschaft wirft noch viel vehementer die Frage auf, warum zumindest ihre Autobio­ graphie keinerlei Verbreitung erfuhr. Als grundlegend für die fehlende Verbreitung ihrer Schriften müssen ihre Stellung und Ansehen im Dominikanerorden bzw. viel­ mehr der Verlust derselbigen im Jahr 1505 angesehen werden. Lucia Brocadelli stellte bis zu ihrem Tode und zunächst auch darüber hinaus für den Dominikanerorden aus verschiedenen Gründen ein massives Problem dar.91 Einige dieser Gründe, aus denen heraus sich Brocadellis tiefer Fall im Dominikanerorden erklären lässt, wie zum Bei­ spiel ihr savonarolanisches Gedankengut, wurden bereits angesprochen. Doch selbst die Piagnoni wandten sich von ihr ab, als sie nach Ercoles Tod des Betrugs bezichtigt wurde,92 so dass ihre gedankliche Nähe zu Savonarola ihr zumindest zunächst nicht zum Vorteil gereichte. Im Falle ihres Biographen Razzi im späten 16. Jahrhundert war es jedoch vielleicht gerade auch die ihnen gemeinsame positive Einstellung zu Savon­ arola, die ihn dazu bewegte, ihre Vita in sein Werk einzuarbeiten und somit ihrer Re­ habilitierung den ersten Schub zu verleihen. Auf das plötzliche Verschwinden ihrer Stigmata reagierte der Orden, indem man Brocadelli abschottete, vermutlich in der Hoffnung, das Problem so kaschieren zu können. Dieses plötzliche Abwenden des Ordens von Brocadelli blieb jedoch nicht unbemerkt. Im Jahr 1522 kommentierte Stefana Quinzani (7. September 1457–2. Januar 1530), auch sie eine stigmatisierte Dominikanerterziarin und Mystikerin, dass Broca­ dellis sichtbare Stigmata – Quinzani impliziert, dass Brocadelli weiterhin unsichtbar stigmatisiert blieb – vielleicht aufgrund des Undanks, den ihr die dominikanischen Brüder entgegenbrachten, verschwunden seien.93 Bei dieser Aussage handelt es sich um eine harsche Kritik am männlichen Zweig des Ordens. Doch musste der Domini­ kanerorden zu der Zeit nicht nur um die Anerkennung der Stigmata Katharinas von Siena kämpfen, sondern sich auch Vorwürfen von Seiten der Franziskaner erwehren, man würde wissentlich Personen, die ihre Heiligkeit nur heuchelten, protegieren.94 Eine lebende Heilige wie die Dominikanerin Brocadelli, deren Stigmata einfach ver­

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Ercolani, Le eroine, S. 707 f. Auch Zarri, Tra mistica, S. xxii, verweist auf die fortdauernde lo­ kale Popularität Brocadellis. Zarri, Tra mistica, S. xxv. Herzig, The Rise and Fall, S. 56. Ausschnitt aus einer Befragung Quinzanis zit. in Herzig, The Rise and Fall, S. 56, (Anm. 70): Interrogata … se credens stigmata sororis Lucie fuisse vera et bona … mihi fratri Domenico de Calvisano afirmavit firmiter et quod fortasse fratres ingrati de tanto dono erant causa quod ipsa visibiliter amisisset. Siehe auch dies., Savonarola’s Women, S. 167 f. Herzig‚ The Rise and Fall, S. 54.

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schwanden, schwächte die Position der Predigerbrüder und konnte ihren Gegnern neue Munition liefern. Einen Faktor, der mit allen anderen verknüpft war, stellte Brocadellis später Tod im Jahr 1544 dar. Hierzu sollen einige Überlegungen angestellt werden, wofür sie zunächst in den weiteren kulturellen Kontext ihrer Zeit eingebettet werden soll. Lucia Broca­ delli hatte von Kindheit an Visionen gehabt und war bereits vor ihrer Stigmatisierung 1496 für ihre seherischen Fähigkeiten bekannt, die auch oft politischen Inhalts waren. So betete Brocadelli in einer Vision für die Stadt Viterbo und dass sie gut regiert wer­ de.95 Auch bot sie Visionen der politischen Zukunft. So sagte ihr die Jungfrau Maria in einer Vision zum Schicksal Viterbos: Tochter, ja, [Viterbo] wird leiden, und sehr, sie wird zwei Plagen erleben, das Gemüse wird vernichtet und die Häuser und Paläste werden auf schlimme Weise auf den Boden geschmettert, wenn die Stadt Rom gestraft wird, wird [auch] Viterbo gestraft, und ich sage Dir, dass die Kirche sich erneuern wird. Doch werden noch viele Jahre vorher vergehen, bevor dies passiert, [aber] es wird zweifelsohne passieren, und die Konversion der Un­ gläubigen, das heißt der Türken und anderer Ungläubiger, wird ohne Zweifel geschehen.96

Den Gipfel des Ruhms erklomm Brocadelli in Ferrara, wo sie Hofprophetin Ercole d’Estes war. Die Rolle der Hofprophetin war keineswegs so außergewöhnlich, wie es zunächst klingen mag, hatte doch zum Beispiel Francesco II. Gonzaga von Mantua, Er­ coles Schwiegersohn, zur selben Zeit in Hosanna von Mantua (17. Januar 1449–18. Juni 1505), die ebenfalls eine stigmatisierte Dominikanerterziarin war, auch eine Hofpro­ phetin.97 Doch starb Hosanna vor ihrem Patron Francesco und verlor auch nicht ihre Stigmata. Auch Colomba von Rieti, eine weitere Visionärin des Dominikanerordens, die von Alexander VI. († 18. August 1503) sehr geschätzt wurde, starb 1501 als 34-Jähri­ ge nach elf Jahren als Priorin in Perugia. Ganz anders als im Falle Brocadellis wurden sowohl Hosannas als auch Colombas Kult bald nach ihrem Tod gefördert und mit dem Verfassen und teils Drucken von Viten vorangetrieben.98 Im Gegensatz zu Hosanna

