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German Pages 457 [460] Year 1988
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Ulrich Tschierske
Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988
Gedruckt mit Unterstützung der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
Für Ina und Nina
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tschicrske, Ulrich: Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität: Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers / Ulrich Tschierske. - Tübingen: Niemeyer, 1988 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 97) NE: GT ISBN 3-484-18097-8 ISSN 0081-7236 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Eisele & Kretschmer GmbH, Stuttgart Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Statt eines Vorworts
Mehrere Jahre der anhaltenden Auseinandersetzung mit Schillers »ästhetischen Schriften« waren vergangen, bevor ich diese Dissertation - damals noch unter dem Titel: »Geschichtliche Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität in den philosophischen Schriften Friedrich Schillers« im Sommersemester 1986 im Dekanat für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum vorlegen konnte. Mit ihr liegt ein »work in progress« vor, das trotz seiner unterschiedlichen Entstehungsbedingungen eine gedankliche Einheit bildet, weil es auf allen Stufen der Reflexion aus einem grundlegenden Mißtrauen hervorgegangen ist: aus dem ständigen Zweifel an den immer noch virulenten und meist zu glatten »Lösungen«, die Schillers Ästhetik und Kunstlehre als »ästhetische Utopie« und »ästhetische Geschichtsphilosophie« oft mehr bezeichnen als untersuchen. Für den gordischen Knoten, den Schillers Ästhetik und Kunstlehre für mich darstellte, erschienen mir solche und ähnliche »Lösungen« jedenfalls als zu wohlfeil - vor allem auch angesichts eines Autors, welcher selbst ausdrücklich über die »Analysten« gespottet hat, die »keinen bessern Beweis für die Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen als den, daß sie geboten ist«. Es ist Schillers eigener Zweifel am bloßen Postulat, der seinen heute noch aufregenden Versuch begründet hat, die »erfüllte Unendlichkeit« des ästhetischen Zustandes als »das reale Gegenstück« zur »Barbarei« der Moderne zu denken, ohne damit der utopischen Schwärmerei einer ästhetisch gereinigten Vernunftpolitik zu unterliegen, für die in der zeitgenössischen Triebstruktur keine zureichende Grundlage mehr zu entdecken war. Zu sehr und zu nachhaltig hatte der Antagonismus der Triebkräfte Vernunft und Empfindung in sich zersetzt, um die Schönheit des ästhetischen Spiels noch als geschichtliche Möglichkeit einer Moderne zu garantieren, welche ihr eigenes Selbstverständnis bis auf den heutigen Tag aus dem Pathos ihrer Versöhnung bezieht. Mit der Deformation der inneren Natur ist die »Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit« vielmehr so radikal bedroht, daß davor jedes allein nur utopische Denken an innerer Überzeugungskraft einbüßen muß. Das Werk der ästhetischen und politischen Versöhnung war für Schiller daher auch »eine Aufgabe für mehr als ein Jahrhun-
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dert«, für deren Lösung auch heute noch kaum mehr als erste Versuche auszumachen sind, wo die Vergewaltigung der Natur inzwischen längst selbstmörderische Züge angenommen hat und der Mensch unendlich weit von jener »totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise« entfernt scheint, »ohne welche er auch nicht einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde«. Schillers »Projekt der Moderne« ist jedenfalls aktueller denn je, weil es immerhin auch der Möglichkeit Raum gibt, daß der Mensch seine Menschheit in seiner Freiheit verspielt. Angesichts dieser Situation habe ich es als meine Aufgabe gesehen, die theoretische Problemlage einerseits in ein äußerstes Extrem zu treiben, andererseits aber auch höchst reale Spuren einer geschichtlich verstellten Versöhnung auszumachen, durch die hindurch sich diese vielleicht doch noch aus ihren Fesseln befreien könnte. Vor allem die innere Form von Schillers Vernunftkritik und die ästhetischen Züge der sentimentalischen Sehnsucht zeigten sich meiner Untersuchung als Spuren einer Versöhnung, um die es auch heute noch geht. Manches ist darüber an den Rand des Interesses geraten, vieles wäre als Folge der Neuorientierung weiter zu reflektieren, allem voran Konsequenzen der Resultate für die Deutung poetischer Werke und die Neuwertung von Schillers Stellung zur Frühromantik. Beides und mehr wird mich jedoch weiterhin interessiert und geschäftig finden.
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Inhalt
SIGLEN EINLEITUNG I. KRITIK DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE
1. Die systematische Degradierung der Sinnlichkeit 2. Das Gewissen als »Faktum der Vernunft« 3. Die Ästhetisierung der Moralität im Begriff des Erhabenen
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II. D I E EINHEIT VON PHILOSOPHISCHER U N D GESCHICHTLICH-POLITISCHER KRITIK
1. Revolutions- und Aufklärungskritik 2. Kritik der Empfindsamkeit 3. Kritik des moralischen Idealismus I I I . KRITIK U N D WECHSELWIRKUNG
1. Der frühe Entwurf des Organischen 2. Organismus und reflektierende Urteilskraft
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IV. D I E ÄSTHETISCHE SUBJEKTIVITÄT: ANERKENNUNG U N D SEHNSUCHT
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1. Die Idee der ästhetischen Wechselwirkung 2. Anerkennung und wechselnde Form 3. Die Objektivität des Schönen und das Spiel der ästhetischen Reflexion 4. Sehnsucht und sentimentalische Suche
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LITERATURVERZEICHNIS
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Siglen
AB
Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der >Horen< und letzte, verbesserte Fassung. Mit einem Vorwort herausgegeben von W Henckmann, München 1967.
