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German Pages [344] Year 2010
Ve rsc hwi e ge n es Lei d
MENSCHEN UND KULTUREN B E I H E F T E Z U M S A E C U L U M J A H R B U C H F Ü R U N I V E R S A L G E S C H I C H T E H e r a u s g e b e n K a r l T h o m a s
A c h a m , H ö l l m a n n , u n d
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W o l f g a n g B a n d
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R ö l l i g
R e i n h a r d
Stefanie Westermann
Verschwiegenes Lei d Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Plakat einer Ausstellung des Reichsnährstandes über »Rassenhygiene« mit der Aufschrift: »Hier trägst du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM.« Das Plakat entstand 1936 und wurde ab 1940 im Biologielehrbuch von Jakob Graf für Gymnasien verwendet. © United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: MVR-Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20562-1
Vorwort „Von da an trag ich bis Lebensende dießes Mahnmal eine gezeichnete.“ Nimmt man den Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Allgemeinen und den Zwangssterilisationen im Besonderen als Maßstab einer gesellschaftlichen Entwicklung, so fällt die Bilanz für die bundesrepublikanische Gesellschaft zwiegespalten aus. Heute, im Jahr 2010, können die Betroffenen zumindest geringe „Entschädigungen“ erhalten, sind die Verbrechen vom Bundestag geächtet, die Urteile der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichte aufgehoben. Der Weg dorthin war lang, zu lang für die große Mehrheit der Zwangssterilisierten. Ein solcher Befund geht nicht von einer „Stunde Null“ aus und lässt auch nicht den in der Regel langwierigen und komplexen Veränderungsprozess von Mentalitäten und kollektiven Orientierungen außer Acht. Er berücksichtigt dies und kommt gleichwohl gemessen an dem letztlich einzig relevanten Maßstab, der Perspektive der Betroffenen, zu einem solchen Ergebnis. Warum konnten wir in den vergangenen Jahrzehnten so wenig tun für die Opfer, denen im „Dritten Reich“ Wertigkeit und das Recht auf Lebensgestaltung gleichermaßen abgesprochen und gewaltsam zu nehmen versucht wurde? Warum dauerte der „Lernprozess“, in dem eigentlich doch in erster Linie „nur“ zu lernen war, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, in Bezug auf die Betroffenen der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ so lange? Wenn wir einfach davon ausgehen, dass der praktizierte Umgang mit den Betroffenen nach 1945 naheliegend war und daher keiner besonderen Berücksichtigung oder gar Empörung bedarf, verletzen wir die Würde der Betroffenen erneut. Vielmehr ist es notwendig, ihrer Stimme Raum zu geben und unsere Verantwortung ihnen gegenüber deutlich zu machen. In diesem Sinne lässt sich das Eingangszitat, welches dem Brief einer Betroffenen entnommen wurde, verstehen. Wenngleich es semantisch nicht korrekt ist, drückt es doch das Bedürfnis aus, dass das Geschehene als „Mahnmal“ verstanden wird, welches als solches an die nationalsozialistischen Zwangssterilisationsverbrechen und an die von keiner Wissenschaft und keiner kollektiven Angst oder Hoffnung anzugreifende Würde des Einzelnen gemahnt. Die vorliegende Arbeit – im Sommer 2009 vom Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt als Dissertation angenommen – wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen nicht möglich gewesen. Zu erst gilt der Dank hierbei meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Herrn Prof. Dr. Rainer Eisfeld. Herr Prof. Dr. Wolfgang Reinhard war so freundlich, die Zweitbetreuung im
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Rahmen des Max-Weber-Kollegs zu übernehmen. Neben meinem Dank hierfür gilt er ihm und den weiteren Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe „Menschen und Kulturen“ des Böhlau-Verlages. Beim Max-Weber-Kolleg und dem Graduiertenkolleg „Menschenwürde und Menschenrechte“ durfte ich meine Arbeit zur Diskussion stellen. Hierfür, für anregende Seminare und ein dreimonatiges Stipendium der DFG möchte ich mich herzlich bedanken. Während der Entstehung dieser Arbeit war ich an den medizinhistorischen und -ethischen Instituten der Universitäten Tübingen und Aachen beschäftigt. Den beiden Direktoren, Prof. Dr. Urban Wiesing und Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß bin ich ebenso sehr für ihre Unterstützung verbunden wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsarchive Schleswig, Münster und München und des Amtsgerichts Hamburg. Insbesondere gilt mein Dank an dieser Stelle dem Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten und namentlich ihrer Geschäftsführerin, Margret Hamm. Ohne die Bereitschaft, mir das Archiv des BEZ zu öffnen und mich bei Interviews mit Betroffenen zu unterstützen, wären wesentliche Teile dieser Arbeit nicht zu realisieren gewesen. Das gleiche gilt für die beiden Damen aus Hamburg und Berlin, die mir so weitgehende Einblicke in ihr Leben gewährt und mich sehr beeindruckt haben. Dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen schließlich danke ich sehr herzlich für einen Druckkostenzuschuss. Diese Liste wäre mehr als unvollständig ohne die folgenden Personen, deren Kritik und Ermutigung unverzichtbare Voraussetzung der Fertigstellung waren: Iris Beilschmidt, Dr. Maria Kreiner, Jens Kolata, Henning Tümmers, Katharina Weishaupt, Tim Ohnhäuser, Jürgen Schreiber, Gereon Schäfer und vor allem Richard Kühl. Vielen Weiteren sowie meiner Großfamilie, die mir nicht nur für dieses Projekt die Wurzeln gegeben haben danke ich von ganzem Herzen – insbesondere meinen Eltern, Annette und Karl-Heinz Westermann. Meiner Schwester Anke, die in den letzten Jahren immer da war, ist dieses Buch gewidmet.
Aachen im Januar 2010,
Stefanie Westermann
Inhalt Vorwort Einleitung Forschungsstand Generelle Thematik Arbeiten zu Folgen der Zwangssterilisation Quellen und Methodik Verwendete Materialien – Möglichkeiten und Grenzen Methodische Überlegungen
9 11 11 14 22 22 29
I Theorie und Praxis der „Wertigkeit“
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1. Entwicklungselemente der Eugenik bis 1933 2. Kontinuitäten und Brüche – „Erbgesundheitslogik“ im Nationalsozialismus und nach 1945 2. 1 Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus Regelung und Praxis der Zwangssterilisationen Die Perspektive der Betroffenen 2. 2 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Diskussionen um die Notwendigkeit eugenischer (Zwangs-)Sterilisationen nach 1945 3. Die Zwangssterilisierten im politischen Raum nach 1945 3. 1 Der politische Umgang mit den Opfern 3. 2 Zur Entwicklung der Selbsthilfe- und Interessenorganisationen der Zwangssterilisierten Der Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ)
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89 89 102
II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen nach 1945
108
44 44 44 54
60 81 81
1. Die Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten 108 1. 1 Die (Wieder-)Einrichtung der zuständigen Instanzen 108 Regelungen und Selbstverständnis der Urteilenden 109 Motive der Zwangssterilisierten 117 1. 2 Praxis der einzelnen Gerichte 127
8
2. Staat und Individuum im Kontext der Wiederaufnahmeverfahren 2. 1 Beurteilungen und Entscheidungskriterien der Gutachter und Gerichte „Erbgesundheitslogik“, Sozialdiagnostik und Beliebigkeit Unterschiedliche Kommunikationsebenen Wandel der Bewertung 2. 2 Die Perspektive der Betroffenen im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren Folgen der Zwangssterilisation Argumentation und Kritik 3. Wiederaufnahmeverfahren und Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland
136 136 136 157 166
III Perspektiven der Betroffenen
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1. Leben mit der Zwangssterilisation 1. 1 Hintergründe und Erlebnis der Zwangssterilisation 1. 2 Folgen der Zwangssterilisation Kinderlosigkeit und zerbrochene Partnerschaften Physisches und psychisches Leiden Vergleich der Ergebnisse mit bisherigen wissenschaftlichen Annäherungversuchen 2. Selbstwahrnehmung und Bewertung des politischen Umgang mit den Opfern 2. 1 Entwürdigung/Stigmatisierung/Schweigen 2. 2 Einschätzungen der politischen und finanziellen „Wiedergutmachung“ 3. „Ich hoffe [...], ich konnte Ihnen einen kleinen Einblick in unser Leben geben“ 3. 1 Zwei Betroffene in Briefen Da habe ich mir ein Herz gefasst Wir haben zurückgezogen gelebt 3. 2 Interviews mit Zwangssterilisierten Und ich: Kinder, Kinder, Kinder Aber das verdrängt man Interviews im Rahmen von Forschungsprojekten
211 211 219 219 225 231
Zusammenfassung und Ausblick
304
Literatur und Quellen
310
172 172 178 186
241 241 252 270 270 270 274 275 277 282 286
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Einleitung1 Über 300 000 Menschen2 wurden während des Nationalsozialismus Opfer von Erbgesundheitsgerichtsverfahren, in denen ihre Gesundheit, ihre Intelligenz, ihre Lebensführung, letztlich ihr „sozialer Wert“ gemessen und als nicht ausreichend befunden wurden. Sie unterlagen operativen Zwangseingriffen mit gesundheitlichen Risiken sowie weiteren staatlichen Restriktionen, wie beispielsweise dem Verbot, fertile Partner zu heiraten. Die eugenischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates fanden nicht im Verborgenen statt. Bereits 1933 gesetzlich auf den Weg gebracht, wahrten sie durch regelhafte Verfahrensabläufe, eine mögliche Berufungsinstanz und insbesondere durch die Beteiligung der juristischen und medizinischen Eliten quasi rechtsstaatlichen Charakter. Für die Betroffenen hatte diese Form der staatlich organisierten und gesellschaftlich mehrheitlich grundsätzlich akzeptierten „Volksgesundheitspolitik“ gleich mehrfach negative Auswirkungen. Konnten sie sich den durch eine Trias von Medizin, Justiz und Polizei organisierten Zwangsmaßnahmen kaum entziehen, so wirkte die von keiner Instanz in Frage gestellte Zuweisung des Status der „Minderwertigkeit“ bewusstseinsbildend. Die Tatsache, zum vermeintlichen Schutz der Gesellschaft und der Nation „offiziell“ von der Fortpflanzung ausgeschlossen zu sein, die Verweigerung eines selbstbestimmten Lebens, der Zwangseingriff hinterließen tiefe Spuren im Leben vieler Betroffener. Nach 1945 wurden die Zwangssterilisationen jahrzehntelang nicht als Verbrechen gewertet, die Betroffenen dementsprechend von finanziellen „Wiedergutmachungen“ ausgeschlossen. Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte hob der Deutsche Bundestag erst über vierzig Jahre nach dem Ende des „Dritten Reichs“ auf, die Betroffenen sind bis in die Gegenwart nicht als nationalsozialistische Opfer anerkannt. Die Kontinuität einer „Erbgesundheitslogik“ ebenso wie des Definitions- und Verfügungsanspruchs einer gesellschaftlichen 1 Eingangszitat: Brief von C. K. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ), Detmold. Im Folgenden werden die Zitate der Betroffenen orthografisch und grammatikalisch wörtlich übernommen, lediglich Regelungen der neuen Rechtschreibung angewandt. Dies soll in keiner Weise zu einer Bloßstellung der Schreibenden führen, sondern vielmehr auf die großen Mühen hinweisen, die die Auseinandersetzung mit den Institutionen vielen Betroffenen bereitete. Teilergebnisse dieser Arbeit wurden bereits in Themenbänden veröffentlicht, beziehungsweise sind zur Veröffentlichung vorgesehen, vgl. Westermann (2008, 2009 a und b). 2 Exakte Zahlen der Zwangssterilisationen lassen sich nicht angeben. Schätzungen liegen in der Größenordnung von 300 000 bis 400 000. Vgl. hierzu Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten, Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 2. Juni 1967, S. 5-7, abgedruckt bei Dörner (1986a); Bock (1986); Simon (1998); Benzenhöfer (2006).
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Einleitung
Elite über den politischen Systemwechsel hinaus zeigte sich nicht zuletzt in der Praxis der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen. Die inhaltlichen und juristischen Grundlagen dieser Prozesse, in denen Zwangssterilisierte in der britischen Besatzungszone beziehungsweise den entsprechenden späteren Bundesländern3 bis in die 1980er Jahre hinein die individuelle Überprüfung ihres Sterilisationsurteils beantragen konnten, basierten auf dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) selbst. Das Urteil hob den nationalsozialistischen Sterilisationsbeschluss auf oder bestätigte, wie in über zwei Drittel der Fälle, dessen „Rechtmäßigkeit“. Eine breite Wahrnehmung der Zwangssterilisation als Verbrechen und der von ihnen Betroffenen als Opfer gelang sowohl in den Gerichtsverfahren wie in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion erst seit den 1980er Jahren. Diese Arbeit fragt nach den Zwangssterilisierten als einer Opfergruppe des Nationalsozialismus, ihren Wahrnehmungen sowie nach dem Umgang mit ihnen im Kontext der bundesrepublikanischen (Rechts)Staatlichkeit.4 Im ersten Kapitel werden die Entwicklungsstränge der eugenischen Diskussion, die bereits Jahrzehnte vor 1933 ihren Anfang nahm, die Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus und die (Dis-)Kontinuitäten eugenischen Denkens nach 1945 skizziert.5 Schließlich wird, soweit es die Quellenlage zulässt, nach den Anfängen und dem Selbstverständnis der Selbsthilfe- und Interessenorganisationen der Zwangssterilisierten gefragt. Das zweite Kapitel nimmt vor diesem Hintergrund die weiter wirkenden Kontinuitäten der „Erbgesundheitslogik“ in der Bundesrepublik sowie die Bewertungsmaßstäbe der erneut urteilenden Mediziner und Juristen in den Blick. Quellengrundlage sind hierbei Gerichtsakten von Wiederaufnahmeverfahren in 3 In den übrigen Besatzungszonen waren derartige Wiederaufnahmeverfahren nicht möglich. Vgl. hierzu auch Kap. II dieser Arbeit. 4 Hierbei geht es um die Opfer, die im Rahmen der „regelhaft“ durchgeführten „Erbgesundheitsmaßnahmen“ sterilisiert wurden. Diverse andere Gruppen von Betroffenen sowie die Zwangssterilisationen in den Konzentrationslagern werden nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich bei allen Zwangssterilisierten um Opfer handelt, um Opfer einer Staatsdoktrin, die im Verweis auf ein vorgeblich höheres Wohl einer postulierten Gemeinschaft das Lebensgestaltungsrecht von als „minderwertig“ definierten Menschen verneinte. 5 Dabei wird auf die vielfachen Diskussionen eines Gesetzes, welches die Sterilisation auf freiwilliger Basis als Mittel individueller Geburtenplanung regeln sollte, nicht eingegangen, da es sich hierbei um einen ideengeschichtlich anderen Zusammenhang handelt und derartige Maßnahmen als Ausdruck individueller Selbstbestimmtheit zu sehen sind. Gleichwohl konnten auch Überlegungen zur freiwilligen Sterilisation mit eugenischen Diskursen verknüpft sein. Vgl. hierzu Kapitel I 2.2 dieser Arbeit.
Forschungsstand
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Erbgesundheitsgerichtsprozessen der Amtsgerichte Hamburg-Mitte, Kiel und Hagen/Westfalen. Nach welchen Grundsätzen entschieden sie? Wurden die eigenen normativen Entscheidungsgrundlagen hinterfragt, die Zwangssterilisationen als Unrecht gesehen und wenn ja, unter welchen Umständen? In den Verfahrensakten wird implizit oder explizit auch die Perspektive der Zwangssterilisierten deutlich. Dabei kommen sie aber oftmals nur mittelbar zu Wort, d. h. ihre Aussagen werden von medizinischer und juristischer Seite gefiltert und kommentiert. Und auch wenn sie sich direkt beispielsweise in Briefen, äußern, ist zu vermuten, dass sie zumeist argumentative Strategien im Hinblick auf das Gerichtsverfahren verfolgen. Um die Wahrnehmungen der Betroffenen unmittelbarer und breiter untersuchen zu können, wurden daher in einem dritten Kapitel Briefe der Zwangssterilisierten an die Selbsthilfe- und Interessenorganisation, den 1987 gegründeten „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ),6 sowie Interviewaufzeichnungen analysiert.7 Was wird von den Betroffenen thematisiert, welche Folgen des Zwangseingriffes für das weitere Leben beschrieben? Wie gehen die Betroffenen mit dem Erlebten um? Welche Bedeutung haben die staatliche Anerkennung und die finanziellen „Wiedergutmachungen“ sowie ihre jahrzehntelangen Verzögerungen?8
Forschungsstand Generelle Thematik Die Liste der Arbeiten über die nationalsozialistische Vergangenheit und den Umgang mit ihr ist insgesamt eine der längsten der Geschichtswissenschaft. Allein die Entstehungsgeschichte der einzelnen Forschungsarbeiten kann als ein Kennzeichen von sich verändernden Wahrnehmungen und gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Entwicklungen verstanden werden. Dementsprechend verwundert es kaum, dass die Auseinandersetzung mit Opfergrup6 Der BEZ vertritt beide Opfergruppen, die Zwangssterilisierten ebenso wie die „Euthanasie“-Geschädigten, worunter insbesondere Menschen verstanden werden, die einen nahen Angehörigen, zumeist ein Elternteil im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ verloren haben. 7 Die Briefautoren und die Interviewpartner sowie die in ihren Aussagen genannten Personen wurden ebenso wie die verfahrensbeteiligten Mediziner und Juristen anonymisiert. 8 Einer ähnlichen Frage geht ein aktuelles Forschungsprojekt mit Bezug auf österreichische Restitutionsmaßnahmen nach: „Das Nachleben von Restitution. Zur Rolle von Restitution für die Opfer-Erfahrung, das Familiengedächtnis und das kulturelle Gedächtnis.“ www.oeaw. ac.at/ kkt/ projekte/odg/odg_r.html .
Forschungsstand
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Erbgesundheitsgerichtsprozessen der Amtsgerichte Hamburg-Mitte, Kiel und Hagen/Westfalen. Nach welchen Grundsätzen entschieden sie? Wurden die eigenen normativen Entscheidungsgrundlagen hinterfragt, die Zwangssterilisationen als Unrecht gesehen und wenn ja, unter welchen Umständen? In den Verfahrensakten wird implizit oder explizit auch die Perspektive der Zwangssterilisierten deutlich. Dabei kommen sie aber oftmals nur mittelbar zu Wort, d. h. ihre Aussagen werden von medizinischer und juristischer Seite gefiltert und kommentiert. Und auch wenn sie sich direkt beispielsweise in Briefen, äußern, ist zu vermuten, dass sie zumeist argumentative Strategien im Hinblick auf das Gerichtsverfahren verfolgen. Um die Wahrnehmungen der Betroffenen unmittelbarer und breiter untersuchen zu können, wurden daher in einem dritten Kapitel Briefe der Zwangssterilisierten an die Selbsthilfe- und Interessenorganisation, den 1987 gegründeten „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ),6 sowie Interviewaufzeichnungen analysiert.7 Was wird von den Betroffenen thematisiert, welche Folgen des Zwangseingriffes für das weitere Leben beschrieben? Wie gehen die Betroffenen mit dem Erlebten um? Welche Bedeutung haben die staatliche Anerkennung und die finanziellen „Wiedergutmachungen“ sowie ihre jahrzehntelangen Verzögerungen?8
Forschungsstand Generelle Thematik Die Liste der Arbeiten über die nationalsozialistische Vergangenheit und den Umgang mit ihr ist insgesamt eine der längsten der Geschichtswissenschaft. Allein die Entstehungsgeschichte der einzelnen Forschungsarbeiten kann als ein Kennzeichen von sich verändernden Wahrnehmungen und gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Entwicklungen verstanden werden. Dementsprechend verwundert es kaum, dass die Auseinandersetzung mit Opfergrup6 Der BEZ vertritt beide Opfergruppen, die Zwangssterilisierten ebenso wie die „Euthanasie“-Geschädigten, worunter insbesondere Menschen verstanden werden, die einen nahen Angehörigen, zumeist ein Elternteil im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ verloren haben. 7 Die Briefautoren und die Interviewpartner sowie die in ihren Aussagen genannten Personen wurden ebenso wie die verfahrensbeteiligten Mediziner und Juristen anonymisiert. 8 Einer ähnlichen Frage geht ein aktuelles Forschungsprojekt mit Bezug auf österreichische Restitutionsmaßnahmen nach: „Das Nachleben von Restitution. Zur Rolle von Restitution für die Opfer-Erfahrung, das Familiengedächtnis und das kulturelle Gedächtnis.“ www.oeaw. ac.at/ kkt/ projekte/odg/odg_r.html .
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Einleitung
pen des Nationalsozialismus, welche auch vor und nach dem „Dritten Reich“ ausgegrenzt und stigmatisiert wurden, erst mit jahrzehntelanger Verzögerung stattfand. Nicht nur stellt sich bei diesen Gruppen die Frage nach der gesellschaftlichen Mitverantwortung in einem besonderen Maße, es musste sich oftmals erst ein Bewusstsein ihres Opferstatus entwickeln. In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Ende des Nationalsozialismus beschäftigte weniger die Aufarbeitung der „Erbgesundheits“-Politik und -Praxis als vielmehr die Frage nach der Notwendigkeit und Legitimation von eugenischen (Zwangs)Sterilisationen und den Folgen dieser Maßnahmen die insbesondere von Medizinern und Juristen geführten Diskussionen.9 Die Dokumentationen des Nürnberger Ärzteprozesses sowie weitere frühe Veröffentlichungen zu Medizinverbrechen im „Dritten Reich“ befassten sich nicht mit der regelhaft durchgeführten Eugenik, vielmehr standen Menschenversuche in den Konzentrationslagern sowie die „Euthanasie“-Verbrechen als Ausdruck einer „Medizin ohne Menschlichkeit“ im Mittelpunkt.10 Auch hier sollte es Jahrzehnte dauern bevor die nationalsozialistische Gesundheitspolitik eine eingehende Analyse erfuhr, kam es insbesondere bezüglich der strukturellen Verstrickung von Teilen der Medizin in das Unrechtsregime weiterhin zu „Wahrnehmungsverlusten“.11 Erst seit den 1980er Jahren untersuchen Arbeiten in größerem Umfang die Zwangssterilisationen im „Dritten Reich“ sowie die historischen Entwicklungsstränge der Eugenik. In den letzten zwei Jahrzehnten entstanden dabei zahlreiche, oftmals regionalgeschichtlich ausgerichtete Detailstudien.12 Zum Teil wurde in diesen Arbeiten bereits der Umgang mit den Verbrechen und ihren Opfern in der Bundesrepublik skizziert, zum Teil entwickelte sich eine eigene Forschung, die sich vor allem mit der versagten „Entschädigung“ für die Betroffenen und der Auseinandersetzung um die Anerkennung als Op-
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Vgl. hierzu u. a. Bremer (1953); Hanack (1959); Heinemann (1962); N. N. (1965). Vgl. v a. Mitscherlich/Mielke (1960) [Erstveröffentlichungen 1947: Das Diktat der Menschenverachtung, 1949 unter dem Titel „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“]; Platen-Hallermund (1948). Zu weiteren frühen Veröffentlichungen Mitscherlich/Mielke (1960), S. 287; Lohmann (1975), S. 43ff.; Blasius (1991b). 11 Nowak (1988), S. 327. 12 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zum Themenkomplex Eugenik und Zwangssterilisation seien hier nur genannt: Schmacke/Güse (1984); Bock (1986); Schmuhl (1987); Ganssmüller (1987); Nowak (1988); Frei (1991); Kaiser/Nowak/Schwartz (1992); Weingart/Kroll/ Bayertz (1992); Kramer (1999); Braß (2004); Hamm (2005). Weiter sei auf die Bibliografie von Beck (1995) verwiesen. 10
Forschungsstand
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fer des Nationalsozialismus befasst.13 Schließlich spielen die Zwangssterilisationen, der Umgang mit ihnen und die eugenische Diskussion nach 1945 im Rahmen von kritischen Darstellungen einer so bezeichneten „Biopolitik“ und aktueller medizinisch-politischer Debatten und Maßnahmen eine Rolle.14 Die Lebenszusammenhänge und Wahrnehmungen der Zwangssterilisierten werden darüber hinaus in wenigen, zumeist kurzen biografischen Darstellungen,15 literarischen Annäherungen16 und vereinzelten autobiografischen Erinnerungen17 thematisiert. Zu den Wiederaufnahmeverfahren der „Erbgesundheitsprozesse“ schließlich finden sich außer zeitgenössischem Schrifttum lediglich zwei Aufsätze.18 Man werde das alles niemals verstehen, historisch verstehen, wenn man nicht den Einzelnen vor Augen habe, so Johan Huizinga.19 Lässt man einmal die im Weiteren zu problematisierende Frage außer acht, inwieweit ein solches „Verstehen“ grundsätzlich möglich ist, so beschreibt dieser Satz ein zentrales Desiderat der vorhandenen Forschung. Die Fokussierung der bisherigen Arbeiten zur eugenischen Ideologie und Praxis auf Täterdiskurse berücksichtigt die Betroffenen nur unzureichend. Bei all der Breite der vorhandenen Studien und dem durch sie erreichten Kenntnisstand bleiben die Zwangssterilisierten selbst Objekte, bleibt ihre Perspektive weitgehend im Dunkeln. Bis in die Gegenwart hinein überlagern im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs die (verstorbenen) Täter die Opfer.20 Und auch für die Zeit nach 1945 fällt es, nicht zuletzt aufgrund mangelnder wirkungsvoller Interessenvertretung, offensichtlich schwer, Zwangssterilisierte als handelnde Subjekte wahrzunehmen. Sie bleiben weiterhin Objekte, nun von verweigerter Anerkennung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Nicht nur fehlt die Betroffenenperspektive als wesentlicher Baustein historischer Annäherung, auch droht die von Lutz Niethammer benannte 13 So u. a. Romey (1988); Neppert (1993), in Ausschnitten veröffentlicht in Neppert (1997); Surmann (2005); für die DDR Zur Nieden (2001).; Tümmers (2009). Zum Thema der finanziellen „Wiedergutmachungen“ für Zwangssterilisierte und des politischen und bürokratischen Umgangs mit dieser Opfergruppe vgl. auch die kurz vor ihrem Abschluss stehende Dissertation von Henning Tümmers, Jena/Tübingen. 14 Vgl. z. B. Sierck/Radtke (1989); Hahn (2000); Huber (2004); Wunder (2005). 15 Vgl. beispielsweise Klevenow (1988); Seipolt (1993); BEZ (1989 und 1997); Illiger (2004); Hamm (2005). 16 Weinbörner (1989). 17 Wulf (1984); Claasen (1987); Buck-Zerchin (2005). 18 Vgl. Simon (1998); Tümmers (2008). 19 Vgl. Huizinga (1943), S. 64. 20 So der verstorbene, langjährige Leiter der Mahn- und Gedenkstätte „Steinwache“ in Dortmund, Hans-Wilhelm Bohrisch, anlässlich eines Zeitzeugenvortrags in der „Steinwache“ am 20. August 2006.
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Einleitung
Gefahr, „diejenigen, die von früheren gesellschaftlichen Machtverhältnissen als Objekte definiert wurden, in ihrem Objektstatus zu belassen, anstatt ihre Subjektivität zu rekonstruieren. In einem tieferen und in die Zukunft weisenden Sinn würde dadurch die Geschichte der Herrschenden verlängert.“21 Im Bezug auf diese, aber auch andere in der Bundesrepublik weitgehend ausgegrenzte Opfergruppen des „Dritten Reichs“ ist diese „Gefahr“ jahrzehntelang Realität gewesen. Falk Pingel wies bereits Anfang der 1990er Jahre daraufhin, dass „wir […] wenig darüber [wissen], wie das Gedächtnis der nicht anerkannten Verfolgten auf diese Zurücksetzung reagiert hat. Nur wenige Lebensläufe konnten in den letzten Jahren aufgenommen und veröffentlicht werden. Oft vermitteln sie den Eindruck, der Kampf um den vorenthaltenen Rechtsanspruch habe die Leiden verschlimmert und es unmöglich gemacht, mit Zwangseingriffen wie der Sterilisation zurecht zu kommen, für die entweder die Betroffenen selbst oder niemand schuldig schien.“22 Arbeiten zu Folgen der Zwangssterilisation Einige wenige Aufsätze und Arbeiten versuchten in den vergangenen Jahrzehnten, die Folgen der Zwangssterilisation für die Betroffenen zu analysieren. Im Folgenden werden Methodik und Ansätze der Untersuchungen skizziert.23 Hierbei zeigen auch sie eine sich mit der Zeit verändernde Perspektive auf die Betroffenen. Bereits im Nationalsozialismus untersuchten Arbeiten Zwangssterilisierte, insbesondere Frauen, hinsichtlich ihres körperlichen und psychischen Zustandes und ihrer Einstellung zu dem erfolgten Eingriff.24 Der Tenor dieser zumeist von Medizinerinnen verfassten Studien ist ein durchgängig pro-eugenischer. So lässt die medizinische Dissertation von Elisabeth Hofmann von Beginn an keine Zweifel an der Notwendigkeit des „Erbgesundheitsgesetzes“: „Der Ausbau planmäßiger, von der öffentlichen Hand getragenen Fürsorge hatte in den letzten Jahrzehnten die Gefahr, dass erbkrankes Erbgut erhalten und weitergegeben wurde. Diese Entwicklung wurde durch
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Niethammer (1980), S. 7. Pingel (1993), S. 191. 23 Zur Diskussion der einzelnen Ergebnisse der Arbeiten vgl. Kap. III 1.2 dieser Arbeit. 24 Vgl. Hofmann (1937); Koch (1937); Klose (1940). 22
Forschungsstand
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eine Humanitätsvorstellung gefördert, deren unselige Folgen die Gesundheit unseres Volkes im Laufe der Zeit bedenklich bedrohten.“25
Grundlage ihrer Arbeit ist die Untersuchung von 60 Frauen, die in den Jahren 1934 und 1935 in Heidelberg zwangssterilisiert wurden. Ihre Methodik ist undurchsichtig, offensichtlich hat sie aber alle Frauen persönlich aufgesucht und mit ihnen Gespräche geführt. Ebenso verfuhr Gertrud Koch in ihrer medizinischen Dissertation. Hierin analysiert sie 100 Frauen, die sich 1935 in einer Psychiatrischen Klinik beziehungsweise einer Heil- und Pflegeanstalt befanden und deren Sterilisation bereits erfolgt war oder direkt bevorstand.26 Sie unterteilt die Betroffenen in Gruppen gemäß der Sterilisationsindikation und untersucht die Zwangssterilisierten nach ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit. Die größte Gruppe stellen Betroffene mit der Diagnose Schizophrenie dar.27 Ebenfalls zwangssterilisierten Frauen widmet sich ein Aufsatz von Felicitas Klose aus dem Jahr 1940. Sie will das „Schicksal“ von 211 Frauen untersuchen, die im Zeitraum von 1934 bis 1937 im Stadtkreis Kiel nach dem GzVeN unfruchtbar gemacht wurden. Sie verwendet neben einschlägigen Unterlagen des Kieler Gesundheitsamtes insbesondere einen Fragebogen, welcher verschiedene physische und psychische Folgen des Eingriffs, die Einstellungen der Betroffenen sowie das soziale und moralische Verhalten abfragte.28 Gemeinsam ist den drei genannten Arbeiten, dass von den Betroffenen genannte Leiden und die fehlende Zustimmung zur Zwangssterilisation zumeist auf mangelnde Krankheitseinsicht oder tendenziöse Interpretation von körperlichem Unwohlsein zurückgeführt werden. Selbst ein in einigen Fällen beobachtetes und als „echt“ gewertetes psychisches Leiden führt bei keiner der drei Autorinnen zu einer Hinterfragung des eugenischen Zwangsgesetzes, sondern höchstens zur Empfehlung einer nachgehenden fürsorgerischen Betreuung der Betroffenen.29 Acht Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, im Jahr 1953, beschäftigt sich erneut eine medizinische Dissertation mit der „Nachuntersuchung von Erbkranken, welche im Dritten Reiche im Zuge des Gesetzes zur Verhütung 25 Hofmann (1937), S. 1. „Es gibt kein Gesetz, das so sehr an bis jetzt ureigenste Rechte jedes einzelnen greift. Es entspringt aus der Grundhaltung des Nationalsozialismus, die das Leben des einzelnen in und unter das Volksganze stellt.“ Ebenda, S. 10. Vgl. auch Koch (1937), S. 18. 26 Vgl. Ebenda, S. 4. 27 Ebenda. 28 Vgl. Klose (1940), S. 295. 29 Vgl. Ebenda, S. 332: „Es wurde aufgezeigt, dass verschiedene Probleme der Erbkranken zu einer seelischen Not werden können, die sie am Leben verzweifeln lassen, wenn es nicht gelingt, die auftauchenden Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen.“
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Einleitung
erbkranken Nachwuchses unfruchtbar gemacht worden waren“. Obwohl in der Folge in Veröffentlichungen wiederholt auf diese Arbeit von Claus-Hinrich Lothar Bremer Bezug genommen wird, wenn es darum geht, die vorgebliche Folgenlosigkeit der Zwangssterilisationen zu belegen,30 so ist die Frage nach ebendiesen möglichen Folgen für die Betroffenen lediglich ein kurzer Nebenstrang des Buches. Das Erkenntnisinteresse richtet sich vielmehr darauf, „welches Schicksal jene Krankheiten in den abgelaufenen 10-20 Jahren genommen haben.“31 Es geht folglich nicht in erster Linie um die Betroffenen als Personen, die im „Dritten Reich“ eine zwangsweise Sterilisation erlebten, sondern als Träger von für erblich und damit sterilisationswürdig befundenen Krankheiten. Der Autor, dessen grundsätzliche Unterstützung der negativen Eugenik offenkundig ist,32 untersucht anhand von Behandlungsakten, Unterlagen aus dem Erbgesundheitsgerichtsprozess sowie persönlichen Befragungen ehemalige Patienten der Provinzialheilanstalt Aplerbeck bei Dortmund. Ihn interessiert hierbei, welchen weiteren Lebensweg die Zwangssterilisierten genommen haben, ob sie sich „im Leben bewährten“, wie ihre Krankheit verlief und ob sich dabei das Erbgesundheitsgerichtsurteil als korrekt erwiesen hat. Letzterer Frage misst er große Bedeutung zu, nicht zuletzt, da häufig Vorwürfe gegen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erhoben worden seien, „die den Gutachtern unterstellten, sie hätten leichtfertig so manche Erbgesunde zu Erbkranken gestempelt und sie der Sterilisation unterworfen. Gerade um diese Vorwürfe zu entkräften, soll die Frage der Fehldiagnosen besonders genau geprüft werden.“33 Eher am Rande fragt er auch nach den physischen Leiden der Betroffenen sowie ihrem Verhältnis zu der erzwungenen Kinderlosigkeit. Bei den insgesamt 97 Personen, die er nachuntersuchte,34 kommt er zu dem Ergebnis, dass lediglich in einem Fall vom damaligen Erbgesundheitsgericht ein Fehl30
Vgl. Hahn (2000), S. 62. Bremer (1953), S. 1. 32 Seine abschließende Bewertung des Erbgesundheitsgesetzes fällt gleichwohl zwiespältig aus. Erkennt er einerseits die ideologischen Grundlagen des Gesetzes an, so kommt er doch angesichts der hohen Todeszahlen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu dem Ergebnis, dass es in seiner Zeit wohl eher darauf ankomme, „jede Chance“ zu nutzen, „gesunde Menschen zu erhalten“, auch um den Preis, ein „geisteskrankes Glied“ „in Kauf nehmen“ zu müssen. Ebenda, S. 94f., „Einer späteren Generation, welche in Ruhe alle Probleme der Erbforschung, die uns jetzt bewegen, überblicken kann und auswertet, möge es vorbehalten bleiben, eine weit ausgedehnte Eugenik mit Hilfe der Sterilisationsmaßnahmen zu treiben.“ Zitat S. 95. 33 Vgl. hierzu Ebenda, S. 3; 15f.; Zitat S. 15f. Bremers normative Haltung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er seinen Auftrag darin sieht, die Vorwürfe zu „entkräften“. 34 Insgesamt waren in der Provinzialheilanstalt 309 Patienten zwangssterilisiert worden, ein überdurchschnittlicher Teil hiervon aufgrund der Diagnose Schizophrenie. Zu den Einzelheiten der Untersuchung, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. Ebenda, S. 9-92. 31
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urteil gesprochen worden sei35 und sich ansonsten die Diagnosen bestätigt hätten. Eine zwischenzeitliche Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation der Betroffenen sei kaum aufgetreten, etwa die Hälfte habe ihr „Niveau“ gehalten, die übrigen seien in ihm gesunken. Nicht selten sei in diesen Fällen ein erneuter dauerhafter Anstaltsaufenthalt zu erwarten.36 In den 1950er Jahren entstandene Gutachten und Veröffentlichungen bestritten in der Regel negative körperliche Folgen von Zwangssterilisationen, wobei sie nicht sachgerechte Eingriffe ausnahmen. Physische Leiden konnten demgegenüber zwar, so in einem Tübinger Referenzgutachten, in Teilen gesehen und als „schwere seelische Belastung“ anerkannt werden: „An ihrer Wurzel finden sich Minderwertigkeitsgefühle, das Bewusstsein der gestörten körperlichen Integrität, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, Gefühl einer willkürlichen Gesetzgebung ausgeliefert zu sein, Einengung der persönlichen Freiheit u. a. m.“ Diese wurden dann aber lediglich als mittelbare Sterilisationsfolgen und von daher im „versicherungsrechtlichen Sinne“ als nicht entschädigungspflichtig gewertet.37 Auch das Bayerische Innenministerium gab 1950 Expertengutachten zu den Folgen von Zwangssterilisationen bei „maßgeblichen Fachleuten“ in Auftrag. Diese kamen laut einem Bericht des Innenministeriums übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass körperliche Schäden nicht zu beobachten seien und das „in manchen Fällen große[] seelische[] Leid durch die Zwangssterilisierung“ zumeist abgeklungen sei. Unter einzelnen anstaltsbedürftigen Betroffenen ließen sich einige neurotische Reaktionen feststellen, welche sich aber insbesondere auf die durch die Sterilisierung quasi „amtliche Bestätigung und Abstempelung der tatsächlich vorhandenen Geisteskrankheit“ bezögen. Eine allgemeine „Entschädigung“ lehnten die Gutachter ab, es sei lediglich von Fall zu Fall zu entscheiden, „wobei zu berücksichtigen ist, dass bei Aussicht auf eine Rente eine Reihe von tatsächlichen oder eingebildeten Beschwerden auf 35
Vgl. hierzu Ebenda, S. 67-70. Ebenda, S. 94. Von Interesse sind hierbei auch die Angaben Bremers zur Bereitschaft der Betroffenen, sich an seiner Untersuchung zu beteiligen. Während sie im Allgemeinen der Untersuchung folgten, habe er bei Versuchen der Familienanamnese zum Teil feststellen müssen, dass sie sich nicht kooperativ verhielten: „[…] insbesondere setzten die Patienten bei der Befragung fast durchweg dem Referenten einen passiven Widerstand entgegen und versuchten – wie unschwer zu erraten war – den Referenten absichtlich irre zu führen, wenn die Möglichkeit der Belastung bei einem Familienmitglied besprochen wurde.“ Ebenda, S. 36. 37 Das von der Entschädigungskammer des Stuttgarter Landgerichts in Auftrag gegebene Gutachten, welches sich auf einen Einzelfall bezog, darüber hinaus aber auch allgemein die Frage nach den möglichen Folgen einer Zwangsterilisation beantworten sollte, stützte sich dabei auf Aktenlage und einschlägige Literatur, eine eigene Untersuchung des Betroffenen fand nicht statt. Vgl. Nervenfachärztliches Gutachten der Universitäts-Nervenklinik Tübingen vom 3.3.1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70; zur Rezeption vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 91-96. 36
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die seinerzeitige Sterilisation zurückgeführt werden würde, obwohl sie damit mit Sicherheit nichts zu tun haben.“38 Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker39 legten 1964 mit ihrer Studie über die „Psychiatrie der Verfolgten“ eine erste große Auseinandersetzung mit psychischen Folgeschäden der nationalsozialistischen Verfolgung in der Bundesrepublik vor. Sie befanden sich damit in einer Sonderposition, wurden Leiden im Zusammenhang mit Verfolgungs- und Kriegserfahrungen doch in den ersten Jahrzehnten nach 1945 oftmals als „anlagebedingt“ interpretiert oder aber als Folge von „Neurosen“, die sich im Hinblick auf mögliche finanzielle Leistungen entwickelt hätten.40 In diesem Buch widmen sich die Autoren auf neun Seiten auch der Frage nach den psychischen Folgeerscheinungen bei Zwangssterilisation.41 Grundlage ihrer Analyse sind die Anamnesen von acht Betroffenen, von denen sie sieben persönlich untersuchten. Einige der von ihnen hierbei festgestellten Ergebnisse müssen dabei vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die hier untersuchten Zwangssterilisierten alle Sinti und Roma oder „farbige Mischlinge“42 waren und neben der Sterilisation „langfristige Diffamierungen und Bedrohungen ihrer persönlichen Sicherheit“ erlebten.43 Sind somit die Hintergründe und Begleitumstände des Eingriffs spezifisch und nur teilweise mit der Gruppe der als „erbkrank“ Zwangssterilisierten zu vergleichen – mit denen sich die Arbeit ausdrücklich nicht beschäftigt44 –, so nehmen die Auto38 Vgl. Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern an das bayerische Landesentschädigungsamt in München vom 9. Juli 1951 zur „Wiedergutmachung für Sterilisierung“ und Beilage 715 (Zur Beilage 4260/1. Legisl.-P.) vom Bayerischen Staatsministerium des Innern an den Präsidenten des bayerischen Landtages vom 17. Mai 1951, Bay HStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. Die einzelnen Gutachten, darunter Stellungnahmen der Heil- und Pflegeanstalten Haar, Regensburg, Erlangen und der Universitätsnervenklinik München, finden sich in BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 39 Baeyer/Häfner/Kisker (1964). In Gutachten zu finanziellen „Wiedergutmachungen“ bei NS-Opfern differenziert Kisker seine Einschätzung zu Folgen von Zwangssterilisationen. So geht er davon aus, dass entsprechende Folgen jenseits des gebärfähigen Alters bei Frauen nicht mehr ins Gewicht fallen würden. Vgl. Pross (1988), S. 265f. 40 Vgl. hierzu zum Beispiel Goltermann (2002). 41 Vgl. zu Folgendem Baeyer/Häfner/Kisker (1964), S. 252-261. 42 Bei diesen „farbigen Mischlingen“ müsste es sich um Betroffene handeln, die als „Rheinlandbastarde“ außerhalb des GzVeN sterilisiert wurden. Vgl. hierzu Pommerin (1979). 43 Baeyer/Häfner/Kisker (1964), S. 252. Bis auf eine Person waren die Betroffenen nicht in einem Konzentrationslager inhaftiert. 44 Vgl. Ebenda, S. 259, Fußnote 1. Dabei wird nicht deutlich, warum sie sich mit diesen Betroffenen, über deren „Entschädigung“ zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Buches diskutiert wurde, so ausdrücklich nicht beschäftigen. Möglicherweise um ihre ohnehin schon im Unterschied zur Mehrheitsmeinung stehende Position zu verfolgungsbedingten Leiden nicht durch eine politisch nicht erwünschte mögliche „Entschädigung“ der nach dem GzVeN Sterilisier-
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ren in ihrer Untersuchung dennoch fast durchgängig zu dem Faktum der Zwangssterilisation an sich Stellung. Diese kennzeichnen die Autoren als „erzwungene[n] Eingriff in die leibliche Integrität und die damit notwendig verbundene Beschneidung biologischer, persönlicher und sozialer Vollzüge [, welche] wesentliche Störungen der Lebensentwicklung der Betroffenen setzte [...].“45 „Wir konnten uns bei keinem der untersuchten Zwangssterilisierten davon überzeugen, dass die Schädigung ohne erhebliche seelische Labilisierung verarbeitet wurde – mag diese nun krankheitswertig sein oder noch im Bereich normalpsychologischer Verarbeitungsgrenzen liegen.“46
Drei Jahre später veröffentlichte Helmut Kretz, Mitarbeiter der von Baeyer geleiteten Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg, einen Beitrag zu möglichen Folgen der Sterilisation im Rahmen der „Frage der Entschädigung Zwangssterilisierter nach dem Bundesentschädigungsgesetz“.47 Kretz bezieht dabei offensichtlich Anamnesen von Betroffenen mit ein, die bereits in die oben genannte Studie eingeflossen sind. In seiner Untersuchung von elf Frauen und zwei Männern48 stellt er fest, „dass die Zwangssterilisation zwangsläufig und regelhaft zu einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung führen muss. Die Gesamtpersönlichkeit ist irreversibel in ihrem Kern betroffen; wesentliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten sind diesen Menschen für immer verschlossen.“49
ten zusätzlich zu kompromittieren. Eine andere Erklärung scheint kaum schlüssig, geht es doch vielfach um die Zwangssterilisation an sich, lassen sich doch die von den Autoren gemachten Aussagen auf alle von gewaltsamen Sterilisationen Betroffenen übertragen. 45 Ebenda, S. 253. 46 Ebenda, S. 258. Bezüglich einer möglichen „Entschädigung“ der zur Diskussion stehenden Gruppe der Sterilisierten sprechen sich die Autoren für eine einmalige Abfindung und zusätzliche Leistungen in solchen Fällen aus, in denen „krankhafte bzw. krankheitswertige Folgen gynäkologisch, internistisch oder psychiatrisch nachweisbar sind und die Erwerbsfähigkeit um mindestens 25% senken“. Ebenda, S. 259. 47 Zu Folgendem vgl. Kretz (1967). 48 Diese wurden ebenfalls alle als Sinti und Roma oder als „Mischlinge“ zwangssterilisiert. Somit gelten die bereits für die Studie von Baeyer/Häfner/Kisker gemachten Einschränkungen des Aussagewertes ebenso wie der möglichen Generalisierungen auch hier. Explizit mit zwangssterilisierten „Zigeunern“ beschäftigen sich auch Petersen/Liedtke (1971). Die Autoren betonen dabei das Sozialmilieu der Sinti und Roma, welches mit dem Ausschluss des Betroffenen aufgrund seiner Unfruchtbarkeit eine wesentliche Rolle für die äußerst negativen Folgen der Zwangssterilisation spielen würde. 49 Kretz (1967), S. 1298.
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Dabei wendet sich der Autor auch gegen die zu seiner Zeit anzutreffenden und in anderen Studien deutlich werdenden Versuche, die Leiden der Betroffenen zu relativieren: „Der in ärztlichen Gutachten oft gemachte Versuch, sich auf konstitutionelle und mit der Sterilisation nicht zusammenhängende biographische Faktoren, auf Psychopathie, Psychasthenie, Neurose, Minderbegabung oder gar ein tendenziöses Entschädigungsbegehren, wie es in der psychoanalytischen Lehre von der traumatischen Neurose versucht wird, zu berufen, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Man muss vielmehr bei diesen Fällen von Zwangssterilisationen den ‚zwingenden Sinnzusammenhang mit übermächtigen, nicht mehr ausgleichsfähigen Erlebniswirkungen’ [F.] sehen, von einem ‚Zwang zur Sinnentnahme’ (E. Straus) sprechen.“50
Ende der 1980er Jahre publizierte der Gehörlosenpädagoge Horst Biesold seine Arbeit zu „Betroffenheit und Spätfolgen in bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der ‚Taubstummen’.“ Seine Ergebnisse – Grundlage war ein umfangreicher Fragebogen, den 1.215 Betroffene ausfüllten – bestätigten dabei die Annahmen von Kretz.51 In den 1990er Jahren beschäftigten sich erneut zwei medizinische Dissertationen mit Folgen der Zwangssterilisation auf der Grundlage von Interviews mit den Betroffenen. Irene Heiselbetz untersucht in ihrer Studie Anfang der 1990er Jahre die „Erlebniswelt“ von zwangssterilisierten Bewohnern des Langzeitbereichs der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel.52 Anhand eines Leitfadens, der unter anderem die Hintergründe der Sterilisation und den Umgang der Betroffenen mit dem Zwangseingriff abfragt, führte sie mit 48 Betroffenen Gespräche.53 Die 1999 in München entstandene medizinische Dissertation von Corinna Horban schließlich markiert bereits im Titel die normative Haltung der Autorin gegenüber den Betroffenen: „Gynäkologie und Nationalsozialismus: Die zwangssterilisierten, ehemaligen Patientinnen der I. Universitätsfrauenklinik heute – eine späte Entschuldigung“.54 Horban führte mit 22 50
Ebenda, S. 1302. In der Folge spricht er sich für eine finanzielle „Wiedergutmachung“ in Form einer Kapitalabfindung für alle Betroffenen, „die zum Geltungsbereich des BEG gehören“, aus. 51 Vgl. Biesold (1988). 52 Vgl. Heiselbetz (1992). 53 Vgl. Ebenda, S. 8ff. 23. Weitere zwangssterilisierte Patienten waren entweder gesundheitlich nicht in der Lage oder nicht bereit, ein Gespräch zu führen oder ein solches wurde von Seiten der Stationsmitarbeiter abgelehnt. Vgl. Ebenda, S. 9f.; 25. 54 Vgl. hierzu Horban (1999).
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dieser ehemaligen Patientinnen halboffene, an einem Gesprächsleitfaden orientierte Interviews,55 in denen sie insbesondere die Zwangssterilisation und ihre Folgen sowie biografische Eckpunkte dezidiert erfragt.56 Darüber hinaus initiierte sie Gruppengespräche und unterstützte die Betroffenen bei der Beantragung von „Entschädigungsgeldern“. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung bestätigten die Befunde von Baeyer et al. und Kretz. Gemeinsam ist den genannten Studien, dass sie zumeist eine relativ kleine Zahl von Betroffenen und oftmals hierbei einzelne Gruppen wie Sinti und Roma, Gehörlose oder Anstaltspatienten in den Blick nehmen. Auch die Frage nach den Wahrnehmungen der Zwangssterilisierten vor dem Hintergrund des Umgangs mit ihnen nach dem Ende des „Dritten Reichs“ findet sich in den genannten Analysen nur vereinzelt.57 Im Unterschied hierzu bezieht diese Arbeit sowohl ein größeres Sample von Betroffenen als auch weitere Quellen, wie insbesondere Ego-Dokumente, mit ein.58 Ziel ist es dementsprechend, der Perspektive der Zwangssterilisierten besonderen Raum zu geben.
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Vgl. Ebenda, S. 34f. Angeschrieben wurden zunächst 39 Betroffene, 22 von ihnen waren zu einem Gespräch bereit. Zentral für die Bereitschaft hierfür sei die Verneinung der Frage gewesen, ob eine gynäkologische Untersuchung durchgeführt würde. „Diese deutliche Ablehnung lässt auf eine deutliche Traumatisierung im Kontakt zu Ärzten, insbesondere zu Gynäkologen, schließen.“ Ebenda, S. 71. 57 So bei Horban (1999). Auf ihre Ergebnisse wird an anderer Stelle eingegangen. 58 Zum Begriff und Konzept der Ego-Dokumente vgl. Schulze (1996). Der Begriff geht dabei über den der Selbstzeugnisse (Tagebücher, Briefe etc.) hinaus, indem er auch Fremdbeschreibungen über Individuen (Prozessakten etc.) berücksichtigt. 56
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Quellen und Methodik Verwendete Materialien – Möglichkeiten und Grenzen Das erste Kapitel dieser Arbeit stützt sich neben der vorhandenen Literatur auf zeitgenössische Beiträge der eugenischen Diskussion nach 1945. Hierfür wurde insbesondere das Standesorgan der deutschen Ärzteschaft, die „Ärztlichen Mitteilungen“ (ÄM) beziehungsweise das „Deutsche Ärzteblatt“ (DÄ), systematisch untersucht.59 Quellen über die Arbeit der Interessenorganisationen der Zwangssterilisierten aus den 1950er Jahren sind kaum vorhanden. In den Unterlagen, die einige Betroffene zusammen mit ihren Briefen an den BEZ geschickt haben, finden sich wenige Schriftstücke, aus denen sich Positionen und Forderungen partiell rekonstruieren lassen. Darüber hinaus verfügt das Hauptstaatsarchiv München über Vorgänge bezüglich des Zentralverbandes.60 Für die im zweiten Kapitel zu untersuchenden Wiederaufnahmeverfahren in Erbgesundheitsgerichtsprozessen wurden Bestände der Staatsarchive Schleswig und Münster sowie des Amtsgerichts Hamburg-Mitte analysiert. Im Staatsarchiv Schleswig finden sich die Akten der Wiederaufnahmeverfahren am Amtsgericht Kiel,61 im Hamburger Amtsgericht die hauseigenen Verfahrensakten,62 im Staatsarchiv Münster die Bestände des Amtsgerichts Hagen.63 In allen drei Fällen wurden Zufallsstichproben von mindestens zehn Prozent der vorhandenen beziehungsweise auffindbaren Bestände genommen. Konkret wurden 41 Akten des Kieler Amtsgerichts, 125 Hamburger Verfahren und 84 Wiederaufnahmeprozesse vor dem Hagener Amtsgericht, insgesamt 250 Akten, einbezo59
Das „Deutsche Ärzteblatt“ wird von den Selbstverwaltungsorganen der deutschen Ärzteschaft, den Ärztekammern herausgegeben und an jedes Mitglied verschickt. Es erschien nach dem Ende des Nationalsozialismus seit 1949 zunächst unter dem Namen „Ärztliche Mitteilungen“. 1964 erfolgte die Umbenennung in „Deutsches Ärzteblatt“, zunächst noch mit dem Untertitel „Ärztliche Mitteilungen“. 60 Ein Teil der Akten unterliegt derzeit noch der Sperrfrist (bis 2010) und konnte nicht eingesehen werden. Ebenfalls noch gesperrt sind Unterlagen der Archives Diplomatiques de France. Dort liegen Vorgänge des Verbandes der Jahre 1951-1954. Recherchen und Anfragen in weiteren einschlägigen Archiven (Bundesarchiv Koblenz, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Stadtarchiv Gießen) ergaben kein weiteres Quellenmaterial. 61 Die Bestände sind – soweit überprüfbar – mit insgesamt 181 Akten vollständig und chronologisch sortiert. Sie umfassen die Jahre 1947 bis 1985. 62 Die Wiederaufnahmeverfahrensakten befinden sich im hauseigenen Archiv. Sie sind nahezu vollständig und chronologisch sortiert, es finden sich Akten von 1947 bis 1989. 63 Dabei wurden die Aktenbestände aus über 20 000 Datensätzen zum Bereich „Erbgesundheitsgerichte“ herausgefiltert. An dieser Stelle sei ausdrücklich Frau Beate Dördelmann, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, für ihre Unterstützung gedankt. Die entsprechenden Akten sind nicht chronologisch sortiert; berücksichtigt werden konnten Akten aus den Jahren 1948-1969.
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gen. Die genannten Unterlagen umfassen die gesamten Vorgänge im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren, von der Antragstellung bis hin zur erst- oder zweitinstanzlichen Urteilsbegründung. Dazwischen konnten weiterer Schriftverkehr und sonstige Dokumente liegen, beispielsweise polizeiliche Führungszeugnisse oder Aussagen von Arbeitgebern, in manchen Fällen umfassen die Akten mehr als 100 Seiten. Als Quellenbasis für die im dritten Kapitel zu beleuchtende Frage nach den langfristigen, insbesondere auch die Entwicklung nach dem Ende des „Dritten Reichs“ umfassenden Wahrnehmungen der Betroffenen und ihrer Perspektive auf die Sterilisation ebenso wie auf den politischen Umgang hiermit bieten sich Briefe an, die die Betroffenen seit 1987 an die Selbsthilfeorganisation, den BEZ, adressierten. Hierbei handelt es sich, wie noch zu zeigen sein wird, um einen Quellenbestand, der weitestgehend authentisch den „Blick von unten“, d. h. die Perspektive einer Opfergruppe des Nationalsozialismus, wiedergibt. In den Schreiben berichten die Betroffenen in unterschiedlicher Intensität aus ihrem Leben, aus eigenem Antrieb oder auch nach Aufforderung durch den BEZ: „Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich mit meinen seitenlangen Brief, die letzte Nachricht, Sie mit meinen Problemen belästigt haben sollte, aber ich hatte mal das Bedürfnis so richtig was mich in all den Jahren belastet hat, von der Seele sprechen zu dürfen, denn zu den Leuten die Probleme haben wie ich auch, hat man doch mehr Vertrauen […].“64
Der gesamte Bestand65 des BEZ wurde gesichtet und aus diesem 408 zumeist handschriftliche Briefe, Lebensbeschreibungen und Stellungnahmen ausgewählt.66 Nicht systematisch berücksichtigt wurden lediglich Schreiben, welche vor allem der Schrift oder dem Inhalt nach nicht entschlüsselbar waren oder aus wenigen formalen Zeilen bestanden, sowie Briefe von Angehörigen oder Personen aus dem sozialen Umfeld, die sich in Stellvertretung für Betroffene an
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Brief von H. V. vom 4.11.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Eine Gesamtmenge der im Archiv des BEZ vorhandenen Schriftstücke lässt sich nicht angeben, da das Archiv beständig wächst und nach wie vor Schreiben von Betroffenen eingehen. Sie erscheint zudem für die folgende qualitative Analyse nicht notwendig. 66 Die Briefe aus dem Archiv des BEZ befinden sich in den Büroräumen der Organisation in Detmold. Die Bestände dort sind systematisch in den beiden Kategorien „Lebende“ und „Verstorbene“ und innerhalb der Kategorien alphabetisch geordnet. Nach der Auflösung der Räumlichkeiten werden die Bestände dem Staatsarchiv Detmold übergeben. 65
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den BEZ wandten.67 Die Analyse des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der zweiten und dritten Generation oder auch im engen sozialen Umfeld erscheint als eigener, noch weitgehend unerschlossener Forschungsbereich, dem andere Fragestellungen zugrunde liegen als dieser Arbeit. Weiterhin wurden Formulare, mit denen die Betroffenen finanzielle Leistungen bei der jeweiligen Oberfinanzdirektion (OFD) beantragten, sowie Angaben in psychiatrischen Gutachten, welche in diesem Kontext erstellt wurden, nicht mit einbezogen, obwohl sich auch hierbei ausführliche Schilderungen der Hintergründe des Eingriffs, seiner Folgen und der aktuellen Lebenssituation der Betroffenen finden. Allerdings sind diese Formulare zum Teil von Seiten des BEZ ausgefüllt worden, oder aber es wurden von der Selbsthilfeorganisation Hinweise gegeben, welche Schlüsselbegriffe zu verwenden seien.68 Ergänzt wird der Quellenbestand durch zwei eigene narrativ geführte sowie sechs in Archiven aufgefundene Interviews mit Betroffenen.69 Im Unterschied zu einem Großteil der Briefe und den in den Archiven gefundenen Interviews, welche alle einen deutlichen Themenbezug aufweisen, bieten narrative Interviews die Möglichkeit, der Darstellung des Eingriffs im Kontext der Lebenserinnerung insgesamt nachzugehen. Trotz dieser vielfältigen Zugänge wurde deutlich, dass der am Anfang der Untersuchung stehende Versuch, die Wahrnehmungen der Betroffenen zu skizzieren, an Grenzen stößt. Von den methodischen Problemen einer Auswertung zahlreicher Ego-Dokumente und dem weitgehenden Fehlen grundlegender medizinischer oder psychologischer Untersuchungen über die Folgen der Zwangssterilisationen70 einmal abgesehen, liegt eine solche Grenze in den weit über 300 000 Individuen mit unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen, Lebens67
Diese Schreiben wurden dann mit einbezogen, wenn es sich offensichtlich um ein Diktat des Betroffenen selbst handelt, bzw. die Schreiben allgemeine Probleme beispielsweise im Bereich der Beantragung von „Entschädigung“ betrafen. 68 Vgl. zum Beispiel Schreiben vom BEZ an Frau v. H.-E. vom 7.2.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von H. R. vom 22.6.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 69 Die erstgenannten Interviews sind als Tondokument sowohl im Archiv des BEZ als auch im Privatbesitz der Autorin vorhanden. Hier befinden sind auch die auf der Grundlage der Audiokassettenaufnahmen angefertigten Transskripte. Zudem konnten die Transskripte von vier Interviews aus dem Archiv der Werkstatt der Erinnerung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (WdE/FZH) und zweier Interviews des Instituts für Geschichte und Biographie, Lüdenscheid, berücksichtigt werden. 70 Hierbei wird auch auf Ergebnisse aus dem Bereich der Traumaforschung zurückgegriffen, die im Kontext der Erfahrungen und Leiden von Überlebenden des Holocaust entstanden ist. Auch wenn dabei eine direkte Übertragung der Ergebnisse aufgrund der unterschiedlichen Ausgangssituation nicht möglich ist, gibt es möglicherweise Analogien. Vgl. Herzka (1989); Özkan (2002); Rossberg/Lansen (2003); Keilson (2005).
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entwürfen und Lebenswegen und damit der prinzipiellen Individualität der Wahrnehmung und Verarbeitung begründet.71 Hinzu kommt, dass mit den zur Verfügung stehenden Quellen nur ganz bestimmte Gruppen innerhalb der Betroffenen überhaupt „erfasst“ werden können: Nur diejenigen werden sichtbar, die in der ein oder anderen Weise aktiv geworden sind und sich nach 1945 um die Wiederaufnahme ihrer Erbgesundheitsgerichtsverfahren, um „Entschädigung“ wie um staatliche und gesellschaftliche Anerkennung bemühten. Schließlich bieten die vorhandenen Zeugnisse lediglich ausschnitthafte Einblicke in das Leben und die Wahrnehmungsmuster der Betroffenen, denn: „Diese Zeilen können nur einen groben Umriss über die Situation geben, welche die Sterilisation mit sich gebracht hat.“72 Für die einzelnen Quellen sind jeweils spezifische quellenkritische Überlegungen zu berücksichtigen, die im Folgenden skizziert werden. Bei der Erstellung und Analyse von Interviews die einzelnen Entstehungskontexte und jeweiligen methodischen Besonderheiten mitzudenken, gehört mittlerweile zum Standard der „oral history“. Unbeschadet der Kritik an dieser Forschungsrichtung73 und der Notwendigkeit, weder ein Neutralitätspostulat – nicht von Seiten des „Senders“ der produzierten Erinnerung und auch nicht auf Seiten des auswertenden „Empfängers“ – zu erheben, noch den „Konstruktionscharakter“ eines jeden Interviews vergessen zu machen,74 erschien ein solches Vorgehen gleichwohl als adäquate Annäherung an die „Lebensperspektive“ dieser Opfergruppe. In diesem Sinne folgt die Untersuchung dem von Harald Welzer formulierten Postulat: „Was mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews erhoben wird, ist, wie ein Erzähler seine Auffassung von der Vergangenheit einem Zuhörer zu vermitteln versucht.“75 Im Mittelpunkt stehen dementsprechend die „Selbstdeutungen des Interviewpartners“, die jeweilige „Sinnkonstruktion“76 sowie ihr „kulturell und kollektiv geprägtes Selbstverständnis“77. Mit Unterstützung des BEZ konnte der Kontakt zu zwei Zwangssterilisierten hergestellt werden. Dem Wunsch der Gesprächspartnerinnen folgend, fanden die Interviews in ihren privaten Räumen und zusammen mit der Ge71
Zur Individualität jedes Verfolgungserlebens vgl. auch Rosenthal (1995). Brief von H. H. vom 11.3.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 73 Zu einer frühen Kritik an der Forschungsmethode vgl. z. B. Grele (1980). 74 Vgl. hierzu Welzer (2000), v. a. S. 52-54. Zur Auseinandersetzung mit der Kritik an der „oral history“ vgl. z. B. von Plato (2000). 75 Welzer (2000), S. 60. 76 Leh (2000), S. 72. 77 Neumann (1999), S. 90f. 72
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schäftsführerin des BEZ statt, die ihnen bekannt war und eine Vertrauensperson darstellte.78 Für die zugrunde liegende Fragestellung schien am ehesten ein narratives Interview zielführend, um vorstrukturierende Elemente zu reduzieren und den Gesprächspartnern die Möglichkeit zu geben, eigene Schwerpunkte der Erzählung zu setzen.79 Alexander von Plato nennt drei bis vier Phasen eines solchen Interviews: einen offenen Teil, Nachfragen nicht verstandener Einzelhinweise, den Einsatz der vorbereiteten Frageliste sowie eine mögliche „Streitphase“, in der unterschiedliche Auffassungen der Gesprächspartner diskutiert werden könnten.80 Im Kontext der beiden für diese Arbeit geführten Interviews konnte die in der dritten Phase vorgesehene Frageliste nur in Ausschnitten angewandt werden und war stärker in das Gespräch verwoben. Eine „Diskussionsphase“ entfiel – nicht zuletzt aufgrund des biografischen Hintergrunds und gesundheitlichen Zustands der Interviewpartnerinnen – vollständig. Am Ende des Interviews wurde ein Protokoll der Gesprächshintergründe und Aussagen vor und nach der Aufzeichnung angefertigt. Die Gespräche erstreckten sich über mehrere Stunden. Nach der Bitte, über ihr Leben zu erzählen, begannen die beiden Frauen mit langen Passagen, welche gelegentlich von Nachfragen durch die Interviewerinnen unterbrochen wurden. Bei beiden Gesprächen war das hohe Alter der Betroffenen zu berücksichtigen. Zudem zeigte sich, dass dem Thema der Zwangssterilisation oftmals mit Schweigen begegnet wurde. Ähnlich waren auch die Erfahrungen, die im Rahmen einer Hamburger Projektgruppe für „vergessene“ NS-Opfer mit Zeitzeugenbefragungen, darunter auch mit Zwangssterilisierten, gemacht wurden: „Dabei stellten sich jedoch nicht nur die üblichen Probleme der ‚Oral History’ [...] ein [...], sondern es wurden die fortwirkenden Ängste der Betroffenen vor erneuter Verfolgung, die häufig ungebrochene Scham und die Sorge, sich durch das Bekenntnis zur eigenen Lebensgeschichte der verstärkten öffentlichen Diskriminierung auszusetzen, offensichtlich.“81 Haben Interviews im Rahmen der „oral history“82 den Vorteil, eine eigene, für den Produzierenden der Erinnerung nur schwer steuerbare Eigendynamik zu entwickeln und durch konkrete Rückfragen in anderen Zusammenhängen 78
Dabei wird im jeweiligen Fall darauf hingewiesen, ob es sich bei dem Interviewpartner um eine Person handelt, die erstmalig oder vielleicht schon in anderer Form an Zeitzeugeninterviews teilgenommen hat. Vgl. zu diesen Differenzierungen von Plato (2000), v. a. S. 10. 79 Vgl. hierzu Kruse/Schmitt (1998); Von Plato (2000); Hopf (2005), S. 355-360. 80 Von Plato (2000), S. 21ff. 81 Garbe (1988), S. 9. 82 Zur oral history in dem hier interessierenden Kontext vgl. u.a.: Niethammer (1980); Von Plato (1998); Platt (1998); Blossfeld/Huinink (2001).
Quellen und Methodik
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kaum thematisierte Elemente zu erfassen, so beinhalten Briefe in noch stärkerem Maße zumeist bewusst formulierte und dezidiert nach Außen gewandte, zumindest tendenziell reflektierte Aussagen über die eigene Person. Sie haben zudem eine längere Tradition als Quellen historischer Untersuchungen wie auch der qualitativen sozialwissenschaftlichen Analyse. Die in dieser Arbeit untersuchten Briefe geben darüber hinaus zumindest partiell den Blick auf die Wahrnehmungsmuster und Bewertungskategorien von Individuen in der Geschichte frei, die sich in anderen Quellen kaum erfassen lassen. Vor allem in diesem Sinn ist „verschriftete Sprache auf einem Blatt Papier [...] geronnene Wirklichkeit“.83 Jenseits des Anspruchs auf eine Rekonstruktion historischer „Fakten“ liegt hierin – nicht zuletzt für diese Arbeit – der „Wert“ von Selbstzeugnissen. Gleichzeitig sind aber auch quellenkritische Überlegungen hinsichtlich dieser „Lesart“ von Briefen anzustellen.84 Die in dieser Arbeit analysierten Briefe sind in erster Linie Schreiben an Institutionen. Während die Briefe aus den Unterlagen der Wiederaufnahmeverfahren im Zeitraum von 1947 bis in die 1980er Jahre entstanden sind, setzen die Bestände des BEZ erst mit der Gründung der Organisation 1987 ein.85 In den Briefen selber geht es in der Regel zumindest anfangs um Forderungen beziehungsweise Bitten: Im einen Fall die Beantragung der Wiederaufnahme eines Erbgesundheitsgerichtsprozesses, im anderen Fall die Bitte um Hilfe bei der Beantragung von „Entschädigungsgeldern“. Für die Aussagekraft der Briefe bedeutet dies auf den ersten Blick eine deutliche Einschränkung. Es ist zu vermuten, dass sie argumentative Strategien enthalten, dass beispielsweise durch die Sterilisation erlittene physische Schädigungen auch im Hinblick auf erhoffte finanzielle Ausgleichszahlungen, also zielgerichtet dargestellt werden, kurz, dass es immer auch um die Durchsetzung von Interessen geht. Diese Einschränkung ist vorhanden, wenngleich sie sich faktisch als weitaus geringer darstellt als auf den ersten Blick anzunehmen ist. Betrachtet man die Briefe im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren, so ist schnell festzustellen, dass hier Personen schreiben, die die Aufhebung eines ihrer Ansicht nach falschen rechtlichen Urteils anstreben. Nicht wenige Briefe zeugen bereits durch orthografische oder grammatikalische Fehler von der Mühe, die sie ihren Autoren machen. Wenn Forderungen gestellt und diese argumentativ unterstützt werden, geschieht dies zumeist dezidiert, und häufig geht es hierbei auch um die Urteilsaufhebung an sich, beispielsweise um eine 83
Müller (2007), S. 92. Für einen Überblick über grundsätzliche quellenkritische Überlegungen vgl. z. B. Howell/Prevenier (2004). 85 Die Bestände wurden bis zum Jahr 2006 berücksichtigt. 84
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Refertilisierung durchführen zu lassen. Für strategische Überlegungen scheint wenig Raum zu sein. Hinzu kommt, dass sich die Betroffenen für die Aufhebung der Urteile mit ihrer ganzen Person einbringen müssen. Sie haben zu zeigen, dass das Erbgesundheitsgerichtsurteil zu Unrecht erfolgte. Um deutlich zu machen, dass sie eben nicht „schwachsinnig“ und sozial „minderwertig“ und ihre Familien nicht „erbkrank“ sind, werden nahezu sämtliche Bereiche des Berufs- und Privatlebens oftmals in einer emotionalen Sprache, die in ihrer Spanne von Bitten bis hin zu starker Empörung reicht, ins Feld geführt. Für die Briefe an den BEZ gilt, dass sich durch die personale Ausrichtung der Organisation im Verlaufe mehrerer Briefwechsel und ein zum Teil erfolgtes persönliches Kennenlernen nicht selten ein direktes Verhältnis zwischen Autor und Adressat entwickelt. Hinzu kommt, dass die Organisation eine Selbsthilfegruppe darstellt und ihre Gründerin und langjährige erste Vorsitzende selbst zwangssterilisiert worden war. Nicht zuletzt hierdurch bedingt haben die Briefe oftmals den Charakter von „Aussprachen“ nach langem Schweigen. So beginnt beispielsweise Herr T. seinen Brief mit der Ankündigung: „[…] Ich möchte mich hiermit Vertrauensvoll an Sie wenden.“86 Es wird von den Verfassern zumeist davon ausgegangen, dass es sich auf der Empfängerseite um eine Vertrauensperson handelt, der durch ihre eigene Betroffenheit und den dezidierten Einsatz für die Interessen dieser Opfergruppen des „Dritten Reichs“ mit seltener Offenheit begegnet werden kann. Hierin liegt auch eine Besonderheit der vorliegenden Materialien. Zum einen kam die Initiative zum Erstellen der Briefe – im Unterschied beispielsweise zu Fremdanamnesen bei psychiatrischen Untersuchungen – von den Betroffenen selbst: Sie entschieden, was und in welchem Umfang sie dem Briefpartner mitteilen wollten. Zum anderen legt das oftmals von Beginn an vorausgesetzte besondere Verhältnis zwischen Sender und Empfänger eine besondere Authentizität der Quellen im Sinne der hier interessierenden Fragestellungen nahe, dies vor allem auch im Unterschied zu sonstigen Schreiben an Institutionen. Die Briefe und aufgezeichneten Gespräche bieten damit ungewöhnlich tiefe Einblicke in das Erleben der Betroffenen. Sie skizzieren die Perspektive von Menschen, die, jahrzehntelang ausgegrenzt, zu den „vergessenen Opfern“ gehören.
86
Brief von M. T. vom 28.6.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. zum Beispiel auch Brief von A. P. vom 9.11.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ: „Liebe Frau Nowak! Ich musste Ihnen mal meinen Kummer berichten, weil man alleine ist, und sich mühsam durchs Leben bemüht.“
Quellen und Methodik
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Methodische Überlegungen Die Auswertung der beschriebenen Quellen erfolgt in Form einer qualitativen Analyse.87 Das qualitative Vorgehen beinhaltet eigene methodische Einschränkungen, welche sich neben der grundsätzlichen Frage, inwieweit eine „Erkenntnis“ des zu untersuchenden Subjekts durch ein anderes, analysierendes Subjekt überhaupt möglich ist, nicht zuletzt auf die Frage der Repräsentativität ihrer Ergebnisse beziehen: „Qualitative Forschung bedeutet ein durch methodische Verfahrensregeln vergleichsweise wenig strukturiertes und geschütztes Aufeinandertreffen von Subjekten mit Subjekten.“88 Nicht nur die Auswahl der Quellen, die angewandten Methoden und die Analyse selbst unterliegen von Seiten des Untersuchenden einer subjektiven Auswahl. Auch die Tatsache der Konfrontation einer Angehörigen der „nachgeborenen“ Generation des Nationalsozialismus mit Opfern des „Dritten Reichs“ ist zu berücksichtigen. Ist „Fremdverstehen [...] ein prinzipiell zweifelhafter Akt“89, so setzen die grundsätzlich unterschiedlichen Erfahrungsräume, in denen sich die Betroffenen auf der einen und die Autorin auf der anderen Seite bewegen und die deutlich werdenden Tabuisierungen den Erkenntnismöglichkeiten weitere Grenzen, denn „62 Jahre seeliches & körperliches Leid es kann nur jemand verstehen der es am eigenen Leibe erfahren hat.“90 Immer wieder, in unterschiedlicher Intensität und Deutlichkeit, handelt es sich bei den vorliegenden Erzählungen und schriftlichen Äußerungen nicht zuletzt um „Leidensgeschichten“. Wie aber können angesichts völlig verschiedener Lebensrealitäten die Dimensionen dieses Leidens, die in den Äußerungen selbst häufig abstrakt bleiben, und seiner Bedingungsfaktoren überhaupt erkannt, wie „analysiert“ werden? Wie ist die Gratwanderung zwischen Empathie und Distanz, zwischen Analyseanspruch und der hinter dem vielfachen Schweigen zu vermutenden, nicht darstellbaren Dimension zu leisten? Zudem stellen sich weitere Fragen, wie: Darf man diesen Opfern kritische Nachfragen in einer Interviewsituation stellen?91 Darf man in schriftlichen Formulierungen Aussagen 87
Zu einem Überblick über qualitative Forschungsansätze vgl. Flick et al. (2005). Mruck/Mey (1999), S. 302. 89 Soeffner (2005), S. 165. 90 Brief von L. H. vom 23.4.1999, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. In einigen Briefen an den BEZ wird die persönliche Betroffenheit der Vorsitzenden der Organisation hervorgehoben und als Grund für eine auf dieser Basis mögliche Offenheit oder gar als Voraussetzung jeglichen „Verstehens“ dezidiert genannt. 91 Joist Grolle schreibt im Vorwort eines Sammelbandes, der sich mit im Rahmen eines Hamburger Forschungsprojektes entstandenen lebensgeschichtlichen Interviews mit NS-Opfern beschäftigt von der „Gratwanderung zwischen Anspruch der Wissenschaft und Respekt vor den Opfern“. Vgl. Grolle (1999), S. 8. 88
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Einleitung
beispielsweise über das körperliche Rückenleiden als Folge der Sterilisation anzweifeln? Darf man es – als Historiker und auf der Grundlage nur dieses einen Zeugnisses dieser Person – psychologisch zu deuten versuchen? Ein häufiger Kritikpunkt an der im weitesten Sinne biografischen Forschung besteht in der Frage, welchen „Realitätswert“ das Gedächtnis des erinnernden Subjekts beanspruchen kann. Diese Frage gilt sowohl für Interviews als auch für Briefe und sonstige schriftliche Zeugnisse und schließlich ebenso für die bereits veröffentlichten (auto)biografischen Darstellungen. Neuere Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung lassen starke Zweifel an der Authentizität der Erinnerung im Hinblick auf die tatsächlich erlebte Realität aufkommen und verweisen demgegenüber auf eine Fülle von Konstitutionsbedingungen, denen Erinnerung unterliegt.92 Nimmt man die Überlegung hinzu, dass „die Fähigkeit zur autobiografischen Erinnerung [...] insofern eine eindeutig soziale Kompetenz [ist], als sie in der sozialen Kommunikation im Zusammensein mit anderen mittels ‚memory talk’ (Katherine Nelson) und ‚conversational remembering’ (David Middleton) herangebildet wird“,93 so scheint sich eine zusätzliche Schwierigkeit bei den hier im Mittelpunkt stehenden Menschen zu ergeben. In den meisten Fällen muss – unabhängig von der jeweiligen Quelle – davon ausgegangen werden, dass ein „memory talk“ kaum je stattgefunden hat. Die Zwangssterilisation stellt, dies wird in den folgenden Ausführungen immer wieder deutlich werden, ein als zutiefst stigmatisierend empfundenes Ereignis dar, welchem in der Folge vor allem mit Schweigen begegnet wurde. Zum Teil war den Betroffenen selbst innerhalb der Familie oder der Partnerschaft eine Kommunikation hierüber gar nicht oder erst mit jahrzehntelanger Verzögerung möglich. In diesem Zusammenhang interessiert auch die von Alexander von Plato genannte „Erinnerungskultur“, in der Zeitzeugen verankert seien: „Dieses Umfeld bestimmt ihr Erleben mit, strukturiert ihre Präsentation, vermutlich auch ihre Erinnerung, gibt ihnen Anerkennung und Wärme [...].“94 Von einer kollektiven Erinnerungskultur kann in Bezug auf die Zwangssterilisierten keine Rede sein: „Es scheint für ihre Geschichte und Geschichten dieser Art in unserem Volk überhaupt keine Kultur des Erzählens zu existieren.“95 Lothar Steinbach weist darauf hin, dass „das, was aus einem Menschen am Ende seines Lebenslaufs geworden ist, was ihn zutiefst geprägt hat, [...] immer auch als kumulatives
92
Hierzu u. a. Welzer (2002). Ebenda, S. 164. 94 Von Plato (2000), S. 9. 95 Roer (2005), S. 191, vgl. auch S. 194. 93
Quellen und Methodik
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Ergebnis von vorausgegangenen Sozialisationsprozessen zu verstehen [ist].“96 Geht man davon aus, dass diese Überlegungen nicht nur für direkte Zeitzeugenbefragungen, sondern auch für viele der schriftlichen Selbstzeugnisse gelten, so ist im Kontext dieser Arbeit die durch den gesellschaftlich-politischen Umgang – messbar beispielsweise an einer jahrzehntelang verweigerten „Entschädigung“ – festgeschriebene Zugehörigkeit und die Selbstzuschreibung zu einer diskreditierten Opfergruppe des Nationalsozialismus zu berücksichtigen. Es ist weiter davon auszugehen, dass das soziale Umfeld ihre Erinnerung und Darstellung beeinflusst, aber eben nicht im Sinne einer möglichen Anerkennung, sondern im Sinne einer – zumindest in der Selbstwahrnehmung – aufrechterhaltenen „Minderwertigkeitserklärung“, gegen die es sich abzugrenzen gilt. Was bedeuten diese Annahmen für den Aussagewert der Quellen? Sie müssen berücksichtigt werden, scheinen aber den interessierenden Aussagewert nicht zu untergraben. Denn zum einen ist bereits die Feststellung einer Kommunikationsverweigerung und expliziten Abgrenzung von der sozialen Umwelt ein Ergebnis der Untersuchung, zum anderen geht es im Folgenden weniger um eine detaillierte Rekonstruktion historischer Ereignisse als vielmehr gerade um die Subjektivität und die hier deutlich werdende individuelle Perspektive von Angehörigen dieser Opfergruppe, auch im Kontext des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit ihr. Bei aller Subjektivität der Quellen und der grundsätzlichen Partialität und Relativität von Erinnerung und Erkenntnis ist dabei letztlich auch auf die Einschätzung Joachim Gaucks über die nicht vorhandene „wirkliche Wirklichkeit“ und die stattdessen nur zu erfassende „rezipierte Wirklichkeit“ zu verweisen: „In dieser Sicht steckt etwas Richtiges, aber auch ein großer Irrtum. Die wirkliche Wirklichkeit ist es, die die Toten und die Traumatisierten herstellt, über die wir blind, halbsehend oder hellsichtig sprechen können.“97 Standen den Betroffenen auch unterschiedliche Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Zwangseingriff zur Verfügung, mögen die vergangenheitspolitischen Entwicklungen nach 1945, mag auch zusätzlich das Alter den Blick auf die Vergangenheit beeinflussen, die nationalsozialistische Zwangssterilisation bildet den realen, gemeinsamen Punkt für alle Betroffenen. Konkret setzt die Analyseheuristik98 an zwei Stellen an. Gemäß der eingangs formulierten Frage nach Aspekten der Wahrnehmung und den Perspektiven der Betroffenen werden die im dritten Kapitel der Arbeit untersuchten Briefe und Interviews gleichsam „induktiv“, mit möglichst großer Offenheit, zu
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Steinbach (1980), S. 316f. Vgl. hierzu auch Platt (1998), S. 246. Gauck (2002), S. 15. 98 Vgl. zum Folgenden auch Kruse (2007). 97
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Einleitung
erfassen versucht.99 In einem ersten Schritt wurde der Inhalt jedes einzelnen der zumeist eine halbe bis 2 ½ Seiten langen Briefe in wenigen Stichworten zusammengefasst. Auf dieser Grundlage wurden in einem nächsten Schritt Kategorien gebildet, die in einem darauf folgenden Analysegang wiederum ausdifferenziert wurden. Hiermit wurde versucht, sowohl die grundsätzlichen Thematisierungen als auch die Ausdrucksform einer möglichst großen Zahl von Betroffenen zu erfassen, auch wenn individuelle Auslegungen und Inhaltsbereiche dabei zum Teil verloren gehen. Auf eine darüber hinausgehende mikrosprachliche Sequenzanalyse musste im Rahmen der Arbeit weitestgehend verzichtet werden. Eine solche Analyse an wenigen, ausgewählten Texten schien eine mögliche Alternative zu dem hier angewandten Verfahren zu sein. Obwohl davon ausgegangen wird, dass eine solche Mikroanalyse grundsätzlich zahlreiche Erkenntnismöglichkeiten bietet, wurde angesichts der bisher noch kaum vorhandenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Opfergruppe versucht, einen Ansatz zu finden, welcher – bei aller Einschränkung – über eine möglichst breite Quellenbasis verfügt. Bei den Wiederaufnahmeverfahrensakten folgt die Untersuchung demgegenüber stärker deduktiven Kriterien. Ausgangspunkt sind bereits vorhandene Arbeiten über die Verweigerung von politischer Anerkennung und finanzieller „Wiedergutmachung“ und die Diskussionen über mögliche Sterilisationsgesetze in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik sowie nicht zuletzt die schlichte Existenz der – ergebnisoffen geführten – Wiederaufnahmeverfahren und ihres Prozedere.100 Vor diesem Hintergrund lässt sich die These formulieren, dass der Umgang mit den Betroffenen und die Argumentationsstrukturen der Urteilsfindung von zahlreichen Kontinuitäten, aber auch im zeitlichen Verlauf auftauchenden Brüchen im Vergleich zum Vorgehen im „Dritten Reich“ geprägt sind. Mit dieser „Brille“ wurden die Beurteilungen in den fachpsychiatrischen Gutachten, die Kommunikation der Gerichte mit den Antragstellern sowie die Urteilsbegründungen analysiert. Hans-Walter Schmuhl regte im Rahmen eines Symposions die Untersuchung der diskursiven Ebenen und Sprachstile in den Erbgesundheitsgerichtsprozessen des „Dritten Reichs“ an, und konstatierte entsprechende For99
Dabei lassen sich vorhandene, die Wahrnehmung möglicherweise vorstrukturierende Annahmen nicht ausschließen, welche sich durch die von Anfang an bestehende Zuschreibung der Verfasser der Briefe und der Interviewpartner zu einer Opfergruppe des „Dritten Reichs“ sowie aus der Lektüre autobiografischer Schriften und Darstellungen einzelner Opfer im Rahmen bisheriger Veröffentlichungen ergeben. 100 Nach meiner Auffassung stellt die Tatsache der ergebnisoffenen Wiederaufnahme der Verfahren keinen kritischen Umgang mit dem GzVeN dar. Denn die damit einhergehende Anerkennung der Zwangssterilisation an sich und der Verfahrensbedingungen dieses Gesetzes konnte nur neues Unrecht schaffen.
Quellen und Methodik
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schungsdesiderate.101 Dieser Anregung folgend, geht es in diesem Kapitel auch um eine erste Betrachtung der vor allem in den Intelligenztests sichtbar werdenden, unterschiedlichen Kommunikationsebenen der Prozessbeteiligten in den Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik. Neben der Frage nach dem Umgang mit den Betroffenen interessiert auch erneut die in der Kommunikation mit den Medizinern und Gerichten sichtbar werdende Perspektive der Antragsteller.
101 Symposion „Justiz und Erbgesundheit“, Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, Dezember 2006.
„Die Gemeinschaft hat ein Interesse daran, dass sie nicht mit Erbkranken verseucht wird“102
102
Hanack (1959), S. 314.
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I Theorie und Praxis der „Wertigkeit“
I Theorie und Praxis der „Wertigkeit“ 1. Entwicklungselemente der Eugenik bis 1933 Die Eugenik, die es in der mit diesem Terminus suggerierten Geschlossenheit zu keinem Zeitpunkt gab, hat eine bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende, vielschichtige und internationale Tradition. Sie ist eng mit den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und medizinischen Entwicklungen ihrer Zeit verbunden, auf die sie sich ebenso bezieht wie sie auf diese zurückwirkt. In ihren Voraussetzungen, ihrem Anspruch und ihren Zielvorstellungen geht sie zugleich eine enge Verbindung mit der Moderne ein.103 Im Folgenden können lediglich Elemente dieser Entwicklung, insbesondere der Theorie und Praxis der „negativen Eugenik“,104 in Deutschland beleuchtet werden.105 Industrielle Revolution, Urbanisierung, soziale Umbrüche – solche Schlagwörter versuchen, das 19. Jahrhundert106 und den in ihm stattfindenden „Durchbruch der Moderne“ zu beschreiben. Die gesellschaftliche Dynamik und Sprengkraft, die hinter den mit diesen Begriffen benannten Entwicklungen und ihren Auswirkungen auf die Mentalität derer, die ihnen ausgesetzt waren, stecken, lassen sich kaum hoch genug einschätzen. Sie führten in Verbindung mit einer zunehmenden Leistungsorientierung und völlig veränderten Lebenszusammenhängen sowohl zu einer gesamtgesellschaftlichen „Auflösung aller Vertrautheit“107 als auch zu einer wachsenden Zahl von Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Anspruchskatalog herausfielen.108 Zugleich boten im Rahmen des „Siegeszuges“ der Naturwissenschaften seit der Mitte des Jahrhunderts biologische – und biologistisch gewertete – Theorien wie die von Charles Darwin völlig neue Interpretationen für die Entstehung der belebten Natur, welche die 103
Zum Zusammenhang von Eugenik und Moderne vgl. auch Simon (2001). Zum schillernden Begriff der Moderne vgl. Gumbrecht (2004) [Erstveröffentlichung 1978]. 104 Während positive eugenische Maßnahmen eine Förderung von als „wertvoll“ definierter Gene vorsehen, beispielsweise durch familienpolitische Leistungen für entsprechende Familien, zielt „negative Eugenik“ auf die Verhinderung einer Nachkommenschaft der für „minderwertig“ Befundenen. 105 Vgl. zu den einzelnen Entwicklungslinien der Eugenik zum Beispiel Weingart/Kroll/Bayertz (1992); Kappeler (2000); Trus (2002); Fangerau/Noack (2006). Zur internationalen Dimension vgl. Kühl (1997a); Trus (2002), S. 252ff., insbesondere auch die Literaturangaben in dem Fußnotenapparat. 106 Für einen Überblick über die Entwicklungen und Veränderungsprozesse im 19. Jahrhundert vgl. Siemann (1990); Nipperdey (1998a und 1998b); Labisch (2002); zur Entwicklung der Demografie im 18. Jhd. vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992). 107 Dittmann et al. (1990). 108 Vgl. hierzu auch Siemen (1998).
Entwicklungselemente der Eugenik bis 1933
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menschliche Entwicklung aus einem transzendenten und damit nicht hinterfragbaren Erklärungszusammenhang in den Bereich naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten transferierten und die Zeitgenossen mit neuen Denkmustern konfrontierten. Sozialdarwinistisch übersetzt109 bedeutete dies, den „Kampf ums Dasein“ auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge anzuwenden und in einer zivilisatorischen „Kontraselektorik“ die Erklärung für die sich verschärfenden sozialen Probleme zu finden. Hierbei rückte die anscheinend überproportionale Vermehrung der unteren sozialen Schichten ebenso in das Blickfeld der Eugeniker wie die vermeintlich ebenfalls erblichen sozialen Devianzen, von der Alkoholabhängigkeit bis hin zur materiellen Armut. Insbesondere aber problematisierte man Menschen mit physischen wie psychischen Behinderungen und Erkrankungen, denen dank des medizinischen Fortschritts und sozialer Maßnahmen zunehmend Möglichkeit zur Weitergabe ihrer mutmaßlich erblichen Leiden gegeben würde.110 Die Eugenik, insbesondere von Francis Galton in Großbritannien, Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz111 in Deutschland entwickelt und popularisiert, hatte „als Wissenschaft [...] im wesentlichen drei Ziele: die ‚Kontraselektion’ der ‚unterschiedlichen Fortpflanzung’ zu demonstrieren, die Kriterien menschlichen ‚Werts’ zu bestimmen und die Kriterien von ‚Minderwertigkeit’ als erblich zu erweisen.“112 Die Lehre, welche einerseits nachdrücklich die drohende gesellschaftliche „Degeneration“113 prophezeite und andererseits eine mit ihrer Hilfe zu erreichende krankheit- und elendbefreite Gesellschaft dagegen setzte, verhieß Diagnose und Therapie zugleich; der moderne Mensch wurde unter völlig neuen Bedingungen zum Schöpfer seiner Zukunft. Der Mensch, und
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Dass dabei auch Ansätze Darwins selbst nicht frei von sozialdarwinistischen Implikationen waren, zeigt z. B. Venzlaff (2002). Zu Vertretern der deutschen Sozialdarwinisten zählten unter anderem Otto Ammon und Alexander Tille. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 118ff. Dabei können Sozialdarwinisten und Eugeniker nicht synonym gesetzt werden. Vgl. Bock (1986), v. a. S. 34f. Gleichwohl berühren sie sich in den hier wesentlichen Punkten der Propagierung verschiedener Wertigkeiten von Menschen und der Analyse einer zunehmenden gesellschaftlichen Degeneration. 110 „In Deutschland verknüpften sich innerhalb der rassenhygienischen Bewegung die Bestrebungen zu einer generellen Hochzüchtung der weißen Rasse mit einem stark medikalisierten Konzept von Minderwertigkeit, in dessen Mittelpunkt die Bekämpfung von Geisteskranken und Epileptikern stand.“ Kühl (1997a), S. 21f. 111 Alfred Ploetz prägte hierbei den in Deuschland zumeist verwendeten Begriff der „Rassenhygiene“. 112 Bock (1986), S. 36. 113 Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich insbesondere in der französischen Literatur Vorstellungen einer gesellschaftlichen Degeneration finden. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), v. a. S. 42ff.
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I Theorie und Praxis der „Wertigkeit“
nicht zuletzt der Mediziner,114 schien die Gestaltung einer leidens- und konfliktfreien Gesellschaft von Morgen selbst in der Hand zu haben. Insbesondere im Bereich der Psychiatrie verhießen eugenische Ansätze wenn schon keine Heilung bestehender, so doch eine Verhinderung zukünftiger psychischer Krankheiten und fanden dementsprechend in psychiatrischen Kreisen weite Verbreitung.115 Die Psychiatrie erfuhr im 19. Jahrhundert sowohl ihre eigentliche wissenschaftliche Begründung als auch eine grundsätzliche Infragestellung. Behinderte und psychisch Kranke befanden sich in vormodernen Zeiten in problematischen und häufig inhumanen Lebenssituationen.116 Brachte die Aufklärung hier zunächst eine prinzipielle Verbesserung, so zeigte sich die medizinische Euphorie des 19. Jahrhunderts auch in einer neuen Form wissenschaftlicher Behandlung der Betroffenen:117 „Wie in anderen europäischen Ländern sahen das aufstrebende Bürgertum und Teile der Bürokratie in der Befreiung der Irren aus den Armen- und Zuchthäusern einen Testfall ihrer emanzipatorischen Bestrebungen.“118 Die Errungenschaft der Definition und Behandlung als Patient in den vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Heil- und Pflegeanstalten wich allerdings angesichts massiv steigender Patientenzahlen und mangelnder Therapien bald einer Ernüchterung und einer materiellen wie diagnostisch-therapeutischen Überforderung.119 Für die ausbleibenden Behandlungserfolge boten nicht zuletzt eugenische Vorstellungen eine willkommene Erklärung – und eine Lösung, handelte es sich doch nun um Erbkrankheiten, so dass sich die Therapie auf eugenische Maßnahmen „zugunsten“ kommender 114 Einige Berufsgruppen fühlen sich besonders berufen zur Lösung diese umfassend verstandenen Krise ihren maßgeblichen Beitrag zu leisten und entwickelten einen „Hang zur Hybris“, darunter Mediziner, aber auch beispielsweise Architekten. Vgl. hierzu Von Saldern (1991), v. a. S. 174. Zur Entwicklung der Medizin, die sich im 19. Jahrhundert immer mehr an den Naturwissenschaften orientierte vgl. Labisch (2002); zum zunehmenden Autoritätsgewinn der Mediziner im 19. Jahrhundert vgl. auch Noak/Fangerau (2006). 115 Vorstellungen einer gesellschaftlichen „Degeneration“ waren auch in der Psychiatrie verbreitet. Lediglich in der Frage nach den Ursachen gab es Kontroversen. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), v. a. S. 48ff. 116 Vgl. z. B. Schröder (1983); Schott (1992); zur Geschichte der Psychiatrie und der Behindertenfürsorge vgl. auch Fangerau (2006); Blasius (1991a); Dörner (1999); zu ideologischen Vorläufern vgl. Benzenhöfer (1999); Baader (2002). 117 Vgl. Blasius (1991a); Dörner (1999). 118 Siemen (1998), S. 104. 119 Vgl. hierzu und zu einer vom Bürgertum getragenen, um 1900 entstehenden „antipsychiatrischen Bewegung“ Fangerau (2006). Zur Interpretation der Institutionalisierung der Psychiatrie als eine Antwort auf die „Soziale Frage“ vgl. Dörner (1999).
Entwicklungselemente der Eugenik bis 1933
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Generationen zu verlagern hatte.120 So hielt der Psychiater August Forel, der selbst eugenisch motivierte Kastrationen vornahm, in seiner Autobiografie fest: „Laut schrie in mir eine Stimme, die dem Psychiater sagte: ‚[…] Was nützt es denn, ewig dazubleiben, um die verlorenen Opfer des Unverstandes der Menschheit als Trümmer in geschlossenen Irrenhäusern zu pflegen und dabei die Ursachen dieses ganzen Elends ruhig weiter bestehen zu lassen? Das ist Feigheit!’ Die soziale Hygiene erfordert eine totale Umwälzung unserer Anschauungen, um das Übel an der Wurzel zu fassen, vor allem eine rationelle menschliche Zuchtwahl […].“121
Der Erste Weltkrieg radikalisierte und popularisierte die „Rassenhygiene“ weiter: Der millionenfache Tod der Soldaten in einer zunehmend als sinnlos empfundenen industrialisierten Kriegsführung ließ neu über den „Wert“ menschlichen Lebens nachdenken. Für Vertreter eugenischer Ideologien hatte der Krieg vor allem eine erneut sich verstärkende „kontraselektorische“ Wirkung. Während im Krieg die Gesündesten und „Besten“ stürben, so ihre Argumentation, würde man die „Minderwertigen“ in der Heimat belassen, die Kranken weiter pflegen und ihnen Fortpflanzungsmöglichkeiten zugestehen. Tatsächlich starben jedoch zwischen 1914 und 1918 etwa 70 000 Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches „als schwächste Glieder in der sozialen Kette“ (Maike Rotzoll) an mangelnder Versorgung.122 Alfred Ploetz beurteilte diese Hungersnot als „eugenisch förderlich“.123 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in Form neuartiger Ideenentwürfe von zumeist eher randständigen Wissenschaftlern und Politikern postuliert, institutionalisierte sich die „Rassenhygiene“ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts überaus erfolgreich. Wie sehr eugenische Theorien in der Weimarer Republik schließlich zum „common sense“ gehörten, mag die Tatsache der 1927 erfolgten Gründung des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ in Berlin verdeutlichen. Dem 1927 gegründeten Institut, Teil der renommierten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, sollten zahlreiche weitere Institutsgründungen folgen.124
120
Vgl. Küchenhoff (2006), S. 23f. Zitiert nach Ebenda, S. 25. 122 Vgl. Rotzoll (2007), S. 29; Faulstich (1998). 123 Zitiert nach Kühl (1997a), S. 51. 124 Vgl. hierzu sowie zu den Stationen der Institutionalisierung Fangerau/Noack (2006), S. 229ff. Zur weiteren Entwicklung des Kaiser-Wilhelm-Instituts vgl. Kröner (1998); Schmuhl (2005). 121
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Entsprechende Überlegungen sowie die Akzeptanz des hiermit in Verbindung stehenden prinzipiellen Verfügungsrechts des Staates über das Individuum waren in der Weimarer Republik – bei zum Teil durchaus divergierenden Vorstellungen im Einzelnen – in den unterschiedlichsten politischen Richtungen, in Wissenschaft und gesellschaftlichen Großgruppen verbreitet.125 „Allgemein anerkannt war [...] die Forderung, die menschliche Fortpflanzung aus Gründen der Eugenik der ärztlichen und hygienischen Überwachung zu unterstellen.“126 Teile der Sozialdemokratie127 befürworteten eugenische Maßnahmen ebenso wie Vertreter der Kirchen. Die katholische Kirche lehnte aus prinzipiellen Überlegungen eugenische Sterilisationen als Eingriff in die göttliche Autorität mit der Enzyklika „Casti connubii“ 1930 offiziell ab. Gleichwohl wurde auch hier ebenso Eugenik breit diskutiert wie es Befürworter von Sterilisationen gab.128 In der evangelischen Kirche waren eugenische Gedanken verbreitet und mit der im Mai 1931 in Treysa stattfindenden Fachkonferenz für Eugenik des Zentralausschusses für die Innere Mission institutionell verankert. Argumentiert wurde hier vor allem mit christlicher Nächstenliebe gegenüber kommenden Generationen.129 Die diskutierten Forderungen, welche dabei auch auf ablehnende Reaktionen stießen, lesen sich nicht selten wie eine Vorwegnahme weiter Teile der nationalsozialistischen Sterilisationspraxis.130 Nicht zuletzt innerhalb der Disziplinen, die mit den potentiell zu Sterilisierenden in Kontakt kamen, namentlich der Medizin, insbesondere der Psychiatrie,131 der Wohlfahrtspflege sowie der Pädagogik,132 fanden eugenische Ansätze weitgehende Akzeptanz. Die ärztlichen Spitzenverbände, der Deutsche 125
Vgl. u. a. Labisch (2002); siehe auch Manz (2007). Zur rassenhygienischen Literatur der Zeit vgl. auch Brill (1994). 126 Baader (2002), S. 285. 127 Im internationalen Rahmen, vor allem in den skandinavischen Ländern, wurden die in den 1930er Jahren erlassenen Sterilisationsgesetze unter maßgeblicher Beteiligung von Sozialdemokraten entwickelt. Vgl. Schwartz (1995); Kühl (1997a), S. 170; Venzlaff (2002); Baader (2002), S. 285. Zur Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung vgl. auch Mocek (2002). 128 Insbesondere eine einschlägige eugenische Erziehung, Eheberatung, die Asylierung „Erbkranker“ und Maßnahmen positiver Eugenik waren mehrheitsfähig. Vgl. Richter (2001). 129 Vgl. Sandner (2006); Kühl (1997b); Brax (2004), S. 44ff. Hinz-Wessels (2005). Auch international war die Akzeptanz der Eugenik in protestantisch geprägten Ländern deutlich höher als in mehrheitlich katholischen. Vgl. Kühl (1997a), v. a. S. 102. 130 Vgl. Brill (1994), S. 188; Müller (1985), S. 60ff., 71f. 131 Zur Akzeptanz rassenhygienischer Vorstellungen im Bereich der Psychiatrie und Neurologie vgl. Fangerau/Müller (2002), die sich mit der Rezeption des „Standardwerkes der Rassenhygiene“, dem 1921 von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz herausgegebenen Lehrbuch „Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ beschäftigen und eine ganz überwiegend positive Rezeption konstatieren. Zu einer zeitgenössischen kritischen Position vgl. Bumke (1922). 132 Vgl. hierzu Brill (1992).
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Ärztevereinsbund und der Hartmannbund, forderten ebenso wie bereits einige deutsche Städte im November 1932 das Innenministerium zu einer gesetzlichen Regelung der Eugenik auf und unterstützen den im selben Jahr erarbeiteten, im Unterschied zum späteren nationalsozialistischen Gesetz noch auf weitgehender Freiwilligkeit beruhenden preußischen Gesetzentwurf zur Sterilisation „Erbkranker“.133 In einigen psychiatrischen Einrichtungen wurden bereits – gesetzeswidrig – von Psychiatern Sterilisationen veranlasst.134 Hans Harmsen,135 ein führender Vertreter eugenischer Positionen in der evangelischen Kirche, formulierte 1931: „In der Praxis werden derartige Eingriffe, bekanntlich auch trotz der in dieser Frage gegenwärtig bestehenden Rechtsunsicherheit, häufig vorgenommen.“136 Werner Brill kommt in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis: „Wenn wir davon ausgehen, dass die in der Literatur zu findenden Angaben nur die Spitze eines Eisbergs darstellen, dass wahrscheinlich ein großer Teil der Sterilisationen hinter den Mauern von Anstalten verborgen blieb, war die Sterilisation wahrscheinlich durch die ‚normative Kraft des Faktischen’ schon durchgesetzt, bevor sie mittels gesetzlicher Regelung Realität wurde.“137 Dass es Menschen gab, die durch ihre physischen oder psychischen Einschränkungen oder aufgrund ihrer Lebensführung einen geringeren „Wert“ besaßen als andere, war dabei ebenso wie kollektivethische und autoritäre Denkmodelle eine kaum hinterfragte und gesellschaftlich breit akzeptierte Grundvorstellung. In der öffentlichen Diskussion konnte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Kosten der „minderwertigen Elemente“ für Staat und Gesellschaft offen nachgedacht werden.138 In den 1920er Jahren begann die Wohlfahrtspolitik unter dem zunehmenden Druck enger werdender ökonomischer Spielräume die Lebensgestaltung der für „minderwertig“ Erklärten innerhalb und außerhalb 133
Zum preußischen Gesetzentwurf und entsprechenden Vorarbeiten vgl. Müller (1985), S. 68ff.; 93ff.; Bock (1986), S. 51 ff.; Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 294 ff.; Benzenhöfer (2006), S. 32-53. 134 Vgl. Schmacke/Güse (1984), S. 19-24; Bock (1986), S. 48. 135 1945 wurde Harmsen Leiter der Akademie für Staatsmedizin in Hamburg und 1946 Direktor des Hamburger Hygienischen Instituts, damit war er zuständig für die Ausbildung von Amtsärzten, sechs Jahre später Gründungsmitglied von Pro Familia. Ebenfalls in den 1950er Jahren initiierte er die „Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft“ und die „Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaften e. V.“ Zu Harmsen vgl. Kaupen-Haas (1984); Romey (1987), S. 16; Schleiermacher (1998). 136 Zitiert nach Pörksen (1997), S. 276. Vgl. zur Sterilisationspraxis in der Weimarer Republik auch Müller (1985), S. 86-88. 137 Brill (1994), S. 188. 138 Zu diesem Thema veranstaltete beispielsweise die Wochenzeitschrift „Umschau“ 1911 ein Preisausschreiben, vgl. Baader (2002), S. 282f.
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der Anstalten stetig einzuengen und mit Hilfe eugenischer Theorien immer offener das Wohl des Einzelnen gegenüber dem des „Volksganzen“ abzuwägen.139 „Die Rassenhygiene als eine sich zunehmend professionalisierende Wissenschaft bot der Weimarer Krisenpolitik Konzepte an, die ein Abfangen der sich zuspitzenden Finanzkrise des öffentlichen Gesundheitswesens zu erlauben schienen.“140 Auch innerhalb der Psychiatrie kam es zu prekären Entwicklungen für psychisch Kranke. Weckten einerseits moderne Therapieansätze wie die Arbeitstherapie Hoffnung auf Heilung zumindest eines Teils der Betroffenen, so führte andererseits die in den 1920er und 30er Jahren weiter zunehmende Zahl von Psychiatriepatienten in Verbindung mit sinkenden Pflegesätzen zu wachsenden Ressourcenkonflikten innerhalb der Psychiatrie. Der Umgang mit den Betroffenen hatte sich zunehmend ökonomisch zu legitimieren.141 Einige der Argumentationslinien gegenüber den nun immer häufiger als „minderwertig“ definierten Kranken zeigten für verschiedene „Lösungsrichtungen“ Offenheit. Mit ihnen konnten eugenische Maßnahmen ebenso wie die Ermordung der Betroffenen begründet werden. „[...] die verbreitete Rede von Rassenverfall, Degeneration, Entartung, Minderwertigkeit und Schwäche schuf ein ‚geistiges Umfeld’, in dem Gedanken an die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens’ [...] gut gedeihen konnten.“142 Die Tötung der mutmaßlich „Unheilbaren“ zur Behandlung der „Heilbaren“ konnte vor diesem psychiatrieinternen wie gesamtgesellschaftlichen Kontext zu einem „Lösungs“-Ansatz, „Vernichten zum integralen Bestandteil des Heilens“143 werden. Blieb die Tötung der Betroffenen dabei aber eine stark umstrittene Maßnahme, so galt dies für die eugenischen Maßnahmen kaum. Psychiatrisch Tätige wurden in den folgenden Jahren zu einer Säule der „Erbgesundheitspolitik“. Auch hier war, neben ökonomischen Argumenten und berufspolitischem Profilierungsstreben, das utopische Moment einer Beseitigung psychischer Krankheiten wesentlich.144
139
Vgl. Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991), v. a. S. 1339; Loheim (1991); Walter (1997). Blasius (1991a), S. 264. 141 Zur Entwicklung der Psychiatrie in diesem Zeitraum vgl. Fangerau (2006), v. a. S. 377ff.; Rotzoll (2007), S. 29f. Dabei kam es bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu Konflikten zwischen der Universitäts- und der Anstaltspsychiatrie und zu einer beginnenden Trennung zwischen „Heil-“ und „Unheilbaren“. Während sich Erstere zunehmend selbstbewusst als medizinische Teildisziplin verstand und sich die Heilung der „Heilbaren“ auf die Fahne schrieb, wurde die Anstaltspsychiatrie immer mehr zu einer Verwahreinrichtung für die als „nichtheilbar“ Deklarierten. Vgl. Rotzoll (2007). 142 Benzenhöfer (1999), S. 85. 143 Vgl. hierzu Schmuhl (2002), Zitat S. 306. Vgl. auch Siemen (1998); Rotzoll (2007). 144 Vgl. Siemen (1998), S. 109f. 140
Entwicklungselemente der Eugenik bis 1933
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Im Kontext der breiten Akzeptanz der eugenischen Ideologie ist die zeitgenössisch empfundene Bedrohung der Gegenwart und Zukunft des sozialen Gefüges und die vermeintliche Progressivität eugenischer Maßnahmen145 zu berücksichtigen: „Wir sollten uns klarmachen, dass die biologische Untergangsangst im Zeitalter des Darwinismus und ihre Folgen im Dritten Reich für die meisten Menschen dieselbe psychische Realität besaß, wie unsere ökologische Untergangsangst gegen Ende des 20. Jahrhunderts.“146 [Herv. i. O.] Nicht zuletzt diese „Untergangsangst“ führte zur Bereitschaft, wissenschaftlichen Heilserwartungen, wie sie die Eugenik bereitstellte, nachzugehen und im Zweifel auch gewaltsame Maßnahmen als Notwendigkeit hinzunehmen. Hinzu kam eine in vielerlei Hinsicht bedrängte Weimarer Republik147 und eine verbreitete, ideologieübergreifende Überzeugung von der Notwendigkeit gewaltsamer Lösungen der empfundenen Krisen.148 Tiefgreifendes Krisenbewusstsein und materielle Not einerseits, wissenschaftlich anerkannte und von allen gesellschaftlich bedeutenden Gruppe unterstützte eugenische Vorstellungen andererseits ließen Maßnahmen zur Verhinderung all der mutmaßlich vererbten Leiden und Devianzen als eine unhinterfragbare Notwendigkeit erscheinen. Die nationalsozialistische Propaganda und eugenische Gesetzgebung konnte ebenso wie die praktische Umsetzung der Sterilisationen im „Dritten Reich“ auf diese Entwicklungslinien aufbauen. Die enormen Zahlen der Sterilisationen, die auf eine breite Mithilfe der spezifischen Berufsgruppen, insbesondere der Mediziner und Juristen, sowie auf eine zumindest passive Duldung innerhalb der Bevölkerung angewiesen waren, belegen dies. Gleichzeitig bedurfte es der Rahmenbedingungen des nationalsozialistischen Staates, um eine unmittelbar auf Zwang aufbauende Politik der negativen Eugenik, der bis zu 400 000 Menschen zum Opfer fielen, tatsächlich umzusetzen.
145
Vgl. Roelcke (2002), S. 1025. Schott (1992), S. 20f. 147 Zur Weimarer Republik vgl. Peukert (1987); Bracher/Funke/Jacobsen (1998); Lehnert (1999); Kolb (2002). 148 Vgl. hierzu auch Mai (2001). 146
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2. Kontinuitäten und Brüche – „Erbgesundheitslogik“ im Nationalsozialismus und nach 1945 2. 1 Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus Regelung und Praxis der Zwangssterilisationen Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 14. Juli 1933,149 das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, wurde die Auslese der „Minderwertigen“ zur staatspolitischen Zielvorstellung.150 Seine Veröffentlichung wurde von zahlreichen Propagandamaßnahmen wie Wanderausstellungen und Schauspielvorstellungen, einer bereiten Beschäftigung mit dem Thema in den Medien sowie „rassenhygienischen“ Schulungen der für die Ausführung des Gesetzes wichtigen Berufsgruppen begleitet.151 Allein die eugenischen Propagandafilme sollten in den folgenden Jahren Millionen von Zuschauern sehen.152 Die nun juristisch festgelegten und mit dem „Nimbus der Gesetzlichkeit“153 ausgestatteten Rahmenbedingungen einer „negativen Eugenik“ stellten ein breites Instrumentarium zur Verfügung, welches der Sichtbarmachung, Bewertung und Sterilisation von zu „minderwertig“ erklärten Menschen diente. Diese gesetzliche Grundlegung der Zwangssterilisationen war ein wesentliches Element der öffentlichen Wahrnehmung, auch nach 1945. So stellte Karl Bonhoeffer Ende der 1940er Jahre bezüglich des „nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes“ fest: „Als weitere Sicherung gegen Missbrauch ist das Verfahren gerichtlich.“154 Dabei konnten sowohl das tatsächliche – und als genetisch bedingt definierte – Leiden insbesondere psychisch Kranker als auch eine an bürgerlichen Maßstäben gemessene und für pathologisch und erblich erklärte Lebensführung zur Zwangssterilisation führen. Die Indikationen, die der Gesetzestext als Grundlage einer durchzuführenden Sterilisation nannte, waren als angebo149 Vgl. hierzu Gütt/Rüdin/Ruttke (1936); Müller (1985), S. 105ff.; Kaiser/Nowak/Schwartz (1992), S. 126 ff.; Fangerau/Noack (2006); Benzenhöfer (2006). Das Gesetz baute dabei – neben Elementen des preußischen Gesetzentwurfes – auch auf US-amerikanischen Vorbildern auf. Zur rechtshistorischen Einordnung vgl. Roth/Schlatmann (1998). 150 Dabei waren die einzelnen Maßnahmen des Gesetzes und seiner Ausführungsbestimmungen auch unter Eugenikern oder überzeugten Nationalsozialisten nicht unumstritten, vgl. Bock (1986), S. 80; 98 ff., 289 ff. Für einen Überblick über die Durchführung des GzVeN vgl. Ley (2008). 151 Vgl. Bock (1986), S. 90ff. 152 Vgl. Rost (1992), v. a. S. 51f. 153 Vgl. hierzu und zum Prozedere des Verfahrens Ley (2008), Zitat S. 39. 154 Bonhoeffer (1949), S. 2.
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ren zu diagnostizierender „Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „schwerer Alkoholismus“, „zirkuläres (manisch-depressives) Irresein“, „erbliche Fallsucht“, „erbliche Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)“, erbliche Blind- und Taubheit sowie „schwere erbliche körperliche Missbildungen“. Waren genetische Ursachen der genannten Erkrankungen oder Behinderungen in den allermeisten Fällen nicht nachgewiesen, so offenbaren insbesondere Kategorien wie „angeborener Schwachsinn“, auf dessen Grundlage der weitaus größte Teil der Betroffenen abgeurteilt und zwangssterilisiert wurde,155 und der in der erbbiologischen Praxis durch Konzepte wie den „moralischen Schwachsinn“ oder fehlende „Lebensbewährung“ ergänzt wurde, die sozialdiagnostischen Implikationen des Gesetzes.156 In der Praxis konnte das GzVeN damit, zumindest als angedrohte Option, zu einem Instrument für diverse soziale wie politische Zielsetzungen werden.157 Beweisen konnte man dabei die unterschiedlichen Überlegungen der Eugenik nicht. Die fehlende Empirie stellte ein Grundproblem der Eugeniker dar. Neben der Berufung auf Darwins Selektionstheorie und sozialdarwinistischen Selektionskriterien spielten Elemente der Forschungen August Weismanns zur Rückbildung von Organen eine wichtige Rolle, wobei auch Weismann nur ausschnitthaft und in den für die eugenische Argumentation brauchbaren Teilaussagen rezipiert wurde.158 War die um 1900 wieder entdeckte Mendelsche Forschung von großer Bedeutung, insbesondere auch für die Argumentation der Eugeniker zur „rezessiven“ Vererbung, so zeigte sich auch auf dem Höhepunkt der eugenischen Praxis im „Dritten Reich“ das Dilemma ihrer Vertreter: Ein Hamburger Amtsarzt kam in einem Gutachten zu dem Schluss: „Erblichkeit liegt sicher vor, ist nur nicht festzustellen.“159 Trotz der fehlenden Möglichkeit einer dezidiert genetischen Diagnostik waren das Rekurrieren auf die zeitgenössische Forschung und ihre Methoden, beispielsweise die Statistik, und der damit verbundene Nimbus der Wissenschaftlichkeit für die Legitimation und
155
Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 469. Vgl. Ayaß (2005). 157 Vgl. Nowak (1988), S. 329f. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Aussagen der Zwangssterilisierten über politische Hintergründe ihrer Sterilisation hingewiesen. 158 Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), v. a. S. 78ff.; Bock (1986), S. 36ff. 159 Rothmaler (1991), S. 174; Ebenda (1993), S. 146. Vgl. auch Bock (1986), S. 36ff. 156
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breite Akzeptanz eugenischer Theorien sowohl im Selbstverständnis vieler Akteure als auch in der öffentlichen Wahrnehmung wesentlich.160 Die eugenische Forschung wurde im „Dritten Reich“ weiter intensiviert und zumindest bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges großzügig gefördert.161 So fanden beispielsweise an der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ am Reichsgesundheitsamt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte Untersuchungen zur Erblichkeit von Kriminalität und „Asozialität“ statt. Auch in der universitären Lehre gewann die „Rassenhygiene“ an Bedeutung; 1936 wurde sie in die Prüfungsordnung für angehende Mediziner aufgenommen. Stefan Kühl spricht hierbei von einer Entwicklung der „Rassenhygiene“ zu einer „Leitwissenschaft“ im nationalsozialistischen Deutschland.162 In der universitären Praxis, namentlich der Ausbildung der angehenden Mediziner, muss dabei allerdings zwischen Anspruch und praktischer Umsetzung unterschieden werden. Insbesondere nach Kriegsbeginn traten ideologische zugunsten pragmatischer Elemente zumeist in den Hintergrund.163 Die zuständigen Instanzen des Gesundheits- und Sozialapparates sowie Teile der juristischen Elite begannen bei der Umsetzung der eugenischen Vorgaben mit einer durchorganisierten Selektion des „Volkskörpers“ und der Sanktionierung der „für die menschliche Gemeinschaft völlig wertlos[en] Individu[en]“.164 Eine wichtige Voraussetzung hierfür bestand in der Vereinheitlichung und Zentralisierung des Gesundheitswesens durch ein entsprechendes Gesetz vom 3. Juli 1934. Die Gesundheitsämter und hierbei vor allem die Amtsärzte sollten eine wichtige Funktion bei der Auffindung der vermeintlich „Erbkranken“ sowie einer perspektivisch angestrebten „erbbiologischen“ Er-
160
Vgl. hierzu auch Roelcke (2002); vgl. auch als einen zeitgenössischen Beitrag Lange (1933). Der Autor befasst sich hierbei in einem Heft der Zeitschrift „Das Kommende Geschlecht“, unter anderem vom Direktor des Kaiser Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Eugen Fischer, herausgegeben, mit der „eugenische[n] Bedeutung des Schwachsinns“. Am Ende kommt der Autor zu dem Ergebnis: „Auf 100 Menschen in Deutschland 1 bis 2 Schwachsinnige oder doch in erheblichem Maße Unterbegabte, die ihre Unzulänglichkeit ihrem ungünstigen Erbgut verdanken – das ist eine unzweifelhafte Tatsache. Und sie wiegt so schwer, dass die mancherlei Bedenken, die gegenüber den Forderungen der Eugenik auftauchen mögen, ernstlich nicht ins Gewicht fallen können.“ Ebenda, S. 35. 161 Zur entsprechenden Förderung vgl. Cottebrune (2008). 162 Vgl. Kühl (1997a), S. 125; Bock (1986), S. 184f.; Danckwortt (2005). 163 Vgl. hierzu van den Bussche (1993). 164 So das Urteil eines Mediziners in einer Erbgesundheitsgerichtsakte des Hauptgesundheitsamtes Hamburg über einen Mann, dem „moralischer Schwachsinn“ attestiert wurde, zitiert nach Brücks (1988), S. 105.
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fassung der gesamten Bevölkerung einnehmen.165 Die Gruppe derjenigen, die seit Mitte der 1930er Jahre gesetzlich verpflichtet waren, die potentiell zu Sterilisierenden durch entsprechende Anzeigen beim Amtsarzt zu melden, umfasste neben den Beamten die Vertreter der unterschiedlichsten Gesundheitsberufe.166 Die Amtsärzte übernahmen die weitere „Ermittlung“ und Antragstellung, nicht selten mit externer Unterstützung, beispielsweise von Mitarbeitern der Fürsorge.167 Die in den Blick geratenen Menschen waren Patienten in psychiatrischen Anstalten – hier vor allem die „leichten Fälle“ –, deren Sterilisation durch die jeweiligen Anstaltsleiter beantragt wurde, Menschen mit sichtbaren Symptomen wie körperlichen Behinderungen168 oder Anfallsleiden, Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und ihre Familien sowie „sozial Auffällige“: „Die negativ sanktionierten Verhaltensweisen, die eine Einbeziehung in die Sterilisationsmaschinerie wahrscheinlich machten, betrafen das soziale Verhalten im Bereich der privaten Lebensführung [...], im Arbeitsbereich [...], im Bereich der Sexualität, der allerdings meist nur bei Frauen genauer untersucht wurde [...] und im Bereich von Gesetzesverstößen [...].“169 Daneben fielen ganze Personengruppen wie beispielsweise Hilfsschüler unter das Credo der eugenischen Ideologie.170 Neben sozialen Maßstäben legten beteiligte Mediziner und Juristen zum Teil eine paternalistische Haltung an den Tag, die zudem die Betroffenen über die gesundheitlichen Risiken und rechtlichen Folgen der Unfruchtbarmachung im Dunkeln ließ. So überreichte ein Amtsarzt einer gehörlosen Frau einen Zettel mit folgendem Inhalt: „Sie müssen unfruchtbar gemacht werden, weil ihre Krankheit sich auf die Nachkommen vererbt. Sie brauchen darüber nicht traurig zu sein. Das ist nicht schlimm. Sie können trotzdem heiraten. Die Operation ist
165
Im „Mustergau“ Hamburg wurde in der Folge ein Großteil der Bevölkerung, in Berlin bis 1945 etwa zehn Prozent der Einwohner in „erbbiologische Karteien“ aufgenommen. Vgl. Brücks et al. (1984); Bock (1986), S. 187ff.; Rothmaler (1988); Sachße/Tennstedt (1992), S. 103ff.; Hax (2005); Vossen (2005); Fangerau/Noack (2006), S. 231. Vgl. zu einer theoretischen, auf das Foucaultsche Konzept der „Biomacht“ aufbauenden Einordnung hierzu auch Hüntelmann (2006). 166 Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 5. Dezember 1933, in: Reichsgesetzblatt 1, 1933, S. 1021. 167 Vgl. Vossen (2005). 168 Vgl. hierzu Wiesenberg (1986), S. 63f. 169 Vossen (2005), S. 92. „Schulversagen, Vorstrafen, Arbeitsplatzverlust, Wohnungslosigkeit, ja letztlich die Armut insgesamt wurden als erbbedingt eingeschätzt.“ Ayaß (2005), S. 114. 170 Zur Sonderpädagogik im Nationalsozialismus vgl. Fuchs (2005); zu weiteren potentiell zu sterilisierenden Gruppen Bock (1986), S. 306.
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eine Spielerei. Viel schlimmer ist es, wenn Sie unglückliche Kinder bekommen. Das wissen Sie ja von sich selber.“171
Wurde eine Anzeige gestellt, mussten sich die Betroffenen einer amtsärztlichen Begutachtung und bei der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ einem Intelligenztest unterziehen. Dieser bis 1937 standardisierte Test fragte schulisches und abstraktes Wissen ab, welchem viele, insbesondere in der spezifischen „Testsituation“, nicht gewachsen waren. Nach zahlreichen diesbezüglichen Beschwerden wurde ab 1937 versucht, den Untersuchenden einen größeren Spielraum zu gewähren, lediglich Fragenkomplexe festzulegen und insgesamt die praktische „Lebensbewährung“ des potentiell zu Sterilisierenden stärker zu gewichten.172 Nicht selten wurde aber auch weiterhin der alte Fragebogen verwendet. Der anschließende Prozess fand vor neu entstandenen „Erbgesundheitsgerichten“, die den Amtsgerichten angegliedert waren, statt.173 Hier hatten sie sich dem aus zwei Medizinern, darunter einem verbeamteten Arzt, und einem den Vorsitz führenden Juristen bestehenden Gericht zu präsentieren, erneut ihre Intelligenz prüfen zu lassen und ihre soziale „Brauchbarkeit“ unter Beweis zu stellen. Die vorsitzenden Richter wurden in rassenhygienischen Schulungen auf ihre Arbeit vorbereitet, die ärztlichen Beisitzer sollten möglichst unter Berücksichtigung der Einschätzungen des NS-Ärztebundes oder der ärztlichen Spitzenverbände berufen werden.174 Ein solches Erbgesundheitsgerichtsverfahren, in dem die ärztliche Diagnose zumeist ungeprüft übernommen wurde, dauerte im Durchschnitt zehn bis fünfzehn Minuten; das anschließende Urteil war (rechts-)verbindlich. Die Vererbbarkeit der diagnostizierten „Störungen“ wurde zum Teil selbst dann angenommen, wenn keinerlei Symptomhäufung oder familiäre Belastungen nachgewiesen werden konnten. In diesen Fällen argumentierte man mit „rezessiven“ Anlagen.175 Innerhalb von 14 Tagen konnte bei „Erbgesundheitsobergerichten“ Berufung eingelegt werden; bestätigten auch sie den Beschluss, war der Sterili-
171
Zitiert nach Biesold (1988), S. 153. Vgl. Vossen (2005), v. a. S. 93f.; Bock (1986), S. 313ff.; Ley (2008), S. 47, Fußnote 24. 173 Nach Bock gab es 1936 205 Sterilisationsgerichte und 18 Sterilisationsobergerichte im Deutschen Reich. Vgl. Bock (1986), S. 198 f. Zur Einordnung der Erbgesundheitsverfahren zwischen freiwilliger Gerichtsbarkeit und strafgerichtlichen Verfahren vgl. Einhaus (2006), S. 31-39. 174 Vgl. Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten, Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 2. Juni 1967, S. 3, abgedruckt bei Dörner (1986a). 175 Vgl. Bock (1986), S. 327ff. 172
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sation kaum mehr zu entgehen; die im GzVeN vorgesehene Alternative bestand in einer dauerhaften Anstaltsunterbringung auf eigene Kosten.176 Selbst bei einer erfolgten Einweisung in ein Konzentrationslager konnten, wie Iris Hax am Beispiel des KZ Sachsenhausen aufzeigt, Verfahren regelhaft fortgeführt oder initiiert werden. Nach einem erfolgten Beschluss des Erbgesundheitsgerichts fanden die Operationen in externen Krankenhäusern statt.177 Daneben kam es zu außergesetzlichen Sterilisationen in den Lagern; ab 1941 wurden zudem Sterilisationsexperimente durchgeführt.178 Die Betroffenen versuchten, sich auf vielfältige Weise gegen das „Erbgesundheitsverfahren“ und den Sterilisationsbeschluss zur Wehr zu setzen.179 Institutionelle Schritte waren hierbei, sich vor Gericht gegen die unterstellte Diagnose zu verwahren, Leumundszeugen oder weitere Gutachter beizubringen, Eingaben und Bittschriften an unterschiedliche Stellen zu richten, Beschwerde gegen das Urteil einzulegen oder die Wiederaufnahme des Verfahrens180 zu beantragen. Schließlich blieb die Möglichkeit, sich physisch der Gerichtsvorladung und dem Eingriff zu entziehen, Versuche, die in der Regel mit Polizeigewalt und zeitweiser Anstaltsinternierung beantwortet wurden. Die Anzahl der Beschwerden variierte regional. Vergleichsweise hoch war sie 1934 in katholischen Gebieten (München: 24%), niedriger dagegen in protestantisch geprägten Regionen (Hamburg: 13%, Kiel: 5%). Etwa 25% der Betroffenen gingen ab 1937 (1934: 15,2%, 1936: 30,5%) beim Erbgesundheitsobergericht Hamm in Revision, in etwa 18,2% der Fälle wurde das Urteil der ersten Instanz aufgehoben. Auch der Einsatz polizeilicher Gewalt unterschied sich je nach konfessioneller Prägung einer Region. 1934 lag der Reichsdurchschnitt bei etwa 8%.181 Während des Krieges gelang es einigen Personen, sich dauerhaft der Verhandlung vor dem Erbgesundheitsgericht zu entziehen,182 einige wenige gingen ins Exil. 176
Gütt/Rüdin/Ruttke (1936). Vgl. hierzu auch Beispiele bei Braß (2004), S. 160f. Vgl. Hax (2005). 178 So hatte der Gynäkologe Carl Clauberg in Auschwitz und Ravensbrück Sterilisationsexperimente an Frauen durchgeführt. Vgl. hierzu und seiner Nachkriegskarriere den Überblick bei Freimüller (2002), S. 52f. Vgl. auch Bock (1986), S. 359; 437. 179 Vgl. hierzu das ausführliche Fallbeispiel der „Grete S.“ bei Ley (1999). Vgl. auch Braß (2004), S. 156-169. 180 Dies war möglich, wenn „Umstände, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhaltes“ erforderten, geltend gemacht werden konnten. Wie Astrid Ley betont, galt diese Regelung aber weniger dem Wohl des Betroffenen als vielmehr der „Volksgemeinschaft“, der kein „erbgesunder“ Nachwuchs vorenthalten werden sollte. Ley (2008), S. 57f. 181 Die Zahlen nach Bock (1986), S. 280ff.; Vossen (2005), S. 96. 182 Vgl. Braß (2004), S. 162ff. 177
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Die Operationen fanden in regional ausgewählten Krankenhäusern mit Hilfe des regulären medizinischen Personals statt. Eine gängige Methode zur Sterilisation von Männern stellte die Unterbindung der Samenleiter dar, die oftmals auch ambulant durchgeführt wurde. Demgegenüber erfolgte die Unfruchtbarmachung von Frauen in der Regel durch Tubenligaturen mittels komplexer chirurgischer Eingriffe, unter anderem durch Tubenquetschung nach Madlener.183 Am Eingriff oder an seinen Folgen starben mehrere Hundert männliche und etwa 5 000 weibliche Patienten; hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Suiziden.184 Die juristischen und insbesondere medizinischen Verfahrensbeteiligten unterstützten zumeist – alleine schon aus Profilierungsinteresse185 – die Zwangsmaßnahmen.186 Widerstände gegen das GzVeN und seine Ausführung waren selten zu verzeichnen, konfessionelle, namentlich katholische,187 und berufsständische Interessen konnten aber zu einer teilweisen Resistenz führen. So kommt Astrid Ley in ihrer Arbeit über Zwangssterilisation und Ärzteschaft zu einem differenzierten Ergebnis, demzufolge die verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Ärzteschaft bei der Umsetzung des Erbgesundheitsgesetzes in erster Linie eigenen berufspolitischen Interessen folgten. In der Konsequenz verhielten sich niedergelassene Allgemeinmediziner, die ein enges Vertrauensverhältnis zu ihren Patienten als auch ökonomische Voraussetzung benötigten, in der Regel sehr zurückhaltend, Fürsorgeärzte hingegen beteiligten sich umfangreich.188 In zwei Änderungen und mehreren Ergänzungen zum GzVeN wurden die Zwangsmaßnahmen in den folgenden Jahren weiter verschärft. War bereits seit Ende 1933 die Kastration von „Gewohnheits-“ und „Sittlichkeitsverbrechern“ 183
Vgl. Gütt/Rüdin/Ruttke (1934), S. 219-227; Horban (1999), S. 26f.; Braß (2004), S. 141148; Traenckner, Bedeutung und Erfahrungen mit der Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen, S. 37ff., Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 205. [Im Folgenden Traenckner, Erfahrungen]. 184 Vgl. Bock (1986), S. 380f. Hinweise auf Suizide finden sich in verschiedenen Berichten und Dokumentationen, vgl. z. B. http://www.stiftung-bethesda.de/150/150.pdf, S. 28. 185 Vgl. Fangerau/Noack (2006), S. 233f.; Sandner (2006). 186 Gisela Bock hält die vielfältige Beteiligung von Medizinern am Sterilisationsprozess fest. Vgl. hierzu Bock (1986), S. 183ff.; zur Beamtenschaft Ebenda, S. 265ff. 187 Dem Sterilisationsverbot der katholischen Kirche folgend nahmen die betroffenen Mediziner dabei auch berufliche und ökonomische Nachteile in Kauf. Ein Beispiel hierfür ist Franz Vonessen, der als Mediziner am Kölner Gesundheitsamt in Folge seiner Weigerung, sich an der Ausführung des GzVeN zu beteiligen, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Vgl. hierzu und einem anderen Fall eines katholischen Mediziners Schmidt (2004), zu Letzterem S. 62f. 188 Vgl. hierzu und weiteren Differenzierungen Ley (2004).
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vorgesehen, so erlaubte die erste Änderung des GzVeN im Juni 1935 die freiwillige Kastration von Homosexuellen. Weiter war nun ein Abruch bis zum Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats aus eugenischer Indikation durchführbar – offiziell abhängig von der Einwilligung der betroffenen Frau. Im Februar 1936 ermöglichte eine weitere Änderung die Röntgensterilisation bei Frauen im Alter von mindestens 38 Jahren.189 Dabei waren bereits zuvor, beispielsweise in Hamburg, Schwangerschaftsabbrüche aus eugenischer Indikation durchgeführt worden.190 Auch Corinna Horban verweist auf Schwangerschaftsabbrüche vor der entsprechenden gesetzlichen Regelung sowie auf die „heftige Gegenwehr“ bei einer Abruptio aus offiziell „medizinischer Indikation“ wenige Wochen vor einer Sterilisation, die in den Akten festgehalten sei.191 Die Erbgesundheitsgerichtsverfahren wurden ebenso wie die Eingriffe selbst bis 1945, wenn auch mit deutlich verminderter Intensität im Zuge des Kriegsbeginns, durchgeführt. Durch eine Verordnung vom 31. August 1939 sollten in den Kriegsjahren nur „dringende“ Fälle dem Sterilisationsprozess zugeführt werden.192 Bis zum Ende des „Dritten Reichs“ wurden etwa 300 000 bis 400 000 Menschen zwangssterilisiert.193 Nach der erfolgten Sterilisation unterlagen die Betroffenen weiteren Restriktionen. Diese bestanden sowohl im Versagen von (Aus-)Bildung als auch im Ausschluss von familienpolitischen Leistungen wie „Ehestandsdarlehen“, vor allem aber, und in seinen Auswirkungen auf die Opfer besonders schwerwiegend, in dem Verbot, fertile, „erbgesunde“ Partner zu heiraten. Gemäß dem 1935 erlassenen Gesetz „zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) stellte eine Verurteilung nach dem GzVeN per se ein
189 Vgl. hierzu und den Einzelheiten Gütt/Rüdin/Ruttke (1936), S. 99 ff.; Bock (1986), v. a. S. 94-100, 375, 382ff.; Braß (2004), S. 148-151. Nach Bock lässt sich die Zahl der Zwangsabtreibungen aufgrund fehlender Dokumentation kaum ermitteln. Vgl. auch Trus (2002), S. 264f. 190 Bereits im September 1934 erließ der Reichsärzteführer Wagner eine vertrauliche Anweisung, die eine Schwangerschaftsunterbrechung im Rahmen einer Sterilisation erlaubte. Vgl. Brücks et al. (1984), S. 159; Braß (2004), S. 148f. 191 Gleichzeitig habe zumeist eine schriftliche Einwilligung den Unterlagen beigelegen. Es muss hierbei offen bleiben, inwieweit diese in einer Drucksituation entstanden ist oder welche weiteren Erklärungen für diesen Widerspruch möglich sind. Vgl. Horban (1999), S. 63. 192 Vgl. zur Entwicklung während der Kriegsjahre Bock (1986), S. 234ff.; 435ff. Vgl. auch Evers, Umfang und Entwicklung der Erbgesundheitspflege während und nach dem Kriege, Akademie für Staatsmedizin Hamburg 1949, S. 7-9, Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 197. [Im Folgenden Evers, Erbgesundheitspflege]. 193 Zahlen nach Bock (1986), S. 237f.; Benzenhöfer (2006), S. 7f. Daneben gab es eine unbestimmte Anzahl von Sterilisationen außerhalb des Gesetzes.
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„Ehehindernis“ dar.194 In der Logik des nationalsozialistischen Staates hatten die Zwangssterilisierten als Menschen mit „minderwertigem“ Erbgut ein Opfer für das Volksganze zu bringen, das den Verzicht sowohl auf eigene Nachkommenschaft beinhaltete als auch auf die Bindung von „erbgesunden“ Menschen, welche im Sinne positiver Eugenik ihrerseits aufgefordert waren, sich möglichst zahlreich fortzupflanzen. Während des Zweiten Weltkrieges erlaubte eine Anweisung des Reichsgesundheitsführers die Eheschließung von „erbkranken“ Soldaten sowie von „erbkranken“ Frauen, deren potentielle Ehepartner in der Wehrmacht dienten. Anderen gelang es vor dem Hintergrund der Kriegswirren, eine Ehe einzugehen.195 In welchem Zusammenhang die eugenischen Maßnahmen und die ab 1939 einsetzenden „Euthanasie“-Aktionen mit der Ermordung von über 200 000 behinderten und psychisch kranken Menschen stehen,196 wurde und wird in der historischen Forschung kontrovers beurteilt.197 Betonen die Einen zahlreiche Verbindungslinien zwischen den beiden Verbrechenskomplexen und die einer gleichsam inneren Logik folgende Verschärfung der „rassenhygienisch“ motivierten Ausgrenzung und Verfolgung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, so weisen Andere auf die prinzipiell unterschiedlichen Zielrichtungen von Eugenik auf der einen und der Ermordung von Behinderten und Kranken auf der anderen Seite hin.
194 Vgl. hierzu Bock (1986), S. 100 ff.; Ganssmüller (1987), S. 132 ff.; Neppert (1993), S. 17 f.; Sachße/Tennstedt (1992), S. 102f.; Ley (1999), S. 95f. Dabei wurden staatliche Ehevermittlungen insbesondere für Zwangssterilisierte durch die Gesundheitsämter und „überörtliche Ehevermittlungszentralen“ eingerichtet, so seit 1936 für Gehörgeschädigte bei der Gauleitung der NSDAP in Dresden, und seit 1941 eine „Reichsstelle für Eheberatung und Ehevermittlung“ beim Hauptgesundheitsamt in Berlin. Vgl. von Verschuer (1941); Sauermann (1941); Evers, Erbgesundheitspflege, S. 17. Einige Betroffene berichten in ihren Briefen an den BEZ, dass sie durch eine Vermittlung ihre späteren Ehepartner kennen gelernt haben. Vgl. z. B. Brief von M. J. G. vom 1.7.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von I. S. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Herr R. gibt an, nach seiner Sterilisation habe ihm das Hamburger Gesundheitsamt einige Adressen von sterilisierten Frauen zugesandt. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/81. 195 Braß (2004), S. 168f. 196 Die angegebenen Opferzahlen der „Euthanasie“-Morde variieren in der Forschung, abhängig unter anderem davon, ob die Tötungen psychiatrischer Patienten in den besetzen und annektierten Gebieten miteinbezogen werden. Hans-Walter Schmuhl geht von etwa 260 000 „Euthanasie“-Opfern im „Deutschen Reich“ und den besetzten Ländern aus. Schmuhl (2002), S. 297; ebenso Lutz (2006); Lilienthal nennt 300 000, Lilienthal (2005). Zur Geschichte der „Euthanasie“ vgl. auch Nowak (1988); Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991); Benzenhöfer (1999); Specht (2002); Beddies (2005); Hoffmann (2005). 197 Vgl. hierzu auch Brill (1992), v. a. S. 241-266.
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Im Sinne Ersterer argumentiert beispielsweise Hans-Walter Schmuhl und nennt ideologische wie organisatorische Kontinuitäten.198 Auch Heiner Fangerau und Thorsten Noack halten fest: „Als es im Krieg zu den ‚Euthanasieprogrammen’ und zum Morden an ‚Juden’ und ‚Zigeunern’ kam, konnten die Täter diese Morde zunächst unter Berufung auf die ‚wissenschaftliche’ Rassenhygiene als therapeutische Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit des Volkskörpers rechtfertigen.“199 Demgegenüber hebt Peter Sandner hervor: „Die ‚Euthanasie’-Verbrechen sind nicht als mehr oder weniger logische Eskalation der Zwangssterilisationen zu deuten, sondern vielmehr als die Verfolgung eines anderen Maßnahmenstranges, der in der radikalen Sparpolitik gegenüber den Anstaltspatientinnen und -patienten gründete.“ Er sieht statt einer konsistenten Entwicklung einen massiven Bruch „von der Elimination der Krankheiten zur Elimination der Kranken.“200 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der „Aktion T-4“201 „die Kategorie ‚Erblichkeit der Erkrankung’ im Sinne der Anwendung rassenhygienischer Kriterien [...] keinen Einfluss auf die Entscheidung über Leben und Tod der Kranken [hatte] – jedenfalls nicht in der konkreten Situation des sehr komplexen Selektionsprozesses.“202 Hierbei dürfte auch von Bedeutung sein, dass es sich bei den Betroffenen in der Regel um Patienten handelte, die bereits seit mehreren Jahren in einer Anstalt untergebracht waren. Bei diesen Menschen wurde das „Risiko Nachkommen“ bereits im Zuge der Sterilisationspraxis als eher gering eingestuft und demgegenüber darauf Wert gelegt, insbesondere die „leichten Fälle“, welche mit einer baldigen Entlassung rechnen konnten, zu sterilisieren. Neben der prinzipiellen Ablehnung der „Euthanasie“ durch einen Teil der Befürworter eugenischer Maßnahmen wie insbesondere kirchlicher Vertreter,203 unterstützten ab 1939 andere Eugeniker die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“204, und auch Aussagen von „Euthanasie“-Verantwortlichen zeigen, dass 198 Vgl. Schmuhl (2002). Einen engen Zusammenhang behaupten auch zahlreiche Überblicksdarstellungen zum Thema. 199 Fangerau/Noack (2006), S. 232. 200 Sandner (2006), S. 125f. Vgl. auch Weingart/Kroll/Bayertz (1992). 201 Der Begriff „Aktion T 4“, benannt nach dem Sitz der organisatorischen Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße, bezeichnet die systematische Ermordung von über 70 000 Anstaltspatienten in eigenen Tötungseinrichtungen mittels Kohlenmonoxid. Nach dem Ende dieser „Aktion“ im Sommer 1941 erfolgte die Ermordung von Patienten und Behinderten weitgehend dezentral in diversen Einrichtungen durch Nahrungsentzug und überdosierte Medikamente. 202 Fuchs (2007), S. 67. 203 Zur Haltung der Kirchen zur NS-„Euthanasie“ vgl. auch Hinz-Wessels (2005). 204 Vgl. u. a. Kühl (1997a und b); Bock (1986), S. 348ff.
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Eugenik und „Euthanasie“ im Selbstverständnis einiger „Euthanasie“-Täter zum Teil als stringenter Maßnahmenkatalog gedacht wurden. Die Frage nach der inneren Kausalität von Eugenik und „Euthanasie“ hat zwischen einer ideologisch vielschichtigen eugenischen Tradition, welche zwar das Lebensgestaltungs-, nicht aber das prinzipielle Lebensrecht205 der Betroffenen in Frage stellt, und einer Ideologie der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, welche unter vordergründigen Mitleidsmotiven die massenhafte Ermordung von Menschen intendiert, zu differenzieren. Zugleich sind aber strukturelle Gemeinsamkeiten einer Ausgrenzung der als „minderwertig“ Deklarierten zu beachten.206 In beiden Fällen wird die Wertigkeit des Individuums für die Gesellschaft in Frage gestellt und verneint. Von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt aus erscheinen die Maßnahmen der negativen Eugenik und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als alternative Entwicklungsstränge,207 welche sich, wie die Realgeschichte des Nationalsozialismus belegt, an einigen Stellen wiederholt tangieren. Die Perspektive der Betroffenen Aufzeichnungen, die im Vorfeld oder im Rahmen der Erbgesundheitsprozesse und Zwangssterilisationen die Perspektive der Betroffenen aufgreifen, deuten die traumatisierende Wirkung der Eingriffe an, die familiäre Betroffenheit, aber auch, soweit von Außenstehenden über die Reaktionen berichtet wird, die Distanz und fehlende Empathie der Umwelt. So im Bericht einer Hamburger Sonderschulpädagogin: „Die Mädchen waren 14-15 Jahre alt, als sie zuerst von der beabsichtigten Sterilisation erfuhren. Von da an war kein richtiges Arbeiten mit ihnen mehr möglich, da sie von der zu erwartenden Operation so aufgeregt wurden, dass immer wieder erregte Unterhaltungen untereinander und mit der Lehrerin stattfanden. [...] Jetzt, nach über zwei Jahren, kommt die Klasse noch nicht zur Ruhe. [...] Der früher für die Oberklasse vorgesehene Unterricht in Säuglingspflege stieß auf Widerstand und konnte erst im letzten Vierteljahr ganz allmählich durchgenommen werden. Die Wirkung auf die einzelnen Mädchen ist verschieden: die wenigsten nehmen 205 Dabei ist allerdings festzuhalten, dass der Tod der Betroffenen bei den nationalsozialistischen Maßnahmen der negativen Eugenik, wie die hohen Sterbeziffern im Rahmen der Operationen belegen, zumindest billigend in Kauf genommen wurde. 206 Vgl. hierzu auch Hohendorf (2007), S. 39. 207 Armin Trus sieht die Entwicklung von der Eugenik zur „Euthanasie“ als „worst-case-Szenario“. Dabei betont er, „dass bereits der ersten Stufe das Potential für die letzte inhärent ist, dass diese aber nicht determiniert ist.“ Trus (2002), S. 248; vgl. auch Roelcke (2002), S. 1026.
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es gelassen hin, die meisten kommen sich degradiert vor, sind z. T. sehr bedrückt, z. T. heftig erregt und sind keinem Trost und keinen Vernunftsgründen zugängig.“208
Ein wesentlicher Kristallisationspunkt der Opferperspektive ist die unterstellte „Minderwertigkeit“, so beispielsweise in einem Bericht von Werner Villinger,209 ärztlicher Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: „Was die Mehrzahl der Epileptischen am meisten bedrückte, war das Gefühl, durch die Operation zu Menschen zweiter Klasse zu werden.“210 Immer wieder werden die sozialen Bewertungsmaßstäbe der Erbgesundheitsgerichtsverfahren in Frage gestellt und demgegenüber auf eine erfolgreiche Lebensführung verwiesen. So verwahrt sich Theresia S. dagegen, „dass Sie mich als armes Geschöpf zur Unfruchtbarmachung zwingen wollen. Dieses ist für die armen Leute Gesetz und nicht für die reichen, die wirklich erblich belastet sind [...] Ich bin seit ich zehn Jahre alt war, in der Fremde und verdiene seit dieser Zeit mein Brot selbst bis heute, denn ich war teils in der Landwirtschaft, teils in guten Häusern und Stellen, bin Näherin von Beruf, bin bis heute überall mitgekommen, und so werde ich die Unfruchtbarmachung an mir als großes Verbrechen und als eine Ungerechtigkeit die seinesgleichen sucht betrachten. Nicht bloß ich und die ganze Familie, sondern die ganze Verwandtschaft stellt dies als ungerechten Beschluss hin von seiten der Herren Ärzte. Ich glaube bestimmt, wenn die Herren mitgemacht hätten, was ich in den Kinderjahren, so wäre ihr Urteil anders, denn ich war als Kindermädchen in erster Stellung, musste sofort nach der Schule mit aufs Feld bis zum späten Abend, bei Licht sollte ich noch Schulaufgaben machen, todmüde [...] Ich lege Ihnen also klar, dass ich nicht schwachsinnig, sondern bloß arm bin, nicht erblich belastet mit keiner Krankheit, sondern bloß gedrückt
208
StaHH, Oberschulbehörde VIFo.D.,F.IX2/1BD1,FXXIIe2/2, Bd.2, zitiert nach Rothmaler (1988), S. 114f. Vgl. auch den Bericht von Sievers (1935). Ich danke PD Dr. Christoph Schweikardt für diesen Hinweis. 209 Werner Villinger war Befürworter und als Chefarzt der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis 1939 aktiv Beteiligter an den Zwangssterilisationen und dann als T4-Gutachter an der „Euthanasie-Praxis. Zur Person Werner Villingers vgl. Holtkamp (2002). Nach 1945 wurde er Leiter der Marburger Universitätsnervenklinik. 210 Zitiert nach Schmacke/Güse (1984), S. 96; vgl. auch den Bericht Villingers über die Zwangssterilisation von Jugendlichen bei Wilkes (2002). Vgl. auch „Lebensgeschichte“ von K. R., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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und schickaniert [...] Wäre es nicht besser, wenn armer Leute Kind sofort ertränkt würde.“211
Auch die Befürchtung, durch den Eingriff und die unterstellte erbliche Belastung gegenüber der Umwelt stigmatisiert zu sein, äußern die Betroffenen wiederholt.212 Der Handwerksmeister Franz W. weist in seiner umfangreichen Beschwerde gegen seinen Sterilisationsbeschluss am Ende seiner Ausführungen auf einen für ihn „bedeutsamen Punkt“ hin: „Meine 11 gesunden Kinder haben einen Rechtsanspruch darauf, dass sie nicht in ihrer Zukunft und Lebensexistenz durch Maßnahmen geschädigt werden [...]. In einem so kleinen Ort wie M. lässt es sich auf die Dauer nicht verheimlichen, [dass] ich unfruchtbar gemacht worden bin wegen angeblicher Erbkrankheit. Das sickert doch allmählich in die breitere Öffentlichkeit, und dann sind meine Kinder als erblich belastet abgestempelt und in ihrer Zukunft nicht nur bezügl. Familiengründung, sondern auch in manchen anderen Dingen schwerstens benachteiligt.“213
Wie realistisch eine solche Einschätzung war, zeigen nicht zuletzt offizielle Anweisungen wie die des Reichsjustizministers 1937, in der aus Gründen des „Ehrenschutzes“ eine öffentliche Verhandlung von Erbgesundheitsgerichtsverfahren untersagt wurde, oder Propagandamaßnahmen, die darauf hinwiesen, dass sich unter den „Erbkranken“ auch „sittlich und geistig Vollwertige“ befinden würden, welchen man nicht mit Spott begegnen dürfe. „Dass ‚erbkrank zu sein an und für sich keine Schande bedeutet, dass es aber gegen die Sittenauffassung des Nationalsozialismus verstößt, krankes Erbgut weiterzugeben‘, wurde zu einem gängigen Motiv von Proklamationen und Erlassen der Partei und Regierung“.214 Auch der Reichsminister der Justiz hielt in einem Rundschreiben an die Oberlandesgerichtspräsidenten 1936 fest: „Für die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist die Gewährung eines ausreichenden Ehrenschutzes für den Unfruchtbargemachten erforderlich. Wenn das deutsche Volk zu der Sittenauffassung erzogen werden soll, dass es keine Schande bedeutet,
211
GA Villingen Nr. 204, zitiert nach Bock (1986), S. 287. In einigen Fällen wurden sterilisierte Frauen in der Folge sexuell belästigt. Vgl. zum Beispiel Claasen (1987), S. 52. 213 Archiv Landschaftsverband Westfalen-Lippe Münster, Bestand Gesundheitsamt Hochsauerlandkreis, zitiert nach Kaiser/Nowak/Schwartz (1992), S. 196ff. 214 Bock (1986), S. 282f.; Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 513ff. 212
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erbkrank zu sein, und dass der ein großes Opfer für die Volksgemeinschaft bringt, der sich der Unfruchtbarmachung unterzieht, dann ist es erforderlich, dass gegen Beleidigungen des Unfruchtbargemachten mit unnachsichtiger Strenge eingeschritten wird.“215 [Herv. i. O.]
Dabei blieben auch die Opfer zumeist der Logik der „Erbgesundheitspolitik“ verhaftet, nicht zuletzt, weil sie sich vor dem Hintergrund einer jegliche staatspolitische Kritik sanktionierenden Diktatur argumentativ innerhalb enger Grenzen einer grundsätzlich nicht in Frage zu stellenden „Volksgesundheit“ bewegen mussten.216 Sie versuchten folglich, sich individuell gegen die Unterstellungen zur Wehr zu setzen, bei zumeist impliziter Anerkennung von Kategorien unterschiedlicher „Wertigkeit“ und der Sterilisationspolitik insgesamt. Demzufolge kam eine Solidarität innerhalb der Gruppe der potentiell von einer Sterilisation Betroffenen – auch bereits im Zuge der Diskussionen in der Weimarer Republik – selten zustande. So versuchten sich beispielsweise körperlich Behinderte oder Alkoholiker mit ihren Interessenverbänden gegen die Gleichsetzung mit „Idioten“ zu verwahren. Eine Sterilisation letzterer wurde dabei durchaus befürwortet.217 Diese Haltung verstärkte wiederum, so lässt sich vermuten, die Wahrnehmung der eigenen Stigmatisierung. Denn nun fand man sich einer als „minderwertig“ deklarierten Bevölkerungsgruppe, deren Vorhandensein und normative Zuschreibung man prinzipiell anerkannte, zugeordnet. Schließlich ist von Interesse, welche Reaktionen es aus der Bevölkerung oder von Angehörigen auf die Zwangssterilisationen gab, und welche Motive den Reaktionen zugrunde lagen. Die eugenischen Maßnahmen des Regimes fanden durchaus im öffentlichen Raum statt. Wenngleich die Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten selbst unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden und die Betroffenen verpflichtet waren, Geheimhaltung zu wahren, so bedingten der legislative Rahmen und der Vollzug in regulären Krankenhäusern 215
Der Reichsminister der Justiz an sämtliche Herren Oberlandesgerichtspräsidenten zur „Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 22.4.1936, S. 4, Anlage 10 des Berichtes des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, abgedruckt bei Dörner (1986a); vgl. hierzu auch Einhaus (2006), S. 35. 216 Vgl. hierzu auch Bock (1986), S. 288f. 217 Sierck (1988); Brill (1992), S. 271ff. Rothmaler (1991), S. 43 weist in ihrer Arbeit über die Hamburger Sterilisationspraxis daraufhin, dass sich Trinkerverbände konstruktiv bei der Erfassung der zu sterilisierenden Alkoholkranken beteiligt hätten. Dennoch sieht Gisela Bock in den mannigfaltigen Protesten gegen die Sterilisation grundsätzliche Positionierungen gegen staatliche Zwangseingriffe und Kategorien des menschlichen „Wertes“. Bock (1986), S. 280; 288f.
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eine Wahrnehmung der – durch zahlreiche propagandistische Aktivitäten begleiteten – eugenischen Maßnahmen in der Bevölkerung. Diese trafen dabei, wie bereits die einschlägigen Überlegungen in der Weimarer Republik, auf einen weitgehenden „eugenischen Konsens“, der nahezu alle Teile der Gesellschaft umfasste.218 Lediglich von Seiten der katholischen Kirche scheint es andauernden Protest gegeben zu haben.219 Vorstellungen von herzustellender kollektiver „Erbgesundheit“ und der Vermeidung von individueller „Erbkrankheit“ waren im allgemeinen Bewusstsein verankert, Proteste gegen die nationalsozialistische Politik der negativen Eugenik entsprechend selten.220 Wenn sich Protest regte, richtete sich dieser vor allem gegen eine als Eskalation und „missbräuchlich“ empfundene Anwendung der Sterilisationspolitik. Solche scheinen dabei aber zunehmend häufiger wahrgenommen worden zu sein.221 Ein solcher Missbrauch wurde auch von Seiten der Familien der Betroffenen gesehen. Diese versuchten zumeist, sich für die zur Sterilisation Angezeigten einzusetzen, wenngleich es teilweise aus dem familiären Umfeld auch zu entsprechenden Anzeigen kam. Neben der Sorge um den Angehörigen dürfte dabei auch die „Erbgesundheitslogik“ an sich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, war doch ihr zufolge potentiell der gesamte Stammbaum von einer Erbkrankheit betroffen. Petra Lutz stellt für die Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern fest: „[…] wie selbstverständlich die Familien von der genetischen Ursache psychischer Krankheiten oder Behinderungen ausgingen, von deren Erblichkeit und von der Legitimität einer rassenhygienischen Biopolitik.“ Angehörige von „Euthanasie“-Patienten vertraten „in ihren Äußerungen ‚erbbiologische’ Vorstellungen, hielten ‚Geisteskranke’ für ‚minderwertig’ und verstanden sich als Teil der ‚Volksgemeinschaft’. [...] Die Prinzipien der ‚Erbbiologie’ werden nirgends und das Recht des Staates, mit rassenhygie218
Vgl. hierzu Nowak (1988), S. 328f. Vgl. Schreiben der Bayerischen Politischen Polizei an alle Polizeidirektionen, Staatspolizeiämter, Bezirksämter, Bezirksamtsaussenstellen, Stadtkommissäre, nachr. an die Kreisregierungen vom 30.8.1935, B.Nr. 19440/35 I I B., Betreff Propaganda gegen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. Hierin werden ein wachsender Widerstand gegen die Ausführung des GzVeN konstatiert und mögliche strafrechtliche Maßnahmen gegen die Akteure dargelegt. 220 Braß (2004), S. 172f. konnte für das Saarland – zumindest ab 1940 – außer aus dem direkten Umfeld der Betroffenen keine Proteste gegen die Zwangssterilisation feststellen. Demgegenüber verweist Simon auf eine „nicht unerhebliche Unruhe in der Bevölkerung“. Vgl. Simon (2001), S. 250-255, Zitat S. 250. 221 Über Proteste aus der Bevölkerung berichtete beispielsweise das Internationale Ärztliche Bulletin –Zentralorgan der Internationalen Vereinigung Sozialistischer Ärzte, Nr. 10/11 1934, S.167f. Vgl. auch Bock (1986), S. 98f. Dabei weist Gisela Bock auf die zunehmende Unpopularität der Zwangssterilisationen in der Bevölkerung und auf diesbezügliche Kontroversen zwischen führenden Nationalsozialisten hin. Ebenda, S. 234; 289; 341ff. 219
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nischen Maßnahmen in alle Lebensbereiche einzugreifen, kaum in Frage gestellt.“222 Verweist die Argumentation selbst von direkt oder durch Angehörige mittelbar Betroffenen erneut auf die breite gesellschaftliche Internalisierung einer „Erbgesundheitslogik“ ebenso wie von Vorstellungen unterschiedlicher Wertigkeiten, so hieße es wohl insgesamt die normativen Maßstäbe der Gegenwart anzulegen, wenn man mit dem Ende des „Dritten Reichs“ auch ein Ende diesbezüglicher Denkkategorien erwarten würde. Vielmehr zeigte sich nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, dass dieser lediglich institutionelle wie ideologische Rahmenbedingungen zur Umsetzung der Zwangssterilisationen zur Verfügung gestellt hatte. Die innerhalb dieses Rahmens vorhandenen Einstellungen überdauerten zunächst in Teilen den Wechsel des politischen Systems.
222
Lutz (2006), S. 155f.
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2.2 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Diskussionen um die Notwendigkeit eugenischer (Zwangs-)Sterilisationen nach 1945 Wenngleich der Umgang mit den Zwangssterilisationsverbrechen und ihren Opfern in einigen Teilen den Wellenbewegungen der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit insgesamt ähnelt und dementsprechend erst seit den 1980er Jahren eine neue Dimension erreichte,223 so sind dennoch bezüglich dieses Verbrechenskomplexes Besonderheiten festzustellen. Nach 1945 fand die Bundesrepublik weder zu einer deutlichen politischen Abgrenzung von der nationalsozialistischen Eugenik noch zu einer Rehabilitation der Opfer. Die Eingriffe in die physische und psychische Integrität von Menschen im Namen eines angeblich höheren Ganzen wurden jahrzehntelang nicht in ihrem prinzipiellen Unrechtscharakter gesehen, die physischen und psychischen Folgen für die Betroffenen geleugnet, Sterilisationsmaßnahmen zum Teil in ihrer grundsätzlichen Zielrichtung bejaht. Es dauerte nahezu vier Jahrzehnte bevor die 1945 gestellte Frage des zwangssterilisierten Georg N., „Ist wirklich niemand da, den all das empört?“224 ein breiteres Echo fand. Nicht zuletzt aufgrund der Haltung der Alliierten, welche eigene eugenische Strömungen oder (Zwangs-)Sterilisationsgesetze kannten und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nicht prinzipiell ablehnten,225 wurde seine Gültigkeit nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ uneinheitlich geregelt. Von den Kontrollratsgesetzen wurde es weder aufgehoben noch außer Kraft gesetzt,226 und während das GzVeN in der sowjetischen Besatzungszone227 und in Bayern aufgehoben und in Württemberg-Baden und Hessen228 ausgesetzt wurde, kam es in den übrigen Gebieten der westlichen Besatzungszonen lediglich zu einer Auflösung der Erbgesundheitsgerichte. „1945 hat der […] einheitliche Rechtszustand aufgehört zu existieren. An seine Stelle sind Rechtszersplitterung und Rechtsunsicherheit getreten“,229 so eine zeitgenössische Analyse. Diese Uneinheitlichkeit bezog sich zwar auf den unterschied223 Zum Themenkomplex Vergangenheitsaufarbeitung allgemein zum Beispiel König (1997); Dubiel (1999); Wolfrum (1999); Frei (2003, 2005). 224 AG Charlottenburg, 261.XIII26.1945, zitiert nach Bock (1986), S. 254. 225 Vgl. Kühl (1997a). Zur internationalen Sterilisationspraxis nach 1945 vgl. auch Zunner/ Steger (2007), S. 7ff. 226 Vgl. Scheulen (2005); vgl. auch Etzel (1992), S. 133f.; 201. 227 Vgl. hierzu auch Hahn (2000), S. 178f.; Tümmers (2008), S. 175f. 228 Schmidt (1951) und Wiesenberg (1986), S. 186 geben an, auch in Hessen sei das Gesetz durch Verordnung vom 16.5.1946 aufgehoben worden. 229 Schmidt (1951), S. 65.
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lichen Umgang der Bundesländer mit dem GzVeN, hierbei ging es aber in erster Linie um im Gesetz enthaltene Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und zur freiwilligen Sterilisation. „Dass im Bereiche der Bundesrepublik weder Sterilisierungen noch Kastrierungen zwangsweise durchgeführt werden können, unterliegt keinem Zweifel.“230 [Herv. i. O.] Nachdem über Jahrzehnte das Gesetz nach offizieller Lesart nicht als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht galt231 und über die Zuständigkeit von Bund und Ländern diskutiert wurde,232 trat es, soweit es als Bundesrecht noch fortgalt, 1974 außer Kraft. Der Deutsche Bundestag ächtete die Zwangssterilisationen 1986 und 1994, eine Nichtigkeitserklärung des GzVeN wurde mehrheitlich abgelehnt.233 Diese Ächtung wurde von Seiten des BEZ als nicht ausreichend abgelehnt und stattdessen wiederholt eine dezidierte Nichtigkeitserklärung des Gesetzes gefordert.234 Erst im Mai 2007 konnte im Deutschen Bundestag eine Erklärung zur Ächtung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erreicht werden, die auch auf die Zustimmung der Betroffenenorganisation stieß.235 Urteile der Erbgesundheitsgerichte, auf deren Grundlage die Sterilisationen durchgeführt wurden, blieben, sofern sie nicht im Einzelfall aufgehoben worden waren, bis zu einer Bundestagsentscheidung 1998 insgesamt rechtsgültig.236
230
Ebenda, S. 66. Zur Überprüfungspraxis möglicher „typisch nationalsozialistischer Gesetze“ generell vgl. Laage (1989), v. a. S. 418-423. 232 Vgl. hierzu und zu den Regelungen in den einzelnen Bundesländern die Ausführungen von Franzen, Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, am 9. Mai 1985 zum Thema „Gilt das Erbgesundheitsgesetz vom 14. Juli 1933 in den Bundesländern heute noch?“, abgedruckt bei Dörner (1986a), sowie die Stellungnahme des Bundesministers der Justiz an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. 11.1985, welche auf S. 7f. festhält: „Hinsichtlich des Rechts der Bekämpfung von Erbkrankheiten ist dagegen eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gegeben. Insofern konnte das Erbgesundheitsgesetz somit allenfalls als Landesrecht fortgelten.“, abgedruckt bei Dörner (1986a). 233 Vgl. hierzu Bundesgesetzblatt Nr. 63/1974, Teil I, S. 1299, abgedruckt bei Dörner (1986a); Bock (1986), S. 244f.; Incesu/Saathoff (1988); Kramer (1999), S. 210ff.; Scheulen (2005), S. 213ff. Dabei betont Scheulen, dass das GzVeN, da es nicht für nichtig erklärt wurde, „Bestandteil der objektiven Rechtsordnung“ blieb. 234 Unterstützung bekam der BEZ dabei unter anderem 2005 vom Nationalen Ethikrat. Vgl. Pressemitteilung des Nationalen Ethikrates 07/2005. 235 Vgl. hierzu Bundesgesetzblatt 63/1974, S. 1299, abgedruckt bei Biesold (1988), S. 246. BT-Drucksache 16/3811 sowie Rundbrief Nr. 73 des BEZ vom Juni 2007. Zum Gang der juristischen Grundlagen vgl. Scheulen (2005), S. 212-219. 236 Vgl. hierzu Deutscher Bundestag: Drucksache 13/10284 vom 31.3.1998. 231
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Entsprechend der Nichtanerkennung als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht und dem Fortwirken des „Nimbus der Gesetzlichkeit“ (Astrid Ley) des GzVeN und seiner Ausführung wurde kaum ein an dem eugenischen Selektionsprozess als Antragsteller, urteilende Instanz oder ausführend Beteiligter nach 1945 juristisch zur Verantwortung gezogen.237 Das amerikanische Militärtribunal entschied im Juli 1947: „Wir stellen fest, dass die Weisheit und Anwendbarkeit derartiger Gesetze vernünftigerweise diskutierbar ist. Wir verfügen daher, dass die Befürwortung, Inkraftsetzung oder Durchführung von Gesetzen hinsichtlich der Sterilisation geisteskranker Personen oder von Trägern von Erbkrankheiten ein Verbrechen innerhalb der Zuständigkeit dieses Gerichtshofes nicht darstellt, wenn die in Frage stehenden Gesetze entsprechende Vorkehrungen für den Schutz der Rechte der in Frage stehenden Personen auf juristischem Wege enthalten.“238
Selbst wenn in einigen Fällen Verfahren gegen Mediziner wegen „fahrlässiger Gutachtenerstellung“ eingeleitet wurden, wurden diese, da die normative Basis nicht zur Disposition stand, zumeist eingestellt.239 Strafrechtlich relevant waren lediglich die Sterilisationsexperimente in den Konzentrationslagern, welche bereits im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses Berücksichtigung fanden,240 sowie die Sterilisationen von Juden oder Sinti und Roma, die zumindest in Teilen als rassistisch motiviert anerkannt und von den Alliierten als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bewertet wurden. 1946/47 kam es zu einem Gerichtsverfahren in Hamburg gegen Ärzte, die im „Dritten Reich“ Sinti und Roma zwangssterilisiert hatten; die beteiligten Mediziner wurden von dem britischen Militärgericht verurteilt, was in der deutschen Fachöffentlichkeit auf große Kritik stieß.241 Für den Bereich der regelgemäßen Zwangssterilisationen des „Dritten Reichs“ verwies man demgegenüber auf die einschlägigen Überlegun237
Zu einer Ausnahme vgl. Weindling (2007), S. 249f. Abgedruckt in: NJW 1947, S. 30. 239 Vgl. zum Beispiel entsprechende Anmerkungen bei: Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2094. Auf solche Verfahren weist auch Traenckner (1953), S. 402 hin, allerdings ohne nähere Angaben oder Quellennennungen. 240 Vgl. Mitscherlich (1960), S. 236ff. Zu den „Entschädigungsmöglichkeiten“ von Opfern der Sterilisationsexperimente vgl. Weindling (2007), S. 253f., 258. Der Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ der Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten vom 2. Juni 1967 gibt an, es seien bis dato etwa 250 Opfer der Sterilisationsexperimente entschädigt worden. Vgl. Ebenda, S. 4, abgedruckt bei Dörner (1986a). 241 Zu dem Fall vgl. Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991), v. a. S. 1333, 1367; Vgl. auch Hahn (2000), S. 56. 238
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gen in Deutschland vor 1933 und entsprechende Gesetze in demokratischen Ländern wie den USA, um die Diskussionswürdigkeit eugenischer Maßnahmen zu belegen und einen nationalsozialistischen Charakter der Zwangssterilisationen zu verneinen. Eugenische Gesetze waren neben den USA, wo die Zahl der Eingriffe im Zuge der Weltwirtschaftskrise massiv anstieg und bis 1948 etwa 50 000 Menschen sterilisiert wurden, unter anderem in Dänemark, Norwegen, Finnland, Schweden, Estland und Island eingeführt worden, in den Niederlanden und Großbritannien waren sie knapp gescheitert.242 Vereinzelt gab es dabei auch kritische Stellungnahmen zum GzVeN. Ein Autor kennzeichnete es in einem Beitrag bereits 1947 als eine der „großen Brutalitäten des Hitler-Regimes“, die Zwangssterilisationen als „ungeheuerlichen Eingriff in das Naturrecht“.243 Die Zeitschrift „Das Deutsche Gesundheitswesen“, in der der Beitrag erschien, wurde von der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben. Dies mag sowohl die deutliche Kritik erklären – in der Sowjetischen Besatzungszone war das GzVeN aufgehoben worden – als auch den in einer Fußnote abgedruckten Aufruf der Redaktion: „Zur Beurteilung der Frage: ‚Ist das Gesetz zum Zwecke des Kampfes gegen politische Gegner geschaffen worden oder ist es insgesamt oder an einzelnen Orten dazu nur ausgenutzt worden?’, ist die weitere Sammlung und Sichtung von Belegmaterial über einzelne Fälle notwendig. Wir bitten daher alle Leser, uns entsprechendes Material, das ihnen zur Kenntnis gekommen ist, zwecks Weiterleitung an die für die Prüfung dieser Frage verantwortlichen Stellen einzusenden.“244 [Herv. i. O.]
Verwiesen wird hier bereits auf die in der späteren DDR anzutreffende Art des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit: die Ausblendung von politisch nicht instrumentalisierbaren Opfern, so auch der Zwangssterilisierten.245
242 Vgl. Kühl (1997a), S. 102; 170. Vgl. zu diesem Kontext auch Bock (1986), S. 102-116; Simon (1998), S. 186f.; Hahn (2000), S. 53-56; Roelcke (2002), S. 1026ff., sowie einschlägige Artikel in den Ärztlichen Mitteilungen, so beispielsweise Fischer (1951). 243 Schröder (1947), S. 113. 244 Ebenda, Fußnote 1. 245 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Hahns (2000), S. 179: „Programmatisch für den weiteren Umgang mit dem ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’, seinen Folgen und seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen war eine einseitige und tendenziöse Interpretation seiner Intentionen, dessen auf qualitativen Kriterien basierende bevölkerungsregulierende Absichten einem Tabu unterworfen wurden. Dieser Umdeutung schloss sich eine spezifische
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Dass das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mit seinem postulierten Zugriff auf die persönliche Unversehrtheit des Einzelnen in das Naturrecht eingreift, wurde in der Rechtssprechung nach 1945 zunächst überwiegend abgelehnt. So hielt das Oberlandesgericht Hamm 1954 fest: „Der Ansicht, das Gesetz verstoße gegen das Naturrecht oder gegen rechtsstaatliche Grundsätze, ist nicht beizupflichten. Die Frage, was Naturrecht oder rechtsstaatliche Grundsätze gebieten und verbieten, ist von jeher im Wandel der Zeiten wechselnden Anschauungen unterworfen gewesen.“246 Durch die Ermöglichung der Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse in der Britischen Besatzungszone habe „der Gesetzgeber der Nachkriegszeit die zwangsweise Unfruchtbarmachung nicht grundsätzlich als Unrecht abgelehnt“, denn sonst hätte er, wie das zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in anderen Rechtsgebieten geschehen sei, sämtliche eine Unfruchtbarmachung anordnende Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte „unterschiedslos aufheben und den dadurch Beeinträchtigten vielleicht sogar Ansprüche zubilligen müssen.“247 Das bayerische Justizministerium hatte bereits 1949 festgestellt, „[…] dass eine gesetzliche Unfruchtbarmachung Erbkranker gegen ihren Willlen auch in demokratischen Rechtsstaaten seit längerem besteht und in ihr daher unbeschadet der weltanschaulichen Einstellung zur Frage der Unfruchtbarmachung im Allgemeinen eine Verletzung allgemein anerkannter Menschenrechte nicht ohne weiteres erblickt werden kann.“248 Auch der Bericht des Bundesfinanzministeriums für den Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bundestages kam im Februar 1961 zu der Einschätzung: „Das Motiv, das dem ErbGesGes zu Grunde liegt, und der Zweck, dem es dienen sollte, nämlich der Entstehung erbkranken Nachwuchses im Interesse der Erhaltung der Volksgesundheit vorzubeugen, waren aber auch vom Standpunkte naturrechtlicher Anschauungen nicht unrecht oder unsittlich […].“249, wenngleich „[…] vom Standpunkte heutiger naturrechtlicher Anschauungen her, wie insbesondere auch die Betrachtung nach moraltheologiAuslegung an, die das Gesetz auf den Geltungsbereich politischer Kontrolle, mit dem Ziel der Unfruchtbarmachung politisch Oppositioneller, reduzierte.“ 246 Schwarze (1954), S. 559. 247 Ebenda. 248 Schreiben des Ministerialdirektors Dr. Konrad, Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Nr. 6234–I–3422 an den Bayerischen Landtag vom 12.10.1949, Betreff Wiedergutmachungsansprüche Sterilisierter, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 249 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 33, abgedruckt bei Dörner (1986a). Vgl. demgegenüber die Angaben von Traenckner bezüglich eines Gutachtens des bayrischen Justizministeriums. Traenckner, Erfahrungen, S. 108.
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schen Gesichtspunkten das tun will, Zweifel hinsichtlich einer grundsätzlichen Übereinstimmung des Gesetzes mit dem Naturrecht erhoben werden können.“250 Im Zusammenhang mit der Entdiskreditierung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ und der kritiklosen Anknüpfung an internationale wie nationale eugenische Diskurse der Zeit vor 1933 wurde nicht selten für ein neues eugenisches Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik argumentiert oder zumindest ein solches für die Zukunft in Aussicht gestellt. Paul Evers urteilte in seiner Studie über „Erbgesundheitspflege während und nach dem Kriege“ 1949: „Die Erörterung, in wieweit Gesetze und Verordnungen auf dem Gebiet der Erbgesundheitspflege weiter in Kraft bleiben können, umgestaltet, oder den veränderten Verhältnissen entsprechend neu geschaffen werden können, ist in fachlich berufenen juristischen und ärztlichen Kreisen sehr groß.“251 – Wobei in den westlichen Besatzungszonen zumeist die Indikationen des GzVeN weiterhin Akzeptanz fänden, ein dezidierter Zwang aber abgelehnt würde. Waren bereits im Gesundheitsausschuss der Stuttgarter Länderkammer erste Überlegungen in diese Richtung angestellt worden, so bemühten sich Wissenschaftler auch in den folgenden Jahren um entsprechende legislative Regelungen. Der in Stuttgart angedachte „Entwurf eines Gesetzes über Sterilisation und Refertilisierung“ bezog Elemente der einschlägigen Überlegungen des preußischen Gesetzentwurfes und auch des GzVeN ein, allerdings auf der Grundlage der Freiwilligkeit.252 Bezüglich einer möglichen Refertilisierung sah er eine individuelle Antragstellung und eine Entscheidung auf der Grundlage eines fachärztlichen Gutachtens durch die Amtsgerichte vor. „Die Erlaubnis zur Refertilisierung darf nur gegeben werden, wenn keine der aufgezählten Erbkrankheiten vorliegt.“253
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Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 34, abgedruckt bei Dörner (1986a). 251 Evers, Erbgesundheitspflege, S. 30, 33; Vgl. auch, Ernst Klein, „Die Gründe für die Verordnung über Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947 und ihre Auswirkung.“, undatiert, Probearbeit für die schriftliche Amtsarztprüfung, Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 201. [Im Folgenden Klein, Verordnung] 252 Allerdings wäre bei Nichteinwilligungsfähigen eine Sterilisation nach Zustimmung des gesetzlichen Vertreters und des Vormundschaftsgerichts möglich gewesen. Vgl. Evers, Erbgesundheitspflege, S. 34. 253 Bei Sterilisationen aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen sei eine entsprechende Refertilisierungserlaubnis zu erteilen. Ebenda, S. 35. Zu Diskussionen um Refertilisierungen nach 1945 vgl. auch Westermann/Kühl (2009).
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Nachdem der Entwurf nicht umgesetzt wurde, beschäftigte sich eine Gruppe von „Sachverständigen“ unter dem Vorsitz von Villinger bei der „Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege“ mit entsprechenden Ansätzen.254 In der Britischen Besatzungszone und den daraus entstandenen späteren Bundesländern wurden durch eine Verordnung über Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen 1947 die Überlegungen bezüglich einer gerichtlichen Entscheidung über Refertilisierungen Realität.255 Und zumindest hier kam es in den ersten Nachkriegsjahren auch noch zur Weitergabe einschlägiger Patientendaten an die Gesundheitsämter: „[…] in den Ländern, in denen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch in Kraft ist, wird weiter die Meldung der Erbkranken durch Ärzte, Heil- und Pflegeanstalten usw., verlangt.“256 „Am 11.1.1948 schrieb die Gesundheitsbehörde [Hamburg, S.W.] den Anstalten, dass nun die Weitermeldung der erbbiologischen Merkmale nicht mehr erforderlich sei, da die Erbkartei nicht mehr geführt werde.“257 Für die Medizin wurde 1950 konstatiert, dass das GzVeN mit seiner im § 12 niedergelegten Zwangssterilisation nicht mit genügender Intensität als Einbruch in die Fundamente ärztlicher Ethik erkannt werde.258 Der Grundkonsens der Notwendigkeit einer negativen Eugenik in Teilen von Medizin, Verwaltung und Justiz stellte sich ebenso wie einzelne Argumentationsfiguren und Begrifflichkeiten bis in die 1960er Jahre hinein als Kontinuität eugenischer Denkkategorien dar.259 Sowohl von medizinischer als auch von juristischer Seite formierten sich, so Daphne Hahn, „unter dem Vorwand der Humanität [...] Forderungen nach Wiedereinführung der eugenischen Sterilisation als Maßnahme zur Verbesserung individueller Lebensumstände, die gleichzeitig der ‚Volksgesundheit’ diene.“260 Wie bereits zu Beginn der eugenischen Diskussion wurde in diesem Kontext zumindest indirekt auf die „kontraselektorische“ Wirkung der modernen Medizin verwiesen, welche eine Zunah254
Vgl. Ehrhardt/Villinger (1961), S. 246. Vgl. hierzu Kap. II dieser Arbeit. 256 Vgl. auch die Regelungen zum Ehegesundheitsgesetz in Hamburg, Evers, Erbgesundheitspflege, S. 36f., Zitat S. 37. 257 Wunder (1988), S. 91. 258 Schwarz (1950), S. 3. 259 Vgl. hierzu Kühl (1997a), S. 191; Simon (1998), S. 184ff.; Hahn (2000), S. 88ff.; zu Beurteilungen des „Erbgesundheitsgesetzes“ am Beispiel Köln vgl. Schmidt (2004), S. 113f. Vgl. in diesem Kontext auch u. a. Nachtsheim (1950), Fischer (1951) sowie einschlägige Amtsarztarbeiten der Akademie für Staatsmedizin in Hamburg, Harmsen (1956) oder für die Selbstverständlichkeiten der einschlägigen Begrifflichkeiten Bonhoeffer (1949). 260 Hahn (2000), S. 61ff., Zitat S. 61. Auch in den Medien findet sich zum Teil eine solche Argumentation. So schreibt Theo Löbsack in der „ZEIT“ 1966 über den „Erbverfall durch Nächstenliebe“ und beruft sich unter anderem auf Nachtsheim. Lösungsstrategien sieht er dabei in Aufklärung und frewilliger Sterilisation. Vgl. Löbsack (1966); vgl. auch Löbsack (1975). 255
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me genetischer Erkrankungen ermögliche. Dabei fanden sich noch Ende der 1950er Jahre in juristischen Publikationen Sätze wie: „Die Gemeinschaft hat ein Interesse daran, dass sie nicht mit Erbkranken verseucht wird“,261 mit denen letztlich auch eine zwangsweise Sterilisation zu legitimieren versucht wurde. Der Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Wiedergutmachungsausschuss des Bundestags, der sich unter anderem auf Hans Nachtsheim,262 einem der Wortführer einer eugenischen indizierten Sterilisationsgesetzgebung, berief, stellte 1961 Überlegungen über die Zahl der „Erbkranken“ bei der Einführung des GzVeN an und gab den an den Verfahren beteiligten Medizinern und Juristen gute Zeugnisse.263 In der evangelischen Kirche diskutierte – durchaus kontrovers – bis Ende der 1960er Jahre ein eigener „Eugenischer Arbeitskreis“.264 Medizinische Dissertationen griffen ebenso wie Veröffentlichungen beispielsweise in den „Ärztlichen Mitteilungen“ das Thema Eugenik auf und gingen dabei von der Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen aus, wenngleich hier nicht dezidiert für eine Sterilisation gegen den Willen des Betroffenen argumentiert wurde.265 So schreibt Franz Heinemann in der Einleitung seiner medizinischen Dissertation aus dem Jahr 1962: „Zweck der vorliegenden Arbeit soll sein, aus der geschichtlichen Entwicklung der Sterilisierung in den Kulturländern den Nachweis zu erbringen, dass die Idee der Sterilisierung keineswegs nationalsozialistischen Ursprungs ist, vielmehr die Sterilisierung vom Standpunkt der Eugenik aus eine notwendige Maßnahme darstellt.“266 Auch Wilfent Dalicho, der den politischen Zwangscharakter des GzVeN hervorhebt, kommt in seiner Studie über die Sterilisationspraxis in Köln unter anderem zu dem Ergebnis, dass „die Bevölkerungsentartung […] vermutlich seit Jahrhunderten überall in der 261
Hanack (1959), S. 314. Zur Person und Forschung Nachtsheims, der 1941 die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik übernommen hatte, vgl. von Schwerin (2004). 263 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 33, 44f., abgedruckt bei Dörner (1986a). 264 Vgl. Kaminsky (2004); Schmacke/Güse (1984), S. 137ff., 167ff. Zur internationalen Entwicklung der Eugenik vgl. Kühl (1997a). 265 Als ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit des Denkens in eugenischen Kategorien und den entsprechenden kollektivistischen Bezügen – bei gleichzeitiger differenzierterer Darstellung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstandes vgl. den Beitrag „Eugenische Fragen in der Sprechstunde. Beurteilung durch den praktischen Arzt“ in der Rubrik „Zur Fortbildung – Aktuelle Medizin“ der Ärztlichen Mitteilungen, N. N. (1965), S. 1429f. Zur Frage der Berücksichtigung der Themen Eugenik und „Euthanasie“ in den Ärztlichen Mitteilungen und anderen medizinischen Standespublikationen und Wochenschriften vgl. auch Geyer (1990). 266 Heinemann (1962), S. 5. 262
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Welt zu beobachten [ist]. Die Forderung nach eugenischen Maßnahmen ist deshalb schon lange berechtigt.“267 Die Arbeiten müssen dabei vor dem Hintergrund der weiterhin geführten öffentlichen Diskussion über Eugenik und der zum Zeitpunkt ihrer Abfassung noch kaum – und in den seltensten Fällen kritisch – aufgearbeiteten Praxis der Zwangssterilisationen des „Dritten Reichs“ gesehen werden. Dennoch sind neben der eindeutigen Argumentation pro Eugenik nicht zuletzt die Sprache und die Argumentationsstruktur bemerkenswert. Dalicho schreibt beispielsweise in Bezug auf den „sozialen Problemkreis […] der erbkranken Sterilisierten“: „Die Behauptung, die Erbkranken seien nutzlose Esser, minderwertig und belasteten über Gebühr den Sozialetat der Werktätigen [F.], trifft zumindest in dieser Verallgemeinerung für Köln nicht zu; denn 80% der Sterilisierten gingen in Köln einer nützlichen Arbeit nach.“268 Aber auch in Beiträgen, in denen es nicht konkret um die Forderung nach eugenischen Sterilisationen ging, finden sich Elemente der „Erbgesundheitslogik“. Reinhard Kaplan, Direktor des mikrobiologischen Instituts der Universität Frankfurt, stellt in seinem Aufsatz über „Gegenwärtige Probleme der Strahlengenetik“ am Ende fest, „[…] dass – entgegen gewissen Meinungsströmungen – der Unterschied zwischen normal und krankhaft, verbrecherisch oder dumm, wie auch zwischen durchschnittlich und genial oder ethisch höchstwertig mit nicht unerheblicher Häufigkeit erblich bedingt ist. Diese letzteren Unterschiede sind aber die wichtigste Quelle der heutigen Hochkultur und jene ihre wichtigste Gefährdung. Spüren wir doch schon heute vielfach den Mangel an Guten und Hochleistungsfähigen und die Überzahl der Unterdurchschnittlichen und physisch Belasteten.“269
Im selben Jahr hatte sich ein anderer Autor in den Ärztlichen Mitteilungen mit Arbeitsstörungen beschäftigt und hierbei analysiert: „Der tiefste, wenn auch nicht der einzige Grund der Arbeitsstörungen dürfte erbbiologischer Natur sein. […] Die Fähigkeit und Bereitschaft für längere Ausbildung und Stetigkeit am Arbeitsplatz dokumentieren Arbeitspersönlichkeiten mit guten Anlagen, Selbstzucht und Charakter. Sind diese Eigenschaften nicht vorhanden, wird sofort jede Gelegenheit und Möglichkeit ergriffen, sich von seiner Pflicht zu entledigen. Es
267
Er befürwortet im Folgenden sowohl positive eugenische Maßnahmen als auch negative auf freiwilliger Basis. Vgl. Dalicho (1971), Zitat S. 154. 268 Ebenda, S. 164f. 269 Kaplan (1956), S. 580.
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kommt dann eben nicht zu guten Leistungen und langdauernder Betriebszugehörigkeit.“270 [Herv. i. O.]
Nicht zuletzt im Kontext einer breit diskutierten globalen Bevölkerungszunahme kam es zu eugenischen Überlegungen, denn: „Neben der Beschränkung der Quantität der Menschen ist die Frage der Qualität von größter Bedeutung.“271 [Herv. i. O.] Diese Qualitätsfrage, so der Chefarzt eines Stuttgarter Krankenhauses in seinen Ausführungen weiter, beziehe sich sowohl auf die Frage der einzelnen „Rassen“ und ihres Verhältnisses zueinander als auch auf die Vermehrung innerhalb einer Bevölkerung. Hierbei beklagt der Autor die seiner Ansicht nach bestehenden eklatanten Missstände, denn: „Die Begabten treiben Geburtenbeschränkung, die Unbegabten vermehren sich hemmungslos.“ Von daher sei eine eugenische Sterilisation auf freiwilliger Basis notwendig.272 Die geforderte Freiwilligkeit will sich nicht ganz in die Argumentation des Autors fügen. Denn seiner Einschätzung nach würden die „Unbegabten“ eben keine Geburtenbeschränkung betreiben. Wie diese nun davon zu überzeugen seien, bleibt offen. Am Ende seines Beitrages heißt es dann auch einfach: „Die Unbegabten und die körperlich und seelisch Minderwertigen sollten an der Fortpflanzung verhindert [sic] werden.“273 In der proeugenischen Argumentation der frühen Bundesrepublik findet sich wiederholt eine solche Uneindeutigkeit bezüglich potentieller Zwangsmaßnahmen. Besonders deutlich wird dies bei Hermann Werner Siemens, der sich in seinen 1952 in der 13. Auflage erschienenen „Grundzüge[n] der Vererbungslehre, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik“274 sämtlichen eugenischen Argumentationsfiguren, insbesondere zur differentiellen Geburtenrate, bedient, auf die einschlägigen Rassenhygieniker rekurriert und auch in seiner Terminologie und Metaphorik in der rassenhygienischen Tradition bleibt. „Immerhin können wir unmöglich tatenlos zusehen, wie erblich Geisteskranke, Imbezille und Menschen mit schweren körperlichen Erbleiden […] verantwortungslos oder ahnungslos ihre schrecklichen Leiden an unschuldige Kinder weitergeben.“275 Gleichwohl misst er positiven eugenischen Maßnahmen wesentliche Bedeutung zu, distanziert sich von der Zwangssterilisationspolitik im Nationalsozialismus und lehnt Zwangseingriffe ab. Wie diese Mittel zu dem von ihm entworfenen gesellschaftlichen Entwicklungsszenario und den geschilderten Notwendigkeiten passen sollen, wird dem Leser überlassen. Dabei konstruiert 270
Albert (1956), S. 151. Dennig (1954), S. 644. 272 Ebenda, Zitat S. 645. 273 Ebenda, S. 647. 274 Vgl. zum Folgenden Siemens (1952). 275 Ebenda, S. 145. 271
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Siemens eine Geschichte der Rassenhygiene, die von Ahistorizität und Exkulpation geprägt ist: „Entgegen der Meinung aller führenden Rassenhygieniker, einschließlich der deutschen, wurde jedoch, wie bekannt, von den Hitlerianern die Zwangssterilisierung eingeführt.“276 [Herv. i. O.] Damit sei, ungerechtfertigterweise, die Eugenik generell in Misskredit geraten. Neben dem Einfluss auf die Fertilität fordert er eine umfassende gesellschaftliche Rassenhygiene, so beispielsweise in der Rechtsprechung: „Die dauernde Unschädlichmachung krankhaft oder minderwertig Veranlagter und ihre Verhinderung an der Erzeugung neuer Elender muss das eigentliche bewusste Ziel der Rechtsprechung sein.“277 Bei vielen Stellungnahmen und Beiträgen zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und den nationalsozialistischen Zwangssterilisationen wird deutlich, wie sehr eine Fehleinschätzung der Maßnahmen der negativen Eugenik im „Dritten Reich“ und eine fortdauernde „Erbgesundheitslogik“ zu indifferenten Beurteilungen führten. So stellte die Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des nationalsozialistischen Regimes zu Unrecht Sterilisierten, eingesetzt von den für das Gesundheitswesen zuständigen Ministern und Senatoren der Bundesländer, 1967 unter anderem fest: „Es ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Praxis der Erbgesundheitsgerichte von nationalsozialistischen Gedankengängen im Sinne einer rassistischen Abwertung von sogen.. biologisch minderwertigem Erbgut nicht immer unbeeinflusst gewesen ist.“278 Nicht nur war eine solche „Abwertung“ wesentlicher Bestandteil der Zwangssterilisationspolitik im „Dritten Reich“, Diskussionen über eugenische Maßnahmen beinhalten per se biologistische Bewertungen. Trotz dieser in Wissenschaft und Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewachsenen und auch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik noch vielfach anzutreffenden Selbstverständlichkeit eugenischen Denkens stellt sich die ideengeschichtliche Entwicklung nach 1945 als ein Konglomerat dar, in welchem zunehmend Sollbruchstellen erkennbar werden. So wurden von einem Teil der Befürworter eugenischer Maßnahmen der Zwangscharakter kritisiert und zum Teil die negativen Auswirkungen auf die Betroffenen berücksichtigt. Ernst Klein etwa sieht in seiner in den ersten Nachkriegsjahren entstandenen Arbeit die Berechtigung des GzVeN „nach Ansicht wohl aller deutscher Psychiater ausser Zweifel“, unterscheidet hiervon aber die konkrete Praxis der Verfahren und bewertet die Sterilisation als „Vergewaltigung, Entrech276
Ebenda, S. 150. Ebenda, S. 152. Vgl. auch S. 190f. 278 Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten, Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 2. Juni 1967, S. 2, abgedruckt bei Dörner (1986a). 277
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tung und grobe Beeinträchtigung der Persönlichkeit“: „Noch steckt die Auswirkung dieses Gesetzes in den Kinderschuhen. Jedoch lässt sich heute schon sagen, dass nunmehr ein Wendepunkt in der Auffassung über den Wert des menschlichen Lebens eingetreten ist.“279 Ein juristischer Beitrag aus dem Jahr 1951, der zunächst die Argumente von der Internationalität und der deutschen Vorgeschichte eugenischer Maßnahmen anführt und ausdrücklich festhält, er lehne eine Zwangssterilisation nicht per se für künftige Zeiten ab, spricht sich angesichts möglicher medizinischer Fortschritte, der Bedeutung des Eingriffs und der „rechtspolitischen“ Situation gegen die erneute Einführung einer Zwangssterilisation aus: „Die Demokratie hat durch ihre Verfassung innerhalb deren Geltungsbereich dem Staatsbürger die Grundrechte und Freiheiten wiedergegeben, die er zwölf Jahre lang entbehren musste. Es erscheint mir rechtspolitisch unvertretbar, wollte man Hunderttausende von Menschen bereits jetzt wieder dem Zwang eines von ihnen abgelehnten operativen Eingriffs unterwerfen, der mit so schweren körperlichen und psychischen Folgen verbunden ist.“280
Eine Kontroverse in den Ärztlichen Mitteilungen aus dem Jahr 1959281 zeigt exemplarisch, dass Befürworter eugenischer Maßnahmen zunehmend auf kritische Reaktionen trafen. Gegenüber Positionen wie: „Es gehört zu unseren Kenntnissen, dass die zunehmende Verringerung des natürlichen Selektionsdruckes zu einer steigenden Belastung mit krankhaften Erbanlagen führen muss. Dass sich hieraus für den Arzt, der in vorderster Linie an der Ausschaltung der natürlichen Auslese arbeitet, die Forderung nach sinnvollen Maßnahmen der Eugenik ergibt und dass er diese unterstützen muss, scheint mir eine selbstverständliche Forderung.“ (E. Kehler) „In einem zu erstrebenden soziologisch orientierten Staat gäbe es auch nur eine soziologisch orientierte Medizin oder Heilkunde. Diese beginnt […] möglichst vor jeder Geburt […]. Bei solchen Gesichtspunkten und 279 In der Folge spricht er sich für Freiwilligkeit und „einwandfreie“ Diagnostik aus. Klein, Verordnung, S. 3f., 14. 280 Vgl. Brühl (1951), Zitat S. 497. Hierbei spricht sich der Autor auch gegen eine eugenische Sterilisation Nichteinwilligungsfähiger aus. Wenn man gegen die Zwangssterilisation sei, müsse man auch eine solche ablehnen, „da es für den Betroffenen im Ergebnis dasselbe ist, ob der Zwang vom Staat oder von seinem gesetzlichen Vertreter ausgeht.“ 281 Vgl. hierzu ÄM 1959, v. a. Nr. 32, S. 1115-1118, Nr. 47, S. 1747-1751.
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Direktiven werden Krankheiten des täglichen Lebens, wird der Ballast des lebensunfähigen oder -untüchtigen Kontingentes mit fortschreitender biogenetischer Erkenntnis verschwinden oder doch auf ein erträgliches Maß schrumpfen.“ (H. Robert)
wurde nun individualethisch argumentiert: „Aber seine Verantwortung [des Arztes, S. W.] endet an der Würde seines Patienten, an dessen freier Entscheidung. […] Zum Schluss möchte ich fragen, welchen Sinn die propagierte Menschenzüchtung haben soll? Ob gezüchtete Menschen glücklicher sein würden?“ (W. Gladel) „Soll also das Wirken des Arztes ethisch verstanden werden, humanitas sein, so muss es in dem von Schumacher vertretenen Sinn auf das Subjekt, den Einzelmenschen gerichtet sein.“ (A. Mantey)
Auch dem Genetiker Hans Nachtsheim, der sich nach 1945 wiederholt öffentlichkeitswirksam gegen die „Entschädigung“ der Zwangssterilisierten und für ein neues Sterilisationsgesetz aussprach, begegneten kritische Stellungnahmen.282 In einem Beitrag „Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aus dem Jahr 1933 in heutiger Sicht“, erschienen in den Ärztlichen Mitteilungen 1962,283 argumentiert er für ein neues Sterilisationsgesetz. Zur Frage des möglichen Zwangscharakters verhält er sich zumindest indifferent, folgt man seiner Logik, wäre ein solches Gesetz ohne Zwang aber wirkungslos. Ihm antworten drei Autoren,284 von denen einer ein entsprechendes Gesetz befürwortet, zwei hingegen widersprechen, unter anderem mit dem Hinweis: „Jeder Mensch […] hat ein Recht zur Ehe und zur Nachkommenschaft. […] Jeder Arzt […] wird eidbrüchig, wenn er sich einem eugenischen Sterilisationsgesetz beugt.“285 Wenige Monate später befasst sich erneut ein Beitrag mit den Ausführungen Nachtsheims. Hier kritisiert ein Oberlandesgerichtsrat die Einschätzung, das GzVeN sei kein nationalsozialistisches Gesetz gewesen.286 Und auch in anderen Organen äußern Mediziner Kritik an Nachtsheims Darstellungen 282
Sein 1952 erschienenes Buch „Für und Wider die Sterilisierung aus eugenischer Indikation traf hingegen auf positive Rezeption. Vgl. Ärztliche Forschung 6 (1952), 10, S. 167; Geburtenhilfe und Frauenheilkunde 12 (1952), S. 960; Zeitschrift für Urologie 47 (1954), S. 725-727. 283 Vgl. ÄM Nr. 33, 1962, S. 1640-1644 und ÄM Nr. 48, 1962, S. 2518-2519 (Replik). 284 Vgl. ÄM Nr. 48, 1962, S. 2515-2518. 285 Eduard Jülich in: ÄM Nr. 48, 1962, S. 2518. 286 Vgl. ÄM Nr. 14, 1963, S. 788-791. Ihm antwortet ein weiterer Leser sowie Nachtsheim, vgl. ÄM Nr. 24, 1963, S. 1374-1378.
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und Forderungen.287 Auch in den Wochenmagazinen der Bundesrepublik, namentlich dem „Spiegel“ und der „Zeit“, finden sich bereits Anfang der 1960er Jahre kritische Artikel zum Umgang mit dem GzVeN und den von diesem Betroffenen.288 Die kontroverse Einschätzung politisch-medizinischer eugenischer Maßnahmen ist dabei nicht neu. Von Beginn der Diskussion an gab es einzelne kritische Stimmen, und auch individualethische Positionen finden sich Jahrzehnte vor den hier zitierten.289 Dennoch zeigen diese Diskussionen, die in dem einschlägigen Publikations- und Standesorgan der deutschen Ärzteschaft ausgetragen wurden, exemplarisch sowohl den Verlust der Deutungshoheit von Eugenik-Befürwortern als auch den allmählichen Wandel, der sich in der Entwicklung der Bundesrepublik vollzog.290 In den ersten Jahrzehnten nach 1945 waren eugenische Positionen, die zum Teil einen Zwangscharakter intendierten, ein argumentativer Rekurs auf eine übergeordnete Gemeinschaft als Bezugsgröße mit der eingeforderten Bereitschaft des individuellen Opfers für das kollektive Wohl und Begriffe wie „minderwertig“ noch diskutierbar. Solche Positionen finden sich in den 1970er und 1980er Jahren in dieser Form kaum mehr. Zugleich nimmt die Kritik der Gegner eugenischer Maßnahmen an Grundsätzlichkeit zu. War für einen Teil der ablehnenden Stimmen gegenüber Sterilisationen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die Haltung: „Eugenik als Forschung, ja! Sterilisationsgesetz, vorerst nein!“291 kennzeichnend, so entwickelte sich nunmehr eine Kritik, die sich immer mehr auf die unverletzlichen Grundrechte des Einzelnen bezog. Bereits im Deutschen Ärzteblatt 1966 gab der Artikel „Neue Erkenntnisse der Erblichkeitslehre. Lösung von überholten Vorstellungen“ den Hinweis: „In den mehr als 80 Jahren seit Galton ist die Eugenik aus einer Art Glaubensbekenntnis zu einer Wissenschaft mit sachlicher Begründung geworden, wozu freilich ausdrücklich festgestellt sei, dass auch für die Eugenik als Wissenschaft
287
Vgl. Leibbrand (1963). Zugleich findet er „prominente“ Unterstützer, so den Direktor der Universitätsfrauenklinik Gießen, vgl. Kepp (1964). 288 Vgl. N. N. (1960); Zundel (1962); Pfeil (1963). 289 Zu kritischen Reaktionen auf pro-eugenische Veröffentlichungen vgl. auch Simon (1998), S. 184. 290 Vgl. zu einer solchen Gemengelage auch die Beiträge und Diskussionen in Wendt (1970). 291 Leibbrand (1963), S. 718.
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der humanitäre Standpunkt an erster Stelle zu stehen hat.“292 Bis es zu einer Analyse der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ im Standesorgan der deutschen Ärzteschaft kam, sollte es allerdings noch zwei Jahrzehnte dauern. Ende der 1980er Jahre, im Rahmen einer Serie über die Medizin im Nationalsozialismus, wurde dieses Kapitel beleuchtet.293 Wenige Jahre zuvor findet sich ein Artikel von Klaus Dörner, der die mangelnde innermedizinische Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, das Leiden der Betroffenen und die unterlassenen Hilfeleistungen ihnen gegenüber skizziert.294 Von den drei abgedruckten Leserbriefen hierzu kritisieren zwei seine Einschätzung der Sterilisationspolitik und der Betroffenen.295 In beiden Fällen geben die Autoren an, selber an Sterilisationen im „Dritten Reich“ teilgenommen zu haben. Dörner selbst stellt in seinem Schlusswort, in welchem er erneut das „unermessliche Elend der zwangssterilisierten Menschen“ betont, zu der Diskussion fest, gegenüber diesen Leserbriefen habe er von jüngeren ärztlichen Kollegen in Zuschriften überwiegend Zustimmung bekommen.296 Vor dem skizzierten Hintergrund konnte ein Großteil der im „Dritten Reich“ aktiven Eugeniker in der Bundesrepublik, nicht zuletzt auch aufgrund der theoretischen wie praktischen Involvierung zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen in das nationalsozialistische Unrecht, ihre Karriere in Wissenschaft und Wohlfahrtsverbänden fortsetzen.297 Institutionell trat in der Bundesrepublik die Humangenetik das Erbe der Eugenik an. Am sinnfälligsten wird dies vielleicht 292 Neben der Vorstellung neuerer Erkenntnisse im Bereich der Chromosomenforschung und der Relativierung bisheriger Annahmen über kausale Zusammenhänge zwischen Genound Phänotypus fordert der Beitrag, dass die Eugenik im individuellen Fall nicht nur das „Negativum eines evtl. Erbdefizits bei der betreffenden Person“ zu berücksichtigen habe, sondern auch das „Positivum eines evtl. Erbfazits“. N. N. (1966), S. 203f. Hierbei lässt sich die genaue Definition des Begriffs „Erbfazit“ nicht feststellen 293 Vgl. Baader (1988); Rothmaler (1989). 294 Dörner (1986b). 295 Vgl. Huwer (1987); Leistenschneider (1987). Ein dritter Leser stößt sich an den gemachten Pauschalisierungen. Vgl. Ruh (1987). 296 Dörner (1987). 297 „Da es im nationalsozialistischen Deutschland eine von den Nationalsozialisten unabhängige Entwicklung in der Rassenhygiene, Psychiatrie, menschlichen Vererbungsforschung und Bevölkerungswissenschaft nicht gegeben hatte, stießen die orthodoxen deutschen Eugeniker auf geringen wissenschaftsinternen Widerstand, als sie nach dem Krieg in führende Positionen zurückdrängten.“ International war die orthodoxe Eugenik durch die nationalsozialistischen Entwicklungen hingegen diskreditiert. Vgl. hierzu Kühl (1997a), S. 175-181, Zitat S. 175. Wissenschaftsinterne Kritik in Deutschland, die es zumindest im Falle bekannter und in das nationalsozialistische Unrecht nachweislich verwickelter Eugeniker wie zum Beispiel Otmar von Verschuer gegeben hat, verpuffte meist wirkungslos. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 562ff.
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durch die Übernahme des Lehrstuhls für Humangenetik an der Universität Münster im Jahr 1951 durch Otmar von Verschuer, einem der führenden Vertreter der nationalsozialistischen Eugenik.298 Neun Jahre später sprach ein in den Ärztlichen Mitteilungen veröffentlichter Artikel aus eben diesem Institut von dem „eugenische[n] Defizit der Gemeinschaft“, womit „schwachsinnige Individuen“ gemeint waren.299 Bis Mitte der 1960er Jahre gelang der Humangenetik dabei weder die strikte Distanzierung von erbpathologisch-kollektivistischen Konzeptionen noch die Etablierung einer institutionellen Eigenständigkeit jenseits von Anthropologie, Bevölkerungswissenschaft und Konstitutionsforschung, verbunden mit einem Anschluss an die internationale Forschung.300 Wenngleich ihre Vertreter sich – von Ausnahmen abgesehen – kaum an den öffentlichen Diskussionen über ein neues eugenisches Sterilisationsgesetz beteiligten,301 waren Elemente des eugenischen Weltbildes und insbesondere das Denken in Wertigkeiten weiter verankert. So verwendeten Beiträge im Kontext der Humangenetik Begrifflichkeiten wie die von der sich „hemmungslos“ vermehrenden „asoziale[n] Großfamilie“.302 Gleichzeitig lässt sich auch hier konstatieren, dass die Humangenetik trotz der feststellbaren „restaurativen“ Elemente und vorhandenen Defizite in der Werteordnung der Bundesrepublik weitgehend ankam. „Bei aller Kontinuität in Sprache und Substanz mussten die Ansprüche einer eugenisch orientierten Humangenetik zugunsten der neuerlich sanktionierten Werteordnung, wie sie in den Grundrechten der Verfassung festgeschrieben wurde, zurückgenommen werden.“303 In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich, nicht zuletzt durch den Generationenwechsel und vor dem Hintergrund der neuen Möglichkeiten der genetischen Diagnostik, ein Übergang zu einer Art „individualisierten“ Eugenik. Der Einzelne wurde zum Gegenstand einer freiwilligen genetischen Untersuchung und Beratung und entschied auf der Grundlage individueller Wertmaßstäbe, beispielsweise über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch.304
298
Vgl. Ebenda, S. 572-580. Vgl. Haberlandt (1960), S. 2269. 300 Zur Nähe der Anthropologie zur Humangenetik in Deutschland und zur Entwicklung einer institutionellen Eigenständigkeit vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 586-630. 301 Vgl. Ebenda, S. 597. 302 N. N. (1968), S. 2728. 303 Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 595. Zur Entwicklung vgl. auch Kröner (1998), Cottebrune (2008). 304 Vgl. hierzu u. a. Kühl (1997a), v. a. S. 233ff. 299
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„Die erbmedizinische Indikation […] wird vielfach noch ‚eugenische’ Indikation genannt, was nicht mehr den heutigen Intentionen dieser Indikation entspricht. Denn mit ihr wird prinzipiell kein eugenischer Effekt, d. h. eine Aufbesserung des Erbgutes der ganzen Population, angestrebt. […] Um aber der ganzen Familie ein vorhersehbares schweres Krankheitsschicksal zu ersparen, ist die Sterilisation sinnvoll und unmittelbar hilfreich.“305 [Herv. i. O.]
Bei all den hiermit gegebenen fundamentalen Unterschieden zur nationalsozialistischen Unrechtspolitik finden sich dennoch – als ein konstituierendes normatives Element der Genetik – Werturteile über menschliches Leben. Nach Kriterien der familiären und sozialen „Wünschbarkeit“ und der vermeintlich zu beurteilenden Lebensqualität wurden und werden hiernach Entscheidungen über zu gebärendes oder zu verhinderndes Leben getroffen.306 Als ein Gefahrenpotential dieser Humangenetik erscheint nicht zuletzt der Hinweis auf gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Interessen als geforderter Maßstab individueller pränataler Diagnostik und der Entscheidung für oder gegen behindertes Leben, der sich auch weiterhin in öffentlichen wie privaten Diskussionen wiederfand.307 Die Geschichte der Eugenik in der Bundesrepublik liest sich nicht eindeutig. Theoretische wie praktische Bruchstellen finden sich an vielen Stellen. Trotz personeller und argumentativer Kontinuitäten und des diskreditierenden Umgangs mit den Opfern der Zwangssterilisation kam es nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ zu keiner vergleichbaren gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Eugenik wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ließ allein die Rechtsordnung der Bundesrepublik mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit für die Wiedereinführung von Zwangssterilisationen keinen Raum,308 so mussten die Befürworter negativer eugenischer Maßnahmen wiederholt feststellen, dass in Deutschland „das Problem wegen des Missbrauches dieses Gesetzes durch den Nationalsozialismus im Bewusstsein des Volkes derart verfälscht worden [ist], dass der überwiegende 305
Mende (1971), S. 636. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Daphne Hahns: „Eugenische Zwecke behielten ihre gesellschaftliche Relevanz, in dem sie in ein legitimes Konzept individueller Lebensplanung, also auch Familienplanung integriert wurden und so im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen neue Bedeutung erlangen konnten.“ Hahn (2000), S. 111. 307 Zu entsprechenden Argumentationsfiguren in den vergangenen Jahrzehnten vgl. Sierck/Radtke (1989); Weingart/Kroll/Bayertz (1992), v. a. S. 669-684. 308 Vgl. hierzu auch Woesner (1963), S. 790f. 306
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Teil des deutschen Volkes einen Widerwillen gegen eugenische Maßnahmen, insbesondere gegen die Sterilisierung, hat.“309 Auch Juristen, Mediziner und Eugeniker diskutierten einen möglichen Missbrauch des GzVeN. Folgt man ihren Ausführungen, so stellt man allerdings fest, dass sich dieser lediglich auf die Zwangssterilisationen aus politischen und „rassischen“ Gründen bezog.310 Jenseits der theoretischen Überlegungen fanden jahrzehntelang Sterilisationen Nichteinwilligungsfähiger, insbesondere geistig behinderter Mädchen und Frauen, ohne entsprechende gesetzliche Grundlage statt.311 Was das Verhältnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu den Zwangssterilisationen auf der einen Seite und der eugenischen Ideologie auf der anderen betrifft, ist eine klare Positionsbestimmung schwierig. War die Akzeptanz neuerlicher eugenischer Zwangsgesetze wohl tatsächlich kaum vorhanden und wurde die nationalsozialistische Praxis zumindest in Teilen kritisch bewertet,312 so dürften sich die jahrzehntelang akzeptierten und durch die nationalsozialistische Propaganda weiter indoktrinierten eugenischen Vorstellungen nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der weiterhin geführten Debatten nicht einfach aufgelöst haben.313 Eine wissenschaftliche Analyse dieser quellenmäßig schwer zu fassenden Fragestellung steht noch aus. 309
Heinemann (1962), S. 5. Der Autor beruft sich dabei auf Nachtsheim. Entsprechende Hinweise finden sich in verschiedenen zeitgenössischen Beiträgen, vgl. zum Beispiel Woesner (1963). Vgl. hierzu auch Nachtsheim (1962). Auch im Rahmen eines Schriftwechsels im Bayerischen Innenministerium, in dem es um eine mögliche Landtagsdebatte über die Sterilisation aus eugenischer Indikation bei Zustimmung eines gesetzlichen Vormundes ging, wurde eine solche Debatte angesichts „der in Bayern bestehenden Abneigung gegen die Sterilisation“ abgelehnt. Vgl. Schreiben des Staatssekretärs Dr. Nerreters, Staatsministerium des Innern, an die Abteilung III [Gesundheitsabteilung] vom 9.7.1951, Betreff Sterilisierung Schwachsinniger und Antwort Dr. Seifferts an Dr. Nerreter vom 18.7.1951, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 310 Vgl. hierzu auch Nachtsheim (1962). 311 Schätzungen gehen von etwa 1 000 Fällen pro Jahr aus. 1984 wies ein Artikel im Deutschen Ärzteblatt auf die Strafbarkeit der Eingriffe hin und forderte eine gesetzliche Klärung. Vgl. Horn (1984). Seit 1992 regelt das Betreuungsgesetz die Sterilisation Nichteinwilligungsfähiger. Vgl. § 1905 BGB http://dejure.org/gesetze/BGB/1905.html; Brill (1994), S. 357ff.; Hoffmann (1996); Zunner/Steger (2007), S. 70f.; Zu entsprechenden theoretischen Debatten vgl. auch Hahn (2000), S. 118ff. 312 Frau P., die wegen ihrer Taubstummheit zwangssterilisiert wurde, berichtet beispielsweise, dass in ihrem Heimatort der Allgemeinmediziner, der sie beim Erbgesundheitsgericht angezeigt hatte, nach 1945 vielfach gemieden und „beschimpft“ wurde. Brief von H. P. vom 9.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 313 Vgl. zum Beispiel die Eingabe eines Pfarrers „an das hohe Staatsministerium für Unterricht und Kultus“, München, bezüglich einer von ihm geforderten „Volksbelehrung über Erbkrankheiten“ im Juni 1951, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. Die Antwort von Dr. Seiffert, Gesundheitsabteilung des Innenministeriums, fällt sehr positiv aus und weist auf einschlägige Pläne auf bundespolitischer Ebene sowie weitere Aufklärungstätigkeit hin. Andere
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Der Umgang mit den nationalsozialistischen Eugenik-Verbrechen in der DDR ähnelte in weiten Teilen dem in der Bundesrepublik. Auch hier gehörten die Betroffenen zu den ausgegrenzten NS-Opfern,314 wurden die Verbrechen weitgehend verschwiegen und auf politischen Missbrauch beschränkt.315 „Eine Aufarbeitung sowie Wiedergutmachung fand in der DDR zu keinem Zeitpunkt statt.“316 Anfängliche Überlegungen, die Beteiligung von Medizinern und Juristen an Zwangssterilisationen aus eugenischen Gründen strafrechtlich zu verfolgen, wurden aufgrund einer befürchteten Abwanderung der Betroffenen fallengelassen317 und lediglich Sterilisationen aus politischen und „rassischen“ Gründen geahndet.318 Aufgrund der programmatischen Abgrenzung zum Nationalsozialismus und des ideologischen Selbstverständnisses konnte die „traditionelle“ Eugenik im Sinne eines Baur/Fischer/Lenz nicht ungebrochen Akzeptanz finden, lautete doch einer ihrer Grundsätze: „Es ist daher völlig hoffnungslos, durch Erziehung und Übung das Menschengeschlecht dauernd heben zu wollen.“319 Dementsprechend wurden in ostdeutschen Veröffentlichungen neben der Rekurrierung auf das sozialistische Menschenbild und fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse zur Vererbung Umweltfaktoren bei der Analyse und „Lösung“ Maßnahmen wie Eheverbote seien demgegenüber nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Vgl. Antwortschreiben Dr. Seifferts an Pfarrer Hermann J. Klug vom 26.7.1951, Ebenda. Almuth Massing weist auf die tiefe Verankerung der Rassenhygiene in vielen von ihr untersuchten Familien nach 1945 hin. Vgl. Massing (1995). Vgl. auch die entsprechenden Hinweise von Betroffenen in ihren Briefen an den BEZ. 314 Zum Umgang mit den Zwangssterilisierten von Seiten der Opferorganisationen in der DDR vgl. Zur Nieden (2001). 315 Vgl. Hahn (2000), S. 178ff. Zur Entwicklung in Österreich, wo das Erbgesundheitsgesetz 1945 aufgehoben worden war, vgl. Spring (2002a und b); Weindling (2007), S. 257. 316 Hahn (2000), S. 254. Vgl. hierzu auch Briefe von Betroffenen, die über entsprechende Versuche, Anerkennung und „Entschädigung“ in der DDR zu bekommen, berichten. So zum Beispiel Brief von A. S. vom 21.2.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von W. P. vom 27.11.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 317 Vgl. hierzu Tümmers (2008), S. 176f. 318 Entsprechende Verordnungen wurden 1946 in den einzelnen Ländern erlassen. Vgl. Hahn (2000), S. 180ff. Ob es neben einer Verurteilung des Landgerichts Cottbus von drei an Zwangssterilisationen beteiligten Ärzten zu mehrmonatigen Haftstrafen zu weiteren Verfahren kam, ist bislang nicht bekannt. Vgl. Moser (1998). Vgl. zudem Schwarz (1950), der als Direktor der Greifswalder Universitätsnervenklinik im Auftrag eines nicht näher bestimmten Generalstaatsanwaltes ein Gutachten über drei Mediziner, die während des Nationalsozialismus Gutachten für Verfahren an Erbgesundheitsgerichten oder Erbgesundheitsobergerichten erstellten, anfertigte. Der Autor, der das GzVeN sehr kritisch sieht, kommt dabei zu dem Ergebnis, dass von den drei Medizinern einer in über der Hälfte der Fälle „erhebliche Mängel“ in seiner Begutachtung aufweise, die übrigen beiden zumeist sachgemäß begutachtet hätten. Vgl. zu Schwarz auch Moser (1998). 319 Baur/Fischer/Lenz (1923), S. 396.
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sozialer Devianz betont320 und eugenische Utopien als Element der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaft dargestellt.321 Gleichzeitig gab es im Hinblick auf tatsächliche oder vermeintliche Erbkrankheiten auch hier pro-eugenische Stellungnahmen, die zumeist an Diskussionen vor 1933 anknüpften,322 erforschten und rezipierten auch DDR-Wissenschaftler humangenetische Erkenntnisse. Hierbei wurde zwar die Ausrichtung der „neuen“ Humangenetik auf das Individuum betont, gleichwohl legen andere Aussagen die nach wie vor vorhandene kollektivethische Bezugsgröße und die unterschiedlichen Wertigkeiten offen: „Dabei muss die Gesellschaft entsprechend dem Stand der Wissenschaft und der Produktion immer wieder neu entscheiden, bei welchen Vererbungssituationen und genetisch bedingten Krankheitsfällen den Betroffenen bei gesellschaftlich und individuell tragbarem Aufwand geholfen werden kann und bei welchen die menschenwürdige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht ermöglicht werden kann und folglich der Verzicht auf persönliche Nachkommen im Interesse der Familie und der Gesellschaft anzuraten ist.“323
In der „imperialistischen“ Gesellschaft seien alle einschlägigen Maßnahmen tendenziell missbräuchlich gegen die Arbeiterklasse gerichtet. „Erst unter sozialistischen und kommunistischen Verhältnissen können die Erkenntnisse der Humangenetik voll für die Interessen des Individuums und der Gesellschaft zur Wirkung gebracht werden […].“324 Die skizzierten einschlägigen Diskussionen und Positionen verweisen auf das Vorhandensein eugenischer Vorstellungen in mindestens vier unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Erfahrungsräumen, von der Weimarer Republik bis zur DDR. In Teilen der Forschung werden eugenische Argumentationen und staatliche Interventionen in einen noch weitergehenden, epochenübergreifenden machtpolitischen Zusammenhang gestellt: „Eheverbote, Internierungsmaßnahmen und Sterilisationspraktiken waren ja keine Innovationen der Eugenikbewegung, sondern finden sich teils bereits in der Frühen Neuzeit. Zieht man solche bürokratischen Kontinuitäten in Betracht, dann bietet die Eugenik zwar eine neue Legitimationsbasis mit neuen Handlungsoptionen, die institutionelle Umset320
Vgl. hierzu Dietl/Gahse/Kranhold (1977), v. a. S. 125-129. Vgl. hierzu zum Beispiel Wernecke (1976). 322 Vgl. Hahn (2000), S. 201-215. 323 Wernecke (1976), S. 149f. 324 Ebenda, S. 150. 321
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zung müsste aber im Rahmen einer langfristig angelegten Geschichte bürokratischer Herrschaftssysteme untersucht werden.“325
Die hier anklingende Foucaultsche „Biomacht“326 wird in der Untersuchung Daphne Hahns betont. Sie sieht in der Legitimation der nationalsozialistischen eugenischen Sterilisationspolitik durch beide deutsche Staaten nach 1945 trotz differierender politischer Orientierung die gemeinsame Anerkennung „regulative[r] wie disziplinierende[r] biopolitische[r] Interventionen“.327
325
Vgl. den Tagungsbericht: Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?/What is National Socialist about Eugenics? 17.22006-18.2.2006, Basel. In: H-Soz-u-Kult, 20.3.2006, http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1081. 326 Zu einer ersten Übersicht über das Konzept der „Biomacht“ vgl. Michel Foucault, Vorlesung vom 17.3. 1976, http://www.momo-berlin.de/Foucault_Vorlesung_17_03_76.html. 327 Hahn (2000), S. 301.
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3. Die Zwangssterilisierten im politischen Raum nach 1945328 3. 1 Der politische Umgang mit den Opfern Entsprechend der Kontinuität eugenischer Denkkategorien, aber auch vor dem Hintergrund einer insgesamt eher ablehnenden Haltung gegenüber finanziellen „Wiedergutmachungsleistungen“ für Opfer des „Dritten Reichs“ im Allgemeinen329 sowie gegenüber spezifischen, nach wie vor sozial randständigen Opferruppen im Besonderen,330 fanden die Bemühungen der Zwangssterilisierten um „Entschädigungen“ wenig politisches und gesellschaftliches Gehör. Dass dabei andere Opfergruppen – nicht zuletzt angesichts einer breiten „Konkurrenz der Opfer“ (Chaumont) – die Einbeziehung der Zwangssterilisierten in „Wiedergutmachungsregelungen“ ebenfalls ablehnten,331 macht die anhaltenden stigmatisierenden Zuschreibungen deutlich, welche den Betroffenen auch nach 1945 anhafteten. Die entschädigungspolitische Haltung stützte sich argumentativ unter anderem auf die beschriebene Einschätzung des GzVeN. Die „offizielle“ Meinung lautete dementsprechend zumeist: „Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war – ich betone es nochmals – kein verbrecherisches Nazigesetz, sondern ein Erbgesundheitsgesetz.“332 [Herv. i. O.] Die physischen und psychischen Folgen der Zwangseingriffe wurden weitgehend geleugnet, entsprechende Äußerungen von Betroffenen als nicht mit der Sterilisation in Verbindung zu bringend und lediglich monetären Interessen geschuldet abgewertet. „In Wahrheit richtet sich der seelische Schmerz der Betroffenen also nicht so sehr gegen den Eingriff als solchen, als vielmehr gegen dessen Ursache, das Schicksal der Erbkrankheit, das ihm den Verzicht auf Nachkommen auferlegt“, so ein Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 [sic] sterilisiert worden sind“.333 Darüber hinaus würde, so der Bericht mit Bezugnahme auf einen 328
Ausführlich zu diesem Themenkomplex vgl. Tümmers (2009) sowie die Dissertationsschrift von Henning Tümmers. 329 Zu „Wiedergutmachungsleistungen“ für Opfer des Nationalsozialismus insgesamt vgl. Goschler (2005). 330 Hierzu gehörten unter anderem Sinti und Roma und als „asozial“ Verfolgte. Zu Ersteren vgl. Strauß (1998), zu Letzteren vgl. zum Beispiel Evers (2005). 331 Vgl. Goschler (2005), S. 77 ff.; Hockerts (2001), S. 200. Zugleich wurden aber auch die Interessen der Betroffenen zumindest in Einzelfällen von Opferorganisationen unterstützt. Vgl. Simon (1998), S. 192f. sowie das nachfolgende Kapitel dieser Arbeit. 332 Nachtsheim (1962), S. 1644. Zur Diskussion um die Charakterisierung des GzVeN vgl. entsprechende Hinweise bei Woesner (1963), S. 789f. 333 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 68, abgedruckt bei Dörner (1986a).
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Standpunkt von „evangelisch-kirchlicher Seite“ weiter, die „Entschädigung“ seelischer Leiden eine „rein materialistische[] Seinsbetrachtung bedeuten“ und ließe sich gegenüber den ebenfalls nicht „entschädigten“ Leiden und den „viel mehr berechtigten Forderungen“ der übrigen Verfolgten des Nationalsozialismus und Kriegsopfer „gar nicht […] verantworten“.334 Die fehlende Anerkennung beruhte dabei auf mehreren Faktoren. Zum einen war sie der bereits beschriebenen Kontinuität eugenischer und sozialer Denkmuster geschuldet, die in den Betroffenen keine Opfer zu erkennen vermochte. Zum anderen muss die Einschätzung der Sterilisation und ihrer Folgen auch in den Kontext der zeitgenössischen politischen und psychiatrischen Mehrheitsmeinung gestellt werden, welche psychische Folgen nationalsozialistischer Verfolgung oder Kriegserfahrungen bis in die 1970er Jahre hinein grundsätzlich entweder ignorierte oder weitgehend bestritt.335 Darüber hinaus findet sich der im Rahmen der Diskussion über Eugenik und „Erbgesundheit“ als gängige Metapher auftretende Gedanke eines notwendigerweise zu erbringenden individuellen „Opfers“ zugunsten des Wohls einer postulierten Gemeinschaft auch im Zusammenhang von abgelehnten „Entschädigungs“-Forderungen von Zwangssterilisierten. So in einem Urteil des Bundesgerichtshofes 1962, in dem ein „Sonderopfer“ eines Zwangssterilisierten – analog beispielsweise zu Impfschäden – verneint wird, auch wenn in einem späteren Wiederaufnahmeverfahren die Rechtmäßigkeit des damaligen Beschlusses negiert wurde. Im Rahmen dieses Urteils stellte der Bundesgerichtshof die normative Dimension des Erbgesundheitsgerichts, die Ausrichtung an kollektivethischen Zielen einer zukünftigen „Volksgemeinschaft“, ebenso wenig in Frage wie die zu verhandelnde Maßnahme, den zwangsweisen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen. Vielmehr war es der Ansicht, das Erbgesundheitsgerichtsverfahren „[…] hatte den Zweck und das Ziel, in einem geordneten Verfahren einen bestimmten konkreten Sachverhalt festzustellen, und auf ihn die Normen des materiellen Rechts anzuwenden und so eine Entscheidung darüber zu fällen, was im Widerstreit der behaupteten öffentlichen Interessen und der dagegengesetzten Einzelinteressen rechtens sei.“336
334
Ebenda, S. 70. Vgl. auch Hahn (2000), S. 57; 61-63. Vgl. auch die zum Teil herabwürdigenden Urteile von Medizinern in „Entschädigungs“Gutachten über Verfolgte des Nationalsozialismus, Pross (1988), S. 187ff. Fischer-Hübner (1990). Vgl. auch (1988), S. 149ff.; Goltermann (2002); Lansen (2003a), S. 171f.; Barneveld (2003), S. 186f.; Lempp (2003). 336 BGH, Urteil vom 19. Februar 1962 – III ZR 23/60, S. 27. Zur geäußerten Kritik an diesem Urteil vgl. Wiesenberg (1986), S. 190f. 335
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Die einzigen Möglichkeiten für Zwangssterilisierte, Leistungsansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) oder dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG)337 geltend zu machen, bestanden, wenn sie nachweisen konnten, aus „rassischen“,338 politischen oder religiösen Gründen verfolgt oder ohne ein vorhergegangenes Erbgesundheitsgerichtsverfahren beziehungsweise in Folge von „Amtspflichtverletzungen“339 zwangssterilisiert worden zu sein oder „Aufopferungsansprüche“ anführen zu können. In der Praxis waren letztere kaum zu belegen oder wurden, wie vom Oberlandesgericht Hamm 1952,340 grundsätzlich abgelehnt.341 Prozesse, die von einzelnen Zwangssterilisierten zur Durchsetzung von „Entschädigungs“-Ansprüchen geführt wurden, blieben in aller Regel erfolglos.342 Waren solche Versuche, „Entschädigung“ zu bekommen, allein aufgrund der „Wiedergutmachungs“-Gesetzgebung und -Rechtssprechung somit quasi chancenlos, so wurde die geringe Zahl der dennoch gestellten Anträge für das Bundesfinanzministerium zu einem Beleg dafür, dass die Urteile der Erbgesundheitsgerichtsverfahren weitestgehend korrekt erfolgt wären. Die Summe der bis etwa 1960 bundesweit eingegangenen Anträge auf „Entschädigung“ wegen Amtspflichtverletzungen wurde auf etwa 1 426 geschätzt und hierbei die Ansicht vertreten, dass: „Bei der allgemein beobachteten Tendenz, wegen eines jeden Schadens, den man etwa erlitten hat, die öffentliche Hand verantwortlich zu machen, werden die Sterilisierten, die der Ansicht sind, durch die Sterilisierung geschädigt worden zu sein, ihre ihnen nach geltendem Recht ver-
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Zum AKG vgl. http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/akg/gesamt.pdf Vgl. in diesem Kontext auch die Einschätzung von Gisela Bock: „[...] war die Sterilisationspolitik insgesamt eine Form von Rassismus. Denn Rassismus bedeutet nicht nur die Diskriminierung ‚fremder’ Völker, sondern auch die ‚Aufartung’ des eigenen Volks, angestrebt durch Diskriminierung von ‚Minderwertigen’ der eigenen ethnischen Gruppe.“ (Bock (1986), S. 16. Sachße/Tennstedt (1992), S. 102 sprechen von „hygienischem Rassismus“. 339 Zur Aussichtslosigkeit dieses Nachweises vgl. auch Traenckner, Erfahrungen, S. 97ff. 340 Vgl. Schwarze (1954), S. 560. 341 Vgl. Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 70f., abgedruckt bei Dörner (1986a). Weiter wäre noch zu prüfen, so heißt es hier, ob eine „Entschädigung“ gewährt werden sollte, wenn sich die Diagnose des Erbgesundheitsgerichtes als falsch erwiesen habe. Vgl. hierzu u. a. Biesold (1988), S. 162ff. 342 Vgl. hierzu auch Wiesenberg (1986), S. 188f. 338
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meintlich zustehenden Ansprüche zum größten Teil bereits angemeldet haben.“343
Auch in keinem der bisherigen Zivilprozessentscheidungen sei eine vorsätzlich rechtswidrige oder grob fahrlässige Anwendung des GzVeN festgestellt worden: „Wäre das ErbGesGes tatsächlich in erheblichem Umfange missbräuchlich oder fehlerhaft durchgeführt worden, so wäre es nicht zu verstehen, dass die Betroffenen die ihnen nach bestehendem Recht hierfür zustehenden Ansprüche nicht nach 1945 zum mindesten nach Inkrafttreten des AKG in großem Umfang gerichtlich geltend gemacht haben.“
Fehlentscheidungen seien grundsätzlich in geringem Ausmaß möglich gewesen, da aber in den ersten Jahren der Anwendung des GzVeN insbesondere Anstaltspatienten sterilisiert worden seien, sei zumindest bei diesen die Gefahr von solchen Fehlentscheidungen als nicht groß einzuschätzen.344 In der hinter dieser Politik stehenden Auffassung zeigte sich erneut die weiterhin vorhandene Überzeugung von der prinzipiellen Rechtmäßigkeit der nationalsozialistischen Eugenik. Da das GzVeN nicht als ein Verstoß gegen das Naturrecht gewertet wurde, ließen sich auch keine „Entschädigungsansprüche“ geltend machen.345 Dabei kam es allerdings im Einzelfall auch zu widersprüchlichen Argumentationen. So empfahl der Kasseler Regierungspräsident in einem Schreiben vom 14. Dezember 1955 an die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht, die Klage der finanzielle „Entschädigung“ beantragenden M. K. abzuweisen mit der Begründung: „Es wird nicht bestritten, dass die Sterilisation eine Unrechtstat des nationalsozialistischen Gewaltregimes darstellt. Für diese Maßnahme ist im Entschädigungsgesetz jedoch eine Entschädigung nicht vorgesehen.“346
343
Zu der Zahl der Anträge kamen noch 181 wegen Aufopferungsansprüchen und 1 634 „lediglich auf die Vornahme der Sterilisation gestützte Ansprüche“ hinzu, jeweils + x, da 10 000 Anträge nach dem BEG noch nicht entsprechend überprüft worden seien. Vgl. Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 58f., abgedruckt bei Dörner (1986a). 344 Vgl. Ebenda, S. 60. 345 Vgl. Schriftstück Nr. III 8 – 5292 a 2, Betreff Vollzug des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom 12.8.1949 (GVBl. S. 195); hier: Wiedergutmachung für durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Geschädigten vom 22.1.1950, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 346 Schreiben des Regierungspräsidenten in Kassel I/7 Az.: K-01422-17-II-H-Kn. vom 14.12.1955 bei H. u. M. K., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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Hatte der Stuttgarter Länderrat und die zweite Konferenz der Obersten Wiedergutmachungsbehörde in Bonn 1951 pauschale Leistungen für die Betroffenen abgelehnt,347 so beschäftigte sich seit 1959 der Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages nach einer zwei Jahre zuvor erfolgten Anfrage der SPD aufgrund einer Initiative der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Ärzte348 in kontroversen Diskussionen mit einer potentiellen „Entschädigung“ für die nationalsozialistischen Sterilisationsopfer. Das um Stellungnahme gebetene Diakonische Werk lehnte eine solche ebenso ab wie der Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten.349 Die abschließenden Beratungen des BEG schlossen sie 1965 explizit von jeglichen Leistungen aus;350 das Bundesfinanzministerium formulierte, eine Entschädigung von „Geisteskranken, Schwachsinnigen und schweren Alkoholikern“, unter welche es die Mehrheit der Zwangssterilisierten subsumierte, sei nicht zu vertreten.351 In der voraus gegangenen Expertenanhörung saßen als Sachverständige hohe Vertreter der nationalsozialistischen Eugenik wie Werner Villinger, die mit ihrer Verteidigung des GzVeN und der Ablehnung jeglicher finanzieller Leistungen für die Betroffenen erneut Forderungen nach einem neuen Sterilisationsgesetz verbanden.352 Auch von Bodelschwingh äußerte in einem Brief diesen Zusammenhang explizit: „In Bonn waren wir uns nach eingehender Aussprache völlig darüber klar, dass es ein unsinniges Ding sei, heute Menschen als durch dieses Gesetz zu Unrecht Behandelte zu entschädigen und vielleicht morgen in die Notwendigkeit gesetzt werden, dieselben Menschen unter ein neues Eugenik-Gesetz zu stellen.“353 Villinger betonte die Rechtmäßigkeit der damaligen Verfahren auch mit dem Hinweis, es seien „die erdenklichsten 347
Vgl. Schreiben Staatsministers Zietsch, Bayerisches Finanzministerium, an das Landtagsamt München vom 3.8.1951, Betreff Eingabe des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. München, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 348 Auch die „Notgemeinschaft Deutscher Ärzte e. V.“ engagierte sich für Zwangssterilisierte, so im Beitrag „Sterilisation und Menschenrecht“ im Sprachrohr/Bund der Opfer des Faschismus, München o. J. [ca. 1959/60]. 349 Vgl. Kaminsky (2004), S. 63f. Dabei ging v. Bodelschwingh von einem kleinen Kreis von zu entschädigenden Betroffenen aus, welcher aber aufgrund des enormen bürokratischen Aufwands aus der Gesamtgruppe der Sterilisierten kaum zu ermitteln sei. Er empfahl die Einrichtung einer Studienkommission, welche sich mit diesen Fragen befassen sollte. Vgl. Brief von v. Bodelschwingh an den Ministerialdirektor im Finanzministerium Feaux de la Croix vom 7. September 1962, abgedruckt in Hochmuth (1997), S. 363f. Zur Diskussion vgl. auch Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 598ff. 350 Vgl. hierzu Surmann (2005). 351 Vgl. 136. Sitzung des Deutschen Bundestages, 17.11.1967; vgl. auch 246. Sitzung 2.6.1976. 352 Zum Gang der Argumentation vgl.: Neppert (1997); Goschler (2005), S. 273ff. 353 Vgl. Brief von von Bodelschwingh an den Oberkirchenrat in der Außenstelle der EKD in Bonn, Dibelius, vom 19. November 1962, abgedruckt in Hochmuth (1997), S. 365f.
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Anstrengungen gemacht worden [...], mit diesen Kranken und Abartigen selber und mit ihren Angehörigen zu sprechen, so eingehend zu sprechen, dass auch sämtliche Familienmitglieder alles vorbringen konnten, was sie auf dem Herzen hatten.“354 Die Stigmatisierung der Zwangssterilisierten und eine weitgehende Fehleinschätzung der nationalsozialistischen Sterilisationspolitik ziehen sich – neben den bereits beschriebenen ideologischen Kontinuitäten – wie ein roter Faden durch Stellungnahmen, politische Diskussionen und Reaktionen der von den Betroffenen angeschriebenen „Wiedergutmachungsbürokratie“.355 Obwohl in den politischen Beratungen der 1950er und 1960er Jahre und in Bundestagsanfragen der folgenden Jahre ebenso wie in medialen Beiträgen Stimmen laut wurden, welche die durch den Eingriff erfolgte Entwürdigung der Betroffenen hervorhoben und sich für breite „Entschädigungsleistungen“ aussprachen, konnten diese sich nicht durchsetzen.356 Erst seit den 1980er Jahren werden – auch aufgrund zahlreicher regionaler Initiativen, einem gewachsenen Bewusstsein gegenüber den bislang ausgegrenzten Opfergruppen des Nationalsozialismus insgesamt und den Aktivitäten der Interessenorganisation der Betroffenen357 – den Zwangssterilisierten Einmalzahlungen und geringe laufende Leistungen nach dem AKG ohne Rechtsanspruch gewährt. Constantin Goschler hält hierzu fest: „Für die Betroffenen besaßen die Leistungen nach dem AKG einen geringeren symbolischen Stellenwert, da mit ihnen keine Anerken354
Zitiert nach Goschler (2005), S. 273. Vgl. hierzu auch Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991), S. 1371f. 355 Für Beispiele zu letzterem vgl. Simon (1998), S. 195ff. 356 Biesold (1988), S. 168ff.; Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 598ff.; Goschler (2005), S. 275ff.; Tümmers (2009), S. 517ff. Für mediale Beiträge, die sich für eine „Entschädigung“, für alle Betroffenen oder einen Teil, aussprachen vgl. zum Beispiel Schröder (1947); ÄM Nr. 48, 1962, S. 2515ff. In der Konferenz der Obersten Wiedergutmachungsbehörden 1951 beantragte das Land Württemberg-Baden Einmalzahlungen für Sterilisierte in Höhe von 3 000 DM. Auch in Nordrhein-Westfalen habe es ähnliche Überlegungen zur „Entschädigung“ der Eugenikopfer gegeben, vgl. Romey (1987), S. 17 (Anmerkung 4). Eine Mitteilung vom 26.9.1951 über eine Sitzung des Rechts- und Verfassungsausschusses des Bayerischen Landtages vom 20.9.1951, in dem eine Eingabe des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet bezüglich „Wiedergutmachungsforderungen“ verhandelt wurde, berichtet von kontroversen Diskussionen darüber, ob die Sterilisierung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle. Vgl. BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 357 So fanden die Zwangssterilisationen und die Frage der „Entschädigung“ der Betroffenen in den 1980er Jahren auch verstärkte Aufmerksamkeit in den Medien. Vgl. z. B. „Vergessene Nachhut“, Der Spiegel 46, 1986, S. 108b-111 [http://wissen.manager-magazin.de/wissen/ dokument/dokument.html?id=13520645&top=SPIEGEL]; „Geldverschwendung an Schwachsinnige und Säufer“, Die ZEIT 18, 1986, S. 18 [http://www.zeit.de/1986/18/ Geldverschwendung-an-Schwachsinnige-und-Saeufer]; „Für Schmerzen und Schmach“, Die Zeit 21, 1986, S. 15 [http://www.zeit.de/1986/21/Fuer-Schmerzen-und-Schmach]; „Agonie ohne Ende“, Die ZEIT 8, 1989, S. 84 [http://www.zeit.de/1989/08/Agonie-ohne-Ende].
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nung als ‚Verfolgte des Nationalsozialismus’ verbunden war – es handelte sich gewissermaßen um eine ‚Entschädigung zweiter Klasse‘.“358 Seit 1980 erhalten die Betroffenen, die ihre Sterilisation glaubhaft machen können, auf Bundesebene eine Einmalzahlung von 5 000 DM, ohne Nachweis eines nachhaltigen Gesundheitsschadens. Gleichzeitig war eine Vereinbarung mit der Oberfinanzdirektion zu unterschreiben, in der festgestellt wurde, dass „[m]it der Zahlung des […] Betrages […] der Berechtigte wegen aller Ansprüche aus der Sterilisation angemessen, endgültig und abschließend abgefunden [ist]. Für den Fall einer anderweitigen gesetzlichen Regelung ist diese Zahlung auf die Entschädigung anzurechnen.“359
Nach einer Anhörung von Betroffenen und Experten im Bundestag360 wird seit 1988 auch eine geringe monatliche Beihilfe (von 100 DM) gewährt, bis zu einer Überarbeitung zwei Jahre später musste hierfür allerdings noch ein ärztlich bescheinigter sterilisationsbedingter Gesundheitsschaden von 40 Prozent vorliegen. Seit 1990 bekommen Zwangssterilisierte eine monatliche Rente von 100 DM (für Heimbewohner in bestimmten Fällen 200 DM), seit 1998 von 120 DM. 2004 erhöhte sich die Beihilfe auf 100 € monatlich; seit dem 1. Januar 2006 beträgt sie 120 €. Darüber hinaus können bei Nachweis einer finanziellen Notlage höhere laufende Beihilfen beantragt werden. Auf Landesebene gibt es zum Teil weitere Regelungen, sowohl von landespolitischer Seite als auch durch regionale Stiftungen.361 Auch wenn seit den 1980er Jahren finanzielle „Entschädigungen“ möglich waren, mussten die Betroffenen bei der Beantragung darüber hinausgehender Forderungen oftmals Formulierungen von Seiten der „Entschädigungsbürokratie“ hinnehmen, die in ihrer Rekurierung auf die geltende Rechtslage eine deutliche Distanzierung von den Zwangssterilisationen sowie Empathie mit den Betroffenen weitgehend vermissen ließen. Frau B., die versucht hatte, Aufopferungsansprüche gegen das Land Nordrhein-Westfalen geltend zu machen, bekam im April 1989 eine Antwort aus dem Haus des Kölner Regierungspräsidenten. Hierin hieß es unter anderem, das GzVeN habe einen Entschädigungsanspruch nicht vorgesehen, denn: „Es hat für alle Bürger oder einen bestimmten Kreis von ihnen eine gleiche Pflichtenlage vorgesehen […]; es hat damit dem einzelnen kein von 358
Goschler (2005), S. 214. Schreiben der Oberfinanzdirektion Koblenz, Bundesvermögensabteilung, VV 5027 – Ster. 18 101 – BV 34 2, bei F. M., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 360 Zur bundespolitischen Debatte der 1980er Jahre vgl. auch Incesu/Saathoff (1988). 361 Vgl. hierzu und zur Entwicklung Bingen (1994); Neppert (1997); Surmann (2005); Goschler (2005), S. 300ff. 359
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den übrigen nicht gefordertes Opfer auferlegt. Das Gesetz mutete allen von ihm Betroffenen zu, die allgemeinen und regelmäßigen Folgen des Eingriffs – auch hinsichtlich Ihres Wohlbefindens, Ihres Familiensinns und Ihrer persönlichen Schicksalsgestaltung – ohne jede Entschädigung hinzunehmen.“362
Aufopferungsansprüche könnten nur hergeleitet werden, wenn die Zwangssterilisation zu Folgen geführt habe, „die das normale Maß nicht unerheblich überschritten haben.“ Solche Schäden müssten durch ein fachärztliches Attest nachgewiesen werden: „Es muss darin festgestellt werden, dass Sie gesundheitliche Schäden erlitten haben, die über die normalen Folgen, psychischen Folgeerscheinungen und altersbedingt häufig auftretenen Spätfolgen einer Sterilisation hinausgehen.“ Auch hierbei könne dann allerdings nur ein Ausgleich für erlittene materielle Schäden, nicht für immaterielle gewährt werden.363 Wie viele Zwangssterilisierte – nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes lebten 1985 im Bundesgebiet noch etwa 95 000, 1996 noch 55 000364 – solche „Entschädigungen“ erhalten haben, lässt sich nicht genau beziffern, die angegebenen Zahlen liegen zwischen 13 000 und 16 000,365 eine geringe Menge angesichts von 300 000 bis 400 000 Betroffenen. Viele Zwangssterilisierte dürften dabei kaum von den finanziellen „Entschädigungsmöglichkeiten“ Kenntnis erlangt haben.366 Eine förmliche Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus fand bis heute nicht statt.
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Brief vom Regierungspräsidenten Köln vom 26.4.1989 bei M. B., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 363 Ebenda. 364 Vgl. Stellungnahme des Bundesministers der Justiz an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. 11.1985, abgedruckt bei Dörner (1986a). Deutscher Bundestag: Drucksache 13/10284 vom 31.3.1998, http://dip.bundestag.de/btd/13/102/1310284.asc. 365 Vgl. Weindling (2007), S. 256f.; vgl. auch Surmann (2005), S. 208. 366 Vgl. hierzu auch Bingen (1994); Ody (1998).
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3. 2 Zur Entwicklung der Selbsthilfe- und Interessenorganisationen der Zwangssterilisierten Der Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten Bereits Ende der 1940er beziehungsweise Anfang der 1950er Jahre hatten sich zwei Betroffenenorganisationen gegründet,367 der „Verband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation“ in Wetzlar und Gießen368 sowie am 17. August 1950 der insbesondere in Süddeutschland aktive „Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V.“369 mit der „Bundeshauptzentrale“ in München370, der über verschiedene Zweigstellen in der Bundesrepublik371 verfügte.372 Wie viele Mitglieder von den beiden Verbänden vertreten wurden, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, der Zentralverband berichtete von 3 211 Neuaufnahmen gegenüber 74 Austritten im Jahr 1951.373 367 Johannes Vossen erwähnt zudem eine nicht näher bezeichnete, 1949 gegründete „Interessengemeinschaft der Sterilisierten“, welche sich Ende der 1940er Jahre mit finanziellen „Wiedergutmachungs“-Forderungen an die damalige Bundesregierung wandte. Vgl. Vossen (2001), S. 472. 368 Vgl. Friedrich (1950). 369 Der anfängliche Name lautete „Verband der Sterilisierten in Bayern, Württemberg und Baden e.V.“. In einem Briefkopf vom November 1950 ist die Bezeichnung „Zentral-Verband der Sterilisierten in Bayern, Württemberg, Baden und Rheinland-Pfalz“. Vgl. Brief von Kurt Königer an das Bayerische Staatsministerium der Finanzen vom 1.9.1950, Brief von Oskar Embacher an den Vizepräsidenten des Landesentschädigungsamtes in München vom 13.11.1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 370 Vgl. Brief des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. vom 17.3.1952, bei H. F., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 371 So in Alsdorf bei Aachen und in Gießen. Vgl. Brief des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V., Zweigstelle Alsdorf bei Aachen vom 2.11.1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V. – Gießen/Lahn, undatiert (1951), bei H. und M. K., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 372 Laut der ersten Satzung vertrat der Verein alle seit 1933 Sterilisierten. Vgl. Satzung des Verbandes der Sterilisierten in Bayern, Württbg. und Baden e. V. vom 17.8.1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. Von Beginn an gibt es in den Notizen und Äußerungen des bayerischen Landesentschädigungsamtes Vorbehalte insbesondere gegen den Vorsitzenden Kurt Königer. Diese dürften sich auch auf Form und Inhalt der Äußerungen Königers beziehen. Seine „Berichterstattung über den Verlauf der Gründungsversammlung“ beinhaltet beispielsweise einige grammatikalische und orthografische Fehler. Vgl. Brief von Kurt Königer an den Herrn Präsidenten Dr. Auerbach beim Landesentschädigungsamt Wiedergutmachung, München vom 18.8.1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 373 Vgl. Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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Die Arbeit der Interessenverbände erstreckte sich auf die Unterstützung der Betroffenen bei individuell vor Gericht angestrebten Wiedergutmachungsforderungen, Versuche, öffentlichkeitswirksam Forderungen nach „Entschädigung“ und Strafverfolgung der Täter zu stellen,374 gegen ein neues Sterilisationsgesetz zu argumentieren sowie die Perspektive der Zwangssterilisierten sichtbar zu machen. Daneben unterstützte der Zentralverband offensichtlich auch einzelne Betroffene in Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen.375 Der „Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord“ schreibt in einem Brief aus dem Jahr 1951, der sich an neu aufzunehmende Mitglieder richtet, man habe es sich zur Aufgabe gemacht, „die Interessen des betroffenen Personenkreises wahrzunehmen, gegebenenfalls anwaltlich vor den Instanzen zu vertreten.“376 Die einmalige Aufnahmegebühr betrug 2,50 DM, der monatliche Beitrag 1 DM. Betont wurde in diesem Zusammenhang auch die Diskretion: „Es ist für uns selbstverständlich, dass es uns bei der Wahrnehmung Ihrer Interessen unsere vornehmste Pflicht ist, jeden einzelnen Fall streng vertraulich und diskret zu behandeln.“377 Hieraus lässt sich nicht zuletzt auf die offensichtlich weiterhin wahrgenommene Stigmatisierung durch die Zwangssterilisation schließen. Als Ziel der Aktivitäten, welche unter anderem aus Eingaben an Bundesund Landesregierungen bestanden, werden gesetzlich geregelte „Wiedergutmachungszahlungen“ genannt. In dem Brief findet sich zudem ein Hinweis auf die Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes: „Die wiederholten Aufrufe und Hinweise durch die Presse und im Rundfunk haben nicht nur in unseren Kreisen, sondern darüber hinaus überall an maßgebender Stelle einen außergewöhnlich guten Widerhall gefunden und der laufend anhaltende Eingang von Anfragen und Anmeldungen 374 Die Münchener Medizinische Wochenschrift berichtet 1950, der „Verband der Sterilisierten und Sterilisationsgegner“ habe gegen alle an Sterilisationen im Nationalsozialismus beteiligte Ärzte Strafanzeige gestellt und auch den internationalen Gerichtshof in Den Haag hierzu angerufen. Vgl. Münchener Medizinische Wochenschrift 92 (1950), 29/30, S, 1259. 375 Im Fall von Herrn S. beispielsweise wird, nachdem sein Antrag in der ersten Instanz vom Amtsgericht Hagen abgelehnt worden war, vom Zentralverband ein eigener Sachverständiger in München benannt, der ein Gutachten über ihn erstellt. Dieser Gutachter, der den diskutierten „angeborenen Schwachsinn“ verneint, gibt bezüglich seiner Qualifikation an, als ehemaliger Leiter des Gesundheitsamtes habe er „zahlreiche Schwachsinnsfälle vor den Erbgesundheitsgerichten“ begutachten müssen. Das Oberlandesgericht weist den Antrag zurück. Landesarchiv NRW - Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 737. 376 Schreiben des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V. – Gießen/Lahn, undatiert (1951), bei H. und M. K., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 377 Ebenda.
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beweist, welche wichtige Aufgabe wir übernommen und durchzuführen haben.“378
Welche maßgebenden Stellen hierbei gemeint sind, bleibt unklar. Tatsächlich erfuhr der Verband, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, sowohl eine grundsätzliche Unterstützung und Akzeptanz von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als auch deutliche Ablehnung und Diffamierung. Im „Berliner Gesundheitsblatt“ aus dem Jahr 1950 finden sich im Rahmen einer längeren Debatte über eine „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwei Beiträge des Verbandes der Sterilisierten, die sich unter anderem gegen eine vom West-Berliner Gesundheitsamt beantragte Sterilisation eines 22 jährigen „schwachsinnigen Mädchens“ wandten.379 Beide Texte, die, so lässt sich vermuten, bewusst mit grammatikalischen und orthografischen Fehlern abgedruckt worden waren,380 erhoben Forderungen nach Zahlung von „Wiedergutmachungsleistungen“ und der Bestrafung der in den Prozess der nationalsozialistischen Zwangssterilisation involvierten Mediziner und Juristen.381 Das zweite Schreiben, von dem sich die Redaktion in Teilen distanzierte, ging ausführlich auf die Zwangssterilisation und ihre Folgen ein. Die hierbei genannten Zahlen und geschilderten Leiden der Betroffenen scheinen dabei interessenspolitischen Motiven geschuldet, so ist von zwei Millionen Sterilisierten die Rede.382 Als Argument für die Unzulässigkeit von Zwangssterilisationen und die Forderung nach „Entschädigung“ wurde auf die Grenzen des staatlichen Verfügungsrechtes gegenüber dem Individuum verwiesen: „Niemand hat das Recht, in die persönlichen Rechte und deren Freiheit einen Eingriff vorzunehmen, ganz gleich wer es tut, hat für die Folgen und Schäden aufzukommen und in diesem Sinn hat auch der nationalsozialistische Staat für seine Schäden aufzukommen.“383
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Ebenda. Zu dem Prozedere der Beantragung einer Sterilisation in Berlin vgl. auch Traenckner, Erfahrungen, S. 6. Vgl. zu dem Fall auch Habenicht (1950). Auch der „Spiegel“ berichtete – unkritisch – über die geplante Sterilisation, vgl. N. N. (1950). Auf den Bericht antwortete in einem Leserbrief unter anderem Vogeler (1950), der sich entschieden gegen die geplante Sterilisation aussprach und die nationalsozialistischen Zwangssterilisationen kritisierte. 380 So auch Hahn (2000), S. 56-60. 381 Verband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation (1950), S. 436; Friedrich (1950), S. 507f. 382 Auch die inhaltliche Argumentation ist nicht immer nachvollziehbar. Vgl. Friedrich (1950), S. 507f. Zugleich scheint zeitgenössisch von einer hohen Zahl von Sterilisationen im „Dritten Reich“ ausgegangen worden zu sein, Brühl (1951) spricht von etwa 1,5 Millionen. 383 Friedrich (1950), S. 508. 379
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Zwei der Leserbriefe, die sich in den folgenden Ausgaben des „Berliner Gesundheitsblattes“ an der Diskussion über eugenische Sterilisationen beteiligten, nahmen Bezug auf die Äußerungen der Betroffenenorganisation. Die Autoren diffamierten hierbei den Verfasser unter anderem mit dem Hinweis, man könne „sehr gut vom Stil des Schreibers auf seine geistigen Eigenschaften schließen.“384 Franz Neukamp, vorsitzender Richter in Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen am Amtsgericht Bielefeld, konstatierte hierbei einen generellen „schädlichen Einfluss des Gießener Verbandes und des sogenannten Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten e.V. in München“.385 An anderer Stelle legte er dar, „dass es sich bei den Leitern dieses Verbandes um völlig unwissende und ungebildete Menschen“ handle.386 Dabei pathologisierte er in einem patriarchalischen Duktus die Zwangssterilisierten insgesamt und kriminalisierte die Arbeit der Interessenverbände: „Die geradezu verbrecherische Agitation dieser Verbände, die die Unerfahrenheit und die Lage der Unfruchtbargemachten gewissenlos ausbeuten und bei ihnen eine Rentenpsychose erwecken sollte, [sic] schnellstens unterdrückt werden, weil sich diese Agitation für die Erbkranken schädlich auswirkt.“387 In der Diskussion im „Berliner Gesundheitsblatt“ sprach sich die Mehrheit der Beiträger für eugenische Sterilisationen aus, wobei der Zwangscharakter zumeist intendiert war.388 Gegen eine Zwangssterilisation argumentierten unter anderem Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche, insbesondere mit dem begrenzten Verfügungsrecht des Staates über das Individuum. Hierbei wurde nicht das Ziel, die Verhinderung der Fortpflanzung von „Erbkranken“, abgelehnt, sondern lediglich die Mittel. Statt einer Sterilisation befürworteten sie eine dauerhafte Anstaltsunterbringung der Betroffenen, nicht zuletzt um die Gefahr zu bannen, dass diese „Minderwertigen“, bei denen sich ein „hemmungsloser Geschlechtstrieb“ zeige, zu einer gesundheitlichen und sittlichen Gefahr für die Gemeinschaft würden.389
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Graf (1950). Neukamp (1951), S. 251. 386 Archiv Oberlandesgericht Hamm, 6234 I, Bd. 1,fol. 33f., abgedruckt bei Simon (1998), S. 207-209, hier S. 208. Hierbei verwechselt der Autor offensichtlich den Name des Verbandes, er spricht vom Verband der Sterilisierten und Sterilisationsgegner. 387 Ebenda, S. 208. 388 Zehlendorf (1950); Nachtsheim (1950); Neukamp (1951). Gegen eine zu weitgehende Regelung der „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sprachen sich Meyer (1950) und Bormann (1950) aus, wobei sie vor allem mit den noch mangelhaften wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Genetik argumentierten. 389 Puchowski (1950); v. Arnim (1950). 385
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Im Dezember 1950 fand im Münchner Hofbräuhaus eine Veranstaltung des Zentralverbandes der Sterilisierten statt, an der zwischen 500 und 800 Personen teilnahmen. Neben zahlreichen Betroffenen und dem Vorsitzenden des Gießener Vereins waren Vertreter politischer und gesellschaftlicher Gruppen anwesend und unterstützen die Forderungen der Zwangssterilisierten, so ein Vertreter der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), ein sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter, der Vorsitzende des Landesverbandes der bayerischen Gehörlosen, der Leiter des Caritasverbandes sowie ein Vertreter des Bayerischen Hilfswerks. Andere politische und gesellschaftliche Gruppierungen ließen Grußworte verlesen.390 Auch zahlreiche Medien waren offensichtlich vor Ort. Wenngleich aus Grußworten und Bekundungen kaum Rückschlüsse auf die tatsächliche Unterstützung gezogen werden können, so belegt die breite Teilnahme der Genannten eine zumindest partiell positive Wahrnehmung der Betroffenen.391 Der Vorsitzende des Zentralverbandes, Kurt Königer, kritisierte in seiner Rede unter anderem Pläne für ein neues Sterilisationsgesetz und stellte einen – in der darauffolgenden Abstimmung einstimmig angenommenen – Gesetzentwurf für „Wiedergutmachungsleistungen“ für die Zwangssterilisierten vor, in dem eine Gleichstellung mit den als „rassisch“, religiös und politisch Verfolgten, eine monatliche Rente von 80 DM bei einer Erwerbsminderung um 30% sowie eine einmalige, einkommensabhängige Zahlung von 1 000 bis 5 000 DM gefordert wurden.392 Der Vorsitzende des Gießener Verbandes wies am Ende seines Beitrages auf die interessenpolitische Situation der Betroffenen hin:
390 So die evangelische und katholische Kirche, der Verband für „Freiheit und Recht“, die Bayernpartei und die CSU. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Protokoll über die am Sonntag, den 3. Dez. 1950, um 10 Uhr, stattgefundene Großveranstaltung des Zentralverbandes der Sterilisierten im Saal des Hofbräuhauses, München, Am Platzl, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. Das Protokoll scheint dabei von einem Verbandsvertreter angefertigt worden zu sein, es liest sich sehr positiv. Bezüglich der Tumulte wird lediglich ein missglückter Versuch, die Veranstaltung zu stören, kurz erwähnt. 391 So sprach der Vorsitzende des Verbandes 1950 auch „zum Tage der Opfer des Faschismus“. Vgl. Ansprache des 1. Vorsitzenden des Verbandes der Sterilisierten von Bayern, Württemberg und Baden zum Tage der Opfer des Faschismus 1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 392 Dabei sind einige der Darstellungen Königers nicht ganz zutreffend. So bezeichnet er das GzVeN als Nürnberger Gesetz, verweist auf einschlägige internationale und kirchliche Proteste hiergegen und beziffert die Zahl der Betroffenen mit 3,5 Millionen. Auch der Vorsitzende des Gießener Verbandes, Oskar Friedrich bezeichnet das GzVeN als „Blutschutzgesetz“, beschreibt die Sterilisationsgesetze in anderen Ländern als auf Freiwilligkeit beruhend und gibt an, die Kirchen stünden völlig hinter den erhobenen Forderungen. Vgl. hierzu die vorherigen Kapitel dieser Arbeit.
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„Und mögen auch noch so viele Stellen dagegen laufen, so wird es uns doch gelingen, im Bundesgebiet eine starke Organisation aufzubauen.“393 Die Veranstaltung scheint im Anschluss an die Rede Königers durch interne Auseinandersetzungen massiv gestört worden zu sein.394 Auslöser sei der Versuch gewesen, „betrügerische Machenschaften“ des Vorsitzenden aufzudecken.395 „Unter dem Eindruck der Schlägerei, die eine große Menschenmenge vor das Hofbräuhaus herbeilockte, haben eine Anzahl Mitglieder beschlossen, einen neuen Schutzverband ins Leben zu rufen.“396 Ein anwesender Vertreter des Landesentschädigungsamtes beschrieb einen „offenen Tumult“, „so dass das Überfallkommando eingreifen musste. Ich hatte deshalb selbst auch keine Gelegenheit mehr, mich zu dem Thema zu äußern, was gegenüber 800 mehr oder weniger schwachsinnigen und sehr erregten Menschen ohnehin schwierig gewesen wäre. Immerhin hat offenbar auch die Presse den Eindruck gewonnen, dass dieser Verein noch nicht die nötige Solidität und Reife besitzt, um als Verhandlungspartner ernst genommen zu werden.“ 397 Die Vorwürfe gegen den Vorsitzenden Königer sowie weitere innerverbandliche Auseinandersetzungen zwischen dem Vorstand und seinem (ehemaligen) 393 Vgl. Protokoll über die am Sonntag, den 3. Dez. 1950, um 10 Uhr, stattgefundene Großveranstaltung des Zentralverbandes der Sterilisierten im Saal des Hofbräuhauses, München, Am Platzl, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 394 Sowohl in einer Meldung der, vermutlich „Süddeutschen Zeitung“ vom 4. Dezember 1950 als auch in einer Notiz des anwesenden Vertreters des bayerischen Landesentschädigungsamtes finden sich entsprechende Berichte. 395 Möglicherweise bezieht sich eine Aussage des VVN-Vertreters bei der Mitgliederversammlung hierauf: „Auch in den Reihen der VVN sind Mitglieder aus dem Kreise der Sterilisierten, und es besteht die Forderung und die Hoffnung, daß der Verband der Sterilisierten in Zukunft auf einer gesunden und moralischen Grundlage seinen Ruf und seine Forderungen vertreten kann.“ Auch der SPD-Abgeordnete riet, „gewisse Differenzen“ innerhalb des Verbandes zu überwinden, „damit man den politischen Strömungen keine Möglichkeit gibt, ein Kampffeld zu finden.“ Vgl. Protokoll über die am Sonntag, den 3. Dez. 1950 um 10 Uhr stattgefundene Großveranstaltung des Zentralverbandes der Sterilisierten im Saal des Hofbräuhauses, München, Am Platzl, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 396 Vgl. die entsprechende Notiz im BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 397 Weiter berichtete er von „demagogischen Forderungen“ Königers und Angriffen gegen die bayerische Landesregierung. Königer hatte laut Protokoll gesagt, lediglich die Länder Württemberg, Baden und Rheinland-Westfalen hätten sich der Sterilisierten angenommen, der bayerische Staat demgegenüber nicht, lediglich einzelne Parteien und die jüdische Gemeinde hätten Interesse gezeigt. Vgl. Notiz für Herrn Präsidenten Dr. Auerbach, Betreff: Verband der Sterilisierten vom 4.12.1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70.
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Geschäftsführer Embacher sind in einem umfangreichen Schriftverkehr für den Zeitraum Juli bis Dezember 1950 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv dokumentiert.398 Laut Mitteilung in verschiedenen Schriftstücken soll Königer wegen diverser Delikte, darunter Diebstahl und Beleidigung, vorbestraft gewesen sein, weitere Strafverfahren seien anhängig gewesen. Gegen ihn wurde vom Landesentschädigungsamt Strafanzeige gestellt, nicht zuletzt da Betroffene sich über den Zentralverband, seine Versprechungen über zu erwartende „Wiedergutmachungsleistungen“ und finanzielle Forderungen in Form von Aufnahmeund Mitgliedsgebühren, beschwert hatten.399 In der „Süddeutschen Zeitung“ warnte der Präsident des Landesentschädigungsamtes Auerbach vor Zahlungen an den Verband, in einem Brief an den Bayerischen Rundfunk bat er, von Veröffentlichungen, die durch Königer angetragen würden, abzusehen.400 Der genaue Vorgang, die juristischen Entscheidungen und die weitere Entwicklung des Verbandes lassen sich aufgrund fehlender oder noch gesperrter Quellen401 nicht rekonstruieren. Bestätigen einige Aussagen im Kontext der Vorgänge um den Zentralverband die Vorurteile und erneute Stigmatisierung der Zwangssterilisierten, so deutete sich von Seiten des bayerischen Entschädigungsamtes eine grundsätzliche Unterstützung dieser Opfergruppe an.402 Die auch hier paternalistische Einstellung Auerbachs gegenüber den Betroffenen wird insbesondere in einem Schreiben an das Polizeipräsidium München vom Oktober 1950 deutlich. Hierin bat er um Ermittlungen bezüglich der Geschäftstätigkeit des Verbandes, „[…] da der Verdacht besteht, dass die sehr zahlreichen Opfer der Sterilisation, welche teilweise eine nur geringe Urteilskraft besitzen, über den nicht-behördlichen Charakter und die Möglichkeiten dieses Verbandes zur Erwirkung von Rentenzahlungen getäuscht werden. Gegen einen
398 BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70; BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 399 Noch im Oktober 1952 erreicht die Bayerische Landesregierung ein solcher „Beschwerde“-Brief, vgl. Schreiben von W. S. eingegangen bei der Bayerischen Staatskanzlei am 24.10.1952, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 400 Vier Tage zuvor datiert ein Schreiben Embachers an Auerbach, in dem er eine solche Mitteilung an die Medien vorschlägt und bezüglich seiner Vorwürfe Beweise ankündigt. Vgl. Brief von Dr. Auerbach an den Intendanten des Bayerischen Rundfunks vom 30.10.1950, Betreff: Verband der Sterilisierten; Vorsitzender Kurt Königer, und eine undatierte Notiz aus der Süddeutschen Zeitung, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 401 Ein eigener Aktenbestand über Königer im BayHStA unterliegt der Sperrfrist bis 2010. 402 Vgl. auch ein Schreiben von Auerbach an das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 25.1.1947 mit dem Betreff Wiedergutmachung für Erbkranke, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70.
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Zusammenschluss der Sterilisierten besteht von hier aus keine Bedenken, soweit sich dieser Verband auf die unentgeltliche Beratung und freiwillige Zuwendungen beschränkt; diese Bedenken müssen aber erhoben werden, wenn der Versuch gemacht werden sollte, aus den Opfern der Sterilisation ein Geschäft zu machen.“403
In einem Schreiben an das Innenministerium gab er an, eine medizinische und juristische Überprüfung der Fälle sei unter Umständen wünschenswert. Die von privaten Vereinigungen erhobenen Forderungen seien aber zum Teil erheblich übertrieben.404 Die finanziellen Forderungen der Betroffenenorganisation waren dabei immer wieder Anlass für deutliche Kritik von unterschiedlichen Seiten. So urteilte beispielsweise der Nürnberger Oberlandesgerichtspräsident 1951, die Tätigkeiten des Zentralverbandes könnten bei den Betroffenen möglicherweise eine „Rentenneurose“ oder eine Verschlimmerung des psychischen Zustandes hervorrufen.405 In einem zweiseitigen „Mitteilungsblatt“ des Zentralverbandes vom September 1952406 wird über eine Generalversammlung vom August desselben Jahres berichtet, die unter Beteiligung von Verbandsanwälten und einem Vertrauensarzt „sachlich und harmonisch“ abgelaufen sei. Hierbei habe der Bundesvorsitzende auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, „durch den Zusammenschluss mit allen übrigen Geschädigten- und Interessenverbänden den Frieden der Nation zu erhalten.“407 Weiter werden bestehende Vorbehalte gegenüber den Betroffenen und ihren Forderungen angesprochen: 403
Brief von Auerbach an das Polizeipräsidium, Kriminaluntersuchungsabteilung, München vom 17.10.1950, Betreff Verband der Sterilisierten in Bayern, Württemberg, Baden und Rheinland-Pfalz, München, Karlstr. 13/2, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 404 Brief von Dr. Auerbach an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 5.10.1950, Betreff Wiedergutmachung für Sterilisierung, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 405 Brief des Oberlandesgerichtspräsidenten an das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 13.4.1951, 6234 – II, Betreff Erteilung von Auskünften aus den Akten der Erbgesundheitsgerichte, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. 406 Zum Folgenden vgl. Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 407 Diese Aussagen dürften insbesondere vor dem Hintergrund der Mitgliederversammlung im Dezember 1950 und dem offensichtlich weiterhin bestehenden Konkurrenzverhältnis zwischen dem Zentralverband in München und dem Gießener Verband gemacht worden sein. Hierzu hält eine Aktennotiz vom August 1950 vor dem Hintergrund der Gründung des Münchener Verbandes fest: „Mit dem in Gießen gegründeten Verband, welcher die Zuständigkeit für das gesamte Bundesgebiet in Anspruch nimmt, sind bereits Verbindungen aufgenommen.
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„Die gesetzliche Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus dürfe den Opfern seines bevölkerungspolitischen Terrors am allerwenigsten versagt werden. Deshalb werde der Zentralverband stets in Opposition gegen jene unbelehrbaren und reaktionären Kräfte stehen müssen, welche die erbgesundheitsgeschädigten Zwangssterilisierten nicht im Sinne einer bevölkerungspolitischen Verfolgung anzuerkennen wünschen.“408
Der Bundesbeauftragte für Wiedergutmachung habe versichert, ein Bundesgesetz für Sterilisierte sei in Angriff genommen. „Die von uns geforderte Miteinbeziehung der sog. Erbkranken bereite zwar dem Gesetzgeber besondere Schwierigkeiten. An deren Beseitigung dem Verbande durch eine wirksame Aufklärungsarbeit der Hauptanteil zufalle.“409 [Herv. i. O.] Aus diesen und weiteren Formulierungen lassen sich Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Verbandes ziehen. Die hier organisierten Zwangssterilisierten verstanden sich offenbar dezidiert als politische Opfer des „Dritten Reichs“.410 Für die Gruppe der im Nationalsozialismus aufgrund tatsächlicher erblicher Krankheiten Zwangssterilisierten, die im Selbstverständnis des Verbandes augenscheinlich eine Sondergruppe darstellten, habe man sich separat einzusetzen. Dieses in erster Linie politische Selbstverständnis, welches sich auch auf der sprachlichen Ebene, beispielsweise im Begriff des „Terrors“ ausdrückt, begegnet auch in den Aussagen des BEZ sowie in den Briefen von Betroffenen. Noch weiter wird die Gruppe der Zwangssterilisierten in der Aussage des Verbandsarztes ausdifferenziert. Er betont die Notwendigkeit, die Betroffenen hinsichtlich ihrer „Entschädigungsansprüche“ gemäß medizinischer Indikationen in drei Gruppen aufzuteilen. Nach welchen Kriterien dies konkret erfolgen sollte, bleibt offen. Auch hier scheint trotz des gemeinsamen Der Gießener Verband möchte den hier gegründeten Verband als Unterorganisation anerkennen, während Herr Königer seine Selbstständigkeit bei im Wesentlichen gleichgerichteten Zielen bewahren will.“ Aktenvermerk für Herrn Präsident Dr. Auerbach von Dr. von Fischer vom 30.8.1950, Betreff Verband der Sterilisierten, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 408 Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesunrüchendheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 409 Ebenda. 410 Vgl. auch ein Schreiben Königers u. a. an den Eingabeausschuss des Bayerischen Landtags vom 28. Juli 1948, Betreff „Eingabe bezüglich des Sterilisationsgesetzes vom Jahre 1935“, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. Hierin heißt es unter anderem: „Wir haben hier besonders jene Fälle im Auge, bei welchen Erbkrankheiten und ähnliches nicht mitsprach, sondern nur der pure Hass und die Gemeinheit der Schergen des Nazismus.“ Vgl. auch die Argumentation des Verbandes der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation bezüglich der Strafverfolgung von an Zwangssterilisationen beteiligte Mediziner in: Münchener Medizinische Wochenschrift 92 (1950), 29/30, S, 1259.
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Erfahrungshintergrundes des Erbgesundheitsgerichtsverfahrens, des Zwangseingriffs und der staatlichen Restriktionen nur begrenzt eine Gruppensolidarität zustande gekommen sein. Offensichtlich ging man davon aus, dass bei einigen die Sterilisation eher vertretbar war als bei anderen, dass es folglich unterschiedliche Grade an „Wiedergutmachungsberechtigung“ gebe.411 Im Weiteren thematisiert das „Mitteilungsblatt“ das Prozedere bei mit Unterstützung des Verbandes durchgeführten Rechtsverfahren zur Durchsetzung von „Wiedergutmachungs“-Ansprüchen. Die Formulierung „Nur eine fachgemäße Bearbeitung der einzelnen Wiedergutmachungsfälle wird die Zusammenarbeit mit den Wiedergutmachungsbehörden reibungslos und erfolgreich gestalten, wie dies mehrere bereits durchgeführte Fälle belegen konnten“412, weist auf erfolgte „Entschädigungszahlungen“ an Betroffene hin, wobei auch hier die Einzelheiten unklar bleiben. Das Blatt schließt mit der Aufforderung an ehemalige Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Hinweise über die Beteiligung des damaligen Oberarztes der Anstalt an der „Euthanasie“ mitzuteilen, da dieser Mediziner als ärztlicher Sachverständiger beim Amts- und Landgericht München tätig zu werden beabsichtige. Neben dem hierbei deutlich werdenden Bemühen, an NS-Verbrechen Beteiligte zu identifizieren, verweist der Aufruf auch auf die offensichtlich bereits in den 1950er Jahren gesehene Verbindung zwischen Eugenik und „Euthanasie“, die sich in der gemeinsamen Interessenvertretung der Betroffenen im BEZ wiederfindet. Insbesondere bei Patienten in psychiatrischen Anstalten wird die Verbindung greifbar, konnten diese doch zwangssterilisiert und/oder Opfer der „Euthanasie“ werden.413
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In einem im „Berliner Gesundheitsblatt“ 1951 abgedruckten Gesetzentwurf des Zentralverbandes werden ebenfalls verschiedene Gruppen innerhalb der Zwangssterilisierten skizziert. Allerdings werden aus dieser Binnendifferenzierung keine unterschiedlichen Ansprüche abgeleitet. Gefordert wird generell unter anderem eine einmalige „Entschädigungszahlung“ von 1 000 bis 5 000 DM. Vgl. Zentralverband der Sterilisierten und Gegner der Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet (1951). 412 Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 413 Vgl. auch den Namen des Organs des Zentralverbandes: „Der Notschrei – Kampf- und Aufklärungsorgan der durch Naziterror Verstümmelten, Gesundheitsgeschädigten und Euthanasiehinterbliebenen“. BEZ (1997), S. 87.
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Bereits im Jahr 1955 sind keinerlei Zeugnisse über die Organisationen der Zwangssterilisierten mehr vorhanden.414 Eine gemeinsame Opfergruppenidentität war, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines zum Teil weiterhin stigmatisierenden politischen Umgangs mit den Betroffenen und der regelhaften Abweisung von Anerkennungs- und „Entschädigungs“-Forderungen, offensichtlich zu gering, um eine wirksame Interessenvertretung zu ermöglichen. Die fehlende politische und gesellschaftliche Anerkennung und die mangelnde Distanzierung vom Unrechtscharakter jedweder Form von Zwangssterilisation führten so zu einer doppelten Isolation, im öffentlichen Raum ebenso wie im Umgang der Betroffenen untereinander. Durch die fortwirkende Akzeptanz von Kategorien der „Minderwertigkeit“ ebenso wie der Erbpathologie kam es, so ist zu vermuten, zur Herausbildung einer Art „negativen Identität“, die in der Zuordnung zur Gruppe der Zwangssterilisierten eine Stigmatisierung an sich sah.415 Weiter dürften auch die Herkunft einer überwiegenden Zahl von Betroffenen aus unteren sozialen Schichten und eine damit zusammenhängende Ungeübtheit in der rhetorischen und schriftlichen Auseinandersetzung mit Politik und Verwaltung eine Rolle gespielt haben. Trotz eines zumindest vordergründig vorhandenen anfänglichen Wohlwollens von Seiten diverser politischer und gesellschaftlicher Gruppen und einer relativ hohen Mitgliederzahl gelang es vor diesem Hintergrund nicht, interne Krisen zu überwinden und eine effektive und dauerhafte Interessenvertretung zu organisieren. Es sollte über dreißig Jahre dauern, bis sich mit dem BEZ erneut eine eigene und ungleich handlungsfähigere Opfergruppenvertretung gründete. Während in der Folge der Großteil der Zwangssterilisierten nach den zur Verfügung stehenden Quellen jahrzehntelang keinen Kontakt zu anderen Sterilisierten hatte, scheint dies nicht unbedingt für Betroffene gegolten zu haben, die als definierte Gruppe verfolgt wurden. Insbesondere bei Menschen, die auf-
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Bei den letzten aufgefundenen Zeugnissen des Zentralverbandes handelt es sich um eine Beschwerde gegen ein ablehnendes Urteil in einem Wiederaufnahmeverfahren, beziehungsweise eine Mitteilung bezüglich der Übersendung von Unterlagen vom Februar bzw. April 1954. Als Vorsitzender unterzeichnet, wie bereits in einem entsprechenden Schriftstück 1952 ein Fritz Bauer. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3656; Nr. 16086. (Das Schreiben von 1952 findet sich bei: Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 737). 415 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Horbans (1999), S. 118. „Die Geheimhaltung der genauen Vorgänge und die Verpflichtung zum Schweigen sowie die Enttäuschung durch Vertrauenspersonen trugen dazu bei, dass sich unter den nach dem GzVeN Sterilisierten keine Solidarisierung entwickeln konnte.“
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grund ihrer Gehörlosigkeit zwangssterilisiert wurden, gibt es Hinweise auf zumindest partiellen Austausch unter den Betroffenen.416 In Einzelfällen sind die Interessen der Zwangssterilisierten nach 1945 auch von anderen Organisationen von Opfern des Nationalsozialismus und Einzelpersonen vertreten worden. So beispielsweise vom Bund der Opfer des Faschismus (OdF) und von der VVN.417 Darüber hinaus nahm sich der OdF in seinem Publikationsorgan, dem „Sprachrohr – Notschrei“, wiederholt der generellen Thematik der Unrechtmäßigkeit der Zwangssterilisationen an. So wurde 1964 unter der Überschrift „Die Opfer der Zwangssterilisation fordern mit Recht eine Wiedergutmachung“418 über eine Denkschrift berichtet, die der Bundesvorstand dem Deutschen Bundestag und dem Ausschuss für Wiedergutmachung übergeben hatte und welche zudem an Parteien, juristische und medizinische Fachverbände, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und die europäische Opferverbände versandt worden sei. Auch in den Länderparlamenten und auf europäischer Ebene im Rahmen des Europäischen NS-Opferparlaments würde man sich hiermit befassen. Die Aussagen des „Sprachrohrs“ deuten darauf hin, dass sich der OdF explizit als Interessenvertretung der Zwangssterilisierten verstand, möglicherweise, wie auch die Verwendung des Begriffs „Gesundheitsgeschädigte“ und die Ähnlichkeit des Namens des Publikationsorgans nahe legen,419 als eine Art Nachfolgeorganisation des Zentralverbandes: „Die Opfer der Zwst. und dadurch Gesundheitsgeschädigten dürfen versichert sein, dass der Bundesvorstand unnachgiebig und unermüdlich für ihre Forderungen eintritt und ist er der Zuversicht, dass der Deutsche Bundestag auch diese Wiedergutmachungsforderung anerkennen wird.“420 Wenngleich in diesem Beitrag nicht explizit innerhalb der Opfergruppe der Zwangssterilisierten differenziert wurde, so deuten einige Äußerungen daraufhin, dass auch hier gewisse Hierarchisierungen statt fanden, beispielsweise in Bezug auf diejenigen, deren Urteil sich durch fachmedizinische Gutachten nach 1945 als eindeutig falsch erwiesen hatte. So wurde eine Position 416 Vgl. zum Beispiel Briefe von H. P. vom 8.7.1989 und 9.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Zu den zwangssterilisierten Gehörlosen vgl. auch Biesold (1988). 417 Der medizinische Beisitzer in Wiederaufnahmeverfahren des Hagener Amtsgerichts äußert die Vermutung, dass die Zahl der Wiederaufnahmeanträge „mit der mehr oder weniger regen Tätigkeit der VVN zusammen hängen könnte.“ Vgl. Vortrag von Medizinalrat Dr. Martinson, gehalten auf der Dienstversammlung der Kreisärzte in Iserlohn am 14.8.1950, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Wiederaufnahme Erbgesundheitsakte Nr. 16091. 418 Zum Folgenden vgl. Sprachrohr – Notschrei/Bund der Opfer des Faschismus, München, 9. Jg. 1964, S. 5. 419 Das entsprechende Organ des Zentralverbandes war „Der Notschrei – Kampf- und Aufklärungsorgan der durch Naziterror Verstümmelten, Gesundheitsgeschädigten und Euthanasiehinterbliebenen“. Vgl. BEZ (1997), S. 87. 420 Sprachrohr – Notschrei/Bund der Opfer des Faschismus, München, 9. Jg. 1964, S. 5.
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des Präsidenten der Bundesärztekammer wiedergegeben, wonach er empfahl, in den Fällen, in denen sich das Urteil der Erbgesundheitsgerichte durch Wiederaufnahmeverfahren als falsch erwiesen habe, eine Klage beim Bundesverfassungsgericht anzustreben. Hierbei lautet die Formulierung „[...] wo inzwischen durch Gerichtsurteile festgestellt werden konnte, dass die seinerzeitige Zwangssterilisation unbegründet, somit also zu unrecht erfolgt ist [...].“421 Im Beschlussantrag an das Zweite Europäische Parlament der Opfer des Nationalsozialismus des OdF vom 1. Juni 1966 wurde hingegen betont – wobei zuvor argumentiert worden war, dass „erbbiologische Gründe“ bei den Zwangssterilisationen oftmals „nur vorgetäuscht wurden“ – dass „[...] der Bund der Opfer des Faschismus e.V. in Deutschland und die Deutsche Liga für Menschenrechte e.V., mit Unterstützung durch das Präsidium der Federation International des Droits de l’ Homme, Paris schon seit 1954 und seitdem in vielfacher Wiederholung bis zur Gegenwart umfängliche und sorgsam begründete Eingaben und Anträge zur Einbeziehung aller Sterilisierten in den Kreis der Entschädigungsberechtigten bei der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag eingereicht […]“422 hätten. [Herv. i. O.]
Die Forderungen umfassten zuvorderst ein Schmerzensgeld von bis zu 3 000 DM,423 Kranken- und Heilbehandlung, Rentenzahlungen im Falle einer Erwerbsminderung von mindestens 25 Prozent sowie eine entsprechende Erweiterung des BEG, in welches auch die Zwangssterilisierten einbezogen werden sollten. Die Zwangssterilisationen wurden als Verletzung der Menschenrechte und -würde und als schwere Körperverletzung gewertet. Obwohl hierbei grundsätzlich gegen die Zwangssterilisation argumentiert wurde, finden sich auch Aussagen wie: „Wir führen aktenmäßig Beweis, dass in unzähligen Fällen Eingriffe in das menschliche Leben erzwungen wurde, ohne dass das Vorliegen einer Erbkrankheit medizinisch einwandfrei erwiesen war. Die Folge war, dass diese Betroffenen dadurch erst zu geistigen und körperlichen Krüppeln geworden sind. [...] Ehrbare Deutsche Staatsbürger, Frauen und Männer,
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Ebenda. Vgl. Bund der Opfer des Faschismus e.V., Deutsche Liga für Menschenrechte: Beschlussantrag an das 2. Europäische Parlament der Opfer des Nationalsozialismus wegen bundesgesetzlicher Entschädigung für Menschen die im Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7. 1933 zwangssterilisiert wurden, vom 1. Juni 1966, in: Sprachrohr/Bund der Opfer des Faschismus, o. J., ca. 1966. 423 Hierzu wurde der Hinweis gegeben, dass dieser Betrag das Maximalangebot in den Verhandlungen mit Regierungs- und Parlamentsvertretern dargestellt habe. 422
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die ohne jegliche politische Bindung den NS-Machthabern humanen Widerstand entgegenstellten, wurden nach gemeinen Denunziationen bei den NS-Stellen in Sicherungsverwahrung genommen und trotz vorangegangener Zeugung erbgesunder und lebenstüchtiger Nachkommen, zwangssterilisiert.“424
Auch die ebenfalls geforderte Zulassung von Wiederaufnahmeverfahren nach dem Vorbild der ehemaligen Britischen Besatzungszone in allen deutschen Bundesländern deutet in die Richtung einer weiterhin fehlenden prinzipiellen Kritik. Hier wurde nicht die generelle Aufhebung aller Urteile verlangt, wie dies in den 1990er Jahren vom BEZ vorgebracht werden sollte, sondern eine individuelle Überprüfung der Rechtmäßigkeit im Einzelfall. Gleichzeitig wurde die Bundesregierung auf ihre Rechtsverpflichtung gegenüber den Betroffenen aufmerksam gemacht und aufgefordert, sich nicht „hinter ausländische[n] Sterilisationsgesetze[n] zu verstecken“, denn durch die derzeitigen Wiedergutmachungsregelungen erlebten „diese NS-Opfer nichts anderes, als eine erneute Bestätigung, resp. Duldung nationalsozialistischen Unrechts im heutigen Rechtsstaat.“425 Neben den genannten Verfolgtenverbänden gab und gibt es weitere, vor allem auch regionale Initiativen, die sich auch der Zwangssterilisierten annahmen. So bereits in der ersten Nachkriegszeit der Sozialistische Ärztebund426 oder die Beratungsstelle für Opfer der NS-Medizin in Köln, die von 1989 bis 1994 im Gesundheitsamt der Stadt bestand.427 Schließlich traten Einzelpersonen engagiert für finanzielle „Wiedergutmachungen“ für die Betroffenen ein, unter anderem der Polizist Valentin Henning, der Gehörlosenpädagoge Horst Biesold sowie der Psychiater Klaus Dörner.428 Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ) „Ein Leben trug ich diese Schmach mit mir und nun scheint Sonne mir ins Herz das es doch Menschen gibt die sich das annehmen was ein Verbrechen ist.“429 Dass es zu den finanziellen „Wiedergutmachungen“ und ihren Reformen seit den 1980er Jahren kam, lag insbesondere auch an der Arbeit der 1987 in Detmold von einer Betroffenen, Klara Nowak, sowie dem Psychiater Klaus 424
Ebenda. Ebenda. 426 Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 22. 427 Vgl. hierzu Bingen (1994). 428 Vgl. Biesold (1988), Henning (1999); Tümmers (2009), S. 520ff. 429 Brief von S. B. vom Dezember 1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 425
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Dörner gegründeten Selbsthilfe- und Interessenorganisation, dem BEZ. Bis in die Gegenwart versucht die Organisation für die Unterstützung ihrer politischen Forderungen, namentlich finanzieller Leistungen für die Betroffenen, Gleichstellung mit den im BEG genannten Verfolgtengruppen und deutlicher Distanzierung von eugenischen Zielsetzungen, in Vorträgen, Ausstellungen, politischen Eingaben und Gesprächen zu werben.430 Ein Schwerpunkt der Arbeit bestand darüber hinaus in der individuellen Hilfe für Betroffene. 1994 formulierte die damalige Vorsitzende, der BEZ „hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Betroffenen aus ihrer Isolation, in der sich immer noch viele befinden, zu lösen.“431 Hierzu gehörten ein weitgehend persönlich gestalteter Briefkontakt,432 die Initiierung von regionalen Gesprächskreisen und organisierte gemeinsame Reisen.433 Hinzu kamen reguläre Elemente der Vereinsarbeit, die vierteljährlichen Rundbriefe, in denen über die Tätigkeiten der Organisation und aktuelle, vor allem entschädigungspolitische Entwicklungen berichtet wurde, und die jährlich in Detmold stattfindende Mitgliederversammlung.434 Immer wieder unterstützte der BEZ zudem Betroffene bei der Beantragung finanzieller „Entschädigung“, beispielsweise durch die Erläuterung der notwendigen Angaben und Unterlagen für die Antragstellung, Mitwirkung bei der Recherche sowie Hinweise auf „Schlüsselbegriffe“ in den Formularen und medizinischen Gutachten. „Ich hoffe, dass Sie mit dem Ausfüllen des Antrags zurechtkommen. Vielleicht haben Sie jemanden, der das für Sie erledigen kann. Falls Sie noch Fragen haben, melden Sie sich wieder, wir helfen Ihnen von hier
430
Vgl. hierzu den umfangreichen Schriftverkehr im Archiv des BEZ sowie zum Beispiel BEZ (1997), S. 102f. Vgl. z. B. auch Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9187. Als Beispiel für aktuelle politische Interessenvertretung vgl. die Erklärung und Unterschriftenaktion „Zwangssterilisierte und ‚Euthanasie’-Geschädigte als Verfolgte der NS-Rassenpolitik endlich entschädigen“ anlässlich der Verabschiedung bzw. Inkraftsetzung des GzVeN vor 75 Jahren im Sommer 2008 bzw. Januar 2009. 431 Nowak (1994), S. 24. 432 Gerade auch für diese Art von Post bedanken sich die Betroffenen nachdrücklich, nicht zuletzt da sie oftmals sehr isoliert leben: „Zuerst möchte ich mich von Herzen betanken für die schöne Geburtstagskarte für meinen 75 hat mich sehr gefreut, auch immer über die Rundschreiben. Da ich ja niemanten habe auf der Welt.“ Brief von H. H. vom 3.3.1996, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 433 Einige der Aktivitäten des BEZ wurden dabei in den letzten Jahren aufgrund des zunehmenden Alters und gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Betroffenen reduziert. Vgl. hierzu auch BEZ (1997), S. 97. 434 Zwischenzeitlich hatte der BEZ über 1 000 Mitglieder. Vgl. BEZ (2003).
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aus gern so gut wir können.“435 In einigen Fällen versuchten die Mitarbeiterinnen, konkret die Organisation des Alltags zu unterstützen.436 Oftmals wird dabei deutlich, dass die Betroffenen ohne umfangreiche Hilfe kaum in der Lage waren, sich mit der „Entschädigungsbürokratie“ auseinander zu setzen: „Mein Mane ist F[…] N[…]. Ich Mochte Mich mal ansie wenden, Ich bin 19,33. Von denn, NS.Zwangssterilisierten. Unt möchte Sie Bitten, Mirweider zuhelfen. Denn ich hade mich schon mit Köln, in ferbintug gesetz aber leider Keine, Antwocht Erhalten. Deswegen möchte ich Sie bitten, mier weiter zuhelfen.“437
Auch wenn von Seiten der Finanzverwaltung im Bereich der „Wiedergutmachung“ Bereitschaft zur Unterstützung der Betroffenen vorhanden war,438 erforderte der bürokratische Vorgang der „Entschädigung“ von den Betroffenen ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit in Auseinandersetzungen mit Archiven, Medizinern und der genannten Verwaltung selbst. Dies bedeutete für viele – neben der notwendigen Überwindung eines oftmals jahrzehntelangen Schweigens über die Zwangssterilisation – aus Altersgründen, aufgrund fehlender Bildung oder schriftlicher Übung eine hohe, bisweilen auch unüberwindliche Hürde.439 Eine Unterstützung durch Personen des sozialen Umfeldes war in vielen Fällen nicht möglich oder erwünscht: „Frau Nowak ich habe auch keine Vertrauenspersohn aber auch niemanden und möchte Sie daher bitten die Stellungsnahme für mich weiter zu leiten […].“440 Somit war die ideelle wie materielle Hilfestellung von Seiten des BEZ oftmals unabdingbare Voraussetzung einer Antragstellung. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir in dieser doch sehr traurigen Angelegenheit Hilfe und Beistand leisten könnten.“441 Zudem hatten Betroffene Angst, Fehler zu machen und baten in diesem 435 Vgl. zum Beispiel Schreiben vom BEZ an Frau v. H.-E. vom 7.2.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 436 So finden sich in den Unterlagen Schreiben an Behörden oder Hinweise an die Betroffenen, welche Schritte bei welchen Problemen zu unternehmen sind. 437 Brief von F. N., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 438 Hinweise auf eine entsprechende Unterstützung zumindest seit Ende der 1980er Jahre finden sich in zahlreichen Schriftwechseln. So gaben die Mitarbeiter beispielsweise detailliert Auskunft, welche Angaben in einem ärztlichen Gutachten vorhanden sein müssen, damit eine „Entschädigungszahlung“ gewährt werden könne. Vgl. z. B T. S., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 439 Vgl. hierzu auch die Erfahrungen von Bingen (1994), S. 245. 440 Brief von U. P. vom 16.6.198[7?], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 441 Brief von A. S. vom 4.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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Zusammenhang den BEZ um Hilfe: „Frau Nowak ich bitte Sie mir zu helfen wenn ich Schwierigkeiten bekommen sollte!“442 Der BEZ löste zum Ende des Jahres 2009 seinen Vereinsstatus auf, nicht zuletzt angesichts sinkender Mitgliederzahlen. Fortgeführt wird die Arbeit durch die „Arbeitsgemeinschaft Bund der ‚Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten“, welche organisatorisch durch den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“, Berlin, unterstützt wird.443 Für die Zwangssterilisierten, das wird in nahezu jedem Brief deutlich, stellte allein die Kommunikation mit dem BEZ eine bedeutende Hilfe dar. „Nun bin ich dankbar, dass wir nicht vergessen werden. Hab alle Unterlagen aufgehoben. Allen möchte ich herzlich danken, die sich für das große und schwere Verbrechen einsetzen.“444 Offensichtlich ist ein immenses entsprechendes Bedürfnis vorhanden: „Gibt es nicht eine Zeitschrift das mann informiert wird. Bitte Schreiben Sie mir doch bitte“.445 [Herv. i. O.] Die Erleichterung, eine Gemeinschaft gefunden zu haben, der man sich zugehörig fühlen kann und in der die eigenen Probleme ernst genommen werden, kommt in unterschiedlicher Intensität in zahlreichen Briefen zum Ausdruck: „Den Rundbrief habe ich erhalten u. habe mich sehr gefreut darüber. Man hat das Gefühl, dass man nicht allein ist mit seinen Proplehmen. Und das schönste ist, dass man wieder zu einer Familie gehört“.446 „Vielleicht haben sich bei Ihnen auch Menschen aus meiner näheren Umgebung gemeldet, mit denen man Kontakt aufnehmen kann. Es würde mich sehr freuen, wenn dies der Fall wäre und sie mir evtl. eine Adresse mitteilen könnten.“447 442 Brief von L. S. vom 25.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. BEZ. H. R. schreibt am 26.1.1991: „Ich habe heute Einschreibebrief von Oberfinanzdirektion Köln bescheid bekommen. Aber es hat nun einen hagen? Ich habe Ihnen schon einpaarmal angerufen, aber leider nicht angetroffen. Es geht um Änderung! [...] Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen. Sie sollen mir einen guten rat geben, was, ich machen soll. Es Eilt sehr, damit ich keine schwierrigkeit bekomme.“ Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 443 Vgl. hierzu Rundbrief Nr. 82 des BEZ vom Dezember 2009. Unter http://www.agbez.de verfügt die Arbeitsgemeinschaft nun auch über eine eigene Internetpräsenz. 444 Brief von M. E. vom 21.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 445 Brief von I. S. vom 17.7.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 446 Brief von E. S. vom 1.2.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. In einem weiteren Brief vom 20.2.1988 schreibt sie: „In einer Gemeinschaft ist alles leichter zu ertragen.“ Vgl. auch Brief von L. A. vom 21.1.1993, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. „Durch den Bund der Euthanasie-Geschädigten, aber vor allem durch Ihr persönliches Wirken, liebe Frau Nowak, fühlt man sich nie allein-überlassen. Dafür meinen herzlichen Dank.“ 447 Brief von E. K. vom 4.7.1987 (?), Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch zum Beispiel Brief von K. F. vom 22.12.19(?) [aufgrund der biografische Angaben in ihrem Brief vermutlich 1987], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ: „Ich möchte gern einmal andere Frauen kennen lernen die dasselbe erfahren haben wie ich.“
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Dabei tauchen auch Wünsche bezüglich einer weiteren Verbindung auf, einige äußern die Bitte, Frau Nowak einmal persönlich kennen zu lernen: „Gern würde ich persönlich meine Geschichte erzählen, da man es auf dem Papier gar nicht so erzählen kann.“448 Frau H. lädt sie zu ihrem Geburtstag ein: „Es fällt mir gerade ein, dass mein Geburtstag am 13.01.1988 (es ist an einem Sonntag) So erlaube ich mir, dass ich Sie, Fr. Klara Nowak an diesem Tag nicht alleine verbringen möchte, eine Einladung zu mein Geburtstag. Es wäre ganz prima. Somit könnte ich ihnen alles erzählen u. s. w., keine Angst, Alle Unkosten trage ich. Sie können vielleicht meine Rettung sein. […] Auf diesen Verein habe ich lange gewartet. Es kommt mir ein Gottesgeschenk vor. Vielleicht scheint auch die Sonne wieder für mich. […] Es wäre sher sehr schön wenn Sie, Fr. Kl. Nowak kommen könnten. Alle Feiertage bishin zum 1. Januar 1988 bin ich allein. Außerdem bin ich ohnehin alleinstehend und, lebe völlig isoliert. […] Die Stilisation hat mein Leben zerstört ich bauchte Heute nicht allein und Einsam sein. Im Augenblick bin ich der Verzweiflung nah.“449
Wurde hier die Zwangssterilisation zum Ausgangspunkt aller empfundenen Defizite im eigenen Leben, so kam dem BEZ über die Aufgaben einer politischen Interessenvertretung hinaus gleichsam eine Art „Erlöserfunktion“ zu. Auch die Anrede von Frau K. „Liebe sehr geliebte Frau Nowak!“450 deutet auf eine starke emotionale Bindung zu der Vorsitzenden hin. Neben wenigen kritischen Stimmen, welche insbesondere eine fehlende Durchsetzung der Forderungen der Zwangssterilisierten bemängeln,451 verweisen die Äußerungen der Betroffenen ebenso wie die erreichten Veränderungen des politischen Umgangs mit ihnen seit Ende der 1980er Jahre auf die Bedeutung der Selbsthilfe- und Interessenorganisation.
448 Brief von K. F. vom 13.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. So auch z.B. Brief von M. W. vom 24.6.1991 u. vom 12.8.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von I. S. vom 21.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 449 Brief von A. H. vom 20.12.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 450 Brief von C. K., vom Juli 1995, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 451 Zu kritischen Stellungnahmen vgl. zum Beispiel Brief von O. M. vom 7.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief vom Ehemann von A.-E. G. vom 2.7.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
„Das lasse ich mir nicht gefallen, dass ich schwachsinnig sein soll...“452
452
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 7/59.
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen nach 1945 1. Die Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten 1. 1 Die (Wieder-)Einrichtung der zuständigen Instanzen Die im GzVeN selbst vorgesehene Wiederaufnahme von abgeschlossenen Erbgesundheitsgerichtsverfahren war durch eine entsprechende Verordnung vom 28. Juli 1947453 in der britischen Besatzungszone beziehungsweise den entsprechenden späteren Bundesländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordrhein-Westfalen möglich. Das Zentraljustizamt der Britischen Besatzungszone hatte das GzVeN insgesamt als nicht spezifisches nationalsozialistisches Unrechtsgesetz bewertet und als formal geltend anerkannt.454 Die jeweiligen Amtsgerichte sollten zum 1. August 1947 die Arbeit der Erbgesundheitsgerichte, beschränkt auf die Durchführung der Wiederaufnahmeverfahren, § 12, Abs. 2 des GzVeN, übernehmen.455 Zuständig war jeweils das Amtsgericht, in dessen Bezirk das Urteil erfolgt war, wobei in der Regel nach einer Verordnung des zuständigen Justizministers ein Amtsgericht die Verfahren aus mehreren Landgerichtsbezirken übernahm.456 Berufung gegen die Entscheidungen der ersten Instanz konnte an den Oberlandesgerichten
453
Vgl. hierzu und zum Folgenden Verordnungsblatt f. d. Britische Zone 1947, Nr. 14 vom 1. August 1947, S. 110; ZJ Bl. 1947, S. 58. Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947 Amtliche Begründung. Zur eugenischen Diskussion in Großbritannien vgl. den Überblick bei Tümmers (2008), S. 178f. 454 Vgl. hierzu Hahn (2000), S. 55. Gleichwohl bewertete der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone in einer Entscheidung über die Strafbarkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen 1950 zahlreiche Bestimmungen des GzVeN als Ausdruck nationalsozialistischer Auffassung. Vgl. O GHBrZ, Köln, I. StrS, Urt. v. 30.6.1950, in: NJW 3, 1950, S. 711-713, hier S. 712. 455 Stellungnahme des Bundesministers der Justiz an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. 11.1985, S. 10, abgedruckt bei Dörner (1986a). Hierbei war ein Wiederaufnahmeverfahren auch bei bereits durchgeführter Sterilisation möglich und in der Praxis die Regel. 456 So war beispielsweise das Amtsgericht Hagen zuständig für die Wiederaufnahmeverfahren aus den Landgerichtsbezirken Arnsberg, Bochum, Dortmund, Essen, Hagen und Siegen. Vgl. Vortrag von Medizinalrat Dr. Martinson, gehalten auf der Dienstversammlung der Kreisärzte in Iserlohn am 14.8.1950, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Wiederaufnahme Erbgesundheitsakte Nr. 16091. Das Hagener Amtsgericht entschied dabei auch über Urteile von anderen „Erbgesundheitsgerichten“, beispielsweise des Kasseler Gerichts. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3808.
Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten
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eingelegt werden.457 Eine Abschrift des Beschlusses sollte an das zuständige Gesundheitsamt gesandt werden.458 Eine Regelung für die Wiederaufnahme der Erbgesundheitsprozesse in anderen Besatzungszonen459 bzw. den späteren Bundesländern wurde sowohl von Seiten des Bundes als auch von den Landesjustizministerien abgelehnt.460 Für Personen, die östlich der Oder-Neiße-Grenze verurteilt und sterilisiert worden waren, war das Amtsgericht Hamburg zuständig.461 Wiederaufnahmeverfahren waren dabei nur bei im „Dritten Reich“ formal rechtmäßigen Erbgesundheitsgerichtsverfahren möglich.462 Die Verordnung galt nach Artikel 125 Nr. 2 des Grundgesetzes offiziell fort und trat 1998 mit dem Gesetz zur Aufhebung von Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte außer Kraft.463 Die Verfahren fanden bis Ende der 1980er Jahre nach den gleichen Prinzipien, allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, mit veränderten Bewertungsmaßstäben statt. Die Urteile der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichte blieben, sofern sie nicht im Einzelfall aufgehoben wurden, ebenfalls bis 1998 rechtskräftig.464 Regelungen und Selbstverständnis der Urteilenden Nicht nur bezogen auf die rechtlichen Hintergründe und die formalen Ausführungen – die Gerichte waren erneut mit zwei Medizinern, darunter einem Amtsarzt und einem frei praktizierenden Arzt, und einem den Vorsitz 457
In einigen Fällen stellen die Betroffenen wiederholt einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/64; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2406. 458 Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 20. Vgl. auch zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/57; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2062. 459 Traenckner vermutet für die US-amerikanische Zone, dass hier offensichtlich die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit eugenischer Sterilisationen bei ausreichendem Rechtsschutz der Betroffenen eine vergleichbare Wiederaufnahmeverordnung als nicht notwendig erscheinen ließ. Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 3. 460 Ein entsprechender Antrag eines Betroffenen in Baden-Württemberg wurde in mehreren Instanzen abgelehnt, grundsätzlich äußerte sich das Oberlandesgericht Stuttgart 1966 hierzu. Vgl. Die Justiz (1966), S. 288f. 461 Gleichwohl konnte das entsprechende Verfahren vom Hamburger Amtsgericht einem anderen Amtsgericht, in dessen Bezirk die Antragstellerin wohnhaft war, übertragen werden. Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2301. 462 Simon (1998), S. 189f.; Traenckner (1953), S. 388. 463 Vgl. hierzu Stellungnahme des Bundesministers der Justiz an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. 11.1985, S. 12, abgedruckt bei Dörner (1986a) und Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10284 vom 31.3.1998, http://dip.bundestag.de/btd/13/102/ 1310284.asc 464 Vgl. Ebenda.
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
führenden Juristen besetzt465 –, auch in der Binnenperspektive unterlagen die Entscheidungsinstanzen zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1945 ungebrochenen Kontinuitäten. So bezeichnete sich die gerichtliche Instanz oftmals selbst explizit als „Erbgesundheitsgericht“, auch wenn die britische Militärregierung davon abriet.466 Die offizielle Bezeichnung lautete hingegen „Amtsgericht – Abteilung für Wiederaufnahmeverfahren in Erbgesundheitssachen“.467 Ihrem Selbstverständnis nach oblag den Gerichten in den nichtöffentlichen Verfahren die Aufgabe einer ergebnisoffenen Überprüfung der nationalsozialistischen Urteile auf der Grundlage neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder einer positiven Spätentwicklung der betroffenen Person. Das Kieler Amtsgericht teilte im April 1950 mit: „Danach findet die Wiederaufnahme der Verfahren statt, sobald sich Umstände ergeben, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhalts erfordern. Wann solche Umstände vorliegen, ist von Fall zu Fall zu beurteilen. Darunter fällt zum Beispiel das Auftreten neuer Symptome sowie eine andere wissenschaftliche Beurteilung dieser Symptome.“468
Die Antragsteller mussten hierfür in der Regel mittels eines fachmedizinischen – zumeist psychiatrisch-neurologischen469 – Gutachtens, inklusive Intelligenztests, und ihres Auftretens vor Gericht die Unrechtmäßigkeit beziehungsweise Überholtheit der damaligen Entscheidung unter Beweis stellen. Es war somit darüber zu entscheiden, „ob der damalige Beschluss aufgehoben werden kann oder zu Recht besteht.“470 Das Ergebnis dieser Untersuchung konnte beispiels465 Die Beschwerdeinstanz, das Oberlandesgericht, hatte mit einem Vorsitzenden, zwei Richtern und „unter Hinzuziehung eines beamteten Arztes und eines weiteren approbierten Arztes, der mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut ist“ zu entscheiden. Traenckner, Erfahrungen, S. 11. In der Praxis entschieden aber auch hier zum Teil lediglich ein Richter und zwei Mediziner. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8771. 466 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 2/64. Auch die Amtsgerichte Schleswig und Hagen verwendeten die einschlägigen Bezeichnungen, vgl. zum Beispiel Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2336; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3854. Betroffene nannten die gerichtliche Instanz in einigen Fällen ebenfalls „Erbgesundheitsgericht“. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3849. 467 Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 9f. Der Autor weist daraufhin, dass die beiden Instanzen nicht mit denen im „Dritten Reich“ gleichzusetzen seien. Zur Benennung vgl. auch Kramer (1999), S. 214f. 468 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2092. 469 Bei der Indikation „angeborener Schwachsinn“ sowie bei psychiatrischen Diagnosen wurde in den Wiederaufnahmeverfahren zumeist ein fachpsychiatrisches Gutachten angefordert. 470 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 19/60 Zur Einschätzung des GzVeN bei einigen Richtern in Wiederaufnahmeverfahren vgl. die entsprechenden Dokumente bei Simon (1998).
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weise sein: „Es haben sich keine Hinweise ergeben, auch nicht in speziellen modernen Untersuchungen, die diesen Schwachsinn als erworben auffassen lassen konnten.“471 Die Beurteilung konnte aber auch, für den Antragsteller positiv und in seiner Formulierung dennoch bezeichnend, lauten: „Nach Erwägung aller Gesichtspunkte erscheinen uns die Voraussetzungen für eine Sterilisation jetzt nicht mehr gegeben.“472 Die in den Urteilen des Hamburger Amtsgerichts angeführte Begründung der Kostenentscheidung belegt eine Selbstsicht der Gutachter und Gerichte, die an der generellen Akzeptanz der eugenischen Zwangsmaßnahmen keinen Zweifel lässt und analog zur verbreiteten politischen und berufsgruppenspezifischen Mehrheitsmeinung der ersten Nachkriegsjahrzehnte lediglich „politischen Missbrauch“ ausgeschlossen wissen will: „Das Gesetz enthält keine Bestimmung darüber, wem die Kosten aufzuerlegen sind, wenn ein Wiederaufnahmeantrag abgewiesen worden ist. Das Gericht hat sie der Staatskasse aus folgenden Gründen auferlegt. Dass die Antragstellerin den Wiederaufnahmeantrag gestellt hat, lag nicht lediglich in ihrem eigenen Interesse, sondern auch im öffentlichen. Es dient dem gerechtfertigten Bedürfnis der Allgemeinheit, dass jedes Sterilisierungsverfahren aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes überprüft wird, durch dessen Ergebnis sich der Betroffene beschwert fühlt. Denn bei jedem einzelnen dieser Verfahren besteht der Verdacht, dass die Entscheidung nicht auf Grund rein sachlicher Erwägungen erlassen, sondern durch politische Motive beeinflusst worden sind, wenn es auch nicht vorgekommen sein mag, dass der Rahmen des Gesetzes bewusst überschritten worden ist. Es wäre unbillig, der Antragstellerin die Kosten eines auch im Allgemeininteresse durchgeführten Wiederaufnahmeverfahrens deshalb aufzuerlegen, weil ihr Antrag abgewiesen worden ist. Das gilt aber nur für die Abweisung des ersten Antrages; an einer Wiederho-
471 472
Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 737. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/53.
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
lung der Nachprüfung dürfte die Allgemeinheit nicht mehr interessiert sein.“473
Eine Übernahme der Kosten durch die Staatskasse war formal lediglich für den Fall einer Aufhebung des Urteils vorgesehen.474 Während in der Folge die Antragsteller in Hamburg die Kosten eines abschlägig beschiedenen Verfahrens in der zweiten Instanz selber zu tragen hatten, in der Regel 500 DM,475 wurden in Kiel und Hagen auch in der Berufung keine finanziellen Forderungen geltend gemacht. Kosten eines möglichen Anwaltes hatten die Betroffenen zumindest in den ersten Jahrzehnten zumeist selber zu finanzieren.476 Mit einer erfolgten Aufhebung des Erbgesundheitsgerichtsurteils war im Verständnis der zu Gericht Sitzenden und der staatlichen Behörden darüber hinaus kein Urteil darüber abgegeben, dass das Verfahren im „Dritten Reich“ grob fahrlässig oder gar missbräuchlich durchgeführt worden war. Die Stellungnahmen verschiedener Landesstellen in den 1950er Jahren hoben zumeist hervor, dass bei den für die Antragsteller erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren medizinische Fehldiagnosen der ursprünglichen Prozesse maßgeblich gewesen seien oder eben eine „Nachreife“ der Person erfolgt sei. Eine „vorsätzliche[] rechtswidrige[] Anwendung“, so der nordrhein-westfälische Justizminister, sei hingegen nicht festgestellt worden.477 Auch der Bericht der Arbeitsgruppe zur 473 Vgl. z.B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/57. Eine mögliche politische Motivation wurde dabei, selbst wenn sie sich nach Aktenlage aufdrängte, kaum als solche benannt. Im Fall eines Wiederaufnahmeverfahrens vor dem Hagener Amtsgericht und dem Oberlandesgericht Hamm wurden die möglichen politischen Hintergründe des Antragstellers, der im „Dritten Reich“ laut der im fachpsychiatrischen Gutachten angeführten Akten wegen „kommunistischer Propaganda“ verurteilt worden war, in der Beurteilung nicht berücksichtigt, statt dessen auch hier Intelligenz und Schulwissen geprüft und als nicht ausreichend befunden und damit die Aufhebung des Beschlusses wegen „Schwachsinns“ zurückgewiesen. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8771. 474 Vgl. ZJBl. 1947, S. 58. Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947. Amtliche Begründung. In einer Kostenentscheidung des Amtsgerichts Kiel lautete die Begründung, einer Betroffenen auch bei Ablehnung des Antrages die Kosten nicht zu übertragen:„Um unnötige Verbitterung der Antragstellerin zu vermeiden, ist von der Auferlegung der Kosten, die gemäß § 7 der VO. für die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen für die brit. Zone vom 28. Juli 1947 erforderlich gewesen wäre, abgesehen worden.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2079. 475 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 3/56. 476 Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 19f. Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2092. 477 Lediglich der Bremer Senator für das Gesundheitswesen gab zu Bedenken, dass mit der Möglichkeit gerechnet werden müsse, „[…] dass in manchen Fällen Personen unfruchtbar gemacht worden sind, wo nach den allgemein wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Unfruchtbarmachung nicht gerechtfertigt ist.“ Vgl. Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an
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Ermittlung der Zahl der während des nationalsozialistischen Regimes zu Unrecht Sterilisierten hielt 1967 fest: „Im Rahmen der Überprüfung der erbgesundheitsgerichtlichen Entscheidungen in der britischen Besatzungszone […] sind keine Fälle vorsätzlich rechtswidriger Anwendung der genannten Vorschriften festgestellt worden.“478 Die einschlägigen Abteilungen der Amtsgerichte setzten zum Teil beträchtliche zeitliche und finanzielle Ressourcen dafür ein, eine Überprüfung des jeweiligen Antrags zu gewährleisten.479 So waren sie seit 1947, also auch in Zeiten existentieller materieller Not weiter Teile der Bevölkerung, in wenigen Fällen von vermeintlichen oder tatsächlichen Widersprüchlichkeiten oder unklaren Diagnosen bereit, gleich zwei Fachgutachten erstellen zu lassen.480 Das Amtsgericht Hamburg ordnete in jedem Fall ein fachmedizinisches Gutachten der Universitätsklinik an, das in der Regel ein- bis zweitägige ambulante Untersuchungen und ausgiebige Testverfahren beinhaltete, wobei in einigen Fällen auch darüber hinaus gehende, mehrtägige stationäre Untersuchungen möglich waren.481 Insofern ist der Einschätzung von Monika Bingen, die „pseudowissenschaftlichen Diagnosen“ seien nachträglich bestätigt worden,482 nur mit Einschränkungen zuzustimmen. Auch hier war es weniger Unwissenschaftlichkeit oder Fahrlässigkeit als vielmehr normative Überzeugung, welche die Beurteilungen der Gutachter und Entscheidungen der Gerichte beeinflussten. Die Antragsteller, und hier insbesondere diejenigen Betroffene, die wegen „angeborenen Schwachsinns“ sterilisiert worden waren, stießen dabei von Beginn an auf Vorbehalte der beteiligten Mediziner und Juristen. Wird dies in den im folgenden Kapitel zu skizzierenden Beurteilungen im Einzelfall deutlich, so den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 53-57, abgedruckt bei Dörner (1986a). Einen politischen Missbrauch sieht auch Klein, Verordnung, S. 4. 478 Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten, Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 2. Juni 1967, S. 2; vgl. auch S. 3f., abgedruckt bei Dörner (1986a). 479 In dem über zwei Instanzen geführten Wiederaufnahmeverfahren von Herrn N. Mitte der 1960er Jahre wurden beispielsweise sowohl ein augenfachärztliches Gutachten als auch ein Gutachten des Instituts für Humangenetik Münster in Auftrag gegeben. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 4797. 480 Vgl. zum Beispiel die Begutachtungspraxis in: Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 196; 1837, Nr. 1835; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16076; Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 20/60. 481 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/67. In den Untersuchungen wurden dabei verschiedene Testverfahren durchgeführt, so Binet-Simon-Bobertag, WarteggTest, Rohrschach-Test sowie der Hamburg-Wechsler Test. 482 Bingen (1994), S. 252f.
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belegen Äußerungen von Beteiligten eine entsprechende generelle Haltung.483 Der medizinische Beisitzer in Wiederaufnahmeverfahren des Hagener Amtsgerichts äußerte sich in einem Vortrag über seine bisherigen Erfahrungen generalisierend: „Die nicht öffentlichen Verhandlungen werden vom Vorsitzenden mit großer Geduld und Umsicht geleitet; hat man es doch mit Menschen zu tun, denen in vielen Fällen die richtige Einsicht fehlt, oder es handelt sich um Schizophrene, die durch eine entsprechende Behandlung gebessert resp. praktisch geheilt sind und mit ihrem jeweiligen Zustand beweisen wollen, dass ihnen ein Unrecht geschehen ist.“484
In den Fällen, in denen das Urteil gegen einen vermeintlich „angeboren Schwachsinnigen“ aufgehoben wurde, war seine Einschätzung entsprechend: „Bei den aufgehobenen Urteilen der sog. Schwachsinnigen handelt es sich auf Grund nochmaliger Überprüfungen durch Fachärzte in Heilanstalten nicht um angeborenen Schwachsinn, sondern um sog. landläufig Dumme. Sie hatten sich alle im Leben und Beruf gut bewährt. Auch in erbbiologischer Hinsicht waren sie einwandfrei.“485
Franz Neukamp, Richter in Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen in Bielefeld seit 1947, ließ in seinen jahrzehntelangen, vielfältigen schriftlichen Äußerungen wenig Zweifel an seiner Akzeptanz eugenischer Zwangseingriffe.486 So schloss er seinen Beitrag im „Berliner Gesundheitsblatt“ 1951 mit Forderungen nach einem neuen Sterilisationsgesetz, welches auch die zwangsweise Unfruchtbarmachung intendiere. Dabei zitierte er Robert Gaupps Einschätzung einer mangelhaften Gesetzgebung auf diesem Gebiet im Unterschied zu den USA: „Uns Deutschen fehlt das unbekümmerte Draufgängertum des Nordamerikaners; wir sind in einer Epoche unserer Geschichte herangewachsen, in der zum Unterschied vom ‚Lande der Freiheit’ die Achtung vor der ‚Selbstbestimmung des Menschen’ zu stark ist, um rassenhygienischen Forderungen ein williges Ohr zu leihen.“487 Unter diesen juristischen wie nor483 Zu einer eher positiven Beurteilung der Betroffenen durch den Richter in den Hamburger Wiederaufnahmeverfahren vgl. Tümmers (2009), S. 512. 484 Vgl. Vortrag von Medizinalrat Dr. Martinson, gehalten auf der Dienstversammlung der Kreisärzte in Iserlohn am 14.8.1950, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Wiederaufnahme Erbgesundheitsakte Nr. 16091. 485 Ebenda. Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2348. 486 Vgl. hierzu auch Nachlass Dr. Franz Neukamp, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen. 487 Neukamp (1951), S. 252.
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mativen Bedingungen konnten die Zwangssterilisierten weder auf Empathie noch auf Akzeptanz einer prinzipiellen Kritik an den NS-Zwangssterilisationen hoffen. Schließlich zeigen die zur Verfügung stehenden Zahlen über die Gerichtsentscheidungen in allen in der ehemaligen Britischen Besatzungszone durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren die fortdauernde Akzeptanz der Regelungen des GzVeN. Von den 3.723 Anträgen,488 die bis Ende Juni 1965 verhandelt wurden,489 entschied das Gericht lediglich in 964 Fällen im Sinne der Antragsteller.490 Noch geringer fällt die Quote für die in Nordrhein-Westfalen bis 1960 geführten Prozesse aus. Hier urteilte das Gericht in nur 160 von insgesamt 1146 Fällen zugunsten der Betroffenen.491 In einer Mitteilung des Amtsgerichts Hagen an den Landesgerichtspräsidenten vom 3. Oktober 1950 wird die Zahl der bis dato am Hagener Gericht verhandelten Fälle mit 230 angegeben, davon seien 57 noch nicht (rechtskräftig) entschieden, 151 zurückgewiesen und lediglich 22 Anträgen statt gegeben worden.492 Während das Bundesfinanzministerium zu Beginn der 1960er Jahre davon ausging, dass der weitaus größte Teil der Betroffenen in der ehemaligen Britischen Besatzungszone, die der Ansicht seien, zu Unrecht sterilisiert worden zu sein, ein entsprechendes Verfahren angestrebt hätte,493 mutmaßte 1967 der Bericht der Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten, „[…] dass ein großer Teil der Betroffenen – insbesondere soweit er in kleinen Gemeinden auf dem Lande wohnhaft ist – sich gescheut haben wird, einen Wiederaufnahmeantrag bei dem Erbgesundheitsgericht (Amtsgericht) zu stellen, um nicht in das Gerede zu kommen.“494 Andere 488
Im Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ der Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten vom 2. Juni 1967, S. 7, abgedruckt bei Dörner (1986a), ist von 3 738 Anträgen die Rede, 15 seien noch in Bearbeitung. 489 Weitere Erhebungen sind nicht vorhanden, allerdings dürften angesichts der wenigen Verfahren an den in dieser Arbeit untersuchten Amtsgerichten in den 1970er und 1980er Jahren mit den genannten Zahlen über 90% der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen in der Bundesrepublik erfasst worden sein. 490 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 13/10284 vom 31.3.1998; Scheulen (2005), S. 216; Bock (1986), S. 244f. 491 Vgl. Simon (1998), S. 190. 492 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3383. 493 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 52f., abgedruckt bei Dörner (1986a). 494 Bericht „Unfruchtbarmachungen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ der Arbeitsgruppe zur Ermittlung der Zahl der während des NS-Regimes zu Unrecht Sterilisierten vom 2. Juni 1967, S. 11, abgedruckt bei Dörner (1986a).
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hätten möglicherweise von einer Antragstellung abgesehen, weil sie von dem Verfahren keine Kenntnis hätten, weil sie ein solches ablehnen würden oder aber „weil ihnen die Erkenntnis fehlte, dass es sich bei ihren Gebrechen nicht um Erbkrankheiten im Sinne des Erbgesundheitsgesetzes gehandelt hat.“495 Waren für die einen die Wiederaufnahmeverfahren eine Möglichkeit, im individuellen Fall eventuell vorhandenes nationalsozialistische Unrecht zu prüfen und dieses zurück zu nehmen496 – wobei auch hier die Grundlagen des GzVeN explizit oder implizit anerkannt wurden –, so sahen insbesondere Befürworter eugenischer Sterilisationen die Verfahren kritisch. „Insofern befinden sich unter den nach der VO. von 1947 positiv Beurteilten sicher zahlreiche Probanden, die auch nach der heute geltenden Auffassung bei sinnvoller Anwendung erbgesundheitsgesetzlicher Bestimmungen zu der Gruppe der erblich belasteten und erbgefährdeten Schwachsinnigen zu zählen sind, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Erzeugung erbkranken Nachwuchses bestehen würde.“497 „Diese juristisch wie psychiatrisch sehr fragwürdige Korrektur der im übrigen als rechtmäßig anerkannten Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte blieb erfreulicherweise auf den Geltungsbereich der Verordnung vom 28.7.1947 beschränkt. Die Wiederaufnahmeverfahren in Erbgesundheitssachen verloren bald an Interesse, nachdem auch positive Entscheidungen der Gerichte ohne greifbare Konsequenzen für die Antragsteller blieben.“498
Dem Oberlandesgerichtspräsidenten in Düsseldorf zufolge müsse bei der Beurteilung der Wiederaufnahmeverfahrensentscheidungen berücksichtigt werden, dass es möglich sei, eine Erbkrankheit durch medikamentöse Behandlung derart zu beeinflussen, dass die typischen Erscheinungen zurücktreten und in der Folge bei Nichtexistenz der Erbgesundheitsgerichtsakten das Urteil aufgehoben werden müsste. „Nicht unbeachtet dürfe ferner bleiben, dass die Amtsärzte wohl aus grundsätzlicher Zurückhaltung in keinem Fall von dem Rechtsmittel der Beschwerde Gebrauch gemacht haben, falls ein Wiederaufnahmegesuch beim Amtsgericht Erfolg gehabt hatte, obwohl es sich nicht selten um
495
Ebenda. Vgl. auch Klein, Verordnung, S. 7. Vgl. hierzu auch die Aussage eines Senatspräsidenten bei Tümmers (2008), S. 182. 497 Traenckner, Erfahrungen, S. 78. 498 Erhardt/Villinger (1961), S. 247. 496
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einen Grenzfall gehandelt habe, der auch heute noch die gegenteilige Meinung als vertretbar erscheinen lassen könnte.“499
Eine dezidiert kritische Stellungnahme zu den Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen gab lediglich die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Ärzte Deutschlands in einer Diskussion mit Franz Neukamp ab. Letzterer verwies in seiner Replik hingegen – neben der Rechtfertigung der negativen Eugenik – auf die durch die Verfahren gegebene Möglichkeit einer für die Betroffenen „und ihre ganze[n] Familie[n] wichtigen Rehabilitierung“.500 Motive der Zwangssterilisierten Die Betroffenen versuchten aus unterschiedlichen Gründen die Wiederaufnahme eines Erbgesundheitsgerichtsverfahrens zu erreichen. Für die Wiederaufnahmeverfahren im „Dritten Reich“ selbst war Gisela Bock zufolge zuallererst eine erhoffte Wiederherstellung des „idieellen und materiellen ‚Wertes’“, nicht zuletzt aufgrund eines Ehewunsches, aus Sorge vor Nachteilen für bereits vorhandene Kinder oder anlässlich von Bemühungen um finanzielle Unterstützung, ausschlaggebend.501 Auch seit 1947 waren wesentliche Motive für ein solches Verfahren die Hoffnung, „Entschädigungen“ für die erlittenen physischen und psychischen Leiden zu bekommen,502 das als stigmatisierend empfundene Gerichtsurteil auch im Hinblick auf Angehörige503 für unrichtig erklären zu
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„In manchen Fällen erscheine es überdies nicht ausgeschlossen, dass künftige Forschung die Unrichtigkeit der im Wiederaufnahmeverfahren ergangenen Entscheidungen feststellt und damit die Entscheidung des Erbgesundheitsgerichts bestätigt.“ Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 55, abgedruckt bei Dörner (1986a). 500 Vgl. Medizinische Klinik Nr. 18, 1951, S. 552f. 501 Bock (1986), S. 283. 502 Zwar entschied das Wiederaufnahmeverfahren nicht über „Entschädigungen“, die Betroffenen erhofften sich aber oftmals, durch eine Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses entsprechende Forderungen geltend machen zu können. In einigen Fällen verwiesen auch die zuständigen amtlichen Stellen als Voraussetzung für Entscheidungen über eine potentielle „Wiedergutmachung“ auf ein solches Verfahren, vgl. z. B. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3796; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14190; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3380. 503 So Frau K.: „Es geht […] in der Hauptsache um unsere 21 Jährige gesunde Tochter, welche leider in Zeugn. der Frauenfachschule E[…] ein Vermerk führt./ Vater Erbkrank/“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 1831.
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lassen504 sowie insbesondere in den ersten Jahren der zum Teil von den Betroffenen eindringlich vorgetragene Wunsch, eine Refertilisierung durchführen zu lassen.505 Jürgen Simon hält als Ergebnis seiner Untersuchung fest: „Den meisten Wiederaufnahmeanträgen lag, neben der Forderung nach finanzieller Entschädigung, vor allem das Anliegen zugrunde, nicht weiterhin als intellektuell minderwertig stigmatisiert und damit gesellschaftlich diskriminiert zu werden.“506 In den Aussagen vieler Betroffener scheint es demgegenüber weniger um eine intellektuelle als vielmehr um eine gesellschaftliche „Minderwertigkeit“ zu gehen, gegen die sie sich verwehrten. Sie argumentieren dementsprechend häufig mit erfolgreicher „Lebensbewährung“ – einer ebenfalls im Rahmen der nationalsozialistischen Erbgesundheitsverfahren abgefragten Kategorie – im Sinne gesellschaftlichen Normen entsprechender beruflicher und privater Lebensführung. In der zeitgenössischen Literatur findet sich eine Trennung von quasi offiziell sanktionierten und auf Seiten der Betroffenen tatsächlich vorhandenen Motiven. Während erstere „[…] eine Wiederaufnahme des Verfahrens beim zuständigen Amtsgericht zum Zwecke der Refertilisierung […]“507 vorsehen, lägen in der Praxis die Interessen der Antragsteller im Bereich finanzieller „Ent504
Frau S. beispielsweise schrieb: „[…] bin im Jahre 1933-34 von der Nazipartei verurteilt worden, weil ich schwerhörig bin, habe ich nicht alles verstanden und bin als schwachsinnige Person verurteilt worden. Ich habe schon soviel Leiden müssen, gibt es keine Rehabilitierung für mich?“ [Herv. i. O.] Das Urteil wurde aufgehoben. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 1834. Vgl. auch Brief von E. K. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von M. H. an den Oberkreisdirektor, Amt für Wiedergutmachung, Bergheim vom 5.3.1959, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 505 Frau A. äußerte: „Ich bitte von ganzen Herzen mir die Erlaubnis dazu zugeben.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16072. Sie hat dabei eine ungewöhnliche Geschichte. So gibt sie an, sie habe im „Dritten Reich“ den zur Sterilisation führenden Schwachsinn vorgetäuscht, damit sie ihren Mann habe heiraten können. Die Ehe sei aber nach einiger Zeit auseinandergegangen, nun habe sie einen „gesunden Menschen“ geheiratet und hätte gerne Kinder. Ihrem Antrag wurde stattgegeben. 506 Simon (1998), S. 191. Diese Motive nennt auch Dalicho (1971) in 29 Fällen von Wiederaufnahmeanträgen in Köln. Dabei gibt er an, in allen diesen Fällen seien die Anträge zurückgezogen worden, nachdem das Gericht auf Risiken der Refertilisierung und der Weitergabe von Erbkrankheiten hingewiesen sowie die Nichtzuständigkeit für finanzielle „Wiedergutmachungsfragen“ erklärt habe. Eine solche Rücknahme aller Anträge erscheint dabei sehr ungewöhnlich. Mindestens in einem Fall ist ein im Sinne der Antragstellerin positiv entschiedenes Wiederaufnahmeverfahren am Amtsgericht Köln durchgeführt worden. Vgl. Brief von M. H. an den Oberkreisdirektor, Amt für Wiedergutmachung, Bergheim vom 5.3.1959, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 507 Fischer (1951). Auch die im Sinne der Antragsteller entschiedenen Wiederaufnahmeverfahren des Hamburger Amtsgerichts gehen im Urteil auf die nun mögliche Refertilisierung ein. Für Hamburg vgl. auch Traenckner, Erfahrungen, S. 81f.
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schädigungen“: „In vielen Köpfen ist die Vorstellung vorhanden, die bloße Tatsache der Unfruchtbarmachung wegen eines Erbleidens auf Grund des Gesetzes vom 14.7.1933 sei schon für sich betrachtet ein Wiedergutmachungstatbestand.“508 Dieser Sachverhalt mache die Wiederaufnahmeverfahren selbst fragwürdig: „Die bei der Masse der Antragsteller ohnehin schon vorhandene Rentensucht wird durch die Kenntnis von der Möglichkeit einer Wiederaufnahme und durch das Verfahren selbst in äußerst unerwünschter Weise gesteigert. Ob die wenigen Ausnahmefälle es unter diese[n] Umständen rechtfertigen, ein solches Verfahren zuzulassen, ist eine mindestens sehr zweifelhafte Frage. […]“509
Auch der vorsitzende Richter für Wiederaufnahmeverfahren am Amtsgericht Düsseldorf gab in einem Bericht aus dem Jahr 1952 an, eine Refertilisierungsoperation werde nur selten angestrebt:510 „Die Erfahrung beweist auf Grund umfassender Erhebungen bei den in Frage kommenden Behörden, Gerichten, Versicherungsämtern, Wiedergutmachungs- und Sonderhilfsausschüssen, dass die meisten Antragsteller mit dem Antrag allein wirtschaftliche und finanzielle Motive verbunden haben.“511
Abgesehen von der Tatsache, dass bei den genannten Quellen allein aufgrund des Wesens der Institutionen finanzielle Fragen in der Regel im Vordergrund stehen, fügt sich die Betonung der finanziellen Motive der Zwangssterilisierten in das Bild der stigmatisierten Opfergruppe. Dass dabei in vielen Fällen die Hoffnung auf eine finanzielle „Wiedergutmachung“ wohl tatsächlich ein wesentliches Motiv war, ist angesichts des skizzierten Selbstverständnisses als Opfer des Nationalsozialismus, der tiefgreifenden Folgen des Eingriffs und der oftmals finanziell stark belasteten Situation der Betroffenen kaum verwunderlich. Zugleich dürfte für viele Betroffene eine mögliche „Entschädigung“ auch gleichbedeutend mit einer Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts gewesen sein. Frau B. beispielsweise gab an, sie sei durch die Sterilisation vollständig erwerbsunfähig. Hieraus sowie aus der in ihren Augen mangelhaften Diagnose 508
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep 264, Nr. 434, fol. 61-63, abgedruckt bei Simon (1998), S. 205. 509 Archiv OLG Hamm, 6234 I, Bd. 1, abgedruckt bei Simon (1998), S. 206f. 510 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep 264, Nr. 434, fol. 61-63, abgedruckt bei Simon (1998), S. 205. 511 Traenckner (1953), S. 402.
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leitete sie einen entsprechenden „Wiedergutmachungsanspruch“ ab: „Ich kann mich keinesfalls damit abfinden, dass ich für eine derartige körperliche und seelische Schädigung nicht mal ein Schmerzensgeld als Wiedergutmachung erhalten soll, wo sonst in ähnlichen Fällen sogar Renten gezahlt werden.“512 Aus der Kennzeichnung des Zwangseingriffs als Unrecht513 ergaben sich damit für die Betroffenen entsprechende Forderungen gegenüber „dem Staat“, der ihnen Jahre zuvor den Zwangseingriff und die Restriktionen zugemutet hatte. Diese Forderungen konnten sich auf finanzielle Unterstützungsleistungen wie auf die Refertilisierung beziehen. „Ihm dabei behilflich zu sein, sehe er als Pflicht des Staates an, da dieser seinerzeit die nach seiner Meinung unrechtmäßige Sterilisation angeordnet habe.“514 Die Haltung des Gerichtes gegenüber möglichen Leiden der Betroffenen und hieraus erwachsenen finanziellen Ansprüchen war auch hier eindeutig.515 Ein Schreiben des Amtsgerichts Hagen an den Landesgerichtspräsidenten im Oktober 1950 führte aus: „Erfahrungsgemäß behaupten die Betroffenen, durch die Unfruchtbarmachung körperliche Schäden, die zur Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsbehinderung geführt haben sollen, erlitten zu haben. Die Erfahrung des Wiederaufnahmegerichts lehrt, dass diese körperlichen Schäden durchweg simuliert werden.“516
Obwohl somit die Hoffnung, finanzielle „Wiedergutmachungsansprüche“ zu erlangen, allem Anschein nach ein wesentliches Motiv für die Beantragung eines Wiederaufnahmeverfahrens war, konnten die Betroffenen auch bei einer Aufhebung des Erbgesundheitsgerichtsurteils lediglich in Ausnahmefällen entsprechende Forderungen geltend machen.517 „Unfruchtbarmachung begründet, 512
Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 2/59. Ihr Antrag wurde aus formaljuristischen Gründen aufgrund mangelnder Zuständigkeit abgelehnt. Vgl. zum Beispiel auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3794; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3851. 513 Vgl. zum Beispiel Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3380. 514 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/67. 515 Gleichwohl enthielt das im Hamburger Amtsgericht verwendete Formblatt die Formulierung – die gegebenenfalls durchzustreichen war: „[…] und behalte mir die Geltendmachung eines Schadensersatzes vor.“ Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/54. In vielen Wiederaufnahmeverfahrensakten des Amtsgerichts Hamburg findet sich, oftmals Jahre nach Abschluss des Verfahrens, eine Mitteilung des Amtes für Wiedergutmachung mit der Bitte um Akteneinsicht. Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/65. 516 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3383. 517 Vgl. hierzu auch die Bemühungen von Paul Wulf, Krieg (1984).
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auch wenn die betreffende gerichtliche Anordnung im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wird, keine Ersatzansprüche gegen ein Land[]“, so das Oberlandesgericht Hamm in seiner Entscheidung 1954.518 Wie folgenreich sich das Urteil im Bewusstsein der Betroffenen niederschlug, zeigt das Beispiel Hamburg, wo Zwangssterilisierte, die einen abschlägigen Rechtsspruch in einem Wiederaufnahmeverfahren erhalten hatten, auch in den 1980er Jahren keine „Entschädigungen“ beantragten.519 Jürgen Simon stellt fest, dass die Mehrheit der Antragsteller eines Wiederaufnahmeverfahrens wegen „angeborenen Schwachsinns“ sterilisiert worden waren. Er schließt daraus, dass „die eher medizinischen Indikationen [...] mehr akzeptiert worden zu sein [scheinen].“520 Dabei ist aber auch zu beachten, dass insgesamt die Mehrheit der Sterilisationen im „Dritten Reich“ mit der Indikation „angeborener Schwachsinn“ erfolgte,521 dass sich also bereits hieraus ein „Übergewicht“ dieser Antragsteller erklären lässt. Zudem dürften die rechtlichen Bedingungen der Wiederaufnahmeverfahren für die Betroffenen, die aufgrund dieser Diagnose sterilisiert worden waren, am aussichtsreichsten gewesen sein. So konnten sie einerseits die Verfahren im „Dritten Reich“ und hierbei insbesondere die Durchführung der Intelligenztests kritisieren und andererseits mit einer zwischenzeitlich eingetretenen „Lebensbewährung“ argumentieren. Auch von medizinisch-juristischer Seite dürfte die Bereitschaft zur Überprüfung der Erbgesundheitsgerichtsurteile in diesen Fällen am häufigsten vorhanden gewesen sein,522 wurde doch im einschlägigen Schrifttum von einer möglichen „Spätreife“ bei vermeintlich schwachsinnigen Menschen ausgegangen. Vereinzelt war hierauf bereits im „Dritten Reich“ hingewiesen worden. So äußerte der Psychiater Hans Bürger-Prinz 1936: „Zu gedenken ist noch der Spätreifenden, die vor allem im Alter von 14-16 Jahren leicht als schwachsinnig verkannt werden, weil ihr oft ungelenkes motorisches Gesamt, ihr undifferenzierter kindlicher Ausdruck, die Un-
518 OLG Hamm, Beschl. v. 29.1.1954 – 9 W 231/53, vgl. Schwarze (1954). Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16090. Für Hamburg vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 83ff. 519 So die Mitteilung von Michael Wunder in einem Gespräch mit der Autorin bei der Tagung des Arbeitskreises zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und Zwangssterilisationen vom 21. bis 23. November 2008 in Alzey. 520 Zudem sei die Mehrheit der Antragsteller weiblich gewesen. Simon (1998), S. 192. 521 Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 469. 522 So gibt auch der Richter in Wiederaufnahmeverfahren am Amtsgericht Bielefeld in seinem Beitrag im „Berliner Gesundheitsblatt“ an, als Kriterium für ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren habe die „Lebensbewährung“ zu gelten. Vgl. Neukamp (1951), S. 251.
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geschicklichkeit des ganzen Gehabens, gepaart mit kindlicher Unreife und Naivität, an gewisse Schwachsinnstypen erinnert.“523
Da die Zwangssterilisation als staatlicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen nicht per se als Unrecht eingestuft und auch die eugenischen Implikationen nicht negiert wurden, blieb den wegen eindeutiger medizinischer Krankheitsbilder Sterilisierten nur der Nachweis einer nicht vorhandenen Erblichkeit beziehungsweise die Hoffnung auf eine mittlerweile geänderte wissenschaftliche Einschätzung.524 Ein Medizinalrat nannte in einem Vortrag 1950 als einen weiteren Grund für Wiederaufnahmeverfahren: „Es ist auch vorgekommen, dass ein Antragsteller der Meinung war, ohne Erlaubnis des Gerichtes nicht heiraten zu dürfen. Dieses Motiv ist bezeichnend und beweist, wie tief das Gesetz zur Verhütung von erbkrankem Nachwuchs resp. Ehegesundheitsgesetz im Volke verankert waren.“525 Nicht nur auf Seiten der Betroffenen, auch bei Medizinern. So berichtet Herr B., dessen Ehefrau zwangssterilisiert worden war, in einem Brief an einen Hamburger Senator über die Bemühungen, nach Kriegsende eine Erlaubnis für eine Refertilisierungsoperation zu bekommen: „Seit Monaten gehen wir nun schon zum Gesundheitsamt und warten, das dass Gesetz herauskommt zu Re-sterilisieren. Doch bis jetzt leider immer vergebens. Von Woche zu Woche wurden wir vertröstet. […] Man riet uns nun die Sache privat machen zu lassen, allerdings müssten wir dann auf eine Entschädigung verzichten. Das wollten wir ja auch gerne.“ 526
Allerdings hätten drei Mediziner vor der Durchführung einer Operation eine schriftliche Erlaubnis des Gesundheitsamtes verlangt. Trotz entsprechender Bemühungen und Anfragen bei der britischen Militärregierung konnten beide eine solche Bescheinigung nicht beibringen.527
523
Bürger-Prinz (1936), S. 15. Vgl. zu den einschlägigen Fällen in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre Traenckner, Erfahrungen, S. 69-80. 524 Dies war insbesondere bei der Indikation „Schizophrenie“ der Fall. Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 80. 525 Zuvor nennt er die hier bereits aufgeführten Motive und fügt als einen weiteren Grund „Querulanz“ hinzu. Vgl. Vortrag von Medizinalrat Dr. Martinson, gehalten auf der Dienstversammlung der Kreisärzte in Iserlohn am 14.8.1950, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Wiederaufnahme Erbgesundheitsakte Nr. 16091. 526 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/47. 527 Das Amtsgericht Hamburg gab 1949 dem Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses statt. Dies, obwohl das fachpsychiatrische Gutachten bei Frau B. „angeborenen Schwachsinn“ diagnostiziert hatte. Vgl. Ebenda.
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Während einige Mediziner die Durchführung einer solchen Operation offenbar von einem für die Antragsteller positiv verlaufenden Wiederaufnahmeverfahren abhängig machten,528 scheinen andere – wohl nicht zuletzt in Bundesländern, in denen diese gar nicht möglich waren – auch ohne vorheriges Verfahren durchgeführt worden zu sein.529 Der OLG-Präsident in Braunschweig äußerte 1946 die Einschätzung, dass „in der Bevölkerung vielfach die Ansicht geäußert wird, es könnten durchgeführte Unfruchtbarmachungen im Wege der Operationen ohne weitere gerichtliche Entscheidung rückgängig gemacht werden.“530 Auch Traenckner stellte Anfang der 1950er Jahre fest, die entsprechende Rechtslage sei „uneinheitlich und verworren“. In der Britischen Zone stellten zwar die Wiederaufnahmeverfahren die gesetzliche Grundlage hierfür dar, in der Praxis würden aber auch hier Operationen ohne vorherige Gerichtsentscheidung durchgeführt.531 Bezüglich der tatsächlich durchgeführten Refertilisierungen nach 1945 gibt es lediglich vereinzelte Hinweise.532 Die Verfahrensakten selber enthalten keine weiteren Informationen darüber, ob und mit welchem Ergebnis im Einzelfall Eingriffe durchgeführt wurden. Die Erfolgsquote einer solchen Operation war dabei sehr gering. Gegenüber lediglich einzelnen Berichten offenbar gelungener Refertilisierungen533 deuten andere Aussagen von Betroffenen darauf hin, dass 528 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 28/50; Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 10/61; 2/67; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2059; Nr. 2072; Nr. 2288; Nr. 2296. Vgl. auch den Hinweis auf einen entsprechenden Standpunkt der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen bei Schröder (1947), S. 113. Vgl. auch Deutsche Medizinische Wochenschrift 78 (1953), 45, S. 1574f. Zum Folgenden vgl. Westermann/Kühl (2009). 529 So beispielsweise in Berlin. Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 6. Ein in Bremen tätiger Mediziner gab an, mancher Kliniker sei in dieser Frage noch zurückhaltend. „Aber es ist doch bekannt, dass Erbgesundheitsgerichte in ihrer Indikationsstellung weit über das Ziel hinausgeschossen sind.“ Ob es einer gesetzlichen Regelung bedürfe oder man eine solche Operation dem „freien, pflichtbewussten Entscheid des einzelnen Klinikers“ überlassen könne, werde sich zeigen. Weiter berichtet er von mehreren von ihm durchgeführten Refertilisierungsoperationen. In einem Fall sei es zur Geburt eines Kindes gekommen. Bosch (1949), Zitat S. 212. 530 Archiv OLG Hamm 6235 I, Bd. 1, abgedruckt bei Simon (1998), S. 199. 531 Vgl. Traenckner (1953). In seiner Arbeit aus dem Jahre 1951 wandte er sich explizit gegen eine Refertilisierung ohne vorherigen Beschluss eines Gerichtes. Dies stehe auch einer Verordnung der alliierten Kommandantur Berlin entgegen, wonach vor der Aufhebung von politisch, religiös oder rassisch begründeten Urteilen in jedem Fall eine Gerichtsentscheidung erfolgen müsse. Traenckner, Erfahrungen, S. 6f. 532 Zur operativen Technik und medizinischen Überlegungen vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 39-64. Eine Betroffene nennt die Operation, die auch bei ihr keine Refertilisierung erreicht, „Wiedergutmachungsoperation“. Vgl. Claasen (1987), S. 60. 533 Vgl. Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Auch B. H. berichtet von einer erfolgreichen Refertilisierung in Schweden. Brief von B. H. an
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geplante Operationen entweder aufgrund geringer Erfolgschancen und bestehender Risiken insbesondere bei Frauen bereits im Stadium entsprechender Überlegungen verworfen wurden534 oder aber ergebnislos verliefen.535 Auch in einem Schreiben des OdF wird angegeben, dass die „[i]n vielen Fällen vorgenommene[n] operative[n] Eingriffe mit dem Ziele einer Rücksterilisation [...] alle bisher negativ, also ergebnislos verlaufen“ seien.536 Untersuchungen Traenckners über Refertilisierungen in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre erbrachten ebenfalls sehr niedrige Zahlen erfolgreich verlaufener Operationen. Der Autor sah dabei zudem ein grundsätzliches Problem für die Mediziner, welche die entsprechenden Eingriffe vornehmen sollten: „Fast übereinstimmend wurde in den verschiedenen Kliniken geäußert, dass bei der Mehrzahl der Patientinnen doch ‚ein erheblicher Grad von Schwachsinn’ vorgelegen habe und man sich ernstlich überlegt habe, ob man die Operation trotz des positiven Beschlusses des Gerichtes mit seinem ärztlichen Gewissen vereinbaren könne.“537
Geht man davon aus, dass Traenckner die Aussagen der Mediziner korrekt wiedergegeben hat, sind diese ein weiteres Beispiel für eine spezifische Ethik, die sich in erster Linie eigenen ärztlichen Normierungsbemühungen und dem „Volksganzen“ verpflichtet sah. Das „Mitteilungsblatt“ berichtete in seiner Ausgabe vom September 1952, dass die Kosten für Refertilisierungsoperationen zwischen 300 und 500 DM be-
Herrn M. vom 3.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. In beiden Fällen kam es aber offenbar nicht zur Zeugung von Kindern. Vgl. auch die Mitteilungen in: Klinische Wochenschrift 26 (1948), S. 704; Geburtenhilfe und Frauenheilkunde 12 (1952), S. 834. Nach Müller beträgt allgemein die Quote erfolgreicher Refertilisierungen nach operativen Sterilisierungen bei Frauen etwa 20%, nach Vasektomien bei Männern etwa 38%. Vgl. Müller (1985), S. 19, 22. Kretz nennt demgegenüber in seiner Arbeit „eine zwischen 2 und maximal 5% liegende Chance, dass eine Refertilisierungsoperation bei undurchgängigen Tuben zu einem später lebend geborenen Kind führt [F.].“ Kretz (1967), S. 1299. 534 Vgl. z. B. Brief von A. R. vom 25.8.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Interview mit G. B. Interviewerinnen Margret Hamm, Stefanie Westermann, 31.10.2006, BEZ. 535 Vgl. z. B. Brief von K. F. vom 13.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von E. M. vom 5.5.19[87], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 536 Vgl. Bund der Opfer des Faschismus e.V., Deutsche Liga für Menschenrechte: Beschlussantrag an das 2. Europäische Parlament der Opfer des Nationalsozialismus wegen bundesgesetzlicher Entschädigung für Menschen die im Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 zwangssterilisiert wurden, vom 1. Juni 1966, in: Sprachrohr/Bund der Opfer des Faschismus, o. J., ca. 1966. 537 Er stellte in diesem Zusammenhang fest, vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen könne kein Arzt zu diesem Eingriff verpflichtet werden. Vgl. hierzu Traenckner (1953), S. 402. Vgl. auch Traenckner, Erfahrungen.
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tragen würden, diese würden in den „Entschädigungsantrag“ aufgenommen.538 Da die „Entschädigungsforderungen“ allerdings in den allermeisten Fällen abschlägig beschieden wurden, bleibt unklar, wer die Kosten trug und damit, ob die Betroffenen diese selber zahlen mussten.539 Zumindest bei für die Antragsteller positiv verlaufenden Wiederaufnahmeverfahren übernahm die Krankenkasse die Operationskosten.540 Bei Betroffenen, deren Zwangssterilisation als „rassisch“ oder politisch motiviert anerkannt worden war, wurden diese offenbar grundsätzlich übernommen.541 Dabei waren die Betroffenen zum Teil bereit, vieles auf sich zu nehmen, um die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses zu erreichen. Herr N., der wegen „erblicher Fallsucht“ sterilisiert worden war, scheiterte in der ersten Instanz seines Wiederaufnahmeverfahrens. Hiergegen legte er Beschwerde ein, in der er unter anderem ausführte, er sei zu einer weiteren Untersuchung auf eigene Kosten bereit: „Ich würde auch im Falle, dass ich mit meinem Antrag durchdringen und die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses erfolgen würde, keinerlei Schadensersatzansprüche gegen den Staat herleiten wollen, sondern will lediglich die Möglichkeit der Wiederherstellung meiner Zeugungskraft hergestellt wissen, damit meiner Frau und mir, die wir beide Kinderlieb
538
Vgl. Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, bei A. O., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 539 Eine Betroffene wandte sich beispielsweise mit der Begründung an das Amtsgericht Hagen, sie strebe eine Refertilisierung an, ihre Krankenkasse würde die Kosten aber nicht übernehmen und sie sei nicht imstande, diese zu zahlen. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3825. 540 Vgl. ZJBl. 1947, S. 58. Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947. (VO. Bl. BZ. 1947, S. 110). Amtliche Begründung; Traenckner (1953), S. 388. 541 Zuvor musste ein amtsärztliches Gutachten theoretische Erfolgsaussichten bestätigten. Vgl. Schreiben Staatsministers Zietsch, Bayerisches Finanzministerium, an das Landtagsamt München vom 3.8.1951, Betreff Eingabe des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. München, BayHStA MInn vorl. Nr. M 1068.01. Auch in der SBZ/DDR wurden die Kosten offensichtlich übernommen. Vgl. Moser (1998).
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sind, die Hoffnung auf Kinder nicht für alle Zeiten versagt bleiben möge.“542
Das Hamburger Oberlandesgericht lehnte seinen Antrag ab. Frau J., 1942 in Hamburg wegen „Schwachsinn“ sterilisiert, heiratete Anfang der 1950er Jahre einen britischen Soldaten und zog mit ihm nach Wales. „Wie sie beide angeben, haben sie 10 Jahre gespart, um ihre jetzige Reise nach Hamburg finanzieren zu können. Diese Reise soll hauptsächlich dem Zweck dienen, die Aufhebung des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichtes Hamburg […] zu erreichen.“543 Aber auch alleine das notwendige Verfahrensprozedere, insbesondere die fachmedizinische Begutachtung, forderte von den Antragstellern viel, so zum Teil mehrtägige stationäre Aufenthalte in psychiatrisch-neurologischen Kliniken, für welche sie im Zweifel Urlaubstage zu nehmen hatten,544 ferner diverse Tests, beispielsweise Liquoruntersuchungen.545 Wie sehr diese Untersuchungen von den Betroffenen als Belastung und Demütigung empfunden werden konnten, lässt – abgesehen von der Tatsache, dass das gesamte Verfahren aus diesem Grund abgebrochen wurde – der Bericht der Gutachterin über Frau M. erahnen: „Die Untersuchte gab sich höflich und arbeitete gut mit. Affektiv der Situation durchgehend angepasst, war sie nur bei für sie schwierigen Testfragen einmal tränennahe.“546 Frau R. schrieb an das Kieler Amtsgericht, wenn sie gewusst hätte, welche Schwierigkeiten sie bekommen würde, hätte sie den Wiederaufnahmeverfahrensantrag nicht gestellt.547 Dass dabei auch Erinnerungen an die Begutachtung während des „Dritten Reichs“ wach werden konnten, mag die Eingangssituation im Rahmen der psychiatrischen Begutachtung von Frau T. im Juni 1990 verdeutlichen. Die 86542
Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 7/50. Im Fall von Herrn S. wird bei einer ersten Anhörung vor dem Amtsgericht Kiel protokolliert: „Der Antragsteller erklärte, dass er bereits sei, für den Fall, dass das Gericht ein Gutachten einholen will, die Kosten für eine etwaige Unterbringung in einer Anstalt und alle sonstigen, damit im Zusammenhang stehenden Auslagen, ausser den Kosten des Gutachtens, zu tragen.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2336. Später will er ein privates Gegengutachten finanzieren, wobei, wie sein Anwalt in einem Schreiben mitteilt, es ihm weniger darum ginge, „dass die physischen und psychischen Folgen der Sterilisation beseitigt werden“, sondern vielmehr darum, „dass er wieder als bauernfähig gilt, weil er bei der Erbfolge zweier großer Bauernhöfe wegen der Sterilisation übergangen worden ist.“ Sein Antrag wurde abgewiesen. 543 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 23/60. 544 Vgl. z. B. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3841. 545 Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 252. 546 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/62. Über Frau K. heißt es im Gutachten: „Zu erwähnen wäre allerdings, dass sie versuchte, ihr peinlich erscheinende Faktoren aus ihrem Leben abzudecken.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/64. Vgl. auch z. B. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8758. 547 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313.
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Jährige wurde nach dem Wochentag und Datum befragt, was sie offensichtlich nicht korrekt beantwortet: „Auf die freundliche und betont geduldige Richtigstellung […] verfällt die Probandin mit Heftigkeit, fasst möchte man sagen, mit Entschluss, in ein lautes rufendes Greinen und teilt schließlich mit jauliger Stimme mit, das Ganze erscheine ihr ‚wie damals’ (als der Amtsarzt sie zur Sterilisation untersuchte, wie Frau S[] [die Schwester der Probandin, S.W.] erklärend hinzufügt).“548
Immer wieder kam es vor, dass Antragsteller nach einem ersten Erscheinen vor Gericht oder angesichts der Prozessbedingungen ihren Antrag zurückzogen oder dass das Verfahren beendet wurde.549 Neben den oftmals eingeforderten, aber von den Amtsgerichten nicht zu entscheidenden „Wiedergutmachungsansprüchen“, lag ein weiterer Grund hierfür in der impliziten oder expliziten Weigerung der Antragsteller, sich ambulant oder stationär in eine Klinik zu begeben und einer medizinischen Begutachtung auszusetzen.550
1. 2 Praxis der einzelnen Gerichte Waren die Eckpunkte der Wiederaufnahmeverfahren durch das GzVeN festgelegt, so konnte die genaue Ausgestaltung der Prozesse regional unterschiedlich sein: „Fest steht, dass die britische Besatzungsmacht keine verbindliche Anweisung hinsichtlich des Umgangs mit dem GzVeN herausgab, so dass die Gerichte und das Justizwesen selbst innerhalb der Zone unterschiedliche Positionen vertreten konnten.“551 Traenckner kam bereits Anfang der 1950er Jahre zu der Einschätzung: „Für die Beurteilung der Erfahrungen mit der Wiederaufnahmeverordnung von 1947 ist weiterhin wichtig, dass andere Gerichte in der Britischen Zone in der Anwendung und Auslegung der Verordnung und
548 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/89. Die weitere Untersuchungssituation stellte sich dann aber positiv dar. 549 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/77; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3844; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16081; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2386. 550 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/51; 5/52; Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/53; 2/66; 1/81. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3843. 551 Tümmers (2008), S. 180.
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auch im Verfahren und in den Ergebnissen, wie die Aktendurchsicht bei den Amtsgerichten in Hannover, Verden und Göttingen ergeben hat, in sehr wesentlichen Punkten von dem Verfahren in Hamburg abweichen.“552
In den im Folgenden untersuchten Quellenbeständen ließen sich ebenfalls regionale Unterschiede feststellen.553 Gleichwohl waren es, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, andere Verfahrenselemente, die die Prozesse unabhängig von ihrem Ort bestimmten. Jürgen Simon kommt bezüglich einer Erklärung der regionalen Unterschiede in der Beurteilungspraxis zu dem Ergebnis, dass „die Quote der Aufhebung umso höher lag, je weiter das Erbgesundheitsgericht im Dritten Reich den Gesetzestext auslegte.“554 Insbesondere in Bezug auf die eugenische Praxis im „Mustergau“ Hamburg, wo während des Nationalsozialismus überproportional viele Menschen zwangssterilisiert worden waren555 und demgegenüber bis Mitte 1952 nahezu 70% der 418 abgeschlossenen Verfahren im Sinne der Antragsteller entschieden wurden,556 scheint diese Erklärung schlüssig. In den Aktenbeständen des Hamburger Amtsgerichts557 findet sich ab 1949 bis Mitte der 1960er Jahre in der Regel ein Formblatt, welches die Antragsteller in der Geschäftstelle des Amtsgerichts, vermutlich durch Diktat, auszufüllen hatten. Dabei waren weite Teile bereits vorgegeben und jeweils individuell zu ergänzen, Nichtzutreffendes war zu streichen. Auf diesem Formular war auch die Aufforderung enthalten, Leumundszeugen beizubringen, ausgedrückt mit dem Satz „Ich beziehe mich […] wegen der normalen Art meines Verhaltens und meiner beruflichen Tätigkeit auf das Zeugnis …“ In den nachfolgenden Verfahren insbesondere seit Mitte der 1960er Jahre wurde der Antrag ohne Formblatt, aber offensichtlich mit den gleichen abgefragten Kategorien aufge552
Traenckner (1953), S. 403. Einzelheiten hierzu gab er nicht an. So wurde beispielsweise unterschiedlich mit der Frage des Umgangs mit dem Antrag eines Verstorbenen verfahren.Während das Amtsgericht Hamburg dem Antrag einer Witwe auf Kennzeichnung der Sterilisation ihres Mannes und Vater ihrer Kinder als unrechtmäßig nach einem nach Aktenlage erstellten, positiven Gutachten stattgab, lehnte das Hagener Gericht die Wiederaufnahme eines Verfahrens ab, nachdem der Antragsteller in der Zwischenzeit verstorben war und der Ehefrau kein Antragsrecht zugebilligt worden war. Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/66; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 6360. 554 Simon (1998), S. 194. 555 Zu Hamburg und den unterschiedlichen Zahlen von Zwangssterilisationen vgl. u. a. Brücks et al. (1984); Romey (1987); Rothmaler (1991); Kaminsky (1999), S. 324; Evers, Erbgesundheitspflege, S. 10f. 556 Vgl. Traenckner (1953), S. 39f. 557 Zu den frühen Hamburger Verfahren vgl. auch Klein, Verordnung; Traenckner, Erfahrungen, S. 17ff. 553
Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten
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nommen. Ähnlich waren die Formulierungen bei formal im Kieler Amtsgericht aufgenommenen Anträgen. Bei Betroffenen, die sich mit einer eigenen oder durch ihre juristischen Vertreter eingereichten schriftlichen Antragstellung an das Gericht wandten, findet sich in den Unterlagen häufig ein Mitteilungsblatt des Gerichts, in dem ergänzende Angaben abgefragt wurden. Von Interesse konnte dabei unter anderem sein, welche Schule mit welchem Erfolg besucht worden war, welcher Beruf erlernt beziehungsweise welche Tätigkeit bis zum Wiederaufnahmeverfahren ausgeübt wurde, ob der Betroffene Soldat war, ob eine Ehe eingegangen worden war, wenn ja, mit wem und wie lange, ob weitere Familienmitglieder sterilisiert worden waren, welche häuslichen Verhältnisse in der Kindheit bestanden.558 Es folgte in nahezu jedem Fall ein neurologischpsychiatrisches Gutachten der Hamburger Universitätsklinik Eppendorf,559 wobei das Anschreiben des Amtsgerichts darauf hinwies, dass die beurteilenden Mediziner im jeweiligen Fall weder im „Dritten Reich“ noch nach 1945 Funktionen am Erbgesundheitsgericht ausgeübt haben dürften.560 In den Kieler und Hagener Verfahren sind dagegen keine entsprechenden Hinweise vorhanden. Beim Kieler Amtsgericht wurden von Seiten des freien ärztlichen Beisitzers in einigen Fällen Gutachten erstellt,561 hierbei entstehende Rollenkonflikte wurden in dem Wiederaufnahmeverfahren von Frau R. mit dem Hinweis verneint, die Äußerungen würden „kein sachverständiges Gutachten darstelle[n], sondern ein Bericht über ihre richterliche Tätigkeit. Sie halte sich aus diesem Grunde nicht für befangen.“562 Bezüglich einer möglichen Befangenheit hielt das 558
Vgl. beispielsweise Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 8/60, 14/60, 15/60. Obwohl die Universitätsklinik häufig über Überlastung klagte und sich zum Teil monatelange Verzögerungen der Verfahren durch ausstehende Gutachten ergaben, bat das Gericht darum, dass wenn ebenmöglich doch Mediziner der Universitätsklinik das Gutachten erstellten, und nahmen die Verzögerungen hin. Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/65. Demgegenüber akzeptierten die Gerichte in Kiel und in Hagen Untersuchungen in unterschiedlichen Krankenhäusern. 560 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 4/48; Amtsgericht HamburgMitte 59 XIII 2/81. Traenckner gibt 1951 an, dem Hamburger Amtsgericht stünden acht Amtsärzte und acht freie Ärzte zur Verfügung, welche sich abwechselten. Traenckner, Erfahrungen, S. 17. Tümmers gibt an, auch in den Gerichtsbezirken Hamm, Köln und Düsseldorf seien nach Auskunft der Justiz nur Gutachten von Medizinern erstellt worden, die an Erbgesundheitsgerichtsverfahren nicht teilgenommen hatten. Auch hier fanden sich tatsächlich aber personelle Kontinuitäten. Vgl. Tümmers (2008), S. 183f. 561 Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2279; Nr. 2313. 562 Das Gericht lehnt den Antrag der Zwangssterilisierten, ebenso wie zuvor bereits die ärztliche Beisitzerin, ab. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313. Im Fall von Herrn S. verweigern zwei angefragte Mediziner hingegen die Erstellung eines von ihm selbst finanzierten Zweitgutachtens mit den Hinweisen, sie seien am Erbgesundheitsgericht bzw. am Erbgesundheitsobergericht als Beisitzer tätig. Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2336. 559
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht im November 1951 generell fest, dass alleine aufgrund der Zuständigkeitsbestimmung bei Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen personelle Kontinuitäten vorhanden seien. „In vielen Fällen wird daher der Richter, unter dessen Vorsitz der die Unfruchtbarmachung anordnende Beschluss ergangen ist, auch zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens berufen sein.“563 Dies wurde nicht als problematisch bewertet.564 Der langjährige Leiter Eppendorfs, der auch die von verschiedenen Assistenzärzten durchgeführten medizinischen Gutachten unterzeichnete, Hans Bürger-Prinz, war dabei ein personifiziertes Symbol der Kontinuität der „Erbgesundheitslogik“ vor und nach 1945. Während des Nationalsozialismus hatte er eine wichtige Rolle in der Zwangssterilisationspolitik in Hamburg gespielt, unter anderem als Beisitzer am Erbgesundheitsgericht,565 und darüber hinaus in Fragen der „Erbgesundheit“ und -krankheit publiziert, so unter anderem im Rahmen eines Sonderdrucks der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ mit dem Titel „Die Diagnose der Erbkrankheiten“.566 Und auch die fachmedizinischen Gutachten für das Hagener Amtsgericht wurden zum Teil von Einrichtungen erstellt, in denen im Nationalsozialismus Eugenik und „Euthanasie“-Morde praktiziert wurden,567 beispielsweise von der Universitätsnervenklinik Marburg/Lahn unter der Direktion von Werner Villinger.568 In den Wiederaufnahmeverfahren waren somit häufig zumindest institutionelle Kontinuitäten vorhanden. Diese sowie mögliche personelle Kontinuitäten dürften dabei im Ergebnis – außer für die Wahrnehmung des jeweiligen Betroffenen – aber kaum mehr ins Gewicht fallen als die faktisch vorhandenen normativen. In den Verfahren bis weit in die 1960er Jahre hinein werden, wie noch zu zeigen sein wird, vielmehr die Internalisierung eines Definitionsanspruchs und das unhinterfragte Rekurrieren auf einschlägige Maßstäbe von Erblichkeit und sozialer Erwünschtheit bei nahezu allen Verfahrensbeteiligten deutlich. 563
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2296. Vgl. zu den personellen Kontinuitäten auch Tümmers (2008), S. 181f. 565 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Karrierekontinuitäten in Hamburg: Romey (1987 und 1988), S. 231; Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991), S. 1364ff.; Grau (2009). 566 Hier zeichnete er für den Aufsatz „Die Diagnose des angeborenen Schwachsinns“ verantwortlich. Vgl. Bürger-Prinz (1936). 567 So finden sich Gutachten aus folgenden Kliniken: Universitätskliniken Münster, Köln und Marburg/Lahn, Städtische Nervenklinik Essen, Heil- und Pflegeanstalt Warstein, Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg, Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn, Heil- und Pflegeanstalt Niedermarsberg, Provinzialheilanstalt Aplerbeck, Provinzialheilanstalt Marsberg (vom Oberlandesgericht Hamm angeordnet), Anstalt Bethel. 568 Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. nicht vergeben, ursprüngliches Aktenzeichen 12 XIII 15/54. 564
Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten
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Hierfür musste niemand bereits im „Dritten Reich“ einschlägig tätig gewesen sein. Weiter enthalten die Verfahrensakten zum Teil Auskünfte aus dem Strafregister, Erbgesundheitsgerichtsurteile sowie diverse Schriftstücke, beispielsweise Eingaben der Betroffenen oder ihrer Angehörigen sowie Aussagen der Leumundszeugen. Die Verfahren dauerten in der Regel mehrere Monate, zum Teil über ein Jahr, konnten aber auch in „dringlichen“ Fällen – hier war die Antragstellerin beispielsweise aus Großbritannien angereist – vor dem Amtsgericht Hamburg innerhalb weniger Wochen durchgeführt werden.569 Ein vergleichbarer Fall in Kiel, in dem die Antragstellerin zu ihrem Verlobten nach Australien auswandern wollte, dauerte hingegen etwa sieben Monate.570 Im Fall von Frau K. wurde das Verfahren für zwei Jahre ausgesetzt, „um festzustellen, ob sich die Antragstellerin bewähren würde.“571 In den Verfahren seit Mitte der 1960er Jahre scheint in Hamburg häufig nur nach Aktenstudium und ohne Sitzung entschieden worden zu sein. Zumindest deutet der in den Akten enthaltene Schriftverkehr, in dem die einzelnen Beisitzer sich zum Antrag und zum Gutachten des Betroffenen und zu einem möglichen Gerichtsbeschluss äußern, ebenso darauf hin wie Formulierungen wie: „Das Gericht folgt diesem Gutachten, weil es aufgrund der eingehenden Begründung von dessen Richtigkeit überzeugt ist.“572 Auf Wunsch des Betroffenen waren Anhörungen vor Gericht aber weiterhin möglich.573 Auffallend an den Verfahren in Kiel ist, dass im Unterschied zu Hamburg und Hagen in weitaus weniger Fällen ein medizinisches Fachgutachten eingeholt wurde, und wenn, so waren sie zumeist deutlich kürzer und verzichteten auf umfangreiche Testverfahren.574 Im Regelfall hatten die Betroffenen hier für das Gericht einen handgeschriebenen Lebenslauf anzufertigen575 und vor Gericht 569
Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 23/60. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2301. 571 Eine solche „Bewährung“ trat nach Auffassung des Gerichts nicht ein. Erschwerend hinzu kam „eine gewisse familiäre Belastung“, so dass der Antrag abgelehnt wurde. Vgl. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 13/55. 572 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/81.Vgl. auch z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 5/65; 3/80; 6/80. 573 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/87. 574 Vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2346. 575 Hierzu wird in einem Schreiben 1955 ausgeführt: „Aus dem Lebenslauf muss sich Ihr Geburtsort ergeben. Aus ihm muss weiter ersichtlich sein, welche Schule Sie besucht haben. Welchen Erfolg hatte der Schulbesuch? Können Sie noch lebende Lehrer namhaft machen? Was haben Sie nach der Schulentlassung getrieben? Haben Sie eine Lehrzeit durchgemacht oder sonst einen Beruf gehabt? Welche Arbeitgeber haben Sie seit 1945 gehabt?“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2370. 570
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
beziehungsweise in einer Begutachtung des amtsärztlichen Beisitzers als Sachverständigem in einer Art Vorverfahren einen Intelligenztest durchzuführen.576 Erst dann wurde über die Einholung eines Fachgutachtens entschieden und hierbei ein stationärer Aufenthalt von bis zu drei Wochen genehmigt.577 Nicht selten verzichtete das Gericht auf jegliche Begutachtung oder Prüfung. Im Fall von Herrn R. beispielsweise beschloss das Gericht aufgrund der vorhandenen Akten sowie der Anhörung des ehemaligen Vorgesetzten des Antragstellers und des Betroffenen selbst vor Gericht, den Antrag abzulehnen, da Herr R. immer nur einfachen Arbeiten nachgegangen sei und auf seine Umgebung den „Eindruck eines Schwachsinnigen machte“.578 In den Verfahren Ende der 1940er und während der 1950er Jahre wurde zudem eine Art polizeiliche oder fürsorgerische „Lebensermittlung“ eingeholt, welche unter anderem die Haushaltsführung, das Verhalten im Alltag und die Meinung des Umfeldes abfragte. In der Urteilsbegründung über Frau H. wurde im Oktober 1949 festgehalten, die Antragstellerin „hatte feste und klare Vorstellungen über ethische und soziale Begriffe und erscheint, wie der Bericht der Stadtfürsorgerin ihres Wohnkreises ergibt, in der Umgebung als vollwertig. Ihre Lebensführung gibt zu Tadel keinen Anlass.“579 In der Wiederaufnahmeverfahrensakte von Frau T., die wegen „angeborenen Schwachsinns“ zwangssterilisiert worden war, findet sich eine Mitteilung an die Polizeiverwaltung im Kreis Eutin vom September 1949, in der „um Übersendung eines eingehenden Führungsberichtes ersucht“ wird. Der – „streng vertraulich“ zu behandelnde – „Ermittlungsbericht“ sollte unter anderem Angaben darüber enthalten, „wie die Antragstellerin ihrer Umwelt erscheint“, ob der „Haushalt einen geordneten Eindruck“ mache und wie die „Schulleistungen der Kinder“ seien. Der antwortende Polizeimeister konnte nur Positives berichten und schildert Frau T. als „gute, ehrbare Frau […], die in jeder Beziehung nicht nur ihre Pflichten erfüllt, sondern darüber hinaus, in manchen Angelegenheiten angenehm auffällt.“580 Im Fall von Frau K. forschte die Kriminalpolizei nicht nur über die Antragstellerin, der nach offensichtlich eigenen Ermittlungen attestiert wurde, „eine gute Hausfrau geworden zu sein“, sondern ebenso über ihren Sohn. Hierbei wurde seiner Schule ein 21 Punkte umfassender Fragebogen zugesandt, der neben den
576
Vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2059. Vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2082. 578 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2366. Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2370. 579 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2094. 580 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2072. 577
Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten
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Leistungen auch das Sozialverhalten, die „Phantasietätigkeit“ und das „Sexualbewusstsein“ abfragte.581 Auch die Ladung von ehemaligen Lehrern oder Arbeitgebern beziehungsweise Vorgesetzten als Zeugen vor Gericht, der Nachweis der Beschäftigungsverhältnisse von Seiten des Arbeitsamtes und ein Auszug aus dem Strafregister waren Bestandteile des erbgesundheitsgerichtlichen Reglements des Amtsgerichts Kiel und der Oberlandesgerichts Schleswig.582 In seinem Selbstverständnis kam dem Amtsgericht Kiel offensichtlich eine stark eigenständige Rolle bei der Ermittlung über die Wiederaufnahme von Sterilisationsverfahren zu. Bereits im ersten Verfahren wurde in der Entscheidung kaum auf das Fachgutachten eingegangen, dessen Beurteilung gar implizit verneint und vielmehr auf die eigene Urteilsfindung hingewiesen.583 Hinzu kam eine Eigendynamik der vom Gericht angeforderten Unterlagen über einen Betroffenen im Sinne einer self-fullfilling prophecy.584 Besonders deutlich wird Letzteres im Verfahren von Herrn A. vor dem Kieler Amtsgericht. Im Juni 1953 wurde sein „privatschriftlicher“ Antrag auf Aufhebung des Beschlusses wegen „angeborenen Schwachsinns“, ohne ihn vor Gericht gehört oder ein Gutachten angeforter zu haben, mit der Begründung abgelehnt: „Die zahlreichen Vorstrafen des Antragstellers und der Umstand, dass am 8.9.1948 auch seine Unterbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt erkannt wurde, lassen nur den Schluss zu, dass das Erbgesundheitsgericht keinesfalls von einer falschen medizinischen Beurteilung ausgegangen ist.“585 Wurden in Verfahren vor dem Hamburger Amtsgericht nahezu immer und im Fall des Amtsgerichts Kiel eher selten fachmedizinische Gutachten im Rahmen 581
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313. Auch in einem anderen Fall erstattete die Kriminalpolizei umfassenden Bericht, in welchen offensichtlich Befragungen der Vermieter, Nachbarn, Kollegen und Vorgesetzten eingegangen waren. Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2301. 582 Vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2286; Nr. 2296; Nr. 2326; Nr. 2378. 583 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2053. 584 Vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2364; Vgl. hierzu auch Krieg (1984), S. 21ff. Kritisch hierzu Betroffene in: Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2306; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3908. 585 Herr A. legte hiergegen Beschwerde ein; auch das Oberlandesgericht lehnte den Antrag nachdem der Antragsteller nicht vor Gericht erschienen war ohne weitere Explorationen ab, insbesondere mit Hinweisen auf seine kriminellen Handlungen und fehlenden Anhaltspunkten für mögliche exogene Ursachen des „Schwachsinns“. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2316. Vgl. auch z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2062; Nr. 2094.
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
der Wiederaufnahmeverfahren eingeholt, so scheint das Amtsgericht Hagen hierin eine Zwischenposition eingenommen zu haben. Auch hier entschied das Gericht, ob ein Gutachten notwendig war, bejahte dies aber in vielen Fällen. Die Begutachtungen setzten dann oftmals mehrtägige stationäre Untersuchungen voraus.586 So wurde im Fall von Frau S. ausdrücklich darauf hingewiesen: „Die von der Antragstellerin abgelegt[e] Intelligenzprüfung war im Ganzen derart günstig […] dass das Gericht entgegen der sonstigen Gepflogenheit in diesem Falle sogar davon absehen konnte, das Gutacht[en] eines Sachverständigen beizuziehen.“587 Bei Herrn B. kam das Hagener Amtsgericht hingegen zu dem Schluss, den Antrag ohne weitere Prüfung abzulehnen, denn: „Nach den vom Gericht in dem Verhandlungstermin am 12.10.1956 auf Grund eigener Sachkenntnis getroffenen Feststellungen bietet der Antragsteller das typische Erscheinungsbild des Schwachsinns. Die vorgenommene Intelligenzprüfung zeigte einen deutlichen Mangel an Schulwissen, Fragen aus dem Arbeitsmilieu wurden nach oberflächlichen Gesichtspunkten beantwortet. […] Nach dem Akteninhalt des früheren Verfahrens ist die erbliche Belastung des Antragstellers offensichtlich; auch die eingehende Befragung des Antragstellers ließ keine Umstände erkennen, die auf exogene Faktoren als Voraussetzung des festgestellten Schwachsinns hinweisen könnten.“588
Gemeinsam war den Verfahren, dass zum einen die Unterlagen der nationalsozialistischen „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ und die einschlägigen Bestände von Gesundheits- und Fürsorgebehörden, soweit noch vorhanden, herangezogen und als „objektive“ Zeugnisse gewertet wurden.589 Zum anderen kam der medizinischen Begutachtung in den Verfahren ein großes Gewicht zu, 586
Vgl. z. B. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 252. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 738. 588 Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3849; vgl. auch Ebenda Nr. 3780; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 194. 589 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/49. Das Gutachten über Herrn E. stützte sich auf die „durchgeführten ambulanten Untersuchungen, auf die Akte des Amtsgerichts und des Erbgesundheitsgerichts […], die mitübersandte Akte des Gesundheitsamts Hamburg […], die Personalbögen der Oberschulbehörde, den Strafregisterauszug, eine frühere Krankengeschichte des hiesigen Krankenhauses […] und auf Angaben der Ehefrau.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/54. In einem anderen Verfahren heißt es, „objektive Unterlagen über den damaligen Sterilisierungsbeschluss stehen nicht mehr zur Verfügung.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/62. In einem Kieler Verfahren Anfang der 1950er Jahre befindet sich bei den Unterlagen eine ausführliche Erbkartei. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2327. 587
Wiederaufnahmeverfahren im Verständnis der Prozessbeteiligten
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wenngleich in einigen Fällen das Urteil des Gerichts von dem des Gutachters abwich. Auch die Lebensläufe der antragstellenden Betroffenen ähneln sich, so in finanziell und sozial belasteten Kindheiten, nicht selten mit Aufenthalten in Heimen oder Betreuung durch die Fürsorge und einer als unterdurchschnittlich gemessenen Intelligenz bei zugleich oftmals besseren Leistungen in den so genannten Handlungsteilen.
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
2. Staat und Individuum im Kontext der Wiederaufnahmeverfahren 2. 1 Beurteilungen und Entscheidungskriterienen der Gutachter und Gerichte Die nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichte urteilten über vermeintlich genetisch bedingte Krankheiten und Behinderungen, aus deren Existenz sie das Recht einer gewaltsamen Unterbindung ihrer Weitergabe ableiteten sowie über den sozialen „Wert“ der zur Sterilisation Angezeigten. Sie konfrontierten die Betroffenen mit Anamnesen und undurchsichtigen Testverfahren und ließen sowohl in der medizinischen Begutachtung als auch im Prozess selbst soziale Vorurteile und herabwürdigende Einschätzungen zum Ausdruck kommen. Maßstab war dabei zum einen eine diffuse „Volksgesundheit“, welche es vor Degeneration zu schützen galt, zum anderen kamen unverkennbar normative Kriterien, die sich an bürgerlich-elitären Sozial- und Wertvorstellungen orientierten, zur Anwendung. Die Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse in der Bundesrepublik setzten in Zusammenarbeit mit den medizinischen Gutachtern diese Tradition jahrzehntelang fort. Erneut urteilten sie über die Betroffenen, ohne die medizinischen, juristischen und ethischen Grundlagen ihrer Tätigkeit in Frage zu stellen, legten eigene Maßstäbe an das Leben anderer, entschieden über gelungene oder misslungene „Lebensbewährung“. Die allgemeinen Beurteilungskriterien der medizinischen Gutachter ebenso wie der zu Gericht Sitzenden in den Wiederaufnahmeverfahren waren die Frauge der Erblichkeit beziehungsweise Angeborenheit der diagnostizierten Mängel sowie der Grad der Intelligenz und die soziale Einordnung des Betroffenen. Ließen diese Kriterien bereits einen großen Interpretationsspielraum zu, so konnten die konkreten Entscheidungsgrundlagen mit Beliebigkeit variiert werden. „Erbgesundheitslogik“, Sozialdiagnostik und Beliebigkeit Gemäß der eugenischen Argumentation kam der Familienanamnese oftmals, aber längst nicht immer, Bedeutung bei der Entscheidung über einen Wiederaufnahmeverfahrensantrag zu. Hierfür wurden die soziale Situation der Herkunftsfamilie, mögliche Erkrankungen oder soziale Auffälligkeiten wie häufiger Alkoholkonsum und mangelnde soziale Angepasstheit der Eltern oder Geschwister sowie nicht zuletzt die Frage nach der möglichen Sterilisation von Verwandten abgefragt und in die Bewertung des Antragstellers mit einbezogen. Im Fall von Frau R. hielt die Gutachterin fest: „Diese erblich von beiden Seiten schwer belastete Person tut gut, solange sie unter gutem Einfluss steht und
Staat und Individuum im Kontext der Wiederaufnahmeverfahren
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gleitet ab, sobald ein schlechter Einfluss sich bei ihr auswirkt.“590 Das Oberlandesgericht Schleswig urteilte über eine wegen „angeborenen Schwachsinns“ zwangssterilisierte Frau: „Sie stammt offensichtlich aus einer erblich belasteten Familie. Nach dem Aktenvermerk der Fürsorgerin in Lübeck waren beide Großväter Trinker.“591 Das Amtsgericht Hagen lud im Juni 1958 Geschwister einer Antragstellerin vor, um die „familiäre Belastung“ zu klären.592 Die im Rahmen der Familienanamnesen skizzierten Sozialisationsbedingungen des Betroffenen konnten dabei in wenigen Fällen als eine Erklärung für festgestellte Defizite herangezogen werden, zumeist wurden sie als Beleg der „familiären Belastung“ mit „minderwertigem“ Erbgut gewertet.593 Waren Kinder des Betroffenen vorhanden, wurden auch diese beurteilt: „Die Tochter selbst macht einen ruhigen, einfachen, jedoch keineswegs minderbegabten Eindruck bei anständiger Gesinnung.“594 In diesem Kontext wiederholte sich nicht selten die Stigmatisierung sozialer Gruppen und Institutionen, beispielsweise wenn ein Mediziner folgerte: „Sie hat einen Sohn, der die Hilfsschule besucht; auch bei ihm liegt demnach eine Debilität vor.“595 Zum Abschluss seiner Stellungnahme betonte dieser Gutachter, „[…] dass ausser der Pat. selbst auch ihre Schwester wegen Schwachsinns sterilisiert worden ist. Beide Geschwister haben Kinder, auf die dieser Schwachsinn bereits vererbt worden ist. Es kann demnach kein Zweifel bestehen, dass bei der Pat. ein angeborener Schwachsinn vorliegt.“596 Auch die Berufung auf den Kommentar zum GzVeN findet sich hierbei: „Dass ihre beiden aus erster Ehe geborenen Kinder […] nicht schwachsinnig sind, kann nach herrschender Erblehre – vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses […] – nicht als Grund eines nicht bestehenden Schwachsinns angesehen werden.“597 Wurde bei der Indikation „Schwachsinn“ bereits im Nationalsozialismus auf den Zusatz „erblich“ verzichtet und statt dessen die Bezeichnung „angeboren“ 590
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2327. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 44 und Nr. 6362. 592 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3867. 593 Zu dem gleichen Vorgehen im „Dritten Reich“ am Beispiel der Sachverständigengutachten in Bonner „Erbgesundheitsverfahren“ vgl. Einhaus (2006), S. 99f. 594 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 47/50; vgl. auch z. B. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 738; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3803. 595 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 1/51. 596 Ebenda. 597 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2082. 591
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II Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen
verwendet,598 so wurde auch in den Wiederaufnahmeverfahren nach 1945 weniger auf die Frage der Erblichkeit als vielmehr auf Intelligenz und „Lebensbewährung“ rekurriert. Der Versuch des Nachweises einer einschlägigen „erblichen Belastung“ trat dahinter zurück und spielte eher die Rolle eines verstärkenden Moments der jeweiligen Beurteilung. Wenn allerdings eindeutig exogene Ursachen angenommen werden konnten, beispielsweise eine Hirnschädigung im Kindesalter als Grund für einen diagnostizierten „Schwachsinn“, wurde das Sterilisationsurteil zumeist gutachterlich verneint und gerichtlich aufgehoben.599 Demgegenüber bemühten sich Gutachter und Gerichte bei anderen Indikationen argumentativ oftmals um eine enge Anlehnung an medizinische und genetische Kriterien. Bei Herrn N., dessen Sterilisationsindikation „erbliche Fallsucht“ lautete, sah der Gutachter „Verdachtsmoment[e]“ bezüglich einer vorhandenen Epilepsie und sprach sich gegen die Aufhebung des Urteils aus.600 Bei einer anderen Betroffenen, deren Antrag positiv beschieden wurde, war hingegen „[n]ach Ansicht des hier erkennenden Erbgesundheitsgerichts […] nicht mit ausreichender Sicherheit eine erbliche Epilepsie nachzuweisen.“601 Zur Diskussion der Frage einer möglichen Erblichkeit des Leidens und der
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Vgl. hierzu die Einschätzung Bonhoeffers: „Beim angeborenen Schwachsinn verließ das Gesetz die sonst strenge innegehaltene eugenische Indikation und gab der sozialen insoweit Raum, als es die Sterilisierung auch unabhängig von dem Nachweis der Erblichkeit zuließ. Der Grund war die Schwierigkeit der Differenzierung des erblichen vom angeborenen Schwachsinn, und die stillschweigende Voraussetzung, dass im einen wie im anderen Fall die Erfüllung der elterlichen Aufgabe einer guten Aufzucht der Kinder nicht zu erwarten steht.“ Bonhoeffer (1949), S. 4. Dabei ging es allerdings nicht nur um die Wahrnehmung erzieherischer Aufgaben, sondern auch um die „soziale Brauchbarkeit“ des Betroffenen. 599 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/67. In zumindest einem Fall wurde in der Urteilsbegründung allerdings nicht der exogene Faktor genannt, sondern vielmehr darauf verwiesen, dass der Antragsteller einen „frischen Eindruck“ machte und die ihm gestellten Fragen beantworten konnte. Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 4/52; Vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 12/60. 600 Das Amtsgericht sowie das vom Antragsteller angerufene Oberlandesgericht lehnten die Aufhebung ebenfalls ab. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 7/50. 601 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 7/60. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/56. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 1948; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 6356.
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daraus folgenden Sterilisationsindikation wurde dabei auch einschlägige Literatur, so der Kommentar zum GzVeN herangezogen.602 Im Fall von Frau A., die 1942 aufgrund „schwerer körperlicher erblicher Missbildung“ sterilisiert worden war, kam das Gutachten nach umfangreicher Familienanamnese zu dem Schluss, das Leiden sei wohl anlagebedingt, die Vererbungswahrscheinlichkeit aber als nicht sehr hoch zu bewerten. Dem Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses wurde in der Folge stattgegeben.603 Bei Frau K. diskutierte der begutachtende Mediziner zunächst, ob es sich bei ihr um eine erbliche oder eine erworbene Taubheit handele, und bat „[…] das Gericht für die Aufstellung eines Stammbaumes Sorge zu tragen.“604 Das Gericht bemühte sich darum, aber das angefragte Dortmunder Gesundheitsamt teilte mit, dies sei nicht seine Aufgabe, und verwies auf das Gesundheitsamt Gelsenkirchen, wo möglicherweise eine Sippentafel vorhanden wäre.605 Eine solche wurde dem Hagener Amtsgericht auch übersandt, war aber offenbar nicht aussagekräftig und auch Frau K. selbst konnte „trotz größter Bemühungen“ nichts dergleichen nachweisen und nur eine eidesstattliche Erklärung ihrer Eltern über nicht vorhandene einschlägige erbliche Belastungen vorlegen. Der um eine abschließende Einschätzung gebetene Gutachter der Kölner HNOUniversitätsklinik schloss ebenfalls beide Möglichkeiten nicht aus, sprach sich am Ende aber für eine größere Wahrscheinlichkeit bezüglich der Erblichkeit 602 So beispielsweise 1960 von der Universitätsaugenklinik Münster. Ein Mediziner einer Dortmunder Augenklinik hatte die Untersuchung zuvor mit dem Hinweis abgelehnt, seine Klinik besitze „keine neuen Arbeiten über Erbfragen bei Augenkrankheiten. Das will keinesfalls sagen, dass das Interesse in solchen Fragen nicht etwa sehr wach ist […].“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3854. Im Fall des blinden Herrn F. wurde der Wiederaufnahmeantrag abgewiesen, wobei das Gericht sich dem Gutachten, in dem der Sachverständige ein erbliches Augenleiden vermutet hatte, anschloss und in der Urteilsbegründung Vermutungen, so über die Blindheit des Vaters des Antragstellers, als Tatsachen darstellte. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/62; bei Frau H. wurde hingegen dem Antrag statt gegeben. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3854. 603 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 21/60. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3791. Hier wurde die Vererbbarkeit des Leidens als erwiesen angesehen und in beiden Instanzen der Antrag auf Aufhebung des Urteils abgelehnt. 604 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14025. 605 In einem anderen Fall übersandte das Gesundheitsamt Soest dem Hagener Amtsgericht 1950 die angeforderte Erbgesundheitsgerichtsakte einer Antragstellerin und wies dabei gleichzeitig auf die wohl interessierenden Fragen hin: „In ärztlicher Beziehung ist von Bedeutung, dass ein Bruder der I[…] J[…] etwa 1 Jahr später wie die Genannte ebenfalls wegen Schizophrenie in die Provinzialheilanstalt Eickelborn eingewiesen werden musste. Das Verfahren auf Unfruchtbarmachung wurde bei diesem Bruder gleichfalls durchgeführt.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 196. Auch bei Frau L. wurde eine Sippentafel in die medizinische Begutachtung einbezogen. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3785; vgl. auch Ebenda, Nr. 3857.
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aus. „Ein Beweis lässt sich aber für die Erblichkeit der Erkrankung nicht erbringen.“606 Das Gericht wies dennoch im Februar 1953 – zweieinhalb Jahre nach der Antragstellung – die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses zurück. Ebenfalls „im Zweifel gegen den Antragsteller“ urteilte das Amtsgericht Hagen bei Frau J., welche wegen Schizophrenie sterilisiert worden war. Kam der Gutachter der Universitätsklinik Münster zu dem Ergebnis: „Fräulein J. bietet zweifellos nicht das typ[isch] ausgeprägte Bild einer sog. Defektgeheilten Schizophrenie, jedoch ist bei subtilster Analyse des Persönlichkeitsbildes nicht auszuschließen, dass noch jetzt Restsymptome der 1936/37 durchgemachten schizoformen Psychose bestehen.“, so wies das Gericht ihren Antrag mit der Begründung zurück, es hätten sich keine neuen Umstände zur Prüfung des Sachverhaltes ergeben, und der Sachverständige sei zu dem Ergebnis gekommen, „dass noch jetzt Restsymptome einer 1936 - 37 durchgemachten schizoformen Psychose bestehen.“607 Auch in diesem Fall wurden somit aus Vermutungen oder bestehenden Restunsicherheiten Tatsachen gemacht. Frau J. legte gegen das Urteil Beschwerde ein. Ein weiteres Gutachten, nun der Kölner Universitätsklinik, kam zu dem Ergebnis, es hätte im Erbgesundheitsgerichtsverfahren keine „zwingende Schizophreniediagnose“ vorgelegen, auch das Oberlandesgericht sah das Urteil als nicht hinreichend gesichert an und hob den Sterilisationsbeschluss auf.608 Bei zwangssterilisierten Sinti und Roma609 wurden die Verfahren ebenfalls vollständig und ergebnisoffen durchgeführt. Im Fall von Frau G. wurde zur Erklärung ihrer festgestellten geringen intellektuellen Leistungen lediglich auf ihre Kindheit im Sammellager und den fehlenden Schulbesuch hingewiesen. In der Urteilsbegründung findet sich dann auch kein Wort über die ursprünglich mit größter Wahrscheinlichkeit vorhandenen „rassischen“ Gründe für die Zwangssterilisation, vielmehr wird die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses mit der gelungenen sozialen Einordnung begründet.610 606
Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14025. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 196. 608 Ebenda. Vgl. auch den Fall von Frau G., bei welcher das Urteil zur Sterilisation wegen Schizophrenie vom Hagener Amtsgericht ebenfalls nicht aufgehoben wurde. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3782. 609 Zur Verfolgung der Sinti und Roma am Beispiel Köln vgl. Fings/Sparing (2005). 610 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 10/61. Im August 1955 erreichte das Hamburger Amtsgericht ein Schreiben des Rechtsanwaltes einer Sintizza, die als „schwachsinnig“ sterilisiert worden war. Vermutet der Anwalt rassistische Motive bei der Zwangssterilisation, so findet sich der Vermerk des Amtsgerichtes, dass von Seiten der Antragsteller unter anderem der Schulabschluss, der Berufsweg, ein Strafregisterauszug sowie die Frage nach Verwandten, die von einem Erbgesundheitsgerichtsverfahren erfasst worden waren, beizubringen seien. Die Akte endet mit einer Nachricht des um ein fachpsychiatrisches Gutachten gebetenen Universitätskrankenhauses Eppendorf, Frau R. sei trotz wiederholter Aufforderung nicht zur Unter607
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Trotz dieser in der Anamneseerhebung und den Begrifflichkeiten feststellbaren Kontinuität stellt die Linie zwischen einer nationalsozialistischen und bundesrepublikanischen Eugenik nur einen Strang der Theorie und Praxis der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen dar. Ein anderer, mindestens ebenso einflussreicher, betrifft das Selbstverständnis der urteilenden Mediziner und Juristen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Fragen nach der Deutungshoheit über „erwünschtes Sozialverhalten“ und „individuelle Lebensgestaltung“ und nach dem Umgang von Vertretern einer juristischen und medizinischen Elite611 mit anderen gesellschaftlichen Gruppen von Bedeutung. Der Übergang von einer „Wertelite“, die ihre „gesellschaftliche Besserstellung und Herausgehobenheit […] mit […] geistiger und moralischer Überlegenheit gegenüber den primitiven und ungebildeten Massen“612 rechtfertigt, zu einer sich lediglich durch herausragende individuelle Leistung legitimierenden „Funktionselite“ wird zumeist nach dem Zweiten Weltkrieg verortet.613 Betrachtet man jedoch die im Rahmen der Wiederaufnahme von Erbgesundheitsgerichtsverfahren tätigen Juristen und Mediziner, so lässt sich die These formulieren, dass es nach 1945 nur partiell und mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu einer neuen Selbstlegitimation der bundesrepublikanischen Eliten gekommen ist.614 Neben der neuen Selbst- wie Fremdzuschreibung als Funktionselite blieb offensichtlich zumindest bei einem Teil ein Selbstverständnis als Wertelite unter Beibehaltung der überkommenen Inhalte virulent. Die Zusammenhänge zwischen Sozialdiagnostik und „Erbdiagnostik“ kamen bereits in den Diskussionen über Sterilisationsindikationen in der Weimarer suchung erschienen. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 14/55. Vgl. auch die vom Kieler Amtsgericht in Auftrag gegebenen polizeilichen Ermittlungen im Fall einer Sintizza. Das Verfahren wurde abgebrochen, als festgestellt wurde, die Antragstellerin sei bereits 1932 und ohne entsprechendes Gerichtsverfahren sterilisiert worden. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2086.Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3800 Hier ging der Gutachter auf die rassistischen Hintergründe ein, das Gericht nicht. Dem Antrag wurde dennoch stattgegeben. 611 Der Begriff „Elite“ wird in der Forschung unterschiedlich definiert. „Die allgemeinste Vorstellung von Eliten zielt auf Minderheiten von Personen, die sich in einem Prozess der Auslese und Konkurrenz herausgebildet haben, der ihre herausgehobene Stellung zugleich rechtfertigt und begründet.“ Kaina (2004), S. 8. 612 Vgl. Wiesendahl (2007), S. 15. 613 Ebenda, S. 16-19. In der Forschung gibt es nach Bernhard Schäfers einen weitgehenden Konsens darüber, dass sich die Funktionseliten bezüglich ihres Bildungsniveaus deutlich von der Gesamtbevölkerung unterscheiden und zumeist aus Familien mit hohem sozialen Status stammen. Schäfers (2004), S. 4. 614 Zu diesem Wandel vgl. Wiesendahl (2007).
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Republik zum Ausdruck. Hier wiesen Rassenhygieniker „auf den fließenden Übergang vor allem zwischen ‚sozialer’ und ‚eugenischer’ Indikation hin und insistierten zugleich, dass die ‚eugenische’ tatsächlich eine ‚soziale’ sei: nämlich ein Urteil darüber, ob ein Kind ‚Nutzen’ oder ‚Ballast’, für den ‚Volkskörper’ ein ‚Fremdkörper’ sei.“615 Die soziale Perspektive und die damit verbundene normative Bewertung einer vermeintlich klaren medizinischen Indikation zeigte sich auch in den 1936 erschienenen Ausführungen von Hans Bürger-Prinz, der in den fachpsychiatrischen Gutachten der Universitätsklinik Hamburg bis Ende der 1960er Jahre eine unumstrittene Autorität blieb: „[…] zweifellos ist ein Grenzfall zwischen Schwachsinn und ‚physiologischer Dummheit’ jeweils anders zu bewerten, wenn er aus schwerbelasteter Familie stammt oder aus kriminellem Milieu oder aus sozial geordneten Verhältnissen kommt.“616 Im Oktober 1948 hielt das Amtsgericht Kiel fest, „[…] dass die Antragstellerin in praktischen Fragen die Erfahrungen aufwies, wie sie von Frauen ihres Standes verlangt werden.“617 Das Oberlandesgericht Hamm führte in der Begründung eines in zweiter Instanz abgelehnten Wiederaufnahmeverfahrens aus: „In dem Lebensgang des Beschwerdeführers zeigen sich nirgends Ansätze zu einer geordneten Berufsausbildung oder ein Streben nach sozialem Aufstieg.“618 Im Fall des Herrn A. bescheinigte hingegen das medizinische Gutachten eine erfolgte „Verbürgerlichung“.619 Sozialer Aufstieg und damit einhergehend eine Annäherung an die Schicht der Mediziner und Juristen der Wiederaufnahmeverfahren wurden zu bewussten oder unbewussten Beurteilungskriterien.620 Dies implizierte eine Pathologisierung621 normabweichenden Verhaltens und intellektueller Minderbegabung. In diesem Kontext findet sich häufig die Kategorie der „Lebensbewährung“. Wesentliche Elemente dieser im Laufe der Jahrzehnte durchaus Änderungen unterliegenden und von der jeweiligen Interpretation des einzelnen Mediziners abhängigen „Lebensbewährung“ waren die Intelligenz des Betroffenen, seine Erwerbsfähigkeit und -bereitschaft, seine soziale Integration und die Ein615
Bock (1986), S. 57. Bürger-Prinz (1936), S. 13. 617 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2059. In einem anderen Fall wurde festgestellt: „Wenn er sich auch sozial eingeordnet hat, so liegt doch sein gesamtes Niveau unter dem Durchschnitt der Menschen seines Lebenskreises.“ Landesarchiv SchleswigHolstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2286. 618 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14563. 619 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356. 620 Vgl. auch die Ergebnisse von Christiane Rothmaler für die nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtsverfahren in Hamburg. Rothmaler (1991), S. 140. 621 Vgl. auch den Forschungsansatz innerhalb der Medizingeschichte zur „Medikalisierung“. Ein Überblick hierzu und zur Kritik bei Eckart/Jütte (2007), S. 312-318. 616
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haltung gesellschaftlicher Normen. Zusammen mit der Frage nach der gesellschaftlichen „Brauchbarkeit“ des Antragstellers wurden damit letztendlich soziale Normierungen zu einem wesentlichen Maßstab bei der Beurteilung der Betroffenen. Im Fall der wegen „angeborenen Schwachsinns“ zwangssterilisierten Frau L. stellte das Gericht 1959 fest, sie entstamme offensichtlich ungünstigen familiären Verhältnissen. Versuche, sie mit Hilfe der Fürsorge in geregelte Arbeitsverhältnisse zu bringen, wären gescheitert. Sie wäre dann der Prostitution nachgegangen, „bis sie endlich durch die Haushaltsführung bei einem älteren, alleinstehenden Herrn der Verpflichtung, diesem Erwerb nachzugehen, enthoben wurde.“ Es folgte eine offensiv formulierte Begründung des ablehnenden Bescheids: „Bei diesem Sachverhalt kann festgestellt werden, dass es sich – wenn auch ein Gutachten für die Antragstellerin günstig ausgefallen ist, – bei der Antragstellerin um eine haltlose, äußeren Einflüssen gegenüber leicht zugängliche Psychopathin handelt, welche als asozial zu bezeichnen ist. Diese Feststellungen genügen zur Begründung des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichts. Für diese Feststellung ist unerheblich, ob im Übrigen die Intelligenz den Ansprüchen einigermaßen genügt. Entscheidend war die Fähigkeit und die Möglichkeit, sich der Gemeinschaft der Gesellschaft einzuordnen. Da somit der Beschluss der Erbgesundheitsgerichts keine Mängel erkennen lässt, war der gestellte Antrag zurückzuweisen.“622
In manchen Fällen wurde eine solche „Lebensbewährung“ zwar konstatiert, aber als nicht ausreichend angesehen und zumindest teilweise abgewertet. So stieß Frau C. mit ihrer Lebensführung auf wenig Verständnis: „Frau C. macht den Eindruck einer harmlosen und gutartigen Frau. Sie lebte – auch während ihrer beiden Ehen – im elterlichen Haushalt. Ihre Abhängigkeit, Unsicherheit und Unzulänglichkeit bewies sie stets dadurch, dass sie sich fügsam den Anleitungen und Anweisungen der Eltern unterordnete.“623
Das Gutachten hält weiter fest, es hätten sich bei der Exploration „keine Hinweise für eine heriditäre Belastung“ ergeben. Dennoch wurde eine Aufhebung des Sterilisationsurteils nicht empfohlen, möglicherweise da laut Einschätzung der Gutachter „Frau C. nicht in der Lage ist, eigene Kinder zu erziehen und zu 622 623
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2394. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 18/59.
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ernähren.“624 Obwohl damit die medizinischen und juristischen Grundlagen – der Nachweis der Erblichkeit beziehungsweise des Angeborenseins – des Sterilisationsbeschlusses negiert waren, wies auch das Gericht 1960 den Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses zurück. Zwei Jahre später wurde nach zahlreichen Protestschreiben ihrer Anwälte und einem erneuten Gutachten das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben.625 Die Kategorie der Lebensbewährung bezog sich inhaltlich neben der Einhaltung genereller sozialer Normen nicht zuletzt auch auf rollen- und geschlechtsspezifisches Verhalten.626 So wurde bei Frauen positiv hervorgehoben, sie würden ihren Haushalt ordentlich halten, führten eine „gute Ehe“, erzögen ihre Kinder adäquat: „Die Antragstellerin hat eine gute Bewährung aufzuweisen, sie hat eine gute Ehe geführt und ihre Kinder erzogen.“627 Demgegenüber wurde bei männlichen Betroffenen eher auf eine möglichst kontinuierliche Berufstätigkeit Wert gelegt. „Aus der Sozialanamnese des Probanden ist besonders hervorzuheben, dass trotz der bestehenden Minderbegabung der Proband sich im Leben relativ gut bewährt hat, ständig an demselben Arbeitsplatz über Jahre hindurch gearbeitet hat und bis heute als Nieter beschäftigt ist.“628 Im Gutachten über Herrn S. heißt es hingegen: „Seit dem 14. 624
Ebenda. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 6/59. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 18/59. Bei einer anderen Antragstellerin wurde auf die Frage nach einem „angeborenen Schwachsinn“ gar nicht eingegangen. Bei ihr, der ein Intelligenzalter von 11,8, diagnostiziert wurde, stellte die Gutachterin fest, es handele sich um eine „[…] minderbegabte, unsichere und unkritische Persönlichkeit. Wenn die Pat. auch im engsten Kreise sozial gut eingeordnet ist, scheint dieses weitgehend das Verdienst der stets bei ihr lebenden Mutter zu sein. Wir halten Frau S. nicht für fähig einem Haushalt mit Kindern vorzustehen und Kinder zu erziehen.“ Die Betroffene zog ihren Antrag zurück. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/54; die gleiche Gutachterin kam auch im Fall Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/54 zu einem vergleichbaren Ergebnis. Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2288. 626 Vgl. auch hierzu bereits die Beurteilungspraxis in Hamburg im „Dritten Reich“, Rothmaler (1991), S. 141. 627 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 10/60; vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 7/52; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2072; Nr. 2313. Auch bezüglich der Intelligenzprüfung schlägt die einschlägige Literatur eine geschlechtsspezifische Differenzierung vor: „An politischen und zeitgeschichtlichen Kenntnissen darf man bei Frauen im allgemeinen nicht viel erwarten und demgemäß auch Ausfälle auf diesem Gebiet nicht schwer nehmen; sie entsprechen der schon normalerweise geringen politischen Interessiertheit des weiblichen Geschlechts. Dasselbe gilt vom Rechnen, in dem auch sonst kluge Frauen nicht selten auffallend leistungsschwach sind; das Denken in der Kategorie der Quantität ist der weiblichen Geistesart offenbar weniger wesensgemäß als der männlichen.“ [Herv. i. O.] Kloos (1965), S. 68. Diese Differenzierungen lassen sich in der Bewertung von Intelligenztests in der Praxis zumindest explizit nicht finden. 628 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 8/60. Vgl. auch zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/49. 625
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Lebensjahr hat er an mindestens 9 verschiedenen Arbeitsstellen als ungelernter Arbeiter gearbeitet. Die längste Arbeitszeit an der gleichen Stelle beträgt 3 Jahre. Dazwischen ist er längere Zeit arbeitslos gewesen. Er hat niemals einen eigenen Beruf gelernt. Auch jetzt ist er arbeitslos.“629 Die Urteilsbegründung, in der sein Antrag abgelehnt wurde, führte aus: „Er ist in seinem Leben wenig Belastungen ausgesetzt gewesen, hat es nur zum Hilfsarbeiter gebracht und sozial keinerlei Fortschritte zu verzeichnen.“630 Moralische Kategorien und soziale Angepasstheit waren demgegenüber ebenso wie ein „ordentliches“ Äußeres631 tendenziell geschlechtsübergreifende Kriterien – wobei bei Frauen die Sexualität eine besondere Rolle spielte632 – und wurden vor allem in den Verfahren vor dem Amtsgericht Kiel hervorgehoben. In der Begründung eines abgewiesenen Antrags führte dieses Gericht im Oktober 1949 über eine Betroffene aus: „Sie lebt unauffällig dahin, macht aber, wie die Ermittlungen ergeben haben, auf ihre Umgebung ‚einen etwas wilden Eindruck.’ Ihre vor der Unfruchtbarmachung geborenen Kinder müssen nach Auskunft der Schule als debil angesehen werden. Die bei der Antragstellerin vorgenommene Begabtenprüfung ergab zwar einen verhältnismäßig geringen […] Intelligenzdefekt. […] Andererseits ließ sie erkennen, dass die Vorstellung ethischer und moralischer Begriffe außerordentlich gering ist, dass die Hemmungserscheinungen in sittlicher Beziehung gegenüber Frauen ihres Lebenskreises […] vermindert sind. Wie die Strafakten ergeben haben, hat die Antragstellerin wahllos und offenbar lediglich zur Befriedigung
629 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 28/50. Vgl. demgegenüber auch die Beurteilung der ebenfalls in verschiedensten Beschäftigungen tätig gewesenen Frau W. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 47/50. 630 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 28/50. Bei Herrn V. wurde im Gutachten wiederum zu Bedenken gegeben: „Auffallend ist allerdings in sozialer Hinsicht der häufige Berufs- und Stellenwechsel. Dabei hat der Prob. aber fast ständig gearbeitet und relativ gut verdient.“ Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 8/61; vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2378. 631 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/60. 632 Vgl. zum Beispiel Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3857.
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körperlicher Triebe gleichzeitig mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrt.“633
Die Beurteilung erinnert dabei in hohem Maße an die im „Dritten Reich“ in der Praxis angewandte Kategorie des „moralischen Schwachsinns“.634 Diese Kategorie wurde dann von der bei der Anhörung von Herrn A. anwesenden Sachverständigen auch ausdrücklich bedient, die einen „rein intellektuellen“ Schwachsinn nicht feststellen konnte, nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Straftaten aber zu dem Schluss kam: „An seinen moralischen Schwachsinn ist bei Betrachtung seines ganzen Lebenswandels nicht zu zweifeln.“635 Gegen die erfolgte Ablehnung seines Antrages legte er Beschwerde ein. Das vom Oberlandesgericht angeforderte medizinische Gutachten konstatierte die bereits im „Dritten Reich“ angemerkten Unsicherheiten bezüglich der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ und die offensichtlichen politischen Hintergründe – der Antragsteller war Mitglied in der kommunistischen Partei – und kam zu dem Schluss, Herr A. sei „zwar primitiv geblieben“, falle aber „vom Durchschnitt nicht erheblich nach unten ab.“ Bezüglich des unterstellten und noch von der Sachverständigen des Kieler Amtsgerichts diagnostizierten „moralischen Schwachsinns“ führte es weiter aus: „Einen isolierten ‚moralischen Schwachsinn’ gibt es nicht. Dieser Begriff gehört ebenso wie der der ‚Moral insanity’ in die Geschichte der Psychiatrie.“636 Seit neunzehn Jahren habe der Antragsteller sich straffrei gehalten: „Damit dürfte das Schimpfwort ‚moralischer Schwachsinn’ gegenstandslos sein.“637 Das Oberlandesgericht wies dennoch den Antrag von Herrn A. mit dem Hinweis ab, der Gutachter habe zu sehr die Entwicklung und die jetzige Situation des Antragstellers gewürdigt. Herr A. wäre schwachsinnig. Die Tatsache seiner Beschäftigung bei der Müllabfuhr bedeu633
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2079. Wenig später wurde in einem anderen Fall ebenfalls festgestellt, die Antragstellerin verfüge über „starke Triebhaftigkeit und sexuelle Hemmungslosigkeit“, da aber die zur Sterilisation führende Diagnose manisch-depressives Irresein im Gutachten nicht bestätigt werden konnte, wurde der Sterilisationsbeschluss aufgehoben. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2279. Demgegenüber wurde in einem Hamburger Fall der nach Angaben des Ehemannes vorhandene mehrfache außereheliche Geschlechtsverkehr einer Antragstellerin weder im psychiatrischen Gutachten noch in den Ausführungen des Gerichtes erwähnt, das Urteil aufgehoben. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/53. 634 „Moralischer Schwachsinn“ war dabei kein im GzVeN vorgesehener Grund für eine Sterilisation. Vgl. hierzu auch Wiesenberg (1986), S. 58. 635 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356. 636 Ebenda. 637 Auch die Erblichkeit der „Abartigkeit“ sei in dem damaligen Verfahren nicht hinreichend geklärt worden, das Erbgesundheitsobergericht Hamburg habe lediglich „per exclusionem“ eine solche angenommen. Der damalige Sterilisationsbeschluss sei nicht gerechtfertigt gewesen. Ebenda.
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tete noch keine „Lebensbewährung“, zudem leide eine Tochter des Antragstellers „unzweifelhaft an angeborenem Schwachsinn“.638 Auch bei Herrn H. lehnte das Kieler Amtsgericht seinen Antrag ab. Es hätten sich keine Hinweise darauf ergeben, dass das damalige Erbgesundheitsgerichtsurteil „angeborener Schwachsinn“ falsch gewesen wäre. „Diese Annahme des Erbgesundheitsgerichts hat in dem Leben des Antragstellers, das besonders durch zahlreiche Straftaten gekennzeichnet ist, und in seiner moralischen Einstellung, wie sie im Protokoll der richterlichen Vernehmung niedergelegt ist, seine volle Bestätigung gefunden.“639 Worin genau die offensichtlich als falsch angesehene „moralische Einstellung“ bestand, wurde nicht ausgeführt, und auch das beiliegende Protokoll gibt hierüber kaum Auskunft.640 Im Fall von Herrn C. lehnte der Gutachter das Vorliegen eines „eigentlichen Schwachsinns“ ab, verwies aber darauf, „dass es sich […] bei C. um eine abnorme Persönlichkeit mit Zügen der Gemütsarmut, der Haltlosigkeit, insgesamt deutlichen asozialen Zügen handelt.“641 Wird der Terminus des „moralischen Schwachsinns“ von ihm als „missverständlich“ beschrieben, so bedienen die Aussagen des Mediziners inhaltlich eben diese Kategorien. Das Hagener Amtsgericht wies den Antrag auf Aufhebung des Urteils 1955 mit der bemerkenswerten Begründung zurück: „Mag nach heutiger Auffassung der moralische Schwachsinn auch nicht mehr als Schwachsinn im eigentlichen Sinne als Erbkrankheit im Sinne des früheren Erbgesundheitsgesetzes angesehen werden, damals jedenfalls, z. Zt. der Unfruchtbarmachung des Antragstellers, war es rechtens, dass auch bei diesen Asozialen Kriminellen, Gemüt- und Haltlosen, bei denen sogar ein gröberer intellektueller Schwachsinn vorlag, eine Unfruchtbarmachung vorgenommen werden konnte.“642 In anderen, allerdings selteneren Fällen wurde hingegen die Kategorie einer möglichen „Lebensbewährung“ nicht abgefragt und lediglich auf die vermeintlich objektiv messbare Intelligenz des Antragstellers rekurriert.643 Das Oberlan638
Ebenda. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2370. 640 Hierin zeigte sich Herr H. mit dem Urteil, er sei schwachsinnig, unzufrieden und verwies demgegenüber auf seinen Führerschein und sein Skatspiel. Auf die Vorhalten des Gerichtes bezüglich der von ihm verübten Straftaten meinte er, wenn er schwachsinnig sei, dürfe das Gericht ihn auch nicht bestrafen. Er habe diese überdies nur aus Not begangen. Er sei über den Begriff des „moralischen Schwachsinns“ belehrt worden und habe seit seiner letzten Verurteilung vor drei Jahren sich „nichts mehr zuschulden kommen lassen.“ Auf die Frage, ob er sich etwas erhoffe von seinem Antrag, gab er an: „Klar, wenn der Staats so etwas mit mir macht, dann verlange ich, was mir zusteht.“ Ebenda. 641 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3814. 642 Ebenda. 643 Vgl. zum Beispiel Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3382. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14190. 639
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desgericht Hamm hob im Juli 1949 in zweiter Instanz den Sterilisationsbeschluss gegen den Klempner F. K. mit der Begründung auf: „Voraussetzung für eine Unfruchtbarmachung wegen angeborenen Schwachsinns ist stets, dass deutliche Intelligenzausfälle festgestellt werden können. Das ist beim Beschwerdeführer nicht der Fall.“644 Aber auch in einigen Verhandlungen des Kieler Amtsgerichts der 1950er Jahre wurde nur der vor Gericht durchgeführte Intelligenztest in die Bewertung aufgenommen und Fragen nach der „sozialen Einordnung“ nicht gestellt beziehungsweise kaum gewichtet.645 Mit dem Befund einer geübten „Sozialdiagnostik“ im Zusammenhang mit Erbgesundheitsgerichtsverfahren wird ein Erklärungsansatz berührt, der in eugenischen Ideologien (auch) einen Versuch zur Lösung der „Sozialen Frage“ sieht. Klaus Dörner urteilt über die Entwicklungselemente der Psychiatrie: „Je mehr im 19. Jahrhundert der Pöbel als Proletariat sein eigenes Selbstbewusstsein anstrebt, je mehr seine Stärke als Bedrohung der bürgerlichen Ordnung empfunden wird, desto mehr wird es von den Psychiatrie treibenden Bürgern im Bild physischer, intellektueller und moralischer Schwäche und ebensolchen Blödsinns typisiert und abgewehrt.“646
Die soziale Diagnostik der Zwangssterilisationen wird sowohl in den theoretischen Überlegungen wie in dem praktischen Vollzug, insbesondere durch die weit überproportionale Betroffenheit von Menschen aus unteren sozialen Schichten, immer wieder deutlich.647 Auch Jürgen Simon urteilt: „Insofern trug die Anwendung des GzVeN in ihrer konkreten Form durchaus Züge einer Klassenjustiz.“648 Wird „Gesundheit“ hierbei zur „sozialen Kategorie“,649 so kommen Weingart et al. mit Blick auf die Entwicklung der Eugenik zu dem Ergebnis: „Schließlich radikalisierte die Eugenik diese gesundheitspolitischen Ansätze zu einem Programm mehr oder weniger weitreichender Reformen der politischen Institutionen und sozialen Strukturen und verbündete
644
Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 6362. Vgl. zum Beispiel Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2342. 646 Dörner (1999), S. 258f.; vgl. auch Dörner (1993). Van den Bussche/Pfäfflin/Mai gelangen in ihrer Hamburger Studie zu der Einschätzung: „Für diese unverblümte Umsetzung der Gesellschaftsvorstellungen des professoralen Bürgertums, für diesen medikalisierten Klassenhass erschien das Jahr 1933 als der Beginn einer verheißungsvollen Epoche.“ Van den Bussche/Pfäfflin/Mai (1991), S. 1321. 647 Vgl. hierzu Kap. I sowie zum Beispiel Scherer (1990). 648 Simon (1998), S. 179. 649 Sachße/Tennstedt (1992), S. 102. 645
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sich mit gleichgerichteten außerwissenschaftlichen Kräften. In diesem Sinn war die Eugenik nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine soziale Bewegung.“650
Die vielgestaltige Entwicklung der Medizin und der staatlichen Wohlfahrtspflege sowie der gesellschaftlichen Situation insgesamt können nicht auf die Lösung einer „Sozialen Frage“ und die Sicherung eines Herrschaftsanspruchs mittels eugenischer Maßnahmen reduziert werden.651 Gleichwohl ist ein solcher ideologischer Bezugspunkt der negativen Eugenik sowohl für die Praxis der Zwangssterilisationen als auch für die Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse nach 1945 zumindest partiell nachweisbar. Hierbei lassen sich idealtypisch Gegensatzpaare wie untere soziale Schichten versus obere soziale Schichten, minderwertig versus vollwertig, erbkrank versus erbgesund und, als Folge, keine Nachkommenschaft versus zu fördernde Nachkommenschaft652 definieren. Zugleich scheint in den Erbgesundheitsgerichtsprozessen des „Dritten Reichs“ ebenso wie in den Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft – weniger ein bürgerliches Bedrohungsgefühl ausschlaggebend gewesen zu sein, als vielmehr die wie selbstverständliche Anwendung des eigenen Normensystems, der eigenen Leistungskriterien und Lebensentwürfe auf alle anderen Individuen. Hiermit verbunden war das in Anspruch genommene Recht, bei Nichterfüllung dieser Kriterien Eingriffe in das Leben der Betroffenen durchzuführen. Dies galt dabei für die Justiz wie für die Medizin, aber auch in gewisser Weise für den gesellschaftlichen Zeitgeist insgesamt, betrachtet man die Justiz als Spiegel einer Gesellschaft: „Was im Verlauf historischer Entwicklungen ins Unterbewusste abgesunken ist, prägt die Justiz, indem es sowohl die Verhaltensorientierungen als auch die Kriterien liefert, mit denen soziales Geschehen beurteilt wird.“653 In diesem Kontext konnten eugenische Argumenta650
Weingart/Kroll/Bayertz (1992), S. 104. Zum generellen „biopsychosozialen“ Kontext von „Gesundheit“ und „Krankheit“ vgl. Paul (2006), v. a. S. 139. 651 Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Pingel (1993), S. 200. Der Autor kritisiert an diesem Ansatz insbesondere die Tendenz zur Idealisierung der Lebensbedingungen der betroffenen Gruppen in vormodernen Zeiten und die mangelnde Berücksichtigung des Verhältnisses „von unterstützender und ausgrenzender Sozialpolitik im modernen Sozialstaat“. 652 So war der „Klassencharakter“ eugenischer Maßnahmen auch von Überlegungen zur „differentiellen Geburtenrate“ beeinflusst. Vorstellungen von der notwendigen Begrenzung der Fortpflanzung unterer sozialer Schichten bzw. ihrer Steigerung in bürgerlichen Kreisen finden sich seit dem 19. Jahrhundert und klingen bis in die Gegenwart beispielsweise in entsprechenden Programmen zur Förderung der Geburtenzahl von Akademikern nach. 653 Wassermann (1985), S. 276f., Zitat S. 277.
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tion und Sozialdiagnostik eine enge Verbindung eingehen, bot doch der Hinweis auf die „Pathologie“ sozialabweichenden Verhaltens die Möglichkeit einer Legitimation der Ausgrenzung. Unbeschadet der Kriterien – „Erbdiagnostik“, Intelligenz, „Lebensbewährung“ und/oder Sozialdiagnostik – ist ein gemeinsames Moment vieler Wiederaufnahmeverfahren Beliebigkeit. Vor allem an den bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen zum Teil völlig unterschiedlichen Beurteilungen wird dies deutlich. Wurde in einem Fall bei einem gemessenen Intelligenzquotienten von 63 und einer festgestellten guten sozialen Bewährung der Sterilisationsbeschluss aufgehoben,654 so gab man einer anderen Betroffenen, der ein Intelligenzquotient von 70 und damit „hochgradige Intelligenzschwäche“ attestiert worden war, in zwei Instanzen nicht Recht, obwohl sie wiederholt auf schwierigste Sozialisationsbedingungen und ihre „Lebensbewährung“ verwiesen hatte.655 Hingegen wurde gutachterlich bei einer nach Wales ausgewanderten Antragstellerin, die, so wurde festgestellt, zwar nur über einen IQ von 72 verfüge, aber fließend Englisch spreche, zu bedenken gegeben, „[…] dass das familiäre Milieu in ihrer Kindheit eine maßgebliche Rolle gespielt hat.“ Die Antragstellerin sei in der Lage, Kinder zu erziehen. Das Gericht hob das Urteil auf.656 Anders aber bei Herrn B. mit einem laut Gutachten vorhandenen IQ von 81: „[…] so ist der bestehende Grad von intellektueller Minderbegabung jedoch so erheblich, dass die seinerzeit vorgesehene Sterilisation als im Sinne des Gesetzes bezeichnet werden muss, insbesondere da es im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 heißt: ‚Zu verstehen ist hier unter angeborenem Schwachsinn jeder in medizinischem Sinne eben noch als deutlich abnorm diagnostizierbarer Grad von Geistesschwäche […]’[.] Weiterhin heißt es im Gesetz, dass der Nachweis erblicher Belastung nicht nötig sei.“657
Wurde hier den im „Dritten Reich“ vorhandenen Tendenzen zur Ausuferung der Indikationen gefolgt, so bemängelte das Gericht die Interpretation des Gutachtens nicht und lehnte den Antrag von Herrn B. ab.
654
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 8/60. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 15/60. Vgl. auch zum Beispiel Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3812. 656 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 23/60. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 6/61. 657 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/61. 655
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Bei Herrn S. diagnostizierte der Gutachter „mittelgradigen Schwachsinn“, verwies aber auf die Abstammung aus einer „erbgesunden Familie“ und die gute soziale Bewährung, so habe er unter anderem bis zu einem Verkehrsunfall nie Hilfe aus sozialen Einrichtungen benötigt, und befürwortete die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses, das Gericht folgte der Empfehlung.658 Im Verfahren von Frau S., welcher der Gutachter einen „angeborenen Schwachsinn leichten Grades“, wie er häufig auftrete, attestiert hatte, wies das Hagener Gericht den Antrag zurück,659 ebenso bei Herrn P., bei dem der Gutachter neben dem Hinweis auf einen lediglich leichten „Schwachsinn“ die Erblichkeit eindeutig verneint hatte.660 In einem anderen Fall war die mangelnde Beweisführung, dass die festgestellten Intelligenzdefizite angeboren waren, hingegen Grund genug, den Sterilisationsbeschluss in zweiter Instanz aufzuheben.661 Der Eindruck nicht nur einer subjektiven Beurteilung, sondern quasi der Willkür, lässt sich hier kaum bestreiten, auch wenn beteiligte Mediziner davon ausgingen, dass die untere Grenze des Schwachsinns keine einfache gerade Linie sei.662 Erhellend für die Vieldeutigkeit des Begriffs „Schwachsinn“ und den Zusammenhang mit dem ebenfalls zu überprüfenden, diffusen Terminus „Lebensbewährung“ sind die Überlegungen eines medizinischen Gutachters, der sich in seiner Beurteilung von Herrn B. im Juni 1950 auch der Frage nach der Definition des Schwachsinns widmete. Hierzu führte er die entsprechende Passage im „Handbuch der Erbkrankheiten Band I“663 an:
658
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/51. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3795. 660 Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. nicht vergeben, ursprüngliches Aktenzeichen 12 XIII 15/54. 661 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2286. Ob hierbei die Tatsache, dass der Antragsteller in der zweiten Instanz durch einen Anwalt vertreten wurde, eine Rolle spielte, muss offen bleiben. 662 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2059. So kam das Kieler Amtsgericht in positiv verlaufenden Verfahren unter anderem zu dem Ergebnis, dass hier jene Nachreife eingetreten sei, die die Antragstellerin als schwach begabt, aber nicht als schwachsinnig erscheinen lasse. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2072. Demgegenüber stellte das Oberlandesgericht Schleswig in einem anderen Fall fest: „Dass es sich bei dem Schwachsinn der Antragstellerin nur um eine leichte Form der Erkrankung gehandelt hat, stand der Anwendung des Erbgesundheitsgesetzes nicht entgegen. Nach der Überzeugung des Senats ist der Schwachsinn anlagebedingt und damit angeboren.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2326. 663 Hierbei muss es sich um den 1937 in Leipzig erschienenen Band von Fred Dubitscher „Der Schwachsinn“, „Handbuch der Erbkrankheiten I“ (herausgegeben von Arthur Gütt) gehandelt haben. 659
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„Schwachsinn ist eine Summe von Defekten und qualitativen Abartigkeiten einzelner Persönlichkeitseigenschaften, namentlich der intellektuellen Sphäre und der Persönlichkeit[s]eigenschaften, die gemeinhin den ethischen Werten zugerechnet werden, deren Verbindung und Ausmaß im Einzellfall variieren kann, deren Gesamtausmaß aber als deutlicher disharmonischer Defekt der Gesamtpersönlichkeit in Erscheinung tritt und eine Unfähigkeit zur dauernden brauchbaren und nutzbringenden Eingliederung in die Volksgemeinschaft bedingt. Andere Autoren betonen, dass wirkliches Unterscheidungsmerkmal von Schwachsinn und physiologischer Dummheit nicht die Intelligenz sei, sondern die soziale Anpassungsfähigkeit.“664
Zu einer differenzierten Einschätzung kam auch ein weiterer Gutachter, der zugleich reflektierte: „Es gibt keine exakten Methoden der Grenzziehung zwischen ‚Schwachbegabten’ und ‚Schwachsinnigen’. Diese Grenze ist vielmehr unscharf und fließend. Sie hängt weitgehend von den Kriterien des Untersuchers, von den angewandten Untersuchungsmethoden und auch von situativen Faktoren ab, die oft bei solchen Untersuchungen nicht genügend berücksichtigt werden. Wir nennen als solche Faktoren: Ermüdung, Angst, ‚Situationsstupor’ Verstimmungszustände, Indisponiertheit in jeglicher Form.“665
Darüber hinaus weisen in einigen Fällen die Kürze der Urteilsbegründung, das fehlende Eingehen auf die Argumentation des psychiatrischen Gutachtens sowie zum Teil vorhandene sachliche Fehler auf eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Antragsteller hin. So wird in einer Urteilsbegründung des Hamburger Gerichts nicht auf den laut Gutachten vorhandenen exogenen Faktor als ursächlich für eine feststellbare Minderbegabung und damit als Grund für eine zu erfolgende Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses einge-
664 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 10519. Vgl. auch die Abwägungen des Gutachters im Fall von Herrn H. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 194. 665 Weiter wird ausgeführt: „Das ‚Leistungsniveau’ eines Schwachbegabten ist – ebenso wie das Niveau des Normalbegabten – nicht konstant, und es gelingt meistens nicht, sich dem Leistungsoptimum durch experimentell-psychologische Methoden zu nähern.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 690.
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gangen, sondern vielmehr darauf verwiesen, dass der Antragsteller einen „frischen Eindruck“ machte und die ihm gestellten Fragen beantworten konnte.666 Frau W. war 1937 trotz wiederholter Beschwerde wegen „schwerer erblicher Missbildung“ zur Sterilisation verurteilt worden. Mitte der 1950er Jahre bemühte sie sich um die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses. Es wurde sowohl ein chirurgisch-fachärztliches als auch ein fachpsychiatrisches Gutachten erstellt. Das chirurgische Gutachten stellte zwar eine „hochgradige angeborene Hüftgelenksverrenkung“ fest, wies aber auf die bereits im „Dritten Reich“ bestehende Zurückhaltung von Sterilisationen in solchen Fällen hin und gab an, dass man heute „die Sterilisierung von Frau W. nicht fordern“ würde.667 Auch das psychiatrische Gutachten, bei dem der Grund für seine Anfertigung unklar bleibt, unterstützte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 26. Januar 1956 hob das Hamburger Amtsgericht das Sterilisationsurteil mit der Begründung auf: „Im Termin […] machte die Antragstellerin einen sehr frischen und aufgeschlossenen Eindruck. Sie ist geistig sehr rege und durchaus in der Lage, einen eigenen Laden zu führen. […] Von einer körperlichen Missbildung kann bei der Antragstellerin keineswegs die Rede sein.“668
Auch wenn die körperlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin, wie im chirurgischen Gutachten festgehalten, geringfügig waren, die letztendlich soziale Begründung und die Negierung einer – im Gutachten explizit festgestellten – physischen Missbildung führt das Wiederaufnahmeverfahren in der zugrundeliegenden Logik nahezu ad absurdum. Ist eine Differenzierung zwischen der Beurteilung des Antragstellers im medizinischen Gutachten und vor Gericht oftmals überflüssig, da das Gericht mit wenigen Ergänzungen sich zum Teil bis in einzelne Formulierungen hinein auf die Gutachten stützte, so gibt es gleichwohl Ausnahmen. Hierbei wurde im Fall des Hamburger Amtsgerichts zumeist dem Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses, wenn auch zum Teil „mit großen Bedenken“669 entgegen den
666 Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 4/52. Im Fall von Frau K. B. beruft sich der Gerichtsbeschluss zwar auf das Gutachten und sieht seine Entscheidung als mit diesem übereinstimmend, de facto lehnt das Gutachten aber eine Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses ab, das Gericht hingegen gab dem Antrag statt. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/52. 667 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 12/55. 668 Ebenda. 669 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 12/59; In anderen Fällen folgt das Gericht dem Gutachten zur Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses ebenfalls mit „großem Bedenken“. Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/60 und 2/63.
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Empfehlungen des Gutachters stattgegeben, vor allem da der Antragsteller das Gericht bei der Vorladung von sich überzeugen konnte.670 Das fachpsychiatrische Gutachten der Universitätsklinik Eppendorf urteilte beispielsweise über Frau M., der das Intelligenzniveau einer 9-Jährigen attestiert wurde, eine Aufhebung des Beschlusses wäre nicht angeraten, da „es sich bei der Pat. um eine sich schwer einordnende, reizbare, primitive, debile Primärpersönlichkeit handelt, die bei straffer Führung allerdings einer untergeordneten Beschäftigung nachzukommen vermag.“671 Hier widersprach das Gericht mit dem Hinweis auf die ungünstigen Sozialisationsbedingungen der Antragstellerin und den positiven Eindruck vor Gericht.672 Mögen die disparaten gutachterlichen und gerichtlichen Einschätzungen als Ausdruck des vorhandenen Spielraumes der Gerichte gewertet werden, so bleibt der Eindruck mangelnder Transparenz und einer nach Tagesform wechselnden Urteilsfindung. Wie beliebig vor allem der Maßstab einer „Lebensbewährung“ sein konnte, wird in zahlreichen Verfahren deutlich, wobei alleine die verwendete Terminologie oftmals die diffuse Normativität, beispielsweise in der Feststellung, „dass H. sich sozial sehr gut bewährt hat […]“,673 vor Augen führt. Im Prozess der 1934 wegen „erblichen Schwachsinns“ sterilisierten E. W. wurde ihr, die mehrfach verheiratet war und vor ihrer Sterilisation zwei uneheliche Kinder geboren hatte, im psychologischen Gutachten zwar im gewissen Umfang eine solche Lebensbewältigung beschieden: „Zumindest in den letzten Jahren scheint die Prob. in der Lage gewesen zu sein, ihren sehr begrenzten Lebenskreis zu überschauen. Jedoch liegt hierin vom ärztlichen Standpunkt aus kein ausreichender Grund, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu veranlassen.“ 670
Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/47. Vgl. hierzu auch Brücks et al. (1984), S. 183. Traenckner kommt Anfang der 1950er Jahre ebenfalls zu dem Ergebnis, dass insbesondere bei den aufgrund der Indikation „Schwachsinn“ Sterilisierten mit einem gemessenen Intelligenzalter zwischen 9 und 12 Jahren die Entscheidungen der Gerichte von denen der Sachverständigengutachter abwichen. Während die Gutachter hier meist ablehnend urteilten, wurden die Beschlüsse von den Gerichten mit Hinweis auf die praktische Bewährung aufgehoben. Vgl. Traenckner, Erfahrungen, S. 72. 671 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/48. 672 Ebenda. In einem anderen Fall, in dem dem Betroffenen ebenfalls im medizinischen Gutachten das Intelligenzniveau eines 9-Jährigen beschieden und die Aufhebung des Urteils abgelehnt worden war, wies das Gericht den Antrag mit der Begründung zurück: „Der Antragsteller wurde im Termin vom 28.10.1954 persönlich gehört. Er machte dort einen recht zurückhaltenden Eindruck. Sein Intelligenzalter kann auf das eines 9 jährigen Kindes geschätzt werden. Die Aufhebung des Beschlusses vom 16.1.1943 erschien daher nicht geboten.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/54. 673 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/49.
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Das am 15. Januar 1963 erfolgende Urteil des Hamburger Amtsgerichts teilte diese Einschätzung und entschied, den Antrag der Zwangssterilisierten abzulehnen: „Bei der Antragstellerin handelt es sich um eine schwere intellektuelle Minderbegabung. Aus ihrem Auftreten ergibt sich das typische Bild einer kritikschwachen Frau, was besonders in der Überschätzung der eigenen Person zum Ausdruck kommt.“674
Über den 1925 geborenen und 1943 wegen „angeborenen Schwachsinns“ zwangssterilisierten Arbeiter G. T. meint das Gutachten, der Proband sei auch sozial nicht gut angeordnet, „er ist unsauber und unordentlich, auch seine praktischen Fähigkeiten liegen sicher nicht höher als das sonstige Intelligenzniveau, so dass sich keine Umstände ergeben, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhaltes fordern [...].“ Das Gericht lehnte dem Gutachten gemäß den Antrag auf Aufhebung des Urteils ab, obwohl im Beschluss festgehalten wurde, „Andererseits verdient der Antragsteller bei seiner Beschäftigung als Bauarbeiter recht gut und kann sich selbst ernähren und unterhalten. Auffallend ist, dass der Antragsteller kaum schreiben kann.“675 Das Schleswiger Oberlandesgericht sah in einem anderen Fall keinen Grund zur Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses, da die Intelligenz der Betroffenen „recht beträchtlich“ gemindert und eine „sehr erhebliche Reduktion des Gesichts- und Interessenskreises“ feststellbar wäre. Dass die Antragstellerin, wie im Gutachten betont wurde, ihren Haushalt gut führte und ihr mehrfach Kinder vom Jugendamt anvertraut wurden, wurde nicht als gewichtiges Argument gewertet: „Denn die Bewährung der Antragstellerin hat sich lediglich auf einen engen, ihr vertrauten Lebenskreis bezogen. Es ist weiter eine gerade auch bei Schwachsinnigen vielfach beobachtete Erfahrungstatsache, dass sie sich gerne mit kleinen Kindern beschäftigen, ihr Vertrauen gewinnen und sie sorglich betreuen. Ein […] Schwachsinn kann dadurch nicht ausgeschlossen werden.“676
Hingegen hob das Oberlandesgericht Hamm den Beschluss bei Frau S. trotz festgestellter familiärer „Belastung“ und eigener leichter Intelligenzdefekte gerade mit der Begründung auf, diese Faktoren reichten nicht aus, um „angeborenen Schwachsinn“ festzustellen: „Gegen ihn spricht insbesondere die Tatsache, 674
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 7/61. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/59. 676 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2327. 675
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dass, wie auch das Gutachten anerkennt, der Beschwerdeführerin eine gewisse Lebensbewährung nicht abzusprechen ist. Sie ist seit zwei Jahren mit einem Bergmann verheiratet und versieht ihren Haushalt selbständig und zufriedenstellend.“677 Der weite Spielraum der Gutachter und der zu Gericht Sitzenden, die Uneinheitlichkeit der Entscheidungskriterien, die in völlig willkürlichen Urteilen resultieren konnte, und die mangelnde Transparenz führten im Ergebnis zu einer massiven Rechtsunsicherheit in den bundesrepublikanischen Verfahren. Konnte ein Befund sowohl von den verschiedenen Gerichten und Gutachtern als auch von ein und demselben Gericht unterschiedlich ausgelegt werden, wurden andere Aspekte, die in einem Fall offensichtlich den Ausschlag gegeben hatten, im anderen Fall nicht einmal erwähnt. Auch hierin bestand eine Parallele zwischen den Wiederaufnahmeverfahren und den Erbgesundheitsgerichtsprozessen im „Dritten Reich“. Der Kommentar zum GzVeN hielt bezüglich der Ausgestaltung von möglichen Wiederaufnahmeverfahren fest: „Jedoch hat der Gesetzgeber nicht den Weg gewählt, wie die Zivilprozessordnung bestimmte Voraussetzungen für die Wiederaufnahme anzugeben. Vielmehr hat er eine Generalklausel geschaffen: ‚Ergeben sich Umstände, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhalts erfordern,….’ Für Anwendung und Handhabung dieser Generalklausel durch den Richter sind aber die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßgebend: Gemeinnutz geht auch hier vor Eigennutz, und erbbiologisches Denken im Sinne einer völkischen Erbgesundheitsund Rassenpflege muss auch hier das Erbgesundheitsgericht beherrschen […].“678
Tendenziell eher positiv wurde der Antrag eines Betroffenen auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses in der Bundesrepublik zumeist dann beschieden, wenn die Intelligenz als an der unteren Grenze des empirischen Durchschnitts liegend gemessen679 und darüber hinaus festgestellt werden konnte: „Die
677 Zu ihrem Kind, welches aufgrund der Beschränktheit der Wohnung in einem Kinderheim sei, unterhielte sie angemessene Beziehungen. Es sei somit eine gewisse „Nachreife“ eingetreten. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16073. 678 Gütt/Rüdin/Ruttke (1934), S. 161. 679 Vgl. hierzu auch die Untersuchung Traenckners über die Hamburger Verfahren bis Anfang der 1950er Jahre. Er weist daraufhin, dass bei einem gemessenen Intelligenzalter von über 13 Jahren die Urteile übereinstimmend mit dem Gutachten aufgehoben, bei einem
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Probandin hat sich sozial gut bewährt. Sie stand bis zu ihrer Erkrankung [ein Herzleiden S. W.] 1952 ständig in Arbeit. Sie führt eine gute Ehe, versorgt ihren Haushalt tadellos. Sie ist lediglich einmal in der schwierigen Zeit 1948 straffällig geworden.“ In der Folge wurde es als nicht mehr gerechtfertigt betrachtet, „den Sterilisationsbeschluss aufrecht zu erhalten.“680 Wenn demgegenüber eine vermeintlich geringe Intelligenz und ein ungünstiger sozialer Eindruck zusammen kamen und zudem eine mögliche familiäre „Belastung“ konstatiert werden konnte, hatten die Antragsteller nur geringe Chancen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens und ein positives Urteil zu erwirken.681 Unterschiedliche Kommunikationsebenen In der Kommunikation der Gutachter und der zu Gericht Sitzenden mit den Zwangssterilisierten fällt nahezu in allen Bereichen eine hierarchische Beziehung auf. Die Betroffenen wandten sich mit dem Antrag auf Aufhebung eines nach wie vor rechtskräftigen Urteils an die Gerichte. Sie behaupteten, das Sterilisationsurteil sei zu unrecht erfolgt, und hatten diese Behauptung durch diverse Untersuchungen und die Darstellung ihres Lebens zu belegen. Die beurteilenden Juristen und Ärzte verfügten vielfach weder über Einfühlungsvermögen noch über ein Unrechtsbewusstsein angesichts der im „Dritten Reich“ durch ihre Berufsgruppen, in einigen Fällen in persona durch sie selbst erfolgten Zwangssterilisationen. Vielmehr erklärten sie soziale wie intellektuelle Anforderungen ihres eigenen Lebenskreises zu absoluten Maßstäben und werteten Abweichungen als ungenügend und pathologisch. Besonders deutlich wird diese hierarchische Kommunikation in den Intelligenztests. Waren die „korrekten“ Antworten nicht festgelegt, so wurde an keiner Stelle klar definiert, welches Abstraktionsniveau erreicht, welche Fragen gewusst, welche Positionen vertreten werden musten. Die Interpretationshoheit lag einseitig, unreflektiert und intransparent auf Seiten der Begutachter.
Intelligenzalter von unter 10 Jahren zumeist nicht aufgehoben wurden. Traenckner, Erfahrungen, S. 72. 680 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 2/57. 681 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Tümmers (2008), S. 185.
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Generell scheinen682 vielen Antragstellern in den ersten Jahrzehnten Wissensund Intelligenzfragen gestellt worden zu sein,683 die sowohl bei den Amtsgerichten Kiel und Hagen, welche einige Fragen und Antworten stichpunktartig beziehungsweise die Antworten durch „+“ oder „–“ gekennzeichnet notierten, als auch in einigen der medizinischen Fachgutachten zumindest in Teilen den gleichen Kategorien wie den im nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtsverfahren verwendeten entsprachen.684 Die medizinische Gutachterin von Frau M., zugleich Beisitzerin in Wiederaufnahmeverfahren, stellte explizit Fragen aus dem im „Dritten Reich“ verwendeten Intelligenztest. Die Antragstellerin leistete dabei für die Sachverständige nur Ungenügendes: „Dabei scheint die Patientin mit ihrer Leistung zufrieden.“685 In einer Intelligenzprüfung vor dem Hagener Amtsgericht im April 1949 wurden unter dem Oberbegriff „Wissensbestand“ folgende Bereiche abgefragt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Erd- und Naturkunde, Geschichte, gebräuchliche Maße und Gewichte, Kentnisse „aus Natur und Technik“, Verkehrswesen, öffentliche Einrichtungen; unter dem Begriff „Denkvermögen“: praktische Verstandesfragen aus dem Alltagsleben, Finden von Oberbegriffen und Begriffsunterschieden, Begriffsgegensätzen und Begriffsbestimmungen sowie „ethische Begriffsbildung“. In der letzten Kategorie findet sich beispielsweise die Frage: „Eine Hausgehilfin soll für 6 Personen 9 Rühreier backen; sie bäckt aber nur 8 und isst eins selbst. Wie ist ein solches Kind?“686
682
Die Befragungen vor Gericht sind oftmals nur ungenügend dokumentiert, so dass sich die dortige Situation nur partiell rekonstruieren lässt. Ein medizinischer Beisitzer in Wiederaufnahmeverfahren des Hagener Amtsgerichts bestätigte im August 1950 das Prozedere: „Die Schul- und Allgemeinkenntnisse eines Schwachsinnigen kann man ja während einer Verhandlung prüfen […].“ Vgl. Vortrag von Medizinalrat Dr. Martinson, gehalten auf der Dienstversammlung der Kreisärzte in Iserlohn am 14.8.1950, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Wiederaufnahme Erbgesundheitsakte Nr. 16091. 683 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/52. „Im Termin machte die Antragstellerin einen frischen und aufgeweckten Eindruck. Allerdings lag ihr Kopfrechnen durchaus nicht, andererseits konnte ihr jedoch zugute gehalten werden, dass sie weitere Fragen zufriedenstellend beantworten konnte.“ Vgl. auch zum Beispiel Landesarchiv SchleswigHolstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2058. 684 Vgl. zum Beispiel Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 10519; Nr. 3382; Nr. 3829. Zu dem Intelligenzprüfungsbogen, der im „Dritten Reich“ verwendet wurde, vgl. Gütt/Rüdin/Ruttke (1934), S. 76-78. 685 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2327. In einem Hamburger Fall heißt es: „Schlechte Leistungen versuchte er zu rechtfertigen, indem er u. a. darauf hinwies, dass es verschiedene Möglichkeiten der Lösung gäbe. Auf geglückte Lösungen war er sichtlich stolz. Zum Abschluss gab er seiner Hoffnung Ausdruck, dass er es gut gemacht haben möge.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/65. 686 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8757.
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Wie wenig hierbei Empathie mit den Betroffenen vorhanden war und die spezifische Testsituation reflektiert wurde,687 zeigt die Befragung von Frau L. Bereits auf die Frage, warum sie ein Wiederaufnahmeverfahren anstrebe, konnte sie, so die in Klammern angegebenen Reaktionen, nur mit einiger Hilfe antworten: „… und es ist nur, weil ich so gerne ein Kind haben will, sonst ist es nichts.“688 „[…] Frage: Was hatten Sie denn in Rechnen? Antw.: Ach, rechnen konnte ich nicht besonders. Frage: Was hatten Sie in Deutsch? Antw.: In Deutsch……. (verlegenes Lächeln, Lippen beißen). […] Frage: Was für ein Unterschied ist zwischen einem Zwerg und einem Riesen? – keine Antwort – Frage: Können Sie mir den Unterschied zwischen einem Zwerg und einem Kind sagen? Antw.: Das Kind….das Kind…. (Daumen kauend). Frage: Wie viel ist den 3 x 4 Antw.: (weiteres lebhaftes Kauen auf dem Daumen verbunden mit Lutschen). […] Frage: Wozu sind Sie überhaupt versichert? Antw.: (Weinen). […]“689
687 Gerade auch dieser Punkt scheint wesentlich. Im Rahmen eines von der Autorin durchgeführten Seminars zum Thema Medizin im Nationalsozialismus an der Universität Tübingen im Wintersemester 2008/2009 wurden Medizinstudierende mit Fragen eines solchen Intelligenztests spontan konfrontiert. Einige Fragen, insbesondere mathematische und solche aus dem Bereich „ethische Begriffsbildung“ konnten in der augenblicklichen Situation gar nicht, andere Wissensfragen nur zögerlich beantwortet werden. 688 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2379. 689 Ebenda. Ihr Antrag wurde nach ihrer Anhörung und der ihres Arbeitgebers im Juli 1956 abgewiesen. Vgl. auch die Angaben eines anderen Betroffenen bezüglich des Intelligenztests: „Seine ebenfalls sterilisierte Ehefrau habe keinen Antrag auf Aufhebung des Entscheides gestellt oder geplant, weil sie nichts mit dem Intelligenztest zu tun haben wolle, den er jedoch nicht fürchte.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/60.
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Herr R. weigerte sich demgegenüber, überhaupt an Intelligenztests teilzunehmen: „Kam allerdings die Rede auf Testuntersuchungen, so geriet R. schnell in einen aggressiven, gereizten Affekt, lehnte diese mit dem Hinweis entschieden ab, dass es einem lebenserfahrenen Manne nicht anstehe, Schulaufgaben zu lösen.“690 Auch Herr D. beschwerte sich gegen seinen im Rahmen der medizinischen Begutachtung durchgeführten Intelligenztest: „Die mir dort gestellten Fragen wurden dem untersuchenden Arzt, Dr. B[…], durch das Amtsgericht Hagen zudiktiert. Ich habe späterhin dieselben Fragen an geistig hochstehende Herren gestellt, die eben so wenig in der Lage waren, diese zu beantworten, wie ich selbst. Diese Herren schüttelten nur mit dem Kopf.“691
Bereits in den Intelligenztests der Begutachtungen für den Erbgesundheitsgerichtsprozess im „Dritten Reich“ fallen grundlegend unterschiedliche Abstraktionsebenen der Fragenden und der Befragten auf. Frau T. schreibt in ihrem Lebenslauf für das Kieler Amtsgericht über die damalige Prüfung im Gesundheitsamt: „[…] da wurde ich nun von unten bis oben untersucht, weil ich nun gesund war, und kein Erbfehler hatte, so haben sie mir mit allerhand Fragen überrascht zumb. wie das Wasser aussieht wenn es kocht warum wir Weihnachten feiern und verschiedene andere Aufgaben. Nun habe ich wohl nicht alles richtig beantwortet, somit haben Sie mich Schwachsinnig gehalten. Es wurde aber nach Lübeck zum Erbgesundheitsgericht geschickt, von da aus bekam ich eine Nachricht, das ich hinkommen muste. Wie sie mir nun die Frage stellten, was der Unterschied zwischen Schmetterling und Vogel wär gab ich die Antwort der Vogel singt der Schmetterling [n]icht, das war verkehrt, habe sagen sollen der Vogel hat Feder, somit wurde die Unfruchtbarmachung eingewillig.“692
Mitte der 1980er Jahre schreibt eine Betroffene in ihrer Autobiografie: „Wenn jemand den Unterschied von einer Treppe und einer Leiter nicht mit Sprosse
690
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/53. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3889. 692 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2072. Auch hier waren Betroffene mit der spezifischen Testsituation offensichtlich überfordert. Vgl. z. B. die Angaben von L. S. in der medizinischen Begutachtung im Rahmend des Wiederaufnahmeverfahrens. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2409; vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/61. 691
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und Stufe zu bezeichnen vermag, dann besagt das noch nicht, dass er eine Leiter von einer Treppe nicht zu unterscheiden versteht.“693 Diese unterschiedlichen Ebenen auf Seiten der Beteiligten finden sich auch in den Intelligenztests nach 1945. So konnte Frau E. auf viele der ihr im Rahmen der fachmedizinischen Begutachtung im Februar 1951 gestellten Fragen nicht antworten, bei anderen offenbaren die Aussagen die nicht geleistete Abstraktion und den stattdessen vorhandenen konkreten Bezug zur eigenen Realität, die sich völlig von der des Gutachters unterschied: „(Wie nennt man Spatz, Rabe, Taube, Storch, Huhn zusammen?) ‚Tierzuchtverein’ […] (Wie kommt es, dass eine Lokomotive fährt?) ‚Um die Leute wegzuschaffen.’ […] (Warum lernt man) ‚Man soll schlau werden.’ (Warum und für wen spart man?) ‚Wenn man wenig Geld hat, muss man sparen.’ (Weshalb darf man sein eigenes Haus nicht anzünden?) ‚Weil Strafe darauf steht.’ (Was darf man mit gefundenem Geld machen?) ‚Das würde ich Ihnen bringen, Herr Dr.’ (Wie denken Sie sich Ihre Zukunft?) ‚Verstehe ich nicht, ich habe einen guten Mann.’ […] Bei der Intelligenzprüfung ist die E. freundlich-zutraulich. Der Gedankenablauf ist verlangsamt, die Antworten kömmen zögernd. Meint zuletzt: ‚Herr Dr., wir hätten vorher einen starken Kaffee trinken sollen, dann wäre alles besser gegangen.’“694
Weiter hält der Gutachter fest, die Antragstellerin habe am Tag ihrer Abreise die Schwester um Geld für die Rückfahrt gebeten, die dafür mitgenommenen Mittel habe sie in Süßigkeiten investiert. „Auf die Frage, ob sie sich das nicht vorher überlegt habe, meint sie: ‚Das ist nicht schlimm, dann fahre ich eben per Anhalter.’“695 Wurde eine zu starke Gewichtung des Schulwissens im Rahmen der Erbgesundheitsverfahren bereits im „Dritten Reich“ kritisiert und demgegenüber eine stärkere Betonung des praktischen Wissens und eben der „Lebensbewährung“ gefordert,696 so gingen bundesrepublikanische Gutachter in einigen Fällen bei der Beurteilung von Betroffenen erneut so vor. Herr S. beispielsweise, der Hilfsschüler war, konnte in dem in seiner Verfahrensakte dokumentierten Intelligenztest einen großen Teil solcher praktischen Fragen beantworten und Rechenaufgaben lösen, dennoch urteilte der Gutachter: „Besonders auf dem 693
Claasen (1987), S. 5. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 252. Der Gutachter attestierte, auch mit Hinweis auf familiäre „Belastungen“, angeborenen „Schwachsinn mäßigen Grades“, der Antrag wurde vom Amtsgericht Hagen abgelehnt. 695 Ebenda. 696 Vgl. Kap. I 2. dieser Arbeit. 694
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Gebiet des erlernten und Schulwissens versagte Sch., aber es mangelt ihm auch an Kombinations- und Konzentrationsfähigkeit sowie an geistiger Wendigkeit.“697 Dabei mussten die Gutachter und Mitglieder des Gerichts nicht zu alten Bögen greifen, um die entsprechenden Intelligenzfragen zu finden. Eine „Anleitung zur Intelligenzprüfung in der Psychiatrischen Diagnostik“ von Professor Gerhard Kloos,698 Direktor des Landeskrankenhauses Göttingen, welche 1965 in der fünften, unveränderten Auflage erschien, beinhaltete eben solche und wies bereits auf der ersten Seite auf die Bedeutung der Intelligenzprüfung hin: „Geradezu unentbehrlich ist die Intelligenzprüfung aber zur Erkennung eines angeborenen Schwachsinns.“699 [Herv. i. O.] Was die jeweils zu findende Lösung betraf, gab die „Anleitung“ lediglich allgemeine Empfehlungen, bezüglich der immer wieder deutlich werdenden unterschiedlichen Kommunikationsebene wurde hingegen folgende Interpretation nahe gelegt: „Manche Antworten verraten schon durch die engstirnige Denkweise, die in ihnen zum Ausdruck kommt, einen Schwachsinn. Besonders bezeichnend ist das Vorbringen finaler Erklärungen, wo man kausale erwartet, zum Beispiel: (Warum fließt das Wasser in einem Fluss?) „Damit der Müller damit mahlen kann.“ (Warum wird es Tag und Nacht?) „Damit die Menschen auch schlafen können.“ Das Denken von Schwachsinnigen kreist mehr um persönliche Zweckzusammenhänge als um sachliche Ursachenverhältnisse. Auch bei Zweckangaben fällt aber die einfältige Ichbezogenheit (Egozentrizität) und ‚Kurzsichtigkeit’ ihres Denkens auf, die zum Beispiel in Antworten folgender Art zum Ausdruck kommt: (Wozu sammelt die Biene Honig?) „Damit die Menschen etwas Gutes aufs Brot
697
Zusammen mit weiteren Tests und einer Familienanamnese kam er zu dem Ergebnis, „dass Herr Sch. an mittelgradigem, angeborenem Schwachsinn leidet“, das Gericht wies seinen Antrag zurück. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 197. 698 Gerhard Kloos war im „Dritten Reich“ Leiter der Anstalt Stadtroda (1942 Einbeziehung in die Kinder-„Euthanasie“) und Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht Jena. 1954 wurde er Direktor des niedersächsischen Landeskrankenhauses in Göttingen. Vgl. Roth (1984), S. 65; Klee (2008), S. 317. 699 Kloos (1965), S. 1. 1941 hatte er bereits die „Anleitung zur Intelligenzprüfung im Erbgesundheitsgerichtsverfahren“ herausgegeben. Zumindest ein Wiederaufnahmeverfahrensgutachter bezog sich ausdrücklich auf die Intelligenzprüfung „nach dem Schema von ‚Kloos’“. Vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 198.
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zu streichen haben.“ Die Diagnose darf man aber natürlich nicht allein auf ein solches Einzelsymptom gründen.“700 [Herv. i. O.]
Offensichtlich galt für die Intelligenztests nach 1947 dasselbe wie im „Dritten Reich“. Die Betroffenen wurden mit Fragen konfrontiert, deren „richtige“ Beantwortung – nirgends festgelegt und definiert – letztendlich einem Elitediskurs entsprach. Konnten sie diesem nicht genügen und antworteten aus ihrem konkreten Lebens- und Erfahrungszusammenhang heraus ebenfalls kausal, so galt dies als „schwachsinnig“ und egozentrisch, schien ihr soziales Umfeld und die familiäre Herkunft entsprechend, als „angeboren“ und damit als „biologisch minderwertig“.701 Erst Anfang der 1980er Jahre äußerte eine Gutachterin: „Dabei ist festzustellen, dass dieses Verfahren der Intelligenzprüfung in keiner Weise den Gütekriterien entspricht, die für ein solches Verfahren unabdingbar sind. Es handelt sich um kein standardisiertes Testverfahren, es gibt keine Angaben zur Durchführungsobjektivität.“702 In einigen Fällen führte, ob bewusst oder unbewusst, der Antragsteller den medizinischen Gutachter oder das Gericht vor, so im Falle von Herrn E. „Auf die Aufforderung, seinen Lebenslauf zu schreiben, lieferte er nur einen Satz: ‚ich heise H[…] E[…] und bin ein Hamburger, ich bin schon 28 Jahre bei einer Firmi als Lakierer, ich sitze hir und mus mein Lebenslauf schreiben.’“703 Nach dieser für den Gutachter unbefriedigenden Aktion äußerte der Mediziner, der nach dem Binet-Verfahren „mittelgradigen Schwachsinn“ bei Herrn E. diagnostizierte, seinen Eindruck: „Zunächst von seiner Frau unterstützt, brachte er sofort energisch seine Entrüstung über die Vornahme einer Untersuchung zum Ausdruck, weil er wohl der Meinung war, dass man nur die Rechtmäßigkeit seiner Forderung auf Aufhebung des Beschlusses und Wiedergutmachung bestätigen und ihn sofort wieder entlassen werde. […] Er schien im Unter-
700
Kloos (1965), S. 68f. In dieser Anleitung finden sich auch Hinweise zur Gutachtenerstellung. 701 Vgl. Ebenda, S. 71. 702 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/80. 703 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/54; vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 20/60; 1/61.
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sucher einen Exponenten der Mächte zu sehen, denen er seine Benachteilung verdankte […].“704
Das fachmedizinische Gutachten meint über Herrn F.: „Er ist sich seiner intellektuellen Verfassung sehr wohl bewusst, denn oftmals bemerkt er: ‚Es können ja nicht alle studiert haben und Richter oder Ärzte sein.’ – ‚Weiß von früher ja nicht alles so genau, denn ich bin ja nicht so gelehrt wie ein Arzt oder ein Rechtsanwalt.’“705 Die psychiatrischen Gutachten ebenso wie die gerichtlichen Urteilsbegründungen waren schließlich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik nicht nur bezüglich der Bewertungsmaßstäbe, sondern zum Teil auch in der verwendeten Sprache voller Kontinuitäten.706 So führt das Gutachten über die sterilisierte H. K. im Jahr 1949 aus: „Es muss noch erwähnt werden, dass sich nach den Angaben der Frau K. keine ausgesprochenen Ballastexistenzen oder asoziale Elemente in der Familie befinden […].“707
704 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/54. Auch die ebenfalls sterilisierte Ehefrau, die sich über die Dauer der Untersuchung wiederholt empört gezeigt hatte, wurde nicht besser beurteilt: „Die Gattenwahl konnte nicht als positives Moment in die Beurteilung der Lebensbewährung einbezogen werden. Dagegen schien Herr E. in der Tat sozial gut eingeordnet zu sein und ist auch nicht straffällig geworden.“ Wie hierbei die positive Beurteilung des Ehemannes und die negative der „Gattenwahl“ zusammenpassen, bleibt offen. „Nach allem konnte es nicht als wünschenswert erscheinen, dass Herr E. einer größeren Familie vorsteht, obwohl seine Leistungsmöglichkeiten für den derzeitigen Lebensbereich anscheinend ausgereicht haben […].“ Ebenda. Vgl. auch Herrn H., der in seiner Beschwerde gegen die erstinstanzliche Abweisung seines Antrages unter anderem auf die abgebrochene Lehre und die angesprochenen häufigen Arbeitsplatzwechsel eingeht: Nach dem Beschluss zur Unfruchtbarmachung „[…] habe ich mir gesagt wo für und für wehn soll man den noch viel Arbeiten vielleicht für Fremde Erben, und was ich brauche für meine zeit genügt zeitweiliges Arbeiten.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2288. 705 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3382. 706 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Leidinger (1987), der zwei psychiatrische Fachgutachten über denselben Patienten aus den Jahren 1941 und 1960 vergleicht. Im Gutachten von 1960 wird diesem unter anderem „erblicher Schwachsinn erheblichen Grades bei einem auch charakterlich äußerst primitiven Jungen“ und „charakterliche[] und ethische[] Minderwertigkeiten“ attestiert. 707 So kam sie zu dem Schluss: „Intelligenzmäßig ist Frau K. nach dem heutigen Befund sicher unterdurchschnittlich begabt. Sie ist aber auch robust, aktiv und durchsetzungsfähig, wobei sie überdies ihre bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten seit Jahren sehr sicher zur Formung ihres engen Alltagsraumes einzusetzen weiß. Sicher war nach ihrem Verhalten in Jugendjahren ein Abgleiten ins Asoziale oder zur Ballastexistenz zu befürchten und die Sterilisation im Jahre 1936 im Sinne des E. G. gerechtfertigt.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/49. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/54. Vom „Ballast der Volksgemeinschaft“ ist auch im Fall Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2059 die Rede.
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In anderen Fällen wurde einem Antragsteller ein „ostischer Konstitutionstypus“708 attestiert, war von „arbeitsscheu“709 die Rede, wurde die Antragstellerin als „Erbkranke“710 bezeichnet. Manche Gutachter diagnostizierten auch eigenständig „Erbkrankheiten“. Ein vom Gericht angefragter Gynäkologe gab zunächst zu bedenken, dass er über die ursprüngliche Indikation Schizophrenie nichts aussagen könne, diagnostizierte dann aber Mitte der 1950er Jahre: „M.E. leidet sie an angeborenem Schwachsinn, zumindest machte sie während der kurzen Zeit, wo ich sie gesehen habe, den Eindruck.“711 Im Fall von Herrn D. kam die psychiatrische Analyse zu dem Schluss, dass das Urteil des Erbgesundheitsgerichtes, nachdem er aufgrund von Schizophrenie zu sterilisieren sei, sich nicht bestätigen lasse. Vielmehr liege eine manisch-depressive Erkrankung mit einer ausgeprägten entsprechenden familiären „Belastung“ vor. Aufgrund dieser Tatsache sei der Sterilisationsbeschluss trotz des falschen ursprünglichen Urteils nicht aufzuheben.712 Wenn Jürgen Simon festhält: „Die ärztlichen Gutachten unterschieden sich zwar in der Regel in der Diktion von den während des Nationalsozialismus Erstellten, gelegentlich folgten sie aber auch einer Terminologie, die sich unmittelbar an die Zeit vor 1945 anlehnte.“,713 so ist diesem Urteil im Bezug auf die Praxis der hier untersuchten Wiederaufnahmeverfahren nur bedingt zuzustimmen. Die verwendete Terminologie intendierte die entsprechenden Bewertungsmaßstäbe meist unhinterfragt, und sie ist häufig zu finden. Zudem blieben die ethischen, sozialen und biologistischen Kategorien jahrzehntelang weitgehend konstant. So erschien in den 1950er Jahren „[…] eine Wiederaufnahme des Verfahrens wegen der nachweisbaren guten Lebensführung und sozialen Bewährung geboten“714 und auch in den 1960er Jahren ergab „[…] sich aus sozialen Erwägungen keine Indikation zur Unfruchtbarmachung, da sich Sch.
708
Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 8/50. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 13/55. Vgl. auch zum Beispiel Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 6362. 710 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2092. 711 Mögliche physische Leiden an der Operationsnarbe, über die die Betroffene sich geäußert hatte, verneinte er. „Wenn die Antragstellerin heute über Beschwerden klagt, so halte ich diese für zweckbestimmt. Wenn derartiger Eingriff heute erforderlich wäre und die Operation so ausgeführt würde, wie sie bei der Antragstellerin ausgeführt ist, so würde m. E. jeder Vertrauensarzt nach 3 Wochen bereits wieder volle Arbeitsfähigkeit destieren.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2346. 712 Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 42/50. 713 Simon (1998), S. 191. 714 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 8/50. 709
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bis dahin und auch später beruflich wie auch charakterlich einwandfrei geführt hat.“715 Wandel der Bewertung Die Frage, inwiefern sich in der medizinischen Begutachtung und der gerichtlichen Beurteilung in zeitlicher Perspektive eine Veränderung ergeben hat, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen nicht eindeutig beantworten. Einer Vielzahl einschlägiger Verfahren Ende der 1940er und während der 1950er Jahre steht eine verhältnismäßig kleine Zahl in den späteren Jahren gegenüber. In Kiel und Hagen sind generell nur vereinzelt entsprechende Akten aus den 1970er und 1980er Jahren vorhanden oder auffindbar.716 Somit lässt sich der Frage eines möglichen Wandels nur anhand der Hamburger Bestände und auch hier nur mit Einschränkungen bezüglich der Quellendichte genauer nachgehen. Zunächst fällt insgesamt auf, dass die medizinischen Gutachten seit den 1960er Jahren zunehmend detaillierter wurden, die Sozialisationsbedingungen in den Verfahren vermehrt Berücksichtigung fanden und die Perspektive der Betroffenen an Raum gewann. Das bedeutete aber nicht, dass hiermit eine positive Beurteilung ihres Antrages verbunden gewesen wäre. Im Fall von Frau S. referierte das Gutachten im August 1962 unter anderem aus den vorhandenen Unterlagen, dass die Betroffene im Alter von zehn Jahren ihre Mutter verloren hatte, von ihrem Vater missbraucht worden war. Später wurde ihr ein unehelich geborenes Kind unmittelbar nach der Entbindung weggenommen. Der Gutachter, der Frau S. unangemeldet zu Hause besucht hatte, stellte fest, ihre Wohnung sei sehr ordentlich, der Kontakt mit ihr gut, nicht zuletzt da sie nun einmal jemandem Dinge anvertrauen konnte: „Sie leidet bis heute unter dem peinlichen Makel ihrer Jugendjahre und würde alles gerne ungeschehen sein lassen.“ Die Sozialisations- und Lebenshintergründe spielten bei der Beurteilung aber nur insofern eine Rolle, als darauf verwiesen wurde: „Frau S. stammt aus einer schwer belasteten Familie. Schwachsinn, Haltlosigkeit und sexuelle Triebhaftigkeit sind es, die sich wie ein roter Faden 715
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/61. Am Kieler Amtsgericht ist ein Verfahren Ende der 1970er Jahre geführt worden, welches zunächst nach einem entsprechenden Antrag der Betroffenen beziehungsweise ihres Rechtsbeistandes eingestellt wurde. Bemerkenswert an dem diesbezüglichen Beschluss des Amtsgerichts erscheint zum einen, dass ohne weiteres sowohl die gerichtlichen als auch die außergerichtlichen Verfahrenskosten übernommen wurden, wobei der Verfahrenswert auf 5 000 DM festgesetzt wurde, und man zudem explizit darauf hingewies, „dass die Antragstellerin durch vorstehenden Einstellungsbeschluss nicht gehindert ist, erneut die Wiederaufnahme des Erbgesundheitsverfahrens zu beantragen.“ Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2416. Zu einem weiteren Verfahren Mitte der 1980er Jahre vgl. Kap. II 3 dieser Arbeit. 716
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durch die Geschlechterfolge ziehen.“ Sie sei damals sicher zu Recht als schwachsinnig charakterisiert worden, auch wenn später eine Nachreife eingetreten sei. Zwar bedauerte er die ärmlichen Lebensumstände der Antragstellerin und meinte, es sei erstaunlich, dass sie, „die nach dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch sicher als schwachsinnig zu bezeichnen ist, doch über soviel praktisches Geschick verfügt, mit der bescheidenen Rente“ auszukommen, sah sich aber veranlasst, den Befund des damaligen Erbgesundheitsgerichts zu bestätigen. Als Frau S. vom Richter des Amtsgerichts vernommen werden sollte, zog sie den Antrag zurück.717 In der medizinischen Begutachtung im Rahmen eines Hagener Verfahrens ging der Gutachter Anfang der 1960er Jahre ebenfalls auf Milieubedingungen ein.718 Zudem konnte er bei der Intelligenzuntersuchung keine erheblichen Defizite feststellen. Gleichwohl sah er, als er wenig später von zahlreichen Diebstahls- und Betrugsdelikten und dem häufigen Arbeitsplatzwechsel des Betroffenen erfuhr, in einer nachträglichen Mitteilung einen leichten „angeborenen Schwachsinn“ vorliegen „und zwar ein Schwachsinn, der insbesondere auf dem sozialen und moralischen Sektor liegt“.719 Im Juli 1965 schloss sich das Hagener Amtsgericht der Meinung an und wies den Antrag zurück.720 Auch bei Herrn S., dem ein „deutlich über dem Durchschnitt liegende[r] soziale[r] Status“ attestiert wurde, ging das psychiatrische Gutachten auf die „offensichtliche Verunsicherung der Gesamtpersönlichkeit“ als Folge der Sterilisation ein. Das von ihm geschilderte Problem, dass durch die Kinderlosigkeit seine zweite Ehe zerbrochen und die bestehende potentiell bedroht sei, wurde als nachvollziehbar erachtet. Der Mediziner diagnostizierte abschließend eine manisch-depressive Psychose, die während des Nationalsozialismus „sterilisierungspflichtig“ gewesen sei. Dabei hob er hervor, dass die diesbezügliche Diagnostik aber different war und dass Herr S. 717
„Nachdem die Sache aber so verlaufen sei, wolle sie von der ganzen Sache überhaupt nichts mehr wissen. […] Auf nochmaliges Befragen, ob sie nunmehr denn ihren Antrag zurücknehmen wolle, bejahte die Betroffene eifrigst und zeigte sich sichtlich erleichtert.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2409. 718 Ausführlich auch bei Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3873. 719 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3878. 720 Ebenda. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3809. In der letzten aufgefundenen Entscheidung des Hagener Amtsgerichts in einem einschlägigen Wiederaufnahmeverfahren wurde dem Antrag nach einem umfangreichen Intelligenztest und einem positiven Urteil der Gutachterin mit dem Hinweis statt gegeben: „Nach dem heutigen Ergebnis der Untersuchung ist die Diagnose angeborener Schwachsinn nicht mehr zu rechtfertigen, auch nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch der Ablauf des Lebens des Antragstellers gibt keinen Anhalt für eine[n] sozialen oder moralischen Schwachsinn.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 4798.
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„in Hamburg nicht sterilisiert worden wäre, da weder in seiner Familie, noch bei ihm selbst ein sozialer Abstieg zu verzeichnen ist, noch die einzelnen Krankheitsphasen das berufliche und private Leben des Herrn S[] ernstlich beeinträchtigen. Schwerwiegender als diese Erkrankung selbst hat sich auf Herrn S[] Leben offenbar die deretwegen durchgeführte Sterilisation ausgewirkt.“721
Bemerkenswert erscheint hier sowohl die Vermutung, der Antragsteller wäre in Hamburg nicht sterilisiert worden,722 als auch die Erklärung, bei ihm sei nämlich kein sozialer Abstieg zu verzeichnen. Kann eine Sozialdiagnostik kaum deutlicher ausfallen, so ist dennoch auffallend, dass die Folgen der Zwangssterilisation für den Betroffenen auf diese Weise herausgestellt und als belastender als die feststellbare Krankheit bewertet werden. Wie wenig dem Gericht gleichzeitig weiterhin die Unrechtmäßigkeit des Geschehens und die Perspektive der Betroffenen bewusst war, zeigt die verständnislose Reaktion des Hamburger Gerichts auf Anträge von Frauen, die zu Beginn der 1970er Jahre, in einem Lebensalter, in dem die Wiederherstellung der Gebärfähigkeit kein Argument mehr sein konnte, noch die Aufhebung des Urteils aus grundsätzlichen Überlegungen verlangten. So wurde der antragstellenden Frau S. nahegelegt, sie solle doch, da erstens einschlägige Unterlagen nicht mehr vorhanden seien, zweitens die Untersuchung eine Belastung darstelle, drittens in ihrem Alter keine Refertilisierung möglich wäre und viertens aus dem Urteil auch keine Wiedergutmachungsansprüche abgeleitet werden könnten, ihren Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens noch einmal überdenken. Frau S. antwortete am 13. März 1972: „In Beantwortung ihres obigen Schreibens teile ich ihnen mit, dass ich meinen Antrag in vollem Umfang aufrechterhalte. Da ich durch diese Maßnahme für mein ganzes Leben geschädigt wurde und seelisch wie körperlich sehr darunter gelitten habe, möchte ich nunmehr wenigstens das damalige Urteil als nicht gerechtfertigt wissen. Ich bitte sie daher nochmals meinem Antrag statt zu geben.“723
Auch die juristischen, medizinischen und sozialen Maßstäbe in den Wiederaufnahmeverfahren der 1980er Jahre blieben – vor allem da ihre Grundlagen und 721
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/67. Das Gericht gab dem Antrag statt. Im Fall von Frau W., die wegen „angeborenen Schwachsinns leichten Grades“ sterilisiert worden war, verwies der Gutachter hingegen darauf, „dass gerade zu der Zeit in Hamburg sehr scharf durchgegriffen wurde und sehr zahlreiche Sterilisationen ausgeführt wurden.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 47/50. 723 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/72. 722
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normativen Setzungen nur langsam infrage gestellt wurden724 – die mögliche Vererbbarkeit, die Messung der Intelligenz, die Frage nach der sozialen Situation. Empathie mit den Betroffenen und das Bemühen um eine differenzierte Begutachtung nahmen jedoch weiter zu.725 „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt reichen die Aktenunterlagen des Gesundheitsamtes von 1934 nicht aus, eine erbliche Fallsucht bei Frau B[…] mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu erkennen. […] Hervorzuheben ist bei Frau B[] ihr hohes soziales Verantwortungsbewusstsein für die Familie. In ihrem Alter möchte sie für ihre Enkel den Makel eines genetischen Leidens, das ihr attestiert wurde, ausräumen.“726
Dabei trafen die Anfragen des Hamburger Amtsgerichts bezüglich der Begutachtung der Antragsteller auch auf eine zunehmend (selbst)kritische Ärzteschaft. Häufig wurden nun von dieser Seite die Beurteilungen der Erbgesundheitsverfahren als unwissenschaftlich kritisiert727 und grundsätzliche Überlegungen über die Wiederaufnahmeverfahren angestellt: „Während in vorausgehenden Jahren solche Gutachten wie auch andere Gutachtenaufträge selbstverständlich bearbeitet wurden, wurde jetzt erstmals problematisiert, ob die Bearbeitung eines solchen Gutachtenauftrages nicht bedeute, an einem widersinnigen Selektionsmechanismus teilzunehmen und das während der Zeit des Dritten Reiches an psychiatrischen Patienten begangene Unrecht fortzusetzen. Nach langer Diskussion haben wir uns entschlossen, die Gutachtenaufträge im Interesse der Betroffenen und ihrer Entschädigungsansprüche zu übernehmen und gleichzeitig die Hintergründe und Alltagspraxis bei der Durchführung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ zu untersuchen.“728
724
Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/81. So wurde beispielsweise in der Eppendorfer Begutachtung von Frau K. im September 1981 auf die Folgen der Sterilisation für die Betroffene eingegangen: „Die von ihr […] projizierten Inhalte verweisen auf das Trauma, das durch die Sterilisation entstand, und das heute noch in ihr weiter wirkt.“ Ihrem Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses wurde, auch mit Hinweis auf die ungünstigen Sozialisationsbedingungen, stattgegeben. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/80. Bei Herrn R. fanden die Gutachter Hinweise auf ein „genital lokalisiertes Trauma“. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/81. 726 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/80. 727 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/80; 6/80. 728 Brücks et al. (1984), S. 157. 725
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In den 1980er Jahren wurden dabei auch Untersuchungen ohne weitere Testverfahren, zum Teil in der Wohnung des Antragstellers, durchgeführt, da „eine längere Untersuchung nicht mehr zuzumuten war“.729 Frau R., die die Aufhebung des Urteils beantragte, eine psychiatrische Begutachtung aber ablehnte, wurde eine persönliche Anhörung vor Gericht als Alternative angeboten und ihr zugesichert: „Das Gericht wird sich um ein auf das Notwendigste beschränktes Gespräch bemühen.“730 Bereits Jahre zuvor konnte Frau L., die mittlerweile in Dänemark lebte, ein dort erstelltes Gutachten vorlegen, nachdem sie bezüglich einer möglichen Untersuchung in Hamburg mit Kostengründen argumentiert hatte und zudem angab: „Seit dem Jahre 1934 habe ich große Angst vor den Hamburger Ärzten.“731 Zu einer deutlichen Positionierung kam im Dezember 1987 eine Hamburger Ärztin in ihrem Gutachten: „Hierzu ist zunächst festzustellen, dass ein Erbkrankheitsbegriff und der Begriff des erblichen Schwachsinns wie damals heute nicht mehr existiert […].“ Auf den Antragsteller Bezug nehmend, führte sie weiter aus: „Die Beurteilung in dem Gutachten von 1939 kann aus heutiger Sicht mit großer Sicherheit durch politische Repressalien zustande gekommen sein, da Herr W[…] Kontakt zu Mitgliedern der Kommunistischen Partei hatte und nicht dem Menschenbild und den moralischen Anforderungen des NSVerbrecherstaates entsprach.“732 Das Gericht folgte der Empfehlung, den Sterilisationsbeschluss aufzuheben, ging aber auf die kritische Beurteilung der nationalsozialistischen eugenischen Politik nicht ein, sondern begründete vielmehr seine Entscheidung in den bekannten Mustern: „Aktenauswertung und insbesondere die Untersuchung des Herrn W[…] ergeben mit eindeutiger Klarheit weder einen Anhalt für mangelnde Intelligenz oder Alkoholabhängigkeit, noch überhaupt Anhalte für psychische Morbidität.“733 Sowohl Gutachten als auch Gericht kamen wenig später bei der Beurteilung von Herrn H., der sich während des „Dritten Reichs“ weiterhin sozialdemokratisch engagiert hatte, zu dem Schluss, dass politische Motive für die Zwangssterilisation mitursächlich gewesen seien und keine Hinweise auf eine psychische Erkrankung vorhanden seien: „Insbesondere schließt sich das Gericht der Auffassung von Herrn H[…] an, dass nach den getroffenen Ermittlungen die 729 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/86. Zumindest in einem Fall ist bereits im September 1953 einem Antragsteller offeriert worden, die psychiatrische Begutachtung in der eigenen Wohnung durchzuführen, was von diesem allerdings abgelehnt wurde. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/53. 730 Frau R. erschien nicht zu dem Termin, das Verfahren konnte damit nicht fortgesetzt werden. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/87. 731 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 22/60. 732 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/86. 733 Ebenda.
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Anordnung als auch die Durchführung der Zwangssterilisation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen sind.“734 Auch hier blieb es, trotz der nachweisbar veränderten allgemeinen Haltung, immer noch der Einzelfall, der nach entsprechenden Ermittlungen die Zwangssterilisation als hier beispielsweise politisch motiviertes Unrecht erscheinen ließ. In der letzten dokumentierten Entscheidung des Amtsgerichts Hamburg in einem Wiederaufnahmeverfahren eines Erbgesundheitsgerichtsprozesses hob das Gericht am 10. Oktober 1990 den Sterilisationsbeschluss der 87jährigen Frau T. mit der Begründung auf, „[d]ie Zwangssterilisation von Frau T[…] ist nationalsozialistisches Unrecht.“ Es hätten sich „keinerlei Anhaltspunkte für eine andere Feststellung“ ergeben. „Auf Grund der tief in die Persönlichkeitsphäre eingreifenden unrechtmäßigen Entscheidungen des sogenannten Erbgesundheitsgerichtes war die Kostenentscheidung […] wie im Tenor aufgeführt zu treffen.“735 Ob es an anderen, hier nicht untersuchten Amtsgerichten in den 1990er Jahren weitere Wiederaufnahmeverfahren gegeben hat, muss offen bleiben. Bezeichnenderweise führen bis in die Gegenwart bundesdeutsche Gerichte wie das Oberlandesgericht Hamm in ihren Zuständigkeitsbeschreibungen „die Beschwerden gemäß der Verordnung vom 28. Juli 1947 über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen“ auf.736 Abgesehen von den erfolgten Aufhebungen der Sterilisationsurteile und der entsprechenden Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen durch den Deutschen Bundestag im Jahr 1998737 ist ein kritisches Bewusstsein über die Unzulässigkeit eines jeglichen „eugenischen Gerichtsverfahrens“ offenkundig bis heute nicht vorhanden.
734
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/87. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/89. Zur Begründung der juristischen Zuständigkeit und zu einer damit einhergehenden weiteren Abgrenzung gegenüber der „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ vgl. das im Kapitel II. 3 vorgestellte Verfahren von Frau P. (Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/87). 736 Zuständigkeit des 21. Zivilsenats, vgl.: http://www.olg-hamm.nrw.de/aufgaben/02_gvp_ rechtsprechung/02_zivil/sammlung/21_zivilsenat/index.php. Vgl. auch die entsprechende Zuständigkeitsbeschreibung des Amtsgerichts Hannover: http://cdl.niedersachsen.de/blob /images/C11977893_L20.pdf 737 Deutscher Bundestag: Drucksache 13/10284 vom 31.3.1998, http://dip.bundestag.de/ btd/13/102/1310284.asc 735
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2. 2 Die Perspektive der Betroffenen im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren Die Perspektive der Betroffenen im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren wird in vielen Fällen nur mittelbar sichtbar. Der gleichsam „dazwischengeschaltete“ Blickwinkel und die vermittelnde Sprache der gutachtenden Mediziner und Juristen sind hierbei ebenso mit einzubeziehen, wie die möglicherweise vorhandenen argumentativen Strategien der Betroffenen bei der Untersuchung und vor Gericht. Gleichwohl bieten die Aussagen der Betroffenen und ihre Angaben in Briefen erste Einblicke in die Wahrnehmung der Zwangssterilisierten bezüglich des Eingriffs, seiner Folgen und des Umgangs hiermit. Folgen der Zwangssterilisation Die Betroffenen gingen in den ersten Jahrzehnten der Wiederaufnahmeverfahren nur verhalten auf die Folgen der Zwangssterilisation ein, sei es, dass Entsprechendes nicht abgefragt wurde, sie im Rahmen der Begutachtung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zumeist fehlenden Empathie der Gutachter, wenige Angaben hierzu machen konnten oder wollten oder sie keine negativen Folgen empfanden. Im Formblatt des Hamburger Amtsgerichts wurde der Satz: „Infolge der durchgeführten Unfruchtbarmachung leide ich unter Beschwerden“ zum Teil durchgestrichen,738 zum Teil stichpunktartig durch verschiedene physische und psychische Beschwerden ergänzt.739 In einigen Fällen wird in schriftlichen Mitteilungen oder im Rahmen der fachmedizinischen Anamnese von physischen Folgen der Sterilisation,740 bei Frauen insbesondere Komplikationen nach der Operation, Menstruations- und Unterleibsbeschwerden, teilweise verbunden mit Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, berichtet.741 Im medizinischen Gutachten gab Frau G. an: „Etwa 3 - 4 Tage vor der Monatsblutung bekäme sie ‚wahnsinnige Schmerzen’. Sie habe dann Selbstmordgedanken. Sie sei leicht aufgeregt und habe häufig und unregelmäßig Beschwer738
Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/51. Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 10/59; 4/60; 1/61; 2/63. 740 Diese als Folgen der Sterilisation beschriebenen Leiden konnten dabei sehr unterschiedlich sein. So gab Herr B. beispielsweise an, er leide seit dem Eingriff an geschwollenen Hoden und sei deshalb invalidisiert worden. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/56. Herr T. berichtete, er leide seit dem Eingriff an Kopfschmerzen und sei interessenloser. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/59. 741 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 1/51. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/53; 2/56; 3/57; 5/59; 18/59; 2/60; 13/60; 7/61; 2/64; 3/87; Landesarchiv SchleswigHolstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2082; Nr. 2301; Nr. 2306; Nr. 2346. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3854. 739
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den. ‚Ich könnte es mir nicht schlimmer vorstellen’. Aufgrund ihrer Kinderlosigkeit sei sie menschenscheu und ‚voller Scham’ geworden.“742 Der Vater von Frau B. schreibt, dass seine Tochter durch die „[…] anscheinend von Laienärzten durchgeführte Operation, Querschnitt über volle Bauchbreite, unsächliche Leiden, viele Nachoperationen, Blutstürze, Bluttransfusionen […] über sich ergehen lassen musste.“743 Auch „seelische“ Beschwerden wurden angedeutet744 oder explizit benannt. Herr A. gab im Antragsformular an, er leide seit der Zwangssterilisation an „furchtbaren seelischen Beschwerden“745 Die faktischen Folgen des Eingriffs, namentlich genommene Heiratsmöglichkeiten oder zerbrochene Partnerschaften und die erzwungene Kinderlosigkeit, sind hingegen zentrale Elemente der Perspektive der Betroffenen.746 Über die nach drei Scheidungen in vierter Ehe lebende E. B. führt das psychiatrische Gutachten aus: „Hinsichtlich ihres Lebenslaufes ist die Prob. der Ansicht, dass ihre Ehen nicht von Dauer gewesen seien, da sie keine Kinder bekommen konnte. Die verschiedenen Ehemänner hätten ihr das zum Vorwurf gemacht.“747 Über Frau A., die 1942 wegen körperlicher Missbildungen sterilisiert worden war, liest man im Gutachten: „Sie stehe jetzt, da sie an sich gerne geheiratet und Kinder gehabt hätte, zunehmend unter dem Druck einer Belastung, nicht durch die Fehlbildung als solche, sondern durch die Sterilisation. So sei eine Verlobung 1949 deswegen auseinander gegangen. Der Verlobte sei nämlich geschieden gewesen und habe beabsichtigt, nach seiner Heirat sein Kind mit in die Ehe zu bringen [...]. Die geschiedene Frau habe jedoch die Eheschließung unter dem Hinweis darauf, dass man das Kind unter gar keinen
742 Ihr Ehemann berichtete in einem Schreiben an das Amtsgericht von einem entsprechenden Suizidversuch seiner Frau. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8758. 743 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 19/60. 744 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 9/60. 745 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/59. 746 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/58; 20/60; 5/61; 6/61. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2342; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 13985; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3801; Nr. 3878; Klevenow (1988), S. 120. 747 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 2/56. Frau R. begründete ihren Verfahrensantrag damit, dass es „[i]n diese[r] Ehegemeinschaft […] durch die gewaltsame Unterbindung der natürlichsten Aufgaben der Frau unmöglich [ist,] sich den Wunsch nach einem Kinde zu erfüllen.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16089.
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Umständen zu einer sterilisierten Frau geben könne, zu hintertreiben gewusst.“748
In einigen Fällen war für den Partner des Betroffenen die Refertilisierung offensichtlich die Voraussetzung für eine Heirat. Im Fall von Herrn M. heißt es: „Das Verhältnis zu seiner Verlobten sei gut. Diese mache jedoch die Eheschließung davon abhängig, dass er in der Lage sei, Kinder zu zeugen.“749 Herr B. beantragte hingegen die Aufhebung des Beschlusses, obgleich die Sterilisation selbst nicht durchgeführt worden war. Er gibt zu Protokoll: „Durch dieses Urteil konnte ich nicht heiraten und mein ganzes Leben wurde dadurch ruiniert. Besonders gelitten haben dadurch meine Kinder und meine Frau. Meine Frau hat weiterhin zu mir gehalten; ist aber inzwischen verstorben. Unser Zusammenleben wurde aber dadurch zerbrochen.“750 Ein weiteres zentrales Element für viele Betroffene stellt die durch die Diagnose und den Zwangseingriff hervorgerufene Verletzung des Selbstwertgefühls dar.751 Diese waren zumeist sowohl durch die unterstellte Diagnose einer erblichen Schwachsinnigkeit oder Geisteskrankheit als auch durch den Eingriff selbst bedingt. So äußerte Frau J. im Rahmen der fachmedizinischen Begutachtung, sie habe keine körperlichen Beschwerden mehr: „Auch seelisch habe sie sich mit allem abgefunden; nur gehe es ihr darum, dass sie nicht unter der Diagnose ‚Geisteskrankheit’ segele.“752 Herr S. äußerte im Mai 1960 in seinem Wiederaufnahmeantrag an das Hamburger Amtsgericht: „[...] ich bitte das Gericht sobald wie möglich meine Ehre wieder zugeben. [...] mein Beruf ist Ma-
748
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 21/60. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/57. Herr M. gab an, er habe in Russland im Rahmen eines Kriegsgerichtsverfahrens – er habe sich geweigert, russische Frauen und Kinder zu erschießen, einen Nervenzusammenbruch bekommen. Die Unfruchtbarmachung wegen „angeborenen Schwachsinns“ habe ihn in dem Verfahren „gerettet“. Vgl. zum Beispiel auch Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/59. Auch die Ehefrau von A. J. V. gab an, hätte sie gewusst, dass ihr Mann sterilisiert war, hätte sie ihn nicht geheiratet, denn sie hätte sich immer Kinder gewünscht. Vgl. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 8/61; Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2379. 750 Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/74. Dem Antrag wurde stattgegeben. 751 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/58; 2/63; 9/64; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2336; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 10519; Nr. 3908, Nr. 3796; Nr. 3808, Ebenda Erbgesundheitsgerichte Nr. 13985; Nr. 8763. 752 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 196. Herr D. äußerte in der psychiatrischen Untersuchung, er habe den Antrag gestellt, um seiner Frau, mit der er in Scheidung lebt zu beweisen, „dass er nicht unheilbar geisteskrank sei“. Vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 42/50. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/60. 749
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schienen Arbeiter, bin fielseitig.“753 [Herv. i. O.] Das psychiatrische Fachgutachten über den 1935 wegen „angeborenen Schwachsinn“ sterilisierten K.-H. J.: „Er halte sich als Mann jetzt nicht für vollwertig.“ Er habe kaum noch sexuelle Interessen und traue sich nicht, zu heiraten, fühle sich durch die Sterilisation gehemmt, „da er sich als Mensch zweiter Klasse fühle, ‚oder noch weniger, minderwertig.’“754 Herr V., dessen Frau sich von ihm trennte, nachdem sie von seiner Sterilisation erfahren hatte, schrieb in seinem Lebenslauf für das Kieler Amtsgericht: „Ich fühle mich völlig gesund und wenn meine Ehre wieder hergestellt wird, will auch meine Frau die Scheidung wieder zurückziehen, wie sie es mir fest versprochen hat.“755 Frau K. äußerte in ihrem Lebenslauf für das Amtsgericht Kiel: „Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war mir das Leben Anfangs ganz egal, denn ich zählte jetzt ja zu den Menschen zweiter Klasse. […] Mit der Zeit bin ich 28. Jahre alt geworden, und möchte mir jetzt meine Lebensbahn gründen.“ In einem weiteren Brief an das Amtsgericht, in dem sie auf die Beschleunigung des Verfahrens drängt, führte sie aus: „Ich möchte Sie noch darauf aufmerksam machen, dass das, was für Sie nur ein paar Seiten in ihren Akten sind und Ihnen durch die Bearbeitung etwas Ärger bereitet, mir schwach und schande bedeutet und viel Leid die Jahre hindurch gebraucht hat. Außerdem sollen Sie wissen das ich entschlossen bin meine Sache, die für mein weiteres Leben sehr wichtig ist zu dem von mir erwünschten Ende zu führen.“756
Auch Frau B. litt unter der wahrgenommenen Entwürdigung durch die Sterilisation ein Leben lang. „Sie habe diese Sterilisation als fürchterlich erlebt, da sie sich als minderwertig gefühlt habe, vor allem in der Nazizeit, aber auch später. Von dem Eingriff hätten nur ihr Mann, ihre Mutter und ihr geschiedener Vater gewusst. Ihrem Sohn habe sie diese Tatsache bis zum 20.4.81, bis zur Aufforderung zu dem Gutachten, verschwiegen.“757 Weiter schilderte sie die Angst, die sie gehabt hätte, von ihrem Mann verlassen zu werden und „als Minder753
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 14/60. Auch die Ehefrau von Herrn S. wollte, dass „[…] seine Ehre geretet wird und er für das schwere Unrecht entschädigt wird.“ Wie in der Akte weiter deutlich wird, gehen beide Motive, das der „Ehrenrettung“ ebenso wie die Hoffnung auf finanzielle „Wiedergutmachung“ bei dem angestrengten Wiederaufnahmeverfahren eng zusammen. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 47/50. 754 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/65. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3873. 755 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2342. Sein Antrag wird abgelehnt. 756 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2279. 757 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/80.
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wertiger nie wieder einen Partner zu finden.“758 Erst nach Kriegsende habe sich das Verhältnis zu ihm wieder gebessert. Bis in die Gegenwart des Wiederaufnahmeverfahrens begleitet sie diese Selbstsicht und die Angst vor weiterer Stigmatisierung. „Auch habe sie sich sehr viel Sorgen gemacht, ob ihre Einstufung als minderwertiger Erbträger sich für ihre Enkelkinder ungünstig auswirken könne. Dieses sei ein Anlass gewesen, jetzt ihre Rehabilitation zu erwirken.“759 Im Kontext dieser Verletzungen äußerten einige Betroffene Schamempfinden. Herr A., der über gesundheitliche Folgen der Sterilisation klagte und einen Zusammenhang mit seiner mangelnden Arbeitsfähigkeit herstellte, wurde vom Kieler Richter gefragt, ob er mit seinem Hausarzt nicht darüber gesprochen habe. Das Protokoll hält fest: „[…] kann ich nur sagen, dass man sich ja schämt, so etwas zu erörtern. Ich habe versucht ‚eben so’ fertig zu werden.“760 Herr H. begründete seinen größtenteils handschriftlichen Antrag mit dem Hinweis, er würde über keinen „diskreten Zugang zur Schreibmaschine“ verfügen,761 ein anderer Betroffener bat um „diskrete Nachricht“.762 Wie stigmatisierend die Tatsache einer nationalsozialistischen Zwangssterilisation von der Umwelt gewertet wurde, zeigt ein Schreiben des Anwaltes eines Betroffenen an das Amtsgericht. Mit der Rücksendung der Terminladung verbindet er die Bitte, „die Geschäftstelle in zukünftigen Fällen anzuweisen, dass mir eine anderslautende Ladung zugeschickt wird, da nicht in ‚meiner’ Erbgesundheitssache Termin anberaumt ist. Gerade in Erbgesundheitssachen sollten derartige fehlerhafte Ladungen vermieden werden, da sie Anlass zu schwerwiegenden Vermutungen oder Verdächtigungen sein können.“763 Einige Betroffene deuten auch entsprechende Diskriminierungen aufgrund der erfolgten Zwangssterilisation an.764 758
Ebenda. Hieraus hätten sich auch bis zum Kriegsende sexuelle Störungen ergeben. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/80. 760 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2406. Das Protokoll enthält auch folgenden Vermerk: „Der Betroffene machte einen ausgesprochen schwachsinnigen Eindruck. Sein körperlicher Zustand ist trist. Zu dem Antrag ist er offenbar von anderer Seite aufgestachelt worden.“ 761 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/87. 762 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 1835; vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3782; Nr. 3808. 763 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2336. Der Anwalt scheint darüber hinaus die „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ grundsätzlich zu akzeptieren. So argumentierte er: „Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheidungen ist auch die Begründung des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichts in Flensburg vom 24.2.1942 sehr matt.“ 764 Herr A. wurde vom Richter des Amtsgerichts im Oktober 1954 gefragt, warum er das Wiederaufnahmeverfahren anstrebe. Daraufhin gab er an: „Weil ich da Nackenschläge von habe, weil man mir das überall vorhält.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356; Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 737. 759
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Empathie und Mitgefühl ließen Gutachter wie zu Gericht Sitzende insbesondere in den ersten Jahren gegenüber den Betroffenen häufig vermissen,765 unabhängig davon, ob ein Urteil aufgehoben wurde oder nicht.766 Im Fall von Frau E. notierte der Gutachter unter anderem: „Ihr Minenspiel erschien grob, ihre Ausdrucksweise unbeholfen und schwerfällig. […] Vor allem in der Überschätzung der eigenen Person ließ sich eine Kritikschwäche nachweisen. […] kurz einschießende depressive Affekte bei der Schilderung ihrer durch die Sterilisation bedingten Lebensumstände konnten verbal schnell abgefangen werden.“767 Herr B. vermochte seinen Gutachter hingegen offensichtlich zu überzeugen: „Im Gespräch über die Umstände, die zur Sterilisation geführt haben, wirkte der Proband sehr gerührt, brach dann plötzlich in Tränen aus, wirkte dabei absolut echt.“768 Bei Herrn J. hatte der beurteilende Mediziner den Eindruck: „Sein Verhalten war gekennzeichnet durch eine deutliche Unsicherheit und Verlegenheit, die er offensichtlich durch seine freundliche Zuwendung und ein stereotypes Lächeln zu überdecken suchte. Er wirkte dadurch ungeschickt und ungelenk.“ Diese Verunsicherung habe er auch durch seine Aussagen, er fühle sich nicht vollwertig, verbalisieren können.769 Weder wurden hier die für die Betroffenen möglicherweise belastenden Explorationen reflektiert,770 noch wurde ihm, der seine Unsicherheit und Unterlegenheitsgefühle mehrfach zum Ausdruck gebracht hatte, mit Einfühlungsvermögen begegnet. Die Beurteilung stellte 765
Zu Beispielen für eine differenzierte und einfühlsame medizinische Begutachtung Mitte der 1950er Jahre vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3800. 766 Vgl. hierzu auch das Beispiel von Paul W. bei Krieg (1984). 767 Zuvor hatte er notiert: „Sie habe in all den Jahren doch sehr darunter gelitten, da ihr ja auch vor allem praktisch die Möglichkeit zur Heirat genommen worden sei. Ihr Bräutigam habe die Verlobung aufgelöst, nachdem er ihre Sterilisierung erfahren habe.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/61; vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2279. Über Herrn K. heißt es in der psychologischen Befund: „Jedoch zeigt er kurze dysphorische Verstimmungen mit Neigung zur Aggressivität, wenn von dem anhängenden Erbgesundheitsverfahren gesprochen wird.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3808. 768 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 6/61. Vgl. auch Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2313; Nr. 2327. 769 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/65. 770 Vgl. hierzu auch zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/53. Auch bezüglich der spezifischen Gerichtssituation wurden die Verfahrensbedingungen für die Betroffenen kaum reflektiert. Das Hagener Amtsgericht gibt den Eindruck über eine Betroffene im Verfahren im März 1961 wieder: „Die Antragstellerin machte in dem Termin trotz freundlichster Unterhaltung mit ihr einen völlig hilflosen Eindruck und war zu einer zusammenhängenden Rede über ihr eigenes Leben nicht zu bewegen.“ Ihr Antrag wurde zurückgewiesen. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3877.
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vielmehr fest: „Bei Herrn J[] handelt es sich somit um eine mäßiggradig minderbegabte sowie ausgesprochen selbstunsichere, besonders im Sexualbereich erheblich gestörte Persönlichkeit. Soweit es sich übersehen lässt, hat sich der Prob. beruflich und in seinem sonstigen Sozialverhalten ausreichend angepasst gezeigt[]“, und befürwortete in der Konsequenz eine Wiederaufnahme des Verfahrens.771 Anlehnungen an zeitgenössische Beurteilungen von nationalsozialistischen Opfern finden sich in diesem Kontext in einzelnen Fällen ebenfalls. So heißt es im Gutachten von Herrn V.: „Er war zunächst zugewandt und höflich, im Verlauf der Exploration wurde er jedoch zunehmend gereizt, querulatorisch, dabei waren rentenneurotische Züge im Sinne von wunschbedingten Vorstellungen nicht zu verkennen.“772 Eine Annahme der Erfahrungen und Perspektiven der Betroffenen auf Seiten der Gutachter ist zumindest bis in die 1960er Jahre nicht feststellbar. Sie ist wohl auch nicht zu erwarten, da sie Selbstreflexivität sowie die Relativierung des eigenen Deutungsanspruchs vorausgesetzt hätte. Lediglich einige wenige der befragten Mediziner räumen explizit die Möglichkeit von durch die Zwangssterilisation hervorgerufenen physischen oder psychischen Belastungen ein.773 Traenckner hält in seiner Untersuchung für Hamburg Anfang der 1950er Jahre gleichwohl fest: „Vor allem die ärztlichen Gutachter betonten, dass sie doch den Eindruck gewonnen hätten, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl, vor allem der jüngeren Personen, psychisch sehr unter dem Eindruck der Sterilisationsfolgen gestanden hätte.“774 Argumentation und Kritik In der Auseinandersetzung mit den Gerichten und Gutachtern argumentierten viele der Betroffenen mit einer nicht vorhandenen „Erbkrankheit“ und einer individuellen und familiären „sozialen Bewährung“: „Schwachsinn ist im Sinne des Gesetzes eine Erbkrankheit, Diese kann nur entstehen, wenn in der Familie 771
Das Gericht gab dem Antrag statt. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 2/65. Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 8/61. 773 Ein seltenes Beispiel eines Attestes, welches früh die negativen Folgen für eine Zwangssterilisierte benennt, ist das von Frau K. ihrem Antrag beigelegte Schreiben vom März 1950, worin der Arzt ausführte: „Es treten periodenweise heftige Unterleibskoliken mit Ohnmachtsanfällen und Migräneerscheinungen auf […]. Die Folgen der Sterilisation äußern sich auch in einer ständigen Gewichtszunahme u. auffallenden psychischen Veränderungen, wie Depressionen, Reizbarkeit und Weinerlichkeit.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14025.Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3796; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356. 774 Traenckner, Erfahrungen, S. 82. 772
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ähnliche Fälle nachzuweisen sind. Ich bin in der Lage, es dem Gericht nachzuweisen, dass ich aus einer Ehe von kerngesunden Eltern hervorgegangen bin.“775 Herr G. führte laut des fachpsychiatrischen Gutachtens über seine Geschwister unter anderem aus, sie seien „sparsam, sauber, ordentlich, ernst und zurückhaltend, sozial tragbar“ und „trotz schwerer Zeiten“ seien „keine Versager darunter gewesen.“.776 Wenngleich hierbei die Fragekategorie und Sprache des Gutachters deutlich werden, so tauchen entsprechende Beschreibung und Kategorien in vielen Aussagen von Betroffenen auf.777 Insbesondere bei der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ versuchten die Antragsteller ihrerseits eine erfolgreiche „Lebensbewährung“ anzuführen.778 Das Gutachten über Herrn T. gibt seine Argumentation wieder: „Er halte sich nicht für schwachsinnig, er könne alles selbst machen, wie nähen und waschen, er könne auch ein Fahrrad flicken.“779 Als Beleg wurden schriftliche Zeugnisse und Beurteilungen von Familienangehörigen780 ins Feld geführt – „Beiliegende Zeugnisabschrift mag beweisen, dass ich meinen Platz im Leben ausfülle“781 – und auf langjährige erfolgreiche Berufstätigkeit und soziale Einordnung verwiesen. Herr B. zählte seine beruflichen wie militärischen Stationen auf und folgerte: „Nach all diesen Angaben kann ich unmöglich erblich schwachsinnig sein.“782 Herr B. äußerte sich ähnlich: „Aus allem gehe hervor, dass er sich stets ordentlich geführt habe, dass er im Krieg seine Aufgabe erfüllt, wie auch im bürgerlichen Leben sich eine Existenz aufgebaut und eine Familie gegründet habe. Er empfinde deshalb den Makel der Sterilisation als Ungerechtigkeit.“783 775 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3889. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg Mitte 56 XIII 7/50. 776 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 8/50. 777 Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 11/59; 17/59; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 737. 778 Die diesbezüglichen Sätze wie „Ich vermag heute alle Anforderungen, die das Leben an mich stellt, zu erfüllen.“ ähneln sich zum Teil sehr und verweisen erneut auf die zwischengeschalteten Instanzen der juristisch oder medizinisch Tätigen; Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 8/59; 11/59; 5/61. 779 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/59. Herr F. schrieb: „Wenn ich wegen Schwachsinns oder Geisteszustandes nicht normal wäre, so könnte ich ja überhaupt solch schwere fast bis in die Nacht hinein dauernde Arbeit nicht verrichten.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3382. 780 Vgl. auch die Argumentation im Fall von Herrn W., Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3790. 781 Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/51. 782 Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 6/61. 783 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/60.
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Frau R., die angab, sie leide körperlich und psychisch sehr unter dem Eingriff, argumentierte: „Es ist richtig, dass ich Hilfsschülerin war. Trotzdem habe ich mich stets im Leben zurecht gefunden und tue das auch heute noch. Ich bin seit 5 Jahren verheiratet, führe meinen Haushalt ordnungsgemäß und wirtschaftlich ebenso gut, wie jede andere Hausfrau auch. […] Es ist richtig, dass es auf der Welt verschiedene Menschen gibt und dass die einen klüger sind, als die anderen. Ich gebe auch zu, dass andere Menschen klüger sein mögen als ich, für eine Schwachsinnigkeit im Sinne der Sterilisierung vermag ich mich aber nicht anzusehen.“784
In der Kommunikation der Betroffenen mit den medizinischen und juristischen Begutachtern und im Rahmen der psychiatrischen Exploration finden sich als Argumente angeführte Erklärungen, warum im Einzelfall der Eingriff veranlasst worden sei. So wurde oftmals auf exogene Faktoren als Ursache des unterstellten erblichen Leidens und der fehlenden Leistungen785 und/oder auf politische oder soziale Verfolgung verwiesen.786 Über den 1938 wegen „erblichen Schwachsinns“ zwangssterilisierten K.-H. B. berichtet das Gutachten 1961: „Er vermutete, dass er aus politischen Gründen sterilisiert worden sei, er habe sich damals bei einer Gelegenheit gegen das Regime geäußert, habe sich auch gegen das Eintreten in die HJ gesträubt, er habe den Eindruck, dass dies der Grund zur Sterilisation und auf jeden Fall nicht die Tatsache, dass er einmal in der Volksschule sitzen geblieben war, gewesen sei.“787
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Von wem der Brief geschrieben wurde, wird nicht ganz deutlich, offensichtlich hat sie ihn direkt beim Amtsgericht Hagen diktiert, das Aktenzeichen ist notiert. Nachdem das Gericht das Prozedere und die Nichtverhandlung von „Entschädigungsfragen“ erläutert hat und der Ehemann laut Angaben des Amtsgerichts äußerte, seine Frau leide noch immer an „Geistesschwäche“ wird der Antrag zurückgezogen. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 509. 785 Insbesondere mangelnde Schulbildung wurde häufig genannt, vgl. z. B. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2286; Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 1/57; 1/59. 786 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 16/60; Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. Nr. 2082; 2356; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 738. 787 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 6/61.
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Auch Kritik an der „Erbgesundheitslogik“ und den Bedingungen des Wiederaufnahmeverfahrens wurde geäußert.788 Herr K. führte hierzu gegenüber dem Hagener Amtsgericht aus: „Ich habe Sie um Unterstützung und nicht um wochenlage Untersuchungen gebeten, die mir in meiner jetzigen Stellung als Geschäftsführer nur Schwierigkeiten auf allen Gebieten bringen.“789 Herr R. empörte sich vor allem über die zeitlichen Verzögerungen bei der Entscheidung über seinen Antrag. Von seiner Antragstellung im Dezember 1947 bis zur Aufhebung des Urteils durch das Amtsgericht Kiel im Februar 1950 richtete er mehrere Schreiben an das Gericht und bat um eine schnelle Bearbeitung, da er „nach langen Jahren der Deprimierung endlich wieder als vollwertiger Mensch[] unter den Mitmenschen leben möchte.“ Der „verbrecherische Eingriff“ sei aus „politischer Gemeinheit“ erfolgt und seit Jahren kämpfe er nun bereits um seine Rehabilitierung: „Viele Jahre meines besten Mannesalters, die mir niemand ersetzen kann, sind mir sowieso genommen. [Nun] endlich möchte ich aber wieder als vollwertiger und erbgesunder Mensch auftreten können, und da liegt es bei Ihnen die Angelegenheit zu forcieren. [Man] sollte doch annehmen, dass es jetzt möglich ist, nachdem wir den Naziterror seit fast 4 Jahren hinter uns haben, derartige Fälle zu erledigen.“790
Hierbei werden in einigen Fällen auch die Grenzen einer nicht prinzipiellen Kritik deutlich. Herr G. beantragte für sich und seine ebenfalls zwangssterilisierte Ehefrau „Wiedergutmachung“ und führte hierbei aus: „Durfte das nicht geschehen, und davonbin ich überzeugt, da ich keine körperlichen oder geistigen Minderwertigkeiten habe, desgl. auch meine Frau nicht, dann habe ich Anspruch auf Wiedergutmachung.“791 Geht diese Aussage von dem prinzipiellen Vorhandensein einer physischen wie psychischen (erbpathologischen) „Minderwertigkeit“ aus, so suggeriert sie im Umkehrschluss gar die Zulässigkeit 788 So von Frau G. Ihr Ehemann hatte zuvor bereits das Wiederaufnahmeverfahren und den Umgang mit den Betroffenen kritisiert und unter anderem darauf hingewiesen, man solle das Geld, was die Begutachtung koste, lieber den Sterilisierten zukommen lassen. Ihr Antrag wurde in zwei Instanzen abgewiesen. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8772. Darüber hinaus wird eine solche Kritik zum Teil implizit deutlich, beispielsweise wenn Betroffenen sich weigerten, zu der fachmedizinischen Begutachtung zu gehen. Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/60; Landesarchiv SchleswigHolstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2082; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3865. Vgl. auch Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/59. 789 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3808. 790 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2053. 791 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3380.
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entsprechender Zwangsmaßnahmen gegenüber den als „minderwertig“ Deklarierten. Herr B., dessen Frau zwangssterilisiert worden war, bemerkte zunächst bezüglich der Sterilisationspraxis: „Am meisten hätte es ja doch wohl den Arbeiter getroffen und das wären ja nur Menschen zweiter Klasse[]“, und übt sich wenig später selber in sozialdiagnostischer Bewertung: „Wir können uns wohl denken das Gewohnheitsverbrecher und Geistig minderwertige, welche dem Staat und damit der Algemeinheit zur Last fallen nicht Re-sterilisiert werden.“ Demgegenüber sei seine Frau seit Jahren berufstätig und habe den Führerschein Klasse zwei und drei: „Sie ist also bestimmt geistig nicht als minderwertig zu bezeichnen.“792 Die hier deutlich werdende explizite Abgrenzung gegenüber anderen, wirklichen „Schwachsinnigen“793 findet sich in einigen wenigen Fällen. In der Begutachtung von Frau K. heißt es: „Sie finde nämlich das Gesetz nicht an sich, sondern nur in ihrem Falle ungerecht angewandt, da sie nicht geisteskrank sei.“794 Auch von Seiten juristischer Vertreter konnte die Argumentation in ähnlichen Abgrenzungsstrategien liegen, so beispielsweise im Wiederaufnahmeverfahren von Frau C. Im Schreiben vom 7. Dezember 1960 teilte der Anwalt mit: „Es ist richtig, dass das Gutachten zu dem Ergebnis kommt, die Antragstellerin leide an Schwachsinn im Sinne einer Debilität. Wenn man alleine von dieser Beurteilung ausgehen würde, so müsste in der Tat der Antrag abgewiesen werden.“ Ein solcher „Schwachsinn“ wurde aber bestritten. Wenige Monate später ergänzte er: „Jeder denkende Mensch, insbesondere ein hohes Gericht, ist in der Lage sich ein Urteil darüber zu bilden, ob ein Mensch so handlungsund denkfähig ist, dass er eine Sterilisierung verdient oder nicht.“ Mit der Bitte um eine erneute Anhörung seiner Klientin vor Gericht wurde dabei die Einschätzung verbunden: „Dann wird sich herausstellen, ob die Beschwerdeführerin in ungewöhnlicher Weise geistig minderwertig ist. Ich habe das jedenfalls bisher nicht feststellen können und kann nur nochmals wiederholen, dass ich zahl-
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Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 3/47. Vgl. zum Beispiel Amtsgericht Hamburg Mitte 59 XIII 4/59. 794 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2279. 793
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reiche Klienten habe, die geistig erheblich minderwertiger sind, dafür sich aber in erheblich größerem Wohlstand befinden.“795
Zum Teil wurde von den Betroffenen auch ein quasi doppeltes Unrecht konstatiert. Ist die Sterilisation generell abzulehnen, so insbesondere im eigenen Fall, dem eine Fehldiagnose zugrunde lag. So argumentierte Frau H. in ihrem Wiederaufnahmeverfahrensantrag im September 1959: „Nach der in der Bundesrepublik geltenden Rechtsauffassung sollte der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Frankfurt/Oder rechtswidrig sein. In meinem Fall kommt noch hinzu, dass keinerlei Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer wirklichen erblichen Erkrankung vorlagen und vorliegen.“796 Argumentativ bewegt sich die Mehrheit der Antragsteller oder auch ihrer juristischen Vertreter797 innerhalb der Logik des GzVeN, sei es, da dies die einzige Möglichkeit war, ein aufhebendes Urteil zu erreichen, sei es aus eigener entsprechender Überzeugung. Sie bezogen sich hierbei in erster Linie auf das individuelle Fehlurteil, die nicht oder nicht mehr vorhandene (Erb)Krankheit oder die politische Verfolgung und stellten die ideologischen Maßstäbe, die den Eingriffen zu Grunde lagen, nicht oder aber erst mit zeitlicher Verzögerung in Frage. Einerseits von der Deutungs- und Entscheidungsmacht der medizinischen und juristischen Profession abhängig, andererseits vor dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Weimarer Republik und/oder des Nationalsozialismus sozialisiert, rezipierten sie oftmals die aufgestellten Kategorien und versuchten, sich innerhalb dieser abzugrenzen. Im Antrag auf Aufhebung des Erbgesundheitsgerichtsurteils der M. E., die 1937 wegen „erblichen Schwachsinns“ sterilisiert worden war, werden verschiedene Elemente der Argumentationsmuster und des Blickwinkels der Betroffenen zusammengefasst: Zweifel bezüglich der Diagnose, die Rekurrierung auf die „unbelastete“ Familie, eine subjektiv „erfolgreiche“ Biografie als „Gegenbeweis“ und negative Auswirkungen der Sterilisation: „Ich weiß nicht, warum ich 795
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 18/59. Ein anderer Anwalt schrieb: „Das Erbgesundheitsgesetz stellt, wie schon erwähnt, einen so schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Menschen dar und stammt aus einer Zeit, in der diese Persönlichkeitsrechte anderen Rechten weichen mussten. Wenn das Gesetz trotzdem nicht aufgehoben ist, so verlangt jedoch die heutige Zeit, dass an die Voraussetzungen der Unfruchtbarmachungen starke Anforderungen gestellt werden und dass die Grenzen eng gezogen bleiben und das Gesetz nur in den Fällen Anwendung findet, in denen es außer allen Zweifeln steht, dass der Betroffene erbkrank ist.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2286. 796 Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3854. 797 Exemplarisch hierzu vgl. Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 3819.
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schwachsinnig sein sollte. Ich habe zwar erst die Volksschule und dann die Hilfsschule (1 Jahr) in Lohbrügge besucht, bin jedoch später und jetzt mit allen Lebenserfordernissen fertig geworden.“798 Nach der Schule sei sie als Hausgehilfin und Arbeiterin tätig gewesen: „Wäre ich wirklich schwachsinnig, so hätte ich diese Tätigkeiten nie ausüben können. In meiner Familie ist sonst niemand sterilisiert oder erblich belastet. Zur Zeit bin ich erwerbslos und leide oft unter den Folgen der Sterilisierung. Daran scheiterte auch, dass ich nicht heiratete.“799 Ob im individuellen oder zunehmend auch im grundsätzlichen Fall, die Betroffenen kennzeichneten die Zwangssterilisation oftmals als Verbrechen beziehungsweise „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“800 und als Verletzung der Menschenwürde. Sie verwiesen in diesem Kontext zum Teil auf ein höheres Recht im Sinne eines übergesetzlichen Naturrechts oder religiös begründeten Rechts801 und stellten in einigen Fällen auch die Frage nach der Fortsetzung dieser Unrechtspraxis nach 1945, beispielsweise nach den juristischen Grundlagen der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen.802 So formulierte Herr S. 1953 in seiner Beschwerde gegen das ablehnende Urteil des Hagener Amtsgerichts, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sei von einer Regierung heraus gegeben worden, die öffentlich und international als verbrecherisch anerkannt wurde. „Somit ist an mir, ganz gleich, ob ich 798
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 4/61. Ebenda. 800 Vgl. z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/80; 3/87. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2306; Nr. 2316; Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 13985. Der zur Sterilisation angezeigte Herr P. und seine zwangssterilisierte Ehefrau stellten gegen den die Sterilisation beantragenden Amtsarzt 1949 Strafanzeige wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, da die Sterilisationsanträge politisch motiviert gewesen seien und Frau P. gesundheitliche Schäden durch den Eingriff erlitten hätte. Das Verfahren wurde eingestellt. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2082. 801 Vgl. hierzu auch Beispiele bei Brax (2004), S. 171f. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 8773 sowie die Ansprache des Vorsitzenden des Verbandes der Sterilisierten von Bayern, Württemberg und Baden zum Tage der Opfer des Faschismus 1950, BayHStA Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70. 802 So fragte Herr N., der für eine Betroffene das Wiederaufnahmeverfahren anstrebte, nach den juristischen Grundlagen. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2092. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3849, hier hält der Antragsteller das Gesetz für aufgehoben; vgl. auch den Brief des Bruders eines Betroffenen, Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht [Hagen], Nr. 3869. Der Anwalt von W. S. äußert im Februar 1972: „Ich halte es deshalb für ein Unrecht, dass die Maßnahme von einst, die durch ein Urteil des Oberlandesgerichts in Hamburg legalisiert wurde, aufrecht erhalten bleibt, zumindest möchte ich Herrn S[…] vor Augen führen, dass er in seinem Kampf um Rehabilitation nicht allein steht.“ Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/66. 799
Staat und Individuum im Kontext der Wiederaufnahmeverfahren
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Erbkran[k] bin oder nicht; ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden unter deren Folgen ich heute noch leide.“803 Der Schwager einer Betroffenen äußerte sich im Mai 1961 zur medizinischen Begutachtung, der seine Schwägerin nicht nachkommen konnte: „Ich bin der Meinung, dass ein solches Verfahren auch nicht notwendig ist. Soweit mir bekannt, ist doch das von der NS-Regierung erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses außer Kraft gesetzt. Somit wird doch praktisch das damals geschehene Unrecht – hier Sterilisation meiner Schwägerin – von der jetzigen Regierung anerkannt.“804 Einige wenige benennen hierbei dezidiert die Verantwortung der Justiz. Urteilte ein Angehöriger eines Betroffenen bereits im „Dritten Reich“: „Das an Solchen getane Unrecht wird nie wieder gut gemacht werden können, es wird ein ganzes langes, langes Menschenleben fortwirken [...]. Niemals ist einem Gericht mehr Macht in die Hände gegeben gewesen, über Unschuldige zu richten, als heute den Erbgesundheitsgerichten[]“,805 so schrieb Herr D. Mitte der 1960er Jahre an das Hamburger Amtsgericht: „Wie skrupellos Ihre Abteilung mit d. N.S. Arzt B[…] junge Menschen für ihr Leben lang geschändet haben. Diesen Justiz Beamten dürfte es Tag und Nacht keine Ruhe lassen. Über soviel Gemeinheit. Das alles im Namen der Justiz.“806 Herr K., dessen Wiederaufnahmeantrag Mitte der 1950er Jahre in zwei Instanzen abgelehnt worden war, wandte sich im Oktober 1967 an das Kieler Amtsgericht: „[…] Sehe ich mich demendsprechend als ein Mensch, der durch die Tretmühle der Nazis gedreht wurde. Wenn ich meine Recht von Ihnen nicht zugestanden wurde, dann muss ich annehmen, das eine Recht v. Ihnen niemals gesprochen wurde. Ich weiß das die Herren Richter verschiedentlich Urteilen, je nach Laune und Landesgrenzen. Ich möchte nochmals daraufhinweisen, das die Tatsachen bestehen, das ich ungerechterweise Steralisiert worden bin. Von einer Erbkrankheit liegt in unsere Familie nicht vor. Warum der faule Zauber, Hitler hat viel Schmach u. Elend hinterlassen. Das aber die heutige Demokratie, dies noch aner-
803
Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16090. Das Kieler Amtsgericht wertete das Schreiben als Rücknahme des Wiederaufnahmeverfahrensantrages. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2402. Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte, Nr. 14190. 805 Erwin B. in der Verteidigung seines Bruders, zitiert nach Bock (1986), S. 339. 806 Brief vom 13.7.1964, Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 9/64. Herr D. forderte Einsicht in die Aktenbestände über ihn aus Farmsen, die laut Gericht nicht mehr auffindbar waren. Er hatte bereits 1941 und 1953 Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt, 1941 wurde der Antrag abgelehnt, 1953 diesem stattgegeben. Bis 1983 finden sich in der Akte Briefe, in denen er Anklage wegen des an ihm begangenen Unrechts erhebt. 804
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kennen! Ist es ein Denken der Zeit, das man Unrecht was man erlitten hat, noch gutgeheißen wird?! […]“807
3. Wiederaufnahmeverfahren und Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Der Umgang mit den Betroffenen der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik muss zum einen vor dem Hintergrund einer generell zögerlichen und widersprüchlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gesehen werden. Bis Ende der 1980er Jahre lässt sich hier eine sukzessive Erweiterung des Blickwinkels konstatieren. Zum anderen bedurfte es einer veränderten Haltung gegenüber staatlicher Autorität, des Verhältnisses von Staat und Individuum und der Bedeutung des Schutzes von Freiheitsrechten, um die prinzipielle Unrechtmäßigkeit derartiger Zwangseingriffe anzuerkennen. Erst dann konnten die Zwangssterilisierten und ihre Perspektive in politischen, medizinischen und juristischen Kontexten eine veränderte Wahrnehmung erfahren.
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Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. [2414, 2415?] Es ist keine eigene Aktennummer des Landesarchivs angegeben. Die ursprüngliche Signatur des Kieler Amtsgerichts lautet 21 XIII 2/67. Vgl. hierzu auch die Beschwerde von Herrn S. gegen sein abgelehntes Wiederaufnahmeverfahren: „Ferner muss mit Befremden festgestellt werden das sich ein Gericht in unserem heutigen demokratischem Staate auf Urteile und Gesetze des NaziRegimes geruft und diese bekräftigt.“ Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16068; Vgl. auch Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen, Nr. 16076.
Wiederaufnahmeverfahren und Politische Kultur
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In den wieder aufgenommenen Erbgesundheitsgerichtsprozessen wurde bis in die 1970er Jahre hinein implizit oder explizit zumeist ein rechtspositivistischer Standpunkt vertreten.808 Auch gingen die zuständigen Richter nach wie vor von der Rechtmäßigkeit eugenischer Zwangseingriffe aus: „Die Unfruchtbarmachung ist daher nach dem damals geltenden Recht zutreffend angeordnet worden. Neue Umstände, die eine Wiederaufnahme des früheren Verfahrens rechtfertigen könnten, sind nicht festgestellt worden“, urteilte etwa das SchleswigHolsteinische Oberlandesgericht im Januar 1954.809 Dass das GzVeN gegen das Grundgesetz verstieß810 und vor diesem Hintergrund den Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen von Beginn an die rechtliche Grundlage fehlte, reflektierte man in den ersten dreißig Jahren der Bundesrepublik kaum.811 Erst in den 1980er Jahren wurde diese Unvereinbarkeit von politischer und juristischer Seite mehrfach, wenngleich zum Teil auf Umwegen, festgestellt. Zunächst betonte das Justizministerium Mitte der 1980er Jahre die – eigentlich seit Jahrzehnten selbst unter Eugenikern unstrittige – Unvereinbarkeit von Zwangssterilisation und Grundgesetz: „Die Anordnung einer Zwangssterilisierung ist mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar. Denn mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1GG wollte der Verfassungsgeber die verfassungsrechtliche Grundlage dafür schaffen, ‚dass Maßnahmen, wie sie der Nationalsozialismus mit der Zwangssterilisierung eingeleitet hat, nicht mehr durchgeführt werden dürfen’ […]. Das Grundrecht
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Damit ist gemeint, dass sich die zuständigen Richter völlig unkritisch auf das GzVeN beriefen, ohne die Vereinbarkeit des Gesetzes mit den in der Bundesrepublik geltenden Grundrechten zu prüfen. Bereits zeitgenössisch kritisch hierzu Zundel (1962). Dabei ist zugleich zu beachten, dass das GzVeN den Juristen und Medizinern einen Spielraum ließ und im „Dritten Reich“ eine rechtspositivistische Haltung generell nur mit Einschränkungen vorhanden war. Vgl. zu letzterem Frenzel (2003), S. 225. Somit lässt sich die unkritische Berufung auf das GzVeN in der Bundesrepublik sowohl als Teil einer Exkulpationsstrategie verstehen, als auch als weiterer Hinweis auf die nach wie vor vorhandene inhaltliche Übereinstimmung der beteiligten Juristen mit dem Gesetz. 809 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2326. 810 Artikel 2 führt unter anderem aus: „ Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. “ Artikel 123 hält fest: „Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht.“ Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe. Stand: August 2006, S. 11, 79. 811 Jürgen Simon führt in seiner Untersuchung einen Gerichtsbeschluss des Amtsgerichts Bielefeld aus dem Jahr 1964 an, in welchem bereits auf naturrechtliche Normen und die Unversehrtheit des Individuums rekurriert wird. Simon (1998), S. 194f.
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auf körperliche Unversehrtheit umfasst insofern auch das ‚Grundrecht auf Freiheit vor Unfruchtbarmachung’ […].“812
Weniger eindeutig fiel hingegen die Einschätzung der Zulässigkeit der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen aus. Mit Bezug auf die ablehnende Haltung gegenüber solchen Verfahren in den Bundesländern außerhalb der ehemals Britischen Besatzungszone heißt es weiter: „Die Einführung neuer Möglichkeiten zur Überprüfung der Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte ist in der Vergangenheit an vielen Bedenken gescheitert. In diesem Zusammenhang spielten auch humanitäre Überlegungen eine Rolle. Es wurde u. a. eindringlich davor gewarnt, die Sterilisierten mit neuen Verfahren zu belasten, denen sie wegen ihrer Krankheit nicht gewachsen sind. […] Auch aus heutiger Sicht dürften die Bedenken eher überwiegen […] Eine solche Einzelfallüberprüfung wäre auch misslich, weil die materiellen Kriterien, die den Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte zugrunde liegen, nach heutigem Rechtsverständnis problematisch sind. Auch ließe sich nicht ausschließen, dass der Antragsteller bei einer erneuten Sachprüfung Fragen ausgesetzt würde, die er als entwürdigend, unzumutbar oder zumindest als unangenehm empfindet.“813
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich einzelne Amtsgerichte, wie noch zu zeigen sein wird, bereits eindeutiger positioniert. Die Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichsverfahren setzten die Herabwürdigung und Stigmatisierung der Zwangssterilisierten in der Bundesrepublik fort. Wurde prinzipiell davon ausgegangen, dass die Urteile im „Dritten Reich“ zu Recht erfolgt waren, so hatten die Betroffenen im Einzelfall das Gegenteil zu beweisen. Dabei mussten sie sich und ihre Lebensentwürfe in medizinischen Untersuchungen, polizeilichen Ermittlungen und vor Gericht an fremden Maßstäben und vor dem Hintergrund einer strukturellen elitären Arroganz messen lassen. Mediziner und Juristen, welchen im System der nationalsozialistischen Eugenik eine Schlüsselstellung zugekommen war, behielten ihre weitgehend nicht hinterfragte Deutungshoheit über Gesundheit, (Erb-) Krankheit und soziale Erwünschtheit. Die Sprache blieb von unreflektierten Normvorstellungen und den Einzelnen herabwürdigenden Termini durch812
Stellungnahme des Bundesministers der Justiz an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. 11.1985, S. 9, abgedruckt bei Dörner (1986a). Die Unfruchtbarmachung bei Geschäftsunfähigen mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters werde dabei offen gelassen. 813 Ebenda, S. 12f., abgedruckt bei Dörner (1986a).
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drungen. Konnten die Betroffenen diesen Maßstäben nicht gerecht werden, so wurde eine Aufhebung des Urteils abgelehnt, konnten sie eine Aufhebung erreichen, so waren damit keinerlei „Wiedergutmachungsansprüche“ verbunden. Hierbei wurde zweifach argumentiert: Zum einen, dass bei dem Antragsteller eine zum damaligen Zeitpunkt des Verfahrens nicht vorhersehbare positive Spätentwicklung eingetreten sei. Zum anderen, dass selbst wenn vermutet werden könne, dass man auch im „Dritten Reich“ eine andere Diagnose hätte stellen müssen, die Betroffenen beweisen müssten, dass das damalige Gericht bewusst ein falsches Urteil abgegeben hätte.814 Jürgen Simon kommt in seiner Analyse der Wiederaufnahmeverfahren zu dem Ergebnis: „Die Wiederaufnahmeverfahren als eine direkte Fortsetzung der nationalsozialistischen Rechtspraxis zu bezeichnen, führt an der tatsächlichen Beschlusspraxis vorbei, verkennt aber auch sowohl die Innergesetzlichkeiten der Justiz als auch die Tatsache, dass deutsche Juristen seit der Reichsgründung von 1871 nicht in einer liberalen Tradition standen, in der die individuellen Persönlichkeitsrechte als schützenswertes Rechtsgut angesehen wurden, sondern einem autoritären Staatsdenken folgten.“
Die Urteilspraxis der Wiederaufnahmeverfahren, welche „in extremer Weise von einem Vorurteils- und Bevormundungsverhalten gegenüber sozial auffälligen und abweichenden Unterschichten und einem recht diffusen Begriff der ‚Normalität’ bestimmt war“, sei somit zwar nicht als völkisch-nationalsozialistisch, aber als biologistisch zu bezeichnen.815 Der von Simon betonte Zusammenhang von Brüchen und Kontinuitäten vor und nach 1945 lässt sich hierbei noch weiter zuspitzen. Der nationalsozialistische Staat stellte die Rahmenbedingungen für die gerichtliche Umsetzung negativer eugenischer Maßnahmen bereit. Mehr bedurfte es offensichtlich nicht, um Juristen wie Mediziner in Hunderttausenden von Fällen zu einer Beund Verurteilung von Menschen mit vermeintlich unterschiedlicher Wertigkeit und sozialer Erwünschtheit zu bringen und dann nach dem Zusammenbruch dieses Regimes zu einer – wenn auch deutlich eingeschränkten – Fortsetzung dieser Beurteilungspraxis. Ob die Bezugsgröße dabei eine völkisch-nationalsozialistische oder eine bürgerlich-elitäre war, erscheint zweitrangig. Auch dezidierten Staatsdenkens bedurfte es offensichtlich weniger als einer inneren Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns, wie die ausgebliebene Frage nach den juristischen Entscheidungsgrundlagen in der Bundesrepublik zeigt. Die strukturelle Eigenlogik eines Systems, welches offenbar den Be814 815
Vgl. Simon (1998), S. 197. Ebenda, S. 194.
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teiligten kaum Raum für Reflexionen ließ, die vorurteilsbeladene Ideologie einer Elite, die den gesellschaftlichen Führungsanspruch derart internalisiert hatte, dass jegliche Lebensumstände der Betroffenen den eigenen Normsetzungen unterlagen, sowie der gesamtgesellschaftliche Zeitgeist, der zwar gegenüber biologistischen Utopien kritischer geworden war und ein Missbrauchspotential der Eugenik im Nationalsozialismus erkannt hatte, aber dennoch weiterhin in Teilen eine „Erbgesundheitslogik“ akzeptierte und die Betroffenen der Zwangssterilisationen insgesamt stigmatisierte, lieferten den normativen und gesellschaftlichen Hintergrund der Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse in der Bundesrepublik. Erst im Zuge des Wandels gesellschaftlicher Wertvorstellungen und allgemeiner Individualisierungstendenzen gelang es, den prinzipiellen Unrechtscharakter der Zwangssterilisationen und die Fragwürdigkeit der Wiederaufnahmeverfahren zu erkennen. Insofern stellen diese geradezu ein Paradebeispiel für die gegenseitigen Bedingtheiten von Justiz und Gesellschaft dar.816 Wie die Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse belegen, folgen dem Wechsel eines politischen Systems nicht zwingend veränderte Normvorstellungen der jeweiligen Eliten. Nicht zuletzt die Zwangssterilisationspraxis in demokratisch verfassten Ländern wie den USA oder Schweden führt darüber hinaus die faktische Vereinbarkeit von theoretischen und kodifizierten Grundrechten des Individuums, wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, und der Praxis einer negativen Eugenik vor Augen. Ein jahrzehntelang in der Bundesrepublik eingesetztes Biologiebuch für die gymnasiale Oberstufe übertrug dann auch die rassenhygienische Ideologie ohne Weiteres auf die aktuelle Staatsform: „Eine erfolgreiche Demokratie kann letzten Endes nur aus gutem Blut entspringen; kurz gesagt, sie ist ein biologisches Problem. In diesem Licht gesehen ist es eine erschütternde Tatsache zu hören, dass gegenwärtig das untüchtigste Viertel unserer Bevölkerung ungefähr die Hälfte der nächsten Generation erzeugen wird. Die größte Gefahr der Demokratie ist es, dass ihre tüchtigsten und dabei weniger fruchtbaren Glieder durch die Übervermehrung minderwertiger Erbstämme weggeschwemmt werden.“817
Weniger die jeweilige politische Verfasstheit, sondern vielmehr die politische Kultur eines Landes scheint somit für die hier interessierenden Fragen von Bedeutung zu sein: „Die Art und Weise, wie die Prozesse sich entfalteten und wie 816 817
Wassermann (1985), S. 278. Hermann Lindner, Biologie des Menschen, 1953, zitiert nach Tomkowiak (2005), S. 47.
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die Richter, Staatsanwälte und Verteidiger in ihnen agierten, aber auch die Ergebnisse, mit denen sie endeten, sind Symptom und Merkmal der Entwicklung der Justiz nach 1945. [F.] In ihnen spiegeln sich die politischen Werthaltungen und Einstellungen, kurz die politische Kultur der Bundesrepublik wider.“818 Daher seien im Folgenden einige wesentliche Elemente dieser bundesrepublikanischen politischen Kultur819 in ihrer Entwicklungsdynamik skizziert.820 Im Kontext dieser Arbeit interessieren dabei insbesondere das Verhältnis zum Nationalsozialismus, das Staatsverständnis und die von Ulrich Herbert so bezeichnete „Liberalisierung als Lernprozess“ sowie die sichtbar werdenden normative Orientierungen. Meinungserhebungen in der frühen Bundesrepublik verwiesen auf eine verbreitete konservative und restriktive Grundhaltung ebenso wie das weitgehende Fehlen individualethischer Orientierungen.821 Der Wunsch nach einem starken und international herausragenden Staat mit einer autoritären Führung822 bestand dabei ebenso weiter wie ein ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus823 mit zum Teil weiterhin existenten, beispielsweise antisemitischen Vorurteilen. Überraschen können diese Umfrageergebnisse allerdings kaum, auch wenn sie nicht die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der westdeutschen Gesellschaft wiederspiegelten. Demokratisch-geistige Aufbruchsversuche
818
Wassermann (1985), S. 276. Die Politische Kulturforschung beschäftigt sich, ausgehend von der amerikanischen Politikwissenschaft, mit der „subjektiven Seite“ von Politik. Vgl. hierzu und ideengeschichtlichen Vorläufern Almond (1980 u. 1987); zu einer umfassenden Kritik vgl. v. a. Kaase (1983). Zur hier gewählten Definition des Ansatzes vgl. Berg-Schlosser (1990), S. 30. Als „Gründungsväter“ dieses Ansatzes gelten zumeist die beiden Stanford-Professoren Gabriel A. Almond und Sidney Verba. Almond/Verba (1989). Zu den verschiedenen Modellen und Analyseansätzen und einer Auseinandersetzung mit der Kritik vgl. Westermann (2005). 820 Vgl. ausführlich zum Folgenden Ebenda. Vgl. z. B. auch Fröhlich (2009). 821 Vgl. zum Beispiel Merritt/Merritt (1980); Noelle/Neumann (1956). 822 So war 1951 für 35 Prozent der Befragten Bismarck derjenige Staatsmann, der am meisten für Deutschland getan habe, über 30 Prozent favorisierten eine monarchische Staatsform, und 57 Prozent wollten die Bundesrepublik als stärkstes Land in Westeuropa sehen. Vgl. hierzu und zur weiteren Entwicklung dieser Meinungsbilder: Baker/Dalton/Hildebrandt (1981), S. 24. Merritt/Merritt (1980), S. 199. Bei der Durchsicht der Literatur, die sich mit diesem Themenfeld beschäftigt, fällt auf, dass die jeweils angegebenen Umfragedaten z. T. variieren. Vgl. z. B. Gabriel (1987), S. 34. Die Entwicklungstendenz der Meinungsbilder verläuft dabei einheitlich. 823 1951/52 waren 44 Prozent der Auffassung, dass es im Nationalsozialismus mehr positive als negative Elemente gegeben hätte. Zum Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Merritt/ Merritt (1980), S. 6-12, 197-199. Greiffenhagen/Greiffenhagen (1979), S. 34. Noelle/Neumann (1956), S. 136f. 819
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gab es, beispielsweise im kulturellen und literarischen Bereich,824 aber sie waren nicht auf die breite Bevölkerung übertragbar. Die deutsche Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit Demokratie mit den negativen Erfahrungen der politischen Radikalisierung und den ökonomischen Krisen der ausgehenden Weimarer Republik verband, eine Gesellschaft zudem, die zwölf Jahre eine totalitäre Diktatur gestützt hatte und nun vor den Trümmern ihrer materiellen und moralischen Existenz stand, reagierte auf die veränderten Lebensumstände und die beginnende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in weiten Teilen mit Rückzug in den Wiederaufbau der privaten Existenz.825 Gleichzeitig war die Akzeptanz staatlicher Autorität hoch, noch 1963 las man in dem Schulbuch „Du und die anderen“: „Der Staat – ist die größte Gemeinschaft ... – ist eine natürliche Gemeinschaft [...] ist die mächtigste Gemeinschaft, die es gibt. Alle anderen Gemeinschaften müssen sich nach seinen Anordnungen richten.“826 Kam der vielfach zu beobachtenden Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Verleugnung der eigenen Verantwortung in der unmittelbaren Nachkriegsphase möglicherweise noch die Rolle einer psychischen Überlebensfunktion zu,827 so beschränkte sich die Auseinandersetzung auch in den 1950er Jahren auf halbherzige Ansätze einer gerichtlichen Ahndung der Taten einiger Weniger, die zumeist mit niedrigen Strafen oder Begnadigungen rechnen konnten, sowie ersten „Entschädigungszahlungen“ an ausgewählte Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes.828 „Motor“ dieser Maßnahmen war dabei eher der Blick nach einer außenpolitischen Konsolidierung der jungen Bundesrepublik als ein intrinsisches Bedürfnis nach Aufarbeitung.829 Die bereits unter dem Zeichen des sich verschärfenden Kalten Krieges stehende Begnadigungspraxis Anfang der 1950er Jahre und eine politische Grundhaltung, die – mit der Notwendigkeit eines raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus argumentierend – ehemaligen NS-Funktionären schnelle Wiedereinstellungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in nahezu allen 824 Vgl. hierzu: Funke (1995), S. 13. Zu solchen „Aufbruchstendenzen“ in der Literatur, wie zum Beispiel der Gründung der „Gruppe 47“, aber auch bereits gegenläufigen Erscheinungen: Vormweg, (1989), v. a. S. 55-64. 825 „Keine Experimente“ und das Streben nach Sicherheit und Stabilität bildeten das entsprechende Einstellungssurrogat dieser Signatur. „Keine Experimente“ war der Wahlslogan der CDU im Bundestagswahlkampf 1957, welche hierbei die absolute Mehrheit erhielt. Vgl. hierzu: Kleßmann (1988), S. 59f.; Sontheimer (2003), S. 63f. 826 Gustav Els: Du und die anderen, 3. Auflage, München 1963, S. 19, zitiert nach: Zoll (1999), S. 15. 827 Vgl. hierzu Mitscherlich/Mitscherlich, (1980), S. 35. 828 Vgl. hierzu Goschler (2005); Frei/Brunner/Goschler (2009). 829 Alexander und Margarete Mitscherlich konstatierten 1970 die Unfähigkeit der deutschen Bevölkerung, um die während des „Dritten Reiches“ ermordeten Mitmenschen „zu trauern“. Ebenda, v. a. S. 13-85.
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Bereichen von Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft bot, kamen einer verbreiteten Schlussstrichmentalität in der Bevölkerung entgegen.830 Die fehlende selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus trug dazu bei, dass Facetten des nationalsozialistischen Weltbildes auch nach 1945 unreflektiert beibehalten wurden. Insbesondere ein „emotioneller Antikommunismus“831 geriet vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes gleichsam zur bestimmenden und konsensstiftenden Ideologie der westdeutschen Gesellschaft. Zeitgenössisch von kritischen Intellektuellen schon als „restaurativ“ kritisiert und bis in die Gegenwart hinein mit dem Gestus einer arbeitsamen Spießigkeit belegt, lassen sich die in diesem Zeitraum feststellbaren verstärkten Orientierungen an konservativen und autoritären Normen vor allem als Reaktion und Kompensation des materiellen und moralischen Zusammenbruchs nach dem Ende des „Dritten Reichs“ verstehen.832 Neben diesen restaurativen Tendenzen existierten zudem auch gegenläufige Entwicklungslinien.833 Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre unterlagen Einstellungen und Wertpräferenzen einem in Anfängen bereits sichtbaren Wandlungsprozess, vor allem in Kreisen der Jugendkultur, die sich vermehrt und tendenziell schichtübergreifend dem westlichen Lebensstil öffnete. Diese erwiesen sich als „Motoren mentalen Wandels“.834 Ließ sich hierbei ein Trend zur „Entideologisierung“ und zu wachsendem Pragmatismus ausmachen,835 so konstatierte Ralf Dahren-
830
Inwieweit diese personellen Kontinuitäten eine Belastung für die bundesrepublikanische Demokratie darstellten oder nicht, war nicht nur unter den Zeitgenossen sondern ist auch in der Forschung umstritten. Vgl. Kleßmann (1988), S. 179-181; Stöver (2002), S. 58-61; Sontheimer (2003), S. 140-144; 204-210. 831 Mitscherlich/Mitscherlich (1980), S. 42f. 832 Ulrich Herbert verweist zur Erklärung dieser Orientierungsmuster sowie des Wandels in den folgenden Jahren auch auf die Ergebnisse der Migrationsforschung. Vgl.: Herbert (2002) S. 40; 48f. Die „Ära Adenauer“ der Bundesrepublik erwies sich für die Herausbildung eines demokratischen Bewusstseins als eine (notwendige) Übergangszeit, „denn ein institutionell gefasster Demokratiebegriff und ein autoritäres Staatsverständnis sind angesichts der politischen Unerfahrenheit der Deutschen nach dem Kriege auch als Entwicklungsstufe in einem Lernprozess zu erkennen; das Eingewöhnen in eine funktionierende Parteiendemokratie, das Erlernen von Spielregeln und Funktionsweisen von Parlamentarismus und Pluralismus erweisen sich so als Voraussetzung für die allmähliche Anverwandlung, schließlich für Kritik und Ausweitung des in den 50er Jahren etablierten Demokratiemodells.“ Ebenda, S. 25. 833 Claudia Fröhlich spricht von zwei konkurierenden gesellschaftspolitischen Modellen, einem national geschlossen konturiertem und einem abstakt freiheitlich-demokratischem, die sich in der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik gegenüberstanden. Vgl. Fröhlich (2009), v. a. S. 120. 834 Maase (2003), S. 9. 835 Vgl. Schäfers (1993), S. 310. Vgl. auch z. B. Schildt (1999), S. 645.
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dorf bereits 1962 die „Entdeckung des individuellen Lebenserfolges und Lebensgenusses als Richtschnur des Handelns.“836 Dass die sechziger Jahre Veränderungen bringen würden, diese Einschätzung entsprach in der ersten Hälfte des Jahrzehnts bereits dem zeitgenössischen Meinungsklima.837 Wie die „Spiegel-Affäre“ zeigte, unterstützte ein wachsender Teil der Bevölkerung die staatliche Autorität nicht mehr in jedem Fall kritiklos.838 Zu dieser Entwicklung trug der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung, der die materielle Situation eines breiten Teils der Bevölkerung verbesserte, ebenso bei wie die bereits in der Weimarer Republik angestoßene gesellschaftliche Modernisierung. Hinzu kamen der Einfluss der Alliierten, die angloamerikanische Kulturelemente und Mentalitäten vorführten, sowie nicht zuletzt das „Gegenbild“ der autoritären, planwirtschaftlich organisierten DDR.839 Die politische Mentalität einer zunehmend größer werdenden Gruppe der Bevölkerung öffnete sich vor diesem „sicheren“ Hintergrund liberaleren Werten und akzeptierte in wachsendem Maße das politische System, das den Rahmen für diese Entwicklungen stellte. So wie die 1950er Jahre durch ein Ineinandergreifen von retardierenden und modernisierenden Elementen geprägt waren, so vermischten sich in den sechziger Jahren diverse gesellschaftliche Aufbruchs- und Reformtendenzen mit einer sich allmählich entwickelnden, vor allem von Studierenden getragenen „politökonomischen“ Fundamentalkritik, die sich zunehmend radikal gebärdete. Die „’68er“840 motivierten und forderten die Gesellschaft heraus, benannten Missstände und überspitzten sie, wirkten initiierend, radikalisierend und in Teilen möglicherweise retardierend. Die öffentliche Wahrnehmung ebenso wie die Wissenschaft zollten noch Jahrzehnte später der Dynamik und der unerwarteten Radikalität der „Revolte“ der
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Dahrendorf (1962), S. 215. So sahen sich beispielsweise Publizisten und Schriftsteller zu Bilanzierungsversuchen der ersten Nachkriegsjahre veranlasst, Bundeskanzler Ludwig Erhard verkündete das Ende der Nachkriegszeit. Vgl. hierzu den Sammelband: Richter (1962.); Schildt (2000), S. 21. 838 Vgl. hierzu Liebel (1966). 839 Vgl. hierzu Doering-Manteuffel (2000), S. 340. 840 Der Begriff „’68er“ ist hierbei als weitgefasster Sammelbegriff zu verstehen, der die diversen Protestbewegungen, die 1968 kulminierten, sowie die (jugend)kulturellen Auf- und Ausbrüche der sechziger Jahre umfasst. Vgl. hierzu Sösemann (1999), S. 672. Der Begriff bringt dabei insbesondere auch das Selbstverständnis der damaligen Akteure (nicht selten auch derjenigen, die nur zufällig anwesend waren) zum Ausdruck. Jakob Tanner sieht in Anlehnung an die Begriffsbildung Detlev Claussens „’68“ als „Chiffre“. „’Chiffre 68’ heißt: Die Jahreszahl wird zum Code, über den eine Generation sich über ihre Motive, ihre Stimmungslage, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen zu verständigen vermag.“ Tanner (1998), S. 213. 837
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„’68er“ ihren Tribut841 und verbanden mit diesem Datum den – je nach weltanschaulichem Standpunkt – positiv oder negativ interpretierten Wendepunkt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte.842 Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte es in der Publizistik und in geringerem Maße in der Wissenschaft Debatten über die nationalsozialistische Vergangenheit gegeben. Hiermit verbunden waren Versuche der Rückbesinnung auf gleichsam „übernationalsozialistische“ deutsche kulturelle und historische Leistungen und Selbstinterpretationen.843 Insgesamt dominierten – neben ebenfalls vorhandenen kritischen Ansätzen844 – Debatten und Interpretationsmuster, die eine abstrakte und distanzierte Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Herrschaft und ein historisch-positivistisches Kontinuitätsdenken ermöglichten. Dieses Vergangenheitsbild bekam in den 1960er Jahren Risse, nicht zuletzt da die bisher verschütteten und verdrängten Einzelheiten der nationalsozialistischen Mordmaschinerie in nicht gekanntem Ausmaß auf die gesellschaftliche, politische und justizielle Tagesordnung gelangten. Die durch den Jerusalemer Prozess gegen den Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann, hervortretende „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) materialisierte sich in den Frankfurter „Auschwitz-Prozessen“ zwischen 1963 und 1965 in eine bis in viele Einzelheiten dargelegte Konkretisierung des Inhumanen. Die Reaktionen in Gesellschaft und Politik waren ambivalent. Der Bundestag legte in mehreren „Verjährungsdebatten“ eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord und Völkermord fest,845 und nicht zuletzt durch die Ende 1958 in Ludwigsburg zentralisierte Verfolgung von nationalsozialistischen 841 Das Ergebnis ist eine Flut von vor allem auch autobiografischer Literatur und Quellensammlungen. Vgl. hierzu Sösemann (1999), S. 673-675. Zum 40. Jahrestag 2008 kam es zu einer Vielzahl weiterer Beiträge, vgl. beispielsweise das „1968“er Heft der APuZ 14-15/2008. 842 Dagegen ist in den letzten Jahren der Schwerpunkt auf eine breite Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung des gesamten Jahrzehnts gelegt worden. Vgl. Schildt/Siegfried/Lammers (2000), S. 11f. 843 So wurde – wenn auch mit gewisser Verzögerung – die konservativ-militärische Widerstandsbewegung um den 20. Juli 1944 zur Bewahrerin der preußisch-deutschen Traditionen und zugleich historischer Anknüpfungspunkt für die junge Bundesrepublik. In den 1950er Jahren erfuhren Preußen und das Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 eine überaus positive Darstellung und konnten zur historischen Anlehnung dienen. Vgl. Doering-Manteuffel (2000), S. 335-337. 844 So beispielsweise die bereits 1946 veröffentlichte Monographie von Eugen Kogon „Der SS-Staat“. Ferner begann die historische Forschung mit Analysen zur Ereignisgeschichte und Ideologie des Nationalsozialismus und Traditionslinien des antidemokratischen Denkens. Vgl. Faulenbach (1987), S. 19-23. 845 1979 schließlich wurde die Verjährung für Mord gänzlich aufgehoben. Vgl. Kleßmann (1988), S. 183-185.
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Verbrechen beschäftigten diese die deutsche Öffentlichkeit für Jahrzehnte. Die Mehrheit der Bevölkerung beharrte dabei aber – wenngleich die Berichterstattungen über die NS-Prozesse auf großes Interesse stießen – angesichts der erdrückenden Schuld auf dem deutlich artikulierten Wunsch nach einem „Schlussstrich“. So sprachen sich 1965 bei einer vom Allensbacher Institut für Demoskopie durchgeführten Untersuchung sechzig Prozent der Befragten für eine Verjährung von Kriegsverbrechen aus, und über fünfzig Prozent stimmten der Aussage zu, „Ich finde, man sollte einmal aufhören, Menschen für Taten, die sie vor vielen Jahren begangen haben, jetzt vor Gericht zu stellen. Ich meine, es wäre gut, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.“846 46 Prozent der Befragten schlossen sich im Dezember 1966 der Einschätzung an, die „Entschädigungszahlungen“ an Juden seien bereits viel zu umfangreich gewesen und sollten beendet werden.847 Bis in die 1970er Jahre hinein blieb die offizielle Erinnerung an den Nationalsozialismus in der westdeutschen Gesellschaft auf zwei Gedenktage beschränkt, den Volkstrauertag und den 20. Juli. Während am Volkstrauertag neben den gefallenen deutschen Soldaten der beiden Weltkriege auch allmählich der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden sowie der Opfer des DDRRegimes gedacht wurde, sollte am 20. Juli, dem Tag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler durch von Stauffenberg, offiziell der gesamte Widerstand gegen das nationalsozialistische System Erinnerung finden.848 Trauer um die eigenen gefallenen Angehörigen und das einseitige Festhalten am konservativ-militärischen Widerstand überlagerten und ersetzten ein differenzierteres Geschichtsbewusstsein. Die feststellbare mangelhafte gesellschaftliche Auseinan-
846 Noelle/Neumann (1967), S. 165f. Gleichzeitig war die Gruppe derer, welche die Deutschen für „tüchtiger und begabter“ hielten als „die anderen Völker“ weiterhin hoch. Obwohl die Zahl seit Anfang der fünfziger Jahre deutlich rückläufig war, stimmten im Februar 1965 noch 45 Prozent vollständig oder „im Großen und Ganzen“ dieser Einschätzung zu. Vgl. Ebenda, S. 154. 847 Ebenda, S. 204. Sieben Jahre später waren 35 Prozent der Befragten der Ansicht, ohne den Zweiten Weltkrieg wäre Adolf Hitler einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen. 1964 hatten nur 29 Prozent diese Einschätzung geäußert, seitdem stieg die prozentuale Zustimmung wieder an. Vgl. Noelle/Neumann (1974), S. 204. Vgl. hierzu und zum Umgang mit der NS-Vergangenheit Faulenbach (1987), S. 23-25; Kleßmann (1988), S. 179-185; Reichel (2001); Herzinger (2003). 848 Vgl. Schiller (1993), S. 36f. Dabei war auch die Erinnerung an den 20. Juli 1944 nicht unbedingt positiv konnotiert, galt doch der militärische Widerstand nicht selten als Sabotage. Zur Geschichte des Gedenkens vgl. auch die Quellen unter http://www.20-juli-44.de/ veranstaltungen.php? von=0&bis=1959&sortneu=
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dersetzung mit der NS-Zeit849 stieß im Folgenden zusammen mit einer zunehmend als restaurativ interpretierten Entwicklung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft in Publizistik und intellektuellen Debatten auf vermehrte Kritik. Diese stand dabei im Zusammenhang mit einer seit Ende der fünfziger Jahre intensivierten Diskussion um die (gesellschaftliche) Demokratisierung in der Bundesrepublik.850 Die Intellektuellen waren „auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft“ (Moritz Scheibe).851 Der in den sechziger Jahren weit gefächerte und offene Demokratisierungsdiskurs, der mit den gesellschaftlichen Reformtendenzen und Ungleichzeitigkeiten in Wechselwirkung stand, befasste sich mit den Möglichkeiten und Grenzen einer der ökonomischen und technischen Entwicklung entsprechenden, modernen gesellschaftlichen Organisationsform, in der Individualität, Partizipation und Selbstbestimmung verwirklicht werden konnten. Die diversen in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen „neuen sozialen Bewegungen“ waren Ausdruck der beginnenden gesellschaftlichen Liberalisierungen und ihrer Defizite, zugleich aber auch Katalysator weiterer Veränderungen.852 Nicht zuletzt durch ihr Engagement fand die Bundesrepublik in den 1980er Jahren zu einer Beachtung der „vergessenen“, respektive ausgegrenzten Opfer des Nationalsozialismus sowie einer zunehmenden öffentlichen, gleichwohl kontroversen Diskussion um „Vergangenheitsaufarbeitung“. Zur Erklärung des veränderten Verhältnisses der Deutschen zur Demokratie weisen Kendall L. Baker et al. dem Wirtschaftswunder, dem Generationenwechsel und der Politik der bundesrepublikanischen Eliten hohe Bedeutung
849 Von konservativer Seite ist demgegenüber der Vorwurf einer mangelnden gesellschaftlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zum Teil bestritten worden. So bezeichnet Kurt Sontheimer die gesellschaftliche Verdrängung als „Legende“ und betont vielmehr den „antitotalitaristischen“ Grundkonsens, der für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft kennzeichnend gewesen sei. Obwohl eine detailliertere Auseinandersetzung nur auf einen geringen Teil der Gesellschaft beschränkt blieb und es auch „Rückfälle“ in rechtsextremistische Bereiche gegeben habe, sei dennoch ein deutlicher „Trennungsstrich“ zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik gezogen worden: „Dies ist das Entscheidende.“ Vgl. Sontheimer (1999), S. 44-53, Zitat S. 50. 850 Vgl. in diesem Kontext auch den Zusammenhang zwischen der Übernahme einer kollektiven Verantwortung für den Nationalsozialismus und der Entwicklung „demokratischer Tugenden“, Dubiel (1999), v. a. S. 288. 851 Scheibe (2002). 852 Für einen Überblick über die 1970er und 1980er Jahre vgl. z. B. Winkler (2004); zu den 1970er Jahren vgl. auch Jarausch (2008).
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zu.853 Während das Wirtschaftswunder die Basis eines grundlegenden Vertrauens in das politische System der Bundesrepublik geschaffen hatte,854 führte der Wandel in Erziehungsnormen und Sozialisationshintergründen zu einem neuen Demokratieverständnis zumindest in der jungen Generation. Die politischen Eliten schließlich stützten diesen Wandel durch einen jenseits der unterschiedlichen politischen Positionen bestehenden, demokratischen und verfassungsmäßigen Grundkonsens ab.855 Allerdings bleibt hierbei im Bereich der Eliten auf die zahlreichen Kontinuitäten hinzuweisen, die es zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik gab. Eine konsequente „Entnazifizierung“ unterblieb im Führungsbereich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zumeist ebenso wie eine Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit.856 Als wesentlich für den normativen Wandel der Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik erwiesen sich die breiten Individualisierungstendenzen einerseits und die Demokratisierungsdebatten andererseits. Sie führten in nahezu allen Bereichen von Gesellschaft und Staat zu einem veränderten Verhältnis zum Individuum und dessen Rechten – so auch in der Justiz: „Je demokratischer die Gesellschaft wurde, desto stärker legten die Richter ihrer Rechtsprechung die Grundrechte im Sinne der Freiheitsrechte zugrunde.“857 So nachvollziehbar diese Entwicklungslinien und ihre Bedingtheiten auch sein mögen, für die Zwangssterilisierten selbst bedeuteten sie eine oftmals lebenslange gesellschaftliche Ausgrenzung. Bevor dieser Aspekt vertieft wird, sollen an skizzierten Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen aus den 1950er und aus den 1980er Jahren die veränderten Argumentationsund Beurteilungsstrukturen exemplarisch aufgezeigt werden.
853
Vgl. Baker/Dalton/Hildebrandt (1981), S.10-14. Oscar Gabriel führt als vierten Bedingungsfaktor des Wandels der Politischen Kultur die Modernisierung der deutschen Gesellschaft an. Wichtige Elemente seien die Verstädterung, eine veränderte Beschäftigungsstruktur sowie Reformen im Bildungssektor. Gabriel (1987), S. 44f. Zum Generationenwechsel vgl. auch Herbert (2002), S. 43f. 854 Richard Löwenthal hebt in diesem Zusammenhang die in den fünfziger Jahren anlaufende Sozialgesetzgebung hervor, die ein Vertrauensverhältnis zum westdeutschen Staat schufen. Vgl. Löwenthal (1974), S. 12f. 855 Vgl. Gabriel (1987), S. 43f. 856 Für einen Überblick vgl. z. B. Frei (2002). Für den Bereich Justiz differenziert hierzu z. B. Frenzel (2003). 857 Ebenda, S. 236.
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„Der Antragsteller machte […] einen ungewöhnlich stumpfen Eindruck“ – die 1950er Jahre Als der 1943 wegen „angeborenen Schwachsinns“ sterilisierte Arbeiter H. S. Ende der 1950er Jahre einen Wiederaufnahmeverfahrensantrag vor dem Hamburger Amtsgericht stellte, urteilte die ärztliche Anamnese, welche ihm das Intelligenzniveau eines Elfjährigen attestierte: „Trotz der sozial guten Bewährung können wir uns im Hinblick auf den niedrigen Intelligenzstatus nicht entschließen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu befürworten.“858 Das Gericht konnte sich in seiner Beurteilung ebenfalls nicht dazu entschließen: „Der Antragsteller machte im Termin vom 1.2.1960 einen ungewöhnlich stumpfen Eindruck. Klare Antworten waren von ihm kaum zu erhalten. Trotzdem der Antragsteller beim Strom- und Hafenbau beschäftigt ist, war ihm nicht bewusst, dass das Gewässer, an und auf welchem sich seine Beschäftigung befindet, die Elbe ist, wobei das hier erkennende Gericht nicht beabsichtigt negativ zu bewerten, dass der Antragsteller Hamburg noch nicht ein einziges Mal verlassen hat. Irgendwelche Interessen geringster geistiger Art hat der Antragsteller offensichtlich nicht.“859
Hier trafen Lebenswelten aufeinander, wobei sich Herr S. nicht gewillt zeigte, das Urteil und die ihm zugrunde liegenden Bewertungsmaßstäbe zu akzeptieren. Er legte Beschwerde ein, in der er ebenso die „genetische Logik“ zu durchkreuzen versuchte wie er sich gegen die Verfahrensbedingungen verwahrte: „Wenn ich aber in der Schule nicht besonders war, so war meine Frau eine der besten in der Klasse. Sie ist auch nicht sitzen geblieben. Und es handelt sich doch um beide. Denn meine Frau soll das Kind doch austragen. Denn wenn man ein Kind hat braucht es, es ja nicht alles vom Vater erben sondern auch von der Mutter. [...] Das ich im Termin am 1. Februar 1960 einen ungewöhnlichen Eindruck machte ist ja schließlich kein Verbrechen, denn wer macht schon einen schönen Eindruck, wenn er zu Behörde vorgeladen wird. Das klare Antworten kaum zu erwarten waren liegt nur an die Angestellten denn wenn die Angestellten die Fragen so schnell runterrasseln das ich kaum mitkommen kann. Ich hatte noch nicht einmal eine Frage bis zum Schluss beantwortet, da bekam ich schon die nächste. [...] Hoffentlich wird es bei mir gemacht, denn meine
858 859
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 7/59. Ebenda.
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Frau ist sehr kinderlieb. Es wäre das schönste Geburtstagsgeschenk
meiner Frau, wenn es bei mir gemacht werden würde.“ Das hanseatische Oberlandesgericht wies seine Beschwerde im November 1960 letztinstanzlich zurück; er sollte die Verfahrenskosten von 500 DM tragen. Kurz darauf erreichte die Justiz ein weiterer Brief von H. S., in dem er nochmals gegen seine Beurteilung protestierte und die medizinische Deutungshoheit in Frage stellte. Erneut führte er aus: „Wieso liegen meine Leistungen erheblich unter dem Durchschnitt im Gegenteil ich mache vieles, was andere nicht machen können. [...] Der Schwachsinn ist nicht etwa erblich oder erworben, sondern ich bin überhaupt nicht schwachsinnig. Ich möchte also bitten, die Sache noch einmal in die Hand zu nehmen, und zu überprüfen andernfalls bitte ich Sie mir mitzuteilen wo ich mich weiter beschweren kann. Ich meine beim nächsten Gericht. Dass lasse ich mir nicht gefallen, dass ich schwachsinnig sein soll...“860
Die Akte endet mit dem Brief seiner Ehefrau, die ähnliche Argumente ins Feld führte und schließlich auf die Parallelen zur gewaltsamen Sterilisation im Nationalsozialismus hinwies: „Mein Mann lässt sich das nicht so einfach gefallen. Denn im März 1943 wurde er auch nicht danach gefragt.“861 „Das Amtsgericht hätte im Jahr 1957 erkennen müssen, dass die Anordnung der Unfruchtbarmachung […] dem Grundgesetz widersprach“ – die 1980er Jahre Über ein Vierteljahrhundert später wehrte sich Frau P., die im Februar 1987 beim Hamburger Amtsgericht einen Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses gestellt hatte, mit Unterstützung ihrer Anwältin gegen die angeordnete fachmedizinische Begutachtung als Voraussetzung einer Urteilsfindung. Dabei äußerte sie sich zum einen erstaunt darüber, dass das GzVeN offensichtlich noch Anwendung fand, zum anderen zeigte sie sich empört, „weil man keinerlei Rücksicht auf die durchgemachten Jahre während der Nazizeit nimmt. […] Sicherlich werden Sie verstehen, dass mich diese Aufforderung einem Nervenarzt vorgeführt zu werden empört. Ich habe die ganzen Jahre als vollkommen normaler Mensch gelebt und habe mir nie etwas zu schulden kommen lassen. In meiner Familie gibt es keine 860 861
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 7/59. Ebenda.
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Erbkrankheiten, meine Geschwister haben gesunde Kinder. Mein Leben wurde zerstört durch die Zwangssterilisation.“862
Ihre Anwältin stellte ferner explizit die juristischen Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens in Frage, da das GzVeN und damit auch die Regelung über die Wiederaufnahme von Erbgesundheitsgerichtsprozessen außer Kraft getreten seien: „Der Antragstellerin ist lediglich zu bescheiden, dass der Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes gegen Frau […] P[] zu Unrecht ergangen ist.“863 Weiter argumentierte sie, dass die Tatsache, dass Frau P. sich einem Verfahren auf der Grundlage eines nationalsozialistischen Gesetzes zu unterziehen habe, es rechtfertige, dass ihr zur Unterstützung auf Staatskosten ein Rechtsbeistand gewährt wird.864 Im Gutachten, das sich insbesondere auf ein Gespräch während einer Anhörung der Antragstellerin im Amtsgericht Hamburg bezog, wurde unter anderem festgehalten, wie sehr Frau P. körperlich unter den Operationsfolgen, vor allem den Verwachsungen nach einer eitrigen Bauchfellentzündung, gelitten habe. Zudem wurde „während des Gespräches mit Frau P[] sehr deutlich, wie schmerzhaft und verletzend die Erinnerungen für sie sind, und sie machte sehr deutlich, wie sehr sie an dem Unrecht, das die Nationalsozialisten ihr antaten, litt und noch heute leidet.“865 In der Beurteilung wurde der „faschistische[] Charakter“ des GzVeN betont und darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Begriff der „Erbkrankheit“ nach nationalsozialistischer Auffassung „lebensunwertes Leben“ eliminiert werden sollte: „Somit sind die Zwangssterilisationsbeschlüsse nationalsozialistisches Unrecht und es gilt heute sicherlich nicht ärztlich oder psychiatrisch zu prüfen und zu beurteilen, ob eine Erbkrankheit oder erblicher Schwachsinn vorlag oder vorliegt.“866 862
Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/87. Das Gericht stellte hierzu später fest: „Diese Verordnung ist verfassungsgemäß jedenfalls insoweit, als sie zu Gunsten der Antragstellerin überhaupt eine Entscheidung individuell darüber ermöglicht, dass der Betroffenen Unrecht durch die seinerzeitige justizförmige Entscheidung geschehen ist. Nur insoweit und zu diesem Zweck, d.h. zu Gunsten der Antragstellerin, ist auch das vorgesehene Verfahren als verfassungsgemäß anzusehen und vom Gericht durchgeführt worden.“ Ebenda. 864 „Nach meiner Auffassung würde es nicht der Billigkeit entsprechen, die Antragstellerin mit den außergerichtlichen Kosten zu belasten, da die Anordnung und die Durchführung der Zwangssterilisation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen sind.“ Ebenda. 865 Ebenda. 866 Die beisitzenden Mediziner befürworteten in ihren schriftlichen Stellungnahmen die Aufhebung des Beschlusses, gingen aber in ihrer Begründung nicht auf die mögliche Unrechtmäßigkeit der Zwangssterilisation, sondern stärker darauf ein, dass sich keine „Anhaltspunkte für mangelnde Intelligenz oder psychische Morbidität“ ergeben hätten. Die als freie Ärztin Beisitzende führt hierbei noch aus, dass die Antragstellerin somit „ein Opfer politischen nationalsozialistischen Unrechts“ wurde. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/87. 863
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Das Gericht gab dem Antrag auf Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses am 11. April 1989 statt und übertrug auch die Anwaltskosten der Staatskasse.867 Einer eindeutigen Kennzeichnung der Zwangssterilisationen als Unrecht an sich wurde aber dennoch aus dem Weg gegangen: „Der seinerzeitige Verordnungsgeber, die britische Besatzungsmacht, hat sich ersichtlich bei Erlass der Verordnung über die Wiederaufnahme davon leiten lassen, es könne auch im nationalsozialistischen Unrechtsstaat Entscheidungen geben, die nach dem seinerzeitigen Gesetz in sogenannten Erbgesundheitssachen rechtmäßig unter dem Gesichtspunkt eines Rechtsstaats seien. Für das, was Frau P[] erlitten hat, gilt allerdings […]: Die Zwangssterilisation von Frau P[] ist nationalsozialistisches Unrecht.“868 Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt zeigt demgegenüber das letzte in Kiel geführte Wiederaufnahmeverfahren eines Erbgesundheitsgerichtsprozesses, welches nach eigenem Verständnis kein eigentliches Wiederaufnahmeverfahren mehr war. Im November 1984 wandte sich Herr N. an das Kieler Amtsgericht und beantragte die Aufhebung seines Sterilisationsbeschlusses: „Das ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ ist ein nazistisches Unrechtsgesetz. Die dort aufgeführten ‚Erbkrankheiten’ sind nicht als solche erwiesen. Es wurde nach nazistischer Willkür unter scheinbar legaler Mitwirkung des Erbgesundheitsgerichtes angewandt. So ist auch bei mir keine ‚Erbkrankheit’ festzustellen und die Sterilisation eine nazistische Zwangsmaßnahme gewesen.“869
Mit dieser politischen Beurteilung der nationalsozialistischen negativen Eugenik beginnt eine nahezu 150 Seiten umfassende Akte, welche neben dem Schriftverkehr, Ausführungen des Rechtsbeistandes von Herrn N. und der schriftlichen Urteilsbegründung auch weitere Zeugnisse der Diskussion über das GzVeN enthält. Herr N. hatte bereits 1957 die Wiederaufnahme des Verfahrens angestrengt, sein Antrag wurde zu dem Zeitpunkt vom Kieler Amtsgericht mit der Begründung abgelehnt: „Im Termin am 4.7.1957 hat der Antragsteller Gelegenheit gehabt, sich ausführlich zu äußern. Bei dieser Gelegenheit ist das Gericht allein schon aufgrund des persönlichen Eindrucks ebenso wie derzeit das Erbgesund867
Ähnlich wurde auch im Fall von Frau T. verfahren, vgl. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/89. 868 Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 1/87. 869 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2417.
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heitsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Antragsteller eine Krankheit im Sinne des § 1 Abs. 2 Ziff. 2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses […] vorliegt. Dieser Eindruck war so klar und eindeutig, dass das Gericht geglaubt hat, von weiteren Beweiserhebungen Abstand nehmen zu können, zumal nach den eigenen Angaben des Antragstellers nach der beanstandeten Maßnahme noch mehrfach ein Aufenthalt in Nervenheilanstalten notwendig war.“870
Das Amtsgericht beschloss im Dezember 1985 zum einen, und auch das war neu, das Sozialministerium als Rechtsnachfolger des Trägers des Landeskrankenhauses Schleswig-Stadtfeld, dessen Leiter den Sterilisationsantrag gestellt hatte, an dem Verfahren zu beteiligen, zum anderen wies es unter anderem daraufhin: „Nach dem das Erbgesundheitsgesetz durch das 5. StRRG vom 18.06.1974 – BGBl I 1297 – aufgehoben wurde, sind seine Verfahrensvorschriften unanwendbar. Es ist beabsichtigt, ohne die in § 6 Abs. 1 GzVeN vorgesehenen ärztlichen Beisitzer zu entscheiden.“871 Zunächst bestritt das Sozialministerium sowohl, Verfahrensbeteiligter zu sein, als auch die Rechtmäßigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens nach der genannten Aufhebung des GzVeN.872 Diese Position wurde vom Rechtsanwalt des Antragstellers unter anderem mit dem Hinweis kritisiert, dass das Verfahren kein Wiederaufnahmeverfahren, sondern ein Abänderungsverfahren sei, und weiter wurde angemerkt: „Es hätte dem Sozialminister gut zu Gesicht gestanden, wenn es sich in diesem Verfahren inhaltlich mit der zugrundeliegenden Rechtsfrage auseinandergesetzt hätte und dem rechtlichen Anliegen des Antragstellers klar und eindeutig beigetreten wäre, nämlich dem Anliegen festzustellen, dass er aufgrund nichtiger, weil typisch nationalsozialistischer Gesetze zwangssterilisiert wurde und dass ihm 1957 von einem bundesdeutschen Gericht erneut Recht unter Verletzung seiner Grundrechte und des Art. 123 GG verweigert wurde. […] Das nunmehr bundesdeutsche Erbgesundheitsgericht lehnte 1957 eine positive Entscheidung ab, weil es den Beschluss von 1936 für richtig hielt. […] Es hat eine zwangsweise Sterilisierung wegen angeblicher Schizophrenie – noch dazu ohne deren Vorliegen durch Sachverständigengutachten zu überprüfen – für rechtmäßig erklärt! […] Auf dem Antragsteller lastet nach wie vor der Makel, es sei rechtmäßigerweise bei ihm eine Erbkrankheit festgestellt worden, mit der 870
Ebenda. Ebenda. 872 Letztendlich wurden der Sozialminister sowie der ärztliche Direktor des Landeskrankenhauses vom Gericht in seiner Urteilsbegründung dennoch als solche geführt. 871
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Folge, dass für ihn auch div. Grundrechte nicht gelten, da er ein ‚minderwertiger Mensch’ sei. Der Antragsteller wurde in der Vergangenheit ständig mit diesem Makel, von der Justiz als ‚erbkrank’ beurteilt zu sein, konfrontiert. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Fülle der Gerichtsverfahren, die der Antragsteller durchgeführt hat, um zu seinem Recht zu gelangen, als auch im Hinblick auf sein soziales Umfeld.“873
Im Februar 1985 verhandelte das Gericht auf Wunsch des Antragstellers in öffentlicher Sitzung und erklärte bezugnehmend auf die Amtsgerichtsentscheidung von 1957 den Beschluss des Erbgesundheitsgerichts von 1936 für rechtswidrig und aufgehoben. In der 13-seitigen Urteilsbegründung wurde ausgeführt, soweit der Antrag als ein Wiederaufnahmeverfahrensantrag zu werten sei, sei er abzulehnen, da solche Verfahren seit dem Außerkrafttreten des GzVeN keine Rechtsgrundlage mehr hätten. Vielmehr erfolge eine Abänderung des Beschlusses des Kieler Amtsgerichts von 1957: „Das Amtsgericht hatte im Jahre 1957 den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aus dem Jahre 1936 zu prüfen. Seine Prüfung hatte sich dabei nicht in erster Linie auf die Frage zu erstrecken, ob die Voraussetzungen des Erbgesundheitsgesetzes für eine Unfruchtbarmachung des Antragstellers vorlagen bzw. vorgelegen hatten. Es musste sein Augenmerk vielmehr zu allererst auf die Frage richten, ob die maßgeblichen Vorschriften des ErbGesG überhaupt eine zulässige Entscheidungsgrundlage bildeten. Das Amtsgericht hätte im Jahre 1957 erkennen müssen, dass die Anordnung der Unfruchtbarmachung von Personen mit bestimmten Krankheiten gemäß § 1 ErbGesG in Verbindung mit der Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung dieser Anordnung nach § 12 Abs. 1 S. 1 ErbGesG dem Grundgesetz widersprach und folglich gemäß Art. 123 Abs. 1 GG nicht weitergalt, mithin überhaupt nicht angewendet werden durfte. Es hätte darüberhinaus erkennen müssen, dass § 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 1 S. 1 ErbGesG gegen positives Menschenrecht verstieß, das unabhängig von seiner Kodifizierung im Grundgesetz Geltung beanspruchen konnte, und zwar auch gegenüber der rassenhygienischen Anmaßung der nationalsozialistischen Machthaber. Dieses überpositive Menschenrecht ist als Recht jedes Menschen auf körperliche Unversehrtheit in Art.2 Abs. 2 S. 1 GG kodifiziert.“874
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Brief des Rechtsanwaltes vom 6.2.1986, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2417. 874 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2417.
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Zwar könne, beispielsweise im Seuchenrecht, der Staat in einer Güterabwägung zwischen Individualrecht und Allgemeininteresse zum Schutz der Gesundheit der Allgemeinheit durch Impfanordnungen auch gegen den Willen des Betroffenen in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingreifen: „Der Wesenskern des Grundrechts kann aber niemals rechtmäßig in einer solchen Güterabwägung zur Disposition gestellt werden […]. Zum Wesenskern des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit, der durch staatlichen Zwang, auch in Form eines Richterspruches, nicht angetastet werden darf, gehört die Fähigkeit, Leben durch Zeugung und Empfängnis weiterzugeben […]. Daher darf keine Staatsmacht aus welchen Gründen auch immer durch irgendeinen Eingriff diese Fähigkeit des Menschen zwangsweise beeinträchtigen.“875
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Ebenda. Auch die Anwaltskosten wurden vom Amtsgericht übernommen.
„[…] und habe mein ganzes Leben sehr darunter gelitten u. doch […] aus Scham nicht darüber gesprochen.“876
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Brief von H. B. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ, Detmold.
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III Perspektiven der Betroffenen Im folgenden Kapitel wird versucht, die Betroffenenperspektive auf der Grundlage einer Analyse „authentischer Quellen“ sichtbar zu machen. Konkret handelt es sich um die Auswertung von Briefen an einen als vertrauensvoll eingestuften Adressaten. Dies gilt im Fall der folgenden Quellen zweifach, zum einen bezüglich des Kontaktes mit einer Selbsthilfeorganisation, dem BEZ, zum anderen durch den persönlichen Briefwechsel mit einer ebenfalls Betroffenen, der Vorsitzenden Klara Nowak. Hierbei fallen zahlreiche Elemente auf, die bereits im Kontext der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen angesprochen wurden und die durch ihr erneutes Auftreten nicht zuletzt als ein Beleg für die hohe individuelle Bedeutung der Folgen der Zwangssterilisation interpretiert werden können.877 Dass dabei nur ein kleiner Teil der Betroffenen „erfasst“ werden konnte, dass selbst von diesen oftmals nur wenige Zeilen erhalten sind und somit einer Generalisierung Grenzen gesetzt sind, wurde bereits in der Einleitung dargelegt. Gleichwohl zeigt die Beschäftigung mit den vorhandenen Selbstzeugnissen wiederkehrende Themen: „Die Voraussetzungen zu meiner damaligen St. waren zwar etwas anders als bei Ihnen, die Leiden, Sorgen u. Nöte wohl ziemlich die Gleichen. So – ich denke wir können diesbezüglich offen miteinander reden!“878 Der Aufbau der meisten Briefe entspricht dem üblichen Aufbau privater Schreiben; nach Absender, Adressat und Datum folgt die Anrede, oftmals wird das Schreiben direkt an die Vorsitzende gerichtet. Die Mehrheit der Briefe wurde handschriftlich verfasst, nicht wenige enthalten orthografische oder grammatikalische Fehler.879 Nahezu jedes erste Schreiben wird eingeleitet durch Verweise auf Berichte über mögliche finanzielle „Entschädigungen“ und die Existenz des BEZ. Dabei sind Fernsehsendungen, insbesondere ein Beitrag in dem ARD-Magazin „Report“ vom März 1987, sowie Artikel in regionalen beziehungsweise lokalen Tageszeitungen offensichtlich die wichtigsten Informationsquellen.880
877 Die Mentalitätsgeschichte geht unter anderem von diesem Prinzip des Auftretens eines Phänomens in unterschiedlichen Quellen aus; zu diesem Ansatz vgl. zum Beispiel Dinzelbacher (1993). 878 Brief von B. H. an einen Herrn M. vom 3.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 879 Oftmals entschuldigen sich die Autoren für ihre Handschrift oder die Fehler, die sie gemacht haben. Vgl. zum Beispiel Brief von R. S. vom 20.4.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 880 Einige Betroffene beziehen sich zudem in ihren Briefen explizit auf die Aussagen von der FDP-Abgeordneten Hamm-Brücher, die sich, unter anderem in der genannten Fernsehsendung, für die Belange der Zwangssterilisierten einsetzte.
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III Perspektiven der Betroffenen
Zentrale Elemente der Briefe sind die Frage nach konkreten Informationen bezüglich der Möglichkeiten, finanzielle „Wiedergutmachung“ zu bekommen, und die Bitte um Hilfe bei dem hierfür notwendigen Prozedere:881 „Bitte teilen Sie mir mit wie ich mich hier verhalten soll und welch Unterlagen ich wohin schicken soll um meinen berechtigten Anspruch geltend zu machen.“882 Manchmal taucht die Frage auch nur implizit oder am Ende eines Briefes auf. Frau K. hat bereits Grüße und ihre Adresse notiert, bevor sie ganz am Ende fragt: „Der Sinn meines schreibens, an wen wohin soll ich mich wenden. Ob man hoffen darf?“883 Auffallend ist, dass in einigen Fällen die Bezeichnung „Euthanasie“-Geschädigte anstelle der Zwangssterilisierten übernommen wurde, sei es, weil die Differenzierung zwischen „Euthanasie“ und Eugenik nicht bewusst war, oder weil die Bezeichnung als weniger stigmatisierend empfunden wurde.884 Frau H. äußert, dass die Verwendung des Begriffs „Euthanasie“, beispielsweise im Rahmen von finanziellen Transaktionen, ihr lieber wäre, denn: „Es wäre sehr wesentlich, dass die Bezeichnung ‚Sterilisierte’ nicht erwähnt wird. Es ist mir mein Leben lang eine peinliche Angelegenheit gewesen, und so ist es mir auch heute noch plamabel, wenn diese Tatsache in der Öffentlichkeit, so in ds. Falle den Bankangestellten hier, bekannt würde! Die Bezeichnung ‚Euthanasie’ müsste doch eigentlich eigentlich genügen, sie erscheint mir neutraler und wäre mir in ds. Falle wesentlich angenehmer.“885
Neben den von den Zwangssterilisierten selbst verfassten Briefen schrieben Angehörige oder, seltener, Menschen aus dem sozialen Umfeld an den BEZ. Hintergrund war oftmals, dass die Betroffenen selber nicht (mehr) in der Lage waren, den Kontakt herzustellen und eine „Entschädigung“ zu beantragen.
881
Exemplarisch zum Beispiel Brief von H. H. vom 28.8.1989, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 882 Brief von D. H. vom 16.6.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 883 Brief von C. K. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 884 So ist die Rede vom „Bund der Euthanasie-Geschädigten“, wobei der BEZ, der beide Opfergruppen vertrat, auf letztere reduziert wurde. Vgl. Brief von L. A. vom 4.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von H. T. (Ehefrau) vom 13.3.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Frau K. überschrieb ihren Bericht, in dem sie auf ihre Leiden und Forderungen als Zwangssterilisierte eingeht und den sie an den BEZ, aber auch an Frau Süßmuth und das ZDF sandte, mit „Bericht einer ‚Euthanasie’-Geschädigten“. Brief und Bericht von A. K. vom 1.2.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 885 Brief von I. H. vom 22.8.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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Einige Briefe wurden im Namen eines Ehepaares oder in Form eines Diktates von Familienangehörigen verfasst.886 Bisweilen begann die Kommunikation zwischen den Betroffenen und dem BEZ und wurde von einem Angehörigen beendet. Neben dem fortgeschrittenen Alter oder einem sich verschlechternden Gesundheitszustand ist ein Grund hierfür, dass der Betroffene nicht mehr an die Sterilisation erinnert werden mochte. Einige Zwangssterilisierte brachen aus diesem Grund auch selbst die Kommunikation mit dem BEZ ab: „Ich möchte Sie bitten mir nicht mehr zu schreiben, da ich es nicht mehr ertragen kann. Ich möchte nie mehr davon hören.“887 Auf der Grundlage einer ersten Durchsicht der Briefe hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ebene, also der Frage, was thematisiert wird, ließen sich fünf Kategorien bilden. Erstens: Hintergründe der Sterilisation im Nationalsozialismus. Zweitens: Folgen der Sterilisation. Drittens: Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Viertens: Bewertung des politischen Umgangs mit den Verbrechen und den Opfern. Fünftens: Darstellung der aktuellen Lebenssituation. Diese Kategorien wurden bis auf den letzten Punkt als Kapitelüberschriften übernommen und in einem zweiten Schritt ausdifferenziert. Neben der detaillierteren Darstellung der inhaltlichen Ebene ging es hierbei auch um die Frage, wie die jeweiligen Inhalte sprachlich ausgedrückt werden. Die „aktuelle Lebenssituation“ findet sich hingegen im Folgenden nicht als selbstständige Kategorie. Zum einen flossen diesbezügliche Mitteilungen zum Teil in andere Darstellungsbereiche mit ein und finden daher in dem jeweiligen Kontext Berücksichtigung, zum anderen geht es hierbei oftmals um Darstellungen altersbezogener Krankheiten, finanzieller und persönlicher Sorgen sowie des individuellen Tagesablaufs.888 Im Bereich der Beschreibung des Zwangseingriffs ließ sich eine FaktenEbene – wann, wo und aufgrund welcher Indikation sterilisiert –, eine Skizzierung der damaligen Lebensumstände – soziale und familiäre Verhältnisse –, Überlegungen zu den vermuteten Gründen für den Eingriff und in einigen Fällen eine Darstellung der eigenen Reaktion hierauf differenzieren. Hingegen wurden Einzelheiten des Verfahrens vor dem Erbgesundheitsgericht kaum thematisiert und einzelne Elemente der medizinischen Begutachtung und des Intelligenztests nur gelegentlich erwähnt. Als Folgen der Sterilisation wurden in 886 „Ich schreibe im Nammen meines Mannes weil er solche Angelegenheiten nicht mehr aleine machen kann. Da Er sehr krank ist.“ Brief von E. und H. G. vom 2.12.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. auch zum Beispiel Brief von „Herr u. Frau B[]“, S. B. undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 887 Brief von S. P. vom 20.6.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 888 Vgl. zum Beispiel Brief von K. H. vom 10.12.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
erster Linie die erzwungene Kinderlosigkeit und zerbrochene Partnerschaften, in einigen Fällen die fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie immer wieder – bisweilen abstrakt bleibend, in anderen Fällen hingegen konkretisiert – physisches und psychisches Leiden genannt. Die Kategorie „Selbstwahrnehmung“ befasst sich oftmals mit dem Gefühl, entwürdigt oder zu einem Menschen „zweiter Klasse“ degradiert worden zu sein, sowie der eigenen, fortdauernden Stigmatisierung. Letztere konnte dabei lebensbestimmende Dimensionen annehmen. In der Bewertung des politischen Umgangs mit den Sterilisationsverbrechen und den Opfern schließlich ging es vor allem um die Einschätzung der „Entschädigungsleistungen“ beziehungsweise diesbezügliche politische Forderungen. Werden in einigen Briefen nahezu alle genannten inhaltlichen Kategorien angesprochen, beschränken sich andere auf einzelne Elemente. Schreiben viele Betroffene nur einmal an den BEZ, sind von anderen mehrere Briefe, zum Teil über einen Zeitraum von mehreren Jahren erhalten. Geht ein Teil der Autoren detailliert auf Zusammenhänge und eigene Befindlichkeiten ein, so bleiben diese in anderen Fällen abstrakt, auf Andeutungen reduziert, denn: „Meinen ganzen Leidensweg zu schildern fällt mir heute noch sehr schwer.“889 Exemplarisch für viele der Briefe an den BEZ sei der Folgende wiedergegeben: „Jetzt im 66. Lebensjahr möchte ich reden zu lange habe ich mich geschämt u. geschwiegen. 1920 bin ich in Hildesheim unehelich geboren. [...] Ich bin in ein Heim gekommen und bin im Alter von 14 Jahre noch mit anderen Mädchen sterilisiert worden 1934 war das. Ich wusste garnicht, was ich für eine Krankheit hatte, als ich zum Krankenhaus gebracht wurde, bis ich es dann später begriff. [...] Später habe ich in Nürnberg gearbeitet u. auch geheiratet. Gern hätten wir jetzt Kinder gehabt und habe mein ganzen Leben sehr darunter gelitten u. doch nicht aus Scham nicht darüber gesprochen. [...]“890
889
Brief von M. H vom 6.11.1996, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief von H. B. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vg. z. B. auch Brief von K. R. vom 5.5.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 890
Leben mit der Zwangssterilisation
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1. Leben mit der Zwangssterilisation 1. 1 Hintergründe und Erlebnis der Zwangssterilisation „Bei mir wurde diese Operation vor meinem 21. Geburtstag 1935 gemacht, und dies war der traurigste Tag in meinem ganzen Leben.“ 891
In nahezu jedem Brief an den BEZ werden die „Fakten“ der Sterilisation wiedergegeben. Manche nennen dabei nur die Jahreszahl des Eingriffs – „Als 16jähriges Mädchen wurde ich im Jahr 1942 zwangssterilisiert. Mein Wohnort war damals Wismar.“892 [Herv. i. O.] –, andere gehen – zum Teil in einer betont nüchternen Sprache und an den reinen Formalia orientiert – auf die einzelnen Schritte im Prozess der Zwangssterilisation ein, von der Antragstellung über das Gerichtsverfahren bis zum Krankenhaus, in dem der Eingriff durchgeführt wurde. „Aufgrund meiner Schwerhoerigkeit, meines Sprachfehlers und der Nichtbeantwortung der Fragen wurde ich als schwachsinnig erklaert und erhielt gemaess Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung zur Ausfuehrung des Gesetzes zur Verhuetung erbkranken Nachwuchses vom 5.12.1933, Reichsgesetzblatt I S. 1021, die Aufforderung, mich unfruchtbar machen zu lassen.“893 „Auch ich wurde 1942 nach einer Augenoperation auf das Stendaler Gesundheitsamt bestellt, wo man mir eröffnete, dass es zur Reinhaltung des deutschen Volkes vor krankhaften Erscheinungen notwendig sei, dass man eine Sterilisation vorzunehmen. Trotz Weigerung durch meine Mutter wurde uns klargemacht, dass es durchgeführt wird. So geschah es dann in der Zeit vom 27.4.-9.5.42 in der Klinik des Dr. […] in […].“ 894
Dabei berichten Betroffene oftmals auch von ihren vergeblichen Versuchen oder denen ihrer Eltern, gegen den Beschluss zur Sterilisation vorzugehen: „Danach musste ich zum Test […]. Mein todkranker Vater war mit anwesend, er war in keiner Partei u. konnte seine Tochter nicht verteidigen.
891
Brief von E. P. vom 31.8.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Brief von L. A. vom 4.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 893 Brief von A. S. vom 21.2.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 894 Brief von H. B. vom 14.11.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 892
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III Perspektiven der Betroffenen
[…] Wir waren arm u. kinderreich. Ein Fressen für die, es war eine Leistung der damaligen NSDAP.“895
Oder wie demütigend sie es empfanden, mit Polizeigewalt abgeholt und ins Krankenhaus gebracht zu werden: „Nur mit Grauen erinnere ich mich noch, dass eines Morgens Früh 6.00 Uhr zwei Leute der Polizei vor mein Bett standen und ich musste mich fertig machen, denn sie nahmen mich mit ins Krankenhaus und ich sollte Sterilisiert werden wie sie mir dann sagten. Vor lauter Scham, mich, wie ein Mörder, mich abzuführen, in all den Jahren hat es mich belastet.“896
Andere lebten jahrelang mit der Angst, sterilisiert zu werden. Frau H., welche zu dem Zeitpunkt an einem Augenleiden litt, berichtet, sie habe 1931 ein Kind bekommen, welches ihre „Augen geerbt“ hätte. Nachdem ihr zweites Kind einen Tag nach der Geburt verstorben war, bekam sie eine Vorladung zum Erbgesundheitsgericht Saarbrücken, wo man ihr mitteilte, dass sie zwangssterilisiert werden sollte. Daraufhin habe sie eine „Notlüge“ erfunden und angegeben, sie sei erneut schwanger und lasse sich das Kind nicht wegnehmen. „Es war ein furchtbares Ereigniß. Nun begann meine Leidensgeschichte. Ich wurde bombadiert mit Drohbriefen. Sogar wurde mit der Poliezei gedroht. Sie können sich denken, was ich seelich gelitten habe.“897 Wenige Monate nach der Geburt ihres dritten Kindes – es hatte kein Augenleiden – wurde sie zwangssterilisiert. Zumindest in wenigen Worten und Andeutungen wird häufig auf die Lebensumstände im Vorfeld und zur Zeit der Zwangssterilisation eingegangen. Dies hat auch argumentative Funktion, dezidiert oder mittelbar geht es fast immer um eine „Erklärung“, wie es zu den von den verantwortlichen Instanzen vorgeworfenen körperlichen oder geistigen Mängeln kommen konnte. Dabei wird zu zeigen versucht, dass diese exogene Ursachen hatten.898 Die oftmals finanziell sehr belastete Lebenssituation, häusliche Gewalt und familiäre Konflikte, ein Unfall in der Kindheit, Krankheit oder Behinderung, die vom Schulbesuch abhielten, die Notwendigkeit, als Kind und Jugendliche aktiv in der Familie mitzuarbeiten oder bereits Geld hinzu verdienen zu müssen und sich daraus erge895
Brief von I. S. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. z. B. auch Brief von A. S. vom 21.2.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von M. H., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 896 Brief von H. V. vom 14.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 897 Brief von M. H. vom 17.2.1993, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 898 Vgl. hierzu auch die Beschwerdebriefe von zur Sterilisation Verurteilten. Braß (2004), S. 158.
Leben mit der Zwangssterilisation
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bender Zeitmangel für Schule und Hausaufgaben sind immer wieder auftauchende Lebensbeschreibungen.899 Auch die Unterbringung in einem Kinder- oder Fürsorgeheim oder der Besuch einer Hilfsschule finden sich in zahlreichen biografischen Beschreibungen. Nicht selten kam es zu einer Verquickung und gegenseitigen Bedingtheit verschiedener Ereignisse und einer Verstrickung in die Eigendynamik eines Sterilisationsverfahrens.900 „Durch eine Verbrühung mit heißem Wasser im Kindesalter habe ich Langzeitschäden davongetragen, die meine schulischen Leistungen stark beeinträchtigt haben und als Folge dessen ich mit Beginn des 5. Schuljahres ich in eine Hilfsschule eingewiesen wurden. Eine Berufsausbildung war mir infolgedessen verwehrt. Mit 18 Jahren musste ich mich aufgrund der damals geltenden Gesetze einer Zwangssterilisierung unterziehen, die als Folge meiner Hilfsschulausbildung begründet wurde.“901
Die skizzierte soziale Lage der Betroffenen und der Besuch bestimmter Institutionen wie Sonderschulen, welcher allein die Wahrscheinlichkeit, zwangssterilisiert zu werden, deutlich erhöht hatte, korrespondieren dabei mit Untersuchungen über die überproportionale Herkunft der Zwangssterilisierten aus unteren sozialen Schichten, den sozialdiagnostischen Maßstäben und dem schichtspezifischem Bias der Erbgesundheitsgerichtsverfahren.902 Ein weiteres Element ist der Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, der zumeist die Sterilisation als Voraussetzung für eine Entlassung vorgesehen hatte. Auch in diesem Fall versuchen die Betroffenen oftmals darzulegen, dass sie nicht an der diagnostizierten Erkrankung litten, oder gehen detailliert auf die biografisch begründeten Hintergründe eines „Nervenzusammenbruchs“ und der sich hieraus ergebenden Einweisung in eine psychiatrische Klinik ein.903 So berichtet Herr U., er wäre, da er christlich erzogen worden sei, mit dem „Heeresdienst“ nicht zurecht gekommen, habe nach einigen Tagen in der Wehrmachtsausbildung „Verwirrtheitszustände“ bekommen und sei in eine 899
„Ich wurde als uneheliches Kind […] geboren. […] Da früher ein lediges Kind eine große Schande war, musste ich sehr viel erdulden durch die schwere Misshandlungen.“ Brief von O. S. vom 17.11.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. z. B. auch Brief von H. S. vom 1.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 900 Vgl. z. B. Brief von I. S. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 901 Brief von W. H. vom 8.3.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 902 Vgl. hierzu Kap. I. 2. 1 dieser Arbeit. 903 Vgl. zum Beispiel Brief von J. H. vom 28.3.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Schreiben „Die 999ziger“ von S. K., undatiert Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Bericht von M. P., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
psychiatrische Klinik gekommen, wo er nach der Diagnose Schizophrenie, als Voraussetzung einer Entlassung, sterilisiert wurde.904 Dabei wurde die Zeit in der Psychiatrie von den Betroffenen zum Teil als extrem negativ und traumatisierend beschrieben.905 Weiter wird in einigen Fällen auf die Situation der Befragung oder des Intelligenztests im Gesundheitsamt, bei Medizinern oder vor Gericht eingegangen.906 Nicht zuletzt wird in der spezifischen Situation selbst ein Grund für das Scheitern hierbei gesehen. So legen die Betroffenen dar, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung in einem schlechten gesundheitlichen Zustand und „mit den Nerven herunter“907 gewesen seien, über die Hintergründe und Ziele des Tests nicht informiert worden seien oder sich in der oftmals als Prüfung erlebten Situation der Befragung überfordert gefühlt hätten: „Man stellte mir einige Fragen, die ich vor lauter Angst und Aufregung kaum richtig beantworten konnte.“908 Über solche, in unterschiedlicher Ausführlichkeit dargestellten Erklärungszusammenhänge hinaus betten manche Betroffene den Eingriff in die Biografie ihrer Familie ein. Frau B. spannt den Bogen von der Verwundung ihres Vaters im Ersten Weltkrieg und den daraus resultierenden Folgeerscheinungen bis ins „Dritte Reich“, als die Familie aufgrund des sich verschlechternden Zustandes des Vaters eine Kriegsrente beantragte. Das Gesuch wurde zunächst mit dem Hinweis, das Leiden sei nicht kriegsbedingt, sondern angeboren, abgewiesen. „Es war ja klar auf der Hand, sie wollten uns eine Erblichkeitsbelastung anhängen.“909 Erst nach einem weiteren Antrag und einschlägigen Untersuchungen wurde die Rente bewilligt. Dennoch geriet Frau B. in den Blick der „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ – „Wollten ihre Wut an mich auslassen und es ist ihnen auch gelungen“ – und wurde 1937 unter dem Einsatz von Polizeigewalt zur Sterilisation gebracht. „Der schlimmste Tag meines traurigen Lebens 1937! [...] Ich selbst hatte nur einen Gedanken, niemals wieder aufzuwachen. Ich war
904
Brief von H. U. vom 3.3.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. zum Beispiel Schriftstücke bei K. S., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Bericht: „Schizophrenie. Eine Diagnose und die Folgen im 3. Reich und danach“, bei M. W., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Zur Psychiatrie im Nationalsozialismus vgl. u. a. Blasius (1991b); Fangerau/Noack (2006); Sandner (2006); Fuchs et al. (2007). 906 Dabei spielt die Erinnerung an das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht gegenüber den Ereignissen der Begutachtung und des Eingriffs eine untergeordnete Rolle. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Tümmers (2008), S. 187f. 907 Schreiben „Vorgang der Sterilisation“ von W. S., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 908 Brief von K. F. vom 13.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 909 Brief von R. B. vom 10.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 905
Leben mit der Zwangssterilisation
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einfach lebensmüde, und hatte zum weiterleben keinen Mut mehr gehabt, war fix und fertig.“910 Auffallend hierbei ist die argumentative Struktur der diesbezüglichen Angaben der Betroffenen. Es wird oftmals nicht „erzählt“, sondern begründet. Dies verweist auf den bis in die Gegenwart der Briefe fortgesetzten Rechtfertigungsdruck gegenüber den Diagnosen und Urteilen, da eine Kennzeichnung des Unrechts als solches in der Zwischenzeit nicht erfolgt war. Insbesondere wenn die Sterilisation im jugendlichen Alter durchgeführt worden war, berichten die Betroffenen, dass sie sich von der Situation überrascht gefühlt und in einigen Fällen nicht einmal gewusst hätten, zu welchem Zweck Untersuchung und Operation durchgeführt wurden. Manche wurden in dem Glauben gelassen, es habe sich um eine Blinddarmoperation gehandelt,911 anderen bleiben bis ins hohe Alter die Urteile und vorgebrachten Indikationen des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichtes unklar.912 Neben den Lebensumständen geben die Betroffenen immer wieder vermutete politische Gründe als Motive der Zwangssterilisation an.913 Als solche werden unter anderem die verweigerte Mitgliedschaft in einer NS-Organisation,914 regimekritische Aussagen oder entsprechendes Verhalten von Familienangehörigen, beispielsweise die kommunistischen Tätigkeiten des Vaters,915 genannt: „Eine Erbkrankheit lag bei mir nicht vor., aber es fehlte das Parteiabzeichen und die Mitgliedschaft zu einer ihrer Nazigliederungen. Lediglich einen Nervenzusammenbruch hatte ich, durch die schlechten familiären Verhältnisse [...].“916 Herr N., der im „Dritten Reich“ in einer Leichtmetallgießerei dienstverpflichtet gewesen war, berichtet: „Unter anderem mussten dort zivilgefangene Russen arbeiten die ich heimlich mit Essensachen unterstütze, was aber leider nicht geheim blieb. 910
Ebenda. Vgl. z. B. Brief von K. F. vom 13.5.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von E. M. vom 5.5.19[87], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 912 Vgl. z. B. Brief von H. R. vom 7.5.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Frau R. vermutete, dass sie entweder aus politischen Gründen sterilisiert worden war, da ihr Vater ihre Mitgliedschaft in der Hitlerjugend verweigert hätte, oder aufgrund des Besuchs einer Sonderschule. Vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Sterilisationen von Hilfsschülern scheint die letztere Vermutung wahrscheinlich. 913 Vgl. zum Beispiel „Lebenslauf“ von H. H., undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Briefe von O. M. vom 23.10.1988 und 7.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 914 Vgl. zum Beispiel Brief von O. S. vom 17.11.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 915 Vgl. zum Beispiel Brief von K. B. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 916 Brief von E. P. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 911
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III Perspektiven der Betroffenen
Danach erhielt ich eine Ladung zum Arzt, der mir Fragen über Daten des N.S. Regimes stellte, die ich aber nicht beantworten konnte, da ich parteilos war. Anschließend erhielt ich den Befehl, mich dem Städt. Krankenhaus, W.-Barmen, zu stellen, wo man mir die unvergessene Schmach antat, die ich bis heute keinen kund tat, mir aber viel Tränen u. sorgenvolle Gedanke brachten […]“917
Unabhängig davon, ob im Einzelfall ein Grund für die Sterilisation in resistentem oder oppositionellem Verhalten zu suchen war, bot die Identifikation als politisches Opfer verschiedene „positive“ Interpretationsmöglichkeiten. Neben dem moralischen Urteil, der einem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime nach 1945 beigemessen wurde,918 bot das Selbstverständnis als politischer Gegner die Möglichkeit, der Verletzung des Selbstbildes durch die Zwangssterilisation zumindest teilweise zu entgehen. Als Akt politischer Verfolgung wird sie zu einer Unrechtsmaßnahme des Nationalsozialismus, die, ebenso wie andere Restriktionen, auf die Verfolgung bis hin zur Vernichtung eines „ebenbürtigen“ Gegners hin ausgerichtet war.919 So gedeutet, impliziert die Sterilisation keine „Minderwertigkeitserklärung“, bekommt die Frage nach dem „Warum“ eine nicht schambesetzte Antwort. Damit einhergehend verstehen sich viele der Betroffenen in ihren Äußerungen dezidiert als politisch Verfolgte. Andere Betroffene halten den Eingriff für ein Missverständnis, „[…] weil man mich für Schwachsinnig erklärte was doch nicht der Fall war sondern nur ein Vorwand. […] nahm bei mir die Zwangssterilisierung vor was ich heute noch für ein versehen halte, aber doch die geschädigte bin.“920 Indirekt werden hierbei die Maßnahmen der negativen Eugenik normativ anerkannt, findet sich doch nicht die Zwangssterilisation per se angeklagt, sondern das Fehlurteil im individuellen Fall: „Nach meiner Meinung wurde ich in meinem Fall Ungerechtfertigt dieser Zwangsstellirisierung unterzogen und somit schwer an
917
Brief von A. N. vom 21.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Wenngleich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die gesellschaftliche Akzeptanz des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nicht hoch war, so gab es doch in Form der „Entschädigungsregelungen“ eine – welchen Motiven auch immer folgende – Anerkennung politisch Verfolgter. In den 1980er/1990er Jahren, also der Gegenwart der Briefautoren, kam eine hohe soziale und moralische Wertschätzung hinzu. 919 Vgl. hierzu auch Delius (1993), S. 74 f. sowie die Angaben von Zwangssterilisierten in „Entschädigungs“-Anträgen bei Tümmers (2009), S. 515. 920 Brief von M. H., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Am Ende des Briefes findet sich der, offensichtlich später mit einem anderen Stift hinzugefügte, Hinweis: „Ich wiegerte mich auch damals ins BDM zu gehen.“ 918
Leben mit der Zwangssterilisation
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meiner Gesundheit geschädigt.“921 Auch der gleichsam wie ein Einschub in den Gesamttext eingelagerter Hinweis, man sei nicht „erbkrank“, taucht implizit oder explizit oftmals auf: „Erwähnen möchte ich diesbezüglich noch, dass bei mir keine Erbkrankheit vorlag, sondern nur der Umstand, dass eine Halbschwester von mir taubstumm ist (was aber nachweislich in der ganzen Familie noch nicht vorgekommen war.) ließ mich in die Mühlen der damaligen Justiz geraten.“922
Bei Formulierungen wie „Ich […] gehöre zu dem Kreis der zu Unrecht sterilisierten Personen.“923 bleibt ebenfalls offen, ob es sich nach Ansicht der Betroffenen hierbei um ein generelles oder ein individuelles Fehlurteil gehandelt hat.924 Im Zusammenhang mit solchen Deutungen werden zum Teil Leumundszeugen ins Feld geführt, die die Unrechtmäßigkeit des Eingriffs bestätigen sollen. So wird darauf verwiesen, dass an dem Prozess der Zwangssterilisation Beteiligte, insbesondere Ärzte, den Betroffenen zu verstehen gegeben hätten, welches – individuelle – Unrecht sich hier vollzöge: „Ich wurde 1930 in der Kölner Frauenklinik zwangssterilisiert. auf meinem 16 Geburtag hat meine Mutter mich dort hin gebrbracht, Der Artzt sagte zu mir es ist eine Schande das wir ihnen das machen müsen, aber wir tuhn ja nur unsere Pflischt. Weiter kann ich darzu nicht schreiben.“925 „Der Herr Profesor […] von der Uni Klinik in Gießen hat im Jahr 1936 über mich ein Gutachten erstellt wo es Wörtlich heist Er gehört nicht in den Kreis Derer die Unfruchtbar gemacht werden müssen!!“926 [Herv. i. O.]
921
Schreiben „Aus meinem Leben!“ von W. H., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 922 Brief von H. H. vom 11.3.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 923 Brief von M. H. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 924 Möglicherweise hat sich hierbei für manche auch ein gleichsam „doppeltes Unrecht“ vollzogen, ist die Sterilisation „Kranker“ abzulehnen, so stellt die Sterilisation „Gesunder“ ein Verbrechen dar. 925 Brief von S. P. vom 13.5.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch zum Beispiel Brief von G. W. vom 11.11.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 926 Brief von O. J. vom 28.6.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Der Mediziner hätte in einem zweiten Gutachten dann, ohne ihn untersucht zu haben, die Sterilisation befürwortet.
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III Perspektiven der Betroffenen
Männliche Betroffene schildern hierbei auch die zum Teil trotz der Sterilisation erfolgte Einberufung zur Wehrmacht: „Am 4. April 1941 wurde ich zum Wehrdienst einberufen. Bei der Musterung versuchte ich dann, aufgrund des ‚angeborenen Schwachsinns’ bei den untersuchenden Stabsärzten mich vor dem Wehrdienst zu drücken. Der Befund der Ärzte lautete jedoch, ich sei völlig normal und gesund. Ich wurde dann also Soldat wider Willen.“927
Die Kennzeichnung der Sterilisation als „Unrecht“ schließlich findet sich in vielfältigen Variationen in zahlreichen Berichten. „Das war damals eine ganz grosse Schweinerei in der Nazi-zeit, was die mit uns hilflosen Menschen gemacht haben.“928 Einigen Aussagen zeigen noch nach über fünfzig Jahren die ungebrochene Empörung über die Diagnose und den Zwangseingriff: „Die Diagnose des Arztes […] war falsch u. wurde wiederholt von mir u. meinen Angehörigen abgelehnt, trotzdem wurde ich Ende Dezember 1936 dieser Operation unterzogen! Gegen meinen Willen! In meiner Familie und Verwandschaft hat es nie Krankheiten dieser Art gegeben! […] 51 Jahre […] trage ich jetzt dieses seelische Leid über diese furchtbare Ungerechtigkeit in mir!“929
Während ein Teil der Betroffenen sich dabei mit möglichen Motiven und politischen Hintergründen auseinandersetzt, wird bei anderen das bis ins hohe Alter andauernde Unverständnis über dieses „Schicksal“ als Anklage genereller Art deutlich: „[…] waß haben wir eigentlich verbrochen wir waren ja noch Kinder.“930
927
Brief von K-H. M. vom 1.6.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; ähnlich auch „Lebenslauf“ von H. H., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von E. S. vom 29.7.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; vgl. auch die Aussagen von K. R. in seinem Wiederaufnahmeverfahrensantrag: „Auf eine an mich gestellte Anfrage, ob ich freiwillig bleiben wollte, habe ich dem Hauptmann erklärt, dass man als Soldat ja ein Mann sein müsse und die Mannesehre habe man mir genommen, daher lehne ich ab, freiwillig zu verbleiben.“ Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2053. Vgl. auch Landesarchiv SchleswigHolstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2356. 928 Brief von A. R. vom 25.8.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 929 Brief von R. R. vom 4.1.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 930 Brief von R. S. vom 20.4.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
Leben mit der Zwangssterilisation
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1. 2 Folgen der Zwangssterilisation Kinderlosigkeit und zerbrochene Partnerschaften So vielfältig und individuell die Folgen der Zwangssterilisation für die Betroffenen waren – die gewaltsam herbeigeführte Unfruchtbarkeit stellt eine der größten geschlechts- und altersübergreifenden Belastungen dar. „Schließlich war es ja auch mein Wunsch immer gewesen eine Familie mit nachwuchs zu gründen.“931 Traurigkeit und Verbitterung darüber, zwangsweise ohne eigene Familie gelebt zu haben und im Alter allein zu sein, taucht in unzähligen Briefen auf: „ich muss ihnen gans ehlich sagen ich bin 74 Jahre, aber ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, das ich kein eigenes Kind hab.“932 Insbesondere im Selbstverständnis von Frauen stellt die genommene Option einer Mutterschaft, für manche „das heiligste was eine Frau besitzt“933, die vorgesehene und anerzogene Rolle, die soziale Orientierung, die jeweilige Lebensplanung und bisweilen auch die eigene Identität in Frage: „Meine Jugenjahre und späteren Ehejahre haben unter eigene Kinderlosigkeit stark gelitten. Obwohl wir ein Kind adoptiert haben so war mir doch nie ein eigenes Mutterglück beschieden.“934 Wie sehr in der Perspektive zwangssterilisierter Frauen mit dem Wegbrechen einer potentiellen Familiengründung die Möglichkeit eines sinnerfüllten Lebens insgesamt nicht mehr vorhanden sein konnte, wird im Schreiben von Frau H. deutlich: „Es steht einwandfrei fest, dass man mir bewusst mein Leben zerstörte. Ich habe, um mein Leben überhaupt einen Inhalt zu geben, einen kranken Mann geheiratet. Einen nicht sterilisierten war nicht erlaubt.“935 Helmut Kretz, der sich Mitte der 1960er Jahre mit möglichen Folgen der Sterilisation insbesondere bei Sinti und Roma im Rahmen der Frage einer potentiellen „Entschädigung“ der Betroffenen befasste, betont dabei auch die zentrale Bedeutung der Familiengründung für die Identität der Betroffenen, nicht nur der Sinti und Roma: „Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass gerade bei Menschen aus einfachem sozialen Milieu, ganz besonders aber bei den familienorientierten und den Kinderreichtum erwartenden Zigeunern, die Fruchtbarkeit von derart grundlegender Bedeutung ist, dass in ihr die Wurzel jeglichen
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Brief von J. S. vom 10.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Brief von E. S. vom 4.6.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 933 Brief von C. K. vom 14.1.1995, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 934 Brief von I. R. vom 12.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 935 Brief von M. H. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 932
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III Perspektiven der Betroffenen
biologischen, persönlichen und sozialen Wertes des einzelnen gesehen wird.“936
Die erzwungene Kinderlosigkeit führte zudem zu einer weiteren Stigmatisierung in der Nachkriegsgesellschaft, in der es vor allem in den 1950er Jahren zu einer „Renaissance bürgerlicher Familienideale“ kam.937 In einer Gesellschaft, die nach wie vor klassische Rollenmuster und ein entsprechendes Familienmodell als Normalfall vorsah, unterlagen alternative Lebensformen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck. In diesem Kontext wirkten die Reaktionen der sozialen Umwelt für die Betroffenen zusätzlich belastend: „Hinzu kommt die immer wiederkehrende Frage: ‚warum habt ihr denn keine Kinder?’ Das schmerzt und reisst neue Wunden auf!“938 Kretz hielt in diesem Kontext 1967 fest: „Die unter Zwang erlittene Unfruchtbarkeit, die völlig sinnlos erscheinen muss, bleibt eine nie ganz vernarbende Wunde, die auch durch die in den Augen der Gesellschaft erlebte Werteinbuße immer wieder aufgerissen wird.“939 [Herv. i. O.] Auch die Nachkommen im familiären und sozialen Umfeld werden von den Betroffenen mit der eigenen Kinderlosigkeit kontrastiert: „Durch dieses Leid bin ich in Bad Godesberg meine anderen Geschwistern sind in Lippe verheiratet u. haben alle stolze, gute Kinder. Ich selber trage mein Leid mein ganzes Leben, und bin allein.“940 Wird die Kinderlosigkeit in den Briefen vor allem von Frauen oftmals sehr emotional thematisiert, so benennen auch männliche Betroffene zum Teil dezidiert das hierdurch verursachte Leiden: „[…] wenn ich Kinder sehe packt mich ein großer Schmerz.“941 Die Kinderlosigkeit prägte das ganze Leben der Betroffenen. Aber es wird immer wieder berichtet, dass vor allem im Alter der Verlust schmerzlich erfahren wird: „Meine Frau hat mein Schicksal mit mir gemeinsam getragen denn im Alter macht es sich sehr bemerkbar[] keine Kinder zu haben. Das Unrecht macht sich jetzt im Alter sehr bemerkbar […].“942 Neben einer sich in den Briefen widerspiegelnden, oftmals bilanzierenden Perspektive auf das eigene Leben, in der auch die enttäuschte Lebensplanungen und erzwungenen Verluste verstärkt in das Bewusstsein der Betroffenen drängen, wird im Alter die fehlende Unterstützung durch mögliche eigene Kinder ebenso wie die Einsamkeit aufgrund nicht vorhandener familiärer Bindungen als besonders belastend er936
Kretz (1967), S. 1301. Vgl. Rölli-Alkemper (2000), S. 612; vgl. auch S. 85. 938 Brief von B. H. vom 1.1.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 939 Kretz (1967), S. 1343. Auch hier erscheinen seine Aussagen zu zwangssterilisierten Sinti und Roma zumindest in Teilen verallgemeinerbar. 940 Brief von I. S. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 941 Brief von R. S. vom 18.9.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 942 Brief von E. K. vom 15.12. [1990/91], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 937
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lebt.943 Monika Bingen hält darüber hinaus fest, dass durch den Verlust von Bezugssystemen, durch Pensionierung oder den Tod des Partners häufig auch die individuellen Verdrängungsmechanismen gegenüber den Erinnerungen an das traumatische Geschehen in der Vergangenheit zusammenbrechen.944 Wird von betroffenen Frauen die genommene Muterrolle als zentraler Aspekt beschrieben, so weisen Aussagen von männlichen Zwangssterilisierten auf das Empfinden eines durch den Eingriff bedingten Verlustst der „Männlichkeit“ hin. Im Einzelfall muss hierbei interpretiert werden, ob eine tatsächliche Kastration, beispielsweise im Rahmen eines Gefängnisaufenthaltes, den Hintergrund hierfür bildete.945 Bei der Mehrzahl entsprechender Formulierungen scheint aber die Zwangssterilisation als „Entmannung“ empfunden worden zu sein.946 Eine weitere direkte Auswirkung der Zwangssterilisation, die das Leben der Betroffenen bestimmte, waren in einer Vielzahl von Fällen zerbrochene Partnerschaften.947 Wie dargestellt, war den Zwangssterilisierten im „Dritten Reich“ eine Eheschließung nur mit ebenfalls sterilisierten oder aus anderen Gründen nicht fertilen Partnern möglich. Lediglich in Ausnahmefällen gelang es Betroffenen, diese Anordnung zu umgehen. Da ein dauerhaftes Zusammenleben in einer Partnerschaft ohne Eheschließung angesichts der gesellschaftlichen Moralvorstellungen und weiterer Sanktionsmöglichkeiten seitens des nationalsozialistischen Regimes kaum möglich war, lag allein hierin ein wesentlicher Grund, bestehende Verbindungen zu lösen:948 943
Vgl. zum Beispiel Brief von G. U. vom 20.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. Bingen (1994), S. 263. 945 Vgl. z. B. Brief von W. B. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Herr B. schreibt, dass er im „Dritten Reich“ auch aufgrund politischer Gründe unter anderem in Berlin-Moabit inhaftiert und dort mit vielen anderen kastriert wurde. 946 So deuten die in den Briefen skizzierten Hintergründe eher auf eine Zwangssterilisation hin. Vgl. zum Beispiel Brief von W. S. vom 6.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Heiselbetz stellt in ihrer Untersuchung über zwangssterilisierte Patienten der Betheler-Anstalt die Frage, ob „der psychische Apparat des betroffenen Mannes, eine Unterscheidung zwischen Kastration und Sterilisation nicht vornimmt?“ Heiselbetz (1992), S. 116. 947 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der Untersuchung von Horban (1999), u. a. S. 74, 76, 88f., 97, 100, 102. 948 Vgl. hierzu auch Braß (2004), S. 167f. Einen außergewöhnlichen Fall schildert Herr K. Einige Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau, mit welcher er „46 Jahre gute Ehe“ verbrachte, habe er Verbindung zu einer Frau bekommen, von der man ihn vor 52 Jahren aufgrund der Sterilisation zwangsweise getrennt habe. „Es war 1991 und Sie gab mir zu verstehen Sie wollte ein Teil des Unrechtes von damals wieder gut machen.“ Sie hätten vier schöne Jahre miteinander verbracht, bis sie einen schweren Schlaganfall erlitt. In den folgenden Monaten habe er ihr bis zu ihrem Tod beigestanden. Vgl. Brief von W. K. vom 31.1.1996, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 944
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III Perspektiven der Betroffenen
„Später lernte ich meinen Verlobten kennen und wir wollten 1942 eine Ehe eingehen. Dies wurde uns verweigert, da mein Verlobter ja zeugungsfähig war. So musste diese Beziehung zu Ende gehen. Darunter habe ich noch zusätzlich sehr gelitten.“949
Auch durch das soziale Umfeld konnte entsprechender Druck ausgeübt werden, beispielsweise durch die Eltern des „erbgesunden“ Partners.950 Gelang es einigen Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben, einen neuen Partner zu finden, so galt für andere lebenslang die Aussage von Frau E.: „Voller Zuversicht auf ein Leben zu zweit, blieb ich allein.“951 Aber nicht nur im „Dritten Reich“ kam es für die Betroffenen zum Auseinanderbrechen von Beziehungen, auch in den folgenden Jahren scheiterten Bindungen und Ehen. Viele Betroffene geben hierbei die erzwungene Unfruchtbarkeit als wesentliches Motiv für die Trennung des Partners an: „Abschließend sei noch gesagt, dass meine erste Ehe trotz guten Willens von beiden Seiten durch die zwangsbedingte Kinderlosigkeit doch zum Scheitern verurteilt war und 1960 auch geschieden wurde.“952
Insbesondere Frauen äußern sich in ihren Briefen häufig über die durch die Sterilisation genommenen Heiratsmöglichkeiten. „Ich hatte damals einen Freund […], B[], jetzt wohnhaft in […], und hatten es vor, später zu heiraten, der aufgrund dieses Eingriffs unsere Verbindung löste, da er gern Kinder haben wollte. Dieser Eingriff hat mir seelisch viel zu schaffen gemacht in meinem ganzen Leben.“953 „Wie ich Ihnen schon sagte, leide ich durch meine Zwangssterilisation bis zum heutigen Tage, da ein normales Eheleben nicht mehr möglich war und somit meine Ehe zerbrach.“954
Der Hinweis auf ein „normales Eheleben“ könnte sich dabei auch auf Probleme im Bereich des Sexuallebens beziehen oder auf Persönlichkeitsveränderungen durch den Zwangseingriff und seine Begleitumstände. Andere 949
Brief von K. R. vom 11.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. zum Beispiel Brief von I. S. vom 10.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 951 Brief von A. E. vom 24.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 952 Brief von H. H. vom 11.3.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 953 Brief von H. K., undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Allein die Tatsache, dass Frau K. noch zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes weiß, wo ihr ehemaliger Partner wohnt, deutet auf die fortwirkende Relevanz der erzwungenen Trennung für sie hin. 954 Brief von J. C. vom 24.6.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 950
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verschwiegen den Eingriff gegenüber ihrem Partner jahre- oder jahrzehntelang, auch hier scheiterte die Beziehung oft, wenn eine Begründung für die anhaltende Unfruchtbarkeit unumgänglich erschien oder gar Außenstehende Informationen über die Sterilisation dem Partner mitteilten.955 Manchmal bleiben die genauen Gründe auch offen, die Betroffenen teilen lediglich mit: „Wurde wieder durch meine Sterilisation die Ehe geschieden.“956 Das Bundesfinanzministerium kam 1961 im Zusammenhang mit einer möglichen finanziellen „Wiedergutmachung“ für die Betroffenen zu dem Schluss: „Bei einer großen Gruppe der Sterilisierten […] handelt es sich im übrigen um Personen, die im Hinblick auf ihren schweren Krankheitszustand den Eingriff nicht mehr als seelischen Schmerz empfunden haben und auch die Folgen des Eingriffs nicht als solchen empfinden. Andererseits ist gewiss nicht zu verkennen, dass für viele Sterilisierte der Gedanke, dass sie keine eigenen Nachkommen haben können, eine schwere seelische Belastung bedeutet. Sehr fraglich erscheint aber, ob die Gesellschaft diese im Wege einer Entschädigungsleistung berücksichtigen soll und kann. Bei der hier gestellten Alternative, auf Nachkommen ganz zu verzichten oder einen erbkranken Nachwuchs hinzunehmen, wird sich der gewissenhafte und sittlich hochstehende Mensch – darüber besteht Einvernehmen in der juristischen und theologischen Literatur – für einen Verzicht auf Nachkommen entscheiden müssen.“957
Sind die beschriebene Kinderlosigkeit und die zerbrochenen Partnerschaften wesentliche und häufig thematisierte Leidensfaktoren, so wird demgegenüber eher selten auf Schulbesuche oder Ausbildungswege eingegangen, die den Betroffenen durch die rechtskräftige Verurteilung als „Erbkranker“ versperrt waren. Eine Ausnahme stellt Herr S. dar: „Durch die Antragstellung des Amtsarztes sind mir auch der Besuch einer Mittelschule, so wie es mein Vater wollte, immer wieder verwehrt worden. [...] Welcher berufliche Schaden mir dadurch entstanden ist, ist wohl zu ermessen.“958 Dass ein Gymnasium nicht mehr
955
Vgl. zum Beispiel Brief von I. S. vom 11.2.1988, in dem sie über die Annullierung ihrer Ehe berichtet, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 956 „Lebenslauf“ von H. H., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 957 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 68, abgedruckt bei Dörner (1986a). 958 Aus dem „Geschädigtenlebenslauf“ von H. S., undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
besucht,959 eine erhoffte Ausbildung nicht angetreten und der Familienbetrieb nicht weitergeführt werden konnte, kam vor, ging aber in der Regel an den Lebensrealitäten der Mehrheit der Betroffenen vorbei. Aus den Angaben in den Briefen oder aus den in einigen Fällen beigefügten Rentenbescheinigungen wird deutlich, dass viele in der Landwirtschaft, im Haushalt, in der Fabrik oder im Dienstleistungssektor in gering qualifizierten Bereichen beschäftigt waren. Hierfür dürften nicht zuletzt die sozialen Bedingungen ihrer Kindheit und Jugend von Bedeutung gewesen sein. Die finanzielle und soziale Situation der Familie, aber auch Faktoren wie der Aufenthalt in einem Heim schienen kaum mehr Alternativen zu bieten, als ungelernt eine Hilfstätigkeit in den genannten Bereichen aufzunehmen.960 Gleichwohl wird es keine geringe Rolle gespielt haben, dass die Betroffenen auch aufgrund ihrer Identifizierung als für die Volksgemeinschaft „minderwertige Erbkranke“ kaum Förderung erfuhren. „Auch mir blieb in der Zeit des 3. Reiches jeder Bildungsweg versperrt. Ich kann weder lesen noch schreiben. Bin immer auf Hilfe angewiesen. Habe auch keinen beruf erlernen können.“961 Nicht zuletzt durch die gering qualifizierten Tätigkeiten mit niedriger Entlohnung verfügt die Mehrzahl der Betroffenen im Alter über minimale Renten und finanziell stark eingeschränkte Spielräume, ein in den Schreiben häufig angeführter Grund zur Klage. Festzuhalten bleibt, dass für die allermeisten Betroffenen eine in den Briefen vollzogene Bewertung des eigenen Lebens entlang des Bezugsystems dauerhafte Partnerschaft/Ehe, Nachkommen und gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung stattfindet. Das Vorhandensein dieser drei Elemente bedeutet ein „glückliches Leben“, die Abwesenheit eines oder mehrerer Elemente ein „unglückliches“ – mit allen sich hieraus ergebenen psychischen und psychosomatischen Folgen.
959 Vgl. zum Beispiel R. T., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch den Bericht von Herrn T. in der Dokumentationsreihe „Ärzte unterm Hakenkreuz“ von Ulrich Knödler und Christian Feyerabend. 960 Vgl. zum Beispiel Brief von H. B. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von H. S. vom 1.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 961 Brief von L. A. vom 4.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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Physisches und psychisches Leiden Immer wieder berichten Betroffenen von physischen und psychischen Spätfolgen der Sterilisation.962 Als solche werden Depressionen beziehungsweise „seelische Schäden“ ebenso genannt wie verminderte körperliche Ausdauer, Schmerzen oder sexuelle Störungen.963 Man habe „seelisch sehr gelitten“, ein ganzes Leben lang, sei „krank an Leib und Seele“.964 Dies sind in vielen Variationen immer wieder auftretende Aussagen. Konkrete physische Symptome, die als Folgen der Sterilisation benannt werden, sind beispielsweise starke Unterleibsbeschwerden, Erbrechen und Durchfall bei der Menstruation, schmerzhafte Narben oder Verwachsungen.965 „Ich musste und muss laufend mich in Gynäkologische Behandlung begeben (Kurzwelle, Medikamente etc.). Auch langes Sitzen fiel und fällt mir heute noch schwer (Verwachsungen, Narbenbruch!).“966
In einigen Fällen waren bei weiblichen Betroffenen wiederholte Unterleibsoperationen infolge des Eingriffs notwendig.967 Frau H. berichtet, dass sie einen Vortrag über die nationalsozialistischen Zwangssterilisationen besucht habe und ihr erst dort der Zusammenhang mit ihren eigenen körperlichen Beschwerden bewusst geworden sei: „Ich erfuhr da so vieles, wo ich bis dahin noch nicht wusste. Unter anderem, dass viele Frauen nach dieser Operation immer Schmerzen im Unterleib hatten. Daselbe traf bei mir auch zu. Ich war bei vielen Ärzten. Keiner konnte mir sagen was es ist. Ich habe aber nicht mein Geheimnis verraten. Jetzt nach diesem Vortrag, weiß ich, wo sie her sind. Ich konnte
962
Dabei ist es durchaus möglich, dass im Einzelfall die beschriebenen gesundheitlichen Störungen auch auf andere Ursachen als die Sterilisation zurückzuführen sind. Aber selbst dann weist die Tatsache, dass subjektiv unterschiedliche Erkrankungen hiermit in Verbindung gebracht werden, auf die zentrale Bedeutung des Eingriffs und seiner Begleitumstände im Leben der Betroffenen hin. 963 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der Untersuchung von Horban (1999), u. a. S. 102f. sowie Bock (1986), S. 381f.; Biesold (1988), S. 155-160; 167f. Kramer (1999), S. 29. In den medizinischen Anamnesen im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen finden sich ebenfalls Aussagen der Betroffenen über körperliche und psychische Leiden. 964 Brief von K. F. vom 2.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 965 Vgl. z. B. Brief von C. K. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von L. N. an das städt. Wiedergutmachungsamt in Münster vom 24.5.1954, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 966 Bericht von A. K., u. a. an das ZDF gesandt, bei A. K., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 967 Vgl. zum Beispiel Brief von K. F. vom 2.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
viele Jahre nicht lange stehen u. nicht lange sitzen. […] So musste ich halt mit leben bis zum heutigen Tag.“968
Mangelhaft durchgeführte Operationen, Folgeerkrankungen, dauerhafte Einschränkungen und Schmerzen oder psychosomatische Leiden besaßen dabei für einige Betroffene auch erhebliche finanzielle Folgen. Zum einen reduzierte sich hierdurch ihre Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, zum anderern waren sie verstärkt auf externe Hilfe angewiesen. „Da ich nur ein halber Mensch war, war ich früher viel krank und fehlte auf der Arbeit dadurch ist meine Rente sehr klein geblieben 220,-“.969 Bisweilen wurden die Betroffenen durch die Sterilisation arbeitsunfähig und/oder zu einem Pflegefall.970 Während physische Folgen der Zwangssterilisation, vermutlich zum Teil auch psychosomatisch bedingt, in sehr unterschiedlicher Intensität beschrieben werden und in vielen Berichten auch lediglich eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen, wird auf psychische Leiden implizit oder explizit in nahezu jedem Brief verwiesen. Das Erbgesundheitsgerichtsverfahren, die Androhung oder Anwendung von polizeilicher Gewalt, der Eingriff im Krankenhaus und die nachfolgenden Restriktionen und (potentiellen) Stigmatisierungen, vor allem aber die genommenen Lebensperspektiven werden immer wieder als traumatisierend beschrieben: „Ich wollte damals aus dem Leben scheiden weil ich gesund war und die Nazis mir dieses angetan hatten.“971 Das „Leiden“ an der Sterilisation und ihren Implikationen bleibt zum Teil abstrakt – „Ich wurde gerade 15-jährig wegen angeblicher erblicher Schwerhörigkeit zwangssterilisiert. Diese Daten sprechen wohl von selbst über die daraus entstandenen seelischen Leiden.“972 – zum Teil wird es durch konkrete Beschreibungen, zumeist im Kontext des weiteren Lebensweges konkretisiert, in nahezu jedem Fall aber wird die Nachhaltigkeit des Leidens betont: „Wenn man darüber nach Denkt, was auch ich erlebt u. mitgemacht habe, kommen
968 Brief von J. H. vom 17.2.1993, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Hier fällt zudem auf, dass Frau H. offensichtlich den Ärzten gegenüber die Zwangssterilisation nicht erwähnt hat. 969 Brief von E. S. vom 26.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 970 Vgl. zum Beispiel Brief von R. R. (Schwester) bei E. S. vom 2.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 971 Brief von I. S. vom 11.2.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 972 Brief von E. W. vom 17.9.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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einen die bittere Tränen. Der Schmerz ist immer noch im Herzen. So etwas kann ein normaler Mensch nie im Leben vergessen.“973 In einigen Briefen werden die Zwangssterilisation und ihre Folgen dabei zum Bezugspunkt nahezu aller als negativ angesehener Entwicklungen im Leben: „Manchmal denke ich, es wäre alles anderst, wenn diese wahnsinnigen Verbrecher dieses Gesetz nicht gemacht hätten.“974 Herr N., der in zwei Ehen von seinen jeweiligen Ehefrauen verlassen wurde, resümiert: „Wäre ich nicht Steriliert worden sähe Heute mein Leben anders aus!“975 Deutlich wird dies beispielsweise auch im Fall von Frau S.: Wegen „erblicher Fallsucht“ zwangssterilisiert, wurde ihre erste Ehe aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit annulliert. Sie heiratete wieder, und obwohl ihr Mann anfangs keine Bedenken wegen der Kinderlosigkeit zu haben schien, sprach er dieses Thema mit zunehmendem Alter wiederholt an. Mit Mitte 50 nahm er sich nach zweimaligem Verlust des Arbeitsplatzes das Leben. Frau S. muss mit einer geringen Rente und Wohngeld finanziell auskommen, was für sie sehr schwierig ist: „Ich habe 2 Männer durch meine Kinderlosigkeit verloren und wäre heute eine wohlhaben Frau und müsste nicht mit so ein paar Kröten auskommen. Dann bin ich eine kranke Frau geworden, die einfach die Alpträume nicht wieder los wird. [...] Es klingt alles wie ein Roman und doch ist alles wahr, jedes Mal trift ein Pfeil mich ins Herz wenn man mich fragt warum ich keine Kinder habe, was soll man immer lügen? Heute stehe ich ganz allein auf der Welt, keine Eltern und keine Geschwister mehr, nur durch diese Schande bin ich heute ganz allein.“976
Auch von Angehörigen oder Menschen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen, die sich an den BEZ wenden, wird vielfach von psychischen Störungen als Folge der Sterilisation berichtet. Herr und Frau W. schreiben, ihre Schwester beziehungsweise Schwägerin leide seit der Zwangssterilisation an schweren De-
973
Brief von A. R. vom 13.1.1995, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Frau R. schließt mehrere ihrer Briefe mit ähnlichen Formulierungen. Vgl. hierzu auch Brief von H. P. vom 8.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ: „Trotzdem hoffe ich, dass die Herren und Damen im Bundestag bald begreifen können, wie furchtbar es war u. vor allem gibt es noch Viele, die den schweren Schock aus der Vergangenheit noch nicht verkraftet haben!“ 974 Brief von E. S. vom 20.2.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 975 Brief von J. N. vom 4.9.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 976 Briefe von I. S. vom 11.2.1988 und 13.7.1988 (Zitat aus letzterem), Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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pressionen: „Bis jetzt konnte sie sich nicht entschließen einen Antrag zu stellen aus Furcht, die schlimme Vergangenheit wieder aufzuwühlen.“977 Einige der Betroffenen geben an, sie hätten in ihrem Leben einen Beruf gefunden, der ihnen geholfen hätte, mit der Zwangssterilisation und ihren Folgen umzugehen. „Bin seit 46 Jahren Organistin hier im [...] Kirchenspiel. Dieser Dienst hat mir geholfen, das Schwere zu ertragen.“978 Dabei wird in der Regel zugleich festgehalten, dass die berufliche Tätigkeit zwar eine Unterstützung, aber keine Kompensation der familiären Verluste darstellte. Die vor dem sozialen Hintergrund der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen ohnehin eher begrenzten beruflichen Werdegänge spielten in der Lebensplanung gegenüber der angestrebten Familiengründung eine untergeordnete Rolle. Frau W. schreibt: „Denn das Höchste was uns genommen worden ist, die Mutterliebe, ist durch nichts zu ersetzen. Wenn auch mein früherer Beruf meinen Leben einen gewissen Inhalt gegeben hat, ich war langjährige Verkaufsstellenleiterin, ein glückliches Familienleben hätte mir mehr gegeben.“979
Während sie in einem weiteren Brief festhält, „Durch die vielen Jahre, die nun unterdessen durch das schreckliche Nazigesetz vergangen sind, hat man sich mit seinem Schicksal abgefunden.“980, kommt sie in ihrem mit 89 Jahren verfassten Brief an den BEZ, der betitelt ist mit „Der letzte Abschnitt meines Lebens“, zu einem differenzierten Lebensrückblick: „Da ich nun sehr viel allein bin, habe ich viel Zeit zum Nachdenken über mein langes Leben mit viel Höhen u. Tiefen. […] Da mir mit 17 Jahren die Mutterliebe zwangsweise genommen worden ist, ist es gerade jetzt allein zu sein ohne Angehörige Kinder u. Enkel um so schmerzlicher Die ganzen vielen Jahre habe ich mich über mein schicksal stillschweigend drüber weggesetzt u. in meiner Arbeit Zuflucht u. Trost gefunden Jetzt bin ich eigenlich froh, das mir so verpfuschte Leben gemeistert zu haben, da ich jetzt viel von der Erinnerung lebe. Allen Gewalten zum Trotz sich
977 Brief von H. und H. W. vom 4.3.1991 und vom 4.6.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 978 Brief von M. E. vom 21.4.1987, Zwangssterilisierte, lebend, BEZ. In protokollierten Telefongesprächen zwischen der Schwägerin von Frau E. und dem BEZ vom Januar und Februar 1997 findet sich der Hinweis, dass sie nicht mehr an die Sterilisation erinnert werden dürfe, da sie sich sonst kaum beruhigen könne. 979 Brief von M. W. vom 29.4.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 980 Brief von M. W. vom 24.6.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. In ihrem Brief vom 4.10.2003 resümiert sie in ähnlicher Weise und gibt darüber hinaus noch ihre Reisen als positive Erinnerung an.
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erhalten! Drumm frage ich das Schicksal Warum ach Warum es gibt keine Antwort, Schicksal bleibt stumm.“981
Wenn eine familiäre Anbindung vorhanden war, wenn die Partnerschaft Bestand hatte oder eine neue geschlossen wurde, wenn bereits Kinder auf der Welt waren oder adoptiert wurden, konnte dies den Betroffenen emotionale Stabilität geben, eine partielle Kompensation von Lebenszielen ermöglichen und einer Isolierung entgegenwirken. Dennoch leiden auch sie:982 „Aber trotzdem hat mich diese Maßnahme mein Leben lang belastet und auch heute kann ich nur mit Grauen an diese Zeit zurückdenken, wenn ich nicht durch meinen Mann, der mittlerweile verstorben ist, und durch meinen Sohn solche hervorragenden Menschen an meiner Seite gehabt hätte.“983
Auch weitere Konflikte finden sich in den Aussagen. Im Schreiben von Frau S. wird beispielsweise ein Unterschied in dem nach Außen dargestellten Umgang und dem eigentlichen Empfinden gegenüber der Zwangssterilisation deutlich. Beschreibt sie in ihrem Brief ausführlich ihr oftmals als solches benanntes „Leiden“ an dem Eingriff und seinen Folgen, so bricht an einer Stelle die Erzählung: „Wenn ich zum Frauenarzt komme, so fragen sie nach dieser Narbe, schüttel mit den Kopf u. sagen wie ist das möglich, sie bewundern mein Auftreten die atraktiv u. schmackvolle Kleidung. Ja ich antworte: Das ist der Heil
981 Brief von M. W. datiert vom Oktober 2006, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Bei den letzten beiden Zeilen handelt es sich um Zitate. Der Satz „Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten“ stammt von J. W. v. Goethe, das komplette Gedicht lautet: „Feiger Gedanken Bängliches Schwanken, Weibisches Zagen, Ängstliches Klagen Wendet kein Elend, Macht dich nicht frei. Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten, Nimmer sich beugen, Kräftig sich zeigen, Rufet die Arme Der Götter herbei!“ Vgl. Goethe – Gedichte, herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz, München 1999, S. 134. Der letzte Satz: „Warum ach Warum es gibt keine Antwort, Schicksal bleibt stumm“ ist Teil eines volkstümlichen Gedichtes oder Liedes, welches häufig in einem Trauerkontext verwendet wird. 982 Frau V., die zum Zeitpunkt der Sterilisation bereits ein Kind hat schreibt: „Mir wurde das Glück genommen weitere Kinder zubekommen. Ich habe darunter sehr gelitten, und hatte schwere Depressionen. Manchmal träume ich noch von der Angelegenheit.“ Brief von L. V. vom Juli 1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. hierzu auch R. T., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 983 Brief von F. V. vom 11.5.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Frau Z. schreibt: „[…] [1947] heiratete ich einen Witwer mit drei kleinen Kindern. Somit hatte ich eine verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, die mein ganzes Leben bestimmt hat, obwohl es mir gesundheitlich als Folge der Operation nicht immer gut gegangen ist.“ Brief von E. Z. vom 27.5.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
Hitler Gruß“984, um im nächsten Satz die ganze Dimension ihres Leidens erneut zu offenbaren: „Jetzt habe ich alles ausführlich geschrieben. Habe Wut u. weine ich kann nicht mehr weiter, rege mich auf u. bin total fertig. So ist es immer wenn ich nachdenke, Was ist mein Schicksal u. bin im Alter einfach allein Womit habe ich das verdient?“985 Die nach Außen dargestellte, scheinbar abgeklärte, ironische Beschreibung der Zwangssterilisation steht im Kontrast zur skizzierten Verzweiflung über die Folgen des Eingriffs. Zugleich wird hierbei erneut die Bedeutung der Wahrnehmung durch die soziale Umwelt für die Betroffenen deutlich; widerlegt diese doch für Frau S. in der dargestellten positiven Einschätzung des Erscheinungsbildes und dem deutlich werdenden Unverständnis über die Einbeziehung in die nationalsozialistischen eugenischen Maßnahmen die durch die Zwangssterilisation ausgesprochene „Minderwertigkeit“. Die geraubten Lebensperspektiven, von der Familiengründung als „Möglichkeit zur Selbstverwirklichung“986 über berufliche Entwicklungspotentiale bis hin zu einer grundsätzlichen Akzeptanz als „vollwertiges“ Gesellschaftsmitglied, traumatisierten und begleiteten die Betroffenen vom Beginn des Sterilisationsverfahrens bis ins hohe Alter. Sie bedeuten in der Konsequenz: „Ein Leben lang leiden an einem Leid, dessen Herkunft und Natur auf die nationalsozialistische Verfolgung innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager zurückgeht, sowie eine lebenslängliche seelische Verkümmerung.“987 Die von vielen Betroffenen angesprochenen seelischen Leiden scheinen dabei multikausal bedingt, über die einzelnen Elemente lässt sich oft nur mutmaßen, die zur Verfügung stehenden Verarbeitungsmöglichkeiten sind immer nur individuell bestimmbar. Neben dem Zwangseingriff kam es zum Teil zu weiteren belastenden Erfahrungen im „Dritten Reich“. Eine prekäre Kindheit und Jugend,988 der jahrelange Aufenthalt in Erziehungsheimen oder einer psychiatrischen Anstalt, zum Teil verbunden mit der Bedrohung durch die „Euthanasie“, die Unterbringung in einem Konzentrationslager, Gestapo-Haft oder die in einem Flucht- oder Verfolgungskontext erfahrene Gewalt konnten ihrerseits
984
Möglicherweise meinte Frau S. hier die Bezeichnung „Hitler Schnitt“, die zeitgenössisch häufig für die Zwangssterilisation verwendet wurde. In der Deutschen Gebärdensprache wird Sterilisation nach Horst Biesold durch die beiden Gebärden „Hitler“ und „Schnitt“ ausgedrückt. Vgl. Biesold (1988), S. 234, Fußnote 19. 985 Brief von I. S. vom 2.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 986 Baeyer/Häfner/Kisker (1964), S. 257f. 987 Niederland (1989), S 352. 988 Vgl. zum Beispiel Brief von O. S. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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lebenslange Folgen zeigen.989 Angesichts des oftmals hohen Lebensalters der Autoren dürften auch altersbedingte Depressionen eine Rolle spielen. Und dennoch zeigt sich in allen Briefen, welche tiefgreifende Bedeutung die Zwangssterilisation und ihre Folgen für das Leben jedes einzelnen Betroffenen hatte: „Das Leben für mich war keine Freude mer […].“990 Vergleich der Ergebnisse mit bisherigen wissenschaftlichen Annäherungsversuchen Eine grundlegende Analyse der physischen und psychischen (Spät-)Folgen der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik ist bis heute nicht vorhanden – und wird angesichts des Todes der überwiegenden Zahl der Betroffenen beziehungsweise des gesundheitlichen Zustandes der noch Lebenden kaum mehr möglich sein. Somit bleibt lediglich der Versuch, aus den vorhandenen Quellen und veröffentlichten Studien – von unterschiedlicher Qualität, Quantität und Aufgabenstellung – sowie Arbeiten zu „verwandten“ Themenbereichen, wie beispielsweise der Traumaforschung, Anleihen für diese Opfergruppe des „Dritten Reichs“ zu nehmen. Die bereits im einleitenden Kapitel vorgestellten Arbeiten, die sich mit den Folgen der Zwangssterilisationen beschäftigen, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dabei lassen sich mehrere grundsätzliche Aspekte differenzieren. Zum einen hängt die Einschätzung der Folgen in Teilen von der normativen Haltung des Analysten gegenüber eugenischen Zwangseingriffen im Allgemeinen und den Betroffenen im Besonderen ab. Dass den Zwangssterilisierten offen begegnet und ihren Aussagen Authentizität zugesprochen wird, ist in Arbeiten der 1930er, 1940er und 1950er Jahre, auch wenn sie einen wissenschaftlichen Anspruch erhoben, kaum der Fall. Insofern kann eine Grenze zwischen den vorhandenen Untersuchungen entlang ihrer Entstehungzeit gezogen werden, wobei ein grundlegender Wandel in den 1960er Jahren sichtbar wird. Zum anderen ist die der Analyse zugrunde gelegte Betroffenengruppe von großer Bedeutung. Es lassen sich in den Arbeiten Unterschiede bezüglich der beschriebenen Folgen und des Umgangs mit ihnen feststellen, welche insbesondere bei untersuchten Anstaltspatienten deutlich werden. Auch bei der Analyse der Folgen für zwangssterilisierte Sinti müssen spezifische soziokulturelle
989 Vgl. zum Beispiel Briefe von H. M. u. a. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Bericht von H. M., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von K. B. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 990 Brief von L. S. vom 15.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Frau M., die angibt, ihre Ehen seien aufgrund der Kinderlosigkeit zerbrochen, schreibt: „Aber Glück hatte ich nicht, in meinen Jahren.“ Brief von E. M. vom 5.5.19[87], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
Hintergründe berücksichtigt werden, gleichwohl können Teilergebnisse dieser Arbeiten auch verallgemeinert werden. Die im „Dritten Reich“ entstandenen Arbeiten über zwangssterilisierte Frauen kommen in ihren Betrachtungen zu ähnlichen Ergebnissen. Bei einem Großteil der von ihnen untersuchten Betroffenen können sie keine negativen physischen und psychischen Folgen feststellen, sei es, weil die von ihnen Befragten entsprechende Angaben machten, sei es, weil andere Aussagen als interessengesteuert gewertet werden. In ihrer 1937 erschienenen Studie stellt Elisabeth Hofmann bezüglich der Frage nach dem körperlichen Befinden nach der Sterilisation fest, dass 53 Frauen über keinerlei nachteilige physische Entwicklungen infolge des Eingriffs berichtet hätten. Bei den übrigen sieben sei es vor allem zu Regelbeschwerden und -unregelmäßigkeiten sowie in einem Fall zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr gekommen. Ob diese gesundheitlichen Einschränkungen ursächlich mit der Sterilisation in Zusammenhang stünden, habe sich nicht eindeutig feststellen lassen. Zum Teil könnte ihrer Ansicht nach eine klinische Nachuntersuchung über die Zusammenhänge Aufschluss geben, aber: „Unglückseligerweise – oder vielleicht auch mit deshalb – war aber bei allen vieren die Einstellung zum Eingriff und damit eben auch zu der ihn ausführenden Klinik leider so ungünstig, dass es mir nicht gelang, die Frauen zu einer Nachuntersuchung in der Klinik zu bewegen. Möglicherweise hat aber auch die negative Einstellung der Patientinnen eigentlich geringe Beschwerden als ausgedehnt schwere erscheinen lassen.“991
Auch im Themenkomplex „Gefühlsleben und Geisteszustand nach der Sterilisation“ kommt sie ebenso wie bei der Frage nach den Auswirkungen auf die vermeintlich vorhandenen „Erbkrankheiten“ zu einem positiven Befund: Es hätten sich keine oder kaum negative Veränderungen ergeben;992 es sei allerdings „frappant“, „wie unverhältnismäßig schwer es sein muss, eine an und für sich durchaus als recht erkannte Einrichtung in ihrer Folgerichtigkeit auch dann zu 991 Hofmann (1937), S. 8. Klose gibt an, bei den von ihr untersuchten Frauen hätten etwa 1/3 körperliche Leiden, vor allem Menstruationsbeschwerden, als Folge des Eingriffs angegeben, auch hier seien in einigen Fällen angestoßene klinische Nachuntersuchungen auf Ablehnung der Betroffenen gestoßen. Klose (1940), S. 303f. 992 In diesem Zusammenhang konstatiert Hofmann, es seien noch viele Vorurteile über angeblich negative Folgen der Sterilisationen vorhanden, so dass bei der Besprechung des Eingriffs von ärztlicher Seite noch „unendlich viel mehr aufklärende Vorarbeit notwendig“ sei. Hofmann (1937), S. 9f. Generell gebe es noch eine Menge Sterilisationsgegner, insbesondere aus konfessionellen oder liberalistischen Gründen. Ebenda, S. 10.
Leben mit der Zwangssterilisation
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bejahen, wenn es gilt, ihre Anwendung auf die eigene Person zu übertragen. Das Gesetz als solches wurde von den allermeisten dieser Frauen anerkannt; manch eine erzählte mir, was für ein Segen die Sterilisation in dieser oder jener Familie gewesen sei – aber – im eigenen Fall, da war die Sachlage doch eine andere – eine ganz andere.“993
Weiter beschäftigt sie sich mit „Verständnis und Einstellung sterilisierter Frauen zum Eingriff“. Der körperlich und seelisch gesunde Mensch sähe in der Sterilisation zu Recht ein großes Opfer, müsse doch der Sterilisierte „auf das durch nichts zu ersetzende Glück eigener Kinder verzichten; darüber hinaus wird mancher feinfühlende Mensch diesen an und für sich schon harten Verzicht als persönlichen Mangel, vielleicht sogar als Schande empfinden.“994 Einige der Frauen wären bereits schwer psychisch krank gewesen, so dass sie generell kein Bewusstsein mehr für den Eingriff gehabt hätten. Andere hätten entweder bereits Kinder oder nicht beabsichtigt, welche zu bekommen, seien von wirtschaftlichen Überlegungen oder einer „moralischen Minderwertigkeit“ geleitet gewesen, so dass der Verlust kaum als solcher empfunden worden wäre.995 In den übrigen Fällen – nach ihrer Analyse 21 von 60 Frauen, die ganz überwiegend noch keine Kinder hatten – stieß sie hingegen auf überaus negative Einstellungen gegenüber der „ganzen Sache“. Eine „sture Krankheitsuneinsichtigkeit“ sei hierbei ebenso vorhanden wie die fehlende Einsicht, an einer Erbkrankheit zu leiden.996 Weiter legt Hofmann dar, sie sei auch „all den Kämpfen und Folgen, die das Sterilisationsgesetz für den betroffenen Menschen mit sich bringen kann“, bei diesen Frauen begegnet, „die Frauen, die in der Hauptsache rein wirtschaftlich die erschwerte Heirats- und Versorgungsmöglichkeit empfinden, werden leichter 993
Hofmann (1937), S. 15. Es muss hierbei offenbleiben, inwieweit die betroffenen Frauen von der Untersuchenden mögliche Restriktionen bei einer pauschalen Verurteilung der nationalsozialistischen eugenischen Politik befürchteten und vor diesem Hintergrund so argumentierten, oder ob sie tatsächlich der geäußerten Ansicht waren. Aussagen in anderen Quellen deuten, wie bereits dargelegt, durchaus auf eugenische Denkkategorien bei einem Teil der Betroffenen hin, wobei auch hier möglicherweise strategische Überlegungen im Hintergrund vorhanden waren. 994 Ebenda, S. 13. 995 Ebenda, S. 14. Auch Klose (1940), S. 302f. sieht nur bei wenigen Frauen durch den Eingriff entstehende „Minderwertigkeitsgefühle“. 996 Fünf Frauen schließlich seien „trotz seelischer Kämpfe“ positiv eingestellt gewesen, wobei bei zwei von ihnen eine scheinbar durch die Sterilisation bedingte positive Entwicklung ihrer Epilepsie andere Empfindungen wohl überlagerten. Vgl. Hofmann (1937), S. 15f. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Klose (1940), v. a. S. 302 und Koch (1937), S. 9.
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III Perspektiven der Betroffenen
darüber hinwegkommen. Die Kämpfe derer mit anzusehen, die den Verlust der Mutterschaft als Aufgabe ihres ganzen Lebenszweckes und darüber hinaus als Minderung ihres menschlichen Wertes, als Schande empfinden, ist erschütternd.“997
Eine spezifische Gruppe von Betroffenen untersucht die medizinische Dissertation von Gertrud Koch, die sich mit sterilisierten beziehungsweise zu sterilisierenden Psychiatrie- und Anstaltspatientinnen beschäftigt.998 Sie differenziert ihr Untersuchungskollektiv von 100 Betroffenen nach den jeweiligen Krankheitsdiagnosen,999 kommt aber insgesamt zu dem Ergebnis, dass sehr verschiedene Reaktionen auf die Unfruchtbarmachung vorhanden seien, abhängig vom Krankheitsgrad, Ehe- und Kinderwunsch, Umwelteinflüssen und der jeweiligen Persönlichkeit. Diese Arbeiten, insbesondere die von Elisabeth Hofmann und Gertrud Koch, lesen sich in Teilen wie eugenische resp. nationalsozialistische Propagandaschriften. Eine diffuse, völkische Argumentation, die unhinterfragte und uneingeschränkte Unterstützung eugenischer Vorstellungen, von Beginn an vorhandene Vorbehalte gegenüber den Betroffenen und eine unklare und nicht transparente Methodik lassen eine Analyse der möglichen Folgen der Zwangssterilisationen nur teilweise zu. Bei festgestellten Leiden wird oftmals ein Zusammenhang mit der Sterilisation in Frage gestellt und die mangelnde Einsicht der Betroffenen in ihr Schicksal entweder als krankheits- oder „minderwertigkeits“-bedingt interpretiert oder „frappant“ zur Kenntnis genommen. So bleibt nur die Verzweiflung einiger Frauen ob der ihnen genommenen Möglichkeiten, eine Familie zu gründen, die „erschüttert“. Aus der Anfang der 1950er Jahre entstandenen Arbeit von Bremer über ehemalige Anstaltspatienten lässt sich für die hier interessierende Fragestellung 997
Hofmann (1937), S. 16. Wie Hofmann die Gruppen unterscheidet, bleibt offen, die Reduktion auf rein ökonomische Motive erscheint unlogisch. Das Modell „Familie als Lebenskonzept“, wie es der Zeitgeist, in dem die Frauen sich bewegten, vorsah, beinhaltete, wenn es die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie zuließen, die finanzielle Absicherung der Ehefrau und Mutter durch den erwerbstätigen Ehemann. Somit mutet eine Trennung zwischen Heiratswunsch und dem Wunsch, Kinder zu bekommen als in den meisten Fällen künstlich an. Zu den genommenen Heiratsmöglichkeiten vgl. auch Klose (1940), S. 302. 998 Vgl. Koch (1937). 999 So würden unter „Schizophrenie“ leidende Betroffene viel eher mit dem Eingriff zurechtkommen als insbesondere „Manisch-Depressive“. „Epilepsiekranke“ würden eher über eine Krankheitseinsicht verfügen, ganz im Gegensatz zu den „rassenhygienisch gefährlichsten“ „Schwachsinnigen“, welche am wenigsten zu einer Sterilisierung bereit seien. Vgl. Koch (1937), S. 10-17.
Leben mit der Zwangssterilisation
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der Wahrnehmungen der Zwangssterilisierten nur ein geringer Erkenntniswert gewinnen. Während er physische Folgen des Eingriffs nicht feststellen zu können meinte,1000 diagnostiziert er im Bereich des Umgangs mit der erzwungenen Kinderlosigkeit eine „allgemeine Indolenz“.1001 Die vereinzelt von ihm wiedergegebenen Aussagen von Betroffenen über die Kinderlosigkeit zeigen ein differenziertes Bild, es finden sich einerseits Bemerkungen wie „Pat. klagte zum Schluss der Exploration über das bedrückende Gefühl, dass sie nun wisse, dass sie keine Kinder bekommen könne, und dass sie auch einem Manne nicht zumuten könne, sie zu heiraten.“1002, andererseits aber auch: „über die Tatsache der Sterilisation ist sie nicht besonders unglücklich“.1003 Liegen weitere Überlegungen bezüglich möglicher Spätfolgen außerhalb des Untersuchungsfeldes, so bleibt zu fragen, warum er auf Betroffene trifft, die entgegen der sonstigen Quellen offensichtlich über keine Folgen oder Leiden an der Sterilisation berichten. Für eine mögliche Erklärung kommen unterschiedliche Überlegungen zum Tragen. Neben einer grundsätzlichen methodischen Kritik an dem Vorgehen, also der Frage, ob die Betroffenen unter den gegebenen Umständen dem Untersucher in allen Belangen Auskunft gegeben haben beziehungsweise ob überhaupt die entsprechenden Fragen gestellt wurden, mag es vorgekommen sein, dass aufgrund der Persönlichkeitsstruktur, der Lebensplanung oder der äußeren Umstände die Folgen des Zwangseingriffs nicht als derart tiefgreifend empfunden wurden oder aber von anderen Elementen, insbesondere dem Leiden an einer Krankheit, überlagert wurden. Hierbei ergibt sich auch eine Parallele zu der Untersuchung von Irene Heiselbetz, welche sich mit zwangssterilisierten Patienten der v. Bodelschwinghschen Anstalt Bethel beschäftigt.1004 Offensichtlich verfügten Patienten, die über einen längeren Zeitraum oder gar ihr Leben lang in einer entsprechenden Einrichtung gelebt und an schweren physischen oder psychischen Krankheiten und Behinderungen gelitten haben, über 1000
Die Frage „ob die Operationsnarbe irgendwelche Beschwerden verursache, ob überhaupt irgendwelche Beschwerden nach der Operation eingetreten seien, wurde stets von den Patienten verneint, wenn auch verschiedene Patienten hinterher versuchten, nachdem sie sich die Frage überlegt hatten, finanzielle Vorteile zu erlangen.“ Bremer (1953), S. 7. Die Bemühungen der von ihm untersuchten Zwangssterilisierten um finanzielle „Wiedergutmachung“ sieht er dabei sehr kritisch. Ebenda, S. 8. 1001 So hätte ein Teil der Betroffenen Einsehen in die Beweggründe der Eugenik geäußert und mitgeteilt, sie hätten sich mit dem Schicksal abgefunden. Bremer meint hierbei zu erkennen, dass diese Haltung weniger „einer Einsicht als einer gewissen Gleichgültigkeit und Apathie entspringt.“ Daneben sei aber auch „gelegentlich von Frauen Klage geführt worden, dass sie nun unfruchtbar seien und damit ihr Leben den rechten Sinn verloren hätte.“ Ebenda, S. 7. 1002 Ebenda, S. 26. 1003 Ebenda, S. 41. 1004 Vgl. Heiselbetz (1992).
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III Perspektiven der Betroffenen
andere Lebenspläne und Identitätsvorstellungen als Betroffene mit hiervon abweichenden Lebensumständen. Hinzu kommt der im „Dritten Reich“ ebenso wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik oftmals gewaltsame Umgang mit Patienten in psychiatrischen Einrichtungen. So betrachtet wird für Menschen die Sterilisation innerhalb der Anstalt zu einer – allerdings besonders nachhaltigen – Zwangsmaßnahme unter vielen. Anfang der 1960er Jahre diagnostizierten Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker1005 bei den von ihnen untersuchten zwangssterilisierten Sinti „einen großen Anteil überdauernder Verunsicherungen, welche sich in depressiven und sensitiven Entwicklungen oder leiblich in vegetativen Syndromen äußern, häufig mit Einschränkungen des erotischen Strebens und stets mit Störungen der sozio-familiären Anpassung verbunden sind.“1006 Auch Kretz1007 schildert in drei näher dargestellten Fallstudien betroffener Sinti zerbrochene oder unglückliche Partnerschaften, soziale Isolierung, das Gefühl „ständigen Unterlegenseins, der Wertlosigkeit als Frau und eine traurige Verstimmtheit beim Gedanken an die Unmöglichkeit, je Kinder zu haben“.1008 Wenn auch die meisten Betroffenen die Folgen des Eingriffs kaum verbalisieren könnten, so zeige sich doch in der biografischen Entwicklung nach der Sterilisation immer wieder die starke „Verbiegung der Lebenslinie“ der Betroffenen:1009 „Neben dieser im Gefolge des Eingriffs in die leibliche Integrität sich entwickelnden markanten Verbiegung der Lebenslinie, die sich in gestörten und geschrumpften mitmenschlichen, besonders heterosexuellen, Beziehungen ausdrückt […] konnten wir zusätzlich in 5 Fällen noch eine chronische und unsicher-depressive bzw. sensitive Fehlhaltung, wie sie in der Entschädigungsliteratur als erlebnisreaktive Syndrome bei Verfolgten herausgearbeitet wurden, finden.“1010 [Herv. i. O.]
1005 Baeyer/Häfner/Kisker (1964). In Gutachten zu finanziellen „Wiedergutmachungen“ bei NS-Opfern differenziert Kisker seine Einschätzung. So geht er davon aus, dass entsprechende Folgen jenseits des gebärfähigen Alters bei Frauen nicht mehr ins Gewicht fallen würden. Vgl. Pross (1988), S. 265f. 1006 Baeyer/Häfner/Kisker (1964), S. 253f. Hierbei konstatieren sie eine weitgehende Übereinstimmung mit einer Untersuchung von Kolle. 1007 Vgl. Kretz (1967). 1008 Ebenda, S. 1300. 1009 Ebenda, S. 1299ff. 1010 Ebenda, S. 1300. Letztere „Fehlhaltungen“ seien dabei neben der Sterilisation auch auf andere Belastungsfaktoren, die nicht mit der Verfolgung zusammenhängen, zurückzuführen, beispielsweise auf Belastungen in der Kindheit. Ebenda, S. 1301.
Leben mit der Zwangssterilisation
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Wenngleich bei diesen Ergebnissen die soziokulturellen Hintergründe der Betroffenen als Sinti und weitere Verfolgungsmaßnahmen zu berücksichtigen sind, zeigen sich viele der genannten Elemente, von funktionellen Sexualstörungen über depressive Zustände bis hin zu Minderwertigkeitsgefühlen in vielen der hier untersuchten Briefe. Insbesondere die „Verbiegung der Lebenslinie“ erscheint als nahezu jeder Zwangssterilisation immanente Folge.1011 Auch in der Untersuchung der zwangssterilisierten Patienten der von Bodelschwinghschen Anstalt Bethel von Irene Heiselbetz werden in Bezug auf die erlebte Zwangssterilisation von einigen Betroffenen Scham- und Minderwertigkeitsempfinden, Trauer und psychisches Leiden genannt.1012 Ein wesentliches Element in den Briefen an den BEZ, die erzwungene Kinderlosigkeit und das Zerbrechen von Partnerschaften, spielt bei der von ihr untersuchten Personengruppe hingegen eine geringere Rolle, insbesondere da bereits durch die Krankheit bedingt, zumeist Epilepsie, eine andere Lebensplanung entworfen werden musste. „Die Anfälle hatte ich und da musste es gemacht werden. […] Bisschen erblich könnte es ja doch sein. Und kranke Kinder wollte ich ja auch nicht. Da muss man sich fügen.“1013 Inwieweit diese Aussage der tatsächlichen Überzeugung der Betroffenen entsprach, oder aber hierbei durch „Identifikation mit dem Aggressor“ eine Abwehrstrategie vorlag, wie Heiselbetz vermutet,1014 muss offen bleiben. Körperliche Folgen der Sterilisation schließlich seien nur in Ausnahmefällen aufgetreten.1015 Immer wieder wird in den Gesprächen zudem die Bedeutung der Arbeit und des Glaubens für die Bewältigung des Erlebten hervorgehoben,1016 in einigen Fällen auch die als hilfreich bewertete Möglichkeit des Austauschs mit anderen Betroffenen in Bethel.1017 Die von Heiselbetz untersuchte Gruppe der Zwangssterilisierten unterscheidet sich in dem Moment des dauerhaften Anstaltsaufenthaltes von den Betroffenen, die sich mit ihren Briefen an den BEZ wandten. Ihre jeweilige Erkrankung hatte derart grundlegende Auswirkungen auf das Leben, dass alleine hierdurch die Lebensperspektiven stark eingeschränkt waren. Dennoch wurde die Zwangssterilisation als tiefer Eingriff erlebt. Ein weiterer Unterschied betrifft 1011 Eine Ausnahme könnten auch hier aus den genannten Gründen dauerhafte Anstaltspatienten darstellen. 1012 Vgl. Heiselbetz (1992), u. a. S. 30; 56. „Es konnte nichts Trost geben, das war für das ganze Leben, das wusste ich. Ich habe eigentlich mit dem Leben abgeschlossen. Vielleicht lebte ich sonst gar nicht mehr, wäre Soldat gewesen und gefallen.“ Ebenda, S. 46. 1013 Ebenda, S. 21f. Vgl. auch S. 24; 30; 68; 72f; 76. 1014 Ebenda, S. 126f. 1015 Ebenda, S. 130. 1016 Ebenda, S. 49f.; 53; 130. 1017 Vgl. Ebenda, S. 51.
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III Perspektiven der Betroffenen
die religiöse Ausrichtung der hier Befragten. Viele der in der evangelischen Anstalt lebenden Patienten äußerten eine starke religiöse Bindung, die ihnen bei der Bewältigung des Erlebten geholfen habe.1018 Und auch die familiäre Unterstützung erwies sich als zumeist vorhanden und von großer Bedeutung.1019 Hierfür dürfte ebenfalls die bereits vollzogene Definition des Betroffenen als Patient wesentlich gewesen sein. Mit einer spezifischen Gruppe von Betroffenen beschäftigte sich auch Mitte der 1980er Jahre Horst Biesold. Insgesamt 1 215 zwangssterilisierte Gehörlose füllten einen von ihm konzipierten Fragebogen aus, der auch physische und psychische Folgen des Eingriffs abfragte. Hierbei gaben knapp 50 % der Befragten an, noch physische Schmerzen infolge des Eingriffs zu haben, 76 % bestätigten seelische Schmerzen wie Traurigkeit und Einsamkeit.1020 Von der untersuchten Personengruppe her mit der vorliegenden Arbeit am ehesten zu vergleichen ist die Untersuchung von Corinna Horban über zwangssterilisierte Frauen der Münchener Universitätsfrauenklinik.1021 Sie kommt in vielen der von ihr geführten Interviews mit den Betroffenen zu ähnlichen Ergebnissen. Viele hätten nicht gewusst, aufgrund welcher Diagnose sie sterilisiert worden seien, litten an dem lebenslangen Gefühl, „irgendwie erbkrank“ sein zu müssen.1022 Die Zwangssterilisierung und die hiermit zusammenhängende Stigmatisierung wurden als traumatisierend erlebt, körperliche, vor allem aber psychische Leiden, Minderwertigkeitsempfinden, zerbrechende Partnerschaften und ein Rückzug in Isolation und Schweigen, zum Teil selbst gegenüber dem Lebenspartner, sind immer wieder genannte Elemente des Lebens: „Die Gespräche mit den früheren Patientinnen zeigten, dass zum einen die Erfahrung des Zwanges, teilweise der unmittelbaren Gewalt, bei der Durchführung der Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zu einer erheblichen psychischen Traumatisierung führte. Zum anderen führte die erzwungene Kinderlosigkeit häufig zum Zerbrechen von Partnerschaften. Die psychischen und die physischen Belastungen, wie lange anhaltende Schmerzen im Bereich der Operation 1018
Dabei geben auch einige der an den BEZ schreibenden Betroffenen an, sie hätten in ihrem christlichen Glauben eine wichtige Hilfe zur Bewältigung des Erlebten gefunden. Vgl. zum Beispiel Brief von G. W. vom 18.11.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ: „War damals seelisch am Boden nur der christliche Glaube gab mir noch Halt.“ 1019 Heiselbetz (1992), S. 130. 1020 Vgl. Biesold (1988), S. 157-160. Auch zahlreiche bei Biesold abgedruckte Zitate aus Briefen von Betroffenen bestätigen die im letzten Kapitel vorgestellten Ergebnisse. 1021 Vgl. Horban (1999). 1022 Ebenda, S. 115ff., Zitat S. 117.
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und Nachoperationen, führten zu einer Einschränkung der Lebensperspektive in allen Bereichen. Die verminderte körperliche Leistungsfähigkeit beschränkte die beruflichen Aussichten, die soziale Stigmatisierung durch Schulabbruch oder Heiratsverbot führte zu einem Rückzug aus der Gesellschaft. […] Die Betroffenen konnten sich in einer Zeit, in der Frauen als Mütter besonders geehrt wurden, nicht in diese soziale Rolle einfügen. […] Einen erheblichen Teil ihrer Energie mussten diese Frauen für psychische Abwehrfunktionen aufwenden. Sie konnten sich nicht mehr als vollständige Frauen fühlen. Ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit war so eingeschränkt, dass fast alle der Zwangssterilisierten sich für eine rein kameradschaftliche Partnerschaft ab einem Alter von ca. 50 Jahren entschieden oder es vorzogen, allein zu leben.“1023
Schließlich gibt es zahlreiche Untersuchungen, zumeist ebenfalls medizinische Promotionsschriften, zu Folgen von freiwilligen Sterilisationen, insbesondere bei Frauen.1024 Die Ergebnisse dieser Analysen lassen sich aufgrund des fundamentalen Unterschiedes von Zwang und Freiwilligkeit sowie der weiteren Restriktionen, die für die Zwangssterilisierten im „Dritten Reich“ bestanden, nicht auf die nationalsozialistischen Opfer anwenden. Dennoch wird auch in diesen Arbeiten eine Tendenz festgestellt, wonach der Grad negativer physischer und/oder psychischer Entwicklungen mit dem Ausmaß der Freiwilligkeit korreliert.1025 Albani kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass die „Nebenwirkungsrate um so geringer ist, je zielgerichteter die Motivation der Frau ist und je freier von äußeren Notlagen der Entschluss gefasst wurde.“1026 Lenhard hält unter Berücksichtigung mehrerer Untersuchungen über die Folgen freiwilliger Sterilisationen fest, dass insbesondere dann von negativen Ergebnissen im 1023
Ebenda, S. 122f. Vgl. zum Beispiel Eberhart (1968); Greve (1968); Wille (1978); Albani (1980); Lenhard (1977) und Bork (1980), welche auch die Ergebnisse anderer Untersuchungen darstellen. Vgl. für einen Überblick über einschlägige Untersuchungen auch Hahn (2000), S. 146ff. 1025 Auch Baeyer/Häfner/Kisker (1964) gehen in ihrer Untersuchung auf eine entsprechende schwedische Studie über freiwillig sterilisierte Frauen ein. Hier wird ebenfalls der Grad der Zustimmung der Betroffenen als wesentliches Element der psychischen Verarbeitung genannt. „Frauen, welche die Sterilität bedauerten, zeigten häufig eine depressive Insuffienz, Gereiztheit und nahezu stets Frigidität. Bei Frauen mit asthenischen und neurotischen Strukturen vor dem Eingriff war ziemlich regelmäßig eine Verstärkung der Fehlhaltung festzustellen. 20 % aller Untersuchten zeigten Menstruationsstörungen, 19 % in den Unterleib lokalisierte psychosomatische Beschwerden, 3 % entwickelten eine hypochondrische Fehlhaltung mit Carcinophobie.“ Vgl. Ebenda, S. 253f. 1026 Albani (1980), S. 43. 1024
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III Perspektiven der Betroffenen
Sinne von Folgeleiden berichtet wird, wenn die Sterilisationen im Rahmen einer Drucksituation oder aber bei jungen Frauen durchgeführt wurden: „Bei der Zwangssterilisation ist praktisch immer mit nachteiligen psychischen Folgen zu rechnen.“1027 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte Hinderer bereits Mitte der 1940er Jahre in der Untersuchung der Sterilisationsfolgen bei Schweizer Männern, bei welchen die Sterilisation zum Teil auch unter äußerem Druck, beispielsweise als Voraussetzung einer Eheschließung, erfolgt war: „Es unterliegt demnach keinem Zweifel, dass der Grad der Freiwilligkeit, mit der sich der Patient zur Sterilisation entschließt, die mehr positive oder ablehnende Einstellung dem Eingriff gegenüber, für den Erfolg der Operation von ganz wesentlicher Bedeutung sind und ihre Auswirkungen stark beeinflussen. Je freier der Willensbeschluss ist, umso günstiger sind die Resultate; je widerstrebender sich der Pat. zum Eingriff entschließt, um so mehr muss mit ungünstigen Auswirkungen gerechnet werden.“1028
1027
Vgl. den Überblick bei Lenhard (1977), S. 6-31, Zitat S. 29 (basierend auf Kretz, Kind, Petersen). 1028 Hinderer (1947), S.32f. Weiter führt er aus: „Auch dieser Faktor muss natürlich im Rahmen des Ganzen abgewogen werden. Es wird ja oft notwendig sein, dem Einzelnen zu Gunsten der Allgemeinheit gewisse Opfer zuzumuten. Immerhin bedeutet die oben dargelegte Korrelation zwischen Freiwilligkeit und Auswirkung der Sterilisation für uns einen Grund mehr, um eine zwangsweise Unfruchtbarmachung vom ärztlichen Standpunkt aus strikte abzulehnen.“
Selbstwahrnehmung und Bewertung des politischen Umgangs
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2. Selbstwahrnehmung und Bewertung des politischen Umgangs mit den Opfern 2. 1 Entwürdigung/Stigmatisierung/Schweigen „Ich wurde durch die Nazis in den 30er Jahren Zwangssteriliesiert. […] Dadurch war mein ganzes Leben eine Demütigung!“1029 Das Empfinden, durch den Prozess der Zwangssterilisation gedemütigt und stigmatisiert worden zu sein, weniger wert zu sein als andere, findet sich in zahllosen Briefen der Betroffenen in mannigfaltigen Variationen. Begriffe wie „minderwertig“, „Mensch zweiter Klasse“, „halber Mensch“ oder die genommene „Ehre“ und die Kennzeichnung der Sterilisation als „Schande“ und „Makel“ ziehen sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Äußerungen.1030 „Die Operation wurde im Krankenhaus Döbeln vollzogen, von dort wurde ich sang- und klanglos mit einem ungeheuren Minderwertigkeitsgefühl, welches mich bis heute noch nicht verlassen hat, entlassen.“1031 „Die Sterelisation war im Mai 1937. Danach bin ich aus Schamgefühl, Unwertgefühl nicht aus der Wohnung gegangen. Ich habe nur Nachts bei Dunkelheit dieselbe verlassen.“1032
Ein lebenslanges Schamempfinden ist eine der am häufigsten genannten Reaktionen, beispielsweise wenn bei einer medizinischen Untersuchung die Sterilisationsnarbe nicht verborgen werden konnte. „Da ich in späteren Jahren mehre Leiboperationen Unterleib durch machen musste. Werde jedes mal danach gefragt warum sie dieses getan haben. Was mir immer schwer viel zu beantworten vor mehre Personen.“1033 „Sehr viel war ich in Krankenhäusern. Immer habe ich mich so geschämt, wenn die Ärzte dass gesehen haben.“1034 Für manche blieb selbst im geschützten Raum der Gesprächskreise des BEZ die Scham kaum überwindbar: „Man hatte ja nur immer das eigene Schicksal was man immer verdrängt. Wenn man das alles so im Kreis hört, kommt einen die 1029
Brief von H. E. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. z. B. Brief von E. S. vom 26.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von K. L. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von W. K. vom 24.9.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1031 Brief von K. H. vom 16.1.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1032 Brief von K. M. vom 10.8.1993, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1033 Brief von P. S. vom 1.4.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1034 Brief von H. M. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1030
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III Perspektiven der Betroffenen
eigene Erinnerung Stück für Stück. Man schämt sich noch vor den eigenen Leidtragenden.“1035 Hier zeigt sich eine weitere Seite der Internalisierung „erbpathologischer“ Vorstellungen. Konnte sie sich, wie im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsprozessen deutlich wurde, in der Übernahme einschlägiger Argumentationsfiguren und in einigen Fällen in der Abgrenzung von „Minderwertigen“ durch die Betroffenen selbst äußern, so verweist die immer wieder genannte Scham auf die resistente „minderwertige“ Selbstzuschreibung.1036 Neben der Wahrnehmung einer Stigmatisierung durch die Zwangssterilisation als staatliche Maßnahme dürfte auch von Bedeutung sein, dass die Betroffenen einer Generation angehören, in der im weitesten Sinne mit Sexualität konnotierte Themen per se schambesetzt waren. Christoph Brax, der in seiner Studie über Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Saarland auch die Reaktionen einiger Betroffener im Kontext der Sterilisation dokumentiert, hält hierbei fest: „Die Zwangssterilisation berührte gleich zwei Tabu-Bereiche der menschlichen Existenz, nämlich Krankheit und Sexualität. Der Gedanke, wegen einer ‚Erbkrankheit’ unfruchtbar gemacht zu werden, war eine Vorstellung, die das Schamgefühl vieler Betroffener und ihrer Angehörigen zutiefst verletzte.“1037 Jahrzehntelanges Schweigen über die Sterilisation gegenüber der sozialen Umwelt, zum Teil selbst gegenüber nächsten Angehörigen oder Lebenspartnern, ist als Folge dieses Schamempfindens ein immer wiederkehrendes Motiv, denn „Scham ist nicht besonders redselig.“1038 „Es ist schon so [...], dass man am liebsten nicht darüber sprechen möchte, weil man ja durch die Gewaltanwendung als Mensch zweiten Grades abgestuft worden ist. Aber um eine eventuelle Entschädigung zu erhalten, habe ich mich jetzt überwunden [...].“1039
1035
Brief von E. M. vom 16.6.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Der Brockhaus, Band 19, 19. Auflage, Mannheim 1992, S. 281 führt zu den psychologischen Aspekten des Schamempfindens unter anderem aus: „Innerlich wird ein Versagen vor einer Idealnorm oder vor den Normen einer relevanten sozialen Gruppe in Form eines peinl. Gewahrwerdens der Andersartigkeit bzw. Minderwertigkeit der eigenen Person erlebt.“ Robert Krieg weist daraufhin, dass „[d]ie ‚Ausmerze’ als beherrschender Gedanke nationalsozialistischer Sozialmedizin […] sich hier in besonders perfider Weise [zeigt]: Sie grub sich so tief in die Köpfe der Opfer ein, dass letztere sie kaum noch in Frage zu stellen vermögen, soweit es ihre eigene Person betrifft.“ Krieg (1984), S. 11. 1037 Brax (2004), S. 170. 1038 Chaumont (2001), S. 15. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der Untersuchung von Horban (1999), u. a. S. 73f., 76, 80, 82, 87, 93, 103. 1039 Brief von B. F. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1036
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Kennzeichnet man Scham überdies als „ein Gefühl, das die Tendenz hat, einen Handlungs- oder Redeimpuls zu hemmen, um möglichen Tadel und damit Minderung des Selbstwertgefühls zu vermeiden […]“,1040 so erscheint das Schweigen als logische Reaktion auf eben dieses, von den Betroffenen vielfach geäußerte Schamempfinden. Scham und Schweigen können dabei auch als eine Reaktion auf die versagte politische und gesellschaftliche Anerkennung der Betroffenen als Opfer eines Verbrechens interpretiert werden. Sie mussten angesichts der politischen, gesellschaftlichen und medizinischen Mehrheitsmeinung der ersten bundesrepublikanischen Jahrzehnte befürchten, bei der Offenlegung des Stigmas der Zwangssterilisation erneute Abwertung zu erfahren. In den Familien war das Thema der Zwangssterilisation oftmals ein weitgehendes Tabu. Die Nichte von Herrn P. berichtet über die Sterilisation ihres Onkels: „Die Auswirkungen auf sein Leben können Sie sich sicher vorstellen. Er hat dann nicht geheiratet, und in der Familie war dies Thema ein Tabu-Thema.“1041 Frau H., die nach der Geburt ihrer Kinder sterilisiert worden war, hatte diesen bis ins hohe Alter nichts von der Zwangssterilisation mitgeteilt. Nun, im Jahr 1993, wollte sie Frau Nowak zusammen mit ihrer Tochter auf dem Evangelischen Kirchentag besuchen: „Da ist jetzt ein Problem. Meine 2 Töchter wissen ja gar nichts von dem ganzen Geschehen. […] Wir müssen halt vorsichtig im Reden sein. Ich habe zu meiner Tochter gesagt, dass ich sie in Bad Ems, wo ich vor 4 Jhr. zur Kur war, kennen gelernt habe, in einem Kaffee in der Stadt.“1042 Zugleich wirkte in einigen Fällen auch das im „Dritten Reich“ verhängte Schweigegebot über die Zwangssterilisation nach, welches den Betroffenen Mitteilungen über das Erbgesundheitsgerichtsverfahren oder den Eingriff weitgehend untersagte: „Fremden Leuten hab ich das verschwiegen so wie es mir im Krankenhaus 1936 empfohlen wurde.“1043 Andeutungen und Leerstellen in den untersuchten Selbstzeugnissen verweisen darüber hinaus auf die Hemmung, das Erlebte und Empfundene überhaupt sprachlich zum Ausdruck bringen zu können.1044 „Ich habe darüber noch nicht schreiben noch sprechen können.“1045 Hierbei könnte die von Michael Pollak in Bezug auf die Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager festgestellte Grundproblematik sprachlichen Ausdrucks eine Rolle spielen, 1040
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, S. 1208. Brief von J. N. vom 14.3.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1042 Brief von M. H. vom 30.5.1993, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1043 Brief von C. K. vom 24.9.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ 1044 So beschränken sich manche Autoren auf Andeutungen: „Ich bin 1935 durch das N. S. Regime sterilisiert worden und zwar im Alter von 16 Jahren. Ich habe mich bis in meinem Alter dafür geschämt. Ich bin nun 68 Jahre.“ Brief von K. F. vom 22.12.19? [aufgrund der biografische Angaben in ihrem Brief vermutlich 1987], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1045 Briefe von R. S. vom 18.3.1991 und vom 20.4.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1041
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denn: „Wie soll man Handlungen, die die Person entwürdigt und gedemütigt haben, mit Anstand und Würde beschreiben?“1046 Zudem spielte gewiss das traumatische Erleben des Eingriffs eine Rolle. So kommt Chris Barneveld in seiner Untersuchung über Ursachen des Schweigens von – insbesondere jüdischen – Verfolgten des Nationalsozialismus zu dem Ergebnis: „Auf der einen Seite gibt es eine Tendenz zu vermeiden. Das erlebte traumatische Geschehen ist derartig mit Angst beladen, dass es bewusst weggesperrt oder automatisch verdrängt wird. Dazu muss noch bemerkt werden, dass manchmal diese traumatischen Geschehnisse in einem derartigen Zustand erfahren wurden, nämlich wie in einer Art Betäubung, Trance, Schock oder anderen Variationen eines eingeschränkten Bewusstseins, so dass kein Festlegen im verbalen Gedächtnis möglich war.“1047
Das Schweigen über den Eingriff und die fehlende Anteil nehmende Umwelt konnte dabei seinerseits negative Folgen haben: „Seinen Schmerz mit keinem teilen zu können, bedeutet nicht nur, dass der Schmerz nicht geteilt wird. Es kann dazu führen, dass der Schmerz pathogen werden, d. h. Krankheiten verursachen kann.“1048 Von einigen Betroffenen werden das Verbalisieren der Zwangssterilisation und die Konfrontation mit der Vergangenheit als ambivalent erlebt. Neben die Erleichterung, das Schweigen zu überwinden, tritt der Hinweis, wie schwer es fällt, darüber zu schreiben oder generell an die Sterilisation erinnert zu werden. So beginnt Frau G. ihren Brief ohne vorherige Anrede mit dem Satz „Es fällt mir nicht leicht so etwas zu schreiben.“1049 Herr S. B. äußert sich ähnlich: „Am 26.11.91 las ich in der Zeitung den Artikel über die Zwangsstelirisierung in 3. Reich. Ich könnte davon 1 dickes Buch hier schreiben. Es
1046
Michael Pollak, „La dynamique du dire“, S. 27, zitiert nach Chaumont (2001), S. 217. In einem Gutachten über eine zwangssterilisierte Frau im Rahmen möglicher „Entschädigungszahlungen“ hält der Gutachter fest: „Das Schrifttum lässt erkennen, dass häufig gerade solche Menschen zwangssterilisiert wurden, die ‚einfach strukturiert’ waren und häufig keine abgeschlossene Schulbildung aufwiesen. Gerade solche Menschen sollen ‚ein feines und differenziertes seelisches Reagieren’ zeigen, das sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Zwangssterilisation dokumentiere. Es falle auf, dass gerade diese Menschen – von Ausnahmen abgesehen – Schwierigkeiten hätten, zu verbalisieren, was ihnen die Unfruchtbarkeit bedeute, inwiefern sie dadurch subjektiv betroffen würden und was sich für Rückwirkungen auf ihr äußeres Leben zeigten.“ Zitiert nach Pross (1988), S. 271. Vgl. hierzu auch Kretz (1967). 1047 Barneveld (2003), S. 186. 1048 Joel de Levita (2003), Zitat S. 72. Vgl. hierzu auch Grünberg (2002). 1049 Brief von A.-E. G. vom 17.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. hierzu auch u. a. Brief von M. E. vom 21.4.1987, Zwangssterilisierte, lebend, BEZ.
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wäre all das besser reden zu dürfen. Obwohl es für mich eine Freude ist das man hier auch solch Opfer anerkennt, streuben sich mir die Haare darüber zu schreiben es war für mich in mein jungen Jahren als ginge ich durch die Hölle [...].“1050
Ein Grund für diese Ambivalenz lag nicht selten in der Angst vor nachteiligen Folgen bei Bekanntwerden der Sterilisation,1051 insbesondere der Angst vor sozialer Isolation.1052 Frau K., welche von ihrem Ehemann verlassen wurde, schreibt „Mein Schweigen über der Sterilisation hat mir bis heute nichts genützt. Den Tag der Einsamkeit habe ich […] vorausgesehen.“1053 Die subjektiv empfundene wie durch das Verhalten der sozialen Umwelt zum Teil faktisch bestätigte Stigmatisierung konnte dabei in einigen Fällen erneut multikausal bedingt sein. Im Fall einer tatsächlichen psychischen Erkrankung und eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik beispielsweise kam das schwierige Verhältnis der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zur Psychiatrie für die Betroffenen erschwerend hinzu.1054 Zudem verlor in diesem Fall eine politische Deutung des Eingriffs – und damit eine eher akzeptierte „missbräuchliche Anwendung“ – an Überzeugung. Auch im Bereich der Beantragung finanzieller „Entschädigung“ und in der Kommunikation mit Behörden oder dem BEZ kommen das Schamempfinden und die Angst vor einer Offenlegung des Stigmas zum Ausdruck. Wiederholt 1050
Er berichtet dabei auch von Misshandlungen durch SS-Angehörige. Brief von S. B. vom 28.11.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. In einem weiteren Brief schreibt er: „Ich danke sehr dafür, für diese schnelle Antwort das man mir helfen will. So sehr wie ich auf diese so schnelle Antwort erfreut war, aber in mir zog sich alles innerlich zusammen. Erinnerungen wurden wach was ich da habe über mich ergehen lassen müssen [...].“ Brief von S. B. vom Dezember 1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1051 Vgl. hierzu zum Beispiel den Brief von H. V. vom 15.2.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ, die berichtet, sie sei im „Dritten Reich“ nachdem ihre Sterilisation ihrem Arbeitgeber bekannt geworden war entlassen worden. Vgl. auch die Aussage einer Betroffenen bei Bingen (1994), S. 249: „Und dann war das Schlimmste, wenn man über die Straße ging, das war ja auch falsch, aber trotzdem, ich habe immer das Gefühl gehabt, das sieht dir einer an, das steht dir auf der Stirn geschrieben.“ 1052 So gibt es Berichte über den Wechsel des Wohnortes, da vermutet wurde, die Sterilisation sei im Heimatdorf bekannt geworden. Vgl. Brief von S. B. vom Dezember 1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang der Brief von E. K. dar, in dem er berichtet, in seinem Ort seien es insgesamt elf „Geschädigte“ gewesen. Anscheinend gab es hier unter den Betroffenen Kontakt oder zumindest wusste man von den Zwangssterilisationen. Stigmatisierungen erwähnt Herr K. nicht. Vgl. Brief von E. K. vom 15.12.[1990/91], Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1053 Brief von H. K. vom 3.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1054 Vgl. hierzu zum Beispiel Brief von M. H. an den Oberkreisdirektor, Amt für Wiedergutmachung, Bergheim vom 5.3.1959, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch Noack (2006).
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äußern die Betroffenen den Wunsch nach Diskretion, um selber „unerkannt“ von der sozialen Umwelt zu bleiben oder aus Rücksicht auf Angehörige.1055 So bittet Frau S. in ihrem Schreiben an den Bundesfinanzminister, in welchem sie eine finanzielle Entschädigung beantragt: „Bitte stellen Sie Ihr Antwortschreiben meiner Tochter [...] zu. Grund: Ich möchte vermeiden, dass dieses bitterste Erlebnis an die Öffentlichkeit gelangt.“1056 [Herv. i. O.] Viele Autoren ersuchen darum, darunter auch diejenigen, die sich in der Vorstandsarbeit des BEZ engagierten und politische Stellungnahmen verfassten,1057 neutrale Briefumschläge, ohne Logo oder Stempel des BEZ, zu verwenden. Nicht zuletzt hierin zeigt sich der Leidensdruck der Betroffenen bis ins hohe Alter. „Einen neutralen Freiumschlag (bitte ohne Absendervermerk) füge ich bei.“1058 [Herv. i. O.] Weiter besteht die Befürchtung, allein durch finanzielle Transferaktionen, „Entschädigungszahlungen“ oder Überweisungen an den BEZ, als Zwangssterilisierter erkannt zu werden.1059 Herr K., der dieses äußert, reflektiert zugleich: „Sicher finden Sie es feige, dass ich mich nicht öffentlich dazu bekennen will, als Sterilisierter angesehen zu werden, aber ich kann nicht anders. Lieber würde ich auf eine Auszahlung aus dem Härtefonds verzichten. Damit meine ich natürlich das Ruchbarwerden unter den lieben Hausgenossen hier im Hochhaus.“1060
Eine andere Betroffene argumentiert ebenso: „Einen Antrag auf Beihilfe möchte ich aus folgenden Gründen nicht stellen. 1. W[] ist so ein kleiner Ort, jeder kennt jeden und ich bin froh, dass bis heute niemand von der Zwangssterilisation weiß und ich möchte es auch jetzt mit meinen 72 Jahren nicht, dass dies noch publik wird. Ich
1055
Für letzteres vgl. zum Beispiel Brief von H. S. vom 21.9.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1056 Der Brief scheint von der Tochter nach einem Diktat der Mutter verfasst worden zu sein. Vgl. Brief vom 23.6.1991, bei K. B. bzw. bei M. S., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ, ebenso Brief von J. B. vom 25.5.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1057 Vgl. zum Beispiel Brief von H. F. vom 18.8.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Dabei konnte allerdings nicht festgestellt werden, ob diese Stellungnahmen auch veröffentlicht wurden. 1058 Brief von K. S. vom 20.9.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1059 So zum Beispiel in den Briefen von W. K. vom 24.9.1987 und vom 25.1.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Im Fall von Herrn H., der für seine Schwägerin um Informationen bittet, äußert auch ein Angehöriger die Bitte, einen neutralen Briefumschlag zu verwenden. Brief von K. H. vom 5.3.1991, bei E. S. Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1060 Brief von W. K. vom 25.1.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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weiß, es ist dumm von mir, aber ich kann diese Hemmungen nicht ablegen. Ich hoffe, Sie haben dafür etwas Verständnis.“1061
Frau K. ersucht den BEZ den Briefverkehr über einen ihrer Brüder zu führen, der über den Eingriff informiert war. Einige Jahre später berichtet sie, seine Frau habe „es weitererzählt. Und wer mich in der Nachbarschaft kennt schaut mich mit großen Augen an. Ich schäme mich. Ach Gott!“1062 [Herv. i. O.] Wenig später beschreibt sie, wie eine Nachbarin sie als „Narr“ bezeichnet habe, „Ich bin todkrank in meinen Nerven, was Sie kann, tut sie mir an, eben weil ich ein Narr bin. […] Sie hat einen körperbehinderten Mann bei sich, der hat gesagt, wir bringen sie auf Lebenszeit ins Narrenhaus!“1063 [Herv. i. O.] Herr B. kritisiert den Umgang mit seinem Leiden im Rahmen der Bearbeitung seines „Entschädigungsantrages“: „Damals von mir gestellter Antrag vor 2 Jahren, wurde mir von Münster beantwortet, obwohl ich ihn in Bonn Eingereicht hatte. Es waren jedes Mal andere Unterschriften, was soll das überhaupt geht so eine Schrift von Hand zu Hand, so etwas ist doch eine Intime Angelegenheit. Giebt es nicht einen Sachbearbeiter, man giebt sich doch nicht jeden Preiß.“1064
Manche Briefautoren geben an, dass sie sich irgendwann in ihrem Leben Menschen aus ihrem sozialen Umfeld anvertraut hätten, mit sehr unterschiedlichen Reaktionen. Zum Teil ist ihnen nach eigenen Angaben mit viel Verständnis und Bestürzung über die Sterilisation begegnet worden, in einigen Fällen wird dagegen von Diskriminierung und Ausgrenzung berichtet: „Vor langen Jahren habe ich durch Fragen, weshalb ich so anders, seltsam + immer bedrückt bin, mich jemand anvertraut, was ich alles als Kind mitgemacht habe. Man zeigte Mitleid. Kurz danach rief man mir ‚Kastrierter Hund’ nach. Sogar meine eigene Schwester [...] tat es auf offener Straße, wodurch auch andere Leute dass hörten, was ich immer doch aus Scham verschweigen wollte. [...] Wir wohnen jetzt in Beiern. Viele fragen, ‚warum habt Ihr so viel Angst? Ja, die Angst die bleibt. Und
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Brief von E. K. vom 21.11.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Briefe von C. K., hier vom 10.6.1995, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1063 Brief von C. K., vom Juli 1995, vgl. auch Brief vom 14.1.1996, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. in diesem Kontext auch den Brief von F. V. vom 11.5.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ, die unter anderem mit Verweis auf ihre beruflichen Leistungen festhält, dass eine „Verrückte“ solches nicht geschafft hätte. 1064 Brief von W. B. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1062
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ich möchte nicht auch hier noch hören, ‚kastrierter Hund.’ Es tut weh, so weh.“1065
Dabei konnten das subjektive Empfinden, stigmatisiert zu sein, beziehungsweise dementsprechende Erfahrungen so weit gehen, dass sie zum eigentlichen Grund des Leidens wurden: „Das Schlimmste war damals nicht der Eingriff, den konnte man verdauen. Man trat in den Hintergrund. Schlimmer waren die Menschen, Mitarbeiter und Christen.“1066 Frau S. berichtet, dass sie sich auch durch das Verhalten von Ärzten gedemütigt gefühlt hätte: „Was waren es oft Demütigungen. Auch Ärzte waren so gemein u. behandelten einem, wie wenn man wirklich blöd sei.“1067 In einem weiteren Brief bringt sie die von ihr so empfundene Missachtung durch die soziale Umwelt insgesamt zum Ausdruck: „Was hat man doch schon Kummer u. Aufregungen wegen dieser Sache gehabt u. nirgend wurde man angehört. Für die meisten war man einfach nicht normal. Hoffentlich wird dies mit der Zeit besser.“1068 In Abgrenzung hierzu wird nicht selten betont, dass man ein „normaler Mensch“ sei und „normal“ gelebt, sich beruflich und sozial integriert habe.1069 „Möchte nur kurz mitteilen; Das ich in Arbeitsdienst u. Marine getint habe. Und bis heute als normaler Mensch mein Geld verdient habe.“1070 Die beruflichen Leistungen des Lebens spielen eine große Rolle, wird doch nicht zuletzt hierin ein Beweis sowohl für die Fehldiagnostik des nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtes wie für die gesellschaftliche „Vollwertigkeit“ – im Gegensatz zur unterstellten „Minderwertigkeit“ – gesehen:1071
1065
Brief von H. M. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief von F. B. vom 20.9.1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1067 Brief von E. S. vom 6.8.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1068 Brief von E. S. vom 1.2.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Dabei scheint für Frau S. die Stigmatisierung oder eine Art Verfolgung mit der Zeit zu einer eigenen, für Außenstehende kaum nachzuvollziehenden, pathologischen Realität zu werden. Vgl. zum Beispiel Brief vom 18.3.1991. 1069 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Kaminsky, der eine Reihe von Interviews mit ausgegrenzten NS-Opfergruppen analysiert. Der Autor berichtet hierbei von dem allseitigen „Bedürfnis nach Normalität“ nach der Verfolgung. Kaminsky (1999), S. 357. 1070 Brief von H. H. vom 20.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1071 Dies wird insbesondere in den verschiedenen Schriftstücken von B. H. deutlich. So schreibt er beispielsweise „Trotzdem habe ich überdurchschnittliche Kenntnisse u. Zeugnisse. War auch immer in leitenden Stellungen wie zum Beispiel Werkmeister, Gewerbeschullehrer.“ Brief von B. H. an Herrn M. vom 3.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; vgl. hierzu auch Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/87. 1066
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„Ich habe also ein Leben lang meine berufliche Tätigkeit nahezu ohne Krankheit ausgeübt und hatte mit meiner angeblichen Erbkrankheit trotz der sehr beanspruchten Nervenbelastung im Beruf keine Schwierigkeiten – warum – weil sie nicht vorhanden war!“1072 „[...] dass wir Zwangssterilisierten uns nach dem Kriege eine bürgerliche Existenz aufbauten und sehr wohl produktiv und kreativ am kulturellen und politischen Leben in der BRD teilnehmen.“1073
Herr S. berichtet, dass er seine Lehre mit „gut“ abgeschlossen hätte, während des Zweiten Weltkrieges zeitweise als Soldat in Russland zur „Partisanenbekämpfung“ eingesetzt worden war und nach dem Krieg seine Meisterprüfung ebenfalls mit „gut“ abgeschlossen hätte. Argumentativ auf diese Fakten aufbauend fragt er: „Ob die Herren der Finanz wirklich glauben, dass ein Erbkranker ein Meisterprüfun machen und dann Betriebsleiter sein kann?“ Mehrere Mediziner wären in Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass bei ihm keine Erbkrankheit vorläge: „Dies der Anlass gegen das Unrecht was man mir zugefügt hat zu kämpfen.“1074 Frau H. argumentiert mit den nicht vorhandenen familiären Krankheitsfällen und den Leistungen ihres Mannes: „Ich möchte Ihnen noch mitteilen, dass weder in der Familie noch in der Verwandtschaft eine Erbkrankheit bekannt ist. Mein Mann brachte schlechte schulische Leistungen u. hatte einen starken Sprachfehler, der aber nicht mehr zu merken ist. Unsere Hausärztin war sprachlos u. konnte es nicht fassen, als wir uns ihr anvertrauen mussten. Mein Mann war sein ganzes Leben lang fleißig, gewissenhaft u. anständig. Durch gute Arbeit wurde ihm der Facharbeiter nach langjähriger Tätigkeit im Betrieb zuerkannt.“1075
Der in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende, und zum Teil durch Mediziner oder andere „Autoritäten“ unterstützte Hinweis, man würde an keiner Erbkrankheit leiden und familiäre Belastungen seien nicht bekannt, 1072
Brief von M. R. vom 18.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Herr R. war dabei nach eigenen Angaben nach einem Nervenzusammenbruch während eines Fronteinsatzes 1942 wegen Schizophrenie sterilisiert worden. Nach dem Krieg war er als Lehrer und Schuldirektor tätig. Vgl. auch den Brief E. P. vom 31.8.1987: „In meinem ganzen Leben hatte ich weder Anfälle, noch sonst ein Handikap, und konnte immer mein Leben verdienen […].“ Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1073 Brief von W. S. vom 24.7.1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1074 „Geschädigtenlebenslauf“ des H. S., undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1075 Brief von der Ehefrau von K. H. vom 24.2.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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folgt mittelbar erneut der „Erbgesundheitslogik“, nach der das Unrecht nicht als eines prinzipieller Art erscheint, sondern auf der Fehldiagnose „erbkrank“ beruht: „Es hat also keine Geisteskrankheit bestanden, welche der Auslöser gemäß den damaligen Erbgesundheitsgesetzen sein konnte.“1076 [Herv. i. O.] Auch die Verweise auf erbrachte Leistungen des Lebens folgen letztendlich dem im Nationalsozialismus in Form der „praktischen Lebensbewährung“ vorhandenem Selektionskriterium: „Ich habe in den vergangenen Jahr viel gelitten und habe 9 Geschwister und die sind alle normal und gesund. Ich bin die Einzige bei der es gemacht worden ist. Weil ich damals heiraten wolte, und nicht wuste wann u. wo der Hittler geboren wurde. [...] Ich war damals als Dienstmädchen tätig in der Landwirtschaft. Da hatte ich keine Zeit für mich um Hittlers geburtsdatum zu kümmern. [...] Mein Vater war 28 Jahre Ortsbürgermeister. Es war eine Schande das man mich wo ich normal u. gesund bin solch ein Schande mit mir gemacht hat. Das haben die katholischen Schwestern damals auch gesagt.“1077
Bei den Argumentationen vieler Betroffener gegen die unterstellte „Minderwertigkeit“ fällt ein Dilemma auf. Durch die Versuche, das eigene, „normale“ Leben und die gesellschaftliche „Wertigkeit“ zu skizzieren und sich zumindest implizit gegen tatsächlich „Erbkranke“ abzugrenzen, werden mittelbar die Kategorien der Täter gestützt und lediglich eine geringe gemeinsame Opfergruppenidentität entwickelt. Hierin liegt ein zentraler Unterschied zu anderen Opfergruppen des „Dritten Reichs“, beispielsweise zu den als jüdisch Verfolgten oder aus politischen Gründen Verfolgten. Ein weiterer Unterschied betrifft die Heterogenität der Betroffenen, von psychisch Kranken über körperlich Behinderte bis hin zu sozial Auffälligen und vielen, die aus diversen Gründen in die Mühlen der „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ gelangt waren. Ihr einziges verbindendes Element war ein negatives, die Stigmatisierung als „minderwertig“ und „erbkrank“. Zudem waren die einzelnen Binnengruppen zum Teil stark vorurteilsbehaftet. Für viele schien die Gleichstellung mit psychisch Devianten oder schwach Begabten nicht vorstellbar. Insofern bedurfte es für eine erfolgreiche Interessenvertretung und beginnende „Wiedergutmachungsleistungen“ an diese Opfergruppe nicht nur einer veränderten gesellschaftlichen und
1076
Schreiben „Vorgang der Sterilisation“ von W. S., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1077 Brief von B. L. – wohl vom Ehemann verfasst – vom 16.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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politischen Sicht auf die Zwangssterilisierten, sondern ebenso eines Einstellungswandels innerhalb der Betroffenengruppe. Sind bei vielen Briefautoren die Zwangssterilisation, ihre Begleitumstände und Folgen zentrale Bezugspunkte, so fallen einige wenige aus diesem Muster heraus. Ihnen ist es gelungen, so scheint es zumindest, sich ein Leben aufzubauen, in dem die Sterilisation zu einem Teil einer weitgehend abgeschlossenen Vergangenheit geworden ist. Frau R. beispielsweise betitelt ihr Schreiben zwar mit „Betrifft: Zwangs-Sterilisation am 18. September 1935 in Mainz an Rhein“, nimmt im Folgenden aber lediglich in einem eingeschobenen Satz hierauf Bezug und schildert vielmehr ausführlich ihre Auswanderung in die USA, ihre drei Ehen und ihr aktuelles, als gut empfundenes Leben.1078 Herr B. resümiert sein Leben ebenfalls positiv: „Alles dieses soll keine Klage oder Beschwerde sein. Es soll nur zeigen, wie verschieden unsere Schicksale sind. Feinde und Freunde sind gegangen – ich bin noch da und kann mich noch selbst helfen. Freuen wir uns für jeden schönen Tag.“1079 Wie bereits in einigen zitierten Aussagen deutlich wurde, spielen insbesondere zwei – idealtypische – Deutungs- und damit partiell auch Verarbeitungsmuster der Zwangssterilisation eine Rolle. So wird von einem Teil der Betroffenen der politische Kontext und Unrechtscharakter der Zwangssterilisationen betont: „Bei meinem Eingriff brach ich völlig zusammen weil ich wusste das es ein Verbrechen ist unschuldige Menschen so einfach zu sterilisieren.“1080 Hierbei entsteht dann oftmals auch implizit oder explizit ein Gruppengefühl im Sinne einer gemeinsamen Identität als Opfergruppe des Nationalsozialismus – nicht unbedingt als Zwangssterilisierte –, so in Formulierungen wie „wir Opfer der NS-Zeit“1081 oder in einer entsprechenden Selbstdefinition: „Ich bin eine aus dem Heer der Zwangssterilisierten aus dem damaligen Faschismus.“1082 Demgegenüber tritt bei anderen Zwangssterilisierten eine stärker „schicksalsorientierte“ Interpretation des Eingriffs und seiner Folgen in den Vordergrund: „Ich denke noch tagtäglich mit der quälenden Frage ‚Warum ist das Schicksal so grausam!“1083 Während die politische Deutung eher zu einer tendenziell 1078
Brief von E. F. R. vom 2.8.1996, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Ein anderer Betroffener schreibt, dass für ihn die Mitteilung, dass sein Leiden keine erbliche Krankheit sei und dass es Menschen hiermit gäbe, die gesunde Kinder und Enkelkinder hätten, ein Schock gewesen wäre. Nun aber sei er „darüber weg“. Brief von H. R. vom 22.6.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1079 Brief von F. B. vom 20.9.1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1080 Brief von F. B. vom 5.9.1994, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1081 Brief von I. S. vom 16.6.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1082 Brief von J. S. vom 10.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1083 Brief von H. P. vom 8.7.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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selbstbewussteren Eigenwahrnehmung und einem aktiveren Verhalten und damit auch zu politischen Forderungen nach Anerkennung und finanzieller „Wiedergutmachung“ führt, legt die Deutung des „Schicksalhaften“ eher ein passives „Aushalten“ des individuellen Leidens nahe. Erhaltene „Entschädigungen“ werden, so ist zu vermuten, stärker positiv wahrgenommen, weitergehende Forderungen entfallen. Bei beiden Deutungsmustern spielten hingegen Scham und ein daraus erwachsenes Schweigen eine große Rolle. Die Zwangssterilisation erscheint als diskreditierend, da sie eine dem Eingriff und dessen ideologischen Hintergründen immanente Minderwertigkeitserklärung intendiert, und im weiteren Sinne mit – schambesetzter – Sexualität konnotiert ist.
2. 2 Einschätzungen der politischen und finanziellen „Wiedergutmachung“ „Was bleibt für uns geschändeten Menschen noch zu hoffen?“1084 In den Unterlagen einiger Zwangssterilisierter befinden sich neben den eigentlichen Briefen an den BEZ politische Stellungnahmen, die sich mit der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus und dem politischen Umgang mit dieser nach 1945 beschäftigen. So schreibt Herr F. eine „Büttenrede zum Karneval“, in der er unter anderem ausführt: „Da gibt es doch auch noch ne Sorte, die nennt sich Erblich krank, die können wir das nichts passiere nicht sperren in den Kleiderschrank. Da sagt der Arzt zu seinem Kollegen hast Du mal was von sterilisieren gehört, ja ja da hast Du Recht das ist die richtige Lösung. Damit wird auch der letzte Rest für immer Ausgemerzt. […] Geschändet gehen wir durchs Leben, verachtet, verspottet von jedermann, dass ist unser Los was uns die Nazis angetan. Nun wollten wir Anerkannte des Bundesentschädigung Gesetzes werden, da hatten wir auch kein Glück, da gibt es bestimmt Leute die weißen das scharf zurück. Nach vielen Jahren des Kampfes drückt man uns unterschiedlich ein Scherflein in die Hand, so nun seit mal schön zufrieden und haltet Euren Rand.“1085
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Brief von A. R. vom 25.8.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Schriftstück „Büttenrede zum Karneval“ von H. F. undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1085
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Neben solchen vereinzelten konkreten Auseinandersetzungen äußern sich viele Betroffene in ihren Briefen zumindest in einigen Zeilen zu der (ausgebliebenen) „Entschädigung“. Insbesondere in den Schreiben bis Anfang der 1990er Jahre kommt die Schwierigkeit der für einen Entschädigungsantrag notwendigen „Beweisführung“ der Sterilisation zum Ausdruck. Zum Teil fehlten schriftliche Unterlagen über das Erbgesundheitsgerichtsverfahren und den Eingriff, bedingt durch Kriegseinwirkung und abgelaufene Aufbewahrungsfristen: „Ich habe mich Bemüht irgend einen Fetzenpapier über mich zu bekommen, vergeblich. Leute von damals sind nicht mehr, was soll ich noch tun? Ein Archiv, wo was sein könnte, ist nicht. Ich bin bald dem Verzweifeln nahe []“,1086 oder durch bewusste Zerstörung: „Die schriftl. Unterlagen habe ich in einem Wutanfall vernichtet“,1087 auch durch oder für Angehörige: „[…] da mein Vater all dies als schlimmen Makel ampfunden hat und alle Unterlagen darüber, vernichtete.“1088 „Wegen der Kinder habe ich auch alles vernichtet, denn diese Leute wurden ja alle wie Deppen behandelt.“1089 In einigen Fällen kann die Narbe, beispielsweise aufgrund von weiteren Operationen im betreffenden Bereich, nicht mehr eindeutig diagnostiziert werden.1090 Immer wieder finden sich Hinweise, wie viel Mühe es den Betroffenen kostete, die notwendigen Unterlagen auszufüllen und Belege zu sammeln. „Ich hoffe nur, wir müssen nicht noch mehr Staub aufwirbeln, um zu unserem Recht zu kommen.“1091 „Ich möchte kampflos aufgeben. Denn, ich selbst kann mich da nicht durchbocksen. So vielerlei muss da beantwortet werden.“1092 „Sie machen sich wirklich keine Gedanken was u. wie schwierig die ganze Geschichte für Aufregung usw.. Letzten sollte ich noch nen Geburtsurkunde v. 1905 aus Magdeburg aufweisen, da doch Magdeburg 1945 arg
1086
Brief von W. B. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Brief von H. W. vom 12.5.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. auch die Angaben von Frau K., die dabei nicht angibt, warum sie die Unterlagen verbrannt hat. Amtsgericht Hamburg-Mitte 56 XIII 2/49. 1088 Brief von G. U. vom 20.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. zum Beispiel auch Brief von K. P. vom 9.12.2004, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1089 Brief von M. Z. vom Juli 1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1090 Zum Beispiel bei Frau H. B., Brief undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; oder auch bei K. H., Brief vom 16.1.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; ebenso bei V. R., Brief vom 22.6.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; hier erkannte die Oberfinanzdirektion den Fall dennoch an. 1091 Brief von Ehefrau von K. H. vom 24.2.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1092 Brief von H. M., undatiert, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1087
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III Perspektiven der Betroffenen
bombardiert wurde war das wieder vergebens. […] Mich hängt nun die ganze Geschichte schon zum Halse raus.“1093
Für Herrn P. stellt der auszufüllende Fragebogen der Finanzdirektion „eine Demütigung und Unverschämtheit zugleich“ dar. Er geht mit seiner Kritik noch weiter: „Was haben die Fragen mit Entschädigung zu tun? Dieser Fragebogen ist im Wortlauft der gleichen wie diejenigen aus der Nazizeit, lediglich die Schrift ist geändert worden. Ich bin nicht gewillt diese Fragen noch einmal zu beantworten.“1094 Nicht nur die notwendigen bürokratischen Formalia, auch die Notwendigkeit, sich erinnern zu müssen, wurde in diesem Zusammenhang erneut als belastend erlebt. „Ich kann auch wenn notwendig Bestätigungen herbeibringen; mir fällt das aber alles ziemlich schwer, weil ich vergessen musste und nach 1945 von keinem Menschen und keiner Institution unterstützt worden bin.“1095 „Aber waß soll ich noch alles über meine Vergangenheit berichten, wo die Jahre hinter mir liegen von meiner Jugendzeit.“1096 Ein weiteres, oftmals angesprochenes Problem bestand im Nachweis eines bleibenden Gesundheitschadens von 40 % beziehungsweise 25 % durch die Zwangssterilisation als Voraussetzung monatlicher Beihilfen. Einige der Hausoder Fachärzte, welche die Betroffenen in diesem Zusammenhang um ein Gutachten gebeten hatten, verweigerten dieses.1097 Zum Teil wurde hierbei auf die altersbedingten Schwierigkeiten einer Anamneseerhebung verwiesen, zum Teil auf die Problematik, physische oder psychische Leiden eindeutig auf die Sterilisation rückzubeziehen. Daneben finden sich auch Fälle, in denen die um ein Gutachten gebetenen Mediziner mit generellem Unverständnis reagierten oder auf die freiwillige Sterilisationspraxis verwiesen. Andere Anamnesen waren ungenügend, da die Dokumentation des Eingriffs nicht ausreichte, sondern der
1093
Brief von W. C. vom 20.2.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Im Weiteren vermutet er, dass noch zu viele „von der alten Garde am Hebel“ sitzen. Brief von A. P. vom 7.3.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1095 Brief von M. L. vom 2.3.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Herr L. lebte dabei in der DDR. 1096 Brief von O. S. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1097 Vgl. z. B. Brief von E. M. vom 20.5.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief vom Pflegesohn von R. N. vom 17.3.1992 und vom 5.8.1992 (an die Oberfinanzdirektion Köln), Zwangssterilisierte lebend, BEZ; Brief von W. C. vom 20.2.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von H. M. vom 16.4.1990; Schriftverkehr bei J. W. P., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. In einem anderen Fall verwies ein Mediziner auf für eine Beweisführung seiner Ansicht nach notwendige invasive Untersuchungen. Vgl. Brief der Nichte (?) von A. N. vom 18.2.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1094
Selbstwahrnehmung und Bewertung des politischen Umgangs
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Gesundheitsschaden dezidiert benannt sein musste. So berichtet jemand aus dem sozialen Umfeld einer Betroffen: „Im Auftrag von Frau […] K[], teile ich Ihnen mit dass sie sich mehrmals um ein ärztliches Gutachten bemüht hat. Die Hinweise für die Erstellung eines ärztlichen Gutachtens, hat Frau K[] stets vorgelegt. […] Da diese Gutachten bei der Oberfinanzdirektion in Köln wo der Antrag gestellt wurde, nicht zufriedenstellend waren, hat sie sich nochmals bei einem Frauenarzt in F[] darum bemüht. […] Der nun eingereichte Bericht des Dr […], entspricht leider auch nicht den Anforderungen. Da Frau K[] keinen Mut mehr hat, sich weiterhin mit diesen Problemen zu befassen, hat sie sich nun endgültig entschlossen, auf eine weitere Beihilfe zu verzichten.“1098
Hinzu kam manchmal ein generelles Misstrauen gegenüber Ärzten und Krankenhäusern, hervorgerufen durch die Be- und Verurteilung durch Mediziner und die im Krankenhaus erfolgte Zwangssterilisation, welches davon abhielt, sich einer Begutachtung zu unterziehen.1099 Das Gutachten musste dabei zum Teil von den Betroffenen selber finanziert werden.1100 In der Folge stoßen das Antragsverfahren und die ganze Konzeption der „Entschädigung“ nicht selten auf Kritik,1101 empören oder überfordern die Betroffenen:
1098
Brief bei H. K., undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. z. B. Brief von K. P. vom 22.7.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. In ähnliche Richtung äußert sich auch eine Betroffene in der Untersuchung von Klevenow (1988): „Wenn es vielleicht das Petruskrankenhaus gewesen wäre, dann hätte ich vielleicht, – dann hätte ich es vielleicht doch getan. Aber Klinikum hab ich furchtbare Angst. Wenn ich da reingehe, dann denk ich immer: Da bist du vor Jahren reingegangen, da haben sie dich kaputtgemacht.“ Ebenda, S. 119. Traenckner (1953) berichtet für die Wiederaufnahmeverfahren in Erbgesundheitsgerichtsprozessen, welche auch ein medizinisches Gutachten vorsahen, dass in Hamburg bis Mitte 1952 bei insgesamt 664 Wiederaufnahmeanträgen 19 Personen eine solche Begutachtung ausdrücklich ablehnten, 40 vor der Untersuchung von ihrem Antrag zurückgetreten seien. Vgl. hierzu auch Bingen (1994), S. 256ff. 1100 Vgl. z. B. Vorgang bei V. R., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. In vielen Fällen wurde das Gutachten offensichtlich unentgeltlich von Prof. Dörner erstellt. Vgl. hierzu u. a. Telefonnotiz vom 24.8.1995 bei H. S., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1101 Auch von Personen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen wird Kritik geäußert. Vgl. z. B. Brief von Frau K. vom 2.4.1995 für und bei Herrn S., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ: „Es ist eine Schande, dass man Menschen, die ohne ihre Schuld ein so schlimmes Schicksal erleiden mussten, immer noch durch die Mühlen der Bürokratie dreht und das wegen 100,- DM monatlich, während Milliarden für nichts verschleudert werden.“ 1099
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III Perspektiven der Betroffenen
„Die Oberfinanzdir. Köln hat mir 14 Fragebogen zugeschickt mit einer Menge schwulstiger Fragen, die ich kaum zu beantworten weiß. Entweder ich warte damit, bis wir uns persönlich wieder mal treffen können und Sie mir dabei helfen können, oder ich verzichte. In den ärztlichen Gutachten wird verlangt einen gesundheitlichen Schaden erlitten zu haben, der mit einen Grad v. 25 % festzustellen ist, was ja überhaupt nicht der Fall ist u. was meine Ärztin auch nicht für richtig hält. Es genügt wohl nicht die vielen Jahre als Mensch zweiter Klasse behandelt worden zu sein. Und da ich den Betrag meines Sparguthabens angeben soll, ist bestimmt keine Aussicht auf eine weitere Beihilfe. Ich bin grenzenlos enttäuscht.“1102 „Nun habe ich mich zwar genau an Ihren Ratschläge gehalten, habe die Anträge ausgefüllt. Ich musste noch andere ausfüllen, die kamen zuerst nach Bonn, dann nach Hannover von dort wurden sie wieder zurück nach Magdeburg geleitet. Dann kamen wieder Formulare die ich unter anderen auch beglaubigen lassen musste […] Ich nehme an, das es sich hier bei uns um Bürokratismus handelt um die Sache auf die lange Bank zu schieben oder gar vergessen zu machen […] Wie sollen wir es noch beweisen […] Wir haben bis jetzt darüber geschwiegen, was beiden [ihr Ehemann und dessen Cousin wurden zwangssterilisiert, S. W.] damals Wiederfahren ist, nun sollen wir uns melden, zwecks wieder Gutmachung und dann macht man solche Schwierigkeiten. […]“1103
Das hier deutliche werdende Unverständnis bezüglich der bürokratischen Hürden und die Ungeduld, mit der Ergebnisse erwartet werden, werden auch durch die Beobachtungen von Monika Bingen in der Beratungsstelle für Opfer der NS-Medizin in Köln bestätigt: „Nachdem die Frauen und Männer oft Wochen, ja Monate gegrübelt haben, ob sie überhaupt einen Antrag stellen sollen, erleben sie die Zeitspanne zwischen Antragstellung und Entscheidung in äußerster Anspannung und Erwartung, hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf Anerkennung und Rehabilitation und der Angst vor erneuter Ablehnung und Enttäuschung.“1104 1102
Brief von M. W. vom 30.9.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Frau W. gibt in ihren Briefen zumeist an, sich körperlich gut zu fühlen, allerdings unter starken Depressionen, insbesondere aufgrund ihrer Kinderlosigkeit, zu leiden. Vgl. Brief von M. W. vom 11.8.2003, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1103 Brief von I. U., der Ehefrau des Betroffenen, bei G. U. vom 27.7.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1104 Bingen (1994), S. 256.
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Viele der Zwangssterilisierten berichten über Versuche, nach 1945 „Entschädigungen“ zu bekommen. Dabei reicht das Spektrum von einmaligen Anfragen, die abschlägig beantwortet wurden, bis hin zu jahrelangen, zum Teil juristischen Auseinandersetzungen mit den zuständigen Verwaltungseinrichtungen und wiederholten Anfragen an Politiker, Bundestagsabgeordnete und Minister:1105 „Im Fernsehen wurde dann 1979 von K.Z. und Judenverfolgung gesprochen. Ich faste mir dann ein Herz und habe den Hausleuten von meinem Schicksal erzählt. Sie waren so erschüttert dass man sich an das Wiedergutmachungamt in Saarburg wandte. Als wir dahin kamen da hat der Herr dem wir den Fall schilderten so gelacht und sich gefreut dass ich den Zeitpungt 1969 versäumt hätte. Ich sagte zu ihm, ich glaube sie haben so eine Freude an meinem Leid dass Sie aus der Hitlerzeit noch über geblieben sind.“1106
Durch die jahrzehntelangen vergeblichen Bemühungen traten bei den Betroffenen vielfach Wut und Enttäuschung, aber auch Resignation auf – Einstellungen, welche durch die seit den 1980er Jahren möglichen finanziellen Leistungen nicht aufgehoben wurden. In Einzelfällen thematisieren die Briefautoren überdies die mangelhafte Strafverfolgung der an dem Prozess der Zwangssterilisation Beteiligten: „Es ist unglaublich, dass man heute noch Ärzte frei herumlaufen lässt, die solche Verbrechen begangen haben.“1107 Im Zusammenhang mit der Einschätzung der finanziellen „Wiedergutmachung“ bewerten Betroffene auch zum Teil die (vergangenheits-) politische Situation in der Bundesrepublik. Abhängig von der Erwartungshaltung des Einzelnen finden sich hierbei sowohl positive Beurteilungen der doch noch geleisteten Anerkennung als auch kritische Perspektiven auf die als solche empfundenen jahrzehntelangen Versäumnisse, die Ignoranz von Politikern und die bis 1105
In einigen Fällen sind in dem jeweiligen Ordner im Archiv des BEZ auch die Bemühungen um „Entschädigung“ des Betroffenen in Form von Schreiben an diverse Stellen archiviert. Vgl. z. B. W. S., Zwangssterilisierte lebend, BEZ. W. S. spricht hierbei von jahrzehntelang andauernder „unwürdiger und beschämender Behandlung durch politische und Verwaltungsinstanzen“. Brief von W. S. vom 24.7.1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch H. S., Zwangssterilisierte lebend, BEZ; H. M., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Für entsprechende Versuche in der DDR vgl. M. L., Briefe vom 2.3.1991 und vom 7.5.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von A. S. vom 21.2.1991, Zwangssterilisierte lebend. 1106 Brief von H. H. vom 9.5.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1107 Brief von P. S., 22.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
in die Gegenwart ungenügende „Entschädigung“ und Würdigung: „Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass es nicht so sein kann wie unter dem N.S.-Regime, dass ich drei Jahre leiden musste, heute in der BRD nun schon fast 40 Jahre vertröstet und gedemütigt werde, dass mit diesem unwürdigen Verhalten uns Geschädigten gegenüber ein Ende sein wird.“1108 „Der Staat hat durch seine Verbrechen und Betrug nicht nur verhindert, dass die Verbrecher bestraft wurden, sondern auch unsere Gesetzliche Entschädigung verhindert!! Und nun schickt sich der Staat an ein zweites mal uns um die Entschädigung zu betrügen durch Fachärztliche Gutachten. Ich habe schon das erste mal als isch erkannt hatte welche Verbrecher der Staat an mir begangen hatte mit Verbitterung und Zorn reagiert ein zweites mal wird’s das nicht geben, und das ist es auch was ich von Ihnen erwarte!!“1109
Der Verweis auf eine „biologische Lösung“ der „Entschädigungen“ für Zwangssterilisierte taucht hierbei ebenso auf wie Hinweise auf die große Zahl von Betroffenen, zum Teil aus dem eigenen Familien- oder Bekanntenkreis, die verstorben waren, ohne eine staatliche Anerkennung oder finanzielle „Wiedergutmachung“ erfahren zu haben:1110 „Und wenn der Staat jetzt, nach so vielen Jahren, den Betroffenen eine Entschädigung anbieten will, so empfinde ich das als Witz. Wenn der Staat noch 5-10 Jahre damit wartet, kann er das Geld sparen, denn dann lebt von uns Betroffenen sowieso keiner mehr.“1111 Andere sprechen die generellen, nicht mehr „aufzuholenden“ Versäumnisse der Vergangenheit an: „Es ist hoch anzuerkennen, dass dieser Bund für Euthanasie-Geschädigten zustande gekommen ist u. nur zu bedauern, dass so viele Jahre unterdessen vergangen sind u. es bestimmt noch viele traurige Schicksale gibt, die nicht in die Öffentlichkeit u. zur Sprache kommen u. dass die Schul-
1108 Brief von W. S. vom 30.10.1989 an die Oberfinanzdirektion Köln, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1109 Brief von O. J. vom 28.6.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1110 Vgl. zum Beispiel Brief von A. O. vom 19.2.1998, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Schreiben von H. F., „Vergessene Opfer der NS Zeit Klagen an!“, undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1111 Brief von K-H. M. vom 1.6.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. hierzu auch Brief von F. B. vom 3.1.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ.
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digen nach dieser langen Zeit, nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.“1112
In den Fällen, in denen die „Entschädigung“ kritisch gesehen wird, richtet sich die Kritik insbesondere gegen die als zu niedrig eingestufte Höhe der Einmalzahlungen wie der laufenden Beihilfen.1113 Dass die Höhe und Form der „Wiedergutmachung“ dem Leiden „nicht angemessen“1114 sei, ist der gemeinsame Tenor zahlreicher Schreiben:1115 „Aber DM 5000,- für Zwangssterilisation – lebenslang – das kann ja kein Demokratisches Recht sein.“1116 „1980 wurden mir DM 5000,- Entschädigung zuerkannt. Das sind 2 Monatsgehälter in meinem Beruf und kein Härteausgleich.“1117 „Es ist natürlich einen Tropfen auf den heissen Stein, für diese Schmach und Schande die man uns damals angetan hat.“1118 „Für die seelischen Qualen, die wir ausgestanden haben, und gesundheitlich heute noch leiden, sind doch wohl 100,- DM im Monat eine traurige Bilanz.“1119
1112 Brief von M. W. vom 12.8.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. auch Brief von K. H. vom 16.1.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. „In all der vergangenen Zeit hat keiner gefragt, wie ich mit diesem Hemmschuh im Leben zurecht komme und ich kann es nicht glauben, dass ich jetzt im Rentenalter noch etwas tun sollte.“ 1113 Klara Nowak, Betroffene und damalige Vorsitzende des BEZ, äußerte sich zudem kritisch zu der als Voraussetzung für die Einmalzahlung notwendigen Erklärung, mit dem Erhalt des Geldes auf alle weiteren Forderungen zu verzichten. Vgl. Nowak (1994), S. 23. 1114 Brief von K. F. vom 2.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1115 Aus der Vielzahl der entsprechenden Stellungnahmen hier nur einige weitere Beispiele: „Wie Sie richtig bezeichnen, ist die Abfindung der Ansprüche mit DM 5000,- ein Skandal. Viele von uns leben nicht mehr und wie ich die Dinge in der DDR sehe, haben die Götter zur Zeit andere Sorgen.“ Brief von L. A. vom 4.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. „5000 DM. Die vom Sozialamt monatlich wieder stückweise abgenommen werden sind kein Ersatz für ein halbes Frauenleben!“ Brief von H. E. vom 5.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Dabei ist anzumerken, dass die „Entschädigungssumme“ nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wurde. 1116 Brief von F. A. vom 2.11.1999, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1117 Brief von W. S. vom 30.10.1989 an die Oberfinanzdirektion Köln, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Ähnlich Frau W., Brief von F. W., undatiert an die Oberfinanzdirektion Koblenz, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1118 Brief von I. S. vom 13.7.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1119 Brief von U. S., undatiert, (Vermerk: März 92), Zwangssterilisierte lebend, BEZ.
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III Perspektiven der Betroffenen
„Kann man einem Menschen wie mir für 5000,- DM mein eigenes – Ich wiedergeben?“1120 „[…] und bekam von dort nach vorheriger versicherung meinerseits, dass ich vorerst keine Ansprüche auf weitere Entschädigung stelle 5000,- DM. (Schweigegeld).“1121
Dabei kam es gelegentlich zu einer Konkurrenz mit anderen Opfergruppen.1122 So werden unter anderem Zahlungen oder politische Anerkennungen gegenüber „rassisch“ Verfolgten,1123 insbesondere jüdischen Opfern,1124 oder Opfern der SED-Diktatur1125 der eigenen Situation gegenübergestellt: „Ich lese und höre immer nur Zwangsarbeiter. Und wo bleiben die zwangssterilisierten???“1126 Empfänger monetärer staatlicher Leistungen, beispielsweise Asylbewerber1127 oder Behinderte1128 und die generellen Staatsausgaben1129 werden in diesem Kontext ebenfalls kritisch angeführt. Als politische Forderungen nennen Betroffene veränderte Rahmenbedingungen der „Entschädigungszahlungen“, höhere finanzielle Leistungen oder anderweitige Vergünstigungen: „Die Regierung soll unsere Rente etwaß besser erhöhen, auch bei mir. Den ich musst ja mein Lebensglück in den jungen Jahren opfern durch diesen Blötsinn von den Nazis.“1130 Die monetäre Seite hat für viele Zwangssterilisierte aufgrund ihrer oftmals sehr niedrigen Rente eine große Bedeutung, mit ihr verbindet sich die Hoffnung, sich einige materielle
1120
Brief von J. N. vom 4.9.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Brief von W. K. vom 9.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1122 Vgl. z. B. Brief von W. S. vom 14.5.1990 an die Oberfinanzdirektion Köln, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Vgl. hierzu auch z. B. Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/80. 1123 Vgl. z. B. Brief von K-H. M. vom 1.6.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1124 Vgl. z. B. Brief von M. W. vom 21.6.2005, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1125 Vgl. z. B. Schriftstück „Büttenrede zum Karneval“ von H. F. undatiert, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1126 Brief von F. A. vom 2.11.1999, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1127 So im Brief von A. O. vom 11.1.2004, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1128 Vgl. zum Beispiel Brief von A. P. vom 9.11.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Hierbei nennt sie zudem die jüdischen Opfer, die „Entschädigungsgelder“ bekämen. 1129 Vgl. zu Letzterem beispielsweise Bericht von A. K., u. a. an Frau Süßmuth und das ZDF gesandt, bei A. K., Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1130 Brief von O. S. vom 31.10.1988, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Frau S. schlägt dabei auch die Einführung eines NS-Verfolgten-Ausweises vor. 1121
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Bedürfnisse und Wünsche erfüllen zu können, zu reisen und insgesamt einen „schönen Lbensabend“ verbringen zu können.1131 Weitere Kritikpunkte betreffen die Koppelung der Höhe der monatlichen „Entschädigungszahlungen“ an die aktuelle finanzielle Situation und die Einbeziehung des Einkommens des Partners: „Ich finde es ja sehr traurig das man nach Einkommen jeweils diese Rente berechnet u. nach Einkommen bzahlt. Denn diese Körperschädigung hat bestimmt nichts mit arm u. reich zu tun u. finde es wirklich zynisch wie mir die Fraktionen von Bonn dieses so mitteilen […].1132 „Ich hätte gern eine Frage, warum wird die Rente von meinem Mann mit angerechnet. Ich habe doch gebüßt und nicht mein Mann. Ich war erst 14 Jahre alt. Meine Altersrente beträgt 102,- DM Ich kann das nicht verstehen [...] Mit diesem Geld bin Ich nicht einverstanden, dafür habe Ich zuviel büßen müssen, dieses kann nicht wieder gutgemacht werden. Es wird Zeit, dass eine neue Regulung getroffen wird, so das die Rente vom Ehemann nicht angerechnet wird. Dafür war die Buße zu schlimm.“1133
Durch dieses Vorgehen wurde dabei nicht nur die Höhe der finanziellen Leistungen reduziert, dadurch verlieren die Zahlungen auch ihren Charakter als „Ausgleich“ für erlebtes staatliches Unrecht und bekommen den Charakter von
1131 Brief von H. B. vom 1.4.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; vgl. hierzu auch Brief von A. R. vom 25.9.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ; Brief von K. R. vom 29.11.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. auch: „Durch das Gehörte in Fernsehn, habe ich wieder Hoffnung, dass, das Schwere, das mir zugefügt wurde an Körper und Seele, mir Hilfe gewährt wird.“ Brief von M. E. vom 9.4.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. „Ich bin jetzt dankbar und bekomme monatlich 483,27 DM für die Gesundheitsschaden. Damit bin ich zufrieden, solange ich lebe.“ Brief von H. S. vom 12.4.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Ähnlich Heiselbetz (1992), S. 95ff. Vgl. auch zum Beispiel Brief von H. S. im Rahmen seines Wiederaufnahmeverfahrens, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2386. 1132 Brief von F. B. vom 3.1.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Vgl. auch Brief von H. K. vom 13.12.1988, Zwangssterilisierte, lebend, BEZ „Mein Antrag bei der Oberfinanzdirektion Köln [...] ist am 17.10.88 abgelehnt mit der Begründung, dass ich über dem Satz stehe. Eigentlich müsste da kein Unterschied gemacht werden, denn alle sind ja gleich geschädigt.“ 1133 Brief von M. K.-M. vom 30.9.1989, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Auch Frau S. redet bei der medizinischen Begutachtung im Rahmen ihres Wiederaufnahmeverfahrens von der Zwangssterilisation als einer Buße. Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2409.
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„Almosen“.1134 Die finanziellen Leistungen müssen auf den Gegenstand, die Zwangssterilisation im „Dritten Reich“ – „Entschädigung für das mir schuldlos angetane Leid“1135 – bezogen bleiben, sonst verfehlen sie einen wesentlichen Aspekt der „Wiedergutmachung“ und werden dem immer wieder deutlich werdenden Bedürfnis der Betroffenen nach Anerkennung nicht gerecht: „Wiedergutmachung mit den Opfern ist keine Schande, sie führt auch nicht über Sozialbelastbarkeit. Wir wollen kein Mitleid, wir wollen Gerechtigkeit.“1136 In einigen Fällen thematisieren Zwangssterilisierte die fehlende gesellschaftliche und politische Anerkennung explizit: „Sonst steht man ja jämmerlich alleine auf weiter Flur, vor unglaublicher Verständnislosigkeit, als wenn es überhaupt keine neue Zeit nach 1945 gäbe.“1137 Klara Nowak, die selbst zwangssterilisierte langjährige Vorsitzende des BEZ, hielt hierzu 1994 fest: „Die Nichtanerkennung unseres Schicksals als NS-Verfolgte und die vielen Beweisführungen, die wir immer wieder und ohne Erfolg anbringen mussten, sind das zweite Trauma, das wir erlebt haben.“1138 Im Brief von Herrn S. wird die fehlende Anerkennung als Grund des Schweigens angeführt: „Solange wir nicht anerkannt sind, können wir immer nur schön schweigen und unser Geheimnis bei uns herumtragen.“1139 Fehlende Anerkennung bedeutet damit in der Konsequenz, „sich nicht mitteilen zu können, sich nicht mitteilen zu dürfen; es bedeutet, allein mit seinem Elend dazustehen.“1140 Dorothee Roer kennzeichnet den Umgang mit den Betroffenen nach 1945 vor diesem Hintergrund als eine „Fortsetzung von Demütigung, seelischer Verletzung und sozialer Ausgrenzung“, die sie in Anlehnung an Keilson als „sequentielle Traumatisierung“ beschreibt.1141 Die Bedeutung der politischen und gesellschaftlichen Anerkennung der Opfer und ihrer Leiden wird auch in der Forschung über die insbesondere jüdischen Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung und ihre Nachkommen immer wieder betont. Diese äußert sich auf verschiedenen Ebenen. Ist Aner1134
Vgl. z. B. Brief von W. S. vom 23.2.1990 an die Oberfinanzdirektion Köln, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1135 Brief von G. U. vom 20.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1136 Undatiertes Schreiben von H. F. mit der Überschrift „Liebe Mitbürger“, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1137 Brief von E. H. vom 20.5.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1138 Nowak (1994), S. 22. 1139 Brief von K. S. vom 1.8.1993, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Dabei berichtet Herr S. in anderen Schreiben auch ausführlich von seiner Zeit in einer psychiatrischen Klinik, in der er viel Gewalt erfahren hat. Wahrscheinlich dürfte sich sein Wunsch nach Anerkennung auch darauf beziehen. Vgl. zum Beispiel „Die Henker und das Wunder von Bayreuth“, undatiert. 1140 Lansen (2003b), S. 203. 1141 Roer (2005), S. 193f.; vgl. hierzu auch Keilson (1979).
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kennung zum einen die Voraussetzung für die Gewährung von materiellen wie immateriellen Leistungen, so besitzt sie für die Betroffenen zugleich einen sehr hohen symbolischen Wert. Johan Lansen hält fest, dass „das Erste, was wir aus der klinischen Arbeit mit diesen Menschen lernen können, ist, dass die Hilfe für diese Opfer eng mit der Gesellschaft und ihrer Einstellung zu den Opfern verbunden ist.“1142 Die gesellschaftliche Anerkennung werde hierbei für das „beschädigte Selbstwertgefühl“ der Betroffenen zu einem wesentlichen Element bei der Bewältigung des Leidens. Eine praktische Möglichkeit der gesellschaftlichen und politischen Anerkennung stellt die Zahlung von „Entschädigungsgeldern“ dar: „Die gesellschaftliche Anerkennung kann nicht allein durch Worte erfolgen. In unserem Rechts- und Regierungssystem wird gezahlt, wenn ein Schaden entstanden ist. Geld konkretisiert für die Opfer die Bestätigung der Verantwortlichkeit, die Unrechtmäßigkeit, sie/er ist nicht schuldig und jemand trägt Sorge dafür.“1143 Hierbei geht es nicht in erster Linie um die Höhe der Summe der finanziellen „Wiedergutmachung“, wie William Niederland festhält, sondern um „die ihnen damit zugebilligte Anerkennung ihres Leids und Leidens.“1144 Der Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“, kam hingegen Anfang der 1960er Jahre zu dem – wohl nicht zuletzt ministeriellen Eigeninteressen geschuldeten – Ergebnis, eine Rehabilitation von „Personen, die durch die Sterilisation in ihrem sozialen Ansehen geschädigt sein könnten“, lasse „sich natürlich nicht durch eine Entschädigungszahlung erreichen. Die hierzu angestellten Überlegungen haben noch zu keinem Ergebnis geführt.“1145 Dass monetäre Leistungen, gleich welcher Höhe, dem Bedürfnis nach Anerkennung nur dann gerecht werden können, wenn sie mit „einer angemessenen Botschaft einhergehen“, betont Jean Michel Chaumont.1146 Für die hier interessierende Opfergruppe der Zwangssterilisierten dürfte insbesondere seine Feststellung von Bedeutung sein, dass „[…] die Entschädigung für die erlittene 1142
Lansen (2003a), S. 169; vgl. hierzu auch Lansen/Rossberg (2003), S. 11. Rossberg (2003), S. 111. Bezüglich der weiteren Ausgestaltung der finanziellen „Wiedergutmachung“ hält er fest: „Eine einmalige Zahlung hat nicht den gleichen heilenden Effekt wie eine regelmäßige Zahlung. Die monatliche Zahlung schwächt das Gefühl, es hätte an einem selbst gelegen.“ Ebenda. Allerdings ist in diesem Kontext auch eine diesbezügliche Ambivalenz zu berücksichtigen, wird sie doch von einem Teil der Betroffenen auch als regelmäßige, unerwünschte Erinnerung an die Verfolgung erlebt. Vgl. zum Beispiel das im Folgenden skizzierte Interview mit Frau M. aus Hamburg. 1144 Niederland (1989), S. 359. 1145 Bericht des Bundesfinanzministers „zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ an den Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages vom 1.2.1961, S. 74, abgedruckt bei Dörner (1986a). 1146 Chaumont (2001), S. 304. 1143
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Kränkung […] vor allem dadurch [erfolgt], dass der Diskurs der herrschenden Kultur revidiert wird.“1147 Dies müsste sich dabei nicht nur auf die konkrete Rehabilitation der Betroffenen beziehen, sondern zugleich auf eine kritische Auseinandersetzung mit den genetischen Zielvorstellungen und den ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Werturteilen. In diesem Kontext scheint von zentraler Bedeutung zu sein, dass der Zwangssterilisation ein gerichtliches Urteil vorausging, welches seine Gültigkeit nach 1945 behielt. Hierbei handelte es sich somit um eine staatliche Verordnung zum Verbot der individuellen Reproduktion und zum partiellen Ausschluss aus der Gesellschaft, die nach 1945 eben nicht für Unrecht erklärt wurde. Die staatliche Legitimation des Verbrechens gibt diesem damit eine weitere Dimension, auch wenn sie selten derart betont wird, wie im Brief von M. J. G.: „Vom Erbgesundheitsgericht Bonn wurde ich […] ‚Im Namen des Deutschen Volkes’ mit 16 Jahren […] zwangssterilisiert.“1148 [Herv. i. O.] Vor diesem Hintergrund erhält die staatliche Würdigung des Unrechtscharakters eine besondere Bedeutung: „Wir beide, mein Mann und ich, haben eine Kinderlose Ehe; das Geld ersetzt nun zwar nicht das fehlende Kind, aber es ist für uns trotzdem wichtig, jetzt ein Gefühl zu besitzen, dass die jetzige Regierung etwas für das Unrecht des 3. Reiches getan hat, und dieses Recht auf Entschädigung auch uns ehemaligen DDR-Bürgern zukommen lässt.“1149
Monika Bingen kommt in ihrer Arbeit ebenfalls zu der Einschätzung, „dass trotz zum Teil erheblicher finanzieller Sorgen und Nöte die moralische Rehabilitation noch wichtiger ist als die materielle. Die Aufarbeitung und Würdigung der individuellen Lebensgeschichte rückt in den Mittelpunkt des Beratungsgesprächs, in dem es vordergründig ‚nur’ um 5 000 DM geht […].“1150 Auch in den Fällen, in denen die geleistete „Wiedergutmachung“ positiv bewertet wird, spielt das Moment der Anerkennung, welches für diese Gruppe der Betroffenen hiermit verbunden ist, eine herausragende Rolle: „Ich danke das man ein solch Verbrechen doch noch anerkennt. [...] Ich hoffe das so was nie wieder an Menschen getan wird.“1151 „Eine kleine Entschädigung und Genugtuung ist es ja doch und habe mich auch sehr darüber gefreut!“1152 1147
Ebenda, S. 310. Brief von M. J. G. vom 1.7.1992, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1149 Brief von G. u. J. H. vom 6.9.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1150 Bingen (1994), S. 244. 1151 Brief von S. B. vom 28.11.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1148
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„Somit hat mein Kämpfen sich doch noch gelohnt, nach 40 Jahren.“1153 „Ich freue mich dass ich die 5000,- DM bekommen habe und es noch erleben durfte. Es ist mir eine große Hilfe, da meine Rente gering ist. Außerdem ist es für die Menschen, die davon betroffen wurden auch eine Gerechtigkeit.“1154 „Das so was mal Wirklichkeit würde hätten wir nicht geglaubt. Man hatte sich ja schon lange damit abgefunden das diese Menschen mit diesem Makel ihr Leben lang gekennzeichnet sind.“1155
Neben der politischen und damit gleichsam offiziellen Rehabilitierung ist die Bestätigung des Leidens ein wichtiges Element. Finden viele Briefautoren dieses in der Gründung und den Aktivitäten des BEZ als einer Selbsthilfeorganisation, so benennt Herr H. die Rolle der Wissenschaft und insbesondere der Medizin: „Dass überhaupt psychische Schäden von anerkannnten medizinischen Wissenschaftlern ernst genommen werden, die ja meist unterschwellig aktiv sind, ist eine Stärkung des Betroffenen, die man sich sehr wünscht. So ist doch das Resultierende aus den damaligen NS-Maßnahmen heute noch spürbar. Das will ja gar nicht aufhören.“1156 Ähnlich äußert sich Herr K.: „Vor allem bin ich, nach dem lesen Ihrer beigefügten Zeilen, über die Gründung des Bundes froh, dass mal eine Persönlichkeit der medizinischen Seite [gemeint sein dürfte Prof. Dörner, S. W.] zu dießem großen Unrecht der Vergangenheit steht. Wenn ich Ihnen mein Einsatz bis zu Rückoperation mit allen Einzelheiten unterstützt von 2 Anwälten u. einem Landgerichtsrat schilder soll es würde noch mal 3-4 DH 4 Seiten füllen. Aber nach meiner persönlichen Erfahrung u. Übersicht lebt aus dießer Zeit noch ein groß Teil dießes vergangenen Unrechts fort.“1157
Die Bedeutung der Anerkennung ihrer Leiden und des Verbrechenscharakters der Zwangssterilisation für die Betroffenen wird auch durch die Studie von Corinna Horban unterstrichen. Sie verband ihre 1999 erschienene Untersu1152
Brief von W. K. vom 17.8.1990, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief von A. P. vom 8.8.1989, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1154 Brief von E. P. vom 13.12.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1155 Brief von M. S. (bzw. seiner Ehefrau) vom 15.5.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1156 Brief von E. H. vom 3.1.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1157 Brief von W. K. vom 9.6.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Insbesondere die Medizin sieht Herr K. kritisch. 1153
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chung von zwangssterilisierten ehemaligen Patientinnen der Münchener Universitätsfrauenklinik mit einer formellen Entschuldigung von Seiten der Klinik. Diese hatte für die Betroffenen „einen großen symbolischen Wert“: „Das Eingeständnis ungerechter Behandlung und der Ausübung von Zwang durch die Ärzte dieser Klinik war für die zwangssterilisierten Frauen ‚wie ein warmer Stoß ans Herz’, wie eine der Frauen bekannte und eine Chance für die Bearbeitung ihrer Lebenswirklichkeit.“1158 Auch Irene Heiselbetz kommt in ihrer Untersuchung über zwangssterilisierte Bewohner der Anstalt Bethel zu dem Ergebnis, dass die durch die „Entschädigung“ erweiterten finanziellen Spielräume sowie – zumindest in einigen Fällen explizit geäußert – die Anerkennung des Unrechtscharakters für die Betroffenen von Bedeutung waren.1159 Eine von ihr befragte Zwangssterilisierte urteilte hingegen: „Die Wiedergutmachung ist so, dass der Staat beruhigt ist.“1160 Häufig findet sich gleichwohl in den Briefen der Betroffenen der Hinweis, dass – unabhängig von der Höhe möglicher „Entschädigungszahlungen“ – eine „Wiedergutmachung“ des jahrzehntelangen Leidens und der genommenen Lebenschancen nicht möglich sei:1161 „Ich hoffe auch, das es mir gelingt eine kl. Entschädigungrente zu bekommen. Gut machen, mit Geld, kann mir sowieso kein Mensch diese seelische + körperliche Grausamkeit! Aber etwas besser leben möchte ich.“1162 „Von einer Wiedergutmachung im Sinne des Wortes kann ja niemals die Rede sein. Wir haben zu viel durchstehen müssen in all den Jahren! Was wir an Demut u. Komplexen in den Jahren zu überwinden hatten kann nur derjenige Beurteilen der alles selbst durchstehen musste. Dass man uns so lange vergessen hat ist schon deshalb unverantwortlich weil viele 1158
Horban (1999), S. 119f. „Nun wollen sie das mit Geld entschädigen. Das ist nun auch nicht die richtige Sache. Die Würde des Menschen ist doch verletzt. Kinder zu haben und Verständigung mit anderen Menschen und was so dazugehört, das war mir doch so gewissermaßen genommen. […] Die Entschädigung wäre nicht geschehen, wenn es nicht als Unrecht anerkannt worden wäre. Mir ist erst so 1987 etwa gesagt worden, dass dies als Unrecht anerkannt ist. Es ist jetzt ganz schön im Alter, ich muss immer mal den Rollstuhl reparieren lassen und habe mir diesen Sessel zur Ruhe gekauft, so was Schönes kann ich mir nun leisten.“ Vgl. Heiselbetz (1992), S. 96; S. 100f. 1160 Ebenda, S. 98. 1161 Vgl. hierzu auch die Berichte bei Bingen (1994), S. 263f. 1162 Brief von H. E. vom 9.7.1988, Zwangssterilisierte lebend, BEZ; vgl. auch Brief von A. S. vom 1.4.1993, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1159
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von uns schon lange gestorben sind! Nach Sachlage erwarte ich keinerlei Handlungen grösserer Art.“1163
Gelegentlich wird in den Briefen auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich dafür einzusetzen, dass es solche politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie zur Zeit der Zwangssterilisation nicht mehr geben dürfe: „Nach jahrelangen Kämpfen [...] wurde ich im Dezember 1980 vorläufig mit 5000,- DM abgefunden. Das allein aber ist es nicht, was mich bewegt. Dass wie damals kleine NS-Dorfgrößen unschuldige Menschen ‚aufs Schaffott’ schicken konnten oder wer immer Hand an Menschen legt, die nichts getan haben als anderen ein ‚Dorn im Auge zu sein’, das soll es nie mehr geben dürfen.“1164
Es wird die Kontinuität der Akzeptanz des GzVeN problematisiert: „Ich hatte damals vorausgesetzt, dass die ‚Nazigesetze von 1934‚ aufgehoben worden sind. Äusserst befremdend war für mich, dass dieses nicht der Fall ist! Das war ein Punkt der einer event. Rücksiedelung [Herr H. lebte in Schweden, S. W.] meinerseits in die B.R.D. gegenüberstand!1165
Oder es wird auf die als problematisch empfundenen aktuellen politischen oder wissenschaftlichen Entwicklungen Bezug genommen. So beispielsweise in dem Brief der gehörlosen A. O.: „Warnung, heute wieder Wissenschaft über Genarbeit.“1166 Weisen die bisherigen Ausführungen auf die enorme Bedeutung der Anerkennung für die Betroffenen hin, so soll im Folgenden versucht werden, mit Hilfe theoretischer Überlegungen von Axel Honneth, der Anfang der 1990er Jahre die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ untersuchte, dieser mit Hilfe einiger Überlegungen aus dem Bereich der Soziologie weiter nachzugehen.1167 Im Kontext sozialer Anerkennungsverhältnisse hebt Honneth zunächst den „[…] unauflöslichen Zusammenhang, der zwischen der Unversehrbarkeit und Integrität menschlicher Wesen und der Zustimmung durch andere besteht“, 1163
Brief von B. H. an Herrn M. vom 3.5.1987, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. Brief von W. S. vom 28.7.1987, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1165 Brief von B. H. vom 1.1.1990, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1166 Brief von A. O. vom 7.1.1995, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1167 Vgl. zu Folgendem Honneth (1992), v. a. S. 212-225. Zur Anerkennungsfrage vgl. auch Heck (2003). 1164
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hervor.1168 Hierbei unterscheidet er drei „Tiefengrade“ von Missachtungen, welche alle drei auf die Opfergruppe der Zwangssterilisierten zuzutreffen scheinen. Die elementarste Form einer solchen Missachtung betrifft nach Honneth „die Schicht der leiblichen Integrität einer Person“. Diese „leibliche Integrität“ wird von zwangsweisen Eingriffen zur Unfruchtbarmachung betroffen, welche zudem staatlich legitimiert wurden. Der gleichsam offizielle Unrechtsgehalt dieser Maßnahmen ist hierdurch – im Unterschied zu den von Honneth genannten Beispielen Folter und Vergewaltigung – uneindeutig, ein Aspekt, der die Betroffenen, so ist zu vermuten, zusätzlich belastete. Die zweite Ebene von Missachtung betrifft den strukturellen Ausschluss von bestimmten Rechten in einer Gesellschaft. Im Unterschied zur ersten Ebene, welche die Zwangssterilisierten in ihren physischen und psychischen Folgen tendenziell zeitübergreifend betraf, bezog sich der strukturelle Ausschluss von Rechten nur auf die Zeit des „Dritten Reichs“. Gleichwohl konnte er in diesem Zeitraum, wie einige der bereits zitierten Aussagen von Betroffenen deutlich machen von großer Bedeutung sein, insbesondere im Ausschluss von Heiratsmöglichkeiten. Das von Honneth bei dieser Art von Missachtung genannte Empfinden, „[…] nicht den Status eines vollwertigen, moralisch gleichberechtigten Interaktionspartners zu besitzen […]“,1169 kommt in diesem Eheverbot wie in kaum einem anderen Bereich zum Ausdruck. Die dritte Ebene bezieht sich schließlich nach Honneth auf die soziale Wertschätzung, mit deren Verweigerung auch ein „Verlust an persönlicher Selbstschätzung“ einhergehe. Auch hiervon waren die Zwangssterilisierten betroffen, wies man ihnen doch jahrzehntelang explizit oder – nach 1945 – implizit den Status der Minderwertigkeit zu. Dennoch bleibt hierbei zu beachten, dass das Stigma der Sterilisation kein offenes ist, da die Betroffenen, im Unterschied beispielsweise zu Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe gesellschaftliche Geringschätzung erfahren, selber darüber entscheiden konnten, ob sie dieses offen legen oder nicht. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen erscheinen viele der skizzierten Reaktionen der Zwangssterilisierten, insbesondere die empfundene Scham und das Schweigen, erneut wesentlich von dem gesellschaftlichen Umgang mit diesem Teil der nationalsozialistischen Vergangenheit beeinflusst. Aber nicht nur die individuellen, auch die kollektiven Verhaltensweisen der Betroffenen können vor diesem Hintergrund erweitert interpretiert werden. Folgt man erneut den Überlegungen Honneths, dass das betroffene Subjekt sich das Unrecht erst kognitiv erschließen muss, so erscheint die misslungene Interessenvertretung in den 1950er Jahren auch hierin einen Grund zu finden. Sowohl die zumindest teilweise mangelhafte Solidarität 1168 1169
Honneth (1992), S. 212. Ebenda, S. 216.
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innerhalb der Gruppe der Betroffenen und die vorhandene individuelle Scham als auch der fehlende politisch-gesellschaftliche Rahmen verzögerten somit eine solche Aktivität bis in die 1980er Jahre, denn „[…] ob das kognitive Potential, das den Gefühlen der sozialen Scham und des Gekränktseins innewohnt, zu einer politisch-moralischen Überzeugung wird, hängt empirisch vor allem davon ab, wie die politisch-kulturelle Umwelt der betroffenen Subjekte beschaffen ist – nur wenn das Artikulationsmittel einer sozialen Bewegung bereitsteht, kann die Erfahrung von Missachtung zu einer Motivationsquelle von politischen Widerstandshandlungen werden.“1170
Somit wird die staatlich-gesellschaftliche Anerkennung zur unabdingbaren Voraussetzung einer Überwindung der Verletzung des Selbstwertgefühls. Aber auch die erneute ideelle Einnahme der individuellen gesellschaftlichen Position wird hiervon abhängig. Weil diese Anerkennung jahrzehntelang ausblieb, so lässt sich schließlich vermuten, blieb der einzelne Betroffene quasi außerhalb der Gesellschaft, sein Leiden, welches im „Dritten Reich“ einen Ausgangspunkt hatte, setzte sich fort, auch wenn Staatsform und -ideologie andere geworden waren.
1170
Ebenda, S. 224f.
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3. „Ich hoffe [...], ich konnte Ihnen einen kleinen Einblick in unser Leben geben“1171 3. 1 Zwei Betroffene in Briefen Während auf den vorigen Seiten versucht wurde, anhand thematischer Muster Elemente der in zahlreichen Quellen auftauchenden Selbstwahrnehmungen der Zwangssterilisierten aufzuzeigen, sollen im Folgenden die Sichtweisen zweier Betroffener auf der Grundlage ihrer Briefe detaillierter skizziert werden. Da habe ich mir ein Herz gefasst Frau F. schreibt mehrere, zumeist etwa ½- bis 1-seitige Briefe an den BEZ. Sie beginnt ihren ersten Brief vom 9. März 1991 mit den „Fakten“ ihres Lebens, Namen, Geburtsdatum und -ort, ohne vorherige Anrede, um dann unmittelbar auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen, allerdings ohne den Begriff Zwangssterilisation zu erwähnen: „Da ich es in der Zeitung gelesen habe, da habe ich mir erlaubt zu Schreiben, mehr wie eine Absage, kann mann nicht bekommen.“ Hieran schließt sich die äußerste kurze Schilderung ihrer Sterilisation und einige der hieraus erwachsenen Konsequenzen an, wiederum ohne den Begriff selber zu verwenden: „Ich war damals 18 Jahre, das war im Jahr 1935. Ich hatte dann mit 26 Jahren geheiratet, mann musste einen Mann heiraten, der des gleichen war: Das war auch in der Zeitung bekannt gegeben. Da gab es eine Stelle wo mann sich hinwenden muste. Und da bekam mann einige Adressen zugeschickt.“1172
Offensichtlich waren für Frau F. die Sterilisation und die Heirat mit einem ebenfalls sterilisierten Mann Elemente einer Kausalkette, die ihr Leben bestimmen sollte. Sie erwähnt keinerlei Protest oder den Versuch, sich gegen die staatlichen Restriktionen aufzulehnen. Nach diesen Angaben endet ihr Brief, ohne Forderungen oder Fragen zu äußern.1173 Vier Wochen später schreibt sie wieder, diesesmal redet sie direkt Frau Nowak an. Sie bedankt sich für die Informationen, die sie in der Zwischenzeit offenbar vom BEZ bekommen hat. Der gesamte weitere Inhalt des Briefes befasst sich mit ihrer Ablehnung, finanzielle „Wiedergutmachung“ zu beantragen: „Da ich es jetzt verschwiegen habe, 1171
Brief von der Ehefrau von K. H. vom 24.2.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief von G.F. vom 9.3.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1173 Ebenda. 1172
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werde ich es weiter tuhn. Ich habe niemals was gesagt, auch dem Hausarzt nicht. Bitte verzeiheihen Sie mir, das ich angeschrieben habe. Niemand weiß was davon.“1174 Wiederum fällt auf, dass der Begriff „Sterilisation“ ebensowenig verwendet wird wie Zusammenhänge geschildert oder die Ablehnung eines möglichen Antrages begründet werden. Die Aussagen bleiben abstrakt. Die Nachweise über den Eingriff zu erbringen, scheint für sie undenkbar, zum einen aufgrund des Fehlens von Unterlagen und der Tatsache, dass der Ort des Verfahrens in Schlesien liegt und mittlerweile zu Polen gehört und so sprachlich und geografisch unerreichbar scheint. Zum anderen wäre es sowohl für entsprechende Nachforschungen als auch für ein Attest über Narben, die auf eine Sterilisation hindeuten, notwendig, sich anderen anzuvertrauen. Das kann sie sich nicht einmal gegenüber ihrem Hausarzt vorstellen, bei dem möglicherweise noch von einem engen Arzt-PatientVerhältnis ausgegangen werden könnte. Selbst in ihrer Ehe scheint die Sterilisation, obwohl ihr Mann ebenfalls betroffen ist, von beiden kaum thematisiert worden zu sein. Ihre Aussage „Von meinem Mann weiß ich gar nichts“, lässt darauf schließen. Frau F. beendet ihren Brief mit „Jetst ist mir wider leichter ums Herz. Noch mals bitte um Verzeihung.“1175 Von Seiten des BEZ scheint sie jedoch ermutigt worden zu sein, jedenfalls berichtet sie in einem kurzen Brief vom 5. Februar 1992, dass sie an diesem Tag einen Arzttermin gehabt hätte und: „Da habe ich mir ein Herzgefast, und habe es gesagt, habe auch den Brief mittgenommen.“1176 Die Ärztin habe sie an einen Gynäkologen überwiesen. Sie schließt mit der Feststellung: „Es war mir sehr schwer, schwer gefallen.“1177 Der folgende Brief bezieht sich auf eine Einladung des BEZ, sehr wahrscheinlich zur Jahreshauptversammlung im Mai 1992. Nachdem sie sich hierfür bedankt und mitteilt, sie werde nicht teilnehmen, „aber in Gedanken dort sein“, berichtet sie unvermittelt von Unterlagen, die sie bekommen hätte: „Da bekam ich 16 Fragebogen, die ich Ausfüllen soll. Es war 1935, da soll ich nach 57 Jahren alles wissen. Es ist doch einiges was ich nicht Beantworten kann. Darum habe ich alle Fragebogen wieder zurückgeschickt. Ich hatte nach Bonn die Bescheinigungen, von der Polizei, und 1174
Brief von G.F. vom 9.4.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Ebenda. 1176 Brief von G. F. vom 5.2.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Bei dem erwähnten Brief könnte es sich um das bereits genannte Schreiben des BEZ für Mediziner zur Ausstellung von Gutachten gehandelt haben. 1177 Ebenda. Die anschließende Grußformel „Recht freundliche Grüße“ benutzt sie zum er’sten Mal in ihren Briefen an den BEZ, es fällt auf, dass auch Frau Nowak diese oftmals verwendet. 1175
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von der Frauenärztin hin geschickt. Da glaubte ich es würde reichen. Aber das ich so viele Fragen beantworten muss.“1178
Ihre Konsequenz nach diesem „Rückschlag“ scheint zwangsläufig: „Ich trete von allem zurück. Und werde weiter Schweigen, ich habe 57 Jahre geschwiegen, nur meine Ärztin, und die Frauenärztin weiß es sonst keiner.“1179 Auch hier lässt sie sich offenbar noch einmal vom Gegenteil überzeugen und berichtet am 2. Juni 1992, dass sie nahezu alle Fragebögen zurückgeschickt habe. Erneut betont sie, was sie alles hätte angeben müssen, lediglich einiges hätte sie gewusst. „Meine Eltern haben über diese Sachen nie was Erzählt, auch meine Großeltern nicht. Sie wollten mir vielleicht nicht wehtun.“ Es folgen noch einmal die Fakten, wobei wiederum weder der Begriff „Sterilisation“ noch „Erbgesundheitsgericht“ oder ähnliches fällt.1180 Neun Wochen später erzählt Frau F., dass sie Hilfe gefunden hätte, sie sei zu einer Behörde gegangen: „Sie haben mich sehr gut und sehr Freundlich und gut Beraten. Sie Schicken alle Unterlagen weg, nach Magdeburg, nach Köln. [...] Ich brauchte mich um nichts mehr zu kümmern.“ Sie dankt in diesem Zusammenhang nochmals Frau Nowak, ohne deren Hilfe sie die Antragstellung aufgegeben hätte, „ich hätte nichts mehr Unternommen. Nochmals vielen, vielen Dank“.1181 Die von Frau F. beigebrachten Unterlagen scheinen nicht ausgereicht und ein Attest über einen durch die Zwangssterilisation verursachten Gesundheitsschaden scheint gefehlt zu haben, denn in ihrem Brief vom 1. November des selben Jahres berichtet sie über eine entsprechende Untersuchung bei einem Psychiater: „Diese Fragen die Er gestellt hatte, das habe ich erst mal zuhause verdaut. Ich war am 29.10. bestellt, um 13.00 das hat gedauert bis 15.45. Da können Sie sich ja vorstellen wie ich fertig war. Wie ich als kleines Kind war, was mein Vater, und meine Mutter war. Warum u. weshalb die Sterlisation vorgenommen wurde, da habe ich ein parmal gesagt das weiß ich nicht. Warum ich nicht meine Eltern gefragt habe. Was ich so zu Leiden habe, da habe ich gesagt, da ich manchmal so den ganzen Tag weinen muss, das mir der Hals zuschnürt, u.,. Oft hat Er das wiederholt. Ich müste doch ein Hobi haben, Ja meine Goldregenkarte, dann habe ich ein Chico, das ist der Hund, eine Susi, das ist die Katze, und einen Bubi,
1178
Brief von G. F. vom 10.5.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Ebenda. 1180 Brief von G. F. vom 2.6.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1181 Brief von G. F. vom 9.8.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1179
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das ist der Wellensitig, und Verschiedenes anderes. Der hat gedacht ich bin eine Behinderte.“1182
Dann gibt sie ihrer Empörung über die Untersuchung und die Umstände Ausdruck: „Die haben einen Aufentshaltsraum, wo die Nervenkranke, u. Alkoholiker, u. Drogen abhängig sind sich da treffen. Da habe ich gesagt so weit bin ich nicht gesunken.“ Sie betont noch einmal, wie sehr sie der Aufenthalt dort belastet habe: „Ich werde Tage brauchen das ich darüber wegkomme, das war der schlimste Tag. Nun habe ich doch sicher alles durch, oder kommt noch eine Überraschung? So nun will ich aufhören den mein Kopf ist doppelt so Dick wenn ich an diese Sache denke. Ich hatte heute eine Zittrigehand. Hoffentlich bekomme ich bald Bescheid das alles in Ordnung ist.“1183
Im Juni 1993 teilt sie mit, dass sie eine Nachzahlung und monatlich 285,74 DM bekommen wird. „Vor Freuden kammen mir die Tränen. Nun ist wohl jetzt alles in Ordnung.“ Sie resümiert den Weg hin zu der finanziellen „Wiedergutmachung“: „Ich bedanke mich auch nochmals, das ich doch Mut fassen soll, und nun habe ich es geschaft. Es waren schwere Zeiten für mich.“1184 In weiteren Briefen bedankt sie sich wiederholt für Schreiben, die sie vom BEZ erhalten hat. Wie wichtig diese Kommunikation für sie ist, wird hierbei mehrfach deutlich: „Nochmals vielen Dank für den schönen Brief, und hoffe doch solche Berichte zu bekomme. Ich glaubte schon ich war abgeschrieben, da ich lang nichts gehört habe.“1185 Im Brief vom September 1997 erwähnt sie zwei Zeitungsausschnitte. Vermutlich handeln beide von den Zwangssterilisationen, denn sie schreibt: „ist das nicht traurig, was wir, und sie Durchmachen mussten. Ich darf an so was gar nicht denken, da stehen mir die Tränen in Augen. Das ich das alles so geschaft habe, und die vielen Wege die ich machen musste, ohne Ihnen hätte ich es nicht geschaft, da bin ich Ihnen sehr Dankbar.“1186
1182
Brief von G. F. vom 1.11.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Ebenda. 1184 Brief von G .F. vom 1.6.1993, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1185 Brief von G .F. vom 6.8.1996, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1186 Brief von G. F. vom 19.9.1997, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1183
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Die Briefe von Frau F. erlauben einen Einblick in ihre Situation bei der Beantragung von „Entschädigung“ für die erlittene Zwangssterilisation. Hierbei wird erneut deutlich, welche Belastung das Prozedere für die Betroffene darstellte und welche Bedeutung hierbei der Unterstützung von Außen zukam. Weiter zeigen sich Wahrnehmungs- und Umgangsmuster mit der Zwangssterilisation, die bereits in zahlreichen Briefen von anderen Autoren skizziert wurden: Die Unfähigkeit, Worte über die Sterilisation, ihre Hintergründe und Folgen zu finden, das weitgehende Schweigen über die Sterilisation, selbst gegenüber ihrem – ebenfalls betroffenen – Ehemann, die Abgrenzung gegenüber „Behinderten“, aber auch sozial randständigen gesellschaftlichen Gruppen wie Drogenabhängigen. Wir haben zurückgezogen gelebt Das Empfinden, durch die Zwangssterilisation stigmatisiert zu sein, sowie psychisches Leiden werden in den Briefen von Herrn K. eindringlich beschrieben. Herr K. berichtet Frau Nowak ausführlich aus seinem vergangenen wie gegenwärtigen Leben. Die Gegenwart ist für ihn gekennzeichnet von schwierigen finanziellen Verhältnissen, nicht zuletzt da er aufgrund der Erkrankung seiner Frau auf externe Hilfe angewiesen und zudem mit den steigenden Preisen Anfang der 1990er Jahre in den neuen Bundesländern konfrontiert ist. Eine mögliche „Entschädigung“ wäre insofern allein aus finanziellen Gründen wichtig: „Der Härteausgleich würde uns eine große Hilfe sein.“1187 Er bittet Frau Nowak, den Kontakt zu halten und möchte auch den Mitgliedsbeitrag an den BEZ leisten, allerdings per Postanweisung, um ein Bekanntwerden seiner Sterilisation bei den Bankangestellten zu vermeiden, „Ich möchte dies Geheimnis weiter behalten, denn hier kennt jeder den andern.“1188 Etwa vier Monate später geht er in seinem Schreiben auf die Rundbriefe des BEZ ein, für die er sich ebenso wie für den persönlichen Einsatz von Frau Nowak bedankt. In dem Zusammenhang seien Erinnerungen in ihm wach geworden, „wie wir verfolgt wurden und welchen des Kriminierung wir ausgesetzt waren. In der ehemaligen DDR wurden wir übersehen, wir haben zurückgezogen gelebt und tun es auch weiter.“1189 Erneut begründet er seine fehlende Möglichkeit zu reisen und an Veranstaltungen des BEZ teilzunehmen mit dem schlechten Gesundheitszustand seiner Frau. „Also nehmen sie es nicht für Übel wenn ich alles ablehne, meine Frau hatte früher zumir gestanden in schlechten Tagen, jetzt stehe
1187
Brief von H. K. vom 23.4.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. Brief von H. K. vom 23.4.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1189 Brief von H. K. vom 15.8.1991, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1188
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ich Ihr bei.1190 Mitte Juli habe er den Härteausgleich und seit dieser Zeit auch die laufende Beihilfe bekommen; er bedankt sich „für die vielen vermitlungen an die Ämter, die freundliche Hinweise wie – wo, ohne dies war alles nicht möglich gewesen.“1191 Am Ende bekundet er erneut sein Interesse an der Kommunikation mit dem BEZ, um zu erfahren, „was unter meinen Leidensgenossen sich tut.“1192 Der BEZ scheint ihm Antragsformulare für eine erhöhte monatliche Beihilfe zugesandt zu haben, deren Bearbeitung Herr K. aber in seinem Brief vom 20. Juli 1992 für den Moment ablehnt, da er derzeit gesundheitliche Probleme habe und die Erhöhungen der monatlichen Kosten, die zu erwarten seien, abwarten wolle, bevor er tätig wird, denn er möchte weder jemandem schaden noch alles zurückzahlen müssen. Nahtlos hieran fügt sich die sehr persönliche Skizzierung seines Lebens und Leidens an: „Sie werden mich sicherlich verstehen, das ich mein Leben nicht gut verlebt habe, stets habe ich mich als minderwertiger Mensch gefühlt, da ich auch sexuelle brobleme hatte und diese auf meine Frau geschoben habe, es nicht wollte wahr haben stets dabei versagt. […] Dies ein kleines Geständnis, da ich mich nicht gerne an alles möchte erinnern was mich auch psychisch sehr belastet […].“1193
Einige Monate später bedankt sich Herr K. eindringlich bei Frau Nowak: „[…] ohne Sie waren wir vergessen, sie haben und das alles erkämpft das wir eine Entschädigung gekriegt haben, und nicht für unser Leiden vergessen wurden. Ich verehre Sie, denn Sie waren der einzige Mensch dem ich mich anvertrauen konnte was mir angetan wurde.“1194
3. 2 Interviews mit Zwangssterilisierten Interviews mit Betroffenen der nationalsozialistischen Zwangssterilisation sind nach 1945 nur vereinzelt geführt worden. Nicht immer werden hierbei die verwendeten Methoden deutlich. Hinzu kommt der unterschiedliche Zeitpunkt 1190
Ebenda. Ebenda. 1192 Ebenda. 1193 Brief von H. K. vom 20.7.1992, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1194 Brief von H. K. vom 10.1.1993, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1191
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III Perspektiven der Betroffenen
der jeweiligen Befragung. Während die archivierten Gespräche im Rahmen verschiedener Untersuchungen Ende der 1980er beziehungsweise Anfang der 1990er Jahre entstanden und, mit Ausnahme des Gespräches mit Herrn N., gezielten Fragen folgen, wurden die beiden im Rahmen dieser Arbeit entstandenen Interviews narrativ und erst im Jahr 2006 und damit in einem hohen Lebensalter der Betroffenen geführt. Stellen sich die vorhandenen Interviewquellen somit als heterogen dar, so lässt sich hieraus möglicherweise auch ein Vorteil ziehen. Während die zielgerichteten Interviews Auskunft über zahlreiche Details der näheren Umstände der Sterilisation und Elemente des weiteren Lebens sowie Einstellungsmuster der Betroffenen geben, bieten die lebensgeschichtlich angelegten Gespräche eher die Möglichkeit, die Zwangssterilisation im Rahmen einer rückblickenden Lebensperspektive insgesamt zu erfassen. Im Folgenden wird zunächst versucht, zentrale Motive und Themen der beiden eigenen, in Zusammenarbeit mit dem BEZ geführten Interviews herauszuarbeiten. Beide Gesprächspartner waren Frauen, die in Großstädten, Hamburg und Berlin, aufgewachsen waren und auch zum Zeitpunkt des Interviews dort mit 85 beziehungsweise 88 Jahren in ihren eigenen Wohnungen lebten. Sie entstammen beide dem Arbeitermilieu. Unterschiede zwischen ihnen betreffen insbesondere den Bildungs- und Familienstand sowie den jeweiligen Hintergrund der Zwangssterilisation. In beiden Fällen hatten die Betroffenen Kontakt mit dem BEZ. Die Gespräche, die jeweils den Charakter „normaler“ Besuche hatten,1195 wurden sowohl im Vorfeld als auch vor Beginn der Aufzeichnung mit der Aufforderung eingeleitet, die Betroffene möge aus ihrem Leben erzählen.1196 Das Ergebnis war, dass in beiden Fällen die Zwangssterilisation und ihre Folgen nur am Rande angesprochen und nur auf Nachfrage etwas weiter ausgeführt wurden.1197 Die deutlichsten Aussagen hierzu fanden sich vor Beginn und 1195
Frau B. sagte beispielsweise am Ende des Gespräches: „davon werde ich noch lange zehren“; Frau M. hatte handgearbeitete Geschenke angefertigt, machte während des Besuchs einige Fotos. Das Ende unseres Aufenthaltes versuchte sie wiederholt hinaus zuschieben. 1196 Dabei gibt es auch Passagen, in denen die Geschäftsführerin des BEZ, Margret Hamm, berichtet. Vgl. zum Beispiel Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, S. 28f. 1197 Im Laufe des Interviews kam es immer wieder dazu, dass Rückfragen nicht beantwortet wurden. Dies ist hierbei allerdings kaum als ein Indiz dafür zu werten, dass der jeweiligen Frage ausgewichen wurde, sondern dürfte eher physischen Gründen geschuldet sein. Beide Gesprächspartnerinnen schienen an Schwerhörigkeit gelitten zu haben. Hinzu kamen Konzentrationsstörungen beziehungsweise eine Art Eigendynamik des Erzählflusses, die sich nicht unterbrechen ließ. So antwortete Frau B. zwei Mal nicht auf die Nachfrage, wann genau sie sterilisiert worden sei. Beim ersten Mal scheint sie die Frage nicht gehört zu haben und fährt mit ihrer Darstellung fort, beim zweiten Mal antwortet sie „Alles bestens“, und erst als die Interviewerin nochmals dezidiert die Frage formuliert, antwortet sie „37 war es. Ich hatte es Ihnen schon hingelegt.“ Vgl. Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 1f.
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nach Ende der Aufzeichnung ohne entsprechende Nachfrage von Seiten der Interviewer. Und ich: Kinder, Kinder, Kinder1198 Das Interview mit Frau B., Jahrgang 1918, fand am 31. Oktober 2006 von 11.50 bis 13.30 Uhr in ihrem Haus in Berlin statt. Wenige Monate nach der Aufzeichnung verstarb sie. Frau B. war stark gehbehindert1199 und lebte zum Zeitpunkt des Gesprächs in großer Isolation. Sie beginnt ihre Erzählung mit der Schilderung ihrer Ausbildung, in die sie sich „reingeschwindelt“ habe, da sie bereits zuvor sterilisiert worden war: „Und bin also hingegangen, das war 43 – ja, hab meine Zeugnisse gezeigt, von der Schule alles, gut, und und – teilweise Geschichte und Turnen und so war sehr gut, und [...] – mein Sportabzeichen trug ich so wie die Soldaten an ihrer Uniform, trug ich an meinem Kostüm, hatte ich ein braunes Kostüm, das hatte ich mir selber genäht, aber nicht Nazibraun, sondern schöneres Braun. Und der Amtsarzt ist doch nicht auf die Idee gekommen, dass ich sterilisiert bin, nicht? Denn als Sterilisierte hätte ich nicht Kindergärtnerin werden dürfen. Und die Sachen waren ja alle irgendwie eingemottet, die Papiere also der hat [so gar nicht?] in Reinickendorf gefragt, der ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Person, so begabt und sportlich bis dort hinaus, dass die erbkrank, sterilisiert ist [...]“.1200
In diesem Eingangszitat werden bereits zwei wesentliche Linien im Umgang mit der Zwangssterilisation deutlich, die im Laufe des Gesprächs, aber auch außerhalb der Aufnahmen immer wieder auftauchen. Zum einen fällt die Betonung der eigenen Begabung und Leistung auf, die an manchen Stellen wie eine 1198
Vgl. zu Folgendem Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, Interviewerinnen Margret Hamm und Stefanie Westermann, Archiv des BEZ, Detmold. 1199 Als Erklärung hierfür gibt sie an, sie habe während ihres Krankenhausaufenthaltes zur Sterilisation eine „Luminage-Spritze“ ins Bein injiziert bekommen, woraufhin der Oberschenkelknochen weich geworden sei; „die Nazis haben mich nicht nur sterilisiert, die haben mich zum Krüppel gemacht [...]“. Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 17, 30f. Die Aussage ist hierbei kaum zu bewerten. Möglicherweise meint Frau B. den Wirkstoff „Luminal“, der zum Zeitpunkt ihrer Behandlung insbesondere bei Krampfanfällen verwendet wurde. Allerdings handelt es sich hierbei um einen neurologischen Wirkstoff, der kaum zu den von ihr beschriebenen Symptomen führen konnte. 1200 Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 1. Dabei scheint auch die Intervention einer Familie, bei der sie als Haus- und Kindermädchen gearbeitet hat, von Bedeutung gewesen zu sein. Vgl. S. 10f.
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Überzeichnung wirkt und mit der „Minderwertigkeitserklärung“ durch die Zwangssterilisation kontrastiert wird: „[…] so begabt und sportlich bis dort hinaus, dass die erbkrank, sterilisiert ist [...]“.1201 Bereits vor Beginn der Aufzeichnung hatte Frau B. ihre Wohnung gezeigt und an verschiedenen Stellen auf ihre handwerklichen Arbeiten sowie ihre erfolgreiche Berufstätigkeit hingewiesen, jeweils mit der Bemerkung: „Und ich soll minderwertig sein? Vielleicht überbegabt, aber...“. Das zweite Motiv, welches in ihrer ersten Erzählpassage angedeutet wird, ist Bildung, die ihr hilft, die nationalsozialistische Gewalt „einzuordnen“. So berichtet sie, dass sie in ihrer Ausbildung im Bereich der „Gesundheitslehre“ mit einem Lehrbuch arbeiteten, welches „fast wortwörtlich aus Amerika übernommen“ war: „Die haben aus genau dem gleichen Grund genau dasselbe gemacht in Amerika. Die meisten Leute in Deutschland wussten ja gar nicht, dass eben in Amerika schon seit 1907, seit in Dänemark, Schweden, Norwegen und in Schweiz auf Wunsch der Eltern zwangssterilisiert wurde. Das habe ich ja dadurch erst erfahren. Weil ich mich reingeschwindelt habe und nun erfuhr, dass die anderen [total?] dasselbe hatten. Und für mich ist – nicht also die bösen Deutschen, die bösen Amerikaner, für mich ist [?] in jedem Staat gibt es sone und solche. Von der Sorte und von der Sorte, nicht? Überall. Egal, wo man hinkommt.“1202
Unabhängig davon, dass es sich bei einigen der Informationen um „nachträgliche“ gehandelt haben dürfte,1203 für Frau B. scheint die Information über die „Internationalität“ der (Zwangs-) Sterilisationen eine entlastende Funktion zu haben. Sie gibt ihr die Möglichkeit, den Eingriff als Verbrechen einzuordnen, von dem weltweit viele btroffen waren. Im weiteren Gespräch skizziert sie die Hintergründe des Eingriffs – sie wurde wegen „erblicher Fallsucht“ zwangssterilisiert1204 – und legt dar, dass keine Erbkrankheit vorgelegen habe, sondern die „Krampfanfälle“ exogene Ursachen gehabt hätten: „Das ist überhaupt ein Witz. Zur gleichen Zeit, als ich sterilisiert worden bin, hat meine Großmutter das Goldene Mutterkreuz gekriegt, weil sie neun gesunde Kinder auf die Welt gesetzt hat […]. Und haben für Hitler 1201
Ebenda. Ebenda. 1203 Auch die Hintergründe und Inhalte der Gesetze sind nicht ganz zutreffend wiedergegeben, vgl. hierzu u. a. Kühl (1997a), S. 102; 170. 1204 Vgl. Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 31f. 1202
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in der Rüstungsindustrie gearbeitet, ne? [lacht] Aber ich war erbkrank.“1205 „Ich habe meinen ersten Krampfanfall gekriegt, als wir eine Turnfahrt gemacht haben, von der Deutschen Turnerschaft. Da waren wir so 10 bis 14 Jahre alt, und eine Gruppe von der Kommunistischen […] Turnverein, das waren so 16- bis 20-Jährige. Die haben uns verfolgt und wollten uns verkloppen. Und da sind wir getürmt. Und vor lauter Schreck und Angst hab ich da meinen ersten Krampfanfall gekriegt.“1206
Auch an späterer Stelle im Gespräch erwähnt sie die Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Erbkrankheit und dem „Goldenen Mutterkreuz“ für ihre Großmutter. So gibt sie unter anderem an, dass von den neun Kindern keines die Hilfsschule besucht habe.1207 Im Hinweis, dass es sich bei dem unterstellten Krankheitsbild weder um ein pathologisches Phänomen noch um eine „Erbkrankheit“ gehandelt hat, begegnen bereits bekannte Wahrnehmungs- und Argumentationsfiguren der Betroffenen. Frau B. erzählt im Laufe des Interviews von ihren Urlaubsreisen mit dem Fahrrad, von ihrem Studium nach dem Krieg,1208 von ihrer Tätigkeit in der Erziehungsberatung, als Leiterin einer Kindertagesstätte und einer Schule für geistig behinderte Kinder in Westberlin. Später arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung im Salem-Kinderheim mit geistig behinderten Kindern,1209 zu denen sie auch über diese Zeit hinaus Kontakt hielt. Das Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie ist zum Teil konfliktgeladen. Kommt dies immer wieder bezüglich ihrer Bildung und Interessen – „ohne Bücher kann ich nicht leben“1210 – zum Ausdruck,1211 so auch im Umgang mit der Zwangssterilisation: 1205
Ebenda, S. 2f. Ebenda, S. 3. Die Deutsche Turnerschaft war eine bürgerlich-nationale, politisch rechts der Mitte ausgerichtete, aber nicht parteipolitisch gebundene Vereinigung. Gegen Ende der Weimarer Republik orientierte sie sich immer mehr am Nationalsozialismus, im „Dritten Reich“ verfolgte sie eine Anbiederungsstrategie. 1936 wurde sie gleichgeschaltet. Vgl. Peiffer (1976). 1207 Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 31. 1208 Sie habe vier Semester am Institut für psychogene Erkrankungen in Berlin studiert. Ebenda, S. 24. 1209 Vgl. http://www.saleminternational.org/deutsch/de_home.htm [März 2008]. 1210 Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 27. 1211 Vgl. zum Beispiel Ebenda, S. 13. „[…] denn ich habe von meiner Mutter oft zu hören gekriegt, du bist ja verrückt. Was du für Allüren hast [], ja? Mit meinem Lesen, und Bildung, Bildung, Bildung und Esskultur und Tischdeckkultur und das alles, was du, wir sind Arbeiter, wir können uns das nicht leisten.“ 1206
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„Meine Mutter und meine Schwester, die fanden das blöd, dass ich um meine Sterilisierung so viel Theater mache, weil die diverse Abtreibungen hinter sich hatten, nicht? Die fanden das bloß praktisch, dass man keine Kinder kriegt, nicht? Dass ich eine ganz andere Haltung, dass ich das Bedürfnis habe, bei Pflanzen, bei Tieren und bei Kindern, bloß immer so die Hand drüberhalten, schütze, schützen, schützen, nicht? Das konnten die gar nicht verstehen.“1212
Auf die Nachfrage, ob sie denn mit jemandem über die Zwangssterilisation hätte reden können, sagt sie: „Nein, also ich hab einfach kein Verständnis gefunden, ja? Ja.“1213 Frau B. hat ein Gedicht geschrieben, welches ihr geholfen habe, die Zwangssterilisation zu verarbeiten; hierdurch habe sie das, was ihr „seelisch passiert“ sei „aufgearbeitet sozusagen“ und „abgearbeitet“.1214 Wiedergeben möchte sie das Gedicht für die Aufzeichnung aber nicht, „Ich mach’s nicht gerne [lacht].“ Die 5 000 DM „Entschädigung“ habe sie erhalten und „für meine Kinder ausgegeben“.1215 Durch Zufall habe sie davon erfahren. Auf die Frage, ob sie sich zuvor mit dem Thema „Wiedergutmachung“ auseinandergesetzt habe, verneint sie dies, auch mit dem Hinweis: „Es war ja doch so, dass die Ärzte, die noch rumgelaufen sind, das waren ja alles die alten Nazis.“ […] „Das ist ja eben das Erschütternde. Nicht? Ich hab das ja wieder jetzt im Charité gemerkt, also der Psychiater wollte mir unbedingt klarmachen oder zeigen, dass ich also zu Recht sterilisiert bin…“1216 1212
Ebenda, S. 16. Ebenda. In diesem Kontext berichtet von einem „halbjüdischen“ Mann, mit dem „sie sich am allerbesten verstanden“ habe, „weil der das gleiche Erleben hatte wie ich. Im Grunde genommen immer mit einem Bein im Jenseits [...] Denn bei ihm konnte ja auch täglich passieren, dass er irgendwie…[…]… reinkommt und dann wird er eben vergast, ne? Und bei mir war das ja auch immer so, das hätte ja auch jeden Tag passieren können, und in der Hinsicht hab ich mich mit ihm also wunderbar verstanden, weil wir beide dieses gleiche Erleben haben, was die meisten gar nicht verstanden haben, nicht?“ Hierin kommt möglicherweise eine im „Dritten Reich“ bei Frau B. latent vorhandene Angst zum Ausdruck, doch noch „entdeckt“ und als Zwangssterilisierte „enttarnt“ zu werden, da sie sich in ihren Beruf „geschwindelt“ hatte. Ob sie darüber hinaus eine eigene Gefährdung durch die „Euthanasie“ befürchtete, muss offen bleiben. Zugleich wird die Sterilisation hier in eine Reihe mit anderen nationalsozialistischen Verfolgungsmechanismen wie Verfolgtengruppen gestellt. 1214 Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 18f. 1215 Ebenda, S. 28. 1216 Ebenda, S. 28f. 1213
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Sie habe bei ihrem dortigen Klinikaufenthalt im Herbst 2005 auf Nachfrage das Tagesdatum nicht nennen können, „Und da wollte er mir klarmachen, dass da ein riesengroßes Manko ist. […] Und er wollte mir auf diese Art und Weise klarmachen, also naja, haben Stich im Keks, darum sind Sie eben sterilisiert worden, Sie wissen ja gar nichts.“1217
Frau B. betont während des Gesprächs, wie gerne sie immer schon Kinder gehabt hätte, „[…] und ich: Kinder, Kinder, Kinder, nicht?“1218 Auf die Frage, ob sie gerne eigene Kinder bekommen hätte, antwortet sie „Ich habe, das war, ach, so eine Sache.“ Sie habe zu einem Arzt, der als Kinderarzt in Salem gearbeitet hatte, eine vertrauensvolle Basis gehabt, „[…] und der hatte das nicht über Bürokratie in die Wege geleitet, die Operation aufheben, dass ich Kinder kriegen kann.“1219 In einer Berliner Privatklinik sei sie operiert worden und man habe dabei festgestellt, dass bei der Sterilisation die komplette Eileiter entfernt worden war. „Und da hat der Arzt gesagt, also ich habe den Eileiter, die Eierstock direkt in die Gebärmutter verpflanzt, und es würde mich brennend interessieren, wenn Sie schwanger werden. Kommen Sie zu mir, ich würde das dann gern, und da hab ich mir gesagt, es gibt so viel Kinder, die geschädigt sind, musst du auch noch ein geschädigtes Kind in die Welt setzen? Als Versuchskanickel. Finger weg. Verzichte auf das eigene, du hast genug Kinder, für die du sorgen kannst. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Ja? Und da waren eben die anderen meine Kinder, hundertprozentig meine Kinder. [...] Und da ist doch eine ganze Menge von mir bei den Kindern angekommen.“1220
1217
Ebenda. Unabhängig von dem genauen Sachverhalt kommen in ihrer Wahrnehmung ein offenbar tiefes Misstrauen gegenüber Medizinern und das Empfinden ungebrochener Kontinuitäten zur nationalsozialitischen Erbgesundheitspolitik zum Ausdruck. 1218 Ebenda, S. 38f. 1219 Hierbei lässt sich die Frage nach dem Zeitpunkt dieser Operation nicht genau feststellen. Möglicherweise hatte sie vor ihrer eigenen Tätigkeit in Salem zu dem späteren Kinderarzt dort Kontakt. Dass sie erst zu dem Zeitpunkt ihrer Arbeit dort eine Refertilisierungsoperation angestrebt hat, erscheint aufgrund ihres Lebensalters – etwa Mitte 50 – unwahrscheinlich. 1220 Interview mit Frau G. B., Berlin, vom 31.10.2006, S. 39f.
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Auch eine Partnerschaft sei sie nicht eingegangen, „Das waren nette Kameraden, nette Sportkameraden, aber –“.1221 Auf einen Mann habe sie verzichten können, aber nicht auf Kinder. Der christliche Glaube und die Arbeit mit behinderten Kindern sind bestimmende Element in ihrem Leben, diesen Kindern habe sie helfen können, „[…] und wenn man so was weiß, dann kann man doch bloß dankbar sein, dass man überhaupt auf der Welt ist, nicht?“1222 „Also für mich ist das Leben ein ungeheures Geschenk. Ja? Ein ungeheures Geschenk. Trotz dem Schweren und trotz, also irgendwie geht’s immer weiter, das ist meine Erfahrung, irgendwie einen Weg findet und irgendwie geht’s weiter, und wenn’s wehtut, naja, das geht auch mal wieder vorbei, der Schmerz. Nicht?“1223
Nach dem Ende der Aufzeichnung erwähnt sie im Gespräch die schwedische Entschuldigung an die dortigen Zwangssterilisierten,1224 die sie begrüßte, „und bei uns, da verlegen sie nur Steine für die Toten, aber die Lebenden?“ Aber das verdrängt man1225 Das Gespräch mit Frau G. M., geboren am 12. Februar 1921, fand am 31. August 2006 von 10.15 bis 14.00 Uhr in ihrer Hamburger Wohnung statt. Frau M. hatte die Geschichte ihrer Zwangssterilisation und KZ-Inhaftierung bereits einmal schriftlich für den BEZ festgehalten, welcher ihre Angaben für mehrere Veröffentlichungen ausarbeitete.1226 Frau M. war während des „Dritten Reichs“ ein Jahr in der Haftanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel inhaftiert, anschließend zwei Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück sowie schließlich bis zur Befreiung durch alliierte Soldaten in verschiedenen Außenlagern, wo sie Zwangsarbeit leisten musste. Sie wurde in Ravensbrück ohne vorheriges Verfahren zwangssterilisiert.1227 Aufgrund dieser Verfolgungsbiografie sind die Sterilisation und ihre Wahrnehmung eng verknüpft mit den Erfahrungen in den nationalsozialistischen Lagern.
1221
Ebenda. Ebenda, S. 41. 1223 Ebenda, S. 22f. 1224 Zur Sterilisationspolitik in Schweden vgl. auch Broberg/Tyden (1996). 1225 Vgl. zu Folgendem Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, Interviewerinnen Margret Hamm und Stefanie Westermann, Archiv des BEZ, Detmold. 1226 Vgl. einen entsprechenden Bericht bei G. M., Zwangssterilisierte lebend, BEZ sowie BEZ (1989), S. 16-18; BEZ (1997), S. 23f.; Hamm (2005), S. 41f. 1227 Zu Ravensbrück vgl. u. a. Benz/Diestel (2006). 1222
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Im Interview beginnt sie mit den Hintergründen ihrer Inhaftierung – ihre sozialdemokratisch orientierte Mutter hatte einem jüdischen Jungen bei der Flucht geholfen, Frau M. hat in diesem Zusammenhang ein Fahrrad gestohlen und war hierbei gesehen und denunziert worden – sowie den Erlebnissen in der Haft. In die Darstellung fließen Kindheits- und Jugenderlebnisse mit Bezug zur „strengen Mutter“ ein und implizit wird die Frage nach der Verantwortung für die eigene Leidensgeschichte gestellt, die mit einer Aneinanderreihung von als tragisch empfundenen Zufällen begann: „Und denn denk ich immer, wenn meine Mutter das nun nicht gesagt hätte, der hätte auch zu Fuß dahin gehen können. […] Ja, und der Hauswirt, der wollte meine Mutter eins beipulen. Also der hat nur gedacht, die nehmen meine Mutter mit. Weil der ja wusste, dass die, nicht? Aber ich hab das nun, und dann hat er das gesehen, und denn, aber – also mich haben sie dann mitgenommen. Mich. – So war’s.“1228
Erneut verweist diese Passage auf das „Eingebettetsein“ der Zwangssterilisation in ein komplexes Verfolgungsschicksal, welches Jahre vor dem Eingriff einsetzt. Erst auf die direkte Frage nach ihrer Sterilisation geht sie hierauf mit der Formulierung ein: „Ja. Ja, auch noch. In Ravensbrück.“1229 Auf ihre Gefühle in diesem Kontext angesprochen, gibt sie an, sie habe sich vor allem gefragt, „warum machen sie das? Ich komm doch hier mein Lebtag nicht wieder raus. […] Und da hab ich so gedacht: Ob der Krieg bald aus ist? […] So waren dann so meine Gedanken. Ja, machen konnte ich ja nix. Kriegte Narkose und dann.“1230 Die Nachfrage, ob der Eingriff in Ravensbrück selbst durchgeführt worden sei, beantwortet sie mit „Ja, ja, ja, ja.“, um dann ihre Erzählung mit einer anderen medizinischen Behandlung und der Bestrafung dafür fortzusetzen, welche in keinem direkt erkennbaren Zusammenhang zur Sterilisation stehen. Frau M. geht auch im Folgenden nicht mehr dezidiert hierauf ein und antwortet auf die Frage, ob der Eingriff entsprechend der Behandlung in einem regulären Krankenhaus durchgeführt worden sei, dass sie nach Äther gerochen habe und direkt wieder arbeiten musste.1231
1228
Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, S. 6. Ebenda. Dass die Sterilisationen im Konzentrationslager selbst und ohne Gerichtsverfahren durchgeführt wurden, erscheint ungewöhnlich. Vgl. hierzu die Ergebnisse von Hax (2005) für die Praxis im Konzentrationslager Sachsenhausen. Möglicherweise wurde Frau M. im Rahmen der Sterilisationsexperimente von Prof. Clauberg in Ravensbrück zwangssterilisiert. 1230 Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, S. 7. 1231 Ebenda, S. 7f. 1229
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Bei diesen Antworten und ihren nachfolgenden Schilderungen von Bestrafungen und Schlägen im Konzentrationslager werden schwere Traumatisierungen deutlich. Sie unterbricht ihre Antwort auf die Frage, womit sie geschlagen wurde: „Nun esst mal erst mal beide. Da kann man ja den ganzen Tag erzählen, ne? Manchmal wach ich auch auf nachts noch, wenn ich dann so an denk. Aber damit darf ich mich gar nicht befassen, sonst könnte man verrückt werden. Nicht? - - Ja, nun nehmen Sie man.“1232
Nachdem sie noch auf Mithäftlinge in Ravensbrück eingeht, folgt eine längere Passage, die sich mit der Nachkriegszeit beschäftigt: von der Verurteilung einiger Ravensbrück-Täter, über das Haus, welches sie mit ihrem Mann in Hamburg gebaut hat und das in der Sturmflut, bei der sie fünfzehn Stunden auf dem Dach zugebracht haben, zerstört wurde, bis zu ihrem Leben im Alter. Sie habe dann irgendwann in der Zeitung von möglichen finanziellen „Wiedergutmachungen“ für die Zwangssterilisation gelesen und die Einmalzahlung sowie monatliche Beihilfen auch bekommen.1233 In den Jahrzehnten zuvor hat Frau M., die aufgrund ihrer Inhaftierung, der Sterilisation ohne vorheriges Gerichtsverfahren und des dezidiert politischen Hintergrundes bereits seit Beginn der „Wiedergutmachungsregelungen“ einen entsprechenden Anspruch gehabt hätte, keine Versuche gemacht, „[…] weil man das ja gar nicht gewusst hat.“1234 Auf die Frage, wie sie denn mit ihren Erlebnissen im „Dritten Reich“ umgehen konnte, nennt sie Verdrängen als Überlebensstrategie. „Vergessen kann ich bis heute nicht. Aber das verdrängt man. Man würde verrückt werden.“1235 Mit ihrer Mutter und mit ihrem Mann hätte sie darüber reden können, da ihr Mann auch Sozialdemokrat gewesen sei. Immer wieder, insbesondere im zweiten Teil des Interviews, lenkt sie das Gespräch weg von dem Thema Verfolgung, Konzentrationslager und Sterilisation und berichtet, zumeist ohne dass es dabei zu offensichtlichen Brüchen im Gesprächsfluss kommt, von ihrer Jugend und den politischen Überzeugungen ihrer Eltern,1236 ihrer Handarbeit, den Reisen mit 1232
Ebenda, S. 9. Solche Unterbrechungen des Interviews, beispielsweise mit der Aufforderung zu essen, finden während des Gesprächs wiederholt statt. Beate Meyer verweist aufgrund der Erfahrung mit NS-Verfolgten im Rahmen eines Hamburger Forschungsprojektes auf solche Verhaltensweisen als Möglichkeit, kurzzeitig aus besonders belastenden Situationen auszubrechen. Vgl. Meyer (1999), v. a. S. 423. 1233 Zudem hat sie 5 000 DM von der „Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte“ bekommen. Vgl. Hamm (2005), S. 42. 1234 Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, S. 22. 1235 Ebenda, S. 23. 1236 Hierbei beschreibt sie ihre familiäre Herkunft dezidiert als normal, „Wir waren eine ganz solide, ordentliche Familie.“ Ebenda, S. 37.
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ihrem Mann, ihrem gegenwärtigen Alltag und ähnlichen Themen aus einem „normalen“ Leben.1237 Einige Zeit später wird sie gefragt, wie sie es empfunden hätte, keine Kinder bekommen zu können, ob es schlimm gewesen wäre. Darauf antwortet sie bereitwillig1238, aber sehr kurz: „Ja, an und für sich ja. Ja. Mein Mann hätte gerne Kinder gehabt. Das musste ich ihm ja sagen, nicht? Ja.“ Frage: „Aber mit ihm konnten Sie dann auch darüber reden.“ „Ja, ja, ja.“ Frage: „Und Ihr Mann hatte dann ja den Stiefsohn.“ „Ja“ Frage: „Und da haben Sie sich dann auch drum gekümmert?“ „Ja, jaja.“1239
Wenig später auf mögliche gesundheitliche Folgen der Sterilisation angesprochen, gibt sie an, sie hätte ihre Menstruation nicht mehr bekommen, viele andere weibliche Häftlinge aber auch nicht, und führt dies vor allem auf die mangelhafte Ernährung im Lager zurück. Weitere gesundheitliche Leiden verneint sie, unter anderem mit dem Hinweis auf eine nach 1945 erfolgende Unterleibsoperation, „[…] dann haben sie alles rausgenommen und, ja, was soll mir denn da wehtun, wenn ich da gar nix mehr hab?“ Um gleich darauf anzuschließen: „Aber man denkt doch auch: Warum machen die das, warum sterilisieren sie einen? Warum. Die haben doch gedacht, die, ich glaub, wenn die den Krieg gewonnen hätten, dann hätten sie halb Deutschland eingesperrt. Du brauchtest ja nur anderer Gesinnung sein.“1240
Im Weiteren geht sie erneut auf ihre Verfolgung ein und berichtet von der Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, bei welcher jedem, der den Anforderungen nicht entsprach, der Tod drohte. Als sie nach ihrer Einschätzung der finanziellen „Wiedergutmachung“ und möglichen weiteren Forderungen gefragt wird, erwähnt sie zunächst ein Gespräch mit einer Bekannten darüber, dass wahrscheinlich viele ältere Menschen in ihrem Wohnumfeld nationalsozialistisch eingestellt gewesen sein, um dann auf die „Entschädigung“ zurückzukommen:
1237
Vgl. zum Beispiel Ebenda, S. 35. So sagt sie beispielsweise nach einer entsprechenden Frage von Seiten des Interviewers in diesem Kontext: „Sie können mich alles fragen“. 1239 Interview mit Frau G. M., Hamburg, vom 31.8.2006, S. 45. 1240 Ebenda, S. 49. 1238
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„[…] wissen Sie, mit der Wiedergutmachung, na klar, ich tu das denn auf meine Miete mit zuschlagen, aber – an und für sich kann man das mit Geld gar nicht wieder gutmachen, nicht? - - Ja, und das ist so, wenn, mal angenommen, ich komm, ich krieg jetzt meine Auszüge, denn ist die 120 Mark drauf, 120 Euro, den ganzen Monat denk ich da nicht an, aber wenn ich die Auszüge hol und seh das, schon kommt alles wieder, das kommt jeden Monat einmal hoch, so ungefähr.“1241
Auch nach dem Ende der Gesprächsaufzeichnung äußert sie: „Das kann man sowieso mit Geld nicht gut machen, was man uns angetan hat.“ Frau M. scheint ihre Inhaftierung und das Leid im Nationalsozialismus – und hierin eingebettet der Zwangssterilisation – in einen abgeschlossenen Bereich ihres Bewusstseins gelegt zu haben: „[…] Ja. Mich wundert bloß, dass da noch so Leute gibt wie Sie, die sich dafür interessieren.“1242 Von der finanziellen „Wiedergutmachung“, die sie im Unterschied zu der großen Mehrheit der Zwangssterilisierten bereits seit Jahrzehnten bekommen hätte, erfährt sie durch Zufall. Aus dem dezidiert politischen Hintergrund ihrer Verfolgung leitet sich kaum ein entsprechendes Bewusstsein ab.1243 Staatliche Anerkennung und „Entschädigung“ scheinen für sie neben dem Aspekt der finanziellen Hilfe keine sehr große Bedeutung zu haben, zumal durch die monatliche Überweisung auch die Erinnerung an das bewusst Verdrängte wach bleibt. Gleichzeitig gelingt es ihr, vermutlich auch aufgrund ihrer offenen und zugewandten Persönlichkeit, sich ein neues Leben nach 1945 aufzubauen.1244 Interviews im Rahmen von Forschungsprojekten Die folgenden vier Befragungen wurden Anfang der 1990er Jahre mit Zwangssterilisierten in Hamburg von verschiedenen Interviewern geführt. Vom Grundsatz her scheinen sie ausnahmslos narrativ angelegt zu sein. Gleichwohl gibt es zahlreiche konkrete Fragen zu den Zwangssterilisationen und ihren Fol-
1241
Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 59. 1243 Gleichwohl bleibt das sozialdemokratische Milieu der politische Orientierungsrahmen, der es ermöglicht, über das Leiden zu reden, zumindest mit ihrer Mutter wie mit ihrem Mann – „Der war ja auch Sozialdemokrat“. Ebenda, S. 23. 1244 Dabei soll keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass die nationalsozialistische Verfolgung und die Zwangssterilisation bis ins hohe Alter Traumatisierungen bei Frau M. hinterlassen haben. Diese wurden an verschiedenen Stellen des Gesprächs deutlich. Trotzdem ergeben ihre Berichte sowie der persönlich gewonnene Eindruck das Bild einer Frau, die die Fähigkeit hatte, ein persönlich erfüllendes Leben zu leben. 1242
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gen. Die Antworten hierauf geben die Möglichkeit, weitere Aspekte der Selbstwahrnehmung der Betroffenen nachzuvollziehen. Frau S. wurde 1911 in Hamburg geboren, verbrachte ihre Jugend in einem Waisenhaus und arbeitete seit ihrem 15. Lebensjahr als Hausmädchen oder Fabrikarbeiterin. Sie heiratete 1929 und bekam im gleichen Jahr einen Sohn, fünf Jahre später eine Tochter. 1935 wurde sie zwangssterilisiert. Über den Termin vor dem Erbgesundheitsgericht berichtet sie, wie eingeschüchtert sie war: „[…] da kriegten wir inzwischen eine Aufforderung, da musste mein Mann mit nach dem Justizgebäude […]. Da mussten wir hin. Ach, Treppenhaus voll, alle Räume waren voll. Und alles…heute weiß ich das, was das zu bedeuten hatte. Das waren alles Juden und… und Geisteskranke und…und all so was so durcheinander. Heute kann ich mir das bildlich vorstellen, was man sich damals ja…wenn du so irgendwo hinmusst vorm Gericht, da irgendwas hast, hast doch Angst […].“1245
An verschiedenen Stellen im Interview überlegt sie, warum sie zwangssterilisiert wurde. Die offizielle Begründung kennt sie nicht. Da eine Tante Patientin in einer psychiatrischen Klinik war und ein späteres Opfer der „Euthanasie“ wurde, vermutet sie: „Die haben…vielleicht haben die vermutet, dass sie geisteskrank war und dass eine in der Familie jetzt, die Nachfahren, und wenn die wieder Kinder kriegen, dass die geisteskrank sind. Nun habe ich aber zwei gesunde Kinder. Hab’ auch gesunde Enkelkinder. Kann nichts aufweisen.“1246 Eine andere Vermutung bezieht sich auf die Indikation „angeborener Schwachsinn“: „Vielleicht war ich ein bisschen blöde. Ich weiß es nicht.“1247 Aber auch diese sieht sie in der Begabung ihrer Kinder und Enkel widerlegt. Stattdessen verweist sie auf exogene Ursachen: „Und es hatte auch damals vielleicht auch etwas mit meiner Schule zu tun, denn ich hab’ ja so wenig zur Schule gegangen. […] Und meine
1245
WdE/FZH 344, Aliasname A. S., anonymisierte Fassung, Interviewerin Beate Hugk, 12.3.1991, S. 33. 1246 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 41. Vgl. auch S. 36. 1247 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 35.
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III Perspektiven der Betroffenen
beiden Kinder sind sehr begabt und meine Enkelkinder auch. Also da…da liegt es nicht dran.“1248
An anderer Stelle bemängelt sie die Willkür der nationalsozialistischen eugenischen Politik: „Guck mal, viele durften ja damals gar nicht mehr heiraten. Warum haben sie dann das überhaupt gemacht, sagen Sie mal, wo ich zwei Kinder hatte.“1249 „[…] mein Cousin, der schüttelt ja auch immer noch den Kopf, der sagt immer, dann hätten sie meinen Bruder ja auch nehmen können. Warum haben sie haben meinen Bruder denn nicht genommen?“1250
Auf die Frage, wie ihre Ehe nach dem Eingriff weitergegangen sei, antwortet sie: „Ja, ich hatte das Gefühl, mein Mann ist ja denn auch in den späteren Jahren ja auch fremd gegangen.“1251 Ihr Mann habe nie wieder über die Sterilisation gesprochen: „[…] von Tag auf an war das für ihn tabu, hat er nie wieder gesagt. Nie. Nie wieder. Hat er nie wieder was gesagt. […].“1252 Allein die vierfache Wiederholung des Begriffes „nie“ sowie die Kennzeichnung als „Tabu“ verweisen hierbei auf die große Bedeutung seines Schweigens für sie. Sie habe auch Schmerzen nach dem Eingriff gehabt, „Hab’ ich immer gehabt, nachdem, immer schlimm. Auch schlimm in dem Verkehr mit dem Mann zusammen und so, dass man manchmal schon…schon dazu keine Lust mehr hatte.“1253 Die Kindheits- und Jugenderfahrungen im Waisenhaus, die Zwangssterilisation, die unglückliche Ehe lesen sich wie eine Ereigniskette, die kaum durchbrochen werden konnte. Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratet sie wieder, „[…] Und wie ich hier mit dem zweiten Mann verheiratet war, der war sowieso für Hitler und man gut, dass ich nie was gesagt hab’! Dem hab’ ich das nicht gesagt. Können sie sich so was vorstellen?“1254 Nicht nur gegenüber ihrem zweiten Ehemann, auch generell schweigt Frau S. über den Eingriff. Sie habe sich ihren Kindern gegenüber geschämt und
1248
WdE/FZH 344 Ebenda, S. 47. Sie gibt dabei ihrer Mutter die Verantwortung für viele Fehlentwicklungen ihres Lebens, vgl. Ebenda. 1249 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 52. 1250 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 42. 1251 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 49. 1252 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 51. 1253 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 51. 1254 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 54.
„Ich hoffe, ich konnte Ihnen einen kleinen Einblick in unser Leben geben“
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„Verwandte hatte ich, aber gesprochen haben wir ja nicht davon. Um Gottes Willlen, konnte so was doch nicht…nicht jemand erzählen.“1255 Ihrem Sohn gegenüber erwähnt sie erst 1987 im Zuge der bereits genannten „Report“-Sendung den Eingriff. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie dann gefragt worden sei, warum sie nicht eher davon berichtet hätte, antwortet sie: „Nein gar nicht, er war… ich hab’ gesagt, ich hab’ euch was verschwiegen, wenn was heute oder morgen mal ist, dann möchte ich damit nicht ins Grab gehen. So hab’ ich zu… so hab’ ich das gesagt. Es war schwer. Es war auch schwer, wie ich Herrn S. wieder geheiratet habe. Meine Kinder dazu irgendwie zu sagen, ja. Wir sind eben Leute, die in dieser Hinsicht noch ziemlich naiv sind, das man nicht so…“1256
Das Schweigen dürfte somit, wie im letzten Satz angedeutet, auch in der Tatsache begründet sein, dass in dieser Generation Themen, welche im weiteren Sinne den Bereich Sexualität berührten, vielfach schambesetzt waren. Später im Gespräch gibt sie demgegenüber an: „[…] Ja, aber ich kann das auch immer nicht begreifen, und meine Kinder sagen das ja auch, warum ich das nicht schon früher gesagt habe, meine Tochter jedenfalls.“1257 Auch heute noch würden sie aber nicht über die Zwangssterilisation reden „[…] und dann hat meine Tochter gesagt, wir wollen ja nichts wieder aufrühren, denn sie hat wohl auch immer gemerkt, dass ich wohl was Innerliches zu leiden hatte.“1258 „Mensch geworden“1259 sei sie erst, seit sie im Alter von 50 Jahren als Reinigungskraft in der Deutschen Bank angefangen habe: „Und das ist…ich sag’, ich hab’ mir mein Leben erst alleine aufgebaut.“1260 Ein weiteres, kurzes Interview, welches 1995 in Hamburg geführt wurde, zeigt einen ganz anderen Weg einer Betroffenen.1261 Im Gespräch mit H. B., Jahr1255
WdE/FZH 344 Ebenda, S. 53. Auch das nationalsozialistische „Schweigegebot“ scheint in diesem Kontext erneut eine Rolle gespielt zu haben: „Ich war damals immer eine…ich wollte meinen Kram selber machen, ich wollte nicht von keinem, also ich wollte auf keinen angewiesen sein. Und somit hab’ ich auch wenig Kontakt mit Leuten gehabt, und jedenfalls auch die, wie ich sterilisiert wurde und auch diese Schmerzen gehabt hab’, dass man sich wahnsinnig von Leuten zurückgehalten hat. Dann dachte man immer, man durfte dieses nicht sagen, man durfte bei Hitler das nicht sagen oder man fühlte wie…wie in der Ostzone eing…, verstehen Sie das?“ WdE/FZH 344, Ebenda, S. 52. 1256 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 4. 1257 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 54. 1258 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 54. 1259 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 52. 1260 WdE/FZH 344 Ebenda, S. 53. 1261 Vgl. zu Folgendem WdE/FZH 284, Aliasname H. B., anonymisierte Fassung, Interviewerin Petra Vollmer, 7.12.1994; sowie Kaminsky (1999).
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III Perspektiven der Betroffenen
gang 1927, die ins Mädchenheim eingewiesen worden war und 1944 nach der Geburt ihrer Tochter zwangssterilisiert wurde, spielt das zerrüttete Verhältnis zur Tochter eine wesentliche Rolle in ihrer Biografie. Auf die Zwangssterilisation und ihre Folgen geht sie nur in wenigen Worten ein. Sie gibt an, sie habe nicht gewusst, welcher Eingriff bei ihr nach der Entbindung durchgeführt worden sei: „Da ist ein Eingriff bei mir vonstatten gegangen, den ich nie für möglich gehalten habe. Es wurde eine Zwangssterilisation vorgenommen, ohne dass man uns irgendwie einen Hinweis gab oder irgendwie was.“1262
Die Behandlung im Mädchenheim, vor allem aber die hier erzwungene Trennung von ihrer Tochter, erfährt sie als große Belastung. Nach 1945 war sie mehrfach verheiratet. Die Möglichkeit, seit den 1980er Jahren finanzielle „Wiedergutmachung“ zu bekommen, ist für sie nicht ausreichend: „Aber damit ist es noch lange nicht getan. Man müsste auch so seelischen Beistand haben.“1263 Nicht zuletzt durch den fehlenden Kontakt zu ihrer Tochter bedingt resümiert sie: „Ich habe keinen Menschen. Nicht einen Menschen.“1264 Die Komplexität des Leidens wird auch im Interview mit O. P. deutlich.1265 Frau P. wurde 1920 unehelich in Hamburg geboren, lebte in Heimen und bei der Mutter, wurde 15-jährig zwangssterilisiert und war zwischenzeitlich entmündigt. Die Mutter stimmte dem Eingriff zu, da sich die Tochter „immer rumgetrieben“ habe. In Folge des Eingriffs erleidet Frau P. eine schwere Bauchfellentzündung, deren Folgen sie ihr Leben lang begleiten. Sie gibt an, sie habe damals nicht gewusst, warum sie operiert wurde, und kommt mit einem offenbar gewissen Fatalismus zu dem Schluss: „[…] Tja. Da kann ich nichts gegen machen, das war alles in der Nazizeit. Aber das machen sie heute ja noch, sterilisieren. Aber viele lassen sich das ja auch machen.“1266 Insbesondere den Aufenthalt in den Alsterdorfer Anstalten hat sie als traumatisierend erlebt:
1262
WdE/FZH 284 Ebenda, S. 3. WdE/FZH 284 Ebenda, S. 15. 1264 WdE/FZH 284 Ebenda. 1265 Vgl. zu Folgendem WdE/FZH 281, Aliasname O. P., anonymisierte Fassung, Interviewerin Ulrike Jureit, 30.11.1994. 1266 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 6f. 1263
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„Wenn ich das noch alles so seh. Das kannst nicht so abschütteln. Das kannst du nicht. Kannst nur dein Leben noch so schön machen, aber abschütteln kannst es nicht. Das kann man nicht.“1267
1959 heiratete Frau P. einen Ingenieur. In ihren Aussagen kommt dabei auch die Abgrenzung gegenüber anderen (vermutlich ehemaligen) Bewohnern und Patienten der Alsterdorfer Anstalten zum Ausdruck: „[…] Es sind ja welche, die entmündigt sind und haben ne kleine Wohnung am Schlumps und so weiter. Nein, nein. Ich bin verheiratet gewesen und bin jetzt Witwe, ich will hier meine Ruhe haben und nicht mit solchen da rumzulaufen. Das mach ich nicht. Ich bin ja noch normal. Nee. Nein, nein. […].“1268
Sie betont im Gespräch ihre Fähigkeiten und Leistungen, beispielsweise im Aufarbeiten von Möbelstücken, „[…] Ich kann vieles. Ich hab vieles auch gelernt.“1269 Das positiv verlaufene Wiederaufnahmeverfahren des Erbgesundheitsgerichtsprozesses scheint für sie keine besondere Bedeutung zu haben und auch die finanzielle „Wiedergutmachung“ nicht: „Die hab ich ja gekriegt. Aber was nützen mir die 5000 Mark? Mein Leib ist hin.“1270 Das Wiederaufnahmeverfahren scheint sie nur ungern zu thematisieren, „Ich weiß nicht, ich pack das immer weg. Das war am Dammtor. Da haben die dann gesagt, bei mir ist alles in Ordnung. Hab ich denn nachher noch’n Kaffee ausgegeben.“1271 Auf die Frage, ob sie mit Freunden oder Bekannten über die Sterilisation gesprochen habe, gibt sie an: „Nee, hab ich nicht. Hab ich nicht, niemals.“1272 Frau P. kommt zu einem ambivalenten Resümee ihres Lebens: „[…] Manchmal sitze ich hier und weine und sag mir, warum musste das alles sein. Warum, warum. Aber was soll’s.“1273 „[…] Ich sag mir immer, da geht mir das auch gut. Und das kann ich immer wieder sagen. Andere haben das vielleicht noch schlechter wie ich.“1274
1267
WdE/FZH 281 Ebenda, S. 9. WdE/FZH 281 Ebenda, S. 10. 1269 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 11. 1270 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 21. 1271 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 20. 1272 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 23. 1273 WdE/FZH 281 Ebenda, S. 5. 1268
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III Perspektiven der Betroffenen
Das vierte Interview, welches im Rahmen der Hamburger Forschungsprojekte geführt wurde, ist das Gespräch mit Herrn W. R. Herr R., Jahrgang 1921, verbrachte einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend, insgesamt 22 Jahre, in den Alsterdorfer Anstalten.1275 1937 wurde er zwangssterilisiert, über die Hintergründe möchte er nicht sprechen: „[…] Ja, dann wurde ich sterilisiert und dann hatte sich das eben. Na, dann hat man uns ja, man kann ja so sagen, wir sind ja beides Männer, das Schönste genommen.“1276 Mit seinen Eltern oder Verwandten habe er auch nicht darüber gesprochen, „Gar nicht. War ganz klar, ich musste da ja sowieso durch. Da war ja keine Unterstützung.“1277 Mit den Jahren in Alsterdorf verbindet er sowohl positive wie negative Erinnerungen, wobei er auf die nationalsozialistische Begeisterung der Mitarbeiter dort hinweist und zu dem Schluss kommt: „Denn wir waren ja behindert, das darf man ja nicht vergessen, die hatten uns ja praktisch schon ausgestoßen. Die hatten ja nur gewartet, dass sie uns vergasen konnten, will ich mal so sagen, aber die Zeit war noch nicht da.“1278 Bei dieser Einschätzung dürfte seine Beschäftigung mit der nationalsozialistischen „Euthanasie“ seit den 1980er Jahren eine große Rolle gespielt haben, insbesondere da er eine Frau aus einer österreichischen „Euthanasie“-Anstalt, dem „Steinhof“ rettete,1279 wo ihr – ohne sein Wissen – möglicherweise der Tod gedroht hatte. Diese Aktion ist für ihn in der Retrospektive positiv besetzt: „Und da hatte ich mein Schicksal los. Da ging der Kampf los. Das war an und für sich…würde sagen, es waren auch Leistungen. Wo ich mich auch aufbäumte und wo ich zeigte, was in mir steckte. Ich wurde auch herausgefordert, will ich mal so sagen. Ich hab auch immer…Ich hab das auch als meine Verpflichtung gesehen.“1280
Auch mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ hat er sich auseinandergesetzt. Hierbei betont er die soziale Dimension, zieht Parallelen zum Umgang mit sozial randständigen Gruppen in der Gegenwart und kommt zu der Einschätzung:
1274
WdE/FZH 281 Ebenda, S. 24. Vgl. zu Folgendem WdE/FZH 276, Aliasname W. R., anonymisierte Fassung, Interviewer Jens Michelsen, 16.11.1994. 1276 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 2. 1277 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 31. 1278 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 9. 1279 Vgl. hierzu http://www.spiegelgrund.at/. 1280 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 13. 1275
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„Aber das ist ja so, da haben die Nazis einen Fehler gemacht. Durch das Erbheits-Gesundheits-Gesetz, die Behörden haben mitgespielt. Alles, was nicht sauber war in der Familie oder wie auch immer die krummen Dinger gedreht wurden jetzt privat, und es passte nicht in so’ ner feinen Mütze, dafür waren die Heime eben zuständig. Dann wurden sie eben eingesperrt, ob er krank war oder nicht. Die Eltern konnten ja auch Schuld haben. Dann wurden alle unter einen Kamm geschert. Dann ist natürlich Scheiße.“1281
Herr R. erweckt dabei den Eindruck, dass im Umgang mit seiner Vergangenheit die Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen und Einzelheiten und ein daraus abgeleiteter Analyse- und Deutungsanspruch die wesentlichen Elemente der Verarbeitung darstellen. So analysiert er beispielsweise im Bezug auf die Alsterdorfer Anstalten: „Was fehlte, was ich auch angeschnitten hatte, war ja, dass man sich zu wenig um unsere Verhältnisse gekümmert hat, privat. Vor allen Dingen wir. Wo man im Zweifel sein könnte. Mensch, der kann doch draußen sein. Verstehst? Wir haben doch praktisch unnützes Geld gekostet, und dem Staat praktisch zur Last geleg[en], was uns immer vorgeworfen wurde. Und deshalb sollten wir ja auch weg, und durch die elterlichen Verhältnisse. Das muss man auch so sehen. Wenn du immer dasselbe vorgesetzt kriegst und wirst nicht ausgebildet. Weil sie eben gesagt haben, begreifen sie ja doch nicht. Die wollen wir ja für unsere Produkte haben. Sonst ist das aus, wenn wir sie wach machen, dann sind sie weg. Das war der Profit. Ich hab Alsterdorf immer so gesehen, dass sie uns als Arbeitskraft angesehen haben.“1282
Insbesondere die dort beantragte Entmündigung sieht er kritisch und setzt sie in einen Gegensatz zu seinen Leistungen: „Die haben sie uns doch genommen, unsere Verantwortung. Verstehen Sie, wie ich das meine? Die haben sie uns doch weggenommen. Kann man doch sehen, was ich geleistet hab. Die haben uns doch geklaut, das war doch das größte Verbrechen, was in Alsterdorf stattfand.“1283
Als der Interviewer ihn bittet, über seine Wohn- und Lebenssituation direkt nach dem Krieg in Hamburg zu berichten, lehnt er dieses ab mit der Bemer1281
WdE/FZH 276 Ebenda, S. 10. WdE/FZH 276 Ebenda, S. 21; vgl. auch S. 33. 1283 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 33. 1282
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III Perspektiven der Betroffenen
kung: „Och, das muss ich nicht haben. Das hat ja mit der politischen Sache eigentlich gar nichts zu tun.“1284 Dementsprechend sieht er auch die finanzielle „Wiedergutmachung“ kritisch und nimmt seine dahingehenden Bemühungen dezidiert als politischen Akt wahr: „Und dann kam die Wiedergutmachung, wenn Sie da mal was von gehört haben. […] Und die Wiedergutmachung kam – viel zu wenig, 5 200, kannst ja alles vergessen. Ich hatte jetzt sogar noch Widerspruch eingelegt, um mehr zu kriegen, aber werd ich wohl nicht kriegen. Die kriegen von mir noch ’n Brief denn, egal. Ich will mir nicht vorwerfen lassen, ich hab dafür nicht gekämpft, für mein Geld.“1285
Verdrängen, wie von einigen anderen Betroffenen genannt, war für ihn kein adäquates Mittel: „[…] Verdrängen kann man das nicht. Man kann noch so viel Therapie haben. Das was ich mitgemacht hab und mein Körper, wirst nicht wieder los. Das ist nicht drin.“1286 Wiederholt er mehrfach, dass er die Erlebnisse nicht vergessen kann – „[…] Das ist all son Scheiß. Guck mal, und so haben die Nazis schwere Schicksale gemacht. Das sind ja schwere Schicksale, die man einfach gar nicht so verkraften kann und auch nicht vergessen kann. Kann man nicht. Das kannst du nicht vergessen.“1287 –, so spielt die Sterilisation für ihn auch im Verhältnis zur Tocher seiner ersten Ehefrau eine Rolle. Zu ihr hat er keinen Kontakt mehr: „Nein, muss ich auch nicht haben. Das ist an und für sich ja auch noch die Schwere der Sterilisation dazu, die Folgen, die man hat. Dass man eben keine eigenen Kinder hat. Verstehst, was ich meine? Deswegen kann man sich ja auch schneller trennen.“1288 Den Versuch, ihn im „Dritten Reich“ noch zum „Volkssturm“ einzuziehen, kontrastiert er mit der empfundenen Minderwertigkeitserklärung durch die Zwangssterilisation: „Erst waren wir geschädigt worden, sterilisiert, erniedrigt worden, alles, und dann sollten wir kämpfen. […] Die haben uns nicht in Ruhe gelassen. Aber im Volk galten wir als Idioten und mussten vernichtet werden. War doch ein völliger Widerspruch.“1289 Die Selbstsicht von Herrn R. und seine Aussagen im Interview sind in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich. Neben seiner klaren politischen Deutung 1284
WdE/FZH 276 Ebenda, S. 29. WdE/FZH 276 Ebenda, S. 22f. 1286 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 11. 1287 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 28. 1288 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 27f. 1289 WdE/FZH 276 Ebenda, S. 34. 1285
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und dem demonstrierten politischen Selbstbewusstsein fällt die Solidarität mit der Gruppe der Patienten der Alsterdorfer Anstalten auf. Obgleich er in der Bundesrepublik – verheiratet und berufstätig – jahrzehntelang außerhalb der Anstalt ein „normales“ Leben führt, zieht sich ein „Drinnen“ der Anstaltsbewohner und ein „Draußen“ wie ein roter Faden durch seine Ausführungen.
Im Institut für Geschichte und Biographie in Lüdenscheid finden sich zwei transkribierte Interviews mit Zwangssterilisierten, die jeweils Besonderheiten aufwiesen. Das erste Gespräch ist in einem anderen Kontext entstanden und thematisiert die Sterilisation lediglich „durch Zufall“ am Rande. Das zweite, sehr ausführliche Interview wurde mit einem Betroffenen geführt, der bereits seit Jahren als Zeitzeuge Vorträge hielt. Alexander von Plato führte im Rahmen einer Untersuchung über Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen in der DDR am 12. Oktober 1987 ein Interview mit Herrn G. L.1290 Erst im Laufe des Gesprächs ergeben sich bruchstückhaft Informationen über die vollzogene Zwangssterilisation. Hierbei zeigt sich die Eigendynamik der Interviewsituation, denn Herr L. will über den Eingriff nicht reden, und erst als sich zu viele Fragen aufhäufen und logische Brüche in der Erzählung auftun, die mit der Sterilisation zu tun haben, berichtet er hierüber – nachdem der Interviewer ihm angeboten hat, das Aufnahmegerät abzustellen. Aus diesem Grund wird hier nicht weiter auf das Gespräch eingegangen.1291 Beim zweiten Interview des Instituts handelt es sich um ein per Video aufgezeichnetes Gespräch mit F. N., welches für das Haus der Geschichte, Bonn, entstand.1292 Im Unterschied zu allen übrigen Interviewpartnern ging Herr N. sehr offensiv mit der Thematik um und redete bereits Jahre vor diesem Gespräch in Schulen, bei öffentlichen Veranstaltungen, in Interviews und vor politischen Gremien über seine Erfahrungen.1293 Eine sich hieraus entwickelnde „Professionalität“ in der Interviewsituation zeigt sich ebenso von Beginn des Gesprächs an wie eine offensichtlich intensive Auseinandersetzung mit den 1290 Vgl. Institut für Geschichte und Biographie, Lüdenscheid, Interview G. L., Interviewer: Alexander von Plato, 12.10.1987. 1291 Hierbei ist die Frage des Umgangs mit solchen Informationen prekär. Hat der Betroffene diese in einer „vertraulichen“ Atmosphäre geäußert und sich dezidiert geweigert, sie aufnehmen zu lassen, so sind sie durch den Interviewer dennoch dokumentiert und damit vorhanden. Vgl. hierzu auch Leh (2000). 1292 Vgl. zu Folgendem: Institut für Geschichte und Biographie, Lüdenscheid, Interview F. N., Interviewerin: Leonie Wannenmacher, 7./8.2.1994 1293 Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 39ff.; 53f. 2004 erschien eine Biographie über ihn, vgl. Illiger (2004).
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historischen Hintergründen. Herr N. redet in sehr langen Passagen, die oftmals nur durch technisch bedingte Pausen unterbrochen werden. Inhaltlich geht es nahezu ausschließlich um die Hintergründe, Ereignisse und Folgen seiner Verfolgung, welche er ausführlich und chronologisch erzählt. Das dominierende Thema hierbei stellen der wiederholte, als stark traumatisierend empfundene Aufenthalt in der Psychiatrie und die Bedrohung durch die „Euthanasie“ dar. Die Zwangssterilisation, so scheint es, wird dabei als ein Element dieser Erfahrungen verstanden, ihre Wahrnehmung bleibt – wohl auch durch das eigene psychische Leiden bedingt – aber mittelbar. F. N., Jahrgang 1915, leidet seit seiner Jugend an physischen und psychischen Problemen. Körperliche Schwäche und Depressionen führen dazu, dass er nach seiner Mittleren Reife häufig den Arbeitsplatz wechseln muss. Als Rekrut bei der Marine wird er aufgrund psychischer Auffälligkeiten in ein Lazarett nach Kiel gebracht und einige Monate später als dienstunfähig entlassen. Nach einem Konflikt mit einer Fürsorgerin kommt er in eine psychiatrische Anstalt. „Was das für mich damals in meinem Leben bedeut’, kann ich gar nich schildern.“1294 Die hier deutlich werdende Traumatisierung und Sprachlosigkeit tauchen im Folgenden wiederholt auf, wenn Herr N. die verschiedenen Stationen seines Leidensweges in der Psychiatrie skizziert. Er begreift den erzwungenen Aufenthalt in der Anstalt, dieser „Hölle“, als einen Angriff auf Leben und Identität.1295 Als lediglich ein zusätzlich quälendes Erlebnis erscheint vor diesem Hintergrund die Zwangssterilisation: „Ich darf in diesem Zusammenhang noch erwähnen, dass ich 1936, eh, zäsiert worden bin […].“1296 Mehrfach äußert er sich an den verschiedenen Stellen des Interviews über die Unzulänglichkeiten des diesbezüglichen Gutachtens.1297 Erst 1940 gelingt es seiner Mutter, ihn aus der Anstalt zu holen. Bereits hier stellt Herr N. einen Zusammenhang mit der drohenden „Euthanasie“ her. So berichtet er, ein Polizist habe seine Mutter hiervor gewarnt und sie damit veranlasst, ihn auch gegen den Willen der Anstaltsleitung mitzunehmen. Nach diesem Anstaltsaufenthalt macht Herr N. eine Ausbildung zum Schlosser und arbeitet in Norwegen. Dort habe die Gefahr bestanden, dass man von englischen Soldaten gefangengenommen werde, aber davor habe er keine Angst gehabt, denn: „Für mich waren die Deutschen meine Feinde, Ich wusste ja, dass ich zum lebens-, lebensunwerten Leben gehörte, dass ich nich wehrwürdig 1294
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 6. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 7f. 1296 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 8. 1297 „Ein Gutachten ist überhaupt nich vorhanden, es sei denn, dass sie eine lose Aufzählung negativer Eigenschaften für Gutachten heißt.“ Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 8. 1295
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war, und dass ich, eh, erbkrank sei, angeblich erbkrank und unter Geisteskrankheit litte, Schizophrenie. Ich war ausgegrenzt und lebte als, eh, ein Bürger zweiter Klasse in dem Staat, nicht nur das, sondern ich war ja auch gefährdet durch die Euthanasie. Das war ein, mir bekannt, und ich hatte immer wieder Angst auch, durch irgendwelche Auffälligkeiten, dass man mich zurückschaffte in eine Anstalt. Ich lebte unter ständiger, wenn man das so sagen will, Depression und Angstgefühlen.“1298
Diese sich steigernden Angstgefühle vertraut er einem Arzt an und darf wieder in seinen Heimatort zurückkehren. Nachdem er auch hier seiner Arbeit nicht dauerhaft nachgehen kann, wird er in die psychiatrische Universitätsklinik Kiel eingewiesen, mit der er erstmals positive Erinnerungen verbindet. In Kiel sei man der Auffassung gewesen, dass das Urteil der Schleswiger Anstalt, welches seiner Zwangssterilisation zugrunde lag, falsch gewesen sei.1299 Er wird kurze Zeit später entlassen und geht nach Hamburg. Dort leidet er erneut an psychischen Störungen und wird in die dortige psychiatrische Universitätsklinik eingewiesen. „Hier war ich abgeschrieben“, und zudem sei er nun unmittelbar von der „Euthanasie“ bedroht gewesen, von der alle Patienten gewusst hätten.1300 Von der Hamburger Klinik aus wird er nach Meseritz-Obrawalde gebracht, einer Anstalt der „dezentralen Euthanasie“.1301 Er habe dort einen starken Überlebenswillen entwickelt und so Schwerstarbeit und Krankheiten durchgestanden, immer in Todesangst. Dennoch habe er dieses „Todeslager“ nach den vorangegangenen Erfahrungen auch als befreiend erlebt, denn hier habe die Psychiatrie keine Rolle mehr gespielt, sei lediglich die menschliche Arbeitsfähigkeit von Interesse gewesen.1302 Dabei kommt deutlich zum Ausdruck, wie sehr er die psychiatrische Diagnostik und die angewandten Therapien als traumatisierend erlebt hat, wenn er explizit hervorhebt, dass das, was ihn in dieser Anstalt aufrechterhalten hat, war, „[…] dass ich nicht mehr als, eh, Fall der Psychiatrie beurteilt und gesehen wurde, sondern als ein Mensch. […] und ,eh, das, das in dieser Hölle auf der einen Seite auch ein positives Erleben.“1303 1298
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 12. Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 13. 1300 Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 14. Herr N. berichtet zudem, in der Hamburger Klinik sei „sobald ein Befund festgestellt wurde, […] mit tödlichem Ausgang operiert“ worden. Wie die diesbezüglichen Aussagen zu bewerten sind, erscheint unklar. Bisher geht die Forschung davon aus, dass an Universitätskliniken keine direkten Tötungen im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ durchgeführt wurden. 1301 Vgl. hierzu u. a. Faulstich (1998); Benedict/Chelouche (2008). 1302 Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Interview F. N., Ebenda, S. 15-21. 1303 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 48f. 1299
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III Perspektiven der Betroffenen
Im Januar 1945 gelingt ihm im allgemeinen Auflösungsprozess angesichts der näher rückenden russischen Armee die Flucht bis nach Schleswig-Holstein in seinen Heimatort. Nach 1945 bemüht sich Herr N. um Anerkennung als nationalsozialistisches Opfer und um finanzielle „Wiedergutmachung“. Er sieht sein Leiden als „Verfolgung weltanschaulicher Art und auch rassischer Art […], denn es waren ja rassische, eugenische Gesetze.“1304 Sein Antrag wird abgewiesen. Die dahinter stehende Akzeptanz des GzVeN und die Nichtanerkennung der Leiden der in psychiatrischen Anstalten von der „Euthanasie“ Bedrohten erschüttern ihn: „Diese Euthanasie, das Erbgesundheitsgesetz wurde praktisch immer noch als ein Rechtsgesetz betrachtet, und auch diese Verfolgungen wurden nicht als solche gewürdigt. Was das für mich bedeutete, war, kann ich gar nich mit Worten schildern, das war ein Zurückgeworfenwerden in die Vergangenheit. Es hatte sich nichts geändert. Und so bin ich denn auch, eh, hab’ ich dieses Thema immer aussperren müssen, aussparen müssen, nicht drüber reden.“1305
Diesen Rat gibt ihm auch seine Mutter und da er sich in seinem familiären wie außerfamiliären sozialen Umfeld an niemanden wenden kann, vielmehr Ausgrenzung befürchtet, schweigt Herr N. bis in die 1980er Jahre weitgehend über seine Vergangenheit.1306 Seine wiederholten Bemühungen um „Entschädigung“ scheitern, „ich sei kein Verfolgter, und die Sache sei aussichtslos, eben weil aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes letztlich alles ja für rechtens und legal erklärt wurde. Das hat mich sehr betroffen gemacht und löste furchtbare Depressionen aus.“1307 „Und wenn ich in diesem Zusammenhang auch noch mal erwähnen darf, dass die Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten aus der Zeit der Nazi-Herrschaft, müssen in der Bundesrepublik die psychischen, biologischen und materiellen Folgen in der Bundesrepublik weitertragen, weil eine tragierte Justiz die erzwungene körperliche Versehrung als rechtens erachtet. Dies bringt die Verfolgten zu berechtigter Empörung gegenüber juristischen Mechanismen, die offenbar bruchlos aus der Diktatur in die Demokratie transportiert werden. Inwieweit Politik, Justiz und Medizin in einträchtiger Koalition Menschen überrollen, und zum gedemütigten Opfer machen, ist hiermit deutlich aufgezeigt. […] Das is für 1304
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 26. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 26. 1306 Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, u. a. S. 63ff. 1307 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 28. 1305
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mich unglaublich, und das is ein Makel und eine Schande, die auf der Bundesrepublik nach wie vor lastet.“1308
Im Wiederaufnahmeverfahren seines Erbgesundheitsgerichtsprozesses am Amtsgericht Kiel Mitte der 1950er Jahre wird sein Antrag abgelehnt. Ohne Untersuchung sei er nach kurzer Verhandlung hier erneut für schizophren erklärt worden. Das Gerichtsverfahren selbst erlebt er als degradierend: „Die haben mir sehr zugesetzt mit peinlichen Fragen und allem Möglichen, so dass man sich hier sehr in der Abwehr befand und auch, eh, indirekt doch spürte, dass man es mit dem gleichen Geist zu tun hatte, wie von 33 bis 45, nur noch etwas furchtbarer.“1309
Hierbei zeigt sich seine Auseinandersetzung mit den Entwicklungen nach 1945, wenn er als Beleg für diesen Geist auf die Weiterbeschäftigung von Heyde/Sawade und Catel in Schleswig-Holstein verweist.1310 Auch an späterer Stelle im Interview geht er auf das Wiederaufnahmeverfahren ein. „Sehr schockiert“ habe ihn, dass dort nach den gleichen Kriterien entschieden worden sei wie im Nationalsozialismus. Die Befragung sei sehr unangenehm gewesen: „also, ich fühlte mich unglücklich in, von diesem Gremium, als die mich so brutal ausfragten, und dann, eh, nach allem Möglichen fragten, und da wußt’ ich schon gleich, dass es, eh, für mich nich gut ausgehen würde. Die fragten nach Familiengeschichten, nach einer Tante in Hamburg, und was weiß ich. [...] Das war eines Teils noch furchtbarer als 1936, weil diese Leute so gegen mich eingenommen waren.“1311 Die Medizin und insbesondere die Psychiatrie meidet er, „Ich bin ja seit 45 nie mehr zum Arzt gegangen. Die Ärzte waren ja für mich Mörder praktisch […]“, und findet eigene Wege, mit seinen psychischen Leiden fertig zu werden.1312 Er absolviert die Kaufmännische Berufsfachschule in Kiel erfolgreich, was ihm endlich zu einem positiven Selbstbild verhilft: „Ich konnt’ es einfach nich glauben, dass es so wahr sein sollte, weil ich immer als Versager galt, und als, als ich dieses negative Bild, das ich von mir selbst hatte, allein aufgenötigt durch, eh, durch die Verhältnisse in
1308
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 35f. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 29. 1310 Vgl. hierzu z. B. Freimüller (2002). 1311 Institut f. Geschichte u. Biographie, Interview F. N., Ebenda, S. 105f. 1312 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 30. 1309
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meinem Leben, dass, eh, bedrückte mich ja, und mit dem lebte ich ja immer noch.“1313
Hierbei dürften sowohl Elemente seiner Biografie wie Stottern in der Kindheit und Jugendzeit1314 und der häufige Arbeitsplatzwechsel aus Krankheitsgründen von Bedeutung sein als auch die Stigmatisierung durch die Zwangssterilisation und die Bedrohung durch die „Euthanasie“. Herr N. wird später in den Kirchlichen Dienst übernommen und arbeitet dort bis zu seiner Pensionierung, die er als Amtsinspektor erreicht. Die seit den 1980er Jahren gezahlten „Entschädigungen“ sieht er sehr kritisch: „Es ist ein Almosen und ohne Rechtsverpflichtung […].“1315 In diesem Kontext wird deutlich, dass es für ihn weniger um finanzielle Mittel als um die staatliche Anerkennung seiner Leiden, namentlich in der Rentenversicherung, geht: „[…] ich will ja nich diese Beihilfe. Ich will nicht dieses Almosen und dieses Gnadenbrot. Ich will mein Recht, und mein Recht besteht darin, ich habe Zwangsarbeit geleistet in dem Tötungslager. […] Diese Almosen, diese fünftausend Mark oder diese hundert Mark, die, da leg’ ich keinen Wert drauf. Und das hab’ ich auch immer zu verstehen gegeben, dass mich das eher beschämt und demütigt.“1316
Die fehlende Anerkennung der Opfer, die mangelhafte Strafverfolgung der Täter, das Verhalten des sozialen Umfeldes und insbesondere das Urteil in dem Wiederaufnahmeverfahren 1957 wertet er als „zweite Verfolgung“.1317 Die Argumentation bei abschlägigen Anträgen auf Anerkennung zeigt ihm, „dass man das legalisiert und legitimiert, diese Verbrechen.“1318 Immer wieder wird hierbei sein politisches Bewusstsein deutlich, welches sich in seiner Interpretation, aber auch in Begrifflichkeiten wie „Die Mörder, die leben unter uns“
1313
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 32. Herr N. gibt an, er habe sehr unter dem Stottern seiner Kindheit und Jugend gelitten. „[…] das hat mein Leben geprägt und auch, das hat furchtbare Depressionen ausgelöst immer.“ Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 71ff., Zitat S. 71. Bei dem Bericht hierüber weint er. 1315 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 36. 1316 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 38. Vgl. hierzu S. 36-38. 1317 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 38. 1318 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 35. 1314
„Ich hoffe, ich konnte Ihnen einen kleinen Einblick in unser Leben geben“
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zeigt.1319 Die „Euthanasie“ bleibt dabei sowohl bezüglich des eigenen Leidens als auch in der historisch-politischen Analyse der Bezugspunkt: „[…] und dann diese Zwangssterilisation, die ja, die ja, das ja auch ein Mordgesetz war und nur im Kontext zu dieser Euthanasie zu sehen ist […].“1320 Die personelle Kontinuität1321 und das gesellschaftliche Verhalten – „[…] also, die Mörder lassen sie ungeschoren unter sich leben, und die Opfer lassen sie weiter verfolgen.“1322 – verdichten sich zu einem Gesamtbild der Bundesrepublik, welches durch Kontinuitäten zum „Dritten Reich“ bestimmt ist: „[…] diese Anerkennung als Verfolgter, die ist ja für mich, eh, nach wie vor ausgeblieben und, eh, das Ganze ist für mich nach wie vor unbefriedigend. Nach wie vor ist das demütigend und ist das letztlich im Sinne der Nazis, wie man mir begegnet.“1323
Neben den eigenen Erfahrungen und den politischen, juristischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dürfte hierbei auch sein Engagemen bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN)1324 eine Rolle spielen.1325 Seine Arbeit dort und das öffentliche Reden über seine Verfolgung empfindet er als befreiend. Sie geben ihm die Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und Anerkennung zu erfahren: „[…] dass ich mal artikulieren durfte, was mich bewegte. Und […] auch positive Aufnahme fand.“1326 Diese „positive Aufnahme“ scheint für ihn eine wesentliche Erfahrung gewesen zu sein, berichtet er doch über stigmatisierende und provozierende Reaktionen der Umwelt auf seine Vergangenheit in den Jahrzehnten zuvor, beispielsweise in Äußerungen wie „Du bist’n bevölkerungspolitischer Blindgänger“.1327 „Aber das, eh, das ist alles sehr deprimierend, und Du musstest ja die, ich musste ja die Rolle annehmen, 1319
Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 38f. „Die Mörder sind unter uns“ ist der Titel des ersten deutschen Spielfilms nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der unter anderem die Nachkriegskarriere eines nationalsozialistischen Täters thematisiert. Vgl. http://www.deutscher-tonfilm.de/dmsuu1.html. 1320 Institut f. Geschichte u. Biographie, Interview F. N., Ebenda, S. 40. 1321 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 44. 1322 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 45. Hierbei bezieht sich Herr N. v. a. auf die „Euthanasie“-Prozesse nach 1945. Vgl. zum juristischen Umgang mit der „Euthanasie“ Benzler/Perels (1996); Loewy/Winter (1996). 1323 Institut f. Geschichte u. Biographie, Interview F. N., Ebenda, S. 44. 1324 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S.50ff. Zur VVN vgl. http://www.vvnbda.de/bund/start.php3. 1325 Vgl. insbesondere auch seine Analyse, Institut f. Geschichte u. Biographie, Interview F. N., Ebenda, S. 54. 1326 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 53; 85. 1327 Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 64ff., Zitat S. 65.
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III Perspektiven der Betroffenen
erbkrank.“1328 Bei der Verarbeitung all dessen habe ihm insbesondere sein christlicher Glaube geholfen.1329 Auf die Frage, ob das Sprechen über die Vergangenheit nicht alte Wunden aufreißen würde, antwortet er: „Ja, ich, mit diesen aufgerissenen Wunden muss ich ja leben, die Sterilisierung lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Das ist ein Eingriff, den man in meinem Leben vorgenommen hat, ein Mord, möchte’ ich sagen, dass man mir, das ist schon ein Mord, diese Sterilisierung, so seh’ ich das. Das is, lässt sich nich wieder gutmachen, und dieses, dieses Beiseitedrücken oder dieses sich dem nich stellen wollen, das is nich mein, meine Aufgabe, sondern im Gegenteil, ich muss mich dem stellen, und stell’ mich dem auch.“1330
Geben viele Betroffene an, dass das Verdrängen für sie eine Notwendigkeit darstellen würde, so geht Herr N. den umgekehrten Weg. Gleichzeitig gelingt ihm eine positive Lebenseinstellung: „Also, das Leben als solches ist unzerstörbar, auch eine Sterilisation kann mein Leben nicht zerstören und vernichten, daran glaube ich, und das is Realität. Und nur so lässt sie sich überwinden. Nicht, indem man diese offenen Wunden nich weiter, hm, eh, sehen will, sondern mit denen muss man leben. Das is, das Leben beinhaltet Leid, und im Leid liegt auch Leben und Positive, und dieses Verdrängen und Vergessen darf nich sein.“1331
In der Mikroperspektive finden sich zahlreiche Wahrnehmungen der Betroffenen, die bereits im vorangegangenen Kapitel herausgestellt werden konnten. Die beiden erstgenannten Interviewpartnerinnen haben ihr Leben auf sehr unterschiedliche Weise geführt und, so lässt sich bei aller notwendigen Zurückhaltung bezüglich psychologischer Deutungen vermuten, individuelle „Strategien“ für den Umgang mit der Zwangssterilisation gefunden. Während das Leben von Frau B. sowohl von Bildungsstreben als auch durch die intensive Arbeit mit behinderten Kindern und Jugendlichen bestimmt war, erscheint Frau M. als ein sehr kommunikativer Mensch, der bis vor einigen Jahren immer in langjährigen Partnerschaften gelebt hat und über zahlreiche Sozialkontakte verfügt. Während Frau B. im ersten vorgestellten Interview differenziert die 1328
Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 65f. Vgl. Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 66ff. 1330 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda, S. 86. 1331 Institut f. Geschichte u. Biographie, Ebenda. 1329
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Zwangssterilisation und ihre Folgen darstellt und ihre Lebensleistungen – im Gegensatz zur unterstellten „Minderwertigkeit“ – nicht zuletzt in der Arbeit mit behinderten Kindern sieht, verweist das Gespräch mit Frau M. auf die Komplexität ihrer nationalsozialistischen Verfolgung, in der die Sterilisation zu einer, wenngleich bleibenden, Maßnahme unter anderen wird. Beide Gespräche zeigen dabei, wie das Leben als konsistentes Ereignis darzulegen versucht wird und die Brüche und Verletzungen des Zwangseingriffs eher mittelbar zum Ausdruck kommen. Gleichwohl gelingt es ihnen, implizit oder explizit, eine positive Lebensbilanz zu ziehen. Die tiefen Verletzungen, die der Eingriff hinterlassen hat, zeigen sich bei Frau B. in der nahezu überzeichnet wirkenden Betonung ihrer Leistungen, bei Frau M. in ihrer Unfähigkeit, über die Folgen der Sterilisation zu sprechen. Das dritte Interview, welches im Rahmen der Hamburger Projekte entstand, offenbart neben der Abgrenzung innerhalb der Gruppe der Betroffenen und dem weitgehenden Schweigen über den Eingriff gegenüber der Umwelt insbesondere das Bemühen, Antworten auf die Frage nach dem Warum der Zwangssterilisation zu finden. Während das vierte Gespräch die vielfältige Bedingtheit des psychischen Leidens einer Betroffenen vor Augen führt, finden sich im Interview mit Frau P. erneut Abgrenzungen gegenüber anderen Betroffenen, die Betonung der eigenen Leistung und die als traumatisch erlebte Jugend in der Alsterdorfer Anstalt. Auch für Herrn R. ist der jahrelange Aufenthalt in dieser Anstalt ein wesentlicher Bezugspunkt, zumal er bemüht ist, die damalige Situation ebenso wie die „Euthanasie“ und die Sterilisationspraxis analytisch zu erfassen und, so lässt sich erneut nur mutmaßen, nicht zuletzt hierdurch eine Distanz zu der eigenen Betroffenheit zu schaffen. Das Gespräch, das Alexander von Plato Mitte der 1980er Jahre in der DDR mit Herrn L. führt, weist die Besonderheit auf, dass dem Interviewer die Zwangssterilisation nicht bekannt ist und der Betroffene hierüber nicht reden möchte. Insofern verweist dieses Gespräch, in dem es dezidiert um den Lebenslauf von Herrn L. ging, in aller Deutlichkeit auf die Kontinuität des Schweigens und das Stigmatisierungsempfinden von Betroffenen. Das letzte Interview mit F. N. schließlich zeigt Herrn N. als in seinen Darstellungen jahrelang „erfahrenen“ Zeitzeugen, der sehr ausführlich die vielfältigen Facetten seines Lebens- und Leidenswegs im „Dritten Reich“ und seine Bemühungen um Anerkennung und „Entschädigung“ in der Bundesrepublik schildert. Sind für ihn dabei die jahrzehntelang ausgebliebene „Wiedergutmachung“ und die mangelnde Anerkennung Indizien für die politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontinuitäten nach 1945, so erlebt er seine Tätigkeit als Zeitzeuge bei Veranstaltungen und den hierbei erfahrenen Zuspruch als positives „Gegenbild“.
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Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassung und Ausblick Weit über 300 000 Menschen wurden zwischen 1934 und 1945 im nationalsozialistischen Deutschland zwangsweise sterilisiert und unterlagen weiteren Restriktionen. Die dieser Politik der negativen Eugenik zugrunde liegenden Vorstellungen – von der „Minderwertigkeit“ bestimmter Menschen und Gruppen, über die Erblichkeit zahlloser Krankheiten und sozialer Devianzen bis zu den Untergangsszenarien einer „degenerierten“ Gesellschaft – waren keine originär nationalsozialistischen. Sie fanden bereits vor 1933, nicht nur in Deutschland, und, wenngleich in abnehmender Bedeutung, auch nach 1945 Raum und Akzeptanz. Es brauchte Jahrzehnte, bis es von der Haltung „In dubio pro Volksgemeinschaft“1332, einem in den Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse sichtbar werdenden Rechtspositivismus und einer anhaltenden Sozialdiagnostik der 1950er und 1960er Jahre über einen indifferenten Umgang in den 1970er Jahren zu einer gleichsam offiziellen Einschätzung der Zwangssterilisation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in den 1980er Jahren kam. Die lange Phase der Kontinuität und der Bruch in den 1980er Jahren sind dabei auch einer gewissen Eigengesetzlichkeit der Verfahren geschuldet. Solange die normativen Grundsätzlichkeiten der Erbgesundheitsgerichtsverfahren anerkannt wurden, blieb letztendlich für alle Verfahrensbeteiligten – außer dem seltenen Hinweis auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse – kaum eine andere Möglichkeit als in der Antragstellung, Begutachtung und Entscheidung auf familiäre Faktoren, intellektuelle Fähigkeiten und soziale Kategorien und damit eben auf die Faktoren der Urteilsfindung im „Dritten Reich“ selbst zu rekurrieren. Nicht nur im Bereich der Justiz, auch in der weiterhin im politischen wie wissenschaftlichen Diskurs vorhandenen eugenischen Argumentationslogik und der Weigerung, die Zwangssterilisationen in ihrem rassenhygienischen Bedeutungszusammenhang und ihren psychischen und physischen Folgen zu sehen, zeigten sich Kontinuitäten in der Bundesrepublik. In der Konsequenz kam es zu einer jahrzehntelangen Verweigerung von finanziellen „Entschädigungsleistungen“ und politischer Anerkennung. Auch die gesellschaftliche Haltung unterlag erst in den 1980er Jahren deutlichen Veränderungen. Das sich wandelnde Verhältnis gegenüber der (Zwangs-) Eugenik und ihren Opfern, ablesbar an Argumentationsfiguren und normativen Bezügen, muss hierbei vor dem Hintergrund der sich wandelnden politischen Kultur in der Bundesrepublik gesehen werden. Insofern stellt diese Arbeit auch einen Beitrag 1332
Aus dem Gutachten eines Hamburger Amtsarztes, zitiert nach Rothmaler (1991), S. 174; Ebenda (1993), S. 142.
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zu dieser Entwicklungsgeschichte dar. Die jeweiligen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Haltungen gegenüber eugenischen Zwangsmaßnahmen sind eng mit den politisch-kulturellen Entwicklungen ihrer Zeit verbunden, beispielsweise der Annahme unterschiedlicher Wertigkeiten von Menschen, kollektivethischer Bezüge und der Akzeptanz weitgehender staatlicher Verfügungsrechte. Liest sich der veränderte Umgang mit den Betroffenen damit auf den ersten Blick wie ein weiterer Beleg für die bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte, so wird doch vielleicht stärker als in anderen Zusammenhängen die Fragilität dieses Demokratisierungs- und normativen Wandlungsprozesses deutlich. Der Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Unrechtsregime und der bundesrepublikanischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erweist sich in dieser Hinsicht als überraschend gering. Vielmehr wird erneut die Kontinuität von Denkmustern auch über Systembrüche hinaus und vor diesem Hintergrund die Bedeutung eines selbstreflexiven gesellschaftlichen Umgangs deutlich. Der nationalsozialistische Staat besaß eben kein „Monopol auf Unrecht“ (Wolfgang Reinhard). Der bundesrepublikanische Staat setzte mindestens teilweise Unrecht, als Recht deklariert, fort. Die im „Dritten Reich“ nach dem GzVeN erfolgte Zwangssterilisation beinhaltete eine durch staatliche Instanzen erfolgte Minderwertigkeitserklärung, welche nach 1945 vielfach Bestätigung und selten Kritik und Distanzierung erfuhr. Bei den Argumentationen vieler Betroffener in ihren Briefen und Aussagen gegen diese unterstellte „Minderwertigkeit“ entsteht ein weiteres Dilemma. Durch die Versuche, die eigene gesellschaftliche „Wertigkeit“ zu skizzieren und sich zumindest implizit gegen tatsächlich „Erbkranke“ abzugrenzen, werden mittelbar die Kategorien der Täter gestützt und lediglich eine geringe gemeinsame Opfergruppenidentität entwickelt. Hierin liegt ein zentraler Unterschied zu anderen Verfolgtengruppen des „Dritten Reichs“. Zudem war die Heterogenität der Betroffenen ein weiteres Kennzeichen dieser Opfergruppe. Zu ihr gehörten psychisch Kranke und körperlich Behinderte ebenso wie sozial Auffällige und viele, die aus diversen Gründen in die Mühlen der „Erbgesundheitsgerichtsbarkeit“ gelangt waren – Binnengruppen, die zum Teil in sich vorurteilsbehaftet waren. Ihr einziges verbindendes Element war ein negatives, die Stigmatisierung als „minderwertig“ und „erbkrank“. Insofern bedurfte es für eine erfolgreiche Interessenvertretung nicht nur einer veränderten gesellschaftlichen und politischen Haltung, sondern ebenso eines Einstellungswandels innerhalb der Betroffenengruppe. Zwangssterilisation bedeutete, das zeigt die Analyse der unterschiedlichsten Quellen, in der Konsequenz zerstörte Lebensperspektiven: Die gewünschte Ausbildung konnte nicht angetreten oder beendet werden, der Wunschpartner nicht geheiratet, die Lebens- und Familienplanung nicht umgesetzt werden.
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Zusammenfassung und Ausblick
Das Leben wurde zu einer Kette kaum beeinflussbarer, negativer Ereignisse. Gebrochene Identitäten äußerten sich in schambesetztem Schweigen und sozialer Isolation, in Depressionen und Verbitterung. Es ging im Leben nach der Sterilisation, in individuell unterschiedlicher Ausformung, zumeist um ein Aushalten, um ein „Darüberhinwegleben“ (Kristin Platt), welches dem Einzelnen unterschiedlich gelang. Aus der Perspektive vieler Zwangssterilisierter waren die Leiden zwar durch die nationalsozialistische Politik hervorgerufen, fanden aber nach 1945 ihre Fortsetzung. War diese Kontinuität zum einen in der weitgehenden Irreversibilität der Eingriffe und den physischen wie psychischen Verletzungen begründet, so fand insbesondere die Internalisierung einer Stigmatisierung ihre oftmals lebenslange Bestätigung – auch durch die Kontinuität der sozialen Ausgrenzung. Dementsprechend werden noch Jahrzehnte nach der Sterilisation tief reichende Verletzungen in Selbstzeugnissen wie Fremdbeschreibungen deutlich, so etwa im Brief des 1935 wegen „angeborenen Schwachsinns“ zwangssterilisierten H. H., der Anfang der 1960er Jahre an das Hamburger Amtsgericht schreibt, dies „[...] sei im Leben nie wieder an mein seelisches u. innerliches Leben nie wieder gut zu machen auch nicht mit geld u. gute worte [...] ich bin durch die Sterilisation ein organisch toter Mensch geworden ich habe keine Würde nicht mehr, u. ein Mensch, der keine Würde mehr hat, bedeutet auf dieser Welt nichts mehr [...].“1333
Wenn die vielbemühte „Wiedergutmachung“ überhaupt einen Sinn hat, müsste sie an dieser Stelle ansetzen. Die Wiederherstellung der Menschenwürde als zentrale – nicht zuletzt gesellschaftlich zugewiesene – Kategorie und die Anerkennung des Unrechts und der Leiden stellen die beiden wesentlichen Bedürfnisse der Betroffenen dar. Hier zeigt sich ein kausaler Zusammenhang zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene. In Bezug auf die Zwangssterilisierten ist es in der Bundesrepublik jahrzehntelang nicht gelungen, ebendiese staatlich genommene Würde wieder zurückzugeben. Die finanziellen „Wiedergutmachungsleistungen“ der 1980er Jahre, die für die Mehrheit der Betroffenen ohnehin zu spät kamen, sind bis in die Gegenwart ausdrücklich keine Anerkennung der Zwangssterilisierten als nationalsozialistische Opfer. Weitere Fragestellungen, Quellen und Methodiken, die an diese Arbeit anknüpfen, sind denkbar. Beispielsweise ließe sich in Erweiterung der Untersuchungen von Bock und Hahn die Frage der Lebensperspektive der Zwangssterilisierten 1333 Das Zitat wurde einem 11-Seitigen handschriftlichen Brief vom 22.6.1961 entnommen, Amtsgericht Hamburg-Mitte 59 XIII 3/61.
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unter einem genderspezifischen Blick analysieren.1334 Einen Versuch in dieser Richtung unternimmt Heiselbetz in ihrer Untersuchung über die Erlebniswelt von zwangssterilisierten Patienten des Langzeitbereichs der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Sie sieht dabei Unterschiede sowohl in der psychischen Verarbeitung der Sterilisation als auch in der Reaktion der Umwelt bei Männern und Frauen: „Nach meinem Eindruck war es für Frauen leichter, sich über ihre Gefühle auszutauschen und dadurch das Erlebte zu verarbeiten. Auch scheint mir die ‚Opferrolle’ der weiblichen Sterilisierten problemloser mit dem Bild der Frauenrolle zu vereinbaren gewesen zu sein, als dies für männliche Sterilisierte mit dem Bild des ‚perfekten Mannes’ möglich gewesen wäre.“1335 Männliche Betroffene hätten durch den Eingriff ihre „geschlechtliche Identifikation“ verloren beziehungsweise versucht, diese „durch ‚besonders männliches Verhalten’ zurückzugewinnen“, beispielsweise durch „heroisches Ertragen“ des Leidens.1336 Auch im Bezug auf die Verfahrensbeteiligten der Wiederaufnahmeverfahren der Erbgesundheitsgerichtsprozesse wäre eine solche geschlechtsspezifische Fragestellung möglich. Wenngleich die Mehrzahl der Begutachtenden und Beurteilenden Männer waren, waren auch Frauen involviert. Allerdings lässt sich zumindest bei einer ersten Betrachtung in den Bewertungsmaßstäben kaum ein solcher Unterschied feststellen.1337 In diesem Kontext scheint weniger ein genderspezifischer Blick, als vielmehr der im Laufe der Zeit einsetzende Wandel in der Beurteilung von Bedeutung. Darüber hinaus könnten weitere Quellenbestände und Analysemethoden einbezogen werden: Neben zusätzlichen Interviews1338 und Verfahrensakten aus Wiederaufnahmeprozessen1339 würden Verwaltungsakten aus den „Entschädigungs“-Verfahren eine sinnvolle Erweiterung darstellen.1340 Daneben könnten unter anderem Untersuchungen des breiten medialen Umgangs mit dem Thema seit 1945, ideengeschichtlich orientierte Analysen der Argumentationsmuster medizinischer und politischer Debatten,1341 der spezifischen Gedenkkultur sowie nicht zuletzt des gegenwärtigen Umgangs mit behinderten und psychisch kranken Menschen weitere wichtige Ergänzungen der hier aufgeworfenen Fragestellung bieten. Schließlich sind weitere Untersuchungen auf 1334
Vgl. Bock (1986); Hahn (2000). Heiselbetz (1992), S. 114-117, Zitat S. 117. 1336 Ebenda. 1337 Vgl. zum Beispiel Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel, Nr. 2058 und fortfolgende Verfahren. 1338 Der BEZ führt derzeit weitere Interviews mit Betroffenen durch, diese stehen in den Büroräumen der Organisation bzw. dem Staatsarchiv Detmold als Audiodatei zur Verfügung. 1339 Diese lagern u. a. in den Staatsarchiven Düsseldorf und Hannover. 1340 Diese stellen die Quellenbasis der bereits genannten Dissertation von H. Tümmers dar. 1341 Vgl. u. a. Hohendorf/Roelcke/Rotzoll (1997). 1335
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Zusammenfassung und Ausblick
der Grundlage in dieser Arbeit bereits herangezogener Quellen denkbar. Die qualitative Analyse bietet hier eine Fülle weiterer Möglichkeiten. Einen weitereren Untersuchungsgegenstand stellt die Frage nach dem Umgang mit dem Thema in den betroffenen Familien dar. Die im Archiv des BEZ vorhandenen Briefe von Angehörigen weisen im Bezug auf die Zwangssterilisierten nicht nur auf viele der Elemente hin, die sich auch in den Briefen der Betroffenen selber finden – lebenslange Scham, Stigmatisierung, „Leiden“, Schweigen, Schwierigkeiten in der Antragstellung und Bedeutung der erhaltenen „Entschädigung“1342, – sondern geben darüber hinaus in einigen Fällen auch einen kurzen Einblick in die Folgen für Angehörige, insbesondere Kinder der Betroffenen.1343 So berichtet Frau W., deren Mutter zwangssterilisiert wurde: „Auch als Tochter fällt es mir nicht leicht über dieses Unrecht zu sprechen. Wie schwer muss es erst für meine junge Mutter und auch Vater gewesen sein. Es ist das erste Mal das ich mit meinem bzw. meiner Mutter Hausarzt darüber gesprochen habe. Es war immer ein großes Geheimnis für unsere Familie. Uns Kindern haben sie es recht spät erzählt bzw. mitgeteilt. Die Narben hat meine Mutter uns erst vor 4 Jahren beim Baden gezeigt. Es fiel ihr nicht leicht.“1344
Schließlich erscheint die Entwicklung der Eugenik, und auch dieser Frageansatz ist lohnenswert,1345 eng verzahnt mit der Geschichte der Moderne.1346 Der Durchbruch der Moderne schuf sowohl die Intensität des Krisenbewusstseins einer gesamtgesellschaftlichen „Degeneration“ als auch die (vermeintlichen) Möglichkeiten – und vor allem den gesellschaftlich und politisch weit verbreiteten Glauben –, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden die auftretenden Probleme zu überwinden. In der „Krise der Moderne“1347 kulminierte diese Bewusstseinslage in einer breiten Akzeptanz eugenischer Denkmodelle und schließlich, 1342
Zu Letzterem vgl. zum Beispiel Brief von E. M. bei L. H. vom 17.4.2000, Zwangssterilisierte lebend, BEZ. 1343 In verschiedenen Kontexten rückte in den letzten Jahren die zweite oder dritte Generation von NS-Opfern in die wissenschaftliche und öffentliche Wahrnehmung. Im Bezug auf Nachkommen von Holocaust-Überlebenden vgl. zum Beispiel Grünberg (2000), insbesondere auch das Literaturverzeichnis. 1344 Brief vom 9.12.1991, Zwangssterilisierte verstorben, BEZ. 1345 Vgl. hierzu z. B. Simon (2001). 1346 Zum schillernden Begriff der Moderne vgl. Gumbrecht (2004) [Erstveröffentlichung 1978]. 1347 Vgl. Peukert (1987).
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unter den Bedingungen des Nationalsozialismus, in der Umsetzung von Zwangsmaßnahmen einer negativen Eugenik. Im Wandel zur Postmoderne lässt sich vor dem Hintergrund einer generellen gesellschaftlichen Individualisierung und der verbreiteten Abkehr von autoritären und kollektivistischen Vorstellungen sowie nicht zuletzt in Abgrenzung zu den Taten im „Dritten Reich“ eine Neuausrichtung der Eugenik/Humangenetik feststellen. Gleichzeitig gilt nun noch viel mehr, dass „[a]lles, was zuvor als ‚natürlich’ galt, [...] jetzt wissenschaftlich durchleuchtet und damit gestaltbar – und eben auch entscheidungspflichtig [ist].“1348 Der Einzelne sieht sich hierbei in den Kontext einer Wissenschaft und Gesellschaft gestellt, welche auch ohne gerichtlichen und polizeilichen Zwang Druck auf die individuelle Entscheidung ausüben können. In der Eugenik zeigt sich am Ende nicht zuletzt Janusköpfigkeit und eine „Dialektik der Aufklärung“: „Modernität und Regression, Humanität und Barbarei, Ethos des Heilens und Handwerk des Vernichtens – das alles und noch mehr liegt eng beieinander.“1349 Gilt dies für die Geschichte selbst, so auch für den Umgang mit ihr, denn: „Die Art der Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die weder 1933 begann noch 1945 endete, ist ein Indikator für die dialektischen Sprünge der Aufklärung“1350 und markiert die immanenten Gefährdungen auch einer Gesellschaft mit einem demokratischen politischen System.
1348
Labisch (2002), S. 81. Nowak (1993), S. 173. 1350 Ebenda. 1349
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Literatur und Quellen Unveröffentlichte Quellen Briefe an den „Bund der ‚Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten“: •
Archiv des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ), Detmold, [nach der Auflösung: Staatsarchiv Detmold] o Zwangssterilisierte lebend A - Z o Zwangssterilisierte verstorben A - Z
Wiederaufnahmeverfahrensakten von Erbgesundheitsprozessen aus den Beständen: • • • •
Archiv des Amtsgerichts Hamburg-Mitte, Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen, 56 und 59 XIII Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Erbgesundheitsgerichte Landesarchiv NRW – Staatsarchiv Münster, Amtsgericht Hagen Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 355 Kiel
Interviews: •
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•
Werkstatt der Erinnerung, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg o WdE/FZH 276, Aliasname W. Rieve, anonymisierte Fassung, Interviewer Jens Michelsen, 16.11.1994 o WdE/FZH 281, Aliasname O. Paape, anonymisierte Fassung, Interviewerin Ulrike Jureit, 30.11.1994 o WdE/FZH 284, Aliasname H. Bressel, anonymisierte Fassung, Interviewerin Petra Vollmer, 7.12.1994 o WdE/FZH 344, Aliasname A. Sehwegder, anonymisierte Fassung, Interviewerin Beate Hugk, 12.3.1991 Institut für Geschichte und Biografie, Lüdenscheid o Interview G. L., Interviewer Alexander von Plato, 12.10.1987 o Interview F. N., Interviewerin Leonie Wannenmacher, 7./8.2.1994 (Videoaufnahme) Archiv des BEZ, Detmold [Staatsarchiv Detmold] o Interview mit G. M., Interviewerinnen Margret Hamm, Stefanie Westermann, 31.8.2006
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o
Interview mit G. B., Interviewerinnen Margret Hamm, Stefanie Westermann, 31.10.2006
Sonstige Dokumente: •
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Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 201, Ernst Klein, „Die Gründe für die Verordnung über Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947 und ihre Auswirkung.“, undatiert, Probearbeit für die schriftliche Amtsarztprüfung Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 197, Paul Evers, „Umfang und Entwicklung der Erbgesundheitspflege während und nach dem Kriege, Hamburg 1949 Staatsarchiv Hamburg, 364-12, Akademie für Staatsmedizin A 205, Karl Traenckner, „Bedeutung und Erfahrungen mit der Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen vom 28. Juli 1947, Hamburg 1951, Probearbeit zur schriftlichen Amtsarztprüfung Bayrisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Staatskommissariat für rassisch, religiös, politisch Verfolgte 70 Bayrisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), MInn vorl. Nr. M 1068.01 Mitteilungsblatt des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. Nr. 2 vom September 1952, BEZ, Detmold Schreiben des Zentralverbandes der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V. – Gießen/Lahn, undatiert (1951), BEZ, Detmold
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Literatur und Quellen
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