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Brocadelli, Vita, S. 37: Andasti al secondo coro … e laudando il Signor nostro e pregando per la città di Viterbo, per li maggiori della città che governassero ben la loro città. Brocadelli, Vita, S. 40. Zum Verhältnis Hosannas zu Francesco Gonzaga und seiner Frau Isabella d’Este sowie ihrer Rolle am Hof siehe Cockram, Isabella d’Este, S. 73. Zur Bedeutung Brocadellis für Ercole siehe auch Matter, Prophetic Patronage, S. 174. Zarri, Living Saints, S. 219–303, bes. S. 226; dies., Tra mistica, S. xiii; Silvestri, Beatae Osannae mit einer Übersetzung ins Italienische von dems., Vita; Monteolivetano, Libretto. Der Do­ minikaner Sebastiano Angeli hat sowohl eine lateinische als auch eine italienische Vita Colombas verfasst. Die ältere, lateinische Fassung stammt aus den Jahren 1501–1506 und wurde somit kurz nach ihrem Tod verfasst. Zur Datierung siehe Cianini Pierotti, Colomba, S. 205. Die genaue Datierung der volkssprachlichen Vita Colombas aus der Feder Angelis ist unklar, vgl. Angeli, Le­ genda volgare, S. 10 f. Eine gekürzte Fassung der Vita Angelis wurde von Leando Alberti publiziert; Alberti, Legenda volgare della beata Colomba da Rieto. Hierzu siehe Zarri, Compen­dium,

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und Colomba jedoch stand Lucia Brocadelli ihr langes Leben im Wege, ergab sich doch durch den Tod ihres Patrons, das Verschwinden der Stigmata, den sich ausbreitenden Ungemach im eigenen Kloster sowie durch die Abkehr der Dominikaner ein Gemisch, das ihrem Ansehen im Orden erheblich schadete. Dass der Tod dem Ruhm auch einer santa viva zugutekommen konnte, merkte bereits der Chronist Borselli an. Er schrieb am Ende des 15. Jahrhunderts über Brocadelli: „Diese Frau lebt noch. Nach ihrem Tod wird man ihr Lob und ihre Taten schicklicher aufschreiben können“.99 In dieser Fest­ stellung illustriert sich bereits die Crux, die Brocadelli zum Verhängnis werden sollte: Ihr langes Leben sollte aufgrund der im späteren Lebensabschnitt radikal veränderten Umstände ihren unmittelbaren Nachruhm hemmen. Ein (zu) langes Leben konnte dem Fortleben einer Visionärin somit schädlich sein. Auch wenn Visionärinnen schon zu Lebzeiten verehrt und anerkannt wurden, so war ihr rechtzeitiger Tod, am besten zu Lebzeiten des eigenen Patrons, doch scheinbar zumindest im Italien des frühen 16. Jahrhunderts hilfreich für den unumstrittenen Nachruhm. Zu guter Letzt muss noch einmal ein wichtiger inhaltlicher Grund angeführt wer­ den, aus dem es für die Dominikaner selbst nach ihrer Rehabilitierung und folgenden Seligsprechung ordensstrategisch unvernünftig gewesen wäre, durch eine Druckaus­ gabe oder auch nur handschriftliche Verbreitung Aufmerksamkeit auf Brocadellis Werke zu lenken. Denn in ihren 1544 geschriebenen ‚Rivelazioni‘ offenbart sich eine auffallende und für den Dominikanerorden unrühmliche Hinwendung Brocadellis zu den Franziskanern. Gleich dreimal in nur sieben Visionen spielen Franziskaner eine Rolle – die dominikanischen Heiligen Dominik, Vinzenz Ferrer und Petrus Martyr ebenso wie die in ihrer Vita und den Visionen in ihren Lebensbeschreibungen allge­ genwärtige Katharina von Siena hingegen erscheinen in diesem Visionszyklus nicht. Ein ganz anderes Franziskanerbild als in den ‚Rivelazioni‘ ist in den frühen Teilen der Autobiographie Lucia Brocadellis überliefert, in der sie zum Beispiel Franziskanerin­ nen der Lächerlichkeit preisgibt.100 Gegen Ende ihres Lebens und ganz im Privaten, in einer Schrift, die sie ohne Intervention ihrer Beichtväter verfasste, hatte sich Brocadel­ li also den Franziskanern zu- und dadurch den Dominikanern abgewandt.101 Für den Predigerorden hätte die Erwähnung dieser Entwicklung in den Viten und allem voran die Veröffentlichung dieser Visionen zu einer Schädigung ihres eigenen Ansehens ge­ führt, untergruben doch Brocadellis pro-franziskanische Visionen102 ihre Loyalität zu S. 47. Zur Überlieferung der lateinischen ‚Vita‘ in 20 Handschriften und der volkssprachlichen in nur einer Handschrift siehe ebd., S. 3 und S. 11. 99 Zitiert von Herzig, Christ Transformed, S. 84: Hec mulier adhuc vivit. Post eius mortem convenientius eius laudes et gesta scribentur. 100 Brocadelli, Vita, S. 77 f. 101 Matter (Brocadelli, Seven Revelations, S. 300 f. [Anm. 23]) betont, dass die Rolle des Franzis­ kanerordens in den ‚Rivelazioni‘ weitere Forschung verdient. 102 Konnten diese Visionen vielleicht Teil einer Strategie gewesen sein, um Kritik durch Franziskaner zu vermeiden?

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ihrem eigenen Orden, wodurch sie ihn nicht im gewünschten positiven Licht präsen­ tierten. In den Viten des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts wurden somit etwaige problematische Entwicklungen, soweit sie den Verfassern bekannt waren, ausgespart oder umgedeutet. Tamar Herzig hat vollkommen zurecht von einem systematischen Herangehen des Ordens an Brocadellis Hagiographie gesprochen.103 Diese Analyse kann auf die These ausgeweitet werden, dass der Orden aller Wahrscheinlichkeit nach auch systematisch an der Verbreitung bzw. vielmehr Eindämmung und Kontrolle ihrer Werke, Vita und Visionen beteiligt war. Denn wäre der Wille dagewesen, hätten Brocadellis Werke ge­ druckt werden können. Ihre Texte waren im Konvent in Ferrara vorhanden und la­ gen zumindest Marcianese vor. Auch nachdem die Dominikaner Brocadelli für sich wiederentdeckt hatten, wurden ihre Werke jedoch wohl vornehmlich aufgrund inhalt­ licher Problematiken nicht gedruckt. Selbst nach ihrer Seligsprechung kam es nicht zur Publikation, obgleich Zarri festhielt, dass es oftmals der Zeitpunkt der Seligspre­ chung war, ab dem Werke einer Visionärin gedruckt wurden.104 Ausschlaggebend war im Falle Brocadellis wohl die in Bernabeis Brief aus dem Jahr 1722 geäußerte Ansicht, dass Brocadellis Texte ihrem Ruf nicht zuträglich sein würden und sie daher unter Ver­ schluss zu halten seien. Bernabei wird diese Position nicht als einziger vertreten ha­ ben, und er wird nicht der erste Dominikaner gewesen sein, der das Problem erkannte, so dass davon auszugehen ist, dass ihre Schriften ganz bewusst nicht veröffentlicht, ja nicht einmal zirkuliert, sondern unter Verschluss gehalten wurden. In den frühneuzeitlichen Viten Brocadellis finden sich dennoch die Beschreibun­ gen zahlreicher Visionen – darunter, wie zu erwarten, keine, die einen für den Orden problematischen Inhalt hatten. Von einer auf ordenspolitischen Überlegungen beru­ henden institutionellen Weigerung gegen die Verbreitung gewisser Visionen und In­ halte ist aufgrund der Quellengattung auszugehen, und Brocadellis dominikanischen Hagiographen gelang es, ihr Leben so zu porträtieren, dass es ihr und dem Orden zum Ruhm gereichte. Dieser lange Atem der Ordenspolitik, der nicht nur ihr Leben, son­ dern auch die Inhalte ihrer Viten bestimmen sollte, kontrollierte das Fortleben Lucia Brocadellis über Jahrhunderte.

103 Herzig, The Rise and Fall, S. 38. 104 Zarri, Tra mistica, S. xi. Das erhöhte Interesse an Brocadelli im 18. Jhd. könnte auch die Kopien von Dokumenten im Franziskanerarchiv erklären, ebd., S. xxv.

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Visionen und ihre Kontexte Die Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung Eine Zusammenfassung Felicitas Schmieder Im Gedenken an Miriam Czock († 6.3.2020), die mit mir diese Zusammenfassung hätte gestalten sollen. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts berichtet der dem Franziskanerorden nahestehende laicus Alexander Minorita (der Beiname stammt aus der Forschung) einleitend zu sei­ ner Schrift, die wie üblich keinen Titel hatte, die aber vom modernen Editor mit ‚Ex­ positio in Apocalypsim‘ überschrieben, also als Apokalypsekommentar identifiziert ist: „Unser Interesse zielte auf die Geschichte (gesta) der Kirche und ob ihre Taten (facta) je irgendwo prophezeit worden wären.“1 Deshalb habe er in der Offenbarung des Johannes gelesen, die verborgene Bedeutung jedoch nicht finden können. Alexan­ der versuchte also nahe einer Zeit, die in diesem Band mehrfach als die Übergangs­ zeit des 12. Jahrhunderts angesprochen wird, die Bilder der Apokalypse in einer ganz bestimmten Weise zu befragen und zu verstehen. Deren Sinn ist verborgen und liegt den Christen nicht offen – die biblische „Offenbarung“, vielleicht das Urbild zumin­ dest christlicher Vision, deren griechisches bzw. lateinisches Pendant Apokalypse und Revelatio „Ent-Hüllung“ bedeuten, ist eben nicht offengelegt. Der Sinn bleibt weiter verhüllt und benötigt den Interpreten, der wiederum Gottes Hilfe benötigt. Denn erst am dritten Tag der Kommunion, so weiter einleitend Alexander, habe ihm das Eucha­ ristie-Ritual geholfen und es sei ihm vom Lamm geoffenbart worden, dass ein großer Teil von des Johannes einstiger Zukunfts-Vision sich inzwischen durch den Lauf der Kirchengeschichte erfüllt habe. Hier wird der Weg zum Gesicht nicht nur durch einen

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Alexander Minorita, Expositio, S. 6. – Schmolinsky, Apokalypsenkommentar; Schmieder, Johannes-Offenbarung.

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Felicitas Schmieder

Engel (so ist es erwartbar in Jenseitsvisionen, dass Engel sogar zur Täuschung einge­ setzt vorgestellt werden können: Schröder) oder Heilige wie in vielen Visionen vom Jenseits geebnet. Alexander wird vielmehr von einem Symbol der göttlichen Dreiei­ nigkeit selbst angeleitet, die Offenbarung wie ein Prophet zu lesen: Das dient der Au­ thentisierung der Glaubwürdigkeit und Wahrheit seiner Interpretation. Vergleichbar in diesem Anspruch auf Unmittelbarkeit in unserem Band ist am ehesten Hans Engel­ brecht, der – allerdings viel später – zudem auch eine Vision zum letzten Kapitel der biblischen Offenbarung erhielt (Roling). Solcher Strategien der Authentisierung bedürfen auch alle anderen „Gesichte“ und ihnen galt und gilt ein besonderes Augenmerk aller Beiträge zu Tagung und Tagungs­ band. Gerahmt von den Phänomenen und Problemen in Alexanders Schrift seien zu­ nächst sie und dann die Schwerpunkte Materialität und Genre (nach dem ursprüng­ lichen Tagungstitel „Gesicht und Handschrift: Authentisierung, Materialität, Genre“) in dieser Zusammenfassung in den Blick genommen. Zu diesen Strategien könnte auch der Aspekt der Zeit (zur Bedeutung Schröder) und konkreter des Termins zählen: Alexander nennt kein exaktes Datum für seine transzendente Erkenntnis, spricht jedoch von die tertia und spielt damit wie mit dem Lamm auf Ostern an. Ostern haben wir auch als Rückkehrzeit für Jenseitsvisionäre gefunden, so bei Edmund von Eynsham (Einführung) oder als Fest der besonderen Christusnähe bei der Schau der Nonnen in der Osterliturgie im Medinger Gebet­ buch (Toussaint). In den Osterzusammenhang gehört zudem der biblische Abstieg ins Jenseits vor der Auferweckung des Lazarus und, in Imitation, des Heiligen Martin (Weitbrecht, Schröder). Die möglicherweise bei systematischer Verfolgung spannen­ de Frage, welche Bedeutung konkrete Daten von Visionen haben (Szill, Roling) und inwieweit Daten und heilige Vermittler korrespondieren (wie eben Ostern und das Lamm), blieb in der Tagungsdiskussion ebenso wie in diesem Band vorerst offen. Alexander bezeichnet sich selber als laicus. Es ist jedoch unklar, was genau er da­ mit meint, denn er liest offensichtlich und hat auch darüber hinaus Zugang zu eher geistlichen Sphären. Laicus könnte also auch ein Bescheidenheits- und zugleich Über­ höhungstopos sein – Überhöhung, weil er selbst eine derjenigen des Johannes gleich­ gesetzte Offenbarung erhält. Im 14. und 15. und schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hätte er sich mit seinem prophetischen Anspruch eventuell in Schwie­ rigkeiten gebracht, doch so weit war es noch nicht gekommen – das große Zeitalter lateinisch-christlicher Prophetie begann gerade erst und noch sah die Amtskirche kein ernsthaftes Problem darin, dass ein Laie eschatologische Visionen hatte und diese dann auch noch auf die eigene Gegenwart anwandte. Auch Jenseitsreisende sind – eventuell vor allem wieder seit dem 12. Jahrhundert – Laien gewesen: meist Ritter, selten Bau­ ern oder Handwerker (letzteres spät Hans Engelbrecht bei Roling). Ihre simplicitas erscheint als Bekräftigung unverfälschten Sehens. Doch sprechen vermutlich auch da nicht wirklich Laien zu Laien, denn zumindest für die Entstehungszeit lässt sich eher ein monastischer denn ein laikaler Kontext feststellen und eine Verortung im Reform­

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diskurs der Zeit erscheint wahrscheinlich (Bihrer). Für die Gesamtüberlieferung der Texte und ihre je konkrete Rezeption (vgl. unten zur réécriture) lässt sich ohnehin kaum etwas generalisieren, weil neben den Funktionen gerade die Zielgruppen je nach Re-Kontextualisierungen der Texte wechselten und damit zu anderen Zeiten oder so­ gar von Handschrift zu zeitlich paralleler Handschrift (Nehr-Baseler) andere Publika angesprochen werden konnten. Ein ähnliches Problem von Angemessenheit, bei dem sich im Laufe der Zeit an­ scheinend vieles veränderte, ist bei Frauen zu verzeichnen, wenn sie nicht wie sehr oft als Begleitpersonal der Visionen und Rezipientinnen der Texte auftreten, sondern als Visionärinnen: Es gibt sie stärker im Spätmittelalter und sie schreiben dann ggf. sogar selber. Zugleich wären dann aber zwei der wichtigsten, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau, möglicherweise erneut Phänomene jenes Übergangs-12. Jahrhunderts. Anhand der letzteren lässt sich zeigen, wie die Möglichkeit weiblicher visionärer Autorität, nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu Männern, diskutiert und ab­ gelehnt oder diese Ablehnung diskreditiert werden konnte – aber offenbar auch muss­ te (Mattern). Im Spätmittelalter sind Hoffnungen und Zweifel, Glauben und Ableh­ nung weiterhin verbreitet, aber auch der Verdacht, dass Frauen ausgenutzt werden und nicht zuletzt Männer das tun. In oft komplexen Diskursen musste die Visionärin selber authentisiert werden, aber die zu authentisierende Visionärin authentisierte zugleich ihre Beichtväter (Linde). Die Fähigkeit von Nonnen zu sehen und die Authentisie­ rung der Vision durch die mögliche Beteiligung aller Nonnen (Toussaint) wird in die Liturgie eingebettet durch den unbekannten Redaktor (oder vielleicht doch die Re­ daktorin?) des umfangreichen Gebetsbuchs von Meding (15. Jh.). Diese Fragen um die grundsätzlichen physischen und psychischen Fähigkeiten von Frauen und besonderen sozialen Gruppen, Nonnen wie Laien, gehört in den Authentisierungs-Diskurs zentral hinein – ebenso wie die des absichtsvollen Verbreitens oder Verschweigens (Linde). Um als authentisch angesehen zu werden, muss ein Gesicht glaubwürdig sein. Alexan­ der Minorita liefert eine transzendent autorisierte eigene Interpretation, vielleicht könnte man sagen Vision, über die Vision eines anderen, die wiederum biblische Autorität besitzt. Solche Parallelstrukturen begegnen uns im Band häufig: seien es Doppel- oder ineinandergreifende Visionen, sei es, dass eine ältere, nicht zuletzt eine biblische Vision im- oder explizit zitiert oder imitiert wird und geradezu als Subtext parallel mitläuft. Der Traumzeuge Grimbald bei Johannes von Worcester (Kleine) ist eine wiedererkennbare Imitation des Apokalyptikers Johannes, ebenso wie der Heili­ ge Martin von Tours den Lazarus imitiert (Schröder). Wiedererkennbar und damit glaubwürdig ist bei Alexander auch ein Großteil seiner ganz besonderen Übersetzung der Apokalypse in Klarsprache. Er liest das letzte Buch der kanonischen Bibel in ganz eigentümlicher Weise als Prophetie der zu Johannes’ Zeiten zukünftigen, inzwischen aber im Ablauf befindlichen und großenteils vergan­ genen, seinem Publikum also bekannten Kirchengeschichte, indem er jedes einzelne

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Felicitas Schmieder

Wort der Apokalypse in eine Geschichte der wichtigsten Ereignisse der vergangenen ca. 1200 Jahre übersetzt. Er greift damit einen Ansatz des Joachim von Fiore († 1202) auf – ein Name, der fallen muss, wenn es um die prophetische Übergangszeit des 12./13. Jahrhunderts geht. Dieser hatte biblische Bücher als Concordantiae gelesen, als Pro­ phetien für viel spätere Zeiten. Dadurch, dass offensichtlich vieles schon geschehen war, wurde auch Alexanders Deutung bestärkt und der Deuter authentisiert. Damit konnten Joachim und Alexander und ähnlich auch Johannes von Worcester bei seiner Wiedergabe des Traums des englischen König Heinrichs I. (Kleine) exegetisch Bibel und Zeitgeschichte verbinden und ihre moralischen Deutungen mit dem Anspruch versehen, transzendent legitimierte Handlungsanweisungen für die eigene Gegenwart zu sein, für die Planung einer Zukunft in der Zeit, die noch blieb.2 Solche Wiederverwendungen älterer Texte und bekannter Motive gehören in das weite Feld der réécriture, von der inzwischen viele unterschiedliche Formen beobach­ tet worden sind und die häufig der Authentisierung diente: Ältere Texte werden neu abgeschrieben und dabei verändert, aktualisiert und neu kontextualisiert, wodurch zeitgemäße Botschaften produziert werden können. Nicht nur die Um-Schreibung in anderen Epochen (oder auch einmal durch den Autor selber in späteren Jahren: Rö­ ckelein und Roling) oder – gerade im Falle von Jenseits-Visionen – die Einpassung in einen neuen Text wie eine Chronik oder eine Heiligenvita ist ein Phänomen der réécriture, sondern im Grunde ist bereits die Verschriftung der mündlichen Erzäh­ lung der Visionärin oder des Jenseitsreisenden die erste réécriture, deren Beobachtung man also nicht auf den Text als solchen reduzieren sollte (so sperrig der Umgang mit Mündlichkeit auch sein mag). Einerseits ist eine häufige Um-Schreibung von Texten ein Zeichen von Anpas­ sungsfähigkeit in oft ganz andere soziale und historische Umgebungen. Andererseits mussten Texte, an denen den Rezipienten grundsätzlich gelegen war, weil wichtige Personen oder Wahrnehmungen verarbeitet waren, angepasst werden, um ihre Wir­ kung (weiterhin) entfalten zu können. Ein besonders gutes Beispiel hierfür sind Bi­ schofsheilige, wenn bei diesen zu der grundsätzlichen Spannung, in der ihr in der Welt stehendes Amt zur weltfernen Heiligkeit stand, auch noch Visionen als möglicher Aus­ weis von Heiligkeit kamen. Es bestand Interesse im Bistum, den Heiligen zu bewahren, und so mussten gerade die Visionen immer wieder an neue Erwartungen angepasst werden und selber das Verhalten des Heiligen anpassen – bis hin zur Erzählung vom Verlust der Visions-Befähigung als Bestrafung von Abweichung (Eder). Übersetzungen von älteren Visionen in neue sprachliche, textliche, soziale oder politische Kontexte gehören offenbar zum Typischen auch und gerade bei besonders überzeugenden, lange Zeit erfolgreichen, stilbildenden Visionen. Eine solche Um­ schreibung kann auch historische Figuren mit Symbolcharakter betreffen: Als Boten

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Schmieder, Einleitung.

Visionen und ihre Kontexte

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oder Jenseitsführer finden wir vielfach Engel, doch durch stetige Anpassung konnte bis ins 13. Jahrhundert etwa auch Karl der Große – zunächst ebenfalls von einem En­ gel geleitet – zum Mittler zwischen Himmel und Erde werden (Traulsen). Eine ganz besondere Rolle spielt dieser für das Mittelalter in vielfacher Hinsicht wichtige Kaiser auch bei Alexander und damit in derselben Zeit: Er tritt als Personifikation mehrerer apokalyptischer Engel auf. Dies ist in außergewöhnlicher Weise verdeutlicht in einer illustrierten unter den wenigen (relativ im Vergleich zu manch einer der in diesem Band diskutierten Jenseitswanderungen) Handschriften seines Werkes: Der Engel etwa, der die erste Schale der letzten Sieben Plagen ausschüttet – was bei Alexander der blutigen, aber zugleich rettenden Eroberung Sachsens durch den Frankenkönig entspricht –, trägt neben dem eigenen Kopf auch noch einen zweiten, wie eine Maske (lat. persona), die Karl als die vom Engel verkörperte historische Figur ausweist.3 Mit der gerade herangezogenen Handschrift der ‚Expositio‘ Alexanders sind wir be­ reits mitten in einem weiteren zentralen Thema: Die im vorliegenden Band vereinten Beiträge legen einen besonderem Fokus auf die handschriftliche Überlieferung und damit nicht nur die textlichen, sondern auch die materiellen Bedingungen und zu­ gleich Möglichkeiten der réécriture. Betrachtet werden (veränderte) Vergemeinschaf­ tungen in je zeitgenössisch zusammengestellten Sammelhandschriften oder Exzerpt(­ Sammlungen) (ein byzantinisches Beispiel: Szill), die Glossierung und Illustration u. ä. Von der Handschrift aus lässt sich etwa die ‚Modernisierung‘ der devotio moderna verdeutlichen (Benz), die ähnlich wie die DominikanerInnen (Linde, Eder, Nehr-Ba­ seler, auch Bihrer) im Reformzeitalter des 15. Jahrhunderts und deutlich später die Pie­ tisten (in einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden, authentisierenden Reihe: Roling) gerade die Visionäre und ihre Texte adaptiert zu haben scheinen. Ein Übergang zwischen réécriture und materiellen Aspekten der Überlieferung ist auch zu verzeichnen, wenn zu den Handschriften die Möglichkeiten des Drucks kom­ men: Da gibt dann schon einmal der Engel, der die Vision begleitet, den Druck-Auf­ trag (Roling). Ganz generell verändert die mögliche Auflagenhöhe der Drucke trotz zum Teil erstaunlich hoher „Handschriften-Auflagen“ mancher Jenseitsreise die Ein­ schätzung der Verbreitungsmöglichkeiten. Angesichts der in diesem Band in den Beiträgen regelhaft berücksichtigten Hand­ schriftenüberlieferung macht ein weiterer Gedanke nachdenklich: Was genau bleibt von der „Übergangszeit des 12. Jahrhunderts“ übrig, wenn man feststellen muss, dass die Handschriften der Texte zu einem erklecklichen Teil erst deutlich später entstan­ den (Bihrer)? Was etwa machte diese Texte, ob kopiert oder umgeschrieben, so erfolg­ 3

Cambridge, University Library, Ms. Mn 5.31, fol. 103v. https://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MSMM-00005-00031/210 [abgerufen am 30.04.2022]. Bei anderen Engeln funktioniert das in dersel­ ben Handschrift ebenso: mit Karl, mit Papst Hadrian I. etc., vgl. Schmieder, Johannes-Offenba­ rung, bes. S. 132.

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Felicitas Schmieder

reich – und sind sie überhaupt erfolgreicher als frühere früh- und hochmittelalterliche Texte, die ja ebenfalls sehr oft erst spät überliefert sind, weil wir ganz generell mehr Handschriften aus dem Spätmittelalter haben? Neben den Überlieferungsträgern kommen bei Konzentration auf die Materialität auch inhaltliche Besonderheiten von Visionen in den Blick: Diese konnten ihrerseits Teil von Authentisierungsstrategien sein, so für Reliquien, die erkannt und denen Na­ men und vor allem Legenden gegeben wurden, und sogar für biblische Orte wie die Hölle, die vorstellbar gemacht wurde. Im Falle der bereits genannten Elisabeth von Schönau ist hier gar eine Wechselwirkung zu beobachten: Die bekannte, man mag fast sagen notorische Visionärin authentisierte die Reliquien der 11.000 Jungfrauen um die Heilige Ursula, und der Umgang mit den wirkmächtigen Märtyrerinnen-Reliqui­ en vermochte umgekehrt auch die nicht unumstrittene Visionärin zu „ermächtigen“ (Mattern). Dieser materielle Aspekt führt zurück zur Strategie der Wiedererkennbarkeit: Auch die materielle Alltagswirklichkeit der Rezipienten war wichtig für Glaubwürdigkeit und Authentizität von Gesichten. Einem Jenseitsreisenden, der in seinem Umfeld be­ kannte Personen im Jenseits antraf, glaubten die Zuhörer ganz spontan: Je näher der Bericht ebenso wie die Rahmenhandlung (bei der der physische Körper bei den Beob­ achtern bleibt: Künzel) an der Publikumserwartung ist, desto authentischer wirkt er (Röckelein), je mehr der Rezipient seine eigene Lebenswelt wiedererkennen konnte, in der immer wieder physische Gegenstände angesprochen wurden (in Illustrationen, aber auch in den Texten), desto glaubwürdiger war der also nicht allein transzendent authentisierte Visionär. Erneut ist zu überlegen, ob wir es historisch zwischen Hochund Spätmittelalter mit einem Übergang zur stärkeren Verortung im materiellen Leben zu tun haben könnten, in dem auch die physische Körperlichkeit (bis hin zur Stigmati­ sierung: Linde), Sensualität und Emotionalität mehr und mehr angesprochen wurden. Schon Johannes habe, so betont allerdings Alexander, nicht mit seinen körperlichen Augen gesehen, sondern mit seinem Geist Bilder erblickt und die Wahrheit in ihnen verstanden – non corporalibus oculis ista Johannes vidit, sed imagines mente intuitus est et in eis veritatem intellexit.4 Diese Unterscheidung zwischen den inneren und den phy­ sischen Augen finden sich in mehreren der Texte, mit denen sich die Beiträge dieses Bandes auseinandersetzen (etwa Toussaint, Kleine; im Sinne der Verinnerlichung der Hölle: Roling). Das heißt aber nicht, dass damit die physischen Sinne nur unabsicht­ lich in den Texten auftauchten. Nicht nur die seit der Spätantike weithin bekannte Nomenklatur von visio, visum, somnium etc. wurde ausgestaltet, wie der in vielen Bei­ trägen vertiefte Blick in das reichhaltige semantische Feld des „Sehens“ zeigen kann – wieder ein Bereich übrigens, bei dem sich das 12. Jahrhundert mit seiner Verwissen­ schaftlichung hier der Optik als Wendezeit anbietet. Sondern die Autorinnen und

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Alexander Minorita, Expositio in Apocalypsim, S. 5.

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Autoren dieses Bandes haben ganz entsprechend aktueller Forschungs-Zugriffe über den Gesichtssinn hinaus auf die Funktionen geachtet, die sinnlicher Wahrnehmung in den mittelalterlichen Texten zugewiesen wurden. Und offensichtlich erweisen sich gerade Jenseitsreisen und verwandte Texte bereits auf den ersten Blick als reichhaltiger Grund für solche Forschungen zur Sensorik: Nicht nur Visionen erscheinen (und wer­ den durch Bilder in den Handschriften und anderen Umsetzungen der Visionstexte auch den Rezipienten sichtbar gemacht: Toussaint, Kleine), sondern auch Auditionen fungieren als eine Variante von sinnlicher Verbindungen zur Transzendenz. Die Rei­ senden hören zudem den Gesang der Engel (Toussaint, Roling), aber auch den Höl­ lenlärm verbunden mit schrecklichem Gestank, und den Tastsinn berühren Hitze und Kälte (Weitbrecht) in tiefer Dunkelheit als dem Gegenteil vom Sehen (die zumindest in Byzanz sogar satirisch angesprochen werden kann: Szill). Alexander Minorita und seine Deutung der Johannes-Apokalypse wurden bis hierher als Gerüst für die wichtigsten der auf dieser Tagung immer wieder diskutierten Phä­ nomene genutzt, aber war das berechtigt? Sein setting (oder die Rahmenhandlung) ist das einer Prophetie, die Forschung konnte das Werk als biblischen Kommentar be­ trachten. Ich selbst habe an anderer Stelle schon versucht, ihm eher chronikalischen Charakter abzugewinnen, allerdings in der Absicht, die moderne Genus-Zuweisung anzuzweifeln. Immerhin bin ich damit mindestens einem mittelalterlichen Zeitgenos­ sen gefolgt, der die schon erwähnte Handschrift produzierte, in der neben den Illustra­ tionen zahlreiche vor allem Sachsen und sächsische Akteure betreffende Passagen aus anderen historiographischen Texten oft seitenlang ergänzt wurden:5 eine réécriture, die den balancierten Aufbau der prophetischen Deutung empfindlich stört, offensicht­ lich um die biblische Autorisierung zu nutzen und damit das eigene Volk historiogra­ phisch noch näher an die Heilsgeschichte zu rücken. Alexander selbst spricht auch nicht von visio, sondern er will einen liber, der ihm obscure erscheint, mit Hilfe von intellectus aperire und kann das erst transzendent angeleitet tun: Wäre das also über­ haupt ein Text, den wir in den Kreis der Betrachtungen von „Gesichten“ einbeziehen sollten, oder ziehen wir die Grenze davor? Was ist, wann handelt es sich um eine Visi­ on? Zweifellos ist es wichtig, genauer die Mittel zu beschreiben, die von den Autoren unserer Texte angewandt wurden – doch Genre-Abgrenzung dienen bekanntlich in der Regel moderner Forschungs-Systematik und entstammen kaum zeitgenössischen Zuweisungen. Alle Texte und Bilder, die in diesem Band betrachtet werden, arbeiten mit spiritu­ ellen Transfererlebnissen, mit Übergängen über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Welt und Transzendenz, oft auch zwischen buchstäblichen Deu­ tungen einerseits und allegorischen, moralischen, anagogischen Deutungen auf der

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Cambridge, University Library, Ms. Mn 5.31; Schmieder, Johannes-Offenbarung, S. 131 f.

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anderen Seite. Wir fanden performative, gar liturgische Übergänge vom Diesseits ins Jenseits und zurück als Wanderung, als Vision, als Entrückung, vom Jenseits ins Diesseits als Rettung aus der Hölle, physisch, im Traum oder beim Betrachten (con­ templare) eines Bildes – als Seele an Ostern im Gebet, nach einem raptus, der die Seele vom Leib trennte und letzteren wie tot (aber klar erkennbar nicht tot) oder wie im Schlaf, wie krank zurückließ (all das ironisch gebeugt in Byzanz: Szill), aber auch ein­ mal, wenngleich selten als körperliche Wanderung (Künzel). Es ergibt sich eine reiche Sammlung von Möglichkeiten und Kombinationen, die eine Einteilung in Genres und damit auch das Einziehen von Grenzen zwischen den Genres wenig hilfreich erschei­ nen lässt, vor allem dann nicht, wenn wir sie ausschließend benutzen – und dann ggf. verwundert feststellen, dass die Zeitgenossen die Genregrenzen überschreiten, mit den Mitteln spielen. Sind eine Traum- oder entrückte Vision, ein Himmelsbrief, ein leibhaftiges Auftreten eines Engels oder eine Audition so unterschiedlich, dass man die Genre-Frage stellen muss/darf? Jenseitsreisen sind ebenso wie sehr oft Hagiographie (Schröder) eschatologisch bestimmt; eschatologisch sind viele Prophetien explizit (und die meisten zumindest implizit), auch Chronistik agiert prinzipiell im Rahmen zwischen Schöpfung und Jüngstem Tag. Von einem abgeschlossenen Genre kann schon angesichts der immer wieder festgestellten Offenheit und Wiederverwendbarkeit der Texte eigentlich nicht gesprochen werden. Immer wieder muss die Frage nach der besonderen Fluidität oder auch Flexibilität visionärer Texte gestellt werden, bei denen zwar der Buchdruck zur Verfestigung des Textbestandes beigetragen zu haben scheint (Nehr-Baseler), die aber leben von ihrer Anpassungsfähigkeit an immer neue Zeiten, Umstände und Bedürf­ nisse. Und Prophetie musste ebenso wie die Vielfalt an visionären Texten, die uns in diesem Band begegnen, umgeschrieben/aktualisiert werden, um weiterzuleben (nicht zuletzt, weil wenigstens die Eschata ja nicht wirklich eintrafen6). Es drängt sich bei all diesen Texten die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, nach einem Urtext zu suchen, oder umgekehrt zu entscheiden, ab wann ein Text beginnt, ein neues Werk zu sein (und inwieweit das eine moderne Bewertung ist, die im Mittelalter niemand gedacht hätte). Für uns ist ein Text fest und seine Veränderung die Abweichung – doch erscheint nicht die Veränderung auch von „Kodifiziertem“ ganz generell im Mittelalter viel we­ niger problematisch? Sogar der biblische Text, der als kanonisch, heilig und damit unveränderbar par excellence galt und um dessen Richtigkeit seit der Karolingerzeit die Gelehrten rangen (Röckelein), könnte in mancher Hinsicht weniger fest und stär­ ker fluide gewesen sein, wenn wir unsere eigene Vorstellung von Kanonisierung und Festigkeit modifizieren. Während es gewiss so ist, dass Veränderung eines geschriebe­ 6

Dieses Ausbleiben wird selten thematisiert, wird aber auch kaum vorgeworfen, erscheint eher selbstverständlich: Nicht nur irrt der Mensch, sondern Gott kann sich selbstverständlich um-ent­ scheiden.

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nen Texts eher bewusst stattfindet als die Aktualisierung von mündlicher Erzählung, könnte angesichts der grundsätzlichen Oralität mittelalterlicher Gesellschaft doch gerade die bewusste Aktualisierung von Geschriebenem das Normale gewesen sein. Vor diesem Hintergrund würde die karolingische Bibel-Diskussion nicht bedeuten, dass man nun ganz von Veränderungen/Adaptationen absehen sollte, sondern dass sie eingehegt werden sollten. Christel Meier-Staubach hat in Reaktion auf die These von Thomas Bauer, wonach die Europäer im 19. Jahrhundert mit Rigidität gegen die in der Welt verbreitete Ambiguitätstoleranz vorgegangen seien, eine lateineuropäische Ver­ gangenheit vorgeführt, in der es eine selbstverständliche mittelalterliche „Ambigui­ tätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens“ und zwar gerade in der Theologie gegeben hat.7 Zugegeben, das meint noch nicht zwingend den Wortlaut des Bibeltextes selbst, aber den zu übersetzen – wörtlich oder aber sinngemäß – war nie verboten. Und was genau wurde denn eigentlich als Bibeltext verstanden? Es gab zwar die früh kanonisierte Bibel, aber galten die sog. Apokryphen wirklich so viel weniger?8 Sie sind sicher nicht weniger gelesen worden, sie dienten – vergleichbar mit den Le­ genden um den auferweckten Lazarus (Weitbrecht) – der Füllung von Lücken, die der Bibeltext ließ, so zu Geburt, Kindheit und Jugend Jesu. Inwieweit die Gesamtbibel, die lange Zeit nur selten als Gesamthandschrift und viel öfter in einzelnen Büchern abgeschrieben, gelesen, kommentiert wurde und fest kodifiziert war, kann also zumin­ dest gefragt werden. Kurz und gut, der Kampf um den rechten Heiligen Text mag im lateinischen Mittelalter geführt worden sein, er war aber sicher nicht abgeschlossen. Und das wäre dann der Rahmen für den Umgang mit Visionen und vergleichbaren Schriften, so wie ihn dieser Band, mit seinem Fokus auf Gesicht und Handschrift, auf authentisierte Vision zwischen Transzendenz und Materialität in nachahmenswerter Weise vorführt. Bibliographie Quellen Handschrift: Cambridge, University Library, Ms. Mn 5.31. https://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MS-MM-0000500031/210 [abgerufen am 30.04.2022]. Alexander Minorita, Expositio in Apocalypsim, hg. v. Alois Wachtel(Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 1), Weimar 1955.

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Meier, Unusquisque. Zur Gesamtüberlieferung van Liere, Introduction.

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Forschungsliteratur Meier, Christel, Unusquisque in suo sensu abundet (Rom 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Texthermeneutik des lateinischen Westens?, in: Abrahams Erbe: Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter, hg. v. Klaus Oschema / Ludger Lieb / Johannes Heil (Das Mittelalter. Beihefte 2), Berlin 2015, S. 3–33. Schmieder, Felicitas, Die Johannes-Offenbarung als Schlüssel zur Zeitgeschichte – Alexander Minoritas Expositio in Apocalypsim als Chronik, in: Geschichte vom Ende her denken. End­ zeitentwürfe und ihre Historisierung im Mittelalter, hg. v. Susanne Ehrich / Andrea Worm (Forum Mittelalter-Studien 15), Regensburg 2019, S. 127–145. Dies., Einleitung, in: Mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes – Forming the Future Facing the End of the World in the Middle Ages, hg. v. ders. (Archiv für Kulturge­ schichte. Beiheft 77), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 9–15. Schmolinsky, Sabine, Der Apokalypsenkommentar des Alexander Minorita. Zur frühen Re­ zeption Joachims von Fiore in Deutschland (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 3), Hannover 1991. Van Liere, Frans, An Introduction to the Medieval Bible, Cambridge 2014.

Abbildungen

Abbildungen

Rike Szill

Abb. 1 Exzerpt des Timarion mit hymnischer Überschrift, ÖNB Cod. theol. gr. 222, fol. 193v. Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Wien

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Abbildungen

Gia Toussaint

Abb. 1 Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (Detail).

Abb. 2 Maria und der Konvent verehren das Antlitz Christi, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 41r (ganzseitig).

Abbildungen

Abb. 3 Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen im Garten: Noli me tangere, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 43v.

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Abbildungen

Abb. 4 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen im Garten, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 97r.

Abbildungen

Abb. 5 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor dem Auferstandenen, aus dessen Seitenwunde sich ein Blutstrahl in einen Kelch ergiesst, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 104r.

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Abbildungen

Abb. 6 Eine Nonne (Winheid) kniet anbetend vor einem Engel, Hildesheim, MS J 29, Dombibliothek (Sigle HI1), fol. 131r.

Abb. 1 Bericht und Darstellung der mira uisio von der Hand des Johannes von Worcester; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 382 f.

Abbildungen

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Uta Kleine

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Abbildungen

Abb. 2 Rasur und Beginn der Neuredaktion der Ereignisse nach 1128 in den letzten acht Zeilen, beginnend mit dem rubrizierten Titel ‚De iuramento iam mutato in periurium, in multorum periculum‘; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 379.

Abbildungen

Abb. 3 Bericht und Zeichnung zur Himmelserscheinung vom 8. Dezember 1127; Oxford, Corpus Christi College, Hs. 157, S. 380.

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Abbildungen

Johannes Traulsen

Abb. 1 St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 302: Rudolf von Ems, Weltchronik / Der Stricker, Karl der Grosse, Teil II, fol. 3v.

Abbildungen

Abb. 2 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil II, fol. 52v.

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Abbildungen

Abb. 3 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, Teil I, fol. 203r.

Offenbarungen, Visionen und Jenseits­ reisen interessieren nicht nur mittel­ alterliche Schreiber, sondern auch die moderne Forschung. Die Beiträge erschließen dieses vielfältige Quellen­ korpus anhand hermeneutischer, überlieferungs- und medienhistorischer Zugänge und fragen insbesondere nach dem Zusammenhang von Authenti­ sierung und Kodifizierung. Die Erfor­ schung der Wechselwirkung zwischen Authentisierungsstrategien des Jensei­ tigen und der transzendenten Auto­

risierung und Begründung konkreter diesseitiger Zusammenhänge ist für die mediävistischen Bild-, Literatur- und Geschichtswissenschaften gleicher­ maßen von Bedeutung. Ihre Analyse eröffnet reichhaltige Möglichkeiten, Visionen im Spannungsfeld von Kodi­ fizierung, Autorisierung und Authen­ tisierung zu beschreiben und so die Verbindungen von Dies- und Jenseits in der Vorstellungswelt des Mittelalters auszuloten.

ISBN 978-3-515-13414-9

www.steiner-verlag.de

9 783515 134149

Franz Steiner Verlag