FW
J. G. Fichte, Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 8 Bände, Berlin 1845/6 (Neudruck: Berlin 1971).
HA
J. W Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von E. Trunz. Hamburg 1948ff.
HW J. G. Herder, Werke in fünf Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von R. Otto, 6. Auflage, Berlin/Weimar 1982. MKS K. Ph. Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hrsg. von H. J. Schrimpf, Tübingen 1962 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N. F.). MW K. Ph. Moritz, Werke. 3 Bände. Hrsg. von H. Günther, Frankfurt a. M. 1981. SW
Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Aufgrund der Originaldrucke herausgegeben von G. Fricke und H. G. Göpfert, 4., durchges. Auflage, München 1967.
WA
I. Kant, Werkausgabe in zwölf Bänden. Hrsg. von W Weischedel, Frankfurt a. M. 1977.
IX
Das Menschenherz Tsui-Khüfragt Lao-Tse: » Wenn das Reich nicht regiert werden soll, wie sind die Herzen der Menschen gut zu machen?« Lao-Tse antwortete: »Achte darauf, die natürliche Art des Menschenherzens nicht zu stören. Das Herz des Menschen kann niedergedrückt und es kann aufgerührt werden. Niedergedrückt ist es wie ein Gefangener, aufgerührt ist es wie ein Toller. Durch Zartheit kann das härteste Herz besänftigt werden. Aber versuche es zu hobeln und zu glätten, — es wird wie ein Feuer erglühen oder wie Eis erstarren. Ehe sich dein Haupt wendet, wird es über die Grenzen der Vier Meere entfliehn. In Ruhe, tief beständig; in Bewegung zum Himmel aufgeschnellt; entschiednen Stolzes sich aller Bindung weigernd: — so ist das Menschenherz.« Tschuang-Tse
Einleitung
M i t allen anderen Interpretationen v o n Schillers ästhetischen Schriften scheint auch der Versuch über »Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität« das Schicksal zu teilen, sich mit Hinblick a u f die vieljährige Wirkungsgeschichte 1 und die inzwischen ins Unabsehbare angeschwollene Literatur über Schiller 2 erst eigens rechtfertigen zu müssen, zumal dann, wenn der Entwurf der ästhetischen Subjektivität sich als Funktion einer geschichtlich vermittelten Anthropologie und Kritik und ihres zwar nicht immer einheitlichen, wohl aber doch h o m o g e n e n Reflexionskontinuums darstellt. S c h o n die behauptete Kontinuität, die zu beweisen den Prolegomena freilich nicht z u k o m m e n kann, scheint so gewagt wie auch unzeitgemäß — gewagt, weil ihre Rekonstruktion d e m G e s a m t k o r p u s der ästhetischen und philosophischen Schriften gilt und den Akzent weniger a u f das Unterscheidende als vielmehr a u f das Verbindende und in der Verbindung erst Einheitliche legt; unzeitgemäß, weil sie darin den noch v o n H e l m u t K o o p m a n n 3 beklagten »Rückgang großräumiger Darstellungen« 1
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Vgl. hierzu vor allem: Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von N. Oellers. Teil I: 1782-1859 (Frankfurt a.M. 1970); Teil II: 1860- 1966 (München 1976). Vgl. hierzu: Schiller, Bibliographie 1893-1958. Bearb. von W. Vulpius, Weimar 1954 - Schiller, Bibliographie 1959-1963. Bearb. von W Vulpius, Berlin Weimar 1967 - Schiller, Bibliographie 1964 -1974. Bearb. von P. Wersig, Berlin Weimar 1977. - Vgl. hierzu auch die Literatur- und Forschungsberichte von W Paulsen (Friedrich Schiller 1955-1959. In: Jb. d. dt. Schillergesellschaft 6,1962, S. 446ff.); K.L. Berghahn (Ästhetik und Politik im Werk Schillers. Zur jüngsten Forschung. In: Monatshefte 66,1974, S. 401ff.); H. Koopmann (Schiller-Forschung 1970-1980. Ein Bericht. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach a.N. 1982). Eine Durchsicht der einschlägigen Bibliographie und der Literatur- und Forschungsberichte zeigt, daß das Thema der geschichtlichen Form der Vernunftkritik und ihrer anthropologischen Fundierung in der Verbindung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie und ihrer Kritik bislang noch nicht eigens untersucht und systematisch entwickelt worden ist. Vgl. H. Koopmann, Schiller-Forschung 1970 -1980, S. 7f., 135. - H. Koopmann spricht insbesondere auch mit Blick auf die Interpretation der philosophischen Schriften »von einem Gewinn an außerliterarischen Parallelen und Begründungen und zugleich von einem Mangel an philosophischer Hintergründig-
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und die in ihm beschlossene Tendenz zur »Atomisierung der Schiller-Forschung in eine Vielzahl von Teilaspekten« in dem Wissen zu überwinden sucht, daß der Teil so wichtig ist wie das Ganze, die Differenz so entscheidend wie alle Einheit, die ohnehin nur mit einiger Gewaltsamkeit zu erpressen ist.4 Dies um so mehr, als Schillers philosophische Schriften ihren ästhetischen Charakter und Ursprung kaum je verleugnen, »philosophisch-poetischeti Visionen«5 entsprechend, welche stets einer »Reise«6 im »Labyrinth«7 gleichen und auf jener nur schwer bestimmbaren Grenze ste-
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keit. Allgemein zeichnet sich ein Rückgang der Thesen ab: man beschäftigt sich häufiger mit Details, weniger mit Ideen, die widerlegt werden könnten; historische Hintergründe kommen auf, nicht Deutungsmöglichkeiten, und alles in allem scheint sich ein Rückgang der kühnen oder auch bewußt provozierenden Exegese anzudeuten, ein Rückzug auf das Gesicherte oder zu Sichernde, ein deutlich größer gewordener Mangel an Gedankenfreiheit im interpretatorischen Sinne - bei einem wachsenden Verlust an traditionellem historischem Bewußtsein [...] [so] kommt dem alten Problem, wieweit Schiller Kant überwunden habe, nicht so sehr der Rang einer nostalgischen Frage als vielmehr einer bekundeten Unfähigkeit zu neuen Fragestellungen zu. Möglicherweise zeichnet sich auch hier das endgültige Ende der Geistesgeschichte ab - die Sozialgeschichte derLiteratur, was immer man auch darunter verstehen mag, hat sie ebenfalls im Bereich der Philosophie abzulösen begonnen, auch wenn die Ansätze dazu noch spärlich sind.« Vgl. Koopmann, ebd., S. 7, 135 (Hervorhebungen von U.T.). H. Koopmanns überall spürbare Reserve und Skepsis gegenüber sozialgeschichtlichen Interpretationsansätzen (vgl. ebd., S. 21, 39, 56, 84f., 139ff.) muß nicht in jedem einzelnen Fall geteilt werden, um der von ihm bezeichneten Tendenz zuzustimmen. Vgl. hierzu auch: H. Koopmann, Schiller-Forschung 1970-1980, S. 28, 63. Es ist nur allzu verständlich, daß Koopmann auf eine systematische Darstellung des Problems verzichtet, zählt er doch insgesamt »ca. 1000 Editionen oder Arbeiten über Schiller« allein nur im Berichtszeitraum. Vgl. Koopmann, ebd., S. 7. Vgl. Schiller, Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, in: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der >Horen< und letzte, verbesserte Fassung. Mit einem Vorwort hrsg. von W Henckmann, München 1967, S. 14 (Brief vom 9.2.1793) - (Hervorhebungen von U,T.). Alle Belege aus Briefen an den Augustenburger werden nach dieser unter der Sigle »AB« angeführten Ausgabe zitiert. Vgl. Schiller, AB, S. 13 (Brief vom 9.2.1793) - (Hervorhebungen von U.T.). Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von G. Fricke und H.G. Göpfert, 4., durchges. Auflage, München 1967, 5. Band, S. 625 (Hervorhebung von U.T.). Alle Schiller-Zitate beziehen sich auf diese unter der Sigle »SW« angeführte Ausgabe. Die Zitation folgt darin dem Beispiel der Düsseldorfer Habilitations-Schrift von H.-G. Pott, Die schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift, >Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefenj edes Wesen in der ästhetischen Beurteilung als einen Selbstzweck< betrachten und es uns, denen die Freiheit das Höchste ist, ekelt (empört), daß etwas dem anderen aufgeopfert werden und zum Mittel dienen soll. "
An der praktischen Vernunft äußert sich damit ein fundamentaler Zweifel, der keineswegs nur ästhetisch motiviert ist, sondern vielmehr das entscheidende und immer noch zum Entwurf der Vernunft selbst gehörende Verhältnis der Moralität zur Erscheinung betrifft, artikuliert in jenen Begriffen von Opfer, Zwang und Gewalt, welche der Terror im Namen der »Tugend« nur schmerzlich zu unterstreichen scheint, um die Kritik der moralischen Vernunft und der Kantischen Ethik in jene geschichtliche Vernunftkritik zu verwandeln, in der die aufgeklärte Vernunft und mit ihr die gesamte Kultur der Moderne in ein irritierendes Zwielicht rücken. Mit der Französischen Revolution und der Aufklärung ist nicht nur der geschichtliche Fortschritt, sondern auch und vor allem sein Subjekt von Grund auf problematisch und frag-würdig geworden, so zwar, daß noch die kritische Subjektivität in jenes Zwielicht hineingestellt bleibt, welches sie sich zum Gegenstand macht, um ihren eigenen Standpunkt und die ihr eigene Form zu suchen und zu bestimmen. Auch die Kritik steht nicht außerhalb, sondern immer nur innerhalb des Kritisierten — daher auch der ständige Wechsel der Perspektive und jenes schon von der älteren Forschung nachgewiesene und beklagte Oszillieren selbst von zentralen Begriffen, 20 welches die Rekonstruktion eindeutiger Bestimmungen und »Positionen« so außerordentlich erschwert und dazu zwingt, die vielfältigen Wege der kritischen Suchbewegung nach allen Seiten hin auszuschreiten. Der Leitfaden der Rekonstruktion ist daher kein nur abstrakter Begriff und kein methodologisch verfugtes Modell der Kritik, sondern ihre konkrete Bewegung in jenem entscheidenden Paradigma, das sie in
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Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 4 0 7 (Hervorhebungen von U.T.). Vgl. hierzu vor allem: W Böhm, Schillers >Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschern (DVjs, Buchreihe Band 11), Halle 1927. - S. Latzel, Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers »Kallias« mit Bezug auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft 2,1961. S. 3 1 - 4 0 . - O. Sayce, Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers ästhetischer Terminologie. In: Jb. d. dt. Schillergesellschaft, 6 , 1 9 6 2 , S. 1 4 9 - 1 7 7 . - Vgl. aber vor allem auch: E . M . Wilkinson, L. A. Willoughby, Schillers ästhetische Erziehung des Menschen, S. 2 4 9 - 2 9 7 .
i m m e r n e u e n Variationen reflektiert — i m Verhältnis v o n Natur und Vernunft. 21 N i c h t nur, weil der Vernunftbegriff Kants die für Schiller stets repräsentative Gestalt der Vernunft selbst ist, sondern vor allem auch, weil die kritische P h i l o s o p h i e und ihre kritische A n e i g n u n g jenes entscheidende M e d i u m darstellt, i n d e m Schillers D e n k e n seine Form sucht u n d über längere Zeit auch findet, sind das Verhältnis zur kritischen Philosophie und die Kritik an der Kantischen Ethik der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion und ihr T h e m a . E i n solcher Rekurs auf d e n H o r i z o n t Kantischer Begriffs- u n d Theoriebildung scheint zunächst kaum mehr als ein A n a c h r o n i s m u s zu sein, hat d o c h die ältere Forschung das Verhältnis zur kritischen Philosophie und vor allem zu ihrer Ethik sehr o f t und z u w e i l e n auch sehr genau analysiert. 22 Bei der kritischen Durchsicht 21
Ein den konkreten Phänomenen und ihrer Kritik vorgeordneter Begriff wäre immer nur ein abstrakt Allgemeines, das in seiner Abstraktheit schon jeder Darstellung einer geschichtlichen Form der Vernunftkritik fremd bleiben m u ß und daher kein Maß der konkreten Rekonstruktion des Begriffs sein kann. Hinzu kommt, daß auf Schillers eigene Reflexion der Kritik auf ihre Form und auf ihren Rechtsgrund hin nicht gebaut werden kann, denn eine solche hat Schiller nirgendwo im systematischen Zusammenhang vorgetragen. So bleibt auch der Rekonstruktion nur ein mühsames und vielfach in sich gewendetes Durchlaufen der Konkretionen, das an Walter Benjamins Bestimmung von der Methode als Umweg erinnert: »Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück [...] Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein - und sei es transzendental - innegehabt werden muß. Ihm bleibt der Besitzcharakter. Diesem Besitztum ist Darstellung sekundär. Es existiert nicht bereits als ein Sich-Darstellendes. Gerade dies aber gilt von der Wahrheit. Methode, für die Erkenntnis ein Weg, den Gegenstand des Innehabens [...] zu gewinnen, ist für die Wahrheit Darstellung ihrer selbst und daher als Form ihr mitgegeben.« Vgl. W Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: WB., Gesammelte Schriften, I, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 208f. - Man wird diese Bestimmungen, zumal die des »Traktats«, nicht bruchlos auf eine wissenschaftliche Form der Arbeitens übertragen können, obgleich sie sich dem Begriff einer kritischen Reflexion nähern, der zugleich auch der Gegenstand und die Aufgabe der hier versuchten Rekonstruktion ist.
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Vgl. hierzu vor allem: K. Fischer, Schiller als Philosoph, Heidelberg 1892. - E. Kühnemann, Kants und Schillers Begründung der Ästhetik, München 1895. F. A. Schmidt, Schiller als Philosoph und seine Beziehungen zu Kant. Festgabe der Kantstudien, hrsg. von H. Vaihinger, 1905 (ohne Ortsangabe). - W Rosalewski, Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen, Heidelberg 1912. K. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe. In: Κ. V: Gesammelte Aufsätze, 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1923. - E. Spranger, Schillers Geistesart gespiegelt in seinen philosophischen Schriften und Gedichten, Berlin 1941. 9
vieler Arbeiten ergibt sich jedoch sehr bald, daß ihre zumeist durch die M e t h o d e der philosophischen Konsistenzprüfung erbrachten Resultate bei weitem zu einseitig a m begrifflichen Maßstab der Kantischen Terminologie orientiert sind und sich daher o f t zu Gesamtwertungen verdichten, in denen die sachlichen D i f f e r e n z e n zwischen der Ethik und ihrer Kritik ausgelöscht werden, sei es, daß die D i f f e r e n z beider Ansätze harmonisierend zugunsten Kants eingeebnet wird, 23 sei es, daß ihre Einheit in denselben philosophischen M ä n g e l n gesucht und g e f u n d e n wird. 24 Tadel und Kritik, oft hin bis zur schulmeisterlichen Zurechtweisung, entsprechen daher — von einzelnen Arbeiten abgesehen 2 5 — der M e t h o d e des nur abstrakten Vergleichens, dem vor allem auch das Geschichtliche eine nur fremde D i m e n s i o n zu sein scheint. A n der verdienstlichen Arbeit Wilhelm B ö h m s , der in Schillers Kritik an Revolution und M o d e r n e nichts anderes als eine »leidenschaftliche Verzeichnung der Gegenwart« und die »Tirade« des »einseitigen Anklägers der Kultur« zu erblicken vermag, 2 6 wird daher verständlich, daß die jüngere Forschung ihr Verständnis eher an der Philosophie des deutschen Idealismus und der mit ihr verbundenen geschichtsphilosophischen Problematik ausgerichtet hat und die Reflexion der kritischen Philosophie und ihrer Kritik entweder nur noch in Form einer kurzen Pflichtübung vorgetragen, 2 7 ganz unterlassen 2 8 oder einfach für unbefriedigend erklärt hat. 29 Solche O p p o 23
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So zum Beispiel bei Eugen Kühnemann: »Er [Schiller] bewegt sich tatsächlich im reinsten Geiste Kantischer Entdeckungen. Ein reines Mißverständnis verhüllt seinem Bewußtsein das Verhältnis.« Vgl. E. Kühnemann, Kants und Schillers Begründung der Ästhetik, S. 82. So teilt etwa nach Karl Vorländer Schiller den ethischen Rigorismus der Kantischen Philosophie durchaus, auch wenn seine Kritik sich gerade an diesem entzündet. Vgl. K. Vorländer, Kant, Schiller, Goethe, S. 70 Besonders hervorzuheben sind hier vor allem die Arbeiten von Willi Rosalewski (Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen) und Eduard Spranger (Schillers Geistesart gespiegelt in seinen philosophischen Schriften und Gedichten). Vgl. W Böhm, Schillers >Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschern, S. 20f. Diese geschieht leider auch in der ansonsten so ausgezeichneten Untersuchung E.M. Wilkinsons und L.A. Willoughbys, in welcher der kritische und vor allem auch der ästhetische Bezug Schillers zur kritischen Philosophie nur noch der Gegenstand von einigen - allerdings immer gewichtigen - Zwischenbemerkungen ist. Vgl. Ε.M. Wilkinson, L.A. Willoughby, Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. Vgl. P. Szondi, Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In: P.S.: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik und Poetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, hrsg. von S. Metz und H.-H. Hildebrandt, Frankfurt a.M. 1974, S. llff. Vgl. insbesondere S. 149ff. Vgl. G. Rohrmoser, Zum Problem der ästhetischen Versöhnung. Schiller und Hegel. In: Euphorion 53,1959, S. 353ff.
sitionen bleiben vor allem dem Gegenstand gegenüber abstrakt, hat sich die ältere wie auch die jüngere Forschung doch damit in den abstrakten Gegensatz zwischen einer nur transzendentalen und einer geschichtsphilosophischen, endlich sogar dialektischen Rekonstruktion verrannt, welcher hier wie dort nur an jener Vermittlung von Transzendentalphilosophie und geschichtlicher Vernunftkritik vorbeisehen kann, die in der kritischen und ästhetischen Reflexion Schillers schon auf ganz eigene Weise geleistet ist.30 Ausnahmen bestätigen eher die Regel — für die kritische Philosophie die Arbeiten von Willi Oelmüller 31 und O d o Marquard 32 , nicht zuletzt auch die so eigenwillige wie anfechtbare psychodynamische Rekonstruktion der Gebrüder Böhme; 33 für Schiller vor allem die Unter30
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Der Gegensatz von Transzendentalphilosophie und Geschichte erweist sich vor allem im Falle Schillers als eine Abstraktion, zumal Schillers Leistung gerade in der kritischen Vermittlung beider besteht. Darin ist Schillers philosophische Position der Aufklärung weit mehr verbunden als der spekulativen und nur im Medium des Absoluten hergestellten Vermittlung von Reflexion und Geschichte, in der Hegel allein die Möglichkeit der Versöhnung erblickt, um die Kritik in der Spekulation als Methode letztlich zu »überwinden«. In dem Maße, in dem Schillers Vermittlung stets kritisch ist und die absolute Vermittlung scheut, führt seine philosophische Position und deren Rekonstruktion zur Aufklärung und zur kritischen Philosophie zurück. Hier vor allem liegen die Aufgaben der Schiller-Forschung, nicht bei den oft nur moderaten Vergleichen mit Hegel und seiner Dialektik. Vgl. W Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung. Vgl. O. Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg/München 1958. H. u. G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983. - Nur wenige Interpretationen der kritischen Philosophie, welche die traditionelle Kant-Philologie hervorgebracht hat, können sich mit der am Beispiele Kants entwickelten »Deutung der psychohistorischen Konstitution und der dynamischen Struktur der Rationalität« der Gebrüder Böhme vergleichen, vor allem was die Fülle der zu weiterer Reflexion anregenden Provokationen angeht, mit denen die Untersuchung der Böhmes geradezu gespickt ist (vgl. ebd., S. 11). Eine »Philosophie des Unbewußten« bewußt in die eigene Interpretation integrierende Darstellung (vgl. ebd., S. 11) konstituiert jedoch auch einen Gesichtspunkt, der weit über den Gegenstand hinausgeht und die Frage der eigenen Angemessenheit an den Gegenstand auf jeder Stufe der eigenen Interpretation neu zu beantworten hat, insbesondere dann, wenn die herausgearbeitete Tiefendimension mit der eigenen Textkonstitution des Gegenstandes nicht übereinkommt. Dies ist allerdings bei der Deutung der Böhmes überall der Fall, wo die Auslegung sich mit den transzendental konstituierten Texten der kritischen Philosophie beschäftigt, denn hier ist die vorwiegend psychoanalytische und psychohistorische Rekonstruktion mit einer ihr keineswegs zugebildeten Textkonstitution konfrontiert. Diese Differenz aber erfordert methodologische Reflexion umfänglichen Ausmaßes, eine Reflexion, auf welche die Böhmes zugunsten der eigenen Darstellung weitgehend verzichten. Ärgerlich wird das Verfahren immer dann, wenn der Gegenstand in der psychoanalytischen und psychologi-
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suchungen v o n Wolfang D ü s i n g 3 4 u n d Wolfgang Janke 3 5 u n d die — allerdings vorwiegend s c h o n an Fichte orientierte — Düsseldorfer Habilitationschrift v o n H a n s - G e o r g Pott. 36 All diese Arbeiten kreisen in ihrer je eigenen Weise u m das Verhältnis v o n Natur u n d Vernunft und die Frage ihrer Vereinigung und Versöhnung, o h n e die kritische Konstitution des S c h ö n e n u n d seiner ästhetischen R e f l e x i o n eigens zu thematisieren, beruht diese d o c h nicht m e h r auf der Idee der moralischen Freiheit, sondern vor allem auf jener »vollständigen anthropologischen Schätzung wo mit der Form auch der Inhalt zählt und die lebendige Empfindung zugleich eine Stimme hat«*1 — auf einer Schätzung mithin, in der das Verhältnis v o n sehen Entlarvungsstrategie zu verschwimmen droht, wie zum Beispiel in der Behandlung der Kantischen Ästhetik: Für »die Erkenntnis taugt die Einbildungskraft bei Kant nur in ihrer Knechtsgestalt. Dagegen scheut er sich nicht, ihr, wo es nicht so darauf ankommt, ihre Spielwiese zu lassen: im Bereich der schönen Künste [...] Wir wollen uns hier nicht mit der Reduktion der Erfahrung des Schönen auf ein abgestimmtes Zusammenspiel des inneren psychischen Apparates beschäftigen, auch nicht mit der bürgerlichen Reduktion der Philosophie der Kunst auf eine Theorie des Geschmacksurteils. Wohl aber bleibt festzustellen, daß auch hier noch, wo die Selbständigkeit der Einbildungskraft zumindest als Spiel akzeptiert wird, die Freude an diesem Spiel sich genau dort einstellt, wo es gesittet ist, wo es dem Verstände gemäß ist. Es sind die aüegorisierten und domestizierten Figuren griechischer Mythologie, an denen die Klassik sich freut. Figuren, die doch einst ergreifende und überwältigende Mächte waren. Die Einbildungskraft selbst wird vom Eros zum Putto, zum Kind, an dem man seine Freude hat, weil es von selbst tut, was man sonst gebieten würde. Die Freiheit der Einbildungskraft ist auch nur eine Scheinfreiheit, wie sie Kant hier wie anderswo zu verteidigen versteht.« Vgl. ebd., S. 240f. (Hervorhebungen von U.T.). - Es ist zu bedauern, daß die Gebrüder Böhme mit solchen »Analysen« so weit hinter den Gegenstand und hinter die hier weit besser und genauer argumentierende Kant-Philologie zurückfallen, deren Ignorierung sich in der einen und anderen Weise rächen muß. 34 35
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Vgl. W. Düsing, Schillers Idee des Erhabenen, Köln 1967. Vgl. W Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin/New York 1977. Vìi. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift >Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Weiterhin sind hier vor allem die Arbeiten von Fritz Heuer (Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst, Köln/Wien 1970), Jürgen Bolten (Friedrich Schiller, Poesie, Reflexion und gesellschaftliche Selbstdeutung, München 1985), Elmar D o d (Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik. Eine komparatistische Studie zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien in ihrem europäischen Kontext, Tübingen 1985), Wolfgang Riedel (Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen BriefeÜber die ästhetische Erziehung des Menschen«, Opladen 1987) zu erwähnen. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V S. 577 (Hervorhebungen von U.T.).
Moralität und Erscheinung erst eigentlich frag-würdig wird und zum Gegenstand einer Kritik avanciert, in welche das von der transzendentalen Philosophie zuweilen nicht ohne Verachtung betrachtete Wissen der empirischen Wissenschaften immer schon eingegangen ist. Ohne die Medizin und die empirische Psychologie der »Erfahrungsseelenkunde«, ohne den noch auf die Zeit der Hohen Karlsschule zurückgehenden Entwurf des Organischen und die transzendentale Reflexion des Organismus in der »Kritik der Urteilskraft«, 38 vor allem aber ohne die überall in den Mittelpunkt rückende Reflexion der Natur auf die Gestalt ihres Erscheinens in jenen Bestimmungen und Begriffen, welche die zeitgenössische Anthropologie und Philosophie von ihr fassen, läßt sich die zur geschichtlichen Vernunftkritik ausgedehnte Kritik der kritischen Philosophie und die Kritik an der Aufklärung ebensowenig erfassen wie das innere principium, in dem die Kritik selbst ihre Bewegung und Form findet. Vor allem die Suche nach einem Rechtsgrund der geschichtlichen Vernunftkritik eröffnet erst den Blick auf das ästhetische und philosophische Werk Schillers als eines kritischen und in der Kritik durchaus kontinuierlichen Werkes, dessen Darstellung zur Aufgabe der Rekonstruktion wird. Von der abgewiesenen Dissertation über die »Philosophie der Physiologie» über die Kantische Form der Vernunftkritik und Fichtes »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« 39 bis hin zu Schillers letzter größerer Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« ist der Prozeß der Kritik zugleich auch der Prozeß einer zunehmenden Ästhetisierung der aufgeklärten Vernunft zu jener Form der ästhetischen Subjektivität, die in keiner einzelnen und vor allem in keiner verabsolutierten Form jemals zur Ruhe kommt — denn weil schon die ästhetische Stimmung »keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so ist sie einerjeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigtja nur deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund von allen ist.«40 Die ästhetische und die kritische Form der Reflexion und Subjektivität verweisen stets aufeinander, indem die Kritik zugleich Anerkennung und Gunst, die ästhetische Form zugleich Kritik aller mit absolutem Anspruch auf menschliche Existenz vorgetragenen Formbestimmungen ist und diese 38
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Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von K. Vorländer, unverändeter Nachdruck der sechsten Auflage von 1924, Hamburg 1968. Alle Zitate aus der »Kritik der Urteilskraft« beziehen sich auf diese Ausgabe, die nach der Original-Paginierung zitiert wird. Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke, hrsg. von I.H. Fichte, Berlin 1971 (fotomechanischer Nachdruck von: J o h a n n Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, hrsg. von I.H. Fichte, 8 Bände, Berlin 1845/1846), Band I, S. 83ff. Alle Fichte-Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe von Fichtes Werken, die unter der Sigle »FW« zitiert wird. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: S W Y S. 637. 13
a m Anspruch der »sinnlich-vernünftigen Natur« a u f Ganzheit und Freiheit bemißt. 41 Nicht allein nur die Kunst, sondern die kritische und ästhetische Subjektivität ist daher der Ort, an d e m sich die schöne H u m a n i t ä t und die a u f ihr ruhende Geschichtlichkeit eines geschichtlichen Menschen suchen und schon in der Gestalt der eigenen Reflexion ihrer Bestimmung entgegengehen. Schon Martin Heidegger hat darauf in einem erstaunlichen und einzigartigen L o b für Schillers kritische Auseinandersetzung mit der »Kritik der Urteilskraft« verwiesen: Man kann sagen, daß Kants >Kritik der Urteilskraft«, in welchem Werk die Ästhetik dargestellt ist, bisher nur auf Grund von Mißverständnissen gewirkt hat [...] Nur Schiller hat als einziger in bezug auf Kants Lehre vom Schönen und der Kunst Wesentliches begriffen.42 Kants Auslegung des ästhetischen Verhaltens als >Lust der Reflexion< dringt in einen Grundzustand des Menschen vor, in dem der Mensch erst zur gegründeten Fülle seines eigenen Wesens kommt. Es ist jener Zustand, den Schiller als die Bedingung der Möglichkeit des geschichtlichen, geschichtsgründenden Daseins des Menschen begriffen hat.«43 A u c h in der kritischen Reflexion ist das Schöne Gegenstand und Zustand zugleich, mithin das, worin die kritische Reflexion selbst ästhetische Z ü g e a n g e n o m m e n hat und worin nicht nur die Kunst, sondern zugleich auch die v o n der kritischen Reflexion selbst angestrebte Möglichkeit des geschichtlichen Handelns beruht. Von daher auch steht nicht primär die Kunst, sondern weit mehr der kritische Entwurf der ästhetischen Subjektivität im Mittelpunkt der Rekonstruktion. Methodologisch bedeutet dies die Beschränkung a u f Schillers ästhetische und philosophische Schriften und den bewußten Verzicht a u f die Interpretation und Integration v o n Werken der Dichtung, deren allein philosophische D e u t u n g ohnehin fragwürdig bleibt. 4 4 O h n e h i n sind die ästhetischen Hauptschriften Schillers eher die einer anthropologischen und philosophischen 41 42 43 44
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Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V S. 600, 613A. M. Heidegger, Nietzsche, Band I, 2. Auflage, Pfullingen 1961, S. 127. M. Heidegger, Nietzsche, Band I, S. 133. Gerade auf die so schwierige Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen philosophischer Theorie und dramatischer Praxis gibt es »ebenso viele Antworten, wie es Kritiker gibt f...] Einige behaupten, der Kant-Schüler Schiller trage den Sieg davon. Andere legen besonderes Gewicht auf Schillers Bemühen um ästhetische Totalität und Harmonie und betrachten solche Äußerungen wie >Über das Erhabene« als eine späte und bedauerliche Regression auf gerade jenen Dualismus, den er so sehnlich zu überwinden suchte. Unter diesen gibt es solche, die Schillers wahres Wesen in einer Hinwendung zum hellenistischen Heidentum« seines Freundes Goethe sehen wollen, und andere, die ihn zum Vorläufer Georges erklären. Wieder andere wollen Züge christlicher oder atheistischer Varianten des modernen Existenzialismus erkennen, und schließlich gibt es noch solche, die Schiller in einem unlösbaren Konflikt zwischen der Philosophie des transzendentalen Idealismus und einer unerbittlich tragi-
Ästhetik als p o e t o l o g i s c h e Arbeiten, u n d eine vollständig ausgearbeitete »Physik« des S c h ö n e n , in Ergänzung der »Metaphysik«, sucht m a n in sein e n Werken vergeblich 4 5 — ein U m s t a n d , der n o c h den späten Schiller bis hin zur Mutlosigkeit betrüblich stimmte. N o c h anläßlich einer ganz i m Schellingschen Geist formulierten R e z e n s i o n der »Jungfrau« v o n Schütz, die Schiller G o e t h e in späteren Jahren z u k o m m e n läßt, ist i h m sehr fühlbar geworden, daß von der transzendentalen Philosophie zu dem wirklichen Faktum noch eine Brücke fehlt, indem die Prinzipien der Einen gegen das Wirkliche eines gegebenen Falles sich gar sonderbar ausnehmen und ihn entweder vernichten oder dadurch vernichtet werden [ . . . ] Man sieht daraus, daß die Philosophie und die Kunst sich noch gar nicht ergriffen und wechselseitig durchdrungen haben, und vermißt mehr als jemals ein Organon, wodurch beide vermittelt werden können«. 4 6 Ä h n l i c h e Zeugnisse l i e ß e n sich leicht vermehren, 4 7 sind aber w o h l je das letzte Wort. D a ß die B e m ü h u n g e n u m eine Grundlegung der tischen Subjektivität u n d der Kunst für Schiller auch jenseits ihrer schen A u s b e u t u n g v o n höchster B e d e u t u n g waren, belegt zuletzt lers späteste Ä u ß e r u n g zur Philosophie, ein Brief an W i l h e l m v o n boldt:
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kaum ästhepoetiSchilHum-
sehen Weltsicht vermuten, der erst in den Werken Kleists voll zum Ausdruck kommen und überwunden werden sollte. Dementsprechend werden nun die Schillerschen Dramen in den Rahmen solcher vorgefertigter ideologischer Gedankengebäude hineingezwängt, einmal teilweise, dann wieder vollständig, wie der Fall gerade lag.« Vgl. I. Graham, Schiller, Ein Meister der tragischen Form, Darmstadt 1974, S. lf. Vgl. hierzu auch den Aufsatz von W Binder, Ästhetik und Dichtung in Schillers Werk. In: W B.: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur, München 1976, S. 222, 230. Schiller, Brief an Goethe vom 17.12.1802. In: Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von E. Beutler, 2. Auflage, Zürich 1964), S. 873. Vor allem in brieflichen Zeugnissen ist der Unmut des Dichters gegenüber der Philosophie und Ästhetik unübersehbar: »Es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Objekt.« Vgl. Schiller, Brief an Goethe vom 17.12.1725. In: Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, S. 138f. - Oder auf Körners Anfrage, ob er die »Vorschule der Ästhetik« denn schon gelesen habe: »Richters Ästhetik habe noch nicht zu Gesicht bekommen. Meine lange Entwöhnung von allen theoretischen Kunstansichten und allem Raisonnement hat mich ordentlich dagegen stumpf gemacht, auch hat mir das leere metaphysische Geschwätz der Kunstphilosophen alles Theoretisieren verleidet. In der Tat verträgt sich diese Geistesoperation nicht mit der Ausübung, denn da muß man die Gesetze aus dem Gegenstande schöpfen, und findet sich mit keiner allgemeinen Formel gefördert.« Schiller, Brief an Körner vom 10.12.1804. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von K.L. Berghahn, München 1973, S. 340f. 15
Die spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohlen Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefild keine lebendige Qpelle und keine Nahrung für mich gefunden; aber die tiefen Grundideen der Idealphilosophie bleiben ein ewiger Schatz, und schon allein um ihrentwillen muß man sich glücