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German Pages VII, 163 [167] Year 2020
Bernhard Bogerts Joachim Häfele Benny Schmidt Hrsg.
Verschwörung, Ablehnung, Gewalt Transdisziplinäre Perspektiven auf gruppenbezogene Aggression und Intoleranz
Verschwörung, Ablehnung, Gewalt
Bernhard Bogerts · Joachim Häfele · Benny Schmidt (Hrsg.)
Verschwörung, Ablehnung, Gewalt Transdisziplinäre Perspektiven auf gruppenbezogene Aggression und Intoleranz
Hrsg. Bernhard Bogerts Universität Magdeburg Magdeburg, Deutschland
Joachim Häfele Universität Hamburg Hamburg, Deutschland
Benny Schmidt Erfurt, Deutschland
ISBN 978-3-658-31700-3 ISBN 978-3-658-31701-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort Aggression, Feindseligkeit und daraus resultierende Gewalt gegenüber Menschen, die nicht der eigenen Bezugsgruppe zugehören, sind weltweit beobachtbare Phänomene. Das wissenschaftliche Interesse zur Beschreibung und Erklärung dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nahm in den letzten Jahren auch aufgrund zahlreicher aufsehenerregender Vorfälle wie beispielsweise dschihadistischer und rechter Terroranschläge und deren medialer Thematisierung stetig zu. Im vorliegenden Buch werden in einem transdisziplinären Ansatz wissenschaftliche Perspektiven zu Intoleranz und Feindseligkeit gegenüber anderen dargestellt. Dabei werden Fachrichtungen einbezogen, die zwar einen hohen Erklärungswert für das Zustandekommen gruppenbezogener Aggression haben, die aber in der bisherigen Diskussion hierzu nur eine eher marginale Stellung einnahmen. Um diesen Mangel an fachübergreifenden Abhandlungen des Problemfeldes gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu mindern, wurden folgende Themen im vorliegenden Sammelband ausführlicher behandelt:
die hirnbiologischen und evolutiven Grundlagen von Aggression und Gewalt, einschließlich genetischer, psychologischer, pathologischer und hedonistischer Teilkomponenten, mit dem Versuch einer Brückenbildung zu den Sozialwissenschaften;
die Rolle von Religiosität, insbesondere von deren pathologischen Ausprägungsgraden im Entstehungsgefüge von Hass und Gewalt gegenüber anderen;
Religion als Legitimierung für Radikalisierung, Terror und Glaubenskrieg, mit Hinweisen auf das Alte Testament und den Dschihad;
Gruppenaggression als Resultat von Verschwörungsmentalitäten als sowohl historisch bedeutsame wie auch derzeit noch relevante Ursachen von Antisemitismus, zusammen mit einer psychologischen Bewertung des Verschwörungsglaubens;
Erscheinungsformen und Ursachen von pauschalen Ablehnungen bestimmter Menschgruppen aufgrund ihrer Rasse, Herkunft oder Religion sowie eine Bewertung des Konzeptes der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, zudem Konsequenzen für Gegenstrategien;
Determinanten urbaner Intoleranzen gegenüber Phänomenen, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels immer weiter zunehmen werden;
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Vorwort
die juristische Bewertung von terroristischen und ausländerfeindlichen Straftaten unter Einbeziehung fremder kultureller Wertvorstellungen der Täter.
Die Beiträge des Buches machen deutlich, dass nur einzelne wissenschaftliche Teildisziplinen übergreifende und transdisziplinäre Sichtweisen dem vielschichtigen Bedingungsgefüge gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gerecht werden können, um dadurch theoretisch und empirisch fundierte Voraussetzungen für effektivere Gegenstrategien zu schaffen. In Kenntnis dieser Herausforderung bleibt es nicht nur Aufgabe des Staates und der Wissenschaft, Antworten zu geben. Vielmehr stellt dieser Prozess eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. Juni 2020 Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...............................................................................................................V Neurobiologische und soziale Ursachen von Gewalt: Ein integrativer Ansatz .................................................................................................................1 Bernhard Bogerts Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus ....................................27 Joachim Heinrich Demling Religiöse Legitimierung von Menschenfeindlichkeit .......................................43 Martin Hagenmaier Verschwörungsmentalität und Antisemitismus .................................................69 Roland Imhoff Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren und Gegenstrategien ....................................................91 Kurt Möller Determinanten urbaner (In-)Toleranz.............................................................. 119 Joachim Häfele Der Umgang der Strafjustiz im Schwurgerichtsverfahren mit Terrordelikten und ausländerfeindlicher Schwerkriminalität..................................................143 Uwe Tonndorf Autorenverzeichnis .........................................................................................161 Kurzbiografien der Herausgeber .....................................................................163
Neurobiologische und soziale Ursachen von Gewalt: Ein integrativer Ansatz Bernhard Bogerts1
Keywords: Gewalt, Neurobiologie, psychosoziale Ursachen
Abstract Gewalt hat sowohl hirnbiologische wie auch psychosoziale Ursachen. Letztere sind Gegenstand zahlreicher sozialwissenschaftlicher Analysen. Dagegen sind die neurobiologischen Korrelate von Aggression und Gewalt kaum bekannt. Das Kapitel gibt einen Überblick über die phylogenetischen und erbbiologischen Grundlagen, über hirnstrukturelle, hirnfunktionelle und neurochemische Korrelate, über Gewalt aufgrund von Hirnfunktionsstörungen und psychischen Erkrankungen, um dann eine Synthese mit neueren psychologischen und sozialwissenschaftlichen Theorien zur Gewalt anzubieten. Dabei wird auch hedonistische Gewalt, das heißt Gewalt um ihrer selbst willen, berücksichtigt. Es wird erläutert, wie das psychosoziale Umfeld über den Neokortex und das limbische System die phylogenetisch sehr alten Nervenzellgruppen im Hirnstamm, die sowohl bei Aggression wie auch prosozialen Verhalten aktiv werden, an die aktuelle Umweltsituation anpasst. Zur Erklärung des Phänomens Gewalt haben Hirnbiologie und Sozialwissenschaften gemeinsame Schnittstellen: Eine liegt auf der Ebene der Genexpression, da die Aktivität eines Gens in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen an- oder ausgeschaltet werden kann. Die andere liegt auf der Ebene der Hirnplastizität, d. h. der Formbarkeit von Hirnstruktur und -funktion durch das psychosoziale Umfeld. Beides ist jedoch nur innerhalb der genetisch und hirnbiologisch vorgegebenen Rahmenbedingungen möglich. Abschließend wird kurz auf sich hieraus ergebende Aspekte für die Gewaltprävention eingegangen.
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Bernhard Bogerts | Salus-Institut, Salus Altmark Holding gGmbH Magdeburg | b.bogerts@ salus-lsa.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_1
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Inhalt 1 Einführung.....................................................................................................3 2 Biologie aggressiv-gewalttätigen Verhaltens .................................................5 3 Gewaltneigung bei psychischen Störungen .................................................14 4 Psychologische und soziologische Theorien von Aggression und Gewalt ..16 5 Hedonistische Aspekte proaktiver Gewalt ...................................................19 6 Schlussbemerkung .......................................................................................21 Literatur ............................................................................................................22
Neurobiologische und soziale Ursachen von Gewalt: Ein integrativer Ansatz
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Einführung
Gewalt hat vielfältige Ursachen und Erscheinungsformen, deren komplexes Bedingungsgefüge sowohl von biologischen als auch von psychosozialen Faktoren geprägt wird. Hierzu gehören phylogenetische, genetische, hirnbiologische, psychopathologische und neuropathologische Teilursachen einerseits, andererseits frühkindliche prägende familiäre Einflüsse, Erlebnisse in Kindheit und Jugend, das aktuelle psychosoziale Umfeld und die daraus resultierende kognitive und emotionale Persönlichkeitsstruktur des Gewalttäters. Die Komplexität des Phänomens Gewalt äußert sich auch in den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt:
individuelle Gewalt als Gewalthandlung einer Einzelperson gegen eine andere,
kollektive Gewalt durch Gruppen, angefangen von Auseinandersetzungen zwischen Gangs, Stammesfehden und Pogromen bis hin zu Kriegen und Völkermorden,
reaktive Gewalt, ausgelöst durch Provokation oder Bedrohung,
proaktive (d. h. geplante oder vorsätzliche) Gewalt zur Erlangung eines Vorteils,
hedonistische Gewalt, die um ihrer selbst willen verübt wird sowie
Gewalthandlungen als Symptome einer krankhaften seelischen Störung.
Die Gewaltkriminalität nahm laut Polizeilicher Kriminalstatistik seit 1990 in Deutschland kontinuierlich zu und erreichte im Jahre 2007 mit etwa 200 000 registrierten Gewalttaten einen Höhepunkt, um danach wieder leicht abzufallen (Bundeskriminalamt 2018). Einen vorübergehenden Anstieg gab es wieder in den Jahren 2016 und 2017, was mit der Flüchtlingswelle zusammenhing. Im weltweiten Vergleich ist die Gewaltrate in Deutschland, gemessen an der Rate von Tötungshandlungen, als sehr niedrig anzusehen. Die Mordrate liegt hier bei 0,8 pro 100 000 Einwohner (Bundeskriminalamt 2018); in einigen Staaten Mittelamerikas ist sie 50–100-mal so hoch (WHO 2014). Die globale Durchschnittsrate liegt bei 6,3 pro 100 000 Einwohner. Auch im historischen Vergleich liegt die Gewaltrate in Europa derzeit auf einem sehr niedrigen Niveau. Seit dem Mittelalter kam es zu einem Rückgang der Mordraten auf ein Vierzigstel, was auf das Ende des mittelalterlichen Fehdewesens, die Einführung des staatlichen Gewaltmonopols, den aufkommenden Humanismus und die Renaissance, bessere Lebensbedingungen und bessere Bildung zurückzuführen ist (Pinker 2013).
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Abb. 1: Entwicklung der Mordraten seit dem Mittelalter bis zur Gegenwart (13. Jahrhundert bis 2010) in einer ausgewählten Anzahl von Ländern oder regionalen Gruppen in Westeuropa (Mittelwerte aus sieben europäischen Ländern: Niederlande, Belgien, Skandinavien, Italien, Deutschland, Schweiz, England). Anzahl der Morde pro 100 000 Personen/Jahr (Quelle: Our World in Data CC BY-SA: Eisner [2003] & IHME, Global Burden of Disease [2017]) 2
Die erhebliche Varianz schwerster Gewalt in Form von Tötungsdelikten in Abhängigkeit von historischen, geografischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten lässt darauf schließen, dass kulturelle, politische und soziale Rahmenbedingungen wichtige Determinanten von individueller wie auch kollektiver Gewalt darstellen. Diese sind ebenso wie Ursachen, die in der individuellen Biografie und im aktuellen sozialen Umfeld liegen, Gegenstand der Sozialwissenschaften und in der Regel plausibel und unstrittig. Weniger bekannt hingegen sind die hirnbiologischen Grundlagen, aufgrund derer Gewalthandlungen überhaupt erst möglich werden; hierzu gehören genetische, hirnanatomische, hirnphysiologische, transmitterchemische und hormonelle wie auch phylogenetische Aspekte. Diese werden im Folgenden zunächst dargestellt, um danach den Versuch einer Integration mit psychologischen und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen zu unternehmen.
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Online unter: https://ourworldindata.org/homicides [zuletzt aufgerufen am 15.07.2020].
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Biologie aggressiv-gewalttätigen Verhaltens
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Genetik
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Ebenso wie die körperliche Konstitution sind auch die psychischen Merkmale eines Menschen das Resultat einer Interaktion von Erbanlage und Umwelteinflüssen. Die Bedeutung dieser Wechselwirkung zwischen Umwelt und Genen wird durch die relativ neue Forschungsrichtung der Epigenetik unterstrichen. Mittlerweile sind mehrere Gene bekannt, die zu aggressivem Verhalten disponieren. Am besten erforscht ist das MAO-A-Gen, das unter anderem für den Stoffwechsel der neuronalen Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin zuständig ist (Brunner et al. 1993). Beide Neurotransmitter haben eine antriebssteigernde Wirkung. Von diesem Gen gibt es zwei Varianten, wovon eine mit einer höheren Aktivität von Dopamin und Noradrenalin und einer höheren Gewaltneigung einhergeht. Das ist aber nur der Fall, wenn der Träger dieses Gens einer traumatisierenden Kindheit ausgesetzt war. Hinsichtlich dieser Genvariante ist somit das Hinzukommen aversiver Kindheitserfahrungen notwendig, um späteres aggressiv-antisoziales Verhalten wahrscheinlich zu machen (Caspi 2002; Caspi/Moffitt 2006). Nachdem die Bedeutung des MAO-A-Gens als Risikofaktor für aggressives Verhalten entdeckt wurde, wurde eine Vielzahl weiterer Gene gefunden, die im Zusammenspiel mit einem frühen traumatisierenden psychosozialen Umfeld das Risiko für Gewalthandlungen erhöhen (Reif et al. 2007). In einer Meta-Analyse, die die Ergebnisse von 185 Studien zusammenfasste, wurden 31 Gene identifiziert, die zum Zustandekommen von Aggression und Gewalt beitragen (Vassos/Collier/Fazel 2014). Die Mehrzahl dieser Gene ist für die Funktion bestimmter neuronaler Botenstoffe, darunter auch Dopamin und Serotonin und damit für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen wichtig. Auch durch Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien konnte nachgewiesen werden, dass sowohl genetische Faktoren wie auch das frühe familiäre Umfeld gleichermaßen zu Gewalttätigkeit beitragen können. In einer Studie wurden adoptierte männliche Jugendliche, deren biologische Väter wegen Straftaten verurteilt worden waren, im Vergleich zu solchen, deren biologische Väter nicht straffällig wurden, untersucht. Adoptierte Söhne, deren biologische Väter verurteilt waren, zeigten eine wesentlich höhere Häufigkeit kriminellen Verhaltens als Söhne von nicht straffälligen biologischen Vätern, unabhängig davon, ob der Adoptivvater Straftäter war oder nicht (Cloninger et al. 1982). Diese Studie wurde mehrfach bestätigt (Rhee/Waldman 2002; Taylor/Kim-Cohen 2007). In einer Meta-Analyse von 103 Studien wurde die Erblichkeit von aggressivem Verhalten mit regelwidrigem nicht-aggressiven Verhalten verglichen. Nicht-aggressives antisoziales Verhalten war zu 48 %, aggressives Verhalten zu 65 % der Ursachenvarianz genetisch bedingt (Rhee/Waldman 2002). Zwillings- und Adoptionsstudien
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können dahingehend zusammengefasst werden, dass die genetische Veranlagung etwa die Hälfte der Ursachenvarianz für Gewaltverbrechen erklärt, wobei die Angaben je nach Aggressionsart und untersuchter Population zwischen 30 % und 70 % schwanken (Rhee/Waldman 2002).
Abb. 2: Genetik gewalttätigen Verhaltens. Die Wahrscheinlichkeit für aggressiv-kriminelles Verhalten steigt mit dem genetischen Verwandtschaftsgrad (Quelle: Rhee/Waldman 2002)
Die Streitfrage, ob Gene oder Umwelt mehr zur Entwicklung einer bestimmten psychischen Disposition beitragen, kann auch deshalb als überholt angesehen werden, weil ein Gen seine Aktivität nur dann entfalten kann, wenn ein dafür geeignetes Umfeld vorliegt. Ein Gen kann seine Aufgabe, das ist die Genexpression zur Steuerung der Eiweißsynthese und damit der Funktion eines Organs (auch des Gehirns), durch epigenetische Einflüsse, d. h. Umwelteinwirkung, den jeweiligen Bedingungen anpassen. Innerhalb eines Gens gibt es eine bestimmte Region (Promoterregion), die für Umwelteinflüsse besonders empfänglich ist (Maier/Giegling/Rujescu 2017). In Abhängigkeit von dem, was in der Umwelt passiert, beeinflusst die Promoterregion über komplizierte molekulargenetische Mechanismen in anderen Abschnitten des Gens die Genexpression und damit die Eiweißsynthese und Organfunktion. Gene sind somit keine starren Akteure, die in eigener Regie den Ablauf der Gehirnfunktion und der davon abhängigen psychischen Aktivitäten bestimmen, sondern sie ändern ihre Aktivität in Abhängigkeit von den jeweils vorliegenden Umwelteinflüssen. Die genetische Ausstattung gibt aber die Rahmen-
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bedingungen vor, innerhalb derer psychosoziale Einflüsse wirksam werden können. Sie bilden sozusagen die Klaviatur, auf der die Umwelt spielen kann. 2.2
Phylogenese der Gewalt
Die gesamte genetische Ausstattung, die die Rahmenbedingungen für unsere körperliche und psychische Entwicklung vorgibt, ist das Endresultat einer über viele Jahrmillionen gehenden Stammesgeschichte der Menschheit, in der sich diejenigen Gene behaupteten, die zum Fortbestehen einer Art notwendig waren. Die Umweltbedingungen, mit denen sich die Vorstufen des Homo sapiens während der Phylogenese auseinanderzusetzen hatten, waren nicht nur Klima, Nahrungsangebot, Fressfeinde und Krankheitserreger, sondern insbesondere auch andere um Nahrung, Territorien und Sexualpartner*innen konkurrierende Menschen (Euler 2004). Entscheidend für das Überleben in den Frühphasen der Menschheitsentwicklung war nicht nur das natürliche, sondern auch das soziale Umfeld. Diejenigen, die sich gegenüber anderen durchsetzten, diese vertrieben, unterwarfen oder sogar ausrotteten, hatten eine höhere Chance, ihre Gene an die Nachkommen weiterzugeben, als die Unterlegenen. Die Evolutionstheorie der Entstehung elementarer psychischer Eigenschaften – hierzu gehören sowohl Aggressivität wie auch deren Gegenspieler, das sind Empathie und Mitmenschlichkeit – besagt, dass sich die Anlage hierzu über zehntausende von Generationen hinweg durch natürliche Selektion schrittweise herausbildete. Die Gesetzmäßigkeiten der Evolution von Verhaltensmustern konnten auch im Tierexperiment durch selektive Züchtung eindrucksvoll verdeutlicht werden. Durch selektive Zucht von Mäusen oder Ratten gelangt man schon nach wenigen Generationen zu einem Stamm, der deutlich aggressiver ist als gewöhnliche Labortiere. Auch aggressive Merkmale von Kampfhunden lassen sich durch gezielte Züchtung über mehrere Generationen hinweg verstärken oder auch wieder abschwächen (Stur o. J.). Durch Computersimulation verschiedener gruppendynamischer Gegebenheiten und mentaler Einstellungen über tausende Generationen hinweg, wie sie bei den Lebensbedingungen der Frühzeit der Menschheit vorlagen, konnte gezeigt werden, dass die Gruppen in der Evolution die größten Überlebenschancen hatten, die bei engem Zusammenhalt innerhalb der Gruppe die höchste kriegerische Einstellung gegenüber Fremdgruppen aufwiesen (Choi/Bowels 2007). Nicht nur erfolgreiche Gruppenaggression gegenüber Andersartigen, sondern auch prosozial-kooperatives Verhalten gegenüber Mitgliedern der Eigengruppe erwies sich demnach in der Phylogenese als Überlebensvorteil (Tomasello 2016). Diese elementaren Bausteine nicht nur menschlichen, sondern auch tierischen, urtümlichen Sozialverhaltens, nämlich prosozialen Verhaltens innerhalb der Eigengruppe und feindselig-aggressiver Einstellung gegenüber Fremdgruppen, haben phylogene-
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tische Wurzeln, die zehntausende von Generationen zurückreichen. Bei Schimpansen ist ein ganz ähnliches Gruppenverhalten zu beobachten (Goodall 1971) (Mensch und Affe trennten sich von den gemeinsamen Vorfahren vor etwa sechs Millionen Jahren). Diese aus der Urzeit stammende Mentalität ist bis heute als eine Art von ererbtem kollektiven Unbewussten in uns erhalten geblieben. Sie kommt mit ihrer fremdenfeindlichen Seite dann wieder zum Vorschein, wenn durch Erziehung und Sozialisierung Mitgefühl, Empathie und Wertschätzung anderer Wesensarten, Denkweisen und Kulturen nur unzureichend vermittelt werden. Vieles spricht dafür, dass mit zunehmender Zivilisation das Ausmaß tödlicher Gewalt in den letzten Jahrhunderten sank. Der prozentuale Anteil von Todesfällen in prähistorischen archäologischen Fundstätten durch zwischenmenschliche Gewalt wird in einem Größenbereich von 10–30 Prozent angegeben. Ähnlich hoch soll er heute noch bei einigen indigenen Völkern in Amazonien und Neuguinea liegen (Pinker 2013). Nach dem erheblichen Rückgang der Mordraten seit dem Mittelalter in Folge von Aufklärung und Humanismus, aber auch wegen der Übernahme des Gewaltmonopols durch staatliche Einrichtungen, wird der Anteil von gewaltsamen Todesfällen der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert einschließlich der Weltkriege und anderer kriegerischer Auseinandersetzungen auf etwa 3 % der gesamten Weltbevölkerung geschätzt (Pinker 2013). 2.3
Hirnstrukturelle und hirnfunktionelle Grundlagen von Gewalt
Aggressives Verhalten lässt sich durch direkte elektrische Stimulation tiefer Hirnstrukturen auslösen. Dies konnte bereits 1932 der Schweizer Physiologe Hess nachweisen (Hess 1949). Die hierfür verantwortlichen Nervenzellgruppen liegen in dem phylogenetisch ältesten Teil des Humangehirns, genauer gesagt in dem zum Hirnstamm gehörenden Hypothalamus (vgl. Abb. 3). Die Befunde von Hess konnten später bestätigt und erweitert werden. Wenn im Hypothalamus ein Areal nahe der Mittellinie des Gehirns elektrisch aktiviert wird, kommt es zu wütender Aggression, wie sie im Falle der Abwehr eines bedrohlichen Angriffes zu beobachten ist (defensiv rage). Dagegen ruft eine mehr seitlich gelegene Zellgruppe im Hypothalamus bei elektrischer Stimulation zielstrebig geplantes, proaktives aggressives Verhalten hervor (predatory attack), wie es z. B. beim Angriff auf ein Beutetier zu beobachten ist (Ploog 1974). In jüngster Zeit konnte durch optogenetische Techniken, mit denen kleinste Nervenzellgruppen im Hirn selektiv stimuliert werden können, erneut bestätigt werden, dass in diesem phylogenetisch sehr alten Teil des Hirnstamms ein breites Spektrum von Instinkthandlungen, die beim Menschen mit einer starken emotionalen Komponente behaftet sind – hierzu gehören Aggression, Flucht, Nahrungsaufnahme, Sexualverhalten – durch direkte
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Stimulation hervorgerufen werden kann (Anderson 2012; Lin et al. 2011; Miczek et al. 2015). Neocortex Balken (Verbindung zwischen beiden Hirnhälften) Zwischenhirn (Thalamus)
Hypothalamus (Lage der „Aggressionszentren“) Sehzentrum Kleinhirn (Bewegungskoordination)
Rückenmark Stirnhirn
Pons (Verbindung zwischen Großhirn und Kleinhirn) Mandelkern Nucleus accumbens (Lage des „Belohnungszentrums“)
Abb. 3: Mittellinienansicht eines Gehirns: Lage des Hypothalamus und der darin gelegenen „Aggressionszentren“, d. h. der Zellgruppen, bei deren Stimulierung aggressives Verhalten ausgelöst wird. In direkter Nachbarschaft dazu liegen der Mandelkern, der Nucleus accumbens und Oxytocin-haltige Zellgruppen (Quelle: Depositphotos_86104948, eigene Beschriftung)
Diese phylogenetisch ältesten Hirnbereiche, die in ganz ähnlicher Morphologie und Funktion auch schon bei einfachen Wirbeltieren vorliegen, reagieren beim Menschen nicht in reflexhaft starrer Weise auf eingehende Umweltreize, sondern werden durch phylogenetisch neuere übergeordnete Areale des limbischen Systems und des Neokortex gesteuert und in ihrer Funktion an die jeweils vorliegenden situativen Gegebenheiten der Umwelt angepasst (vgl. Abb. 4). Eine aggressionsmodulierende Aufgabe hat dabei insbesondere der zum limbischen System gehörende und im mittleren Schläfenlappen liegende Mandelkern, der seinerseits wiederum neuronale Impulse über Nervenbahnen aus dem Neokortex erhält (Archer 2006; Bogerts/Möller-Leimkühler 2013; Bogerts/Peter/Schiltz 2011; Reist et al. 2003). Der Neokortex wiederum übt seine aktivierende oder hemmende Funktion auf die limbischen Strukturen in Abhängigkeit von dem aus, was in ihm an Umwelterfahrungen gespeichert ist und wie eintreffende Sinnesinformationen mit vorhandenen Gedächtnisinhalten abgeglichen, integriert und assoziiert werden. Der wichtigste neokortikale Bereich, der für die Steuerung limbischer Funktionen
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und damit für die Kontrolle archaischer hypothalamischer Instinkte, somit auch für Aggression, zuständig ist, ist das Stirnhirn und hier wiederum der untere Teil des Stirnhirns, der über der Augenhöhle liegt (Orbitalkortex) (Anderson/Kiehl 2013; Ermer et al. 2013). Schädigungen dieses Stirnhirnareals gehen regelhaft mit einer unzureichenden Verhaltenskontrolle bis hin zu Gewalthandlungen einher (Bogerts/Möller-Leimkühler 2013; Rhee/Waldman 2002; o. A. 2007).
Abb. 4: Steuerung der hypothalamischen Aggressionszentren durch übergeordnete Hirnareale (Quelle: eigene Darstellung)
Auch prosoziale Verhaltensweisen haben hirnbiologische Korrelate. Es gibt im Gehirn zwar kein Empathiezentrum, das für Mitgefühl und mitmenschliche Verhaltensweisen verantwortlich ist, es gibt aber ein Netzwerk neokortikaler Areale, die bei Empathie und Mitfühlen aktiviert werden. Zu diesem Netzwerk gehören Teile des Schläfenhirns, des Frontalhirns und des Parietalhirns sowie die Inselrinde (Bernhardt/Singer 2012; Kanske et al. 2015). Diese Hirnrindenareale aktivieren über das limbische System bei Gefühlen, die mit mitmenschlicher Nähe einhergehen, das Hormon Oxytocin, auch Bindungs- oder Wohlfühlhormon genannt (Zak/Kurzban/Matzner 2005). Oxytocin wird in Zellgruppen des Hypothalamus produziert, die in direkter Nachbarschaft zu den Zellgruppen liegen, deren Aktivität reaktive oder proaktive Aggressivität hervorruft. Die neuronalen
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Generatoren dieser beiden Gegenspieler archaischer menschlicher sozialer Verhaltensweisen, nämlich Aggression versus Mitmenschlichkeit, liegen somit im phylogenetisch ältesten Teil unseres Gehirns auf engstem Raum nebeneinander. 2.4
Hormonelle und transmitterchemische Korrelate
Oxytocin verringert die Aggressivität bei Labortieren. Wenn die Wirkung von Oxytocin blockiert wird, werden diese Tiere äußerst aggressiv (Kirsch 2005). Dieses Hormon wird nicht nur durch Mutterinstinkte aktiviert, sondern auch beim Zustandekommen zwischenmenschlicher Sympathie überhaupt (Scheele et al. 2012; Zak/Kurzban/Matzner 2005). Auch deren neuronale Korrelate sind Produkte der Evolution, die das Überleben einer Art sicherten. Gewalt wird überwiegend von Männern ausgeübt, die einer Altersklasse mit dem höchsten Testosteronspiegel zugehören. Es ist deshalb naheliegend, die Wirkung des männlichen Sexualhormons Testosteron mit Aggressivität und Gewalttätigkeit in Zusammenhang zu bringen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Testosteronspiegel und Aggressivität, die aber nur eine sehr schwache Korrelation feststellen konnten (Archer 2006; O’Connor/Archer/Wu 2004). Andererseits gibt es einen gesicherten Zusammenhang zwischen der Höhe der Testosteronkonzentration im Blut und sozialer Dominanz, jedoch weniger mit aggressivem Verhalten. Die bei vielen anderen Säugetieren feststellbare starke Korrelation zwischen männlicher Aggressivität und Testosteronspiegel trifft auf den Menschen nicht zu (Carré/Archer 2018). Es sind offenbar andere hirnbiologische Geschlechtsdifferenzen, die überwiegend in Zellgruppen des Hypothalamus zu finden sind, die die höhere Neigung zu Gewalttätigkeit bei Männern bedingen. Betrachtet man das breite Spektrum aller Formen von Aggressivität – direkte, indirekte, verbale, handgreifliche, Mobbing, Ausgrenzung – dann ist Aggressivität insgesamt bei Männern und Frauen gleich häufig (Björkqvist 2018). Gewalttätigkeit in Form einer körperlichen Schädigung des Gegenübers ist jedoch eine männliche Domäne (Möller-Leimkühler 2018; Möller-Leimkühler/Bogerts 2013). Neben Dopamin (vgl. Abschnitt 2.1) kommt dem Neurotransmitter Serotonin eine wichtige Bedeutung beim Zustandekommen aggressiven Verhaltens zu (Bartholow 2018). Lange bekannt ist ein Zusammenhang zwischen niedrigem Serotoninspiegel und Suizidalität. Auch bei Personen mit impulsiver Aggressivität konnte eine Erniedrigung der Serotoninkonzentration im Blut festgestellt werden. Mit Antidepressiva, die eine Steigerung der Serotoninaktivität an der Synapse herbeiführen, konnte eine Besserung solchen Verhaltens erreicht werden (Duke et al. 2013; Reist et al. 2003).
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Alkohol und Gewalt
In Europa und Nordamerika werden etwa die Hälfte aller Gewalttaten einschließlich Tötungshandlungen unter Alkoholeinfluss begangen (Miczek et al. 2015). Insbesondere bei Gewalt in der Partnerschaft spielt Alkohol eine große Rolle. Alkohol hat mehrere Angriffspunkte im Gehirn: Er beeinträchtigt sowohl die Aktivität des hemmenden Botenstoffes GABA (Gamma-Aminobuttersäure) wie auch des stimulierenden Neurotransmitters Glutamat und bringt somit das Gleichgewicht zwischen hemmenden und aktivierenden Nervenzellaktivitäten in Unordnung. Dies gilt insbesondere für das emotionsrelevante limbische System (Dorfma/Meyer-Lindenberg/Buckholtz 2014; Heinz et al. 2011). Bei Weitem nicht alle Menschen, die zu erhöhtem Alkoholkonsum neigen, werden Gewalttäter. Das Risiko hierfür ist aber erhöht, wenn zugleich eine genetische Disposition zur Gewalt, eigene Gewalterfahrung in der Kindheit oder Provokation hinzukommen. 2.6
Prominente Beispiele von Gewalttätern mit Verletzung der Hirnstruktur
Einer der bekanntesten Amokläufer in der deutschsprachigen Psychiatriegeschichte ist der Hauptlehrer Ernst Wagner, der im Jahre 1913 in dem Dorf Mühlhausen bei Stuttgart unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen neun männliche Einwohner erschoss, weitere elf schwer verletzte und mehrere Häuser niederbrannte. Wagner wurde in einem aufsehenerregenden Prozess wegen einer Wahnkrankheit, die ihn zu dem Amoklauf veranlasste, als schuldunfähig eingestuft und in eine forensisch-psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er Jahrzehnte später verstarb. Die Obduktion seines Gehirns ergab eine eng umschriebene, an einer zentralen Stelle des limbischen Systems im mittleren unteren Schläfenhirn und in Nachbarschaft zum Mandelkern gelegene, Gewebsschädigung. Aus Lage und Funktion des geschädigten Hirnbereiches ist die gestörte emotionale Fehlwahrnehmung seiner Umwelt sowie die mangelhafte Aggressionskontrolle herleitbar (Bogerts/Schöne/Breitschuh 2018; Bogerts 2006). Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung von gesteigerter Aggressivität nach vorangegangener Schädigung eines emotionsrelevanten Hirnareals ist Ulrike Meinhof. Diese war der intellektuelle Kopf der Roten Armee Fraktion (RAF) und verstarb im Jahr 1976 durch Suizid im Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim. In einer anschließenden Hirnobduktion wurden in den mittleren Teilen des rechten Schläfenhirns, in direkter Nachbarschaft zum Mandelkern, Gewebsschädigungen festgestellt, die auf eine Hirnoperation im Jahre 1962 zurückzuführen waren (Bogerts 2006; Dahlkamp 2002). Die Lage der Schädigung an einer zur Emotionsregulation strategisch wichtigen Hirnregion kann als neuropathologisches Korrelat der nach der Hirnoperation aufgetretenen
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Aggressivität mit Gewaltneigung gesehen werden. Nicht erklärbar durch die Neuropathologie sind natürlich die Inhalte und Ziele der Aggressivität; diese wurden durch das situative Umfeld geprägt. Der erste folgenschwere Massenmord durch einen Einzeltäter in den USA ereignete sich im Jahre 1966. Von einem Turm der Universität Texas erschoss Charles Whitman 17 Menschen und verletzte 32 weitere, bevor er selbst von Sicherheitskräften erschossen wurde. Die Autopsie seines Gehirns ergab einen walnussgroßen Tumor neben dem rechten Mandelkern. Wie bei Wagner und Meinhof lag diese Hirnschädigung lokal begrenzt in einem Areal des limbischen Systems, das für Emotions- und Aggressionskontrolle von zentraler Bedeutung ist (Bogerts/Schöne/Breitschuh 2018). 2.7
Hirnpathologie bei inhaftierten Gewalttätern
In einer eigenen Untersuchung der Hirnstruktur von inhaftierten Gewalttätern, bei denen aufgrund verschiedener Indikationen zuvor eine computertomografische oder kernspintomografische Aufnahme des Gehirns angefertigt wurde, konnte ein signifikant erhöhtes Vorkommen von Hirngewebsveränderungen in solchen Hirnarealen festgestellt werden, die zur Aggressionskontrolle wichtig sind (Witzel/Bogerts/Schiltz 2016). Bei einem Viertel der Gewalttäter konnten Hirngewebsdefizite vor allem in den vorderen Regionen des Schläfenhirns und des Stirnhirns gefunden werden. Diese Hirnareale sind über mehrere Nervenbahnen mit dem Mandelkern verbunden und steuern über diesen die Aktivität der im Hypothalamus gelegenen Zentren für proaktive und reaktive Aggression. In einer Übersichtsarbeit, die alle computertomografischen sowie strukturund funktionskernspintomografischen Untersuchungen der letzten zehn Jahre von Gehirnen inhaftierter Gewalttäter zusammenfasste, konnten sowohl bei proaktiven wie auch bei reaktiven Tätern die deutlichsten Hirngewebsdefizite, überwiegend in den Teilen des Stirn- und Schläfenhirns, ausfindig gemacht werden, die die Aktivitäten des Mandelkerns und des Hypothalamus beeinflussen (Bogerts/Schöne/Breitschuh 2018) (Abb. 5).
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Abb. 5: Hirnregionen, die bei verurteilten Gewalttätern Struktur- und Funktionsdefizite aufweisen (Quelle: Bogerts/Schöne/Breitschuh 2018)
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Gewaltneigung bei psychischen Störungen
Medienberichte über psychisch gestörte Amokläufer sowie Berichte über Gewalttäter, die aufgrund einer psychischen Störung in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, lassen in Teilen der Bevölkerung den Eindruck aufkommen, dass psychische Störungen generell mit einer erhöhten Gewaltneigung einhergehen. Ob dies zutrifft oder nicht, war Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, die übereinstimmend zu dem Schluss kommen, dass nur eine sehr kleine Minderheit der Betroffenen zu Gewalttaten neigt. Die weit überwiegende Mehrheit seelisch kranker Patienten verübt keine kriminellen Handlungen. 95 % der psychisch Erkrankten leben gewaltfrei, im Vergleich zu 98 % der Menschen ohne psychische Störungen (Maier et al. 2016). Beispielsweise wurden für das Jahr 2013 in Deutschland insgesamt zirka 180 000 Straftaten von Gewaltkriminalität registriert. Im gleichen Jahr wurden 1085 psychisch kranke Rechtsbrecher nach § 63 StGB wegen erheblicher Allgemeingefährdung in forensisch-psychiatrischen Kliniken untergebracht (Statistisches Bundesamt (2015). Das entspricht 0,6 % aller Fälle von Gewaltkriminalität. Das Risiko zu Gewalthandlungen ist bei den verschiedenen psychiatrischen Diagnosegruppen jedoch unterschiedlich. Das größte Risiko geht von Personen mit einer Schädigung von emotional relevanten Bereichen der Hirnsubstanz sowie von Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis aus. In einer englischen Studie fand sich unter Gewalttätern ein Anteil von etwa 12 %,
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bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wurde. Die häufigsten Diagnosen waren Suchtkrankheiten und psychotische Erkrankungen (Maier et al. 2016). In einer schwedischen Studie wurden Häufigkeiten für registrierte Straftaten mit zwischenmenschlicher Gewaltanwendung von 10 % (Männer) und 3 % (Frauen) innerhalb der ersten fünf Jahre nach Diagnosestellung einer Schizophrenie oder anderen psychotischen Erkrankung angegeben (Choi/Bowels 2007; Fazel et al. 2009). Ähnliche Zahlen wurden für Deutschland ermittelt (Hodgins/MüllerIsberner 2014). Ursache für die erhöhte Gewaltneigung bei psychotischen Erkrankungen sind Wahnsymptome in Form von Bedrohungs- oder Verfolgungswahn. Dabei setzen sich die Betroffenen gegenüber vermeintlichen Angreifern zur Wehr oder glauben wahnhaft, in einem höheren Auftrag handeln zu müssen. Insbesondere bei psychotischen Patienten, die zugleich Suchtmittel konsumieren, liegt ein erhöhtes Risiko für Tötungsdelikte vor (Fazel et al. 2009). Eine fachgerechte Behandlung mit Antipsychotika, die durch psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen zu ergänzen ist, senkt bei solchen Psychosyndromen das Gewaltrisiko deutlich. Die Gewaltneigung bei depressiven Erkrankungen, die in der Regel mit einer Antriebshemmung einhergehen, ist wesentlich geringer. In den äußerst seltenen Fällen von Gewalt durch depressive Patienten ist das weniger auf die Krankheit selbst zurückzuführen; ursächlich sind hier zumeist zusätzliche Probleme wie Suchtmittelmissbrauch, Persönlichkeitsstörungen sowie Gewalterfahrungen in der Kindheit. Weitaus häufiger richten sich aggressive Impulse bei depressiv erkrankten Menschen in Form von Suizidalität gegen die Betroffenen selbst (Fazel et al. 2015). Bipolare Störungen bringen hingegen ein leicht erhöhtes Risiko für aggressives Verhalten einschließlich Gewaltanwendung mit sich: Es liegt dreimal höher als in der Durchschnittsbevölkerung, insbesondere wenn Suchtmittelkonsum hinzukommt (Fazel et al. 2015). Ein erhöhtes Gewaltrisiko findet sich auch bei männlichen Borderline-Patienten. Sehr häufig hatten solche Menschen schwere traumatisierende Erlebnisse in der frühen Kindheit zu erdulden, wie sexuellen Missbrauch, gewalttätige oder abwesende Eltern. Während Frauen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung häufiger zu Selbstverletzungen neigen, haben männliche Patienten oft die Tendenz zu handgreiflicher Gewaltausübung, insbesondere in Verbindung mit Alkohol- und Drogenmissbrauch. Sie sind daher häufiger in Justizvollzugsanstalten anzutreffen, Frauen wegen der Selbstverletzungen eher in psychiatrischen Kliniken. Wichtig für alle Patientinnen und Patienten, deren psychische Erkrankung mit einem erhöhten Gewaltrisiko einhergeht, ist die rechtzeitige Diagnose und fachgerechte Therapie. Durch eine adäquate medikamentöse Behandlung mit nur geringen Nebenwirkungen in Kombination mit psycho- und soziotherapeutischen
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Verfahren ist heute in den meisten Fällen binnen weniger Wochen oder sogar Tagen eine wirksame Besserung möglich.
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Psychologische und soziologische Theorien von Aggression und Gewalt
Aus den zahlreichen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Erklärungsangeboten zum Zustandekommen von Aggression und Gewalt sind nachstehend einige einflussreichere Theorien zusammengefasst. Freud (Freud 1920; Freud 1930) sprach der Aggression triebhaften Charakter zu. Er postulierte einen Todestrieb, den er als Antagonist zu dem Lebenstrieb („Eros“) ansah. In einer seiner letzten Schriften sprach er unter dem Eindruck des aufkommenden Nationalsozialismus von einem „Aggressions- und Vernichtungstrieb“, der eine ernsthafte Bedrohung der Menschheit darstelle (Freud 1933). Auch der Verhaltensforscher Lorenz postulierte einen Aggressionstrieb als eine aus der Evolution resultierende biologische Notwendigkeit („Das sogenannte Böse“, Lorenz 1963). Dieser Trieb baue als Motor aggressiven Verhaltens beim Menschen ebenso wie bei vielen Wirbeltieren sich immer wieder neu auf und müsse abreagiert werden (Dampfkesselmodell). Als Gegenpol zu den auf psychoanalytischen Annahmen Freuds basierenden und dem aus der Tierverhaltensforschung von Lorenz abgeleiteten Triebmodellen wurde aus verhaltenstheoretischer Perspektive die Frustrations-Aggressions-Theorie entwickelt (Dollard et al. 1939). Nach dieser Theorie geht jeder Aggression eine Frustration oder Provokation voraus. Die aggressive Handlung verschaffe Erleichterung und werde durch Lernen und Sozialisationseffekte verstärkt. Als Konsequenz aus dieser Theorie wurde eine frustrationsfreie Erziehung gefordert, um eine Entwicklung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter erst gar nicht zu ermöglichen. Die Annahme, dass solche ‚no frustration kids‘, denen kaum noch Grenzen aufgezeigt wurden, besonders friedfertige Menschen würden, erwies sich jedoch als irrig. Bestätigt werden jedoch konnte die verhaltenstheoretische Annahme, dass das Lernen an erfolgreich aggressiven Vorbildern (z. B. der Sohn lernt gewalttätiges Verhalten vom Vater) die Entwicklung gewalttätiger Charaktere im Sinne eines operanten Konditionierens fördert. Die klassischen Aggressionstheorien wurden zunehmend durch neuere Modelle ersetzt, die die Persönlichkeitskonstitution, das soziale Umfeld und kognitive Prozesse integrieren. Die einflussreichste neuere Theorie ist das allgemeine Aggressionsmodell (General Aggression Model [GAM], Allen/Anderson/Bushman 2018; Anderson/Bushman 2002). Dieses Modell geht davon aus, dass sowohl biologische Voraussetzungen (ohne diese weiter zu differenzieren) als auch
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Umwelt-Faktoren als ‚distale‘ Ursachen die Disposition einer Persönlichkeit, d. h. das Ausmaß der Gewaltbereitschaft, formen, zu der dann ‚proximate‘ Faktoren hinzukommen. Letztere beinhalten die aktuelle aggressionsauslösende Situation sowie innerpsychische kognitive und emotionale Verarbeitungsprozesse der betroffenen Person. Von der kognitiv-emotionalen Bewertung und den persönlichen psychischen und physischen Ressourcen sowie der Beurteilung des möglichen Ausgangs einer Aggressionshandlung hängt es dann ab, ob diese ausgeübt wird oder nicht. Wenn die Persönlichkeitsressourcen zu einer angemessenen Bewältigung einer aggressionsauslösenden Situation nicht ausreichen, kann es zu einer impulsiven Handlung kommen; falls diese Ressourcen ausreichen, kann eine impulsiv-reaktive Gewaltreaktion unterdrückt werden oder aber eine planvoll durchgeführte aggressive Handlung folgen. Dieses allgemeine Aggressionsmodell (GAM) ist in jüngster Zeit durch das sog. I³-Modell der Aggression (ausgesprochen ‚I-cubed-model‘) erweitert worden (Finkel/Hall 2018)). Dieses Modell geht davon aus, dass Ausgangsbedingungen von drei unterschiedlichen Ebenen für das Zustandekommen einer aggressiven Handlung erforderlich sind. Die erste Ebene ist die Persönlichkeitsdisposition (impellance), die mit einer unterschiedlichen Schwelle zur Gewaltbereitschaft einhergeht; die zweite Ebene ist die Intensität aggressionsauslösender Umweltfaktoren (instigation). Hier findet sich eine Analogie zum Dispositions-StressModell bei psychischen Erkrankungen. In dem I³-Modell kommen als dritte Komponente entweder intrapsychische oder umfeldbedingte gewalthemmende Faktoren (inhibition) hinzu. Das Zustandekommen einer Aggressionshandlung wird demnach dreidimensional determiniert: von der vorbestehenden Persönlichkeitsanlage, der Intensität aggressionsauslösender Situationen und aggressionshemmenden innerpsychischen oder äußeren Einflüssen.
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Abb. 6: Schematische Zusammenfassung des vielschichtigen sozialen Ursachengefüges von Aggression und Gewalt und dessen Einfluss auf die Hirnbiologie. Die Abbildung soll verdeutlichen, dass Gewalthandlungen durch einzelne Individuen oder durch eine Gruppe von Individuen letztlich nur dann zustande kommen, wenn innerhalb der Hirne der Gewalttäter kortikale und limbische Funktionssysteme so miteinander interagieren, dass dadurch eine direkte Aktivierung oder eine Enthemmung der phylogenetisch alten neuronalen Gewaltgeneratoren im Hypothalamus und die damit verbundenen emotionalen und motorischen Reaktionen ermöglicht werden (modifiziert nach Möller-Leimkühler/Bogerts 2013).
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Hedonistische Aspekte proaktiver Gewalt
In den dargestellten Aggressions- und Gewalttheorien wird nur unzureichend berücksichtigt, dass Gewalt mitunter nicht nur reaktiv oder proaktiv, sondern auch appetitiv, d. h. um ihrer selbst willen als Selbstzweck und Lustgewinn, ausgeübt wird. Von Gewalt ging schon immer eine besondere Faszination aus, angefangen von den Gladiatorenkämpfen in römischen Amphitheatern, über öffentliche Hinrichtungen und Strafrituale im Mittelalter und der Frühen Neuzeit bis hin zu Gewaltdarstellungen in den heutigen Medien, seien es ritualisierte und reglementierte Gewalt im Kampfsport oder Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen. Vor allem Gruppengewalt wird durch jugendliche Täter wie Hooligans innerhalb und außerhalb von Stadien und sogenannten Krawalltouristen als berauschend dargestellt (Buford 1992; o. A. 2007). Hedonistische Gewalt wie z. B. Sadismus oder auch Tierquälerei wurde bislang überwiegend als krankhafte Veranlagung eingestuft. In einer umfangreichen Untersuchung von afrikanischen Kämpfern, darunter Kindersoldaten, die an Massenmorden während des Genozides in Ruanda beteiligt waren (Elbert et al. 2013; Elbert/Schauer/Moran 2018), wurde von den befragten ehemaligen Kämpfern eine Leidenschaft für das Töten bis hin zu rauschähnlichen Zuständen geschildert. Ähnliches ist aus der Schilderung von Serienmördern bekannt. Aus phylogenetischer Sicht ist appetitive Aggression deshalb überlebenswichtig, weil sie zur Jagd auf Tiere und damit zur Sicherung der Ernährung wichtig war. Auch die hedonistischen Komponenten kollektiver Aggression, die bei Gangs und Hooligans anzutreffen sind, sind als Relikt aus der Urzeit der Menschheit anzusehen, da angriffslustige Gruppen wohl eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hatten als ihre Opfer und damit die genetische Disposition für ihre Mentalität erfolgreicher weitergeben konnten. Hedonistische Gewalt aktiviert das Belohnungssystem des Gehirns, dessen Zentrum der an der Hirnbasis gelegene Nucleus accumbens ist (vgl. Abb. 3 und Abb. 7). In Tierexperimenten konnte nachgewiesen werden, dass appetitive Aggression mit einer Aktivierung des neuronalen Botenstoffs Dopamin im Nucleus accumbens einhergeht (Couppis/Kennedy 2008), zudem mit einer Aktivierung seitlicher Zellgruppen im Hypothalamus und im Mandelkern. Eine erhöhte Aktivität von Dopamin produzierenden Zellen, die zum Belohnungssystem gehören, wurde auch bei Personen gefunden, denen gewalthaltige Videos gezeigt wurden; je stärker die emotionalen Defizite, desto höher war die Dopaminproduktion (Porges/Decety 2013). Straftäter, die wegen appetitiver/proaktiver Gewalttaten verurteilt wurden, weisen zudem funktionelle Defizite in dem Bereich des Stirnhirns auf, der für die Hemmung von Gewaltakten zuständig ist (Anderson/Kiehl 2013). Bei Kampfsportlern korreliert das Ausmaß der Aggressivität mit reduziertem
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Hirngewebe im vorderen Temporallappen, der eng mit dem Mandelkern verbunden ist und über diesen aggressives Verhalten kontrolliert (Breitschuh et al. 2018). Bedeutung und Ausmaß hedonistischer Gewalt wird auch durch das immense Ausmaß der Benutzung von Killerspielen durch männliche Jugendliche deutlich (Bushman 2016). Diese virtuellen Tötungshandlungen gehen insbesondere dann mit einem Gefühl der Befriedung einher, wenn möglichst viele Gegner eliminiert werden.
Abb. 7: Risikomodell für individuelle und kollektive Gewalt, in dem psychosoziale wie auch neurobiologische Faktoren unter der Vorstellung zusammengefasst werden, dass beide Ursachenkategorien letztlich auf kortikale und limbische Strukturen unseres Gehirns einwirken. Das Modell geht davon aus, dass einerseits entweder durch soziale oder hirnbiologische Faktoren (oder eine Kombination von beiden) neokortikale Funktionen so beeinflusst werden, dass es zu einer mangelhaften Hemmung von Zellgruppen im Mandelkern und dadurch zu dysphorisch
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gestimmten Gewalthandlungen kommen kann, andererseits durch eine Aktivierung belohnungsrelevanter Hirnareale (Nucleus accumbens) Gewalthandlungen mit hedonistischer Komponente entstehen können (Quelle: modifiziert nach Möller-Leimkühler/Bogerts 2013).
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Schlussbemerkung
Eine phylogenetisch herleitbare Anlage zur Anwendung individueller und kollektiver Gewalt ist als Erbe einer sich über lange Zeiträume erstreckenden Menschheitsentwicklung in uns allen vorhanden – als eine Art kollektives Unbewusstes –, ebenso wie die Anlage zu prosozialen Verhaltensweisen (Tomasello 2016). Die psychische Ausstattung eines Menschen wird jedoch nicht nur durch die aus der Stammesentwicklung resultierende genetische Anlage geprägt, sondern wird von biografischen, psychosozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Einflüssen maßgeblich mitgeformt. Letzteres wird offensichtlich, wenn man die Abnahme der Gewaltrate in der Neuzeit im Vergleich zum Mittelalter und der Antike sowie die um das Hundertfache schwankende Mordrate in einzelnen Weltregionen vor Augen hat. Gewalt ist nach den neueren psychosozialen Gewaltmodellen durch das Zusammentreffen ursächlicher Faktoren von drei verschiedenen Ebenen erklärbar: (1) die genetisch, biografisch und hirnbiologisch determinierte Persönlichkeitsanlage, (2) die Intensität der gewaltauslösenden aktuellen Umweltsituation und (3) gewalthemmende intrapsychische oder externe Gegebenheiten. Die wichtigsten hemmenden intrapsychischen Faktoren sind Empathie und Mitmenschlichkeit. Die Anlage zu Letzterem ist gleichermaßen ein Produkt sowohl der Phylogenese als auch der frühen Sozialisierung. Weniger offensichtlich als psychosoziale Bedingungsfaktoren sind die neurobiologischen Voraussetzungen, aufgrund derer Gewalthandlungen überhaupt erst möglich werden. Deshalb war die Darstellung der hirnanatomischen, der neurobiochemischen sowie der neuropathologischen und psychopathologischen Voraussetzungen zur Entstehung von Gewalt Schwerpunkt dieses Beitrages. Die Bedeutung hedonistischer Aspekte von Gewalt und deren hirnbiologischer Grundlagen wurden erst in den letzten Jahren vollumfänglich erkannt. Zur Erklärung des Phänomens Gewalt haben Hirnbiologie und Sozialwissenschaften wenigstens zwei gemeinsame Schnittstellen: Eine liegt auf der Ebene der Genexpression: Die Aktivität eines Gens kann in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen an- oder ausgeschaltet werden (vgl. Abschnitt 2.1). Die andere liegt auf der Ebene der Hirnplastizität, d. h. der Formbarkeit von Hirnstruktur und -funktion durch das psychosoziale Umfeld. Beides ist jedoch nur innerhalb der genetisch und neurobiologisch vorgegebenen Rahmenbedingungen möglich.
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Zuletzt stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten sich aus den neueren Erkenntnissen zum psychosozialen und hirnbiologischen Bedingungsgefüge von Gewalt für die Prävention ergeben. Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass Gene nicht schicksalhaft die körperliche und psychische Entwicklung eines Individuums bestimmen, sondern dass sie ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn ein hierzu geeignetes Umfeld vorliegt. Dieses kann durch soziale und präventive Maßnahmen gestaltet werden. Die neurobiologischen Zielorgane präventiver Maßnahmen innerhalb des Gehirns sind Kortex und limbisches System. Die archaischen Strukturen des phylogenetisch sehr alten Hirnstamms, in dem die neuronalen Generatoren sowohl für aggressives wie auch für prosoziales Verhalten liegen, werden vom Neokortex über limbische Strukturen kontrolliert. Mit der während der Phylogenese stattfindenden beeindruckenden Ausdehnung des Neokortex steht im menschlichen Gehirn eine riesige Speicherkapazität – für im Verlauf des Lebens Erlerntes zur Integration und Assoziation mit aktueller Erfahrung – zur Verfügung. Die enorme Plastizität unseres Gehirns, insbesondere die des phylogenetisch jüngsten Teils, des Neokortex, ist die hirnbiologische Grundlage dafür, dass Erziehung, Bildung und Kultur unser Verhalten nachhaltig prägen und verändern können. Die neuronale Plastizität, die in Kindheit und Jugendzeit die stärkste und nachhaltigste Beeinflussbarkeit aufweist, ist auch Grundlage der Wirksamkeit präventiver und psychotherapeutischer Maßnahmen. Die kognitive und emotionale Prägung eines Menschen findet – neurowissenschaftlich gesehen – hauptsächlich in der Hirnrinde und den limbischen Strukturen statt. Diese wiederum aktivieren oder hemmen die neuronalen Generatoren von Aggression und Gewalt, aber auch die stammesgeschichtlich ebenso alten neuronalen Netzwerke (einschließlich hypothalamischer Oxytocin-haltiger Zellgruppen), die die biologische Grundlage für mitmenschliches Verhalten sind. Aufgrund der plastischen Formbarkeit und der immensen Speicherkapazität des Kortex lassen sich die drei wichtigsten Postulate zur Prävention gewalttätigen Verhaltens formulieren. Diese heißen: Bildung, Bildung und nochmals Bildung, im Sinne der Vermittlung prosozialer Einstellungen. Die erhöhte Gewaltposition bei einigen psychischen Störungen kann durch rechtzeitige Diagnostik und therapeutische Intervention gemindert werden.
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Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus Joachim Heinrich Demling1
Keywords: Religiosität, gesunde Religiosität, religiöser Wahn, Fanatismus, Religionspsychopathologie
Abstract Die fortschreitende, auch religiöse Globalisierung mit einem Zusammenrücken und nicht immer friedlichen Aufeinandertreffen von Glaubenssystemen macht es notwendig, sich mit den verschiedenen Spielarten religiösen Erlebens verstärkt zu befassen und auseinanderzusetzen. Im vorliegenden Aufsatz wird versucht, ausgehend von Merkmalen einer „gesunden“ Religiosität, verschiedene „abweichende“ Formen unter psychopathologisch-psychiatrischen Gesichtspunkten zu kategorisieren und gegeneinander abzugrenzen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem sogenannten religiösen Wahn und, nicht zuletzt im Hinblick auf die aktuelle Diskussion um islamistisch motivierte Gewalttaten, dem religiösen Fanatismus. Mit dem Beitrag soll zudem das Forschungsgebiet der Religionspsychopathologie, das auch in Deutschland von der – zumeist älteren – Psychiatrie immer wieder aufgegriffen wurde, neu belebt werden.
1
Joachim Heinrich Demling | Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik | Universität Erlangen-Nürnberg | [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_2
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Joachim Heinrich Demling
Inhalt 1 Einführung...................................................................................................29 2 Was ist Religiosität? Was ist Spiritualität? ..................................................29 3 Was ist „gesunde Religiosität“? ...................................................................30 4 „Abweichende“ Religiosität ........................................................................32 5 Was ist Wahn? Was ist religiöser Wahn? .....................................................34 6 Was unterscheidet die „gesunde“ Religiosität vom religiösen Wahn? .........35 7 Religiosität und Gewaltkriminalität.............................................................38 8 Schlussbemerkungen ...................................................................................39 Literatur ............................................................................................................40
Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
1
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Einführung
Das folgende Kapitel ist aus psychopathologisch-psychiatrischer Perspektive heraus verfasst, Begriffe und Abgrenzungsvorschläge fußen auf klassisch psychopathologischem Verständnis, der Arbeitsgrundlage des Autors (Psychiater mit „theologischen Interessen“) seit über mehr als vier Jahrzehnten. Ein Teilgebiet der allgemeinen Psychopathologie – der Lehre von den anormalen, abnormen und krankhaften Seelenzuständen – ist die Religionspsychopathologie, die sich mit religionsbezogenen Erscheinungsbildern beschäftigt. Zweck der vorliegenden Ausführungen ist es, Formen von Religiosität, die als „abweichend“ einzustufen sind und größtenteils (oft als „dysfunktional“ bezeichnet) seelisches Leid verursachen, einerseits gegeneinander, andererseits von „gesundem“ Glaubensleben abzugrenzen. Dass Glaubenszweifel, die auch gesunder Religiosität eigen sind, ebenfalls Leid verursachen können, sei bereits hier angemerkt. Der Beitrag soll der Klärung und Gegenüberstellung psycho(patho)logisch relevanter Begriffe dienen, die in der Diskussion über abweichende Formen von Religiosität eine Rolle spielen, aber in den Medien wie auch im wissenschaftlichen Diskurs oft unscharf gebraucht werden. Den kulturspezifischen Referenzrahmen bilden dabei die monotheistischen, vornehmlich die christlich-jüdischen Glaubensformen.
2
Was ist Religiosität? Was ist Spiritualität?
Kurz gefasst beinhaltet Religiosität:
den Glauben an die Aussagen einer religiösen Lehre (Glaubenssystem, „Religion“), die eine transzendente Wirklichkeit als Gegenüber zum irdischen Diesseits beschreibt, oft im Sinn einer der etablierten Religionen, aber nicht darauf beschränkt,
das gefühlte Vertrauen in die Wahrheit und Verbindlichkeit dieser Lehre und
das hieraus sich ergebende (ethisch-moralische, rituelle u. a.) menschliche Verhalten.
Der Religiosität verwandt ist die „Spiritualität“ (Bucher 2007; Demling 2017; Utsch 2016). Zwischen beiden Begriffen gibt es eine große Schnittmenge, aber auch Differenzen. Die nachfolgende Tabelle stellt die Unterschiede einander gegenüber.
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Joachim Heinrich Demling (monotheistische) Religionen
Spiritualität
haben Gründergestalten, Führer, Lehrer
hat allenfalls Vorbilder (Mystiker, „Heilige“)
haben heilige Schriften (Bibel, Koran)
hat keine „heiligen Schriften“
werden gelehrt
entspringt dem Urtrieb des Menschen nach Transzendenz, Einheit, Geborgenheit
fordern Glauben wie z. B. an einen persönlichen Gott (ein „Gegenüber“), Wiedergeburt, Auferstehung u. a.
keine Glaubensforderungen, sondern Streben nach Transzendenz durch Meditation und eigene Erfahrung
haben Gebote, Verbote („Sünde“)
keine Gebote und Verbote
bilden geschlossene Gemeinschaften, haben Traditionen, Identifikation mit Glaubenslehren
Gemeinschaften sind möglich, aber keine Tradition oder Identifikation mit Glaubenslehren
Tab. 1:
(Monotheistische) Religionen versus Spiritualität
Die Spiritualität kann, wie die verschiedenen Formen der Mystik („Herz und Ziel der Spiritualität“, Bucher 2007, S. 38), aus einer etablierten Religion erwachsen, ist aber nicht wie diese kanonisiert, sondern individuell und vielfältig. Vorstellungen von Sünde oder Buße sind nach allgemeinem Verständnis für Spiritualität weniger relevant als etwa für die etablierte christliche Heilslehre. Wie der religiöse folgt auch der spirituell ausgerichtete Mensch seinem Urtrieb nach Transzendenz und Geborgenheit – dies ist der allgemeine Bezugsrahmen von Spiritualität –, er ist aber „von innen“ und nicht typischerweise auch „von außen“ (durch Heilige Schriften und Traditionen) geleitet. Menschenliebe und Naturverbundenheit sind der Religiosität und der Spiritualität gemeinsam. Religionen haben Gründergestalten, Führer und Lehrer, für den spirituellen Menschen kann es Vorbilder, vielleicht sogar „Heilige“ geben. Nach Peterson und Nelson (1987) baut eine „gesunde“ Spiritualität Brücken zwischen den Menschen, stärkt die Verbundenheit mit dem Universum ebenso wie die mit dem sozialen Umfeld, intensiviert das Selbstwertgefühl, die Verantwortlichkeit und die Lebensfreude. Sie kann damit ebenso wie eine traditionell verwurzelte Religion, die eine geistige Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Wort ermöglicht und sozial integrierend wirkt, dem suchenden Menschen zu „gesunder“ Orientierung verhelfen.
3
Was ist „gesunde Religiosität“?
Religiosität ist ein seelisches Phänomen, gesunde Religiosität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Letztere hat überwiegend positive Auswirkungen, so etwa:
weltanschauliche Orientierung, „Kontingenzbewältigung“
Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
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Sinngebung, Halt und Geborgenheit in seelischen Krisensituationen
die Zugehörigkeit zu einer sozial verbindenden Tradition (konfessionell, auch spirituell)
Nächstenliebe (aktiv und passiv), Liebe zur Natur und zu Mitgeschöpfen
Freiheit von – oder wenigstens Distanz zu – materialistisch geprägtem Wertesystem
Interesse an und Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und damit
die Bereitschaft, geistige Herausforderungen (z. B. durch Atheismus) anzunehmen.
Andererseits ist der Religiosität immanent, dass sie selbst zum Problemfeld werden kann. Im Kontext der monotheistischen Religionen wie des Christentums sind etwa zu nennen:
„Glaubenszweifel“, „Gottesfurcht“; z. B.: Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden (Markus, Kap. 16, Vers 16).
Zweifel an der eigenen religiösen „Kompetenz“: Werde ich den göttlichen Weisungen gerecht? Etwa den Geboten Jesu in der Bergpredigt (Matthäus, Kap. 5–7), speziell in den „Antithesen“ („Ich aber sage euch […]“) über den Zorn gegen andere, über Feindesliebe, Ehebruch (Versuchung) u. a.? Ist es zudem meine Aufgabe, auch andere für die Religion meines Gottes zu gewinnen, ja sie zu bekehren („gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker […]“, Matthäus, Kap. 28, Vers 19–20)?
sorgenvolle und grüblerische Gedanken über meine Existenz nach dem Tode: Auf welcher Seite werde ich beim „Jüngsten Gericht“ stehen (Matthäus, Kap. 25, Vers 31–46)? Werde ich vor Gott gerecht erscheinen, seiner Gnade für wert erachtet werden?
Die gesunde Religiosität ist, so betrachtet, eine „janusköpfige“ Erscheinung. Die Religionspsychologie beschäftigt sich mit psychologischen Fragen zur Religiosität, auch mit ihren leidvollen Seiten. 2 Letztere stehen im Fokus der Religionspsychopathologie, einem Teilgebiet der allgemeinen Psychopathologie als einem Grundlagenfach der Psychiatrie und Psychotherapie (Demling 2019).
2
Vgl. hierzu den Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Religionspsychologie #cite_ref-2 [zuletzt aufgerufen am 15.07.2020].
32
Joachim Heinrich Demling
4
„Abweichende“ Religiosität
Unter „gesunder“ Religiosität werden in der vorliegenden Übersicht religiöse Glaubensinhalte und Ausdrucksformen verstanden, die in einer etablierten, etwa einer konfessionellen, religiösen Gemeinschaft allgemein akzeptiert sind, aber auch Formen nicht religions- oder konfessionsgebundener Spiritualität, die individuell förderlich und sozial verträglich sind. Formen von Religiosität, die hiervon abweichen, können dem entsprechend mit einem zunächst neutralen Begriff als „abweichende“ oder anormale Religiosität zusammengefasst werden (Entsprechendes gibt es auch im spirituellen Bereich, worauf hier nicht eingegangen werden soll). Im Folgenden wird versucht, diese Formen unter psycho(patholo)gisch-psychiatrischen Gesichtspunkten zu charakterisieren. 4.1
Abnorme Religiosität
„Gesunde“ Religiosität und „gesunde“ Spiritualität dürfen einen durchaus breiten Spielraum an individuellen Ausdrucksformen beanspruchen. Dagegen bedeutet „abnorm“ in unserem Zusammenhang „außerhalb des Normalen“ im Sinne des Übersteigerten, Überspitzten, also quantitativ Veränderten, ohne dass eine psychotische Erkrankung – mit zusätzlichen typischen Symptomen – vorliegt. Zu zählen wären hierzu:
religiöse „emotional überwertete Vorstellungen“ (nach Tölle 2008 a; in der allgemeinen Psychopathologie auch als „überwertige Ideen“ bezeichnet) mit Missionseifer (extravertiert), evtl. mit Ausübung esoterischer Praktiken und ggf. Sektenbildung,
ekstatische Entäußerungen (siehe auch unten: „außergewöhnliche“ Religiosität),
religiöser Fundamentalismus, d. h. eine Geisteshaltung, die sich durch kompromissloses und buchstabengetreues Festhalten an religiösen Grundsätzen kennzeichnet und dessen praktische Auswirkungen in religiösen Fanatismus einmünden können (Schneider 1928, S. 12 f.; Hole 1995, S. 108, 156; Meier 2008). Letzterer ist – je nach Ausprägung und psychopathologischem Kontext – „abnormer“ oder „pathologischer“ (siehe unten) Religiosität zuzuordnen, die Grenzen sind, ähnlich wie bei Glaubenskrisen, fließend; im Gegensatz hierzu:
introvertiertes Frömmlertum: „stille, heimliche, wirklichkeitsabgekehrte, rein fantastische Fanatiker, die wir ‚matte Fanatiker‘ nennen wollen“ (Schneider 1928: 12), „verschrobene […] Fanatiker weniger oder gar nicht kämpferischer Art, wie manche Sektierer“ (Schneider 1976, S. 25).
Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
4.2
33
Außergewöhnliche Religiosität (außergewöhnliche religiöse Phänomene)
Unter „außergewöhnlicher“ Religiosität, besser: „außergewöhnlichen religiösen Phänomenen“ oder „außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen“, lassen sich nichtpsychotische religiöse Erlebnis-, Erscheinungs- und Verhaltensformen von sehr ausgefallener bis zu aufsehenerregender Art zusammenfassen, die der Religiosität spirituell besonders „begabter“ Menschen entspringen (nach Henning/van Belzen 2007). Hierher zu rechnen sind:
subjektive außersinnliche Wahrnehmungen (Visionen, Auditionen, andere Sinneswahrnehmungen; Niemann/Wagner 2005). Soweit religiöse Sinneswahrnehmungen im Rahmen von Psychosen (mit entsprechender zusätzlicher Symptomatik) auftreten, sind sie allerdings der „pathologischen“ Religiosität (siehe unten) zuzuordnen.
objektiv wahrnehmbare Erscheinungen wie Stigmatisierung (z. B. Padre Pio, Therese von Konnersreuth u. v. a.; Overbeck/Niemann 2012) oder Glossolalie (Zungenreden, z. B. Pfingstwunder in Apostelgeschichte Kap. 2, Vers 1–12; Mills 1986),
ekstatische Phänomene, die hier, im Gegensatz zu Formen abnormer Religiosität (vgl. oben; willentlich herbeigeführt), aus innerem – „göttlichem“ – Drang heraus entstehen (Scharfetter 2008).
Außergewöhnliche religiöse Phänomene dürften zumeist Wohlgefühl, können aber auch Leid (z. B. satanische „Einflüsse“) bewirken, und sie gehören zunächst in den Zuständigkeitsbereich der Theologie. Religionspsychologen und Religionspsychopathologen (Psychiater) versuchen, natürliche Erklärungen zu finden (Niemann/Wagner 2005). In den aktuellen psychiatrischen Klassifikationssystemen werden Phänomene dieser Art den „dissoziativen Symptomen“ zugerechnet, so in der ICD-10, Kapitel V, der Weltgesundheitsorganisation WHO den Tranceund Besessenheitszuständen (F44.3), im DSM V der American Psychiatric Association (APA) der Dissoziativen Identitätsstörung (F44.81). 4.3
Pathologische Religiosität
„Pathologisch“ (krankhaft oder krankheitswertig, also qualitativ verändert) bezieht sich auf psychotische (seelisch, auch hirnorganisch krankhafte), aber auch hochgradig neurotische Erscheinungsformen und ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen (Demling 2017). Zu nennen sind:
religiöser Wahn (Tölle 2008 b; Demling 2016) als Verfolgungs- oder Größenwahn bei schizophrenen, schizoaffektiven und manischen Psychosen,
34
Joachim Heinrich Demling
Schuldwahn und Leiden unter dem „Nicht-mehr-glauben-Können“ bei psychotischen Depressionen als „pathologische Glaubenskrise“. In extremen Fällen kann es zu Selbstverletzungen im Sinne von Selbstbestrafungen oder – wenn vorhanden – unter halluzinatorischen Einflüssen kommen.
angstbestimmte, die Lebensvollzüge mehr oder weniger massiv beeinträchtigende Vorstellungen von einem strafenden oder rächenden Gott (religiöse oder sogenannte ekklesiogene Neurosen [Hark 1984], „Gottesvergiftung“ nach Moser 1976), ähnlich auch Zwangserkrankungen im religiösen Kontext („Skrupel-Syndrom“, Sonnenmoser 2013), weiterhin schwerste Glaubenskrisen, und
Besessenheitsphänomene, die in modernen Klassifikationssystemen (vgl. oben) den dissoziativen Störungen zugerechnet werden, als – von der älteren Psychiatrie so bezeichnete – neurotische Fehlentwicklungen (früher: „Hysterie“; Demling/Thierauf 2010),
schwerer „expansiver“ religiöser Fanatismus (Schneider 1928, S. 12; auch: religiöse „Ideenfanatiker“), zumeist bei akzentuierten bzw. gestörten Persönlichkeiten,
hirnorganische Erkrankungen, z. B. spezielle Sinneswahrnehmungen als „religiöse Auren“ bei Epilepsie (hierzu Übersicht bei Devinsky/Lai 2008) und religiöse Wahnphänomene bei demenziellen Abbauprozessen.
Zwischen „abnormer“ und nichtpsychotischer „pathologischer“ Religiosität kann es in der klinischen Praxis Überschneidungen geben. Pathologische Religiosität wirkt stets pathogen, „Leid (griech. pathos) erzeugend“ beim Betroffenen selbst oder/und im sozialen Umfeld.
5
Was ist Wahn? Was ist religiöser Wahn?
Der Begriff „Wahn“ hat umgangssprachlich die Bedeutung „Irrglaube“, „Einbildung“, „Selbsttäuschung“, auch „falsche Vorstellung“. Die psychopathologischen Wahnkriterien, wie sie etwa von Karl Jaspers (1973) und Kurt Schneider (1976, S. 106 ff.) formuliert wurden, sind:
die mit der „normalen“, d. h. für Diskussion grundsätzlich offenen Überzeugung nicht zu vergleichende subjektive Gewissheit,
die Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und durch zwingende Schlüsse,
Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
35
die abnorme Bedeutung, meist in Richtung der Eigenbeziehung, ohne verstandesmäßig (rational) oder gefühlsmäßig (emotional) verständlichen Anlass, sowie
die Unmöglichkeit des Inhalts.
Wird in psychiatrischem Verständnis von „Wahn“ gesprochen, sind diese Kriterien erfüllt. Ein religiöser Wahn ist ein Wahn mit religiöser Thematik, unabhängig von der zugrunde liegenden diagnostischen Zuordnung. Er kann bei allen seelischen Störungen mit potenziell wahnhafter Symptomatik vorkommen (Schizophrenie, affektive Störungen wie Depression oder Manie, hirnorganische Erkrankungen, Abhängigkeits- und Persönlichkeitsstörungen). Hervorzuheben ist, dass der Inhalt des Wahns innerhalb der soziokulturellen Gruppe der/des Betreffenden von niemandem geteilt (symbiontischer, „geteilter“ Wahn als sehr seltene Ausnahme), sondern als falsch beurteilt wird (Peters 2011, S. 600).
6
Was unterscheidet die „gesunde“ Religiosität vom religiösen Wahn?
Aus den vorstehenden Ausführungen ergeben sich wesentliche Unterschiede zwischen religiösem Wahn und religiösem Glauben (Demling 2016, 2017). Eine Gegenüberstellung zeigt die nachfolgende Tabelle:
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Joachim Heinrich Demling Kriterium
„gesunde“ Religiosität
religiöser (bes. schizophrener) Wahn
Inhalt
von der kulturellen Mehrheit (offiziell) geteilt, „Wir“-Bezug
singulär (in der Regel), pathologischer „Ich“-Bezug
Bedeutung
Glaube hat Bedeutung für alle Menschen
Wahninhalt ist fast immer auf die eigene Person beschränkt
Glaubenszweifel und „-vernunft“
Glaube ist erschütterbar („Religion ist Glaube, Wahn ist Wissen“), lässt Diskussion z. B. über „Vernunftgründe“ (grundsätzlich) zu
ist unkorrigierbar („pathologische Gewissheit“), lässt keine kompromissbereite Diskussion zu
Vertrauen
Gottvertrauen, „Urvertrauen“, „Urgewissheit“
Vertrauensverlust
Wirkung auf die Persönlichkeit
lebendig, frei, gelassen
erstarrt, gebunden, angespannt, gestresst
Symptome einer seelischen Störung
nicht vorhanden
weitere klinische Symptome nachweisbar
Verhältnis von Inhalten zu äußerem Verhalten
konsistent
kann inkonsistent sein (z. B. „ich bin Gott“, geht aber einem bürgerlichen Beruf nach)
soziale Einbettung
kommunikations- und gemeinschaftsfördernd (mitmenschlich, evtl. karitativ), Glaube will sich „mitteilen“
ichbezogen (misstrauisch, feindselig), isolierend („privativ“), Wahn will sich nicht „teilen“
Wirkung auf das religiöse Sozialverhalten
funktional, der Situation angepasst
oft bizarr, desorganisiert
Tradition
traditionsgebunden
keine Tradition
Tab. 2:
Kriterien „gesunder“ Religiosität versus Kriterien des (religiösen) Wahns
Grundsätzlich gemeinsam ist „gesundem“ (christlichen) Glauben und religiösem Wahn jedoch die Überzeugung von etwas
unwahrscheinlich oder unmöglich Erscheinendem,
nicht Sichtbarem oder/und Beweisbarem,
für den Einzelnen essenziell bzw. beherrschend Bedeutsamem.
Wesentliche Unterscheidungsmerkmale Gesunder Glaube lässt Diskussionen etwa über Vernunftgründe grundsätzlich zu und ist erschütterbar. Wahn ist nicht korrigierbar durch Argumente („zwingende
Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
37
Schlüsse“) und gegenteilige Erfahrung, er ist „pathologische Gewissheit“. Religion ist Glaube, Wahn ist „Wissen“. Das Alte wie das Neue Testament berichten bekanntermaßen von zahlreichen „inhaltlich unmöglichen“ Ereignissen, die christliche Religion beruht sogar verbindlich auf dem Glauben an die leibliche Auferstehung Jesu von den Toten „am dritten Tage“ („Ist Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“, 1. Korinther, Kap. 15, Vers 14). Wie weit dieser Glaube unter getauften Christen verbreitet ist, sei dahingestellt – er entspricht jedenfalls nicht „psychiatrischem“ Wahn nach den angegebenen Kriterien und ist auch nicht auf einzelne Individuen begrenzt, sondern wird von einer sehr großen Vielzahl von Menschen geteilt. Kaiser (2012: 50) schreibt hierzu (Hervorhebungen vom Verf.): „Aus diesem Grunde wird beim religiösen Glauben nicht die Unmöglichkeit des Urteils [oder Inhalts, Anm. d. Verf.] zum Kriterium der Grenzziehung zwischen pathologisch und (noch) normal gemacht, sondern stärker auf den soziokulturellen Hintergrund Bezug genommen. Nur bei massiven Abweichungen von allgemein akzeptierten Glaubensinhalten und sozialer Desintegration wird religiösen Überzeugungen Wahncharakter zugesprochen.“
Dem gegenüber ist „ein Glaube, dessen einziges Kriterium die subjektive Gewissheit ist, […] psychologisch von der überwertigen Idee und auch vom Wahn grundsätzlich nicht zu unterscheiden“ (Schneider 1928: 59). Religiöser Glaube hat zwar für den Glaubenden selbst existenzielle Bedeutung, doch bezieht sich diese nicht ausschließlich auf ihn (oder wie beim – sehr seltenen – geteilten oder „induzierten“ Wahn auf eine oder wenige andere Personen), sondern auf die ganze Menschheit, es fehlt also der exklusive Eigenbezug. Zwar können – in ebenfalls sehr seltenen, zumeist spektakulären Fällen – religiöse Gruppierungen Phänomene aufweisen, die als klinisch „wahnhaft“ imponieren (Kapfhammer 2008), doch ist hier die Abgrenzung zum kollektiven „religiösen Fanatismus“ (siehe unten) zu diskutieren. Der „Anlass“ für den Eigenbezug resultiert für den im christlich-jüdischen Sinne religiösen Menschen aus dem Glauben, dass er – wie alle Menschen – nicht zufälliges Produkt der Evolution ist, sondern von Gott als Individuum absichtsvoll erschaffen wurde. Wenngleich auch dem gläubigen Menschen diese zugrunde liegende „Absicht“ verborgen bleibt, kann er sich ihr durch zunehmende Selbsterkenntnis und tätige Suche nach dem individuellen Lebenssinn doch annähern. Diese Sichtweise mag dem Atheisten in der Tat abnorm und nicht verstandesmäßig, sondern allenfalls empathisch nachvollziehbar erscheinen.
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Joachim Heinrich Demling
Religiosität und Gewaltkriminalität
Psychotisch wahnhaft gesteuerte Fremdaggressivität entspringt, soweit sie vorkommt, zumeist einem Gefühl der Bedrohung von außen, etwa beim schizophrenen Verfolgungswahn, bei Drogenabhängigkeit oder beim sensitiven Beziehungswahn. Bekannt gewordene Beispiele aus Deutschland sind etwa die Attentate psychisch Kranker auf die Politiker Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble im Jahr 1990. Religiös motivierte Gewalttaten erwachsen jedoch in aller Regel nicht aus (im psychiatrischen Sinne) wahnhaften Überzeugungen, sondern aus einem fundamentalistischen Gottesverständnis, gepaart mit der (Bereitschaft zur) fanatischen Verfolgung religiöser Ziele. Die zugrunde liegende Religiosität ist nicht Ausdruck einer seelischen Krankheit bzw. eines krankheitswertigen Zustandes („pathologische“ Religiosität, siehe oben), sondern einer abnormen Zuspitzung bis zur Pervertierung mit dissozialem, im Extremfall hochkriminellem Verhalten. Psychopathologisch handelt es sich bei den Führergestalten um fanatische Persönlichkeiten, die „von überwertigen persönlichen oder ideenhaften Gedankenkomplexen beherrscht (werden), und zwar ist der eigentliche Fanatiker eine ausgesprochen aktive expansive Persönlichkeit.“ (Schneider 1976, S. 25). Besonders anfällig für religiösen (wie auch politischen) Extremismus ist „eine autoritätsaffine paranoide Persönlichkeit mit vermindertem Selbstwertgefühl und einer Neigung zur Polarisierung und Externalisierung“ (Bühring 2016, S. 27), was speziell auf die orientierungslosen, von Leitfiguren zu extremistischen Ideen und Handlungen verführten Gefolgsleute zutreffen dürfte (Dambeck et al. 2015). Der religiöse Fanatismus ist – im Gegensatz zum Wahn – in der Regel ein „Gruppenphänomen, in dem sich idealistische Ideen, Begeisterungsfähigkeit, absolute Hingabe mit Intoleranz und Aggression wirkungsvoll ergänzen“ (Utsch 2017). Individuelle und soziale (milieubedingte), politische und religiöse Mechanismen führen zu überwertigen Ideen, die durch Reduktionismus, Simplifizierung und Polarisierung gekennzeichnet sind. Eine forensisch-psychiatrische Untersuchung an 29 islamistisch-terroristischen Straftätern ergab allerdings, dass „immerhin 3 […] an einer schizophrenen Psychose erkrankt gewesen (waren), wobei es aber […] schwierig war, den psychopathologischen Zustand zum Zeitpunkt des Tatvorwurfs genauer zu eruieren“ (Leygraf 2014). In der nachfolgenden Tabelle wird versucht, die unterschiedlichen Merkmale von religiösem Wahn und religiösem Fanatismus einander gegenüberzustellen:
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Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus Kriterium
religiöser Wahn
religiöser Fanatismus
Diagnose
meist Psychose, seltener abnorme Persönlichkeitsstruktur oder paranoide Entwicklung
i. d. R. Persönlichkeitsakzentuierung oder -störung (mit Auswirkung im sozialen und religiösen Kontext)
personenbezogen
Einzelperson, geteilt äußerst selten
oft Gruppenphänomen
allgemeines Verhalten
eher zurückgezogen, nicht selten unauffällig
expansiv, drohend, polemisch, kämpferisch
Missionseifer
selten
ausgeprägt
Fremdaggressivität
spontan selten, evtl. gereizt bei Widerspruch
Kontinuum zwischen streitbar belehrend und aggressiv bis zur Gewalttätigkeit gegenüber „Ungläubigen“
Autoaggressivität
religiös motiviertes selbstschädigendes Verhalten (sehr selten)
kann – auch tödliche – Gegenwehr bei fremdaggressivem Verhalten bewusst riskieren und provozieren („Märtyrer“)
Tab. 3:
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Religiöser Wahn versus religiöser Fanatismus
Schlussbemerkungen
Religionen sind fast so alt wie die Menschheitsgeschichte – der Mensch ist ein „homo religiosus“. „Gesunde“ Religiosität hat überwiegend positive und angenehme Effekte, sie bietet – evolutionsbiologisch gesehen – einen Überlebensvorteil (Blume 2012). Religion hat auch Schattenseiten, die psychiatrisch relevant sind: Praktisch alle Arten von psychischen Störungen können eine religiöse Färbung tragen. Religiöser Wahn und religiöser Glaube haben Schnittmengen, unterscheiden sich aber in vielerlei Hinsicht. Religiöser Glaube ist kein „Wahn“ im psychopathologischen Sinne, anders als Sigmund Freud es darstellte. 3 Religiöser Fanatismus beruht auf „Gewissheit“, wodurch er wahnhafte Züge bekommt und (nicht nur dadurch) sich von gesunder Religiosität grundlegend unterscheidet.
3
„Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glückversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“ (Freud 1930, S. 33).
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Joachim Heinrich Demling
Ein positives Selbstwertgefühl kann vor religiösem Fanatismus schützen. Das „Kohärenzgefühl“ ist ein zentraler Aspekt der Salutogenese Aaron Antonovskys (1923–1994). „Zum Kohärenzgefühl gehören die Möglichkeit, inneren und äußeren Ereignissen Sinn und Bedeutung zu verleihen (Gefühl der Bedeutsamkeit [und Sinnhaftigkeit, Anm. d. Verf.]), das Vertrauen, aus eigener Kraft seine Lebensaufgaben meistern zu können (Gefühl der Handhabbarkeit) sowie die Fähigkeit, das Dasein allgemein als strukturiert und relativ vorhersehbar wahrzunehmen (Gefühl der Verstehbarkeit) […]. Zu den wichtigsten Ressourcen zählt dabei die Unsicherheitstoleranz, die es ermöglicht, in wenig planbaren und verstehbaren Situationen Spannungen auszuhalten und dabei lösungsorientiert sowie optimistisch vorzugehen.“ (Utsch 2017)
Und der Verfasser – Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin – fügt hinzu: „Der christliche Glaube kann zu einem wichtigen Schutzfaktor werden, denn er meint die persönliche Gottesbeziehung eines Menschen, dessen Selbstwert darin gründet, ein geliebtes Ebenbild des Schöpfers zu sein“ (Utsch 2017).
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Gesunde Religiosität, religiöser Wahn und Fanatismus
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Religiöse Legitimierung von Menschenfeindlichkeit Martin Hagenmaier 1
Keywords: Islamismus, Religion, Märtyrer, Terror, Interpretation religiöser Schriften, Selbstmordattentat, theologischer Diskurs
Abstract Der Beitrag beschreibt religiöse Denkfiguren zur Legitimierung von Menschenfeindlichkeit. Dazu beschäftigt er sich mit der „Imitatio Dei“ und der Frage, ob Religion per se menschenfeindlich sein könnte. Interpretationsformen von Religion werden ebenso bedacht wie eine theologische Grundlegung islamistischen Denkens. Dass „Religion“ nicht von ihren „legitimen Vertretern“ vorgeschrieben werden kann, erläutert der Text an zwei konkreten Beispielen aus dem Alltag. Die Gewalt gegen Ungläubige und das Selbstmordattentat wurden nicht erst im Islam erfunden, sondern sind bereits im Alten Testament beschrieben. Das Alte Testament beschreibt ebenso im Detail den (politischen) Terrorismus als Befreiungsvorbereitung. Bei deren Rezeption spielt dann aber die Interpretation die entscheidende Rolle. Das Alte Testament und der Koran können terroristisch interpretiert werden, das Neue Testament mit etwas Mühe bei der Auslegung der „Offenbarung“ wohl auch. Allerdings widersprechen das Tötungsverbot, die Ausrichtung auf Barmherzigkeit, Nächsten- und sogar Feindesliebe dieser Auslegung vehement. Der Vortragsstil wurde beibehalten und hat eine aphoristisch-assoziative Herangehensweise zur Folge.
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Martin Hagenmaier | Mediator in Strafsachen | [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_3
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Martin Hagenmaier
Inhalt 1 Einführung...................................................................................................45 2 Religion ist Terror........................................................................................45 3 Religion ist grundsätzlich menschenfreundlich? .........................................48 4 Erzählung eines Konvertiten .......................................................................49 5 Plötzliche Radikalisierung ...........................................................................50 6 Ein theologischer Diskurs im Islam.............................................................51 7 Die Befreiung des Menschen – theologische Grundlegung.........................53 8 Gilt das Tötungsverbot? ..............................................................................55 9 Religiöse und nichtreligiöse Vorstellungen bei der Gestaltung und Förderung des Dschihad ..............................................................................56 10 Mystik der Gewalt .......................................................................................60 11 Apokalyptik .................................................................................................61 12 Das Heil der Welt ........................................................................................63 13 Wahn oder Glaube? .....................................................................................64 Literatur ............................................................................................................66
Religiöse Legitimierung von Menschenfeindlichkeit
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Einführung
Dass Religion eine wichtige Rolle im Leben spielt, kann man in unserem heutigen Leben nicht bemerken. Uns scheint es eher lästig, dass durch das Thema Islam ein großer Wirbel entsteht. Religion ist dadurch Thema von Weltpolitik und Wahlkämpfen. Da erstaunt die Einschätzung eines französischen Autors: „Langsam, aber unwiderstehlich entgleitet die Welt dem Zugriff des Religiösen. Die Religionen gehören zu den vom Aussterben bedrohten Arten. […] Die Krise ist überall, und überall beschleunigt sie sich, wenn auch in unterschiedlichen Rhythmen.“ (Girard 2008, S. 8)
Sehen wir also im „Schreckgespenst des Fundamentalismus“ nur „verzweifelte Reaktionen auf die überall zunehmende religiöse Gleichgültigkeit“ (ebd.)?
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Religion ist Terror
Was Religion ist, scheint jedermann klar. Ist es aber nicht. Wir sehen durch die europäische Säkularisierung Religion als einen privaten Glauben des Individuums. Den darf sie oder er ausüben, solange sie oder er damit nicht Freiheiten von anderen berührt oder die staatliche Ordnung untergräbt. Damit stehen wir Europäer auf der Welt ziemlich einsam da. Andere verstehen darunter die Legitimation bestimmter Lebensweisen oder gar die Begründung von Herrschaft. Religion gehört dann zur Machtstruktur. Eine andere Religion untergräbt in diesem Fall die staatliche Ordnung. Ein evangelischer Theologe sah nach dem 11.09.2001 beide Seiten zusammen. „Religion ist nicht länger ‚Privatsache‘, Religion ist Terror oder Glaube“ (Moltmann 2001, S. 43). Religion kann zum Terror ausarten, wenn man sie als Legitimationskonstrukt versteht und nutzt. Wer einfach nur glaubt und menschlich handelt, der fällt kaum auf. Wer jedoch seine Überzeugungen durchsetzen will, stößt zumindest auf Widerspruch. Wer es mit Gewalt will, wird zum Terror greifen müssen, wenn er herrschenden Überzeugungen widerspricht. In Europa wird durch die politische Forderung nach unbegrenztem Moscheebau z. B. sichtbar, wie politisch die freie Religionsausübung in Wirklichkeit zu verstehen ist. Als Grundrecht gehört sie zu den Vereinbarungen zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen. In der europäischen Islamdebatte kommt immer ein politischer Bezug zum Vorschein. Die freie Religionsausübung ist ein hochpolitischer Vorgang und so keineswegs eine Privatsache.
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Religion konstruiert stets ein Weltbild. Es kommt zum Tragen, dass sie immer von Gott und der Welt handelt, nicht von Nationalstaaten und ihrem Horizont. Der Mensch allgemein ist ihr Objekt und Subjekt. 2.1
Der Fall Asia Bibi
Der Fall der Asia Bibi in Pakistan – wegen Gotteslästerung real zum Tode verurteilt – macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur beim Terrorismus um Leben und Tod geht, sondern auch im Alltag. Menschen, die den Gotteslästerungsparagrafen streichen wollen, werden ermordet wie ein Gouverneur und ein Minister (2011). Im Prozess wurde angenommen, dass die Blasphemie tatsächlich stattgefunden habe, obwohl die Sätze, die als Beleg angeführt wurden, nichts Derartiges enthalten. „Sie, die Christin, hatte ihren muslimischen Kolleginnen an einem heißen Tag im Juni 2009 auf dem Feld bei der Erntearbeit Wasser angeboten. Zwei Frauen lehnten ab, angeblich mit den Worten, sie würden kein Wasser von einer Christin annehmen. Daraufhin soll Asia Bibi geantwortet haben, Jesus Christus sei für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben – was habe Mohammed für die Menschen getan? Asia Bibi bestreitet, das gesagt zu haben.“ (Kazim 2017)
Die Menschen, die sich für die Todesstrafe stark machen, tun dies aus Tradition und Glauben! Der Staat Pakistan unterstützt das mit seinem Gesetzbuch. Der Vorwurf der Gotteslästerung trifft da Moslems, dort Christen. Ist das finsteres Mittelalter oder religiöses Missverständnis? Was bewegt die islamistisch gestimmten Menschen, das Land mit Protesten lahmzulegen, nachdem fast zehn Jahre später Bibi durch das oberste Gericht freigesprochen worden war? Warum greifen hier die islamischen Gelehrten nicht ein (o. A. 2018; Kazim 2018 a)? 2.2
Gott hat den Vorrang – Krieg als Gottesdienst
Wenn es drauf ankommt, bedeutet Glauben auch im Christentum eine klare Priorität: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5, 29). Also müsste man auch erkennen, wenn Gott und staatliches Gesetz einander zuwiderlaufen. Diesen möglichen Konflikt beschreibt auch die Radbruch’sche Formel mit Hinweis auf das Evangelium. „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ (Radbruch 1946)
Dieses Recht auf – oder diese Möglichkeit zum – Widerstand mit Berufung auf eine „höhere Wahrheit oder Gerechtigkeit“ scheint es im Islam nicht zu geben.
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Hier wird so gedacht, dass „Widerstand“ das gleiche ist wie Heiliger Krieg, weil sich im Extremfall die eigene Regierung zum Ungläubigen wandelt und so den Feinden Allahs gleicht. Aus einem Fall des Widerstandes würde sich also ein Glaubenskrieg entwickeln, wenn der Glaube zur Legitimation der Herrschaft dient und nicht zur Begründung von Mitmenschlichkeit. „Im Westen wurde rasch vergessen, dass der Dschihadismus in der muslimischen Welt mit einem geradezu blasphemischen Terrorakt begonnen hatte. 1980 stürmten mehr als dreihundert schwer bewaffnete Terroristen das höchste Heiligtum des Islam, die Moschee in Mekka, und ermordeten mehrere hundert saudische Soldaten, aber auch zahllose unbeteiligte Gläubige.“ (Schütt 2001)
Die Islamische Welt wähnt sich von inneren und äußeren Feinden umgeben: „Man fühlt sich vom Rest der Welt umzingelt, betrogen und bedrängt. Jede vermeintlich falsche Geste wird als Beleidigung erfasst. […] Da dieses Klima in der letzten Sure des Korans, die so viele Verse ungültig machte, erzeugt wird, ist es fahrlässig, zu behaupten, Hass habe mit dem Koran nichts zu tun. […] Hass und Kriege gibt es seit Jahrtausenden, mit und ohne den Koran. Doch erst der Koran macht aus diesem Hass eine Tugend und aus dem Krieg einen Gottesdienst.“ (Beck 2008, S. 40)
2.3
Präsenz durch Gewalt
Ulrich Beck stellte fest, dass der Protestantismus als europäisch und darin national konstituiert und konstruiert der eigentliche Verlierer der derzeitigen kosmopolitischen Konstellation sei (vgl. Beck 2008, S. 40). Er verliert mit und in Säkularität und Gewaltfreiheit. Niemand interessiert sich heute für das protestantische Christentum. Der Islam dagegen ist in aller Munde, Gewalt macht Quote. Dass die Berichte negativ und furchterregend sind, spielt keine Rolle. Es geht um Präsenz. Nur der Papst als Weltpriester und Repräsentant des Christentums kann gelegentlich mithalten – sogar mit positiven Botschaften. Religion braucht für ihre Wahrheitsbehauptung keine Beweise oder Plausibilitäten, sondern allerhöchstens die Offenbarung oder interpretierbare „Zeichen“. Viele Staatsgesetze beruhen ebenfalls lediglich auf Tradition, aber nicht auf logisch herleitbaren Grundsätzen. Religion könnte aus ihrer Sicht staatlichen Gesetzen problemlos jede Legitimation absprechen und ihre eigenen aufgrund des göttlichen Ursprungs für gültig erklären. Im Christentum galt das beispielsweise für einige der Attentäter gegen Adolf Hitler am 20. Juni 1944. Heute liegt diese Argumentation dem Kirchenasyl zugrunde. Im Falle der Nazidiktatur wären wir heute noch stolz, wenn die christlichen Kirchen sie zur Herrschaft ohne Legitimation erklärt und gewaltfrei eindeutig gehandelt hätten, statt sich zu „ergeben“ oder gar zur Legitimation beizutragen. Im Fall des Kirchenasyls sind die
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Meinungen gespalten. Bisweilen gibt es Ermittlungen wegen „Beihilfe zum Verstoß gegen das Ausländergesetz“ (§ 27 StGB i. V. m. § 95). Das Christentum ist eher staatstragend einerseits und herrschaftskritisch andererseits. Gegen Herrscher gibt es bisweilen Feindschaft, aber nicht gegen Menschen allgemein. Es geht gegen den Staat ja nur, wenn seine Gesetze oder seine Struktur nicht gut für die Menschen in diesem Staat zu sein scheinen. So kann ein Attentat auf den „bösen Herrscher“ gerechtfertigt sein, wenn er das Volk ins Verderben führt und anders nicht aus seinem Amt gebracht werden kann. Es gibt hier also keinen Glaubenskrieg, sondern eine politische Aktion des bewaffneten Widerstandes. Die Folge ist nicht, dass der Attentäter ins Paradies kommt, weil er Gott verteidigt hat. Vielmehr bleibt die Tötung eines Menschen eine Sünde, die aber vergeben werden kann. Juristisch könnte man u. U. von einem Akt der Notwehr oder Nothilfe sprechen.
3
Religion ist grundsätzlich menschenfreundlich?
Im Christentum galt fast uneingeschränkt die Annahme, Religion sei menschenfreundlich, denn Gott trachte nach dem Heil für alle Menschen: „Gott, unserem Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (Die Bibel, 1. Tim. 2, 4). Die Grenze zeigt sich in der „Wahrheit“, deren Erkenntnis nicht allen gelingen wird. „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ (Die Bibel, Psalm 103, 8). Das gilt aber nur für die, die ihn fürchten. Im Islam verhält es sich ähnlich. Jede Sure außer der 9. fängt so an: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.“ Ist das nicht auch an jeden Menschen gerichtet? Warum aber folgen dann „gewaltige Strafen“ für die Ungläubigen? Das erscheint auf den ersten Blick unlogisch. Religion ist nicht logisch, sondern verlangt Glauben. „Der Samenkern religiös motivierter Gewalt liegt im Universalismus der Gleichheit der Glaubenden, die den Nichtglaubenden entzieht, was sie dem Glaubenden verheißt: Mitmenschenwürde, Gleichheit in einer Welt von Fremden. […] Alles Sein hängt an der individuellen Entscheidung zum Glauben, alles Nicht-Sein an der Entscheidung dagegen.“ (Beck 2008, S. 77)
Und dies nicht nur für islamistische Auslegungen des Koran, sondern für alle Religionen! Wer nicht glaubt, Gott nicht verehrt, hat kein Lebensrecht. Dafür gibt es auch im Christentum Belege, etwa von Thomas Müntzer: „Ein gottloser Mensch hat kein Recht zu leben, wo er die Frommen behindert […] wie uns essen und trinken ein Lebensmittel ist, so ist es auch das Schwert, um die Gottlosen zu vertilgen“ (Müntzer 1967). Die Folge war der Bauernkrieg von 1525. Müntzer
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kämpfte bei Frankenhausen selbst, wurde festgenommen und hingerichtet, d. h. enthauptet und aufgespießt. Er verstand das Reich Gottes sozusagen konkret. Im Unterschied zu heutigen islamistischen Agitatoren ging der Anführer voran und war anerkannter Theologe.
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Erzählung eines Konvertiten
Timo, ein schmächtiger, blasser Junge von 19 Jahren, saß in einer Gruppe neben mir. Wir waren in der Jugendarrestanstalt. Er war hier wegen diverser kleinerer Körperverletzungsdelikte. Er sagte, er habe „sich konvertiert“. Er habe das Glaubensbekenntnis gesprochen und sei jetzt Moslem. Aber er gehe nicht in eine Moschee. Da würden sie nur lügen. Er bete für sich oder mit seinem Kumpel. Der wäre auch der Grund gewesen, warum er „sich konvertiert“ habe. Einen Koran habe er mal besessen. Der sei aber verloren gegangen. Der Grund für die Konversion? Die Gemeinschaft. Ich gehöre dazu. Timo habe mit Gewalt nichts zu tun, beteuert er zweimal: „Ich bin für Frieden.“ Eine klare Regel verrät er mir noch: Für Konvertiten zähle eine Sünde doppelt im Vergleich zu geborenen Muslimen, hätten ihm die Glaubensbrüder gesagt. Dann war leider das Zeitfenster für Unterhaltungen geschlossen. Die nachfolgende Aufzählung zeigt Indikatoren auf, nach denen urteilend dem Sachverhalt jedoch keine theologisch fundierte Glaubensidee zugrunde liegt:
Weitergabe einer Religion durch Kontakt/Graswurzelbewegung
(Schein-) Kontakt per Internet
Kein Interesse an der „Lehre“ von Religionsgelehrten
Die (islamische) weltenverbindende Gemeinschaft zieht an. Die gibt es übrigens auch im Christentum, doch letztere zieht hier nicht an. Sie ist zahm und eben nicht gewaltig.
Sünden von Konvertiten: Naive Übernahme von „volkstümlichen“ oder einer Kultur geschuldeten Überzeugungen.
Die Konversion gibt einem Orientierungslosen irgendeine Richtung, die er aber nicht genau kennt. Er weiß nur, dass er sich anstrengen muss, weil seine Sünden doppelt zählen.
Die ersten vier Punkte sind von der jeweiligen Religion unabhängig.
Wenn die gottgestiftete Gemeinschaft angegriffen wird, ist es nur logisch und legitim, sich zu wehren. Der Konvertit muss sich dann besonders anstrengen.
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Plötzliche Radikalisierung
J kam nach Europa über den Irak, wohin er als Jugendlicher gegangen war, um sich Geld zu verdienen. Als er fünftausend Euro zusammengespart hatte (eine erstaunliche Summe!), gab er diese dem Reiseunternehmer (Schlepper), der ihn und andere auf Lastwagen nach Italien brachte. Den Weg dorthin kennt er nicht, weil er ja im LKW fuhr. In Italien wurden seine Fingerabdrücke genommen (Asyldatei). Er wollte nicht in Italien bleiben, sondern nach Schweden weiterreisen. Dann wurde er in Deutschland festgenommen. J hatte den heftigen Wunsch, Christ zu werden. Seine Religion sei voller Gewalt und Blut. Nach mehrwöchiger Unterrichtung, als der Asylantrag in Deutschland mit Hinweis auf Italien abgelehnt worden war, erklärte er sich plötzlich zum „Hungerstreikenden“. Der Auslöser war ein Missverständnis über einen Rückkehrtermin nach Italien. Er werde nur an der Nase herumgeführt, ließ er übersetzen. Er wisse nicht mehr, wie lange es noch dauern werde. Auf der ganzen Welt werde von der Freiheit und den Möglichkeiten in den christlichen (!) Ländern geredet und alles großartig dargestellt. Wenn dann junge Menschen unter viel Mühe und Einsatz ihrer gesamten Möglichkeiten den Weg geschafft hätten, würden sie eingesperrt und hin und her geschoben. Es gebe überhaupt keine Möglichkeiten. Und dann redeten alle immer von Terroristen und Islam. Es handle sich um junge Männer wie ihn selbst, die enttäuscht seien und gegen die Leute kämpften, die in ihre Länder kommen und dort Krieg führen. Man müsse dazu kein Islamist sein oder etwas vom Heiligen Krieg wissen. Das ergebe sich ganz von selbst. Erkenntnis/Legitimation Man muss nicht von Anfang an religiös sein, um im Heiligen Krieg mitzumachen. Es reicht die Enttäuschung über die Behandlung in der sich großartig fühlenden westlichen Welt, die in der Abwanderungsregion Kriege führt, aber den Menschen nichts bieten kann. Der religiöse Anschluss ergibt sich ganz von selbst. In diesem Fall legitimieren jedoch Enttäuschung und Zurückweisungserfahrungen eine Teilnahme am Kampfeinsatz. Die Religion kommt quasi „von selbst dazu“. Auch die westlichen Versprechen erweisen sich als Illusion. Das ursprünglich Eigene wird trotz Blut und Gewalt wieder plausibel, jedoch in verschärfter Form. Der (terroristische) Kampf gegen den „hohlen Westen“ speist sich aus Wut, Enttäuschung unter der Sprachregelung „Heiliger Krieg“. Die dabei nicht mitmachen, sind vom Westen infizierte „Scheinmoslems“. Ist das ein Missbrauch der Religion? Ist nicht vielmehr die Religion gerade gut zur Begründung geeignet für den Kampf gegen die falschen Versprechen der Ungläubigen?
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Ein theologischer Diskurs im Islam
6.1
Interpretation des Islam durch einen Anwerber des IS
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„Wir glauben, es ist die einzige Aufgabe der Menschheit, Allah und seinen Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, zu verehren. Wir setzen um, was im Koran geschrieben steht.“
„Die Scharia ist unser Gesetz, es bedarf keiner Interpretation und keiner von Menschen gemachten Gesetze. Allah ist der einzige Gesetzgeber.“
„Es ist die Pflicht eines jeden Muslims, Andersgläubige zu bekämpfen, bis auf der ganzen Welt nur Allah verehrt wird.“ (Der Koran 5, 37) Was uns wie eine Rechtfertigung von Verbrechen übelster Art erscheint, wird mit Koranversen unterlegt. Dann aber folgt noch eine Begründung politischer Art:
„Wer hat die Welt erobert und versucht, alle fremden Kulturen und Religionen zu unterwerfen? Die Geschichte des Kolonialismus ist lang und blutig. Und sie dauert bis heute an, in Form von Arroganz des Westens gegenüber allen anderen. ‚Wir gegen den Rest der Welt‘, das ist die Antriebsformel des Westens. Wir Muslime leisten dagegen endlich erfolgreich Widerstand.“ (Kazim 2014)
Die Moslems wehren sich gegen Machtanmaßung und Verbrechen des Westens. Das ergäbe das einfache Recht zum Widerstand gegen die Unterdrückung der moslemischen Welt und wäre als Legitimation verständlicher und der Verhandlung zugänglich. 6.2
Attentäter Coulibaly
„Sie haben Menschen gefoltert. Sie müssen aufhören, den ‚Islamischen Staat‘ anzugreifen, unsere Frauen zu enthüllen, unsere Brüder grundlos in Gefängnisse zu stecken“, sagte Coulibaly den Geiseln, die er offenbar mitverantwortlich für das Handeln des französischen Staates machte: „Sie sind es, die die finanzieren. Sie zahlen Steuern und stimmen blind zu“. Siegesgewiss setzt er hinzu: „Allah ist mit uns“ (o. A. 2015). Einfache Bürger*innen sind für ihre Staaten verantwortlich. Daher kann man durch ihre Tötung oder Misshandlung Widerstand leisten. Das sagt jemand, der Demokratie ablehnt, zu seinen Geiseln. Die Herrschaft steht im Islamismus allein Gott zu. Menschen darf man nicht dienen. Alle Herrschaft von Menschen ist illegitim und muss bekämpft werden. Allah ist dabei.
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Martin Hagenmaier
Brief von 120 Gelehrten
Islamische Theologen sehen das ganz anders, wie aus einem Brief von 120 Gelehrten an den Kalifen des IS hervorgeht.2 Die islamischen Theologen bezeichnen die islamischen Pflichten und Verbote als ein Ergebnis der richtigen Auslegung aller relevanten Überlieferungen. Es kommt immer auf alle Quellen und den Koran als Ganzes an. „Rosinenpickerei“ ist verboten. Vor allem die Auslegung des Rechts bedarf der Voraussetzung der Ausbildung in der Rechtstheorie in arabischer Sprache und der Kenntnis aller Traditionen (Offener Brief Nr. 1–5). Es kann niemand einfach deklarieren, was seiner subjektiven Sicht nach richtig erscheint, und vor allem auf keinen Fall ein Kalifat ausrufen. Er braucht dazu die gesamte islamische Gelehrsamkeit und im Falle des Kalifats sogar die Zustimmung aller Muslime (Nr. 22). Für den Dschihad gilt: „Jedoch ist der Dschihad ohne legitime Gründe, Ziele, Methode und Absicht kein Dschihad, sondern vielmehr Kriegstreiberei und Kriminalität.“ Allein den Eifer für die Sache lassen die Theologen gelten (Nr. 15). So bleibt noch ein Ausweg der Rückkehr zum „richtigen“ Glauben offen. Das wirkt so, als würde selbst einem, der in jeder Hinsicht in die Irre geht, eine Hand gereicht und die Umkehr ermöglicht. Der Glaubensbruder bleibt ein solcher und darf nicht unbarmherzig behandelt werden, wie sehr er sich auch vergangen hat. So hat auch Bassam Tibi in der Fernsehsendung „Anne Will“ vom 29.01.2015 betont, die Menschen des Islamischen Staates seien gläubige Muslime, die eine falsche theologische Ausrichtung hätten. Die „islamische Gemeinschaft“ wirkt sich auch in einfacheren Legitimationen ohne Gelehrte aus. Die Terroristen werden als „Brüder“ betrachtet, ihre Anstifter (Mullahs) als fromme und bescheidene Männer mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. „[…] selbst gegenüber Extremisten sind viele Pakistaner nachsichtig – Terrorismus sei zwar verbrecherisch, gar ‚unislamisch‘, aber die Täter seien doch irrgeleitete Seelen und letztlich ja trotzdem ‚unsere Brüder‘. Radikale Prediger werden oft als ehrenwerte Männer angesehen, die sich für die Interessen von Muslimen einsetzten. Immerhin lebten sie, anders als viele korrupte Politiker, die reichen Dynastien entstammen, bescheiden und gottesfürchtig, so die Überzeugung.“ (Kazim 2018 b)
Mit dieser Überzeugung kann man letztlich das Niederbrennen von „ungläubigen Dörfern“ in Pakistan ebenso rechtfertigen wie einen Aufstand gegen die eigene
2
Offener Brief an Dr. Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī alias „Abū Bakr al-Baġdādī“ und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten „Islamischen Staates“, unterzeichnet von über 120 Gelehrten, übersetzt von Muhammed F. Bayraktar, 3. Ḏū l-Ḥiǧǧah 1435/27. September 2014, erschienen online unter: www.madrasah.de [zuletzt aufgerufen am 26.09.2019].
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Regierung oder die Tötung von „Ungläubigen“ im Westen durch terroristische Akte. Es geht ja eben um „den Islam“. Uns erscheint es geradezu blasphemisch und widersinnig, eine riesige Mörderbande, die ankündigt, auch 500 Millionen Schiiten zur Durchsetzung des wahren Glaubens töten zu wollen, als Gläubige zu bezeichnen. Gläubig zu sein, bedeutet im Islam, dass Gott dem Gläubigen vergibt, nicht aber dem Ungläubigen! Der Gläubige kann also tun, was er will. Der Unglaube ist die Sünde, nicht das sündige Handeln. Dies ist ein wichtiger Unterschied zur Sündenvergebung im Christentum: Hier vergibt Gott der Sünderin, dem Sünder, wenn – nicht weil – sie daran glauben und ihre Sünden bereuen. Vergebung ist mit „Umkehr“, also in Zukunft anders zu handeln, verbunden. Die Sünde liegt in der Handlung, nicht im Unglauben.
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Die Befreiung des Menschen – theologische Grundlegung
Einer der Ideologen des Dschihad war Sayyid Qutb (gesprochen: ‚Kutub‘). Der Ägypter hatte Erfahrungen in den USA als Mitarbeiter des ägyptischen Erziehungsministeriums gemacht (1949–1951) und fand dort aus seiner Sicht keine nachahmenswerte Kultur oder Religion vor. Dadurch „bekehrte“ er sich zu seiner angeborenen Religion. 1954 wurde er nach einem Putsch gegen Nasser als Mitglied der Moslembruderschaft gefoltert und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sein für Islamisten grundlegendes Buch hat er in der Haft verfasst (Qutb 2006). Nach Haftentlassung und erneuter Verurteilung wurde er 1966 hingerichtet. Dieser Lebenslauf scheint grundlegend für die Gedanken zum Dschihad geworden zu sein. Diese Art des Lebenslaufes erscheint auch heute noch für viele Islamisten typisch. Sie haben nicht viel vom Islam gehalten und auch nichts davon gewusst, bis sie durch enttäuschende Erfahrungen darauf gestoßen wurden und ihre Identität oder „den Glauben“ fanden. Der wird dann fanatisch ausgeübt, weil er sich auch gegen die vorher begangenen eigenen Sünden richtet. Bei dem Eifer ist Allah barmherzig und verzeihend. 7.1
Das islamische System „Der Islam musste auftreten, um ein gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches System zu errichten, das der Befreiungsbewegung die faktische Konkretisierung erlaubt, nachdem die etablierte Macht beseitigt worden ist – egal ob diese rein politischer Natur ist, sich mit dem Rassismus liiert hat oder aber innerhalb der einen Rasse auf der Klassendiskriminierung beruht. […]
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Es war keinesfalls die Absicht des Islam, die Menschen zur Annahme seiner Glaubenslehre […] zu zwingen. Aber der Islam ist nicht nur Glaubenslehre. Der Islam ist, wie wir gesagt haben, die universale Deklaration der Befreiung des Menschen von dem Diener-Sein […] gegenüber den Dienern […]. Wenn es für uns unvermeidlich ist, die islamische Bewegung des Dschihad als der Verteidigung dienende Bewegung zu bezeichnen, so müssen wir das Verständnis des Begriffs ‚Verteidigung‘ neu definieren. Wir verstehen diesen Begriff als ‚Verteidigung des Menschen‘ als solchen gegen alle Faktoren, die seiner Freiheit Fesseln anlegen und seine Befreiung verhindern.“ (Meier 1994, S. 47)
7.2
Befreiung aus dem Diener-Sein „[…] Wesen des Islam selbst: Nämlich, dass er die universale Deklaration zur Befreiung des Menschen aus dem Diener-Sein […] gegenüber den Dienern […] ist, die Bestätigung des alleinigen Gott-Seins […] und Herr-Seins […] Gottes gegenüber den Weltenbewohnern, die Zerschmetterung des Königtums der menschlichen Willkür auf der Erde, und die Aufrichtung des Königtums der göttlichen Scharia in der Welt des Menschen.“ (Meier 1994, S. 201 ff.)
Die Begründung aus dem Koran lautet dazu: „Die Entscheidung steht allein Gott zu. Er hat befohlen, dass ihr nur ihm dienen sollt. Das ist die richtige Religion“ (Der Koran 12, 40). Diese Deklaration der Gottesherrschaft impliziert nicht unbedingt den gewalttätigen Charakter. Welche Regierung oder Herrschaft aber würde wohl freiwillig weichen – es sei denn aufgrund von Bekehrung? Welche andere Religion würde sich gern aufheben lassen, es sei denn, wenn sie davon überzeugt würde? Darauf kann man nicht warten. Daher muss es Gewalt geben, die Gott rechtfertigt. Islamismus bedeutet nach Qutb den Islam als gottgewollte weltweite revolutionäre Bewegung zur Abschaffung der menschlichen Versklavung durch ihre Mitmenschen. Mehr Legitimation ist nicht möglich. In dieser Form klingt es dann aber weniger nach Religion als eben nach Ideologie. Durch dieses Konstrukt wird jedes (weltliche) Recht als Gewalt gegen Menschen verstehbar. Ein Rechtsstaat entspringt der menschlichen Willkür ebenso wie eine weltanschaulich orientierte Diktatur. Dagegen aufzubegehren, gleicht einer heiligen Pflicht. Wie aber verträgt sich die Tötung von Mitmenschen zu diesem Zweck mit dem Tötungsverbot, das im Koran zu finden ist? Sind das einfach unvermeidliche Opfer der Revolution, wie das andere Revolutionäre verstanden haben? An dieser Stelle fängt sozusagen die konkrete Begründung des Heiligen Krieges an.
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Gilt das Tötungsverbot?
„Wenn einer jemanden tötet […], soll es so sein, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wenn einer jemanden am Leben erhält, soll es so sein, als ob er alle Menschen am Leben erhalten hätte“ (Der Koran 5, 32) – ein sehr strenges Tötungsverbot als Zitat aus dem Alten Testament und gleichzeitig das Argument dafür, dass „diese Terroristen“ mit dem Islam nichts zu tun haben. Die Bedingung dafür lautet: „ohne dass er einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat“. Das klingt schon nicht mehr so streng. Als Unheilstifter kann man schließlich jeden ansehen, der anderer Meinung ist. „Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafen, […].“ (Der Koran 5, 33)
Nichts anderes als Krieg gegen Allah und seinen Gesandten zu führen, bedeuteten nach islamischem Verständnis die Kriege in Afghanistan (seit 1989), im Irak, zwischen Israel und Palästina, die UN-Aktionen in Somalia, im Kosovo bzw. ExJugoslawien und heute gegen den IS, wobei letzteres längst nicht alle so sehen. Diese Anlässe können den Heiligen Krieg begründen. „Und kämpft auf Allahs Wegen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten! Kämpft jedoch nicht gegen sie bei der geschützten Gebetsstätte, bis sie dort (zuerst) gegen euch kämpfen. Wenn sie aber dort gegen euch kämpfen, dann tötet sie. Solcherart ist der Lohn der Ungläubigen. Wenn sie jedoch aufhören, so ist Allah Allvergebend und Barmherzig. Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion (allein) Allahs ist. Wenn sie jedoch aufhören, dann darf es kein feindseliges Vorgehen geben außer gegen die Ungerechten.“ (Der Koran, 2, 190–193)
Der Krieg endet dann, wenn alle Welt an Allah glaubt. Gemäßigte Moslems sehen darin das tägliche Bemühen um Bekehrung der Ungläubigen angesprochen, keinen Krieg. Für Dschihadisten reicht das problemlos zur Rechtfertigung tatsächlicher Tötungsaktionen. Für die islamistische Denkweise entsteht eine weitere Legitimation aus rein religiösen Gründen. Gottes Macht wird durch Unglauben beleidigt. Dem muss der wahre Gläubige abhelfen, denken Fundamentalisten auch in den anderen beiden nahöstlichen Religionen. Wie man das macht, hat Gott vorgemacht (theologisch eine Art „Imitatio Dei“). Der Islamist findet sich da in guter Nachbarschaft zu den aus seiner Sicht ungläubigen Christen und Juden.
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„Dem Schrei der Menschheit gegen Gott: ‚Du machst uns keine Angst! Glaubst du vielleicht, uns zu erschrecken?‘ hat Gott schon seit altersher geantwortet, indem er seine Macht zeigte. Und wenn die Menschen zu ihrer Verherrlichung Türme fest und hoch wie zu Babel bauen, so werden sie unter den starken Händen Gottes zerbrechen und sich wie Wachs im Feuer seiner Majestät auflösen, es werden sich ringsum gewaltige Flammen erheben, um gegen die stolze Menschheit Zeugnis abzulegen, dann, wie der Koran sagt, ‚werden sie von dem erfasst, worüber sie sich lustig gemacht haben‘ (Sure 45, 33). Das Feuer zwischen den Ruinen, Blut, Tote, die Schreie der Niederlage werden eine höchste Gotteserscheinung sein, das Zeichen von Gottes Sieg. Dann wird der Mensch gezwungen sein, sich zu ergeben und einzugestehen, dass Gott stärker ist als er.“ (Tessore 2004, S. 212)
Das kann zu geradezu ekstatischen Zuständen führen, wenn man mit Gott zusammen die Welt terrorisiert und in einer Linie mit Vulkanausbrüchen oder Erdbeben steht.
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Religiöse und nichtreligiöse Vorstellungen bei der Gestaltung und Förderung des Dschihad
Selbstmordattentate sind praktisch überall anwendbar. Suizid gilt zwar nach Koran 4, 29 als verboten. Der Koran-Vers kann allerdings auch als „Tötet nicht einander“ übersetzt werden. Trotzdem ist die islamische Überlieferung vom Suizidverbot überzeugt. Der arabische Frühling begann nach der Selbstverbrennung Mohammed Buazizis. Seine Familie legt größten Wert darauf, dass es sich nicht um einen Suizid gehandelt hat, sondern um einen Unfall (Putz 2011). Warum kann ein Suizidbomber zum Märtyrer werden, obwohl er sich gegen Gottes Tötungsverbote vergangen hat? Der Suizid geschieht im Kampf gegen die Ungläubigen, der den höheren Rang einnimmt. Wer das als Gläubiger im Dschihad tut, dem vergibt Gott nicht nur, sondern verhilft ihm auch zum Paradies mit all seinen Annehmlichkeiten für Männer. Schließlich ist er im Kampf zur höheren Ehre Gottes gefallen. Er hat es für Gott getan. Er bewirkt, dass er für 70 Menschen aus seiner Familie Sündenvergebung erbitten kann. 9.1
Der erste Märtyrer
Der Märtyrerbegriff kommt aus dem frühen Christentum und bezeichnet Menschen, die für ihren Glauben gequält und getötet werden. Sie üben dabei keine Aggression aus. Dafür steht der erste Märtyrer Stephanus (Die Bibel, Apg. 6 und 7). Der Begriff wurde bei der Schilderung dieses Martyriums von Polykarp aus Smyrna zu ersten Mal verwendet. Märtyrer halten nicht nur an ihrem Glauben
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fest, sondern beten für ihre Peiniger. Die sofortige Aufnahme in die ewige Seligkeit wird angenommen und geglaubt. Diesen Begriff auf Leute anzuwenden, die sich umbringen, um andere zu töten, klingt blasphemisch und missbräuchlich, hilft aber offenbar dabei, Suizidbomber anzulocken. 9.2
Abwehr von Machtanmaßung
Die Moslems wehren sich – wie schon gesagt – aus ihrer Sicht gegen Machtanmaßung und Verbrechen des Westens. Das ergäbe das einfache Recht zum Widerstand gegen die Unterdrückung der moslemischen Welt und wäre als Legitimation verständlicher und der Verhandlung zugänglich. Die islamistische Verknüpfung liegt darin, dass „die Moslems“ sich wehren. Das eröffnet wieder den ganzen religiösen Hintergrund sowie die unaussprechliche Gewalt gegen den großen Feind. Dazu bräuchte es gar keine Untaten des Westens. „Das Haus des Krieges ist überall, wo der Islam nicht das Sagen hat. Das Haus des Friedens […] umfasst alles, was unter muslimischer Herrschaft steht.“ Das Haus des Vertrages, wo Ungläubige „nicht gegen die Muslime aufbegehren“, sie nicht im „Expansionsstreben hindern“ (Der Koran, 117). Hamed Abdel Samad belegt diese Ansicht mit einem langen Kapitel zur Koran-Interpretation. Hier klingt die Legitimation zum Widerstand völlig anders. Eine andere Religion zu haben, ist bereits eine Bedrohung, gegen die man sich wehren muss. 9.3
Der Jubel nach dem Attentat hat ein biblisches Vorbild
Der Jubel in der Schlacht der Makkabäer wird wie folgt beschrieben: „Die Truppen Nikanors rückten mit Trompetengeschmetter und Kampfliedern vor. Die Leute des Judas dagegen griffen die Feinde unter Beten und Flehen an. Mit den Händen kämpften sie, im Herzen beteten sie zu Gott. Mindestens fünfunddreißigtausend Mann streckten sie zu Boden, hocherfreut, dass Gott sich so sichtbar offenbarte. Schon war der Kampf beendet und sie wollten voller Freude aufbrechen, da entdeckten sie Nikanor, der in seiner Rüstung erschlagen dalag. Es gab ein großes Geschrei und Getümmel und sie priesen den Herrn in der Sprache ihrer Väter.“ (Die Bibel, 1. Mak. 1)
Nach dem 09.11.2001 gab es entsprechende Berichte über Jubel in verschiedenen muslimischen Ländern. Gott offenbart sich im Tod des gottlosen Feindes und im Sieg. Der Gläubige wird durch diesen Sieg in seinem Glauben weiter bestärkt.
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Gewalt ist keine Erfindung der Islamisten
„Wir haben mit Gewalt nichts zu tun!“ ist eine gemeinsame Ansicht von Muslimen und christlichen Kirchen. Das Alte Testament aber lebt in manchen Teilen von der Gewalttätigkeit seiner Akteure: 1) Gott selbst sucht die Menschen mit allem heim, was Gewalt heißt, wenn sie abtrünnig werden. In der Sintflut bringt er aus Wut über die Engel und Menschenfrauen fast alle um. Seine Diener tun es ihm gleich. 2) Samson bringt im ersten geschilderten Suizidattentat gleich dreitausend Feinde auf einmal um. 3) Der König Saul weigerte sich, den Bann an den Amalekitern zu vollziehen. Bann heißt die restlose Vernichtung des Gegners, seiner Familien, Tiere und Dinge. Dafür wurde er von Gott „ausgemustert“. Ihm fehlte die Gottesfurcht. Er übte Gnade zum eigenen Nutzen. Gewalt gehört zu den Aufträgen, die Gott seinem Volk oder einzelnen gibt. Gewalt, die jemand erfolgreich ausübt, kennzeichnet seine Nähe zu Gott. Wen Gott zum Tod bestimmt hat, dem darf der Gläubige keine menschliche Gnade gewähren. 4) Der Prophet Elia bringt nach einer gewonnenen religiösen Wette 450 Priester des Baal eigenhändig um. Sie hatten die falsche Religion und dienten daher dem politischen Gegner. 5) Der politische Terrorismus beginnt spätestens mit Mose in Ägypten. Die große Befreiungstat Gottes in Ägypten startet mit zehn veritablen Strafen für das Volk des Pharaos von Blut statt Wasser im Nil bis zur Tötung aller Erstgeborenen durch den Würgeengel. Gott greift also gewaltig ein und sorgt so für die Durchsetzung des Auszugs aus Ägypten, also für seine Leute. Gott selbst terrorisiert die Menschen, die sein Volk behindern. So effektive Instrumente hätten die heutigen Terroristen gern. Dann müsste sich niemand mehr selbst umbringen. Diese ägyptischen Plagen sind in 2. Mose 7–11 aufgelistet. Die Plagerei beginnt damit, dass Mose dem Pharao die Macht Gottes demonstriert, indem er einen Stock zur Schlange werden lässt. Das können allerdings die ägyptischen Magier auch. Dann aber verschlingt die Schlange des Mose die anderen Schlangen. Dieses Zeichen der Macht Jahwes erkennt der Pharao nicht (Die Bibel, 2. Mose 7, 1–13). Daraufhin beginnt die Terrorisierung der ägyptischen Welt durch göttliche Plagen. Nach Mose sind es zehn Plagen, nach Psalm 125, 26–36 sieben nicht ganz identische. Kritiker verstehen die Plagen als reine Fantasie alttestamentlicher Texteschreiber, die sich um Gottes Größe und Macht rankt. Historische Ereignisse wären auch in anderen Überlieferungen berichtet worden. Es wird jedoch nicht bezweifelt, dass es Plagen dieser Art gab oder gibt. Sie als Eingriffe Gottes zu verstehen, ist jedoch dem Glauben vorbehalten, der darin die Vorstufe zur Befreiung von Gottes Volk aus dem Joch der Ägypter sieht. Diese als „Exodus“ bezeichneten Abfolgen sind seither mit und ohne Gottesfigur Interpretationsmuster
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für Befreiungskriege, Revolutionen, Aufstände gegen allgewaltige Herrscher und den Kampf gegen Diktaturen und Kolonialismus, ja sogar des Islamismus usw. 6) Die Geschichte der Kirche und des Christentums ist voll von Gewalt gegen Andersgläubige. Hier werden immer die Kreuzzüge als „Heilige Kriege“ angeführt. Sie haben auch Ähnlichkeit mit dem islamischen Heiligen Krieg. Die Kämpfer erwartet Schulden- und Sündenerlass, Schutz für Eigentum und Familie sowie Immunität. Wer ums Leben kam, galt als Märtyrer. Das beruhte auf einer anderen Bibelinterpretation als der heutigen. Im Alten Testament ist Gott als „rechter Kriegsmann“ der, der seine Krieger schützt und die Feinde vernichtet. (Die Bibel, 2. Mose 15, 3) Das Neue Testament wird nicht spirituell verstanden, wie etwa die „Waffenrüstung Gottes“ bei Paulus. (Die Bibel, Eph. 6, 11) Daher konnte der Kampf als Teilnahme am Heilsplan Gottes verstanden werden und gleicht damit doch wieder der apokalyptischen Aufladung der islamistischen Vorstellung (Tyerman, 2009, S. 93 ff.). An dieser Stelle noch eine kurze Bewertung der Kreuzzüge: Tyerman sieht keine legitime historische Berufungsmöglichkeit des heutigen Islamismus auf den Heiligen Krieg des Mittelalters. Weder sei der heutige Dschihad mit dem damaligen vergleichbar, noch sei die Kreuzzugsrhetorik nachvollziehbar. Sowohl die orientale wie die okzidentale Heiliger-Krieg-Rhetorik gehe auf eine Betrachtungsweise des Historikers Michaud aus dem 19. Jahrhundert zurück, der Nationalismus, Kolonialismus und antirevolutionäres Christentum als leitendes Interesse gehabt habe. „So ließ sich das Kreuzzugswesen in einen Vorläufer der christlich-europäischen Überlegenheit und des europäischen Aufstiegs umwandeln“ (Tyerman, 2009, S. 192). Zudem werde auch der islamistische Standpunkt durch Michaud bestimmt: „In den arabischen Reaktionen auf westliche Aggressionen existiert keine Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen Kreuzzugswesen und modernen Feindseligkeiten genau so wenig wie es eine Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Dschihad gibt, wenn man einmal von der Rhetorik und ahistorischen Berufungen auf die Vergangenheit absieht.“ (Tyerman, 2009, S. 194)
Dieser Standpunkt mag historisch richtig sein, sagt aber nichts über die politische und religiöse Macht der Bilder und ihre Form der Adaption aus. In der arabischen Welt ist der Kreuzzug ein mächtiges Feindbild. Ob der Zusammenhang historisch richtig oder falsch ist, interessiert niemanden. 7) Die Gewalt galt aber auch Abweichlern – „Ketzer“ genannt. Sie wurden verbrannt oder erschlagen, jedenfalls getötet. Ebenso galt dieselbe Gewalt den sogenannten Hexen bis ins 18. Jahrhundert. Die damalige Bibelinterpretation lieferte die Legitimation dafür: Gott will es so! Wer lesen konnte, hätte zu anderen Denkweisen und Handlungen kommen müssen. Alle anderen waren auf die Interpretationen der Kirchenleute angewiesen.
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10 Mystik der Gewalt Gewaltorgien oder Suizidattentate scheinen bisweilen eine geradezu mystische Anziehungskraft auf Menschen auszuüben. Die Mystik der Gewalt hängt nicht von der geschriebenen Religion ab. „Die Mystik ist nicht mehr eine Überlegung des Verstandes, sondern eine glühende Leidenschaft des Herzens, ein verzehrendes Feuer. Und wie die Gottesliebe, die von den Mystikern gelebt wird, sie manchmal dazu bringt, ‚Torheiten‘ zu reden und in Ausschweifungen zu geraten, die nur in Anbetracht der tollen, brennenden Liebe, die sie auslöste, zu entschuldigen sind, ebenso kann ein entzündeter Eifer für Gott die Mystiker zu Exzessen von unerhörter Gewalt führen. […] hier hat es keinen Sinn mehr, zu fragen, ob es gestattet ist, die Ungläubigen in ihren Gebieten anzugreifen oder ob es theologisch korrekt ist, Blutbäder zu verursachen, um ‚Christi Blut zu rächen‘. Hier handelt es sich nur darum, die Souveränität Gottes bis aufs Äußerste wieder zu beteuern.“ (Tessore 2004, S. 207 f.) „Das, was wir gewöhnlich religiösen Terrorismus nennen, können wir hier einordnen. Und es wirken auch die Terroristen, die von politischen Interessen benutzt oder geleitet werden, sowie die offen ‚politisch‘ agierenden Terroristen und schließlich jene ‚unbewussten Terroristen‘, also die Naturgewalten (Erdbeben, Epidemien, Unglück jeder Art), bewusst oder unbewusst daran mit, menschliche Sicherheit zu erschüttern, und arbeiten auf diese Weise mit dem integralistischen religiösen Terrorismus zusammen.“ (a. a. O., S. 210)
Teilhabe an der Souveränität Gottes wäre, über Anfang und Ende bestimmen zu können. In dem Moment, in dem die Bombe explodiert, tritt volle Eindeutigkeit ein. Es gibt keine zwei Meinungen mehr. Anat Berko spitzt das noch zu: „In the process of neutralisation and rationalization, the suicide bombers take the role of both victim and God. The suicide bomber feels drunk with power and a sense of omnipotence in that he can take the lives of others.“ (Berko 2009, S. 172)
Unter dem Sein wie Gott fallen alle Gegensätze in sich zusammen. In der Omnipotenz gibt es weder Gut noch Böse, sondern nur Allmacht, inszeniert als ein nicht umkehrbarer Vorgang der Explosion oder anderer Tötungsarten. Nachahmung Gottes – „Imitatio Dei“ und die Vereinigung mit Gott Wenn man das ein wenig herunternimmt vom hohen mystischen Standpunkt und einer Alltagswahrnehmung zuführt, bleibt vor allem die Allgewalt Gottes übrig, die den Terroristen fasziniert. Wer sich mit Gott, dem Allmächtigen, gemein macht, lacht über weltliche Gesetze und Herrschaft(en). Vor der Allmacht verblasst das alles zu kleinen und unbedeutenden Anmaßungen von Menschen untereinander. Das kann man mit einer einzigen Bombe oder einem Suizidattentat vor aller Welt beweisen. Damit ist man neben dem Allmächtigen der Größte.
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Gott ist groß, und ich helfe ihm dabei. Sich so zu fühlen, das führt weit über das Menschsein der Ungläubigen hinaus und tötet alle Selbstzweifel ab. Was die Welt mir nicht zugesteht, nämlich Achtung und Ehrerbietung, bekomme ich dort in reichstem Maße. Und alle schauen mir hoffentlich entsetzt zu (via Fernseher oder in einschlägigen Internetportalen). Weitere Legitimation braucht man als rechte Hand des Allmächtigen nicht. Diese demonstriert man durch seine Handlung. Ein Allmächtiger verhandelt schließlich nicht, er offenbart! Ist es nicht faszinierend, zu denen zu gehören, die an jeder Stelle dieser Welt jederzeit effektiv und mit eindeutigem Ergebnis zuschlagen können? Sich vorzustellen, Gott ist groß, bedeutet, ich bin klein und erbarmungsbedürftig, aber er steht auf meiner Seite und macht mich damit groß, ermächtigt mich zum Leben (christliche Variante) – das ist ein ähnlicher Gedanke der Kompensation, hat aber ganz andere Folgen, wenn es im Konzept der Nächstenliebe verankert wird. Das Weltverhältnis neigt hier eher zur Hilfe für Mitmenschen. Gott nachzuahmen bedeutet dann, sich um andere zu kümmern. Die Anerkennung von Gottes Größe kann also völlig verschiedene Konzepte generieren. Die Machtformel „Gott ist groß“ stammt aus dem Alten Testament. Sie ist in Psalm 48,2; 70,5; 99,2; 96,4; 135,5; 145,3; 147,5 und 1. Chronik 16,25 zu finden. Täter, deren Sprengsatz nicht funktionierte, fühlten sich ekstatisch, manche sagen auch orgastisch. Lloyd DeMause (Sozialwissenschaftler USA, Psychohistorie, umstritten) kommt aus Interviews zu dem Schluss, dass nicht politisch motivierte Personen durch das Attentat mit Allah vereinigt sein wollten, als Kompensation eines übergroßen Sündengefühls. Die Gewaltmystik erkennt man an folgenden Motiven:
Vernichtung als Erlösung,
Suizidalität als narzisstische Größenfantasie,
Recht ist sublime Gewalt,
Schöpfer und Zerstörer als ein und dasselbe.
Mystische Zustände sind manchmal vielleicht auch das Ergebnis von Drogenkonsum vor der Handlung.
11 Apokalyptik Die Apokalyptik spielt bei den Szenarien von fundamentalistisch eingestellten Personen oder Gruppen eine große Rolle und ist eine Domäne des Christentums. Sie kommt in der offiziellen Theologie heute kaum vor. Nur im Gottesdienst wird sie weiter benutzt.
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Das Buch der „Offenbarung“ im Neuen Testament enthält diese Motive: Apokalyptische Reiter, das Buch mit sieben Siegeln, das 1000-jährige Reich, der Drache, das Tier, das Lamm, die Schalen des Zorns, die Hure Babylon, das Weltgericht, das Neue Jerusalem und die Herrschaft der Märtyrer nach dem 1. Tod im Tausendjährigen Reich. Die Märtyrer „wurden lebendig und regierten mit Christus tausend Jahre. […] Dies ist die erste Auferstehung. Über diese hat der zweite Tod keine Macht“ (Die Bibel, Off. 20, aus 5 und 6). Das ist die Hoffnung, welche die islamistischen Märtyrer mit dem Begriff übernommen haben. 11.1 Dabiq als Ort der letzten Schlacht Der letzte Kampf – eigentlich nach den tausend Jahren – versammelt dann die Völker der Welt zur Entscheidungsschlacht. Laut dem IS-Magazin Dabiq sollte diese Endschlacht in dem gleichnamigen Ort stattfinden, nachdem die Welt gegen den IS dort aufmarschiert ist. Dabei spielt dann sogar Jesus mit seinem 1000jährigen Reich dieselbe Rolle wie in der Offenbarung – mit dem Unterschied, dass der IS den letzten Kampf vor die tausend Jahre gezogen hat. Der Islamist zwingt die Welt zur Entscheidungsschlacht. Anscheinend ist dieser Glaubensinhalt nun nach der schmucklosen Eroberung von Dabiq auf Rom – der Name des neuen Magazins – übergegangen. „Sei getreu bis in den Tod, dann will ich dir die Krone des Lebens geben“ (Die Bibel, Off. 2, 11). Dieser Satz zeigt die Ernsthaftigkeit des Engagements für Gott an, hat aber keine Suizidattentäter hervorgebracht. 11.2 Theologie der Revolution In der christlichen Theologie spielte die Apokalypse in den 1960er Jahren eine Rolle. Das klang wie eine theologische Begründung für Revolution. „Der Gott, der alte Strukturen niederreißt, um die Bedingungen für eine menschliche Existenz zu schaffen, ist selbst mitten im Kampf. Seine Gegenwart in der Welt und sein Druck auf die Strukturen, die ihm im Wege stehen, begründen die Dynamik dieses Prozesses.“ (Shaull 1970, S. 101) „Gott ist der Eine, der das verneint, was ist, und das schafft, was nicht ist.“ (a. a. O., S. 129)
Menschliche Opfer dieser theologischen Episode wurden nicht bekannt, bis auf Camilo Torres. 3 Die apokalyptische Tradition aber hat auch im Christentum die 3
Camilo Torres hatte sich als Priester im kolumbianischen „Befreiungskampf“ positioniert –Torres 1969. Siehe auch Putz 1969.
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Kraft, die Gemüter zu erhitzen. So konkret den Endkampf herbeizubomben und herbeizutöten, ist heute aber aus christlicher Sicht nicht möglich. Der Endkampf wird im Fall des Falles von Gott herbeigeführt und nicht von Menschen veranstaltet. 11.3 Todeskult und Kampfeinsatz Der Gedanke, sich für seine Religion zu opfern, spielt, abgesehen von den Anführern, offenbar in der Szene der Dschihadisten weltweit eine wichtige Rolle. Er wird durch Geschichten verbreitet, die klingen wie aus dem Mittelalter im christlichen Europa. Der Islamwissenschaftler Behnam Said beschreibt dies folgendermaßen: „So sollen beispielsweise die Leichen der Gefallenen auch nach einem Jahr noch frisch gerochen haben und ihr Blut flüssig gewesen sein. […] Nach und nach entstand ein richtiger Todeskult in der jihadistischen Szene, und junge Männer kamen nach Afghanistan, um das Martyrium zu suchen und so in den Genuss der versprochenen Paradiesfreuden zu kommen.“ (Said 2015, S. 163 f.)
Ähnlich ist es beim IS. Hier heißen die Attraktionsmomente aber anders. Jeder Kämpfer bezieht ein Gehalt, bekommt eine (junge) Frau und ein (großes) Auto sowie eine Waffe. Er bekommt wahrscheinlich auch Drogen, wenn es nötig ist. All das sind Dinge, die zumindest den Europäern unter den Kämpfern zu Hause versagt wurden. Statt eines Berufes lernt er das Töten. Aber er gehört dazu und braucht nicht tolerant zu sein. Dann kommt auch noch das Paradies, in dem männliche Freuden herrschen. Die Frauen bekommen dort wenigstens Nahrung. Die wahnsinnigen Europäer glauben das, die Anführer aus der aufgelösten Armee des Irak unter Saddam Hussein natürlich nicht, war in der Presse zu lesen.
12 Das Heil der Welt Um die Befreiung des Menschen zu erreichen und das Heil der Welt herbeizuführen, bedarf es eines langen Atems und eines gefestigten Glaubens. Da es viele Ungläubige auch in den eigenen Reihen gibt, bedarf das Ganze des entschiedenen Einsatzes. Verhandlungen können keine Erfolge erzielen, weil sie immer zu Kompromissen führen. Das bedeutet dasselbe wie Verrat. Daher braucht der Islamist die Eindeutigkeit der Bombe und des Einsatzes. Damit Menschen zu solcher Entschiedenheit überhaupt bereit sind, brauchen sie das Versprechen, mehr zu sein als alle und bei der höchsten Autorität – Gott – anzukommen. Die Ungläubigen scheinen im Moment im Vorteil zu sein. In Wirklichkeit aber sind sie Unwissende, die der ewige Tod erwartet, während die
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entschiedenen Kämpfer im Paradies landen oder eben dort tausend Jahre mit Jesus regieren sowie nicht den zweiten endgültigen Tod erwarten müssen. Wir sehen, die Opfer der Attentate kommen in diesem Denken nicht vor. Wer ein großes Ziel direkt von Gott erhält, muss sich keine Gedanken um die Unwissenden und Ungläubigen machen. Sie sind ohnehin nach religiöser Lesart die Ausgeburten des Teufels.
13 Wahn oder Glaube? Religiöser Wahn als Krankheit liegt bei den islamistischen Terroristen eher nicht vor. Aus psychiatrischer Sicht fand Norbert Leygraf unter islamistischen Straftätern bei neunzehn Eingewanderten dissoziale Merkmale und gescheiterte Lebenspläne. Bei zehn in Deutschland aufgewachsenen Tätern gab es immerhin drei mit Psychosen und zwei mit dissozialen Merkmalen, aber auch fünf ohne erkennbare psychische oder sonstige Muster mit Krankheitswert zur Genese islamistischer Entwicklungen (Leygraf 2014). Der Glaube, durch die eigene Tat einen hervorragenden Beitrag zur Heilung der Welt zu leisten, kann keine Rücksicht auf irgendwelche zufälligen Opfer nehmen. Einer, der zur Elite des Allmächtigen zählt, braucht keine moralischen Bedenken zu pflegen. Was man für die Allmacht tut, kann nie falsch sein, selbst wenn es dem eigenen Heil im Paradies dient. Außerdem: Der Wahn des Islamisten auf Allahs Weltherrschaft ist eher ein Wahn im landläufigen Sinne wie der Wahn des Westens mehr oder weniger der ist, seine Lebensweise überall einrichten zu müssen. Wenn Sie ein reales Angebot bekämen, statt der achtzig oder neunzig Jahre mühsamen Lebens mit Rücksichten auf andere Menschen, mit Gesetzen, die Ihnen nicht behagen, mit Unterordnung unter viele andere Vorschriften, mit Krankheiten und Tod, ein ewiges Leben im Paradies zu haben oder mit Christus als tausendjähriger Herrscher über alle anderen zu leben, würden Sie dann nicht auch auf die paar schwierigen Erdenjahre verzichten? Das Problem ist, dass Sie das nicht für real halten und daher nicht daran glauben. Vielleicht wissen Sie, dass selbst im evangelischen Gottesdienst beim Abendmahl gebetet wird: „Komm, Herr Jesus.“ Das heißt nichts weniger, als dass das Ende der Welt endlich kommen möge. Also apokalyptische Tradition. Niemand würde auf die Idee kommen, dies als Aufruf zum apokalyptischen Kampf zu verstehen, weil die christliche Theologie sich auf eine andere Interpretation geeinigt hat und Gottes Eingreifen in diese Welt zur Beendigung der Nöte und des Todes nicht menschlichen Akteur*innen überlassen würde. Da kämen stets nur Interessen zum Zuge. Wie die wirken, das wissen wir zur Genüge.
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13.1 Strategie statt Glaubens, auch zur Sicherung des Terrornetzes Bei der islamistischen Interpretation ist fraglich, warum jemand sich und andere umbringen soll, um die Herrschaft Gottes heraufzuführen, von der er dann gar nichts hat. Ins Paradies könnte er doch auch durch ein frommes Leben kommen. Hier zeigt sich klar, dass es sich um Strategie handelt, nicht um Glauben: 1) die Wirkung nach außen – Furcht und Schrecken verbreiten. 2) Die Wirkung nach innen – Hochachtung, aber auch Furcht und Schrecken verbreiten. 3) Garantiert in den Medien erscheinen. 4) Wer tot ist, kann seinen Irrtum nicht mehr korrigieren. Auf diese Weise wird das Terrornetz gesichert. Neue Attentatsformen (Gewehr, Messer, Axt, Auto), die wegen einfacherer Vorbereitung und geringerer Aufdeckungsgefahren anscheinend zunehmend bevorzugt werden – vielleicht unter dem Einfluss des Manifests von Abu Musab al-Suri 4 –, haben das Problem, dass die Täter*innen vor Gericht gestellt werden könnten und vielleicht die von ihnen begangene Tat bereuen und dadurch dem Terrornetz schaden. Soweit man die religiösen Denkweisen nachvollziehen kann, so sehr sind doch auch strategische Ziele bestimmend für die Terrornetze. Daher könnte man auch davon sprechen, dass die Religion missbraucht wird. 13.2 Missbrauch von Religion? Aus meiner Sicht werden eher Menschen in schwierigen psychischen Umständen missbraucht, die erstaunlicherweise auf diese Interpretation von Religion ansprechen. Wenn man jedoch erwartet, hier arbeite eine Organisation in unserem Sinne, stimmt das sicher nur zum Teil für den IS. Eher lassen sich einzelne Menschen auf diese groß erscheinende Denkweise ein und finden darin eine Lösung für alle möglichen Probleme der Selbstwahrnehmung und Selbstachtung in ihrer gesellschaftlichen Position. Andererseits nehmen die wenigen zentralen Personen gerne Untaten von überall auf der Welt als die eigenen auf, um furchterregend und allmächtig zu erscheinen – wie Gott eben. Und den muss man nicht verstehen, sondern ihm nur glauben. Besonders „schön“, einfach und nachvollziehbar hat das der Weihnachtsdschihadist am 30.12.2009 ausgedrückt, so denn die Berichte dazu stimmen: „Wenn wir das Sagen haben, irgendwann, Inschallah, in der ganzen Welt, dann gilt die Scharia“ (Kazim 2014). Ich stelle mir vor, wie der große Dschihad stattfindet, wie die Muslime – groß ist Allah – siegen und die Welt beherrschen werden und wieder einmal das größte Reich errichten! Bemerkenswert ist an dieser spätpubertär wirkenden Beschreibung des Ziels, dass eine Vorstellung von 4
Seit 2005 ist der 1600 Seiten umfassende Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand im Internet als PDF auf Englisch verfügbar – vgl. hierzu Kepel 2016.
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tatsächlicher eigener Größe durch die Sprengung eines Flugzeugs erreicht werden soll. Rache im Namen Gottes wollte der „Unterhosenbomber“ Farouk Abdulmutallab nehmen, indem er ein Flugzeug sprengt. Verurteilt wurde er am 17.02.2012.
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Verschwörungsmentalität und Antisemitismus Roland Imhoff 1
Keywords: Antisemitismus, Verschwörungsmentalität, Verschwörungstheorien
Abstract Ausgehend von einer Begriffserläuterung unterschiedlicher Formen des Antisemitismus wird der Antisemitismus als ein zentrales Moment verschwörungstheoretischer Weltbilder herausgestellt. Antisemitismus ist – wie viele Ressentiments gegenüber als mächtig wahrgenommenen Gruppen und im Gegensatz zu Vorurteilen gegenüber vermeintlich machtlosen Gruppen – eng mit einer Weltsicht verknüpft, die sich als Verschwörungsmentalität begreifen lässt. Negativ konnotierte Ereignisse werden dadurch erklärt, dass eine kleine Gruppe diese durch geheime Absprachen und Aktionen gewollt hervorgerufen haben soll. Ein Überblick über die psychologische Forschung zu Antezedenzien und Konsequenzen von Verschwörungsmentalität leitet über zu der Frage, ob eine solche Weltsicht non-normatives und gewalttätiges politisches Handeln motivieren kann.
Inhalt 1 Einführung...................................................................................................70 2 Vom Antijudaismus zum (sekundären) Antisemitismus ..............................70 3 Verschwörungsideologie als Konstante im Antisemitismus ........................77 4 Psychologische Befunde zur verschwörungstheoretischen Weltsicht ..........80 5 Verschwörungsmentalität und politische Gewalt.........................................85 Literatur ............................................................................................................87 1
Roland Imhoff | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_4
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Roland Imhoff
Einführung
Wenn man die jüngere Geschichte terroristischer Anschläge und politischer Gewaltakte betrachtet, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass zahlreiche dieser Akte antisemitisch motiviert waren. Auch wenn die Opfer nicht explizit jüdisch waren, steht hinter der Logik der Attentate oft ein Denkmuster, das an Antisemitismus erinnert oder diesen gar reproduziert: ein manichäisches Weltbild, demzufolge man sich erwehren muss gegen die Unterwanderung durch eine übermächtige Verschwörung – von Jüd*innen, Kulturmarxist*innen u. Ä. Im vorliegenden Text möchte ich unterschiedliche Betrachtungsweisen der Judenfeindschaft thematisieren, den verschwörungsideologischen Kern unterschiedlicher Formen des modernen Antisemitismus herausarbeiten und die momentane Befundlage zur Psychologie des Verschwörungsdenkens referieren. Zum Schluss soll kritisch betrachtet werden, wie gut die Evidenz für die Rolle von Verschwörungstheorien in extremistischen Gewaltakten jenseits anekdotischer Befunde ist.
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Vom Antijudaismus zum (sekundären) Antisemitismus
Eine negative Einstellung gegenüber Jüd*innen ist so alt wie die christliche Kirche. In gewisser Hinsicht war das Christentum als aus dem Judentum entstandene Sekte oder Bewegung darauf angewiesen, Gründe zu generieren, warum man nicht mehr jüdisch sein wollte. So wie jedes Neue erklären muss, warum das Alte nicht mehr adäquat ist, mussten auch die Anhänger des als Jude geborenen Jesus von Nazareth eine Abgrenzung vollziehen. Dieser natürliche Umstand kulminierte jedoch in einem christlichen Antijudaismus, der weit über eine bloße Abgrenzung hinausging. Aufgeladen wurde diese ablehnende Haltung mit religiösen Motiven, wie dem Bild der jüdischen Christusmörder, die das Blut christlicher Kinder zur Herstellung ihrer Matzen bräuchten (Diner 1987), oder dem der Hostien schändenden Juden (Browe 1926). Bereits im Mittelalter jedoch gab es antijudaistische Vorwürfe, die den Jüd*innen eine Verschwörung gegen das Christentum aus nicht zwingend religiösen Motiven unterstellten, wie die zahlreichen dokumentierten Vorwürfe der Brunnenvergiftung durch Jüd*innen zur Erklärung grassierender Seuchen (Heil 2002). Dennoch steht die falsche Religion, das falsche Bekenntnis, hier im Vordergrund. Die antijudaistischen Pogrome zu Zeiten der Kreuzzüge stellten Jüd*innen häufig noch vor die Wahl „Taufe oder Tod“ (Trepp 1998), was deutlich impliziert: Es war nicht die Person an sich, sondern ihr falscher Glaube, der verachtet wurde. Getaufte Jüd*innen waren keine mehr. Mitte des 19. Jahrhunderts findet jedoch ein Wandel statt, der sich als Übergang vom Antijudaismus zum Antisemitismus beschreiben lässt. Der Begriff des Antisemitismus wird häufig Wilhelm Marr (1819–1904) und seiner Anti-
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semitenliga zugeschrieben (Lewis 1986), der deutlich machte, dass er nichts gegen die Jüd*innen aufgrund ihrer Religion habe, sondern weil sie als Rasse minderwertig seien (Zimmermann 1987). 2.1
Vom falschen Glauben zum falschen Menschen
Während der Antijudaismus also den Jüd*innen vor allem den Vorwurf macht, falschgläubig zu sein, und damit an religiösen Praktiken und Bekenntnissen ansetzt, die prinzipiell wandelbar sind, argumentiert der Antisemitismus essenzialisierend: Das nicht einfach änderbare So-Sein der Jüd*innen wird zum Problem gemacht. So lange allein die religiöse Praktik Stein des Anstoßes war, konnte man dem Hass durch Assimilation zumindest teilweise entgehen. Diese Option, durch eine Taufe Ausgrenzung und Sonderabgaben zu vermeiden, nehmen ab dem 16. Jahrhundert (also parallel zur jüdischen Aufklärung und v. a. vor Anerkennung der Juden als preußische Staatsbürger) zahlreiche Jüd*innen wahr (Hertz 2010). Diese Konversion bot allerdings auch keinen nachhaltigen Schutz, da sich mit der Moderne auch der moderne Antisemitismus ausbreitete. Dieser sah in den Jüd*innen nicht mehr eine fremde Religion, sondern eine fremde Art von Menschen, eine andere „Rasse“. Eine frühe Avantgarde dieser Entwicklung ist Martin Luther, der in seiner Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ bereits im Jahr 1543 davon Abstand nimmt, die Jüd*innen bekehren zu wollen: Die Bekehrung von Jüd*innen sei ihm zufolge zwecklos, da sie von Grund auf anders seien, nämlich blutdürstig, rachsüchtig und geldgierig. Insbesondere das letztere Stereotyp ist bei Luther bereits prototypisch angelegt: „Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein.“ (Luther 1543)
Vordenker ist Luther auch in dem, was gewissermaßen logisch daraus folgt: Wenn man gemäß diesem Weltbild die Jüd*innen nicht bekehren kann, nicht durch Taufe erlösen oder integrieren kann, bleibt nur der Gewaltexzess und Luthers Forderung, Synagogen niederzubrennen, ihr Eigentum zu konfiszieren und sie der Zwangsarbeit zuzuführen. Luther ist also – und das kann man 500 Jahre nach der Reformation im „Lutherjahr“ nicht oft genug wiederholen – Vorreiter des modernen Antisemitismus und einer der ideologischen Wegbereiter der nationalsozialistischen Judenvernichtung.
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Jude = Zirkulationssphäre
Eine der in diesem Kontext relevantesten Analysen des modernen, im nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm kulminierenden Antisemitismus stammt von Moishe Postone (1986). In seiner Streitschrift „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ (erstmal 1979 im Frankfurter Diskus erschienen) entwickelt er eine Analyse des nationalsozialistischen Antisemitismus, die sich aus dem Marx’schen Fetischbegriff ableitet. Vereinfacht formuliert leiden die Menschen im aufstrebenden Kapitalismus an den Verhältnissen, sind aber unfähig, die Zustände systemisch zu verstehen. Stattdessen wird anhand der Analogie des Doppelcharakters der Ware – als konkretes nützliches Ding (Marx/Engels 1867/1962, S. 87: „Gebrauchswert“) und abstrakte Verkörperung gesellschaftlicher Arbeit („Tauschwert“) – die Welt und kapitalistisch organisierte Gesellschaft aufgespalten in eine ontologisierte gute, natürliche und konkrete Hälfte sowie eine künstliche, schlechte und abstrakte. Das Konkrete, die Produktionssphäre, die körperlich harte Arbeit wird als das Eigene überhöht, während die abstrakte Zirkulationsund Tauschsphäre mit dem Fremden assoziiert wird. Dass die Fremden hier die Juden sind, führt Postone auf die historisch gewachsene Assoziation der Juden mit der Zirkulationssphäre zurück: Aufgrund des bis ins 15. Jahrhundert geltenden Zinsverbots für Christen und gleichzeitig geltenden Zunftverbots für Juden arbeiteten diese überproportional häufig als Pfandleiher, im Zinsgewerbe oder Handel. Als solche traf sie die Wut auf den Handel, ohne sich die Hände schmutzig zu machen (Luther 1543), sie verkörperten das Grundschlechte am Kapitalismus, während körperliche Arbeit geradezu überhöht wurde. Dieses manichäische Weltbild eines guten, hellen Bereichs, der einem tiefschwarzen gegenübersteht, macht Postone nicht nur in der NS-Propaganda und ihrer Rede von schaffendem (konkretem, deutschem) und raffendem (abstraktem, jüdischem) Kapital aus, sondern auch in großen Teilen der Arbeiterbewegung. Der Wortbestandteil „Sozialismus“ in „Nationalsozialismus“ sei insofern kein bloßer rhetorischer Trick, sondern spiegele sich durchaus wider in der Glorifizierung von Arbeit („Arbeit macht frei“) und der Verdammung abstrakter Arbeit, wie sie auch zahlreichen „neuen Linken“ nicht fremd sei. Gerade die Adoption eines nicht minder manichäischen Weltbildes vom schlechten Imperialismus (dem der NS zugeordnet wurde) und guten Arbeitern führe zu einem blinden Fleck bezüglich der Verstrickung der deutschen Arbeiterklasse in das antisemitische Vernichtungsprogramm und lasse „die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer (oder totalitärer) Massenmorde erscheinen oder unerklärbar bleiben“ (Postone 1986). Diese Analyse Postones hat bis heute wenig von ihrer Aktualität eingebüßt, sie bildet die Grundlage für Denkfiguren wie den strukturellen Antisemitismus, also die Charakterisierung einer bestimmten Art personalisierender „Kapitalismuskritik“,
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die Manager und Aktienmärkte dämonisiert, aber an Fabriken und harter Arbeit nichts Schlechtes findet, als Antisemitismus ohne Jüd*innen. 2.3
Ein Post-Holocaust Antisemitismus?
Der Antisemitismus, insbesondere in seiner von Postone analysierten Form, wird in den 1930er Jahren im Nationalsozialismus staatstragende Ideologie und kulminiert schließlich im Vernichtungsprogramm der Nazis. Über sechs Millionen europäische Jüd*innen wurden ermordet, unzählige weitere verfolgt, entrechtet und vertrieben. Auch als sich die Kriegsniederlage bereits abzeichnete, ließ das Deutsche Reich keine Gelegenheit aus, sein Programm des eliminatorischen Antisemitismus in brutale Realität umzusetzen. Nach dem Sieg der Alliierten und der Besatzung Deutschlands kehrten viele geflohene Exilanten zurück nach Deutschland, unter ihnen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die beiden Direktoren des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Im Rahmen dieses Instituts wurde eine bis heute wirkmächtige rhetorische Figur entwickelt: die des sekundären Antisemitismus, heute auch als Post-Holocaust-Antisemitismus bezeichnet. Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist stets die Frage, wie es sein kann, dass Deutsche sich auch nach dem im Holocaust kulminierenden Zivilisationsbruch und der vollständigen Diskreditierung antisemitischer Ideologie immer noch antisemitisch äußern. Peter Schönbach (1961) bemühte hier als Erster den Begriff des „Sekundärantisemitismus“ als Erklärung dafür, wie es sein kann, dass Jugendliche Ende der 1950er Jahren Hakenkreuze und antisemitische Parolen an Hauswände sprühten. Seiner Analyse nach sahen sich eigentlich nicht-antisemitische Jugendliche mit einer Spannung konfrontiert, die aus dem Widerspruch zwischen einer öffentlichen Diskreditierung des Antisemitismus und dem Wissen um die Komplizenschaft der eigenen Eltern am antisemitischen Vernichtungsprogramm gespeist wird. Um die eigenen Eltern und das eigene Bild von ihnen als moralisch integre Personen zu rehabilitieren, sahen sich die Jugendlichen gewissermaßen gezwungen, den Antisemitismus ihrer Eltern (sekundär) wiederaufzuwärmen, um eine plausible Erklärung für deren Verhalten zu generieren. Adorno, dem der Begriff häufig zugeschrieben wird, spricht selbst zwar nicht von sekundärem Antisemitismus, legt aber in seiner Analyse der Äußerungen deutscher Proband*innen im „Gruppenexperiment“ die theoretische Grundlage für das, was später so genannt wird. Im Frankfurter Gruppenexperiment wurde als initialer Reiz ein vorgeblicher Brief eines in Deutschland stationierten GI’s gesetzt, von dem aus sich dann eine offene Diskussion von aus der deutschen Bevölkerung rekrutierten Gruppen entspann. In seiner qualitativen Analyse der Diskussionsprotokolle entwickelt Adorno (1975) die Theorie der Schuldabwehr. Angeleitet durch psychodynamische Vorstellungen vertritt er die These, dass die
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meisten Deutschen – zumindest latent – Schuld empfinden für die Mittäterschaft an den Naziverbrechen und/oder die unterlassene Hilfeleistung gegenüber ihren jüdischen Mitbürger*innen (Adorno 1975, S. 149). Diese Schuld werde aber nur von den wenigsten eingestanden und ausgesprochen, dagegen von der Mehrheit abgewehrt. Die genauen Formen dieser Abwehr der nicht eingestandenen verdrängten latenten Schuld sind mannigfaltig: eine Verschiebung der Schuld auf das Ausland (Schmachfrieden von Versailles, unterlassenes Eingreifen gegen Hitler), Relativierung durch Verbrechen der anderen („Aufmachen von Schuldkonten“: Bombenkrieg gegen Deutschland, Lynchen von Afroamerikanern, Misshandlung deutscher Kriegsgefangener), Relativierung antisemitischer Verbrechen (Zahl der Opfer übertrieben), Identifikation von jüdischer „Schuld“ (Jüd*innen als rachsüchtig, displaced persons als Kriminelle) und vor allem die Forderung nach einem Schlussstrich, dem großen Konkurs, in dem alle Konten beglichen sind. Zentral an dieser Denkfigur ist, dass es erst die (latenten) Schuldgefühle an den Verbrechen gegen die europäischen Jüd*innen sind, die den Triebmotor dieser Abwehr darstellen. Adorno begründet damit einen bis heute diskutierten Antisemitismus „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (Broder 1988). Diese Form eines spezifischen Post-Holocaust-Antisemitismus findet sich nicht nur in Bonmots wie jenem, das dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex zugeschrieben wird: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“, sondern in nahezu allen ernsthaften Auseinandersetzungen mit Antisemitismus. Zeitgenössische Konzeptionen identifizieren einen solchen spezifisch sekundären Antisemitismus in Äußerungen, die den Holocaust leugnen, die deutsche Schuld relativieren, indem sie Jüd*innen als Täter*innen darstellen (Hohmann-Affäre um die „Tätervolk“-Rede) oder Deutsche vor allem als Opfer („Bombenholocaust“) deklarieren, sowie in der Charakterisierung von Reparationsforderungen als unlauterer Bereicherung („Holocaust-Industrie“) und in Forderungen nach einem Schlussstrich (Bergmann 2006). Die quantitative Forschung zum Phänomen des sekundären Antisemitismus hat sich dabei vorrangig der Methode bedient, sekundär antisemitische Aussagen in Fragebögen vorzugeben und die Zustimmung hierzu zu erfassen. So finden sich Versuche, sekundären von primärem Antisemitismus auf semantischer Ebene durch unterschiedlich formulierte Aussagesätze zu trennen (z. B. Bilewicz et al. 2013; Frindte/Wettig/Wammetsberger 2005). Wenn man allerdings die gleichen Personen ihre Zustimmung zu sekundär antisemitischen Aussagen (z. B. „Die Juden sollten aufhören, sich ständig darüber zu beschweren, was ihnen in NaziDeutschland widerfahren ist.“), wie auch zu klassischen, „primär“ antisemitischen Aussagen (z. B. „Juden sorgen mit ihren Ideen immer für Unfrieden“) angeben lässt, so zeigt sich eine (für nicht perfekte Reliabilität minderungs-
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korrigierte) Korrelation von r = .83 zwischen den beiden Facetten (Imhoff 2010). 2 Es besteht also eine nahezu perfekte Proportionalität zwischen der Zustimmung zu sekundär antisemitischen und klassisch antisemitischen Aussagen oder anders ausdrückt: Diejenigen, die sich sekundär antisemitisch äußern, sind dieselben, die auch einen herkömmlichen Antisemitismus vertreten. Sekundärer Antisemitismus als Semantik scheint also sozialwissenschaftlich keine Varianz zu erfassen, die sich nicht auch mit einem unverhohlen klassischen Antisemitismus beschreiben ließe. Einen anderen empirischen Zugang liefert die Idee, sekundären Antisemitismus weniger als Semantik denn als Prozess zu begreifen. Sekundär antisemitisch wäre es nach dieser Herangehensweise, wenn die Erinnerung an die deutschen Verbrechen dazu führt, dass Jüd*innen in der Folge abgewertet werden. Um dies zu überprüfen, wurden Studierende gebeten, eine (aus primären und sekundären Formulierungen zusammengesetzte) Antisemitismus-Skala auszufüllen (Imhoff/ Banse 2009). Ungefähr drei Monate später wurden sie dann eingeladen, an einem Laborexperiment teilzunehmen, in dem jede*r Teilnehmer*in einer von vier möglichen experimentellen Bedingungen zugeteilt wurde, die sich aus der Manipulation zweier Faktoren ergeben. Alle Proband*innen lasen einen Text über Vernichtungslager der Nazis, aber in der einen Variante endete der Text mit der Feststellung, dass diese Verbrechen glücklicherweise nun schon 70 Jahre vorbei seien und die meisten der heute lebenden Jüd*innen den Horror des Holocaust nicht mehr haben miterleben müssen. In der anderen Bedingung wurde darauf hingewiesen, dass auch heute noch Überlebende schreiend aus ihren Albträumen aufwachen und viele von ihnen ihre Traumata im Sinne einer sekundären Traumatisierung an ihre Kinder weitergegeben hätten, sodass der Schrecken des Holocaust immer noch allgegenwärtig sei. Die Annahme hier war, dass der im sekundären Antisemitismus zentrale Aspekt der ausgelösten latenten Schuld, der Funktion Überlebender als „Zeuge und Vorwurf zugleich“ (Broder 1988), in der zweiten Variante stärker realisiert sei. Gleichzeitig, so die Begründung für die zweite Manipulation, ist es nicht nur tabuisiert, sich antisemitisch zu äußern, sondern ein gut etablierter psychologischer Befund, dass Menschen besonders zurückhaltend sind, auf Leiden anderer negativ zu reagieren. Das könnte einen Konflikt auslösen zwischen dem latenten antisemitischen Groll und der Wahrnehmung, dass es hier sozial adäquat und 2
In anderen Datensätzen fällt dies mit minderungskorrigierten Korrelation von r = .60 (Bilewicz et al. 2013; Studie 2), r = .71 (Frindte et al. 2005; Studie 1) oder r = .61 (Frindte et al. 2005) weniger prägnant aus, aber hier muss beachtet werden, dass die Messungen der jeweiligen Formen des Antisemitismus auf wenige Items und damit auf einen weniger breiten Bedeutungshorizont beschränkt waren, das latente Konstrukt also weniger in seiner ganzen Breite abbilden kann. Dessen unbesehen stellt sich auch bei Korrelation bis zu .70 die Frage der inkrementellen Validität einer getrennten Betrachtung.
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geboten scheint, sich besonders positiv und wenig antisemitisch gegenüber den bis heute leidenden Opfern zu zeigen. Dies ist auch genau das, was sich in der Kontrollgruppe zeigte, die einfach nur den Text las: Verglichen mit ihren Angaben drei Monate zuvor äußerten sich diejenigen Teilnehmer*innen weniger antisemitisch, die vom andauernden Leiden der Opfer gelesen hatten. In einer anderen Bedingung jedoch wurde das in der Sozialpsychologie gut bekannte Phänomen sozial erwünschten Antwortens ausgeschaltet, indem die Teilnehmenden an Kopf und Händen verkabelt wurden mit dem Hinweis, dass es diese Apparatur erlaube, unwahrheitsgemäße Antworten zu erkennen (eine sogenannte bogus pipeline). Die eigenen Einstellungen zu schönen und sich positiver gegenüber Jüd*innen zu äußern als dies sonst der Fall wäre, sei nun zwecklos: Der Untersucher würde nicht nur merken, dass dies nicht der Wahrheit entspreche, er würde zudem registrieren, dass gelogen würde – gewissermaßen ein doppelter Verstoß gegen soziale Normen. Entsprechend führte der Fokus auf anhaltendes Leiden in dieser Bedingung dazu, dass antisemitischen Aussagen stärker zugestimmt wurde als drei Monate zuvor. Dieser experimentelle Nachweis einer prozessualen Interpretation des sekundären Antisemitismus muss jedoch mit beinahe zehn Jahren Abstand mit Vorsicht gedeutet werden. Die zitierte Studie war ein unikales Experiment, das zwar das vorhergesagte Muster zeigt, jedoch nach den sich in der Zwischenzeit rapide geänderten heutigen Standards anhand einer viel zu kleinen Stichprobe durchgeführt wurde. Zusätzlich blieben mehrere Versuche, die Befunde direkt oder konzeptionell zu replizieren, also mit einem ähnlichen Aufbau erneut zu erheben, erfolglos (für einen Überblick über diese Non-Replikationen siehe Imhoff/ Messer 2019). In der Gesamtschau muss daher festgestellt werden, dass es für den sekundären Antisemitismus weder als Semantik noch als Prozess eine überzeugende Evidenz im Sinne distinkter Formen des Antisemitismus gibt. Eine sparsamere Erklärung: antisemitische Kontinuitäten So bleibt zu konstatieren, dass – selbst wenn es den sekundären Antisemitismus als Schuldabwehrreflex gibt – dieser zumindest experimentell nicht nachweisbar zu sein scheint. Tatsächlich ließe sich ketzerisch fragen, ob bereits die ursprüngliche Annahme Adornos überhaupt die sparsamst mögliche Form war, sich das Verhalten und die Äußerungen der deutschen Teilnehmer*innen zu erklären. Adornos Logik ist, dass es die Schuld sein muss, welche die Deutschen plagt und die sie – psychodynamisch gedacht – abwehren müssen, wenn es Hinweise auf die Existenz eines Antisemitismus trotz des Wissens um den Holocaust gibt. Eine alternative Erklärung zu dieser Abwehr latenter Schuld liefert Adorno jedoch auch, indem er einen Prozess beschreibt, den Psycholog*innen als „ingroup defense“ bezeichnen würden:
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„Der Gedanke von der verdrängten Schuld darf nicht zu eng im psychoanalytischen Sinn genommen werden […] es handelt sich meist um den Versuch, die eigene überwertige Identifikation mit dem Kollektiv, zu dem man gehört, in Übereinstimmung zu bringen mit dem Wissen vom Frevel: man leugnet oder verkleinert ihn, um nicht jener Identifikation verlustig zu gehen, welche es Unzähligen psychologisch allein erlaubt, über das unerträgliche Gefühl der eigenen Ohnmacht hinwegzukommen.“ (Adorno 1975, S. 150).
Hier geht es also nicht um die Verdrängung und Projektion latenter Schuld, sondern darum, ein positives Bild der eigenen Nation zu verteidigen. Unabhängig von der Erklärung bleibt jedoch die inhärente Logik, der Antisemitismus entstehe aus einer spezifischen Reaktion auf die Tatsache des Holocaust. Eine sehr viel sparsamere Erklärung könnte sein, dass die Deutschen tatsächlich den Antisemitismus der NS-Ideologie internalisiert und getragen, aber auch genährt und gefordert haben (Goldhagen 1996) und eben nicht über Nacht auf einmal wieder loswurden. Die NSDAP wurde zur stärksten Partei, weil für die Mehrzahl der Deutschen ihre antisemitische Rhetorik nicht abschreckend, sondern ansprechend war. Dieses weitverbreitete Einverständnis mit einem antisemitischen Weltbild war nach dem Krieg nicht plötzlich verschwunden, sondern blieb mit großer Wahrscheinlichkeit in den Köpfen der meisten Menschen erhalten. Antisemitische Äußerungen in den 1950er Jahren könnten – vorsichtig formuliert – ein Hinweis auf Kontinuitäten sein, die mentale Umwege über eine verdrängte latente Schuld und deren Projektion entbehrlich machen.
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Verschwörungsideologie als Konstante im Antisemitismus
Der sekundäre Antisemitismus ist nicht die einzige Variante „moderner“ Spielarten des Antisemitismus. So gibt es neben dem „sekundären“ auch den „israelbasierten“ Antisemitismus sowie einen „separatistischen“ und einige weitere. Auch wenn diese unterschiedlichen Bezeichnungen eine gewisse Distinktheit suggerieren, so lässt sich mit Werner Bergmann (2001) konstatieren, dass alle diese Spielarten mehrere historische Schichten besitzen, „wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht ‚vergessen‘, sondern nur von neuen überlagert wurden“ (Bergmann 2011, S. 1). Bei Lichte betrachtet haben die unterschiedlichen Äußerungsformen antisemitischer Ideologie einen gemeinsamen Kern: Jüd*innen werden als mächtig und einflussreich (bis hin zur Halluzination eines weltumspannenden Einflusses einer jüdischen Lobby) imaginiert. Dieses Weltbild ist in den Protokollen der Weisen von Zion angelegt und in der Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die hinter Kommunismus, Französischer Revolution und Kapitalismus stecke (wie dies die palästinensische Hamas in ihrer Gründungscharta „erklärt“). Im Jahr 2002 zeigten sich 28 % der befragten Deutschen
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einverstanden mit der Aussage, dass der Einfluss der Jüd*innen zu groß sei (Niedermayer/Brähler 2002). Doch auch klassische Topoi des sekundären Antisemitismus sind aufgeladen mit dieser Rhetorik: Jüd*innen sind hier Hüter der Erinnerung, die die Macht haben, den Deutschen auch heute noch den Nationalsozialismus in die Lehrpläne und das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu diktieren und so die „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Walser 1998) zu gewährleisten. Sie operieren mit findigen Anwälten von der amerikanischen Ostküste, um Reparationszahlungen durchzusetzen, die gar nicht den eigentlichen Opfern, sondern nur gierigen Anwälten zugutekommen, sie betreiben eine regelrechte „Holocaust-Industrie“ (Finkelstein 2001). Und schließlich – so ein regelmäßig wiedergekäuter Satz des „Antizionismus“ – ist Israel die größte Bedrohung für den Weltfrieden: ein so kleines Land mit so unfassbarer Macht. Die Sicht von Jüd*innen als mächtig und einflussreich ist dabei beileibe kein deutsches Spezifikum. Ein einflussreiches sozialpsychologisches Modell zentraler Stereotypinhalte (Fiske et al. 2002; zur Kritik siehe Koch et al. 2016) geht davon aus, dass Menschen soziale Kategorien in zwei unabhängigen Dimensionen bewerten: Wärme/Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz/Status. Jüd*innen werden hier sowohl von studentischen als auch nicht-studentischen USAmerikanerinnen stets der Kategorie der kalten, aber kompetenten, statushohen Gruppen (wie z. B. auch Reiche oder Geschäftsfrauen) zugeordnet. Genauso wenig ist es eine Besonderheit, dass vermeintlich mächtigen Gruppen gegenüber Argwohn und Vorurteile herrschen, die die Form von Verschwörungstheorien annehmen können (Imhoff/Lamberty 2020). In mehreren Untersuchungen zeigt sich, dass der allgemeine Glaube an Verschwörungstheorien (auch wenn keine konkrete Gruppe benannt wird) zusammenhängt mit negativen Vorurteilen gegenüber als mächtig wahrgenommenen Gruppen (auch wenn in dieser Abfrage keine Verschwörung impliziert wird) (Imhoff/Bruder 2014). Die Zustimmung zu Aussagen wie „Ein paar mächtige Personengruppen bestimmen über das Schicksal von Millionen von Menschen“ korreliert also zum Beispiel positiv mit der Behauptung, dass Jüd*innen bedrohlich seien. Aber was ist das, eine „verschwörungstheoretische Weltsicht“ oder eine Verschwörungsmentalität? Karl Popper beschrieb die Verschwörungstheorie der Gesellschaft als die falsche Ansicht, dass alles, was sich in einer Gesellschaft ereigne, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen sei (Popper 1966). Und tatsächlich ist es so, dass trotz der Tatsache, dass Verschwörungstheorien in äußerst zahlreichen Farben und Formen zu allen möglichen Ereignissen existieren (zu Attentaten, 9/11, Impfschäden, Aliens, dem Vatikan oder verschwundenen Flugzeugen), die Zustimmung zu ihnen einer generalisierten Neigung folgt, entweder Verschwörungstheorien per se für plausibel zu halten oder eben nicht. Deswegen korreliert die Zustimmung zu jedweder Verschwörungstheorie positiv mit der Zustimmung zu jedweder anderen, auch wenn diese sich
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logisch widersprechen (Wood/Douglas/Sutton 2012), und – statistisch betrachtet – folgt die Zustimmung zu über 30 verschiedenen Verschwörungstheorien aus nur einem zugrundeliegenden Faktor (Bruder et al. 2013). Am Beispiel der jüdischen Weltverschwörung lässt sich das ausbuchstabieren: Eine Re-Analyse der Daten von Bruder et al. (2013) zeigt, dass die Zustimmung zur Aussage „Ich glaube, das internationale Bankensystem wird von Juden kontrolliert“ positiv korreliert mit der Zustimmung zu jeder einzelnen weiteren Verschwörungstheorie – vom angeblich niemals auf dem Mond gewesenen Apollo-Programm der USA (r = .44), über den Tod von Lady Di (r = .49), bis hin zu der gezielten Erfindung von HIV in geheimen Laboren (r = .49). Es gibt also eine kohärente Weltsicht, die die Ursache hinter den Dingen in den Geschicken einzelner kleiner Gruppen sucht, seien es Jüd*innen, Geheimdienste, Freimaurer oder Konzerne. Die dieser Weltsicht zugrunde liegende Haltung nennen wir „Verschwörungsmentalität“ (Imhoff/Bruder 2014). Diese Verschwörungsmentalität liefert gegebenenfalls auch eine Möglichkeit, sich den Annahmen Postones empirisch anzunähern. Postone beschreibt eine manichäische Weltsicht, die Gut und Böse in Schwarz und Weiß unterteilt und den Jüd*innen alles Schlechte am Kapitalismus zuschreibt als Triebfeder des modernen Antisemitismus. Ausgehend von dieser Annahme lässt sich fragen, ob Antisemitismus und eine personalisierende Kapitalismuskritik, ein Schimpfen auf Manager und Zirkulation bei gleichzeitiger Akzeptanz von Arbeit und Fabrikation, positiv zusammenhängen. Und weiter: Hängt beides positiv zusammen mit der manichäischen Weltsicht einer Verschwörungsmentalität? Und schließlich: Lässt sich diese Verschwörungsmentalität als der gemeinsame Nenner zwischen beiden beschreiben, als der Kitt, der diese beiden Elemente „zusammenhält“? Tatsächlich zeigen Daten (einer unveröffentlichten Studie), dass personalisierende Kapitalismuskritik und Antisemitismus positiv korrelieren, eben wie beide deutlich mit der Verschwörungsmentalität zusammenhängen. Kontrolliert man nun aber statistisch für Verschwörungsmentalität (im Sinne von Partialkorrelationen), gibt es keinen statistisch bedeutsamen Zusammenhang mehr zwischen Antisemitismus und personalisierendem Antikapitalismus (Abb. 1a). Die Verschwörungsmentalität ist also der gemeinsame Nenner der beiden. Ein identisches Muster ergibt sich bei der Re-Analyse bereits publizierter Daten (Imhoff/Bruder 2014, Studie 2), jedoch mit einer bemerkenswerten weiteren Nuance: Der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Islamophobie (Imhoff/Recker 2013) bricht nicht zusammen, wenn man für Verschwörungsmentalität kontrolliert (Abb. 1b), diese ist also hier nicht der gemeinsame Nenner. Stattdessen – so kann man vermuten – sind es Elemente eines rechtsgerichteten Autoritarismus (also der Abwertung von Devianz und Andersartigkeit) oder der sozialen Dominanzorientierung (also des Insistierens auf Ungleichheit und Ungleichwertigkeit), die hier die Gemeinsamkeit bilden.
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Abb. 1: Zusammenbruch des Zusammenhangs zwischen Antisemitismus und personalisiertem Antikapitalismus bei statistischer Kontrolle (Partialkorrelation) für Verschwörungsmentalität in a) unveröffentlichter Studie und b) Re-Analyse der Studie 2 aus Imhoff/Bruder 2014. Rote Ziffern beschreiben die Reliabilität der jeweiligen Skalen (Cronbach’s Alpha), schwarze die Korrelationen bzw. Partialkorrelationen. ** p < .01, * p < .05
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Psychologische Befunde zur verschwörungstheoretischen Weltsicht
Die Weltsicht, dass kleine Gruppen im Geheimen die Geschicke der Welt zu ihrem Vorteil (und dem Nachteil aller anderen) lenken, ist also eng verzahnt mit Antisemitismus, personalisierender Kapitalismuskritik und generell negativen Asso-
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ziation mit Gruppen, die als mächtig wahrgenommen werden (Imhoff/Bruder 2014). Die psychologische Forschung zum Verschwörungsglauben hat in den letzten Jahren ausgehend von einzelnen Befunden rasant an Fahrt aufgenommen und mittlerweile ein recht weitgehendes Verständnis entwickelt, das sich der Einfachheit halber in ein Wissen um Antezedenzien und Konsequenzen dieses Glaubens unterteilen lässt. 4.1
Antezedenzien vom Verschwörungsglauben
Die Frage nach Vorläufern oder Prädiktoren des Glaubens an Verschwörungstheorien lässt sich auf zwei Arten und Weisen stellen. Einerseits ist es die nach kognitiven Verzerrungen oder sonstigen Auffälligkeiten, die dazu prädisponieren, Verschwörungstheorien eher für plausibel zu halten. Diesem Defizitmodell gegenüberstellen lässt sich allerdings auch die Frage nach der Funktionalität: Was versprechen sich Menschen (mehr oder weniger bewusst) davon, Verschwörungstheorien zu akzeptieren und zu verbreiten? Der erste Zugang, das Defizitmodell, hat bislang erstaunlich wenige konsistente Befunde zutage gefördert. Es gibt keine überzeugende Evidenz dafür, dass Personen, die Verschwörungstheorien glauben, weniger intelligent sind oder anfälliger für Urteilsfehler. Es scheint zwar kleinere Effekte von Bildung (im Sinne weniger ausgeprägter Verschwörungsüberzeugungen mit steigender Bildung) zu geben, die jedoch vermutlich nicht auf Bildung per se, sondern damit assoziierte Kontrollerfahrungen zurückgehen (vgl. unten). Ebenso finden sich Hinweise auf eine andere Auffälligkeit: Die Tendenz, Verschwörungstheorien zuzustimmen, tritt häufig gemeinsam auf mit der Tendenz, Intentionalität und Willen wahrzunehmen, wo es objektiv keinen gibt, wie etwa bei unbelebten Gegenständen (Imhoff/Bruder 2014) oder sich bewegenden geometrischen Formen (Douglas et al. 2016). Diese hyperactive agency detection (Barret/Johnson 2003) wird zumeist jedoch nicht einfach als Irrglaube begriffen, sondern als – in einem umgrenzten Sinne – funktional oder zumindest doch kompensatorisch. Welche Bedürfnisse können also Verschwörungstheorien bedienen, sodass sie als psychologisch funktional gelten, und welche Eigenschaften haben sie, die dies erlauben? Zuerst einmal liefern sie eine Erklärung für bedrohliche Ereignisse und Zusammenhänge, sie liefern Schuldige, deren freier Wille und Intentionen ursächlich dafür sind, dass dieses Ereignis oder dieser Zusammenhang in die Welt kommt. Allgemein sind Menschen danach bestrebt, die Welt erklärbar und vorhersehbar wahrzunehmen. Der Zufall oder Dinge, die zufällig geschehen, unterminieren diese Weltsicht und werden deshalb als unangenehm erlebt oder vermieden. Ereignisse, die ich auf Zufall oder ungünstige Verquickungen zurückführe (z. B. Naturkatastrophen wie ein Tsunami) stehen per definitionem außerhalb meiner Vorhersehbarkeit und damit auch Kontrolle – sie sind bedrohlich. Sobald
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dieses Ereignisse aber auf intentional handelnde Agenten zurückgeführt werden können (z. B. die amerikanischen Geheimdienste haben mit einer HAARPKanone in den Pazifik geschossen), erlangt die oder der so Denkende mentale Kontrolle und Vorhersehbarkeit (zurück), weil sie oder er diesen Plan nun vermeintlich durchschaut. Zusätzlich verspricht diese Erklärung weiteres Kontrollpotenzial: Gegen den Zufall ist der Mensch machtlos, aber Verschwörern kann man – zumindest theoretisch – das Handwerk legen. Ein solcher Mechanismus wird häufig angeführt zur Erklärung, warum es eine anthropologische Konstante zu sein scheint, religiöse Rituale zur Besänftigung mächtiger Götter zu erfinden (Opfergaben, Rituale, Tänze). Wenn Dürre und Knappheit zufällige Ergebnisse unkontrollierbarer klimatischer Prozesse sind, so wird extreme aversive Hilflosigkeit erlebt – man kann nichts dagegen machen. Wenn Dürre und Knappheit aber gottgemacht und gottgewollt sind, so sind sie zumindest partiell kontrollierbar: Erstens gibt es jemanden, die oder der sie kontrolliert (die Göttin oder der Gott), und zweitens kann diese Kontrollinstanz beeinflusst werden (durch Opfergaben, Wohlverhalten etc.). Die Logik im Rahmen solcher Verschwörungstheorien ist ähnlich: Wenn es intentionale Strippenzieher hinter den Kulissen gibt, so kann dieses Ereignis prinzipiell kontrolliert werden und die Ursache kann abgewendet werden. Dieses Rational passt zu den Befunden, dass die Tendenz, Verschwörungstheorien zu akzeptieren, positiv mit der Tendenz korreliert, Intentionalität zu unterstellen, wo es keine gibt. Der größere Teil der in der Literatur berichteten Evidenz stützt sich jedoch auf die Rolle von Kontrolle bzw. Kontrollverlust. Je weniger Kontrolle Menschen verspüren, so die Logik, desto größer ist ihr Bedürfnis, diesen Mangel zu kompensieren, z. B. durch Verschwörungstheorien. Übereinstimmend mit dieser Idee zeigen Experimente, dass die experimentelle Herstellung von Kontrolldeprivation (z. B. durch rein zufällige Rückmeldung über die Korrektheit einer gegebenen Antwort) die Tendenz steigert, Muster in reinem Rauschen zu erkennen und Verschwörungsüberlegungen anzustellen (Whitson/ Galinsky 2008). Nach einer ähnlichen Logik führt die Erinnerung daran, wie wenig Kontrolle man in seinem Leben hat (z. B. durch Fragen danach, wie sehr man das Wetter oder die Gesundheit von engen Freunden kontrollieren kann) dazu, dass in der Folge eher Verschwörungstheorien zugestimmt wird (Sullivan/ Landau/Rothschild 2010). Und schließlich lassen sich auch einige Korrelate mit sozialen Faktoren in dieses Bild einreihen, da soziale Umstände, die strukturell mit weniger Kontrolle einhergehen, häufig assoziiert sind mit stärkerem Verschwörungsglauben: geringe Bildung, befristete Arbeitsverträge oder Arbeitslosigkeit (Imhoff/Decker 2013; Imhoff 2015) sowie Minderheitenstatus (Crocker et al. 1999). Eine Konzentration auf diese Befunde evoziert das Bild eines marginalisierten, kontrolldeprivierten Individuums als Stereotyp des Verschwörungsgläubigen.
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Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit, Verschwörungstheorien können auch eine zweite Funktion erfüllen: Sie sind distinkte, seltene Überzeugungen und verhelfen ihren Anhängern so, ihr Bedürfnis nach Einzigartigkeit zu befriedigen. Sich selbst als einzigartig und nicht nur als Teil einer amorphen, grauen Masse wahrzunehmen, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis (Snyder/Fromkin 1980), das Menschen unter anderem dazu bringen kann, ausgefallene Mode oder Kleidung zu tragen, risikoreiche Unternehmungen zu wagen oder sich der Meinung einer Mehrheit zu verweigern (Imhoff/Erb 2009). Unabhängig voneinander fanden zwei Forscherteams aus Deutschland (Imhoff/Lamberty 2017) und Frankreich (Lantian et al. 2017) heraus, dass individuelle Unterschiede im Bedürfnis danach, einzigartig zu sein, mit einer größeren Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu akzeptieren, korrespondierten, und zwar insbesondere, wenn nur wenige andere Personen diese Verschwörungstheorien glaubhaft fanden (Imhoff/Lamberty 2017, Studie 1). Zusätzlich und in Übereinstimmung mit früheren Befunden zur abschreckenden Wirkung von Mehrheitsmeinungen auf Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Einzigartigkeit zeigt sich in einem Experiment, dass Personen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität eine neue fiktive Verschwörungstheorie überzeugender fanden, wenn diese von lediglich einer kleinen Minderheit von angeblich Befragten für überzeugend gehalten wurde, als wenn eine vorgebliche Mehrheit diese Theorie unterstützte (Imhoff/Lamberty 2017, Studie 3). Verschwörungstheorien können also auch instrumentell sein, um Distinktionsgewinn zu erfahren und sich aus der uniformen Masse herauszuheben, sich selbst als Person zu sehen, die über exklusives Wissen verfügt und die Zusammenhänge durchschaut und nicht wie die blinde Masse der „Schlafschafe“ alles glaubt, was die Medien und Regierenden erzählen. 4.2
Konsequenzen von Verschwörungsmentalität
Die Frage, ob jemand Verschwörungstheorien akzeptiert oder verbreitet, wäre weitestgehend irrelevant, wenn es nicht Hinweise gäbe, dass diese Überzeugungen auch eine eigene Relevanz entwickeln. Mit dem Jahr 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2019) die Impfskepsis als eine der zehn bedeutendsten Bedrohungen für die Weltgesundheit eingeschätzt. Angeblich verschleierte negative Auswirkungen von Impfungen sind nicht nur ein wiederkehrendes Sujet von Verschwörungstheorien, sondern der Glaube an Verschwörungstheorien ist negativ mit der Bereitschaft, sich impfen zu lassen, assoziiert (Hornsey/Harris/ Fielding 2018; Jolley/Douglas 2014 a), vermutlich weil das biomedizinische Krankheitsmodell als dominant und (über-)mächtig wahrgenommen wird („Big Pharma“, Lamberty/Imhoff 2018). Die Domäne der gesundheitsbezogenen Entscheidungen ist jedoch nicht die einzige gesellschaftlich relevante Sphäre, in der die Verschwörungsmentalität
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eine Rolle spielt. Eine andere ist das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Wissensquellen. Nicht erst seit der Debatte um die Anfälligkeit sozialer Netzwerke für gezielte Falschmeldungen ist klar, dass sich mit der Verbreitung neuer Informationskanäle auch das Informationsangebot diversifiziert. War man in Zeiten des „Rundfunks“ gewöhnt, dass es einen verbindlichen Nachrichtenkonsensus gab (die Tagesschau), so ist es eines der Kernmerkmale neuer, „sozialer“ Medien, dass die Trennung in Sender und Empfänger aufgeweicht ist und theoretisch jede*r Nachrichten verbreiten kann. Das stellt Rezipient*innen vor die Aufgabe, zu entscheiden, welche mögliche Version sie für besonders glaubwürdig halten. Ausgehend von der Konzeptualisierung von Verschwörungsmentalität als generalisiertes Misstrauen gegenüber Mächtigen, zeigte sich in vier Studien, dass eine Botschaft (hier: eine Position in einem „Historikerstreit“) von einer vermeintlich mächtigen Quelle (renommierter Historiker*innen in internationalen Kommissionen) als umso weniger glaubwürdig eingeschätzt wird, je mehr die Befragten ein verschwörungstheoretisches Weltbild hatten. Umgekehrt stieg die eingeschätzte Glaubwürdigkeit der identischen Botschaft mit Verschwörungsmentalität, wenn die Quelle eine machtlose Quelle (ein Hobbyhistoriker) war (Imhoff/Lamberty/ Klein 2018). Ein Aspekt dieser letztgenannten Studie verdient jedoch besondere Aufmerksamkeit. In keinem der vier Experimente war es so, dass die Proband*innen mit geringer Verschwörungsmentalität sich nicht von der Quelle beeinflussen ließen und mit steigender Verschwörungsmentalität eine Verzerrung zugunsten der machtlosen Quellen zunahm. Es war tatsächlich ganz im Gegenteil so, dass insbesondere diejenigen mit geringer Verschwörungsmentalität die stärkste Verzerrung, allerdings zugunsten der mächtigen Gruppe, aufwiesen. Mit steigender Zustimmung zu einer verschwörungstheoretischen Weltsicht verringerte sich dieser Einfluss der Quelle bis zu dem Punkt, dass maximal Verschwörungsgläubige keinerlei Unterschied mehr machten: Was die Hobbyhistoriker*innen sagten, war genauso glaubwürdig, wie das, was die professionellen Historiker*innen sagten. Da es sich objektiv um die gleiche Aussage handelte (da experimentell variiert war, welche Quelle welche Position vertrat), wirkt dies auf den ersten Blick wie die rationalere Herangehensweise. Und tatsächlich gilt das stärkere Vertrauen in eine Botschaft aufgrund der Quelle dieser Botschaft in der Psychologie als kognitive Verzerrung (bias), als Voreingenommenheit, als Fehler. Tatsächlich jedoch braucht es solch ein Vertrauen auf bestimmte Quellen, um sich überhaupt orientieren zu können. Die allerwenigsten Informationen stammen aus persönlicher Erfahrung, aus erster Hand, sondern jedes Wissen über die Welt, die Politik oder den Klimawandel ist vermittelt. Eine funktionierende Gesellschaft verlangt es einfach, dass die Behauptungen von manchen Akteur*innen (z. B. Wissenschaftler*innen, Qualitätsmedien) stärker gewichtet werden als die von anderen (z. B. ein privater Blog oder ein Beitrag auf YouTube). Wir haben dies den „epistemischen Gesellschaftsvertrag“ genannt (Imhoff/Lamberty/Klein 2018). Verschwö-
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rungstheoretiker ihrerseits hingegen scheinen diesen Vertrag aufgekündigt zu haben, für sie sind alle Informationen gleichwertig – egal ob es ein Post auf Facebook oder eine Erklärung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist. Eine solche einseitige Aufkündigung gesellschaftlicher Übereinkünfte liefert auch Anlass zur Spekulation, ob eine verschwörungstheoretische Weltsicht und Abkapselung nicht gegebenenfalls viel weitreichendere Folgen haben kann, nämlich die, politische Gewalt zu befördern.
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Verschwörungsmentalität und politische Gewalt
Für einige Zeit war es ein offener Disput, ob Verschwörungstheorien politische Aktivität eher lähmen und zu politischer Apathie führen oder ob sie nicht vielmehr Motoren des Veränderungswillens sind (Imhoff/Lamberty 2018). Einige Studien zeigen, dass zum Beispiel die Konfrontation mit der Theorie, dass der Klimawandel eine Propagandalüge sei, die Motivation reduzieren kann, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu minimieren (Jolley/Douglas 2014 b). Dies ist insofern nicht weiter erstaunlich, als dass hier die Notwendigkeit der Veränderung durch die Verschwörungstheorie unterminiert wird – wenn es keinen Klimawandel gibt, muss man auch nicht den Ausstoß von „klimaschädlichen“ Gasen reduzieren. Anders verhält es sich bei einer weiteren Studie aus dem gleichen Artikel, in dem die Behauptung, dass die britische Regierung in den Tod von Prinzessin Diana verstrickt war, zu einer allgemeinen Reduktion der Absichten führte, sich politisch zu engagieren. Bei genauerer Betrachtung der Art und Weise, wie „politisches Engagement“ hier erfasst wurde, stellen sich jedoch ähnliche Zweifel ein: Konkret wird hier gefragt nach der Bereitschaft, bei der nächsten Wahl seine Stimme abzugeben oder einer politischen Partei bzw. einem Kandidaten Geld zu spenden. Auch hier ließe sich argumentieren, dass die Verschwörungstheorie (die eigene Regierung steckt hinter einem Attentat) und das politische Engagement (Unterstützung der Wahl der britischen Regierung) zu eng beieinanderliegen, um nicht ähnlich tautologisch zu sein wie das Beispiel mit dem Klimawandel. Dieses Problem erscheint umso prävalenter, als dass eine erhebliche Spannung besteht zu anderen Befunden in der Literatur, die zeigen, dass die generelle – nicht phänomenspezifische – Verschwörungsmentalität positiv assoziiert ist mit der Bereitschaft, den Status quo zu ändern (Imhoff/Lamberty 2018) und gegen Atomkraft zu protestieren (Imhoff/Bruder 2014). Auch andere Ergebnisse, wie die eines positiven Zusammenhangs zwischen der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und der Unterstützung von demokratischen Prinzipien (Swami et al. 2011), scheinen nur schwer vereinbar mit der Annahme politischer Apathie. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen vermeintlichen Widerspruch in der Literatur aufzulösen. Die eine besteht darin, keinen linearen Zusammenhang
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zwischen Verschwörungsglauben und politischem Engagement anzunehmen, sondern einen kurvilinearen. Konkret könnten Personen, die keinerlei Argwohn gegenüber „den Mächtigen“ hegen, schlicht keinen Grund sehen, sich politisch zu engagieren, weil alles gut ist, wie es ist. Personen hingegen, die eine maximal verschwörungstheoretische Weltsicht haben, könnten kapitulieren vor der Allmacht der „Strippenzieher“. Wenn ohnehin alles hinter den Kulissen entschieden wird, verspricht es nur wenig Erfolg, zu wählen (weil Marionetten zur Wahl stehen) oder zu protestieren (weil das die Entscheider in den Hinterzimmern nicht tangiert). Nach dieser Logik sollte die Bereitschaft, sich für die Veränderung des politischen Status quo einzusetzen, maximal sein bei Personen, die einen mittleren Grad an Verschwörungsglauben aufweisen – ein Zusammenhang, der übersehen werden könnte, weil Psycholog*innen häufig nur lineare Zusammenhänge überprüfen (Imhoff/Koch 2017). Diese Hypothese eines umgekehrt U-förmigen Zusammenhangs lässt sich tatsächlich experimentell nachweisen (Imhoff/Dieterle/Lamberty 2020), allerdings zeigen diese Studien auch eine weitere Nuance. Wenn man die Art des politischen Engagements unterteilt in klar normative (z. B. wählen, kandidieren, Petitionen, angemeldete Demonstrationen) und non-normative Aktionen (z. B. Attentate, Verbreitung von Falschmeldungen, Vandalismus, Drohen im Internet), ergibt sich ein noch differenzierteres Bild. Mit zunehmender Verschwörungsmentalität sinkt die Bereitschaft, sich auf normative Art und Weise zu engagieren – vermeintlich deshalb, weil es ohnehin „nichts bringt“. Gleichzeitig steigt jedoch mit zunehmender Verschwörungsmentalität die Bereitschaft, sich an non-normativen, illegalen und gewalttätigen Aktionen zu beteiligen. Einerseits, weil das korrupte System einem keine andere Wahl lässt, andererseits, weil sich ja auch die Verschwörer*innen nicht an demokratische Regeln halten – warum sollte man selbst dies also tun? Diese Nähe von extremer Verschwörungsmentalität und gewalttätigem Eintreten für die eigenen Ziele ist auch dokumentiert in der Tatsache, dass die überwiegende Anzahl terroristischer Organisationen auf Verschwörungstheorien rekurriert (Bartlett/Miller 2010). Dies scheint die eigentliche Gefahr zu sein – da, wo gesellschaftliche Übereinkünfte aufgekündigt werden, weil die Gesellschaft eben nicht mehr als Gesellschaft, sondern Maskerade zur Verschleierung von Verschwörungen der „Mächtigen“ wahrgenommen wird, ist es nur ein kleiner Schritt, Regeln und Gesetze nicht mehr für verbindlich zu halten, weil sie ja von ebendiesen korrupten Marionetten – vermeintlich zur Wahrung ihrer eigenen Position – gemacht wurden. Die Ideologie der Reichsbürgerbewegung in Deutschland ist ein Paradebeispiel für solch eine Entwicklung: Dort werden nicht nur spezifische Gesetze, sondern die komplette Verfasstheit der staatlichen Ordnung als illegitim und damit non-existent erachtet (Rathje 2018). Die BRD gibt es nicht, Deutschland wird von fremden Mächten beherrscht und jede Form von Widerstand ist daher legitim.
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Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren und Gegenstrategien Kurt Möller 1
Keywords: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF), Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen (PAKOs), KISSeS-Strategie
Abstract Der Beitrag umreißt und erörtert wissenschaftliche Konzepte, mit denen demokratiewidrige Positionen pauschaler Ablehnungen von Menschengruppierungen, Weltanschauungen, Religionen und Lebensstilen erfasst und empirisch untersucht werden. Er stellt zentrale Befunde dieser Forschungen vor und benennt die wichtigsten Begünstigungsfaktoren für die Entstehung und Entwicklung entsprechender Orientierungen und Aktivitäten. Als Schlussfolgerung werden aus den Darlegungen Strategien zur Bearbeitung der mit Pauschablehnungen verbundenen Problematiken abgeleitet.
Inhalt 1 Einführung...................................................................................................92 2 Pauschalablehnungen – Konzepte und ihre zentralen Befunde ...................92 3 Pauschalablehnungen – Begünstigungsfaktoren........................................ 110 4 Was tun? – Gegenstrategien ...................................................................... 113 Literatur .......................................................................................................... 115
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Kurt Möller | Hochschule Esslingen | [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_5
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Einführung
Im Zuge problematischer gesellschaftlicher Entwicklungen innerhalb der letzten drei Jahrzehnte – etwa des Wiedererstarkens des Rechtsextremismus, der Häufung antisemitischer Vorfälle, der Verbreitung antimuslimischer Tendenzen, mehr oder minder populistischer Ab- und Ausgrenzungsbestrebungen gegenüber Minderheiten wie etwa Geflüchteten und gewaltförmiger Übergriffe auf sie sowie auf ihre Unterkünfte – wird (nicht nur) in Deutschland zunehmend öffentlich und wissenschaftlich darüber diskutiert, wie die offensichtlich hinter solchen Entwicklungen stehenden pauschalen Ablehnungshaltungen zu verstehen und zu erfassen sind, welche Ausmaße und welche Konturen sie in Deutschland haben, wie sich ihre Existenz erklären lässt und was gegen sie zu unternehmen ist. Der vorliegende Beitrag geht den damit angesprochenen Fragestellungen nach, indem er in einem ersten Schritt mit zwei sozialwissenschaftlichen Konzepten bekannt macht, die in unterschiedlicher, aber teilweise durchaus komplementärer Weise ein Verständnis einschlägiger Phänomene anbieten. Es handelt sich um die Konzepte der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) und der Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs). Es werden mit Bezug auf diese beiden Konzepte die wichtigsten quantitativen und qualitativen empirischen Befunde zur Verbreitung und zur Beschaffenheit pauschaler Ablehnungshaltungen präsentiert. Im Anschluss daran erfolgen in einem zweiten Schritt in gebotener Kürze Verweise auf diejenigen Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung solcher Haltungen gesellschaftlich und biografisch begünstigen. Ein dritter Schritt skizziert abschließend knapp auf der Basis der vorangegangenen Darlegungen und als deren Konsequenz Gegenstrategien, die aussichtsreich erscheinen.
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Pauschalablehnungen – Konzepte und ihre zentralen Befunde
Ablehnungen bis hin zu menschenverachtenden Einstellungen, Ausgrenzungsbestrebungen, Diskriminierungen und Gewaltakzeptanz – wie lassen sich Phänomene wie diese eigentlich begreifen? Wie können sie definiert werden? Und auf welche Weise lassen sie sich dann empirisch erfassen? Welche Befunde fördern themenbezogene Untersuchungen zutage? Im Folgenden werden zwei Konzepte vorgestellt, die auf diese Fragen Antworten bereithalten.
Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren …
2.1
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Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Das Konzept GMF Besondere Prominenz hat im Kontext der Erforschung der hier in Rede stehenden Problematiken etwa seit Anfang des Jahrtausends das Konzept der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) erworben. An der Universität Bielefeld durch Wilhelm Heitmeyer und Mitarbeiter*innen entwickelt, ist es hierzulande empirisch vor allem in den quantitativ ausgerichteten Forschungszusammenhängen der Untersuchung „Deutsche(r) Zustände“ (vgl. Heitmeyer 2002– 2012) – einer repräsentativen Zehn-Jahres-Längsschnittstudie zu politisch-sozialen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung – und im Anschluss daran durch die Weiterführung der ebenfalls repräsentativen sogenannten „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Zick/Klein 2014; Zick/Küpper/Krause 2016; Zick/ Küpper/Berghan 2019) umgesetzt worden (vgl. aber auch zum Themenfeld Decker/Kiess/Brähler 2016 und Mansel/Spaiser 2013). Die Studien ziehen bis heute so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass sogar das regierungsseitig aufgelegte Bundesprogramm „Demokratie leben!“ im Untertitel den Begriff verwendet und es auch entsprechende Fördersäulen für Projekte im Umgang mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausweist (vgl. https://demokratie-leben.de). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist zu verstehen als die Ablehnung von Personen und/oder Personenkollektiven allein schon deshalb, weil sie einer gesellschaftlichen „Gruppe“ zugeordnet werden, die als abweichend von der „Eigengruppe“ und damit als anders und irgendwie fremd wahrgenommen wird. Befürwortungen von Einstellungsdimensionen, die sie abbildet, werden deshalb auch als „Vorurteile“ verstanden. Gegenwärtig werden 13 verschiedene Einstellungs-„Facetten“ von GMF unterschieden (vgl. Abb. 1). Als verbindendes Kernstück der einzelnen „Syndrom“Elemente gilt dabei eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“, also die auf Seiten der Einstellungsträger*innen vorhandene ideologische Vorstellung, dass diejenigen, denen die Ablehnung gilt, nicht gleich viel wert sind wie die eigene Person bzw. wie die Angehörigen der „Eigengruppe“, weshalb dann auch von „Abwertung“ gesprochen wird.
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Abb. 1: Facetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Quelle: Zick/Küpper/Berghan 2019, S. 58)
Erkennbar beinhaltet der Einstellungskomplex bestimmte Aspekte von Rechtsextremismus – Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit –, lässt aber andere seiner Dimensionen außen vor: die Verharmlosung von Nationalsozialismus und nationalem Chauvinismus sowie die Befürwortung diktatorischer Strukturen. Rechtsextreme Einstellungen sind also weder deckungsgleich mit GMF, noch beinhaltet das GMF-Modell das vollständige Cluster solcher Einstellungsdimensionen, die nach einer unter zum Themenbereich Forschenden weit verbreiteten „Konsens-Formel“ (vgl. dazu auch Decker/Brähler/Geißler 2006) als rechtsextrem gelten (aktuelle und Zeitreihen-Befunde hierzu, darin eingeschlossen auch zu Rechtspopulismus, finden sich bei Küpper/Krause/Zick 2019, Küpper/Berghan/ Rees 2019 und Decker/Brähler 2018). Dafür enthält es – stärker als Rechtsextremismus-Studien – Einstellungsaspekte, die in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen immer wieder zum Vorschein treten, wichtige Konfliktlinien gesellschaftlicher Auseinandersetzung markieren und dabei auch nicht zwingend ausschließlich als Positionen der extremen Rechten auftreten.
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Zentrale GMF-Befunde im Überblick Abbildung 2 weist die aktuellen Befunde zum Ausmaß der Verbreitung von menschenfeindlichen Einstellungen in der bundesdeutschen Bevölkerung – hier getrennt nach männlichen und weiblichen Befragten – aus: 2
Abb. 2: Verbreitung von Facetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Quelle: Zick/Küpper/Berghan 2019, S. 87)
Sozio-demografische Faktoren Erkennbar wird, dass die Werte sich geschlechtsspezifisch betrachtet insgesamt eher unwesentlich unterscheiden. Eine Ausnahme bilden vor allem Einstellungen 2
Zu den Items und Skaleneinteilungen, mit denen hier zur Untersuchung von Zustimmungsstärken operiert wurde, vgl. Zick/Küpper/Berghan 2019, insb. S. 70 ff.; eingehender zu Methode und Design auch ebd., S. 42 ff.
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zu Trans*Menschen“, die „Abwertung homosexueller Menschen“ und „Muslimfeindlichkeit“. Differenzen bezüglich anderer relevanter sozio-demografischer Faktoren zeigen sich wie folgt: Altersbezogen sind insgesamt vor allem die Jüngeren (16- bis 30-Jährigen) und die über 60-jährigen Älteren vergleichsweise stark belastet (vgl. ebd., S. 88 f.). Einkommensmäßig bleibt der Langzeittrend weiter erkennbar, dass höhere Einkommensgruppierungen weniger zu GMF tendieren und Vorurteile am ehesten in der Mitte der Einkommensskala vertreten sind (vgl. ebd., S. 88 ff.). Nach dem formalen Bildungsniveau ergeben sich deutliche Unterschiede: Fast bei allen Facetten gilt: Je höher die Bildung, desto niedriger die Zustimmung zu GMF. In Ostdeutschland ist GMF im Vergleich zu Westdeutschland weiter verbreitet; dies gilt insbesondere für die Ablehnung von den Befragten fremd erscheinenden Gruppierungen, etwa Ausländern allgemein, Asylsuchenden im Speziellen und Muslimen. Allerdings gleichen sich die Unterschiede in den letzten Jahren insgesamt allmählich an (vgl. ebd., S. 85 f.). Hinsichtlich der politischen Selbstverortung zeigt sich, dass GMFEinstellungen vor allem am rechten Rand des politischen Spektrums, aber auch schon bei denjenigen vermehrt vorhanden sind, die sich als „eher rechts“ einstufen. Im Vergleich von Personen mit Parteipräferenzen fallen insbesondere die Befragten mit Wahlabsicht AfD als ihre Träger*innen auf. Auf den meisten Dimensionen sind aber auch die Nichtwähler*innen überproportional stark belastet (vgl. ebd., S. 92 ff.). Gewerkschaftsmitglieder stimmen GMF-Positionen etwas mehr zu als Nichtmitglieder. Zwar ist die einschlägige Befragtenanzahl in der Studie gering, erkennbar ist aber: Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ (knapp 20 % der Stichprobe) unterscheiden sich im Vergleich zu vorangegangenen Untersuchungen der Forscher*innen immer weniger von Menschen ohne einen derart geprägten Lebenskontext, zeigen sich aber auf einigen Dimensionen deutlicher belastet; sie sind demnach insbesondere deutlich stärker rassistisch und negativ gegenüber Homosexuellen eingestellt (vgl. ebd., S. 92 ff.). Hinsichtlich des Zusammenhangs von GMF-Einstellungen mit Gewaltakzeptanz gilt, dass „klar und deutlich die Zustimmung zu menschenfeindlichen Vorurteilen mit Gewaltbilligung und -bereitschaft einhergeht“ (ebd., S. 102). Über den Zeitraum von 2002 bis in die Gegenwart hinein sind zwar Schwankungen der Werte auf den einzelnen untersuchten Einstellungsdimensionen zu registrieren, aber gerade im Vergleich der letzten Jahre stabilisiert sich (mit Ausnahme von prozentualen Rückgängen der Ablehnung von Wohnungslosen und
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der von Menschen mit Abweichungen von heteronormativer sexueller Orientierung) das Ausmaß an Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit insgesamt (vgl. ebd., S. 79 ff.). Bilanz In der Bilanz dieser Befunde ergibt sich ein erhebliches Ausmaß an pauschal ablehnenden Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Besonders deutlich wird dabei auch ein besorgniserregendes Potenzial für Rechtsaußen-Positionen innerhalb der sogenannten gesellschaftlichen „Mitte“, also bei jenen, die insgesamt sozial und ökonomisch gut integriert erscheinen und sich dabei im politischen Rechts-links-Spektrum keineswegs durchgehend am äußeren rechten Rand verorten. Offensichtlich zutage tretende Phänomene wie organisierter Rechtsextremismus, Wahlerfolge einschlägiger Parteien und Listen, Hasskriminalität und gewaltförmige Übergriffe bis hin zur Bildung von Terrorzellen und Verüben von Anschlägen bilden so gesehen also nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Massivität, Festigkeit und Gefährlichkeit für das ‚Schiff der Demokratie‘ auf den ersten Blick unterhalb der Schwelle der Sichtbarkeit bleibt, sich damit auch weitgehend öffentlicher und medialer Skandalisierung entziehen kann und so nicht direkt Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit seiner Bearbeitung lenkt. Es zeigt sich aber auch, dass zahlenmäßige Vermessungen des un- und antidemokratischen Gefahrenpotenzials solcher Couleur kaum etwas über seine qualitative Beschaffenheit aussagen können, geschweige denn in der Lage sind, diese differenziert zu beleuchten. Erst recht nicht vermögen sie über die biografische Entstehung und Entwicklung solcher politisch-sozialen Positionierungen sowie deren Bedingungen Auskunft zu geben. Dazu bedarf es anders ausgerichteter Herangehensweisen von sozialwissenschaftlicher Forschung. Das Konzept der Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) steht für einen solchen anderen Ansatz. Bevor deshalb über eventuelle ursächliche Bedingungsfaktoren und deren Zusammenhänge nachgedacht werden kann und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, bietet es sich an, dieses Konzept und seine Befunde näher in den Blick zu nehmen. 2.2
Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen
Das Konzept PAKOs Wenn im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses steht, beim Untersuchungsgegenstand primär Qualitäten statt Quantitäten zu eruieren und zugleich deren Entstehung und weitere Entwicklung bei Einzelpersonen im biografischen Verlauf zu identifizieren, bietet sich grundsätzlich methodologisch statt einer repräsentativen
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Umfrage im Panel-Design eine qualitativ-rekonstruktive Anlage an, die zudem in der Lage ist, einen ‚echten‘ Längsschnitt zu vollziehen, also nicht nur abstrakte und hochaggregierte Typen bestimmter Gruppierungen von Proband*innen über einen gewissen Zeitraum hinweg in Intervallen zu befragen, sondern immer dieselben konkreten Personen über mehrere Jahre und/oder Monate ihrer biografischen Entwicklung hinweg forscherisch zu begleiten. Soll außerdem auf dem sozialisationstheoretischen und empirisch gut grundierten Wissen darum aufgebaut werden, dass politische und politisch relevante Haltungen insbesondere in der Jugendphase Kontur gewinnen, hier Grundlagen für weitere diesbezügliche biografische Prägungen gelegt werden und dies gerade auch für problematische gesellschaftlich bedeutsame Positionierungen der Ab- und Ausgrenzung gilt, so wird der Blick vor allem auf Jugendliche und deren politische Sozialisation gerichtet werden müssen. Dies gilt umso mehr, je stärker das Interesse an Anwendungsorientierung und der Produktion praxisnaher Erkenntnisse für den unmittelbaren Umgang mit jungen Menschen dieser Altersphase vorwiegt. Sofern also in erster Linie qualitative Konturen von politisch-sozialen Verortungen herauszuarbeiten sind, diese in ihrer prozesshaften je individuellen Entwicklung interessieren, um insbesondere auch professionelle Arbeit mit Jugendlichen mit für sie hilfreichen Informationen versorgen zu können, stellt sich die Frage, inwieweit dafür ein Konzept wie GMF noch tragfähig ist, das sehr deutlich auf die Durchführung quantitativer Studien bezogen ist, biografische Prozesse nicht einfängt und zudem auf die Erwachsenenbevölkerung (konkret: ab 16-Jährige mit einem Durchschnittsalter von bei der letzten Untersuchung 51,4 Jahren; vgl. Zick/Küpper/Berghan 2019, S. 48) ausgerichtet ist. Prüft man vor diesem Hintergrund das GMF-Konzept noch etwas genauer, so verwandelt sich diese Frage zusehends in Skepsis und den Wunsch nach Alternativen. Wesentliche Gründe dafür sind in erster Linie die folgenden:
Räumt schon der zurzeit führende GMF-Forscher Deutschlands, Andreas Zick, ein, dass Einstellungen kaum Verhaltensprognosen bieten (siehe den unten stehenden Abschnitt über Erklärungsansätze aus der GMFForschung), so muss in der Tat konstatiert werden, dass die Erklärungskraft der GMF-Untersuchungsergebnisse für tatsächliche Aktivitäten von Menschen recht bescheiden ausfällt. Wer also Interesse an der Aufklärung der Motivationshintergründe und der Genese faktischen Verhaltens und Handelns hat, sollte neben Orientierungen, wie sie Einstellungen darstellen, auch andere Orientierungsbereiche, etwa Mentalitäten, Stimmungslagen sowie affektiv-körperliche Motive, erfassen und vor allem auch Verhalten und Handeln selbst einfangen können. Daraus folgt wiederum, nicht Einstellungsuntersuchungen ins Zentrum der Erkenntnisgewinnung
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zu rücken, sondern auf Haltungen zu blenden, also einerseits Orientierungen, andererseits aber auch Aktivitäten zu fokussieren.
Vor dem Hintergrund des Interesses an Haltungen, die solche Vorstellungen und Umsetzungen spiegeln, die im konkreten Lebensverlauf bedeutsam sind und vielleicht sogar weichenstellende Funktion haben, ist die in der GMF-Umfrageforschung gegebene Laborsituation der Befragung als höchst artifiziell einzustufen. Telefonisch in rund 30 Minuten (vgl. Zick/Küpper/Berghan 2019, S. 42) vorgefertigte Statements vorgelesen zu bekommen, um dann seine skalierte Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden und weitere persönliche Fragen zur Lebenssituation zu beantworten, bedeutet für die Untersuchungspersonen, eine recht lebensweltferne Kommunikationssituation zu erleben, die über einen Abfragemechanismus nicht hinauskommt. Die Passgenauigkeit der FrageAntwort-Relationen für den Alltag der Befragten sowie die Differenziertheit und Verlässlichkeit der Antworten dürfte dementsprechend schwach ausfallen.
Hinzu kommen Bedenken, die das GMF-Konzept direkt betreffen:
Ist es überhaupt opportun, von gesellschaftlichen „Gruppen“ wie den Muslimen und den Homosexuellen zu sprechen? Existieren sie überhaupt in der damit assoziierten Geschlossenheit?
Mehr noch: Werden manche „Gruppen“ nicht erst dadurch als gesellschaftliche Kollektive konstruiert, dass sie durch die Relationierung zur eigenen Person bzw. zur sogenannten „Eigengruppe“ entstehen? Die sogenannten „Fremden“, denen dann die „Fremdenfeindlichkeit“ gilt, bestehen ja nicht als reale Gruppe. Was als fremd erlebt wird, hängt doch immer vom jeweiligen Standort und der Perspektive der Betrachterin bzw. des Betrachters ab. Für einen 60-jährigen Rentner, der nie aus Deutschland herausgekommen ist, dürfte etwas anderes fremd sein als für eine 18 Jahre junge Muslima deutscher Staatsangehörigkeit mit türkischen Herkunftswurzeln. Wird mit der Rede von den „Fremden“ (und der „Fremdenfeindlichkeit“ ihnen gegenüber) nicht nolens volens die fatale Essenzialisierung, also die Zuordnung von ‚Wesenseigenschaften‘ zu Menschen, die als irgendwie Andere, nicht Gleichartige erscheinen, forscherisch verdoppelt? Müssten nicht stattdessen genau die Prozesse der Bildung solcher „Gruppen“ durch Zuschreibungsprozesse untersucht werden, mithin das „Othering“ (Said 1995) bzw. die „Veranderung“ (Reuter 2002) im Zentrum der Untersuchung stehen? Und muss dies nicht gerade dann entsprechend erfolgen, wenn politisch und sozialisationsrelevant von Professionellen wie von anderen, die mit (jungen) Menschen
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pädagogisch-bildnerisch und sozialarbeiterisch arbeiten, diese Prozesse als Gruppierungsprozesse zum Thema gemacht werden sollen?
Die Annahme der Verknüpfung der einzelnen Einstellungsfacetten durch die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ zieht weitere problematische Folgen nach sich: Zum ersten verleitet sie dazu, jegliche Ablehnung als „Abwertung“ zu sehen. Dabei sind durchaus Ablehnungen denkbar, bei denen auf eine „Abwertung“ verzichtet wird. Zum zweiten führt sie offenbar auch dazu, „Abwertung“ und „Feindlichkeit“ oder auch „Feindseligkeit“ gleichzusetzen und ohne systematische terminologische Unterscheidung gleich auch noch Begriffe wie z. B. „Vorbehalte“, „Abwehr“, „Abgrenzung“ und „Vorurteile“ bis hin zu „Hass“ synonym zu verwenden. Zum dritten suggeriert die Rede von der „ideologischen“ Grundierung, die Ablehnungsfacetten seien in einem geordneten Cluster von Ideen, Vorstellungen und Theorien fundiert und stellten mithin ein Überzeugungssystem mit Verhaltens- und Handlungsrelevanz dar, das ein geschlossenes Weltbild repräsentiert und auf der Basis von Grundeinstellungen, Werten und Normen Interessen und Handlungsabsichten strukturiert – eine Annahme, die gerade in Bezug auf die politische Orientierungsqualität von Jugendlichen und Heranwachsenden wenig zutreffend sein dürfte.
Des Weiteren wird auf einer einzigen Ebene verhandelt, was offensichtlich nicht auf ein und dieselbe Ebene gehört. So steht im Kranz der Facetten der „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ etwa die „Fremdenfeindlichkeit“ und der „Antisemitismus“ neben dem „Rassismus“, wie auch der „Sexismus“ neben der „Abwertung von homosexuellen Menschen“ und der „Abwertung von Trans*Menschen“ steht. Hier werden also allgemeine gesellschaftliche Orientierungs- und Legitimationsmuster mit Ablehnungen, die bestimmte Personengruppierungen betreffen, auf eine Stufe gestellt.
Kein Platz bietet das Modell dafür, Inkonsistenzen von Haltungskomplexen zu berücksichtigen, also Fälle einzubeziehen, bei denen sich Proband*innen z. B. dezidiert selbst als anti-rassistisch verstehen, aber doch antisemitische Vorurteile haben.
Schließlich ist auch der „Syndrom“-Begriff mindestens irreführend, lässt er doch die Assoziation aufkommen, hier handele es sich um ein
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(sozial-)pathologisches Phänomen, das dann auch entsprechender Behandlung bedürfe. Infolge dieser Kritik wird hier dafür plädiert, un- und antidemokratische Positionierungen, wie sie auch vom GMF-Konzept thematisiert werden (sollen), als Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) zu begreifen. Wie der Terminus schon ausdrückt, wird dabei grundlegend dreierlei angenommen (ausführlicher vgl. Möller u. a. 2016): Zum ersten wird jedweden demokratiewidrigen Haltungen gegenüber (vermeintlich) Anderen von Vornherein weder „Abwertung“ noch „Feindlichkeit“ unterstellt. Vielmehr wird allgemeiner von Haltungen, also Orientierungen und Aktivitäten, der „Ablehnung“ ausgegangen. Diese wiederum können begrifflich binnendifferenziert werden und dabei dann unter anderem auch „Abwertung“ und „Feindlichkeit“ bestimmte Grade von Ablehnung zuordnen. Zum zweiten wird die Verbindung unterschiedlicher demokratiewidriger oder -gefährdender Ablehnungen von Menschengruppierungen, Weltanschauungen, Religionen und Lebensstilen nicht in einer zugrunde liegenden Ungleichwertigkeitsideologie gesehen, sondern im Anschluss an die Definition von „Vorurteilen“ durch Gordon W. Allport (1954) darin, dass Pauschalisierungen im Sinne unzulässiger, weil theoretisch und inhaltlich nicht haltbarer sowie empirisch nicht belegbarer, Verallgemeinerungen vorgenommen werden. Zum dritten wird vorausgesetzt, dass diese Ablehnungen nicht per se existieren, sondern konstruiert werden, sie also einerseits als mehr oder minder verfestigte Produkte von Zuschreibungen und Habitualisierungen zutage treten, andererseits aber in ihrem Konstruktionsprozess zu erhellen sind. Letzteres wird nicht nur als Ausgangspunkt dafür gesehen, sie forschungsbezogen aus dem Prozess ihrer Genese heraus verstehen zu können, sondern auch damit begründet, dass mehr als ihre rechtliche und normative Ächtung, nämlich ihr nachhaltiger Abbau oder auch ihre Prävention durch eine entsprechende Praxis, nur so Chancen auf Realisierung hat. Darüber hinausgehend wird zum vierten davon ausgegangen, dass sich die gedanklich-mentale Substanz, aus der pauschale Ablehnungskonstruktionen generiert werden, sich neben kognitiv-ideologischen Fragmenten vor allem – dies gerade bei jungen Menschen – aus ikonografischem, habitualisiertem sowie intuitiv und assoziativ zugänglichem Material zusammensetzt. Mentale Abbilder von Realität in Gestalt von Repräsentationen, also einem stark emotional und affektiv wirkenden Ensemble aus Bildern, Metaphern, symbolischen Verweisungen und Verkörperungen, kommt demnach offenbar eine entscheidende Rolle bei der Haltungsbildung zu (vgl. auch die Konzepte der embodied cognition und des framings bei Wehling 2016; Niedenthal u. a. 2005; Lakoff 2004; Lakoff/Johnson 1999). Ihre Wirkmacht ergibt sich letztlich daraus, dass sie, ohne in der
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subjektiven Wahrnehmung eine weitere Reflexion zu erfordern, auf der Basis von oberflächlicher Phänotypisierung, Gewohnheit, unmittelbarer, teils körperlich registrierbarer Eindrücklichkeit und daraus resultierender Selbstverständlichkeit nicht hinterfragungsbedürftige Eingänglichkeit für Zwecke der Verarbeitung von Erfahrungen reklamieren können. Ihre Funktionalität erweist sich (nach Moscovici 1973, 1982, 1988) auf drei Ebenen: Zum ersten machen sie es dem Subjekt leicht möglich, neu im Erfahrungsablauf auftauchende Phänomene in schon vorhandene Kategorisierungen einzuordnen. Zum zweiten erlauben sie, nicht ohne Weiteres Einordbares symbolisch so zu figurieren, dass es als Gegenstand erkennbar und in der gewohnten Sprache der Bilder deutbar wird. Zum dritten – und hier zeigt sich die Einbindung der jeweiligen individuellen Erfahrungsspeicher von Repräsentationen in kollektiv strukturierte Wahrnehmungs- und Deutungszusammenhänge – liefern Repräsentationen leicht verstehbare und Konventionen bildende Kodes der intersubjektiven Verständigung, je nach (De-) Chiffrierungskompetenz milieu- und szeneintern, aber auch gegebenenfalls darüber hinaus. Konstruktionsprozesse von PAKOs zu entschlüsseln, heißt deshalb zu rekonstruieren, wie Ablehnungshaltungen aus verschieden gerahmten Repräsentationen und deren z. T. widersprüchlichen Kombinationen ‚destilliert‘ werden. Zum Fünften: Die thematisch relevanten Aspekte, zu denen Befunde mit dem PAKO-Ansatz erhoben und gedeutet werden, sind – wie stellenweise bereits angedeutet – begrifflich nicht mit dem Vokabular zu fassen, das gegenwärtig in verwandten Forschungen gängig ist. So ist der Terminus „Fremdenfeindlichkeit“ nicht nur ungeeignet, weil er Gefahr läuft, „die Fremden“ bzw. „das Fremde“ als real existierende Entität aufzufassen und so zu essenzialisieren. Er ist auch deshalb irreführend, weil die Ablehnung, die damit ausgedrückt wird, durchaus nicht immer „Feindlichkeit“ im oben definierten Sinne sein muss, sondern auch andere Ablehnungsgrade einnehmen kann. Vor allem aber vermag er den Prozess der „Veranderung“ des durchaus Bekannten nicht zu fassen, der etwa dann eine Rolle spielt, wenn miteinander vertraute Volksgruppen Front gegeneinander beziehen, wie dies etwa teilweise im Verhältnis von Türken und Kurden oder von Serben und Kosovo-Albanern geschieht. In anderen Fällen sind Eingewanderte bereits seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit zwei, drei Generationen in einem Land ansässig, werden aber dennoch von den seit je her Etablierten als Personen mit ‚Migrationshintergrund‘ betrachtet, denen deswegen weniger Rechte zugestanden werden als Autochthonen. Ähnliche Abstufungen nach an der Aufenthaltsdauer gemessenen (vorgeblichen) Rechten werden gemacht, wenn in ethnisch homogenen Gruppierungen mit Migrationserfahrung die später Hinzugekommenen als minderberechtigt verstanden werden. Von daher macht es mehr Sinn, diesen Komplex als den der herkunftsund migrationsbezogenen Ablehnungshaltungen zu begreifen.
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Um ausdrücken zu können, dass negative Haltungen gegenüber Moslems und dem muslimischen Glauben sowie seinen Praktiken fokussiert werden, sollte weder in Zentrierung auf die religiöse Überzeugung von „Islam(o)phobie“ – wie in früheren GMF-Publikationen – noch mit Fokussierung auf die dem Islam anhängigen Gläubigen von „Muslimfeindlichkeit“ gesprochen werden. Passender für die Erfassung des Phänomenfelds erscheint die Bezeichnung „antimuslimische Haltungen“, weil sie beide Aspekte einschließt. Wird in den beiden genannten Feldern von Ablehnung terminologisch bereits der Haltungsbegriff favorisiert, um von der Engführung auf Einstellungen wegzukommen, so ist dies auch der Fall, wenn von „antisemitischen Haltungen“ und nicht allgemein von „Antisemitismus“ geredet wird. Wenn weiter oben schon argumentiert wurde, dass „Sexismus“ als ein Orientierungs- und Legitimationszusammenhang begriffen werden kann, der – freilich jeweils in spezifischer Weise – sowohl ablehnende Haltungen gegenüber Frauen im Allgemeinen als auch gegenüber Lesben und Schwulen sowie Transpersonen prägt, so führt die Überlegung, dass dieser Begriff doch nur unzureichend die Komplexität solcher und weiterer genderbezogener Haltungen abbildet, dazu, stattdessen von Ablehnungshaltungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung auszugehen. Ablehnende Haltungen, die Langzeitarbeitslosen, Behinderten, Wohnsitzlosen und darüber hinaus weiteren Gruppierungen und Lebenspraktiken entgegengebracht werden, deren Gemeinsamkeit darin besteht, gesellschaftlichen Leistungsanforderungen nicht in dem Maße zu entsprechen bzw. entsprechen zu können, wie dies erwartet wird, werden als Ablehnungshaltungen gegenüber gesellschaftlichem ‚underperforming‘ untersucht. Werden forschungsbezogen speziell Jugendliche fokussiert, so müssen auch territorialisierende und stilbezogene Ablehnungshaltungen in den Blick genommen werden. Sie präsentieren sich vielfach als jugendkulturell konturierte Auseinandersetzungen, sind dabei aber oftmals mit natio-ethno-kulturellen Aufladungen versehen (zu diesem Begriff vgl. Mecheril 2003) und insofern durchaus von politisch-sozialer Relevanz (Möller 2019 a). Zentrale Befunde zu PAKOs im Überblick Eine hochkondensierte Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse zu den oben genannten Haltungsbereichen ergibt (Möller 2019 b folgend): Die Entstehung herkunfts- und migrationsbezogener Ablehnungshaltungen ist vornehmlich auf drei Zusammenhänge und ihr Zusammenspiel untereinander zurückzuführen: erstens auf unmittelbare Erfahrungen von Konkurrenzen und Abgrenzungskonflikten, die entlang natio-ethno-kulturell gedeuteter Linien verlaufen; zweitens auf repräsentationale Einflüsse aus dem öffentlichen oder
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nahräumlichen Diskurs, die genau diesen Deutungen der Protagonist*innen Nahrung geben; drittens auf strukturelle und institutionelle Faktoren, die eine entsprechende Differenzwahrnehmung und zum Teil auch Desintegration und Diskriminierung bestimmter Gruppierungen begünstigen. Kontrollaspekte nehmen hier eine zentrale Bedeutung ein. Sie beziehen sich vor allem darauf, sich von Angehörigen bestimmter „veranderter Gruppierungen“ (zu diesem Begriff: Reuter 2002) eingeschränkt zu sehen. Diese Einschränkung wird entweder im persönlichen Kontrollerleben über relevante Lebensbedingungen oder – fraternal – bezüglich der Verfügungsfähigkeit der ‚Eigengruppe‘ empfunden. Bei ‚migrantischen‘ Jugendlichen spielen dabei auch strukturelle und institutionelle Einschränkungen seitens staatlicher und/oder gesellschaftlicher ‚deutscher‘ Rahmensetzungen eine moderierende Rolle. Einen zweiten Faktor bilden Integrationsaspekte: Zum einen werden verbaute Zugehörigkeitschancen, verwehrte Anerkennung, unzureichende Teilhabe und damit minimierte Identifikationsmöglichkeiten als Desintegration und Abgehängt-Sein erlebt. Zum anderen erfolgt – genau darüber angestoßen – teilweise eine natioethno-kulturell aufgeladene Über-Identifikation mit abstrakten Großgruppierungen aber auch mit den eigenen sozialen Umfeldern, wobei letztgenannte immer wieder auch kontrafaktisch erfolgt, insofern sie die tatsächliche Heterogenität der alltagsweltlichen Bezüge negiert; diese Über-Identifikationen erschweren und behindern wiederum eine gesamtgesellschaftliche Integration. Biografische Distanzierungen von herkunfts- und migrationsbezogenen Ablehnungshaltungen sind bei Auflösung dieser Kontroll- und Integrationsproblematiken registrierbar, wobei sie auch neuartige Sinnbezüge für die Bewertung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft ermöglicht. Antimuslimische Haltungen sind – (zumindest graduell) anders als herkunfts- und migrationsbezogene Ablehnungshaltungen – im hohen Maße projektiv: Sie werden nicht mit realen negativen Erfahrungen mit Muslim*innen begründet, sondern es werden Hypostasierungen von Zukunftsszenarien („Islamisierung“) angestellt und negative Erfahrungsberichte Dritter (zum Beispiel über Kopftuchzwang) sowie diskursiv vermittelte Negativzuschreibungen (beispielsweise „Ehrenmorde“) aufgegriffen. Dabei werden fast immer Muslim*innen als „Ausländer“ und „Fremde“ kategorial „Fremdnationen“ zugeordnet beziehungsweise ethnisiert und pauschal kulturell ‚verandert‘. Des Weiteren wird der Islam undifferenziert, auf der Basis allenfalls fragmentarischen Wissens und damit oberflächlich eingeschätzt. So erfolgt dessen Einordnung in ein moralisches Raster, in dem Muslim*innen den Pol der Intoleranz und Gewaltförmigkeit („Terrorgefahr“) bilden, während der eigenen Person beziehungsweise der ‚Eigengruppe‘ die Funktion des demokratisch geläuterten Moralhüters zugeordnet wird. Eine derartige Orientierung mündet allerdings seltener als herkunfts- und migrationsbezogene Ablehnungen in konkrete physische Gewaltausübung, führt aber
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zumindest oft zum Gutheißen oder zur Propagierung staatlich-rechtlicher Restriktionen, etwa bezüglich des Baus von Moscheen oder der Regulierung von Zuwanderung. Lebenskontrollbedürfnisse sehen die Träger*innen solcher Haltungen weniger durch konkrete Alltagsaktivitäten von Muslim*innen beeinträchtigt als durch rücksichtslose und teilweise gewaltsame Expansionsbestrebungen, die dem Islam generell unterstellt werden. Unter Integrationsaspekten erweist sich als fatal, dass die Haltungsträger*innen im Regelfall in gemeinschaftlichen Interaktionsgeflechten verkehren, die sich mitunter durch die Abwesenheit von Muslim*innen, öfter aber noch durch deren Nicht-Wahrnehmung als solche auszeichnen; selbst dann, wenn Kontakt mit Muslim*innen besteht, werden (inter-)religiöse Kommunikation und die damit verbundenen Potenziale zu Wissenserwerb und Verständigung gemieden, wodurch sie stets auf die bereits gespeicherten Repräsentationen zurückgeworfen werden. Offenheit gegenüber dem als ‚fremd‘ Wahrgenommenen kann sich so als Selbst- und Sozialkompetenz nicht entwickeln. Hinzu kommt: Weltlich orientiertes Sinnlichkeitserleben sehen sie durch ‚den Islam‘ infrage gestellt – dies vor allem dann, sollte die Religion weiter expandieren. Gegenüber transzendentalen Sinnangeboten prinzipiell interesselos oder skeptisch eingestellt, erscheinen vielen Jugendlichen Formen muslimischer Religiosität suspekt, zumal sie die mehr oder weniger für sie bekannten christlichen Konventionen nicht reproduzieren und dementsprechend fremd erscheinen. Andere beargwöhnen aus der Selbstverortung als (mindestens formale) Christ*innen das religiös Andere des Islam. Distanzierungen von antimuslimischen Haltungen zeigen sich dort, wo ein von beiden Seiten gewollter (und nicht nur institutionell hergestellter) direkter Kontakt mit einem religionsbezogenen Austausch einhergeht, der auf positiv erfahrenen sozialen Beziehungen gründet. Antisemitische und antisemitisch konnotierte Haltungen unterscheiden sich in ihren Entstehungs- und Begründungszusammenhängen von den bislang beschriebenen Konstruktionselementen von Ablehnungshaltungen in mindestens zweifacher Hinsicht: Zum Ersten spielen als Plausibilisierungsmechanismen für Stereotypisierung und Ablehnung unmittelbare Erlebnisse und Beobachtungen fast gar keine Rolle. Zum Zweiten wird ein mehrschichtiges und wenig kohärentes Bild der abgelehnten Gruppierung gezeichnet, dessen Vielgestaltigkeit sich von ‚den Juden‘ als einer konkret bestimmbaren oder überhaupt bestimmungsbedürftigen Gruppierung entkoppelt, sodass sie als ‚leeres Signifikat‘ fungieren kann. Dabei ist zu unterscheiden zwischen nicht-intentionalen und intentionalen Ablehnungskonstruktionen. Intentionaler Antisemitismus hat zum einen eine extrem rechte, essenzialisierende, ja rassistische Ausformung, die sich hierzulande mehrheitlich bei Deutschen findet und eher selten in Diskriminierungs- oder Gewaltverhalten mündet – schon mangels tatsächlicher sozialer Begegnung; zum anderen liegt er bei (formal) muslimischen Jugendlichen in Gestalt des von
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Mansel und Spaiser (2013) sogenannten „Antagonismus-Narrativs“ vor, das das (als Gesamtheit imaginierte) Kollektiv der Muslime kategorial in unüberbrückbaren Gegensatz zur ‚westlichen Welt‘, insbesondere zu Israel und den USA, stellt und es zugleich in eine Opferrolle gedrängt sieht. Antisemitismus wiederum, von dem angenommen werden darf, dass er nicht intentional ist, benutzt unreflektiert zu Abwertungszwecken von nahezu beliebigen Missliebigen gesellschaftlich vorhandene Bilder und Opfersemantiken (zum Beispiel „Du Jude, du Opfer!“), die aus dem Wissen aus der nationalsozialistischen Judenverfolgung resultieren. Er dient dabei zwar auch der Abgrenzung, lässt aber stärker das Motiv erkennen, sich in konformistischer Weise rhetorisch in die jugendliche Peergroup einzupassen. Während unmittelbar erfahrene Beschränkungen eigener Lebenskontrolle aufseiten der Haltungsträger*innen keine Rolle spielen, schon aber das Phantasma des die Weltherrschaft anstrebenden Judentums Kontrollbedrohungen in abstrakterer Gestalt beinhaltet, erweisen sich Integrationen in soziale Kontexte, in denen antisemitische und antisemitisch konnotierte Haltungen und Repräsentationen vagabundieren und dabei legitimen Gebrauch suggerieren, als stark förderlich. Sinnlichkeitserfahrungen von positiver Valenz stellen sich in diesem Zusammenhang über die mit der Haltungskonstruktion einhergehenden Überlegenheitsgefühle her. Sinnzuschreibungen erfolgen zum einen darüber, sich mit ihnen von Gruppierungen ‚sozial Schwacher‘ abzusetzen, zum anderen unter Umständen auch über ihre politischen Konnotationen, die darauf abzielen, mit dem ‚Weltjudentum‘ abzurechnen. Stilbezogene und territorialisierende Ablehnungen weisen neben jugendkultureller Distinktion auch Abwertungsbezüge auf, insofern sie graduelle Abgrenzungen von als zu exaltiert eingestuften Selbstdarstellungen und/oder mit (proto-)politischer Aufladung Abgrenzungen von missliebigen Gruppierungen wie etwa „Gangstern“ und „Nazis“ intendieren. Sie haben ferner die Funktion, die Präsenz von ‚Anderen‘ in jenem Lebensraum zu verunmöglichen oder zu beschränken, der für die eigene Lebensgestaltung von Bedeutung ist. Sie amalgamieren dabei häufig mit nationalisierenden, ethnisierenden, kulturalisierenden, religionisierenden und manchmal auch rassialisierenden Haltungen und stellen in solchen Fällen deutlich mehr als Geschmacksurteile oder pubertäre Revierkämpfe dar. Ausgrenzung und vielfach auch Gewalt sind ihnen inhärent. Distanzierungen von entsprechender Violenz wie auch von den mit ihnen verkoppelten pauschalen Ablehnungshaltungen ergeben sich hier nicht durch mehr Kontakt zu den Gegnergruppen, sondern neben dem Erfahren von Sanktion(sdrohung)en eher dann, wenn Gelegenheiten zu Kontakt und damit zu Konkurrenzerfahrungen und Konfliktaustragungen abnehmen (etwa durch einen Umzug oder die Aufnahme einer Tätigkeit, die die im öffentlichen Raum verbrachte freie Zeit begrenzt und andere Präferenzen der Freizeitgestaltung mit sich bringt).
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Der Stellenwert von Kontrollaspekten offenbart sich bei den stilbezogenen Ablehnungen darin, dass über sie oftmals konventionelle Normalitätsvorstellungen zu sichern gesucht werden. Abweichler*innen werden dabei insofern auch als „Loser“ begriffen, als sie es vermeintlich an Qualifizierung, einer gewissen Saturiertheit und familialer Sicherheit missen lassen. Ihre Existenz weckt die Befürchtung, selbst von Kontrollverlusten betroffen werden zu können. Territorialkämpfe werden gehäuft von Jugendlichen ausgefochten, die in anderen Lebensfeldern Ohnmachtserfahrungen machen, sodass sich der Eindruck herstellt, dass hier fundamentale Kontrolldefizite aufgrund schlecht gelungener Systemintegration und labiler Sozialintegration nach Kompensation streben. Ähnlich verhält es sich mit den Wünschen, Sinnlichkeit und Sinn in befriedigender Weise zu erfahren. Demonstrationen von Überlegenheit und Macht durch Diskriminierung anderer sowie violentes Verhalten stellen so lange subjektiv attraktive Sinnlichkeit- und Sinnbezüge her, wie diese nicht anderweitig, nämlich in Sphären gesellschaftlicher Akzeptanz, faktisch zugänglich und mindestens äquivalent erscheinen. Ablehnungshaltungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung betreffen zum einen in kategorial klassifizierender Weise Abweichungen von der gesellschaftliche Geltung beanspruchenden Heteronormativität (Schwule, Lesben und andere mehr), zum anderen aber auch bestimmte, innerhalb dieses Normengerüsts angesiedelte Formen von gender-performance: das Mannhaftigkeitsmuster „interpersonaler Dominanz“ (Connell 1999) und ein weibliches ‚gender-highperforming‘, das von Jugendlichen (in jeweils differenter Weise) bei „Tussis“ und „Schlampen“ identifiziert wird. Diese sind oftmals mit weiteren, vor allem natioethno-kulturellen und auf den sozialen Status bezogenen Negativzuschreibungen verfugt. Im Hinblick auf Menschen, die als Verkörperungen der Abweichung von heteronormativen Geltungsansprüchen betrachtet werden, sind mit solchen Orientierungen Aktivität(sbereitschaft)en verbunden, die von persönlichem Distanzstreben über verbal-gestische Diskriminierung und Gewaltandrohung – in manchen Fällen auch persönlicher Gewaltanwendung – bis hin zur Forderung nach rechtlicher und institutioneller Diskriminierung reichen. Mit Repräsentationen aus gesellschaftlichen Diskurselementen ausgestattet und durch eine Überintegration in Kontexte einschlägiger peer-kultureller Normalitätsdispositive stetig in Kraft gehalten, assoziieren solche Jugendliche den Kontakt zu Homosexuellen und/oder das Sichtbarwerden von Homosexualität im öffentlichen Raum als eine Art von Kontrollverlust beziehungsweise -bedrohung der eigenen sexuellen Selbstbestimmung, die normalitätsbiografisch geprägten Lebenssinnzuweisungen (Familie gründen, Kinder bekommen) entgegensteht und als Infragestellung der Exklusivität und vermeintlichen Normgerechtigkeit heterosexuell ausgerichteten sinnlichen Erlebens empfunden wird. Die Ablehnung des archaischen Männlichkeitsmusters erfolgt von drei unterschiedlichen Ausgangspunkten: Zum Ersten wird es aus der Perspektive des
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Angeschlossenseins an die Realisierung modernisierter Geschlechterverhältnisse als anachronistisch, tradiert-konservativ, patriarchalisch und oft auch – in zum Teil ethnisierender Weise pauschalisierend („Türkengangs“) – unterschichtstypisch im Sinne gefährlicher Klassenzugehörigkeit kritisiert. Zum Zweiten wird es von Personen verurteilt, die für sich in Anspruch nehmen, eben dieses Muster biografisch überwunden und sich in Richtung des gesellschaftlich anerkannten Hegemonialmodells orientiert zu haben. Zum Dritten wird seine besonders exzessiv aggressive Ausprägung von jenen graduell moniert, die ein solches Muster selbst besitzen, sich aber als im Grunde friedenswillig präsentieren und behaupten, das Muster nur aus Selbstverteidigungsgründen in Verhalten umzusetzen. In jedem Fall wird es mit Kontrollverlusten beziehungsweise -bedrohungen in Verbindung gebracht, in jeweils spezifischer Weise als Integrationsgefährdung gedeutet, weitgehend als ‚sinnliche Verirrung‘ eingestuft und als Konterpart zu eigenen Lebenssinnvorstellungen empfunden. Ablehnungshaltungen gegenüber weiblichen ‚gender-highperformern‘ finden sich bei Mädchen und jungen Frauen. Dabei wird sowohl das hypergestylte, extrovertierte und als arrogant beurteilte Verhalten des „Tussi“-Typus als auch das einen freizügig-promiskuitiven Lebensstil pflegende Verhalten von „Schlampen“ – pauschalisierende, von punktuellen Eindrücken abgeleitete Bilder, die im Übrigen gelegentlich auch amalgamieren – als verwerfliche Abweichung von angemessener weiblicher Genderperformance verstanden. Auch diese Etikettierungen werden zum Teil mit natio-ethno-kulturellen Momenten aufgeladen – etwa, wenn sie moralisierend als ‚westlich-dekadente Libertinage‘ erscheinen. Reaktionen auf entsprechendes Auftreten bewegen sich im Spektrum zwischen sozialer Ächtung und verbaler Diskriminierung. Bei Jungen und jungen Männern herrscht mindestens in Bezug auf diese Typen(-bildungen) ein Muster vor, das sexistische Objektivierung mit dem Wunsch nach patriarchaler Kontrolle verbindet. Dies gilt schwerpunktmäßig dann, wenn für die eigene Person das Muster archaischer Mannhaftigkeit orientierungsleitend ist. Benachteiligung des anderen Geschlechts ist ihm per se eingeschrieben; manchmal führt es auch zu Gewaltanwendungen gegenüber Partnerinnen, um ihnen die maskuline Kontrollfähigkeit über ihre Person in Erinnerung zu rufen. Unter den Aspekten von Kontrolle erscheint gender-highperforming den sie Ablehnenden als Gefährdung von (vor allem weiblichem) Selbstwert und (vor allem männlicher) Verfügung und Kontrollierbarkeit. Auch hier handelt es sich um ein Gegenbild zu einer sozialen Integration und einem Ausleben sinnlicher Bedürfnisse, die als gesellschaftlich akzeptabel gelten und denen Sinn zugeschrieben wird. Konstruktionen pauschalisierender Ablehnungshaltungen gegenüber gesellschaftlichem ‚underperforming‘ betreffen Personen und Gruppierungen, deren Lebensführung von einer Position selbst zugeschriebener Normalität aus als
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misslungen beurteilt wird; dies deshalb, weil sie als Menschen erscheinen, die nur einen geringen Status besitzen, es nicht schaffen, in ausreichendem Maße ökonomische Ressourcen anzuhäufen, Lebensstile pflegen, die mit sozialem Abstieg assoziiert werden und dabei Leistungsfähigkeit sowie Anstrengungsbereitschaft vermissen lassen: Arbeits- und Wohnsitzlose, Hartz-IV-Empfänger*innen, illegale Drogen und exzessiv Alkohol Konsumierende, behinderte Menschen und andere mehr. Schon im Sprachgebrauch werden sie als „Loser“, „Sozialschmarotzer“, „Penner“, „Spastis“ oder Ähnliches diskreditiert. Ohne hier im Einzelnen auf die diese Gruppierungen jeweils betreffenden Orientierungskonstruktionen eingehen zu können (dazu genauer: Möller et al. 2016, S. 617 ff.), lässt sich festhalten, dass sie aktivitätsbezogen zumeist in Richtung auf Auslachen, strikte Distinktion, Kontaktvermeidung, Erwartungen von Konsummäßigung, unbedingte Leistungsbereitschaft, Sanktionierung von ‚Fehlverhalten‘ (etwa durch Kürzung von staatlichen Transferleistungen) bis hin zu Zustimmungen zu einem Arbeitszwang für Erwerbslose und (vereinzelt) zu Forderungen nach Internierung gehen; bei Haltungen zu Menschen mit Behinderung werden neben Mitleidsbekundungen vor allem Formen paternalistischer Diskriminierung postuliert, bei denen institutionelle Exklusion als empathischer Gunstbeweis präsentiert wird. Im Hintergrund solcher Haltungen ist bei ihren Träger*innen letztlich ein aus Elementen des Erwachsenendiskurses collagiertes Gesellschaftsbild auszumachen, in dem Nachweise eines möglichst hohen sozialen Status sowie von eigenverantwortlicher Leistungsbereitschaft und Leistungserbringung eine derartige Zentralität beanspruchen, dass Verhaltens- und Handlungsweisen, die mit diesem Produktivitätsparadigma nicht konform gehen oder sogar ‚Versagen‘ anzeigen, Ächtung hervorrufen müssen. Hochgradig internalisiert zeichnet es die Modi vor, in denen die Lebensgestaltungsbedürfnisse nach Lebenskontrolle, systemischer und sozialer Integration, erstrebenswerten Sinnbezügen und befriedigenden sinnlichen Erlebensweisen im Rahmen sozialer Akzeptabilität Erfüllung finden können. In seiner durchsetzungsmächtigen Normativität trägt es dazu bei, abweichende Lebensstile und Lebensführungsmuster nicht nur entsprechend zu markieren und daher abzulehnen, sondern sie auch unter Umständen weitergehend zu diskreditieren, zu diskriminieren und gewaltförmig in Schach zu halten – selbst dann, wenn die eigene Lebensführung diesem Leitbild nicht in Gänze oder sogar nur rudimentär gerecht wird. Wie längsschnittliche Betrachtungen aufzeigen, sind die skizzierten Haltungen bei jungen Menschen keineswegs festgefügt. Im Gegenteil: Sie weisen hohe Situativität, Kontextabhängigkeit, Prozessualität und Fluidität auf. Es handelt sich also bei ihnen um Phänomene, die ‚im Fluss‘ sind und deshalb durchaus Chancen auf De-Konstruktion bieten (weitaus ausführlicher und differenzierter: Möller et al. 2016, S. 178 ff.).
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Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich, der Komplexität der Bedingungskomplexe von Pauschalablehnungen mit Anspruch auf Vollständigkeit detailliert und differenziert nachzugehen – so wie es aus demselben Grund hier auch nicht möglich ist, spezifische Begünstigungsfaktoren für Abwendungen von solchen Haltungen zu thematisieren (vgl. dazu ggf. Möller et al. 2016). Insofern können die folgenden Darlegungen auch keine ‚theoretische Tiefenschürfung‘ leisten und nicht mehr als ein Abriss sein. Erklärungsansätze aus der GMF-Forschung Aus der Perspektive der GMF-Forschung erklären sich die von ihr untersuchten Einstellungen nicht monokausal, sondern durch ein kompliziertes Zusammenspiel vielfältiger Faktoren. Ins Feld geführt werden insbesondere sozioökonomische und weitere sozialstrukturelle Bedingungen, sozialkulturelle Aspekte, gesellschaftspolitische Erfahrungen sowie Merkmale von gesellschaftlichen Kollektiven, die durch soziodemografische Faktoren abgebildet werden (Alter, Geschlechtszugehörigkeit etc.). Die Stichworte, die im GMF-Forschungskontext seit Längerem auf als bedeutsam erachtete Phänomene und gesamtgesellschaftliche Hintergründe verweisen, heißen etwa „soziale Desintegration“, „relative Deprivation“, „soziale Dominanzorientierung“, „Demokratieentleerung“ u. ä. m. (vgl. im Überblick hierzu und mit Verweis auf weitere makro-, meso- und mikrosystemische Ursachenzuschreibungen z. B. Möller 2015). Herausragende Bedeutung wird aber gerade in neueren Veröffentlichungen sozialpsychologischen Ursachen zugewiesen. Denn argumentiert wird: „Menschenfeindliche Vorurteile sind nicht per se mit den Lebensbedingungen von Menschen verbunden, sondern nur dann, wenn sie soziale Motive erfüllen, die Menschen an Gruppen binden und zugleich den Ausschluss und die Ungleichwertigkeit von anderen Gruppen rechtfertigen“ (Zick 2019, S. 67). Unter Bezugnahme auf Fiske (2004) werden fünf entsprechende Motivkreise aufgeführt: (1) das Bestreben, mittels Gruppenidentifikationen Identität und Zugehörigkeit herzustellen, (2) der Versuch, durch Vorurteilsaneignung die Welt kognitiv zu verstehen, (3) das Bedürfnis, Wünsche nach sozialer Kontrolle und Einfluss zu befriedigen, (4) das Motiv, Vertrauen herstellen zu wollen und (5) vice versa diejenigen zu markieren, denen Misstrauen entgegenzubringen ist. In dieser Weise wird demnach über Gruppenidentifikationen und abgrenzungen Selbstwert konstruiert. In nachvollziehbarer Relativierung der Relevanz von Einstellung(suntersuchung)en auf diesem Gebiet wird eingeräumt: „Dabei hängt das Ausmaß, in dem menschenfeindliche Vorurteile in manifestes Verhalten münden, nur zu einem gewissen Grad von vorurteilsvollen Einstellungen ab“ (Zick 2019, S. 69 f.).
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Hingewiesen wird stattdessen auf die Bedingtheit durch die Stärke der normativen Bedeutung, die jeweilige Vorurteile unter den Gruppenmitgliedern besitzen, auf auch weiteren sozialen Gruppendruck, auf den sozialen Kontext und situative Gelegenheitsstrukturen zu menschenfeindlichen Aktionen, auf unzureichende Protektionsfaktoren und Opferschutzmaßnahmen sowie auf die atmosphärisch aufheizende Rolle kollektiver Emotionen, hier insbesondere von Wut und Hass. Legt man die Perspektive der Anwendungsorientierung wissenschaftlichen Wissens für pädagogische und sozialarbeiterische Zwecke unmittelbaren Umgangs mit Vorurteilsträger*innen an diesen Deutungsansatz an, dann kann eine kritische Sicht auf ihn zudem positiv verbuchen, dass hier in gewissem Gegensatz zu früheren, mehr auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen abhebenden Erklärungsversuchen auf individuelle Beweggründe für den Aufbau und das Beibehalten von pauschalen Ablehnungen Bezug genommen wird und makro- und mikrosystemische Komplexe, die in diesen Arbeitsfeldern ohnehin kaum direkt beeinflussbar sind, in den Hintergrund gerückt werden. Die Fokussierung auf Motive bleibt allerdings gebunden an die Zentralstellung, die im Erklärungsansatz Gruppenidentifikationen und -abgrenzungen einnehmen. Davon losgelöste Beweggründe bleiben unbeachtet. Zudem wird das Zusammenspiel der Motivkreise in konkreten Fällen und ihre Entwicklung und biografische Relevanz nicht aufgeklärt, sodass nicht unerhebliche Erklärungslücken verbleiben. Begünstigungsfaktoren aus Sicht der PAKO-Forschung Die methodologisch grundsätzlich andere, nämlich qualitativ-rekonstruktive Anlage der PAKO-Forschung erlaubt es, empirisch stärker auf die individuellen und mikrosystemischen Konstellationen zu ‚zoomen‘ und – soweit längsschnittliche Daten vorliegen – deren Prozesshaftigkeit einzuholen und dabei nicht nur retrospektiv vorzugehen. Auch aus dieser Perspektive ergibt sich eine multikausale Erklärungs- bzw. – der methodologischen Verortung angemessener formuliert – Interpretationskonstellation. Danach (vgl. ausführlich Möller et al. 2016) sind Menschen, die sich von äußerst PAKO-lastigen Deutungsangeboten ansprechen lassen, Personen, die diese Deutungen als funktional erachten für die Wahrnehmung, Erklärung und mentale Einordnung der Erfahrungen, die sie machen. Diese Erfahrungen sind bei ihnen zumeist spezifisch geprägt, nämlich von Defiziten in den Bereichen des Erlebens von Kontrolle, Integration, Sinnstiftung und Sinnlichkeit (KISSDefizite). In extremer Verkürzung: Es handelt sich oft um (primär junge) Menschen, die das Gefühl haben, entweder schon gegenwärtig oder in Zukunft
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das eigene Leben nicht (mehr) kontrollierend im Griff zu haben und zum Spielball fremder Mächte zu werden,
eine eigentlich anstrebenswerte Integration in sozial akzeptierte Zusammenhänge wie Bildung, Arbeit, Vereinsleben etc. vorenthalten zu bekommen und/oder nicht bewerkstelligen zu können,
Sinn im eigenen Leben nicht oder kaum erblicken und schaffen zu können (zum Beispiel den Sinn des Lernens oder den Sinn von Arbeit) und
sinnliche Genussfähigkeit nur eingeschränkt – etwa in Gewalt- und Alkoholexzessen – zu erfahren.
Solche Defiziterfahrungen verschärfen sich zusätzlich durch zwei weitere Umstände:
zum einen dadurch, dass in dem sie umgebenden Diskursraum ihnen passend erscheinende demokratiekompatible Repräsentationen zum Verständnis und zur Einordnung dieser Erfahrungen nicht zur Verfügung stehen oder zumindest nicht zugänglich sind,
zum anderen dadurch, dass sie – vielfach bedingt durch die erwähnten Defiziterfahrungen – ihre Selbst- und Sozialkompetenzen nicht so weit entwickeln konnten, dass diese als zumindest tendenzielle Resistenzfaktoren wirken können.
In diese Erfahrungs- und Entwicklungslücken stoßen nun Angebote in Gestalt von Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen hinein: Sie offerieren Realitätskontrolle durch restriktive Formen von gesellschaftlicher Kontrolle (zum Beispiel bei der Zu- und Einwanderung); sie vermitteln leistungsunabhängige Integrationsbezüge auf der Basis von z. B. „rassischer“, ethnischer und nationaler Zugehörigkeit; sie machen Sinnangebote über Bedeutungszuweisungen, die von ihnen angesprochene Jugendliche sich z. B. als Angehörige des letzten Fähnleins aufrechter Vaterlandsverteidiger verstehen lassen; sie verschaffen Sinnlichkeitserfahrungen im Kontext von Überlegenheitsinszenierungen, soldatischer Ästhetik, spezifischer Feierkultur, Gewaltaktionen u. a. m.; sie warten mit Deutungsmustern auf, die gesellschaftliche Komplexität reduzieren, Ambivalenzen vereindeutigen und daher einfache Lösungen für die Beseitigung der oben genannten Mangel- und Bedrohungserfahrungen beinhalten; sie knüpfen an Kompetenzen an, die die gefährdeten Jugendlichen bereits mitbringen (etwa Risikofreudigkeit, Konfliktsuche, physische und verbale Gewaltfähigkeit), werten sie auf und werten dagegen andere Kompetenzen wie Empathie, Reflexivität und verbale Konfliktfähigkeit ab.
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Was tun? – Gegenstrategien
Un- und antidemokratische Haltungen stellen Gefährdungen für den aktuellen Zustand der Demokratie, seine Weiterentwicklung und die intergenerationelle Weitergabe demokratischer Errungenschaften dar. Sie unterhöhlen die Standards gewaltfreier Konfliktaustragung und ebnen den Weg für (Hass-) Kriminalität. Wer Demokratie schützen und vielleicht sogar ihren Ausbau weitertreiben will, kann solche Orientierungen und Aktivitäten deshalb nicht schlicht ignorieren oder bagatellisieren. Sie/er muss sich vielmehr fragen, wie effektive Gegenstrategien aussehen und an welchen Stellen sie ansetzen können, um imstande zu sein, nicht nur Symptomkur zu betreiben, sondern ursachenbezogen vorzugehen. Nimmt man dafür die oben (wenigstens grob) skizzierten Begünstigungsfaktoren noch einmal in den Blick, so drängt sich zur Bearbeitung von Pauschalablehnungen ein Ansatz auf, der als KISSeS-Strategie zu bezeichnen ist. Das Akronym verweist dabei auf die einzelnen Dimensionen dieser strategischen Anlage, die (im Folgenden Möller 2019 a entsprechend) in der hier präsentierten allgemeinen Kontur sowohl für politisches und zivilgesellschaftliches als auch für pädagogisches und sozialarbeiterisches Handeln im Themenfeld zur Grundlegung genommen werden kann: 1.
K. wie Kontrolle: Um der Empfindung unzureichender Durchsetzbarkeit von Kontrollerwartungen entgegentreten zu können, müssen von Kindheit an Plattformen für Erfahrungen bereitgestellt werden, auf denen Selbstwirksamkeit, darauf fußender Selbstwertaufbau und Planungskompetenzen wachsen können. Wer die Erfahrung macht oder erwarten kann, sein Leben aktuell und zukünftig in sozial akzeptierter Weise weitestgehend selbst bestimmen zu können und dafür entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu haben, hat es nicht nötig, aus Gefühlen von Ohnmacht oder Handlungsunsicherheit heraus (Versprechungen der Einlösung von) Allmachtsgelüsten und Kontrollphantasmen gegenüber anderen nachzujagen. Einmal abgesehen von der Notwendigkeit, mittels politischer Vorkehrungen für entsprechende infrastrukturelle Gegebenheiten Sorge tragen zu müssen: Soziale Einrichtungen und pädagogische Institutionen, insbesondere Schulen, aber auch Kindertagesstätten und weitere Felder der Jugendhilfe, haben bei der Vermittlung solcher Erfahrungen erheblichen Umsteuerungsanlass, mindestens aber eine Menge an Nachholbedarf.
2.
I. wie Integration: Wo Integrationsschwierigkeiten und -defizite bestehen oder entstehen können, entweder weil Tendenzen zur sozialen Desintegration vorliegen oder weil eine ‚Überintegration‘ in Integrationsangebote attraktiv erscheint, die demokratisch ausgerichteten Sozial-
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bindungen entgegenlaufen, sind Modi der Integration zu eröffnen, die eben dies verhindern und Alternativen bieten. Konkreter: Allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse und Regelungen sind ebenso wie pädagogische und soziale Einrichtungen daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie für alle realisierbare Integrationschancen zur Verfügung stellen. Dabei ist die Frage zu beantworten, wie auch solche Medien der Erfahrung von Zugehörigkeit, Anerkennung, Partizipation und Identifikation mit gesellschaftlichen Strukturen und Regularien entwickelt und zugänglich gemacht werden können, die nicht um Leistungserbringung, Statusnachweis, Besitz, Macht und Konsum konzentriert sind. 3.
S. wie Sinnstiftung und -zuschreibung: Da PAKO-Träger*innen im Allgemeinen Personen sind, die sich auf Sinnsuche befinden, in den meisten gesellschaftlichen Sinnangeboten aber nicht in für sie befriedigender Weise fündig werden und deshalb Sinnofferten aus undemokratisch und/oder unsozial ausgerichteten Orientierungs- und Sozialkontexten folgen, ist es für Gegenstrategien fundamental, Sinnverweise bieten zu können, die mindestens gleichattraktiv, besser aber interessanter erscheinen als diejenigen, die in pauschalisierende politisch-soziale Ablehnungshaltungen hineinführen. Dazu bedarf es der Vermittlung von wiederholten Erfahrungen, Denk- und Aktionsweisen entwickeln zu können, in denen das persönliche Handeln wie gesellschaftliche Zusammenhänge insgesamt und u. U. sogar transzendentale Bezüge als kohärent, konsistent und darüber auch orientierungsrelevant und identitätsstiftend wahrgenommen werden können.
4.
S. wie Sinnlichkeit: Da beschränkte Möglichkeiten sinnlichen Erlebens Anfälligkeitskonstellationen für PAKOs mitbedingen und da im Zusammenhang ihres Auslebens eher selbst- und fremdschädigende Sinnlichkeitserfahrungen anfallen, besteht die Herausforderung, Erfahrungen sinnlichen Erlebens, die weder individuell noch sozial schädlich sind, mehr noch: Erlebensweisen positiver Valenz zu eröffnen und dabei zugleich deutlich werden zu lassen, dass Pauschalablehnungen ihnen eher entgegenstehen als sie befördern.
5.
e. wie erfahrungsstrukturierende Repräsentationen: Insofern es weniger festgefügte, logisch aufgebaute und argumentativ gesättigte Ideologien sind, die Erfahrungssedimente und damit das Kernmaterial von PAKOs bilden, als vielmehr Repräsentationen, also mentale Abbilder von Realität, die einen visuell basierten, intuitiven, assoziativen und oft auch bereits habitualisierten Zugang zur Strukturierung von Erfahrungen bieten, reichen Wissens- und Informationsvermittlung als Gegenstrategien nicht aus. Stattdessen muss, insbesondere auch innerhalb der politischen
Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren …
115
Bildung, die Frage leitend werden: Wie lassen sich möglichst ganzheitliche Erfahrungs- und Begegnungsmöglichkeiten vermitteln, über die PAKO-relevante Sachverhalte und Personen(-gruppierungen) vorurteilsfreier wahrgenommen, erlebt und kategorisiert werden können als vorher? 6.
S. wie Selbst- und Sozialkompetenzen: Wenn Erfahrungen wie die genannten durchlaufen werden können, bedarf es keines speziellen Trainings (mehr), um Reflexivität, Empathie, Impulsivitätskontrolle und ähnliche Kompetenzen zu schulen. Erfahrungsgemäß sind sie nämlich Produkte entsprechender Erfahrungen.
Letztendlich und bilanzierend: Erfahrungsorientierung ist als eine zentrale pädagogische und sozialarbeiterische, aber auch politische und zivilgesellschaftlich relevante Herangehensweise gefordert. Es gilt, funktionale Äquivalente für jene Erfahrungskonstellationen, Haltungen und Repräsentationen verfügbar zu machen, die pauschalisierende Ablehnungshaltungen befördern. Dies heißt, im Rahmen eines demokratischen und auf wechselseitigem Respekt beruhenden Spektrums Lebensbedingungen bereitzustellen und Angebote zu machen, die aus der Sicht der Subjekte erwartbarerweise dieselben Funktionen zu erfüllen vermögen wie die problematischen Orientierungen, Aktivitäten und Strukturen und dabei nicht hinter deren Attraktivität zurückbleiben.
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Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren …
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Determinanten urbaner (In-)Toleranz1 Joachim Häfele 2
Keywords: Mehrebenenanalyse, abweichendes Verhalten, Bedrohung, urbane Intoleranz
Abstract Der vorliegende Beitrag widmet sich der Untersuchung urbaner (In-)Toleranz. Einerseits gesellschaftlich immer wichtiger, andererseits (so die These) für immer mehr Menschen immer schwieriger zu realisieren, stellt urbane Toleranz eine wichtige urbane Kompetenz für die aktuelle und zukünftige Stadt dar. Zur Untersuchung der Determinanten urbaner (In-)Toleranz werden im Folgenden statistische Mehrebenenanalysen (n = 3600 Befragte in N = 49 Hamburger Stadtteilen) durchgeführt.
Inhalt 1 Einleitung ..................................................................................................121 2 Theoretische und empirische Befunde ......................................................122 3 Hypothesen ................................................................................................125 4 Messung der Individual- und Kontextvariablen ........................................126
1
Der vorliegende Aufsatz stellt eine gekürzte Fassung eines kürzlich bei der Zeitschrift Soziale Probleme eingereichten Manuskripts dar. Für ausführliche Informationen bezüglich Stichprobe und Datengrundlage, zur deskriptiven Statistik der unabhängigen Variablen sowie zum methodischen Vorgehen und einzelnen Analyseschritten wird auf diese Publikation verwiesen.
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Joachim Häfele | Polizeiakademie Niedersachsen | [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Bogerts et al. (Hrsg.), Verschwörung, Ablehnung, Gewalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31701-0_6
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Joachim Häfele
5 Ergebnisse der Mehrebenenanalyse ...........................................................131 6 Fazit und Kritik .........................................................................................136 Literatur ..........................................................................................................137
Determinanten urbaner (In-)Toleranz13F
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Einleitung
Bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten häufen sich in unseren Städten die Hinweise, dass Fremdheit, Differenz und Abweichung für viele Menschen zu einem Problem geworden sind und urbane Toleranz zunehmend unter Druck geraten zu scheint (Groenemeyer 2012). Beispiele hierfür finden sich in Teilen einer neuen Protestbewegung, die sich ausdrücklich gegen die räumliche Nähe von Randständigen oder deren Institutionen (z. B. Fixerstuben) richten, in neuen Formen abgeschirmten oder bewachten Wohnens (gated housing), in Forderungen nach freiheitseinschränkenden städtischen Raumkontrollen oder in der zunehmenden Problematisierung und Kriminalisierung von abweichenden Situationen oder abweichendem Verhalten in Medien, Politik und der städtischen Bewohnerschaft. Vor dem Hintergrund, dass Städte ohne Zuwanderung weder entstanden wären noch ihre Bevölkerungsdichte halten könnten, erscheint diese Entwicklung besonders ambivalent und problematisch, denn kulturelle und soziale Vielfalt und das Zusammenleben von (einander) Fremden gilt als wesentliches Charakteristikum von Großstädten und zentrales Definitionsmerkmal von Urbanität (Häußermann/Siebel 2001, S. 5; Wehrheim 2002, 2009). Gerade in der Großstadt wird die räumlich verdichtete Koexistenz einander Fremder zur Normalität. Diese für Großstädte typische (und potenziell konflikthafte) Situation der Vielfalt, Pluralität, Devianz und/oder Fremdheit in ihrer räumlichen Nähe macht Toleranz zu einer notwendigen Bedingung eines erträglichen Umgangs und individueller Freiheit im öffentlichen urbanen Raum. Georg Simmel (1903, S. 234) hat diesen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und -dichte in den Städten, wachsender Toleranz und individuellem Freiheitsgewinn schon früh vorausschauend formuliert. Die „Reserviertheit mit dem Oberton versteckter Aversion [gewährt – JH] dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit, zu denen es in anderen Verhältnissen keine Analogie gibt“. Zahlreiche Soziolog*innen und Stadtforscher*innen haben dieses Postulat in den letzten hundert Jahren mit anderen Worten und anderen Akzentuierungen immer wieder aufgenommen. Erving Goffman (1982) thematisiert die Idee einer aus der allgemeinen Fremdheit resultierenden toleranten Reserviertheit, wenn er von der „höflichen Nichtbeachtung“ bzw. „defensiven Reizunterdrückung“ spricht; bei Hans-Paul Bahrdt (1998) ist von der „resignierten Toleranz“ des Städters die Rede, und Armin Nassehi (1999, S. 177) erkennt in eben dieser distanzierten Form urbaner Toleranz ein „bürgerliches Privileg der Fremdheit“. In der Stadt, als Ort der Anonymität und Unvorhersehbarkeit, erscheint der oder das Fremde als ihr Prototyp (Siebel 1997, S. 31). Zum städtischen Leben gehört daher auch immer ein bestimmter Grad von Unsicherheit darüber, wen wir treffen und wie sich die betreffende Person verhalten wird. Welchen Grad diese Unsicherheit erreicht bzw. ob diese Unsicherheit als verwirrend, irritierend, verärgernd, bedrohlich oder als „urban thrill“ erlebt wird
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und welche subjektiven Handlungskonsequenzen daraus gezogen werden, hängt von der Interpretation der jeweiligen (abweichenden) Situation ab. Das Fremde und/oder Abweichende kann ambivalente und gegensätzliche Wirkungen entfalten: einerseits verlockend, mysteriös, einladend, „ein Gesicht unendlicher Möglichkeiten, noch nie erprobter Lust und immer neuen Abenteuers“ (Bauman 1997, S. 224 f.), andererseits finster, drohend, einschüchternd und beängstigend (Waldenfels 1997). Vieles deutet inzwischen jedoch auf eine zunehmende Dominanz letzterer Dimension hin, denn in der politischen und medialen Thematisierung von Abweichung und Differenz dominieren inzwischen Begriffe wie Risiko, Desintegration, Anomie und Unsicherheit bzw. Kriminalitätsfurcht (Groenemeyer 2012). Diese Tendenz ist umso problematischer einzustufen, als unterschiedliche Formen von Migration (formell und informell) weiter zunehmen werden. Der demografische Wandel geht andererseits auch mit einer zunehmenden Armut insbesondere in urbanen Räumen einher, deren sichtbare Erscheinungsformen bereits seit längerer Zeit als Incivilities bzw. als Sicherheitsrisiko und damit als intolerabel für den öffentlichen Raum betrachtet werden (Häfele/Sobczak 2002; Häfele/Schlepper 2006; Häfele 2011, 2013). Die zahlreichen innerstädtischen Law-and-Order-Maßnahmen zur Verhinderung und Sanktionierung von urbanen Disorder-Phänomenen, die inzwischen in allen größeren europäischen Städten zur alltäglichen Praxis geworden sind, liefern hierfür eindrückliche empirische Befunde. Bei diesen Maßnahmen wird fast immer mehr oder weniger explizit Bezug genommen auf das „Null-Toleranz-Programm“, die weltweit wohl bekannteste New Yorker Polizeistrategie aus den 1990er Jahren (z. B. Hess 2004; Harcourt 2001; Wacquant 2000; Bowling 1999). Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und der hohen Relevanz, die der Frage nach Toleranzen und Intoleranzen in wissenschaftlichen, stadtplanerischen und (stadt-)politischen Diskursen inzwischen eingeräumt wird, verwundert es, dass bis heute kaum empirische Ergebnisse zu den Determinanten urbaner (In-)Toleranzen vorliegen.
2
Theoretische und empirische Befunde
Urbane Toleranz im zuletzt genannten Sinne bezieht sich insbesondere auf das nähere räumliche Umfeld. Im Blickpunkt steht damit eine von politischer und moralischer Toleranz abgrenzbare Dimension von sozialer Toleranz als genereller Bereitschaft, zu leben und leben zu lassen, d. h., abweichendes Verhalten, diverse Lebensstile und/oder kulturelle Unterschiede im urbanen Raum zu tolerieren (Rapp 2014, S. 26). Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach urbaner (In-)Toleranz lässt sich bis an ihre Anfänge zurückdatieren: Neben Georg Simmel („Die Großstädte und das Geistesleben“ [1903]), sind es vor allem Emile Durkheim („The Division of Labour in Society“ [1984, zuerst
Determinanten urbaner (In-)Toleranz13F
123
1893]), Walter Benjamin („Charles Baudelaire“) [1997, verfasst: 1935–1939]) und Norbert Elias („Über den Prozess der Zivilisation“ [1992, zuerst 1939]), die den modernen Urbaniten als einen Akteur beschreiben, dem permanent bestimmte emotionale Reaktionen und entsprechende Handlungsstrategien bei der Konfrontation mit Diversität, Kontingenz oder Fremdheit im öffentlichen Raum abverlangt werden. Die theoretisch postulierte Spannweite reicht dabei von Ärgernissen, die zu Sanktionen bzw. Intoleranzen führen (Durkheim) über Furcht, die zu Rückzug führt (z. B. Bauman 1997; Wilson/Kelling 1982) bis zu Blasiertheit, die Toleranz (doing nothing) zur Folge hat (Benjamin 1997; Simmel 1903). Der Terminus „urbane Toleranz“ wird in der Literatur weiter aufgefächert in (a) „positive Toleranz“ (Lofland 1993, S. 96) als ausdrückliche Bejahung von Differenz und vollständige Akzeptanz und/oder urbane Solidarität und (b) eine Konzeption als „negative“ (Lofland 1993, S. 96), „aversive“ (Simmel 1903) oder „resignierte Toleranz“ (Bahrdt 1961), die als soziales Minimum oder Notlösung die schier unüberschaubare Komplexität urbanen Lebens reduziert und in gleichem Maße Fremdheit erst erträglich macht (Simmel 1903) und deren funktionale Notwendigkeit in der Heterogenität der städtischen Lebensweise selbst begründet liegt. Diese Auffassung der Konfliktabhängigkeit von sozialer Toleranz, d. h. Toleranz als Bereitschaft, etwas oder jemanden auszuhalten bzw. nicht zu sanktionieren (z. B. Rapp 2014; Forst 2000, 2003; Fritzsche 1995), ist in der Literatur weit verbreitet. Ausgehend von dieser Überlegung ist Toleranz ohne Ablehnungskomponente bzw. Abneigung gegenüber einer Person, Gruppe, Handlungen oder Dingen weder möglich noch notwendig. In Anlehnung an Georg Simmel wurde bereits innerhalb der frühen nordamerikanischen Stadtsoziologie rund um die Chicago School argumentiert, dass Toleranz insbesondere durch das Leben in der Großstadt gefördert werde. Wesentlich später durchgeführte (quantitative) Studien, die sich auf diese Urbanismus-These stützen (zusammenfassend Bendix 1996), zeigten zwar einen messbaren, häufig aber lediglich schwachen Zusammenhang zwischen (urbanem) Wohnort und toleranten Einstellungen, sodass es weniger der Kontext (der urbane Raum) als vielmehr habituelle Merkmale des sozialen Raums zu sein schienen, die tolerante Einstellungen förderten oder hemmten. Insgesamt hat sich bisher jedoch nur ein kleiner Teil der vorliegenden (vor allem neueren) Studien auf die Untersuchung sozialer Toleranz fokussiert (z. B. Kirchner/Freitag/Rapp2011; Dunn/Salomon/Singh 2009), und nur wenige dieser Studien wurden außerhalb des US-amerikanischen Kontextes durchgeführt (z. B. Freitag/ Rapp 2013; Ikeda/Richey 2009; Weldon 2006). Weiterhin hat sich ein Großteil bisheriger Studien auf die Messung von (In-)Toleranz gegenüber ethnischen Minoritäten fokussiert (z. B. Cote/Erickson 2009; Noll/van der Poppe/Verkuyten 2010; Wagner et al. 2006). Zusammenfassend konnten innerhalb dieser Studien Einflussfaktoren auf der Individual- und Kontextebene identifiziert werden. Auf der Individualebene
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Joachim Häfele
konnte häufig Bildung als statistisch positiver Einflussfaktor auf Toleranz nachgewiesen werden (z. B. Marquart-Pyatt/Paxton 2007; Cigler/Joslyn 2002; Cote/ Erickson 2009), wobei diese Effekte insofern umstritten sind, als sie möglicherweise auf den Effekt der sozialen Erwünschtheit bei Menschen mit höherer Bildung zurückzuführen sind (Rapp 2014). Sullivan/Piereson/Marcus (1993) konnten nachweisen, dass der Einfluss des Bildungsgrades auf soziale Toleranz mit der Messung von Toleranz deutlich variierte. Wurde Toleranz in Anlehnung an die o. g. Definition mit Ablehnungskomponente gemessen, so konnten lediglich geringe bis gar keine Effekte von Bildung auf Toleranz nachgewiesen werden. Oberwittler, Janssen und Gerstner (2017) konnten einen negativen Effekt der Bildung und positive Effekte einer schlechteren materiellen Situation und der Wohndauer im Wohngebiet auf die subjektive Belastung durch Incivilities nachweisen. Auch Häfele (2013 a, b) konnte einen entsprechenden positiven Effekt der Wohndauer auf die subjektive Bedrohtheit durch abweichendes Verhalten nachweisen. Für das Alter zeigten Studien nur einen geringen bis keinen Effekt (z. B. Cote/ Erickson 2009; Ikeda/Richey 2009; Kirchner/Freitag/Rapp 2011; Petersen et al. 2011). Hinsichtlich des Bedrohungsgefühls durch abweichendes Verhalten konnte jedoch für ältere Menschen eine höhere Belastung festgestellt werden (z. B. Häfele 2013 a, b). Für Geschlecht konnte ein negativer Effekt nachgewiesen werden, d. h., weibliche Personen waren wesentlich weniger tolerant als männliche Personen (Stouffer 1955). Golebiowska (1999) kommt diesbezüglich u. a. zu dem Ergebnis, dass weibliche Personen generell eine höhere wahrgenommene Bedrohung durch verschiedene Gruppen aufweisen, was in der Folge zu höherer sozialer Intoleranz führt. Weiter lässt sich aus sozialisationstheoretischen Überlegungen ableiten, dass die Toleranzschwelle gegenüber abweichendem Verhalten bei Frauen deutlich niedriger ausfällt als bei Männern (Franklin/Franklin 2009). Auch Häfele (2013 a, b) konnte nachweisen, dass weibliche Personen abweichendes Verhalten bedrohlicher einschätzen als männliche. Für Deutschland konnten Semyonov und Kolleg*innen (2004) – im Gegensatz zur Kontakthypothese – weitgehend bestätigen, dass die wahrgenommene Bedrohung und die Intoleranz gegenüber einer ausländischen Minderheit umso höher ausfallen, je größer der wahrgenommene Anteil einer ausländischen Minderheit ist. In Anlehnung an die Vorurteilsforschung (z. B. Allport 1954; Pettigrew 1998) sowie Studien zu lokalem sozialen Kapital bzw. sozialen Netzwerken (u. a. Hooghe/Reeskens/Stolle 2007; Hooghe et al. 2009; Putnam 2007) wird dagegen postuliert, dass direkte Kontakte mit diversen Personen und/oder Gruppen (im Freundeskreis, der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz) einen positiven Effekt auf Toleranz ausüben. So konnten Wagner et al. (2006) für Deutschland nachweisen, dass direkte Kontakte mit diversen Personen zu einem Rückgang von Bedrohlichkeitsgefühlen und einem Anstieg der Toleranz führten. Bezüglich der subjektiven Wahrnehmung von Unordnung und abweichendem Verhalten konnten positive Effekte von Opfer-
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125
erfahrungen nachgewiesen werden. Opfer von Gewaltdelikten nehmen entsprechend wesentlich mehr Incivilities im Stadtteil wahr als andere (Oberwittler/Janssen/Gerstner 2017; Eifler/Thume/Schnell 2009; Häfele 2013 a, b). Auf der Kontextebene konnten bisherige Studien feststellen, dass eine universell ausgerichtete Wohlfahrtsstaatlichkeit gesellschaftliche Differenzen i. S. von wahrgenommenen Bedrohungen verringern und (in der Folge) Toleranz fördern kann (Kirchner/Freitag/Rapp 2011). Auch Andersen und Fetner (2008) konnten anhand ihrer Untersuchung von 35 Demokratien feststellen, dass Individuen in stark ökonomisch ungleichen Staaten intoleranter sind als in eher gleich verteilenden Ökonomien (Rapp 2014). Hummelsheim, Oberwittler und Pritsch (2012) konnten einen negativen Effekt von nationalen Wohlfahrtspolitiken auf kriminalitätsbezogene Bedrohungsgefühle bzw. Unsicherheiten nachweisen. Bezogen auf ethnische Diversität auf Kontextebene konnten Studien eher die Kontakthypothese (Allport 1954) – im Gegensatz zur Bedrohungshypothese – bestätigen (Hodson/Sekulic/Massey 1994; Massey/Hodson/Sekulic 1999). Demnach führt ein höheres Maß an (tatsächlicher) Diversität zu mehr Kontakt und damit zu mehr Toleranz. Allerdings konnte bezüglich der subjektiven Wahrnehmung von Incivilities nachgewiesen werden, dass diese umso häufiger wahrgenommen werden, je höher z. B. der Anteil der dunkelhäutiger Menschen im Viertel (Sampson 2009) oder der Nicht-EU-Ausländer*innen (Oberwittler/Janssen/Gerstner 2017; siehe auch Janssen/Gerstner/Oberwittler 2019) ist. Die Wahrnehmung von Unordnung und abweichendem Verhalten der Bewohner*innen scheint also von sozialen Stereotypen beeinflusst zu sein, wenngleich die Häufigkeitswahrnehmung streng genommen noch keine Rückschlüsse auf die Bedrohlichkeit dieser Incivilities zulässt. Für Köln kommen Oberwittler, Janssen und Gerstner (2017) andererseits zu dem Schluss, dass „innenstadtnahe Gebiete mit einer lebendigen urbanen Infrastruktur zwar objektiv viele Zeichen von Unordnung aufweisen, diese aber von den Bewohner*innen nicht als bedrohlich wahrgenommen werden. Möglicherweise wird Unordnung in diesem Kontext als Begleiterscheinung eines vielfältigen urbanen (Nacht‑)Lebens toleriert“ (ebd., S. 199). Insgesamt existieren vergleichsweise wenige Ergebnisse zu den Effekten von Kontextvariablen auf gruppen- und personenbezogene Bedrohungsgefühle bzw. (In-)Toleranzen.
3
Hypothesen
In Anlehnung an bisherige theoretische und empirische Befunde wird von folgende Messhypothesen auf der Individualebene ausgegangen: Die Kriminalitätsfurcht ist umso höher,
je geringer das lokale soziale Kapital,
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Joachim Häfele
je geringer das generelle Sozialkapital,
je höher die direkte Viktimisierung,
je höher die indirekte Viktimisierung,
je geringer die Wohnzufriedenheit,
je länger die Wohndauer,
je älter die Person ist.
Zudem gilt: Wenn es sich um einen Wohneigentümer oder um eine Frau handelt, kommt es häufiger zu Intoleranzen gegenüber abweichendem Verhalten im urbanen Kontext. Auf der Kontextebene lauten die entsprechenden Messhypothesen: Die Anzahl systematisch beobachteter social incivilities ist umso höher,
je benachteiligter die Sozialstruktur,
je höher die Kriminalitätsbelastung,
je niedriger die Bevölkerungsdichte,
je höher die Fluktuationsrate im Stadtteil,
Außerdem gilt: Je höher die Kriminalitätsfurcht einer Person ist, desto eher kommt es zu Intoleranzen gegenüber abweichendem Verhalten im urbanen Kontext.
4
Messung der Individual- und Kontextvariablen
Zur Messung des Grades der subjektiven Bedrohung durch abweichendes Verhalten (im Folgenden: SBAV) im Stadtteil (abhängige Variable) sollten die Befragten die perzipierte Häufigkeit sowie den subjektiven Bedrohungsgrad für insgesamt 14 typische, d. h. genuin urbane, Formen abweichenden Verhaltens im Stadtteil angeben. Zunächst wurde danach gefragt, für wie schlimm Befragte das jeweilige Verhalten (i. S. von bedrohlich) halten („sehr schlimm“ = 3 bis „gar nicht schlimm“ = 0). Anschließend wurden sie gefragt, wie oft sie das jeweilige Verhalten in ihrem Stadtteil in den letzten 12 Monaten selbst gesehen haben („sehr oft“ = 4 bis „nie“ = 0). Für jedes Item wurde ein Produkt aus Bedrohungsgrad × Häufigkeit gebildet. Anschließend wurden die Produkte summiert und es ergab sich eine Produktsumme für die SBAV (Cronbachs α = 0.92). Ein Verhalten war für eine Person nicht von subjektiver Bedeutung, wenn das Produkt für dieses Verhalten den Wert 0 hatte, d. h., wenn diese Handlung als „gar nicht schlimm“
127
Determinanten urbaner (In-)Toleranz13F
(0) eingeschätzt wurde, wenn sie „nie“ (0) auftrat oder wenn beides der Fall war. Die Rangfolge der Mittelwerte der SBAV findet sich in Tabelle 1.
zu schnell fahrende Autofahrer Betrunkene freilaufende Hunde Kampfhunde Leute, die in der Öffentlichkeit urinieren Lärm auf der Straße Drogenabhängige oder Drogendealer Gruppen Jugendlicher Obdachlose oder Bettler Leute, die Passanten anpöbeln Radfahrer oder Inlineskater auf dem Gehweg Streitereien oder Schlägereien psychisch Kranke Prostituierte
N
M
3600 3590 3590 3577 3567 3586 3583 3595 3587 3587 3589 3587 3544 3592
6,72 3,93 3,63 3,50 3,48 3,18 2,77 2,63 2,60 2,52 2,48 2,19 1,15 ,80
Wertebereich für die Produkte: 0 bis 12 N = Anzahl Befragter; M = arithmetisches Mittel
Tab. 1:
Rangfolge der SBAV
Auf Grundlage einer Faktorenanalyse mit identischen Daten (Häfele 2013) sowie auf Grundlage der Summe der Produkte (Grad der Bedrohlichkeit × perzipierte Häufigkeit) wurde ein additiver Index (SBAV) gebildet (Cronbachs stand. α = 0.87). Der Index ist normalverteilt. Das lokale soziale Kapital wurde durch die Indikatoren Kontakte zu Nachbarn und Vertrauen zu Nachbarn (z. B. Sampson/Groves 1989, Sun/Triplett/Gainey 2004) sowie durch die collective efficacy (= kollektive Wirksamkeit informeller sozialer Kontrolle) als neuere Dimension des lokalen sozialen Kapitals (z. B. Sampson/Raudenbush 1999, 2004; De Keseredy et al. 2003; Oberwittler 2003) gemessen. Zur Messung nachbarschaftlicher Kontakte wurden die Personen gefragt, wie oft sie in den letzten 12 Monaten folgende Dinge mit Nachbarn unternommen haben („sehr oft“ = 4 bis „nie“ = 0): (1) sich mit Nachbarn über Ereignisse oder Probleme unterhalten; (2) gemeinsam mit Nachbarn etwas in der Freizeit unternommen; (3) Nachbarn etwas ausgeliehen. Zur Messung des Vertrauens in Nachbarn wurden Personen gefragt, wie sehr sie den folgenden Items zustimmen („trifft voll und ganz zu“ = 4 bis „trifft überhaupt nicht zu“ = 1): (1) Den meisten Nachbarn hier kann man vertrauen; (2) Wenn ich längere Zeit nicht da bin, bitte ich Nachbarn darum, nach meiner Wohnung zu schauen; (3) Wenn es darauf ankommen würde, könnte ich mich auf
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meine Nachbarn verlassen; (4) Die Leute in meiner Nachbarschaft kenne ich größtenteils mit Namen; (5) Die Leute in meiner Nachbarschaft sind bereit, sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Die collective efficacy wurde durch die Frage gemessen, für wie wahrscheinlich es Befragte halten, dass Nachbarn gemeinsam etwas unternehmen, um bestimmte Probleme im Stadtteil zu lösen. Hierzu sollten Befragte davon ausgehen, dass folgende Probleme in ihrem Stadtteil auftreten (sehr wahrscheinlich = 3 bis sehr unwahrscheinlich = 0): (1) Auf einer Grünfläche liegt häufig Sperrmüll herum; (2) Eine Gruppe von Jugendlichen steht abends oft draußen herum und macht Lärm; (3) Wände werden immer wieder mit Graffiti besprüht. Auf Grundlage einer obliquen Faktorenanalyse wurden jeweils ein additiver Index „Vertrauen“ aus den drei Items zu Vertrauen und den beiden Items zur Kohäsion (Cronbachs stand. α = .84), ein additiver Index Nachbarschaftskontakte aus den drei Items zu nachbarschaftlichen Kontakten (Cronbachs stand. α = .81) und ein additiver Index collective efficacy aus den drei efficacy-Items (Cronbachs stand. α = .85) gebildet. Alle drei Faktoren korrelieren positiv miteinander (r = .26; .42; .53). Das kriminalitätsbezogene subjektive Unsicherheitsgefühl (Kriminalitätsfurcht) wurde in Anlehnung an das sog. Standard-Item durch die Frage gemessen, wie sicher oder unsicher sich die befragte Person fühlt, wenn sie bei Dunkelheit allein im eignen Stadtteil unterwegs ist („sehr sicher“ = 4 bis „sehr unsicher“ = 1). Um persönliche Viktimisierungserfahrungen zu messen, wurde den Befragten in Anlehnung an das Standardinventar von Kury und Obergfell-Fuchs (2003) eine Liste mit verschiedenen Ereignissen vorgegeben, die einem im Stadtteil begegnen können: (1) Beschädigung des Zweirads (Fahrrad, Mofa, Motorrad, Motorroller); (2) Diebstahl des Zweirads (Fahrrad, Mofa, Motorrad, Motorroller); (3) Beschädigung des Autos; (4) Aufbrechen des Autos und Diebstahl aus Auto; (5) Diebstahl des Autos; (6) Einbruch in die Wohnung; (7) von jemandem auf der Straße angepöbelt werden; (8) auf der Straße sexuell belästigt werden; (9) auf der Straße sexuell tätlich angegriffen werden; (10) als Fußgänger oder Radfahrer durch einen Verkehrsunfall verletzt werden; (11) auf der Straße von einem Hund gebissen werden; (12) auf der Straße ausgeraubt werden; (13) von jemandem geschlagen oder verletzt werden. Die Person wurde gefragt, ob ihr diese Dinge in ihrem Stadtteil innerhalb der letzten 12 Monate schon selbst passiert sind (Ja = 1; Nein = 0). Um indirekte Viktimisierungen zu messen, wurde gefragt, ob es im Bekanntenkreis Personen gibt, denen diese Dinge im Stadtteil innerhalb der letzten 12 Monate schon passiert sind (Ja = 1; Nein = 0). Für Befragte, die kein Zweirad oder Auto besaßen, waren entsprechende Antwortkategorien vorgesehen („habe kein Zweirad“; „habe kein Auto“). Aufgrund der Antworten wurden ein additiver
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Index der persönlichen Viktimisierung und ein additiver Index der indirekten Viktimisierung gebildet. Beide Indizes korrelieren positiv (r = 0.50). Befragte ohne Auto bzw. ohne Zweirad wurden bei den Viktimisierungen, die Auto oder Zweirad betreffen, nicht berücksichtigt. Die Prozentangaben dieser Viktimisierungen unterscheiden sich daher von denen der restlichen Viktimisierungen. Unterschiede in der jeweiligen Fallzahl (N) spiegeln sich somit nicht generell in entsprechenden Unterschieden der Prozentangaben (Prävalenzraten) wider. Das generelle Sozialkapital der Befragten wurde durch die Zahl der Mitgliedschaften in folgenden Gruppen, Vereinen, Verbänden und Organisationen gemessen: (1) Sport- oder Wanderverein; (2) kirchliche oder religiöse Gemeinschaft; (3) kultureller Verein, Gesangs- oder Musikverein; (4) Tierschutzverein; (5) Tierzuchtverein; (6) Naturschutzorganisation; (7) Gewerkschaft oder Berufsverband; (8) politische Partei oder Vereinigung; (9) Bürger- oder Stadtteilinitiative; (10) Orts- oder Bürgerverein; (11) Jugendorganisation oder Studentenverband; (12) Freiwillige Feuerwehr oder Rettungsdienste; (13) sonstige(r) Gruppe, Verein, Verband, Organisation. Auf Grundlage der Antworten wurde ein additiver Index gebildet (Putnam 2000; Narayan/Cassidy 2001; Bühlmann/Freitag 2004). Die Mitgliedschaft in Organisationen und Vereinen wird innerhalb der Forschung zu sozialem Kapital als eine der wichtigsten Handlungsressourcen zur Verwirklichung von bestimmten Zielen betrachtet (z. B. Coleman 1990, Kap. 12; Sandefur/ Laumann 1998; Portes 1998; Putnam 2000; Adler/Kwon 2000; Triplett/Gainey/ Sun 2003). Die Wohnzufriedenheit der Befragten in Bezug auf ihren Stadtteil wurde durch die Frage gemessen, wie gern sie im Großen und Ganzen in ihrem Stadtteil wohnen (vierstufige verbalisierte Skala von „sehr gern“ = 4 bis „sehr ungern“ = 1). Der Mittelwert liegt bei 3.41, die Standardabweichung liegt bei 0.74. Weitere Kontrollvariablen auf der Individualebene sind Alter, Geschlecht und Wohndauer. Die Kontextvariablen, die sich auf die 49 ausgewählten Stadtteile beziehen, wurden den Veröffentlichungen des Statistischen Landesamtes und der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2002 entnommen (Landeskriminalamt Hamburg 2003). Eine oblique Faktorenanalyse der folgenden Variablen ergab dabei die gleiche Einfachstruktur wie die Faktorenanalyse, die auf Grundlage der gleichen Variablen zur Schichtung aller 98 Stadtteile für die Ziehung der PPS-Stichprobe durchgeführt wurde: % Arbeitslose, % Sozialhilfeempfänger, % Sozialwohnungen, % Ausländer, Gewaltdelikte pro 1000 Einwohner, Diebstahldelikte pro 1000 Einwohner. Es wurden Faktor-Score-Variablen für die beiden extrahierten Faktoren „benachteiligte Sozialstruktur“ sowie „Kriminalitätsbelastung im Stadtteil“ berechnet. Der Faktor „benachteiligte Sozialstruktur“ entspricht hinsichtlich der verwendeten Indikatoren der Variable „concentrated disadvantage“ von Sampson und Raudenbush (1999) und Sampson/Raudenbush/Earls (1997). Ähnliche Indi-
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katoren werden von Friedrichs und Blasius (2000) sowie Ross, Mirowsky und Pribesh (2001) zur Charakterisierung benachteiligter Wohngebiete oder Nachbarschaften bzw. von Oberwittler (2004) zur Messung der sozialen Benachteiligung in Stadtteilen verwendet. Weitere Variablen auf der Kontextebene sind die die Bevölkerungsdichte (Einwohnerzahl pro km²), die Fluktuation der Wohnbevölkerung im Stadtteil = [(bereinigte Zuzüge + bereinigte Wegzüge)/Bevölkerungszahl im Stadtteil] × 1000. Um der Frage nachzugehen, ob die objektive Sichtbarkeit von abweichendem Verhalten einen Effekt auf die subjektive Wahrnehmung und Problematisierung bzw. den Grad der subjektiven Bedrohlichkeit hat, wurden systematische Beobachtungen in den ausgewählten 49 Stadtteilen durchgeführt. Die Messung der objektiven Verbreitung von normabweichendem Verhalten erfolgte im Rahmen einer verdeckt durchgeführten systematischen Beobachtung in den ausgewählten 49 Stadtteilen. Da eine Begehung der gesamten Fläche der ausgewählten Stadtteile aus forschungsökonomischen Gründen nicht realisierbar war, wurden nur diejenigen Räume für die Beobachtung ausgewählt, die für die Befragten subjektiv relevant und daher kognitiv präsent waren. Grundlage dieses Vorgehens (im Gegensatz etwa zu einem Random-Route-Verfahren) war die Annahme, dass sich Bewohner eines Stadtteils innerhalb ihres alltäglichen Aktionsradius nie flächendeckend in ihrem Stadtteil bewegen, sondern nur ganz bestimmte Wege (zur Arbeit, zum Einkaufen) routinemäßig nutzen. Diese Annahme legt den Schluss nahe, dass die Bewohner bei der Häufigkeit des Bedrohungspotenzials von abweichendem Verhalten an konkrete Orte im Stadtteil denken, d. h. an Orte, die innerhalb ihres Aktionsradius liegen und die sie daher im Laufe der Zeit auch selbst beobachtet haben (Häfele 2013). Zur Ermittlung dieser Orte wurde im Anschluss an die geschlossene Frage zur perzipierten Häufigkeit und Schwereeinschätzung unterschiedlicher abweichender Verhaltensformen folgende offene Frage gestellt: Gibt es in Ihrem Stadtteil Straßen oder Plätze, wo besonders störende Dinge oder Verhaltensweisen sehr häufig auftreten? Die Befragten konnten drei Orte im Stadtteil nennen. Über eine Häufigkeitsauszählung konnte der jeweils am häufigsten genannte „Hotspot“ pro Stadtteil ermittelt werden, wodurch sich 49 Beobachtungsgebiete ergaben. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden alle Items, die in der Bevölkerungsbefragung abgefragt wurden, auch als Beobachtungskategorien in das Beobachtungsschema aufgenommen. Einige Items wurden anhand zusammenfassender Beobachtungskategorien wie „aggressive Personen“ (Leute, die Passanten anpöbeln, Streitereien oder Schlägereien) erhoben. Um eine Zeitabhängigkeit des Auftretens von abweichendem Verhalten zu berücksichtigen, wurden die Beobachtungen eines Hotspots zu vier verschiedenen Zeiten durchgeführt, wobei zwischen verschiedenen Tageszeiten (11.30–15.00; 15.00– 18.30; 18.30–22.00; 22.00–24.00) und unterschiedlichen Wochentagen (Werktag vs. Wochenende) differenziert wurde. Drei Hotspots wurden jeweils nur einmal
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beobachtet, da die Antworten auf die offene Frage ergaben, dass dort lediglich zu schnell fahrende Auto- und Motorradfahrer störten. Damit ergaben sich insgesamt 187 Beobachtungen. Für jede Beobachtungsvariable wurde der Mittelwert aus den vier Beobachtungen pro Hotspot berechnet. Zur Überprüfung der Interraterreliabilität wurden von den Beobachtern anhand von Videoaufnahmen simultan die Auftrittshäufigkeiten von 32 unterschiedlichen Incivilities kodiert. Die Auswertung ergab eine unjustierte IntraklassenKorrelation (ICC) für Einzelmaße von .85 und damit einen sehr hohen Reliabilitätswert (Wirtz/Caspar 2002, S. 232). Dieser Wert indiziert, dass die Beobachter bei der unabhängigen Kodierung der einzelnen Kategorien zu sehr ähnlichen Ergebnissen kamen und drückt eine hohe Zuverlässigkeit der Beobachtungen aus.
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Ergebnisse der Mehrebenenanalyse
Um festzustellen, ob die abhängige Variable SBAV zwischen den Stadtteilen signifikant variiert und welcher Anteil der Varianz dieser Variable durch Stadtteilmerkmale (Level-2-Prädiktoren) maximal erklärt werden kann, wurde zunächst ein vollständig unkonditioniertes Modell berechnet. Das Ergebnis dieses leeren Modells ist in Tabelle 2 dargestellt. Der Prozentanteil der Level-2-Varianz an der Gesamtvarianz beträgt 18 Prozent. Ein hochsignifikanter Varianzanteil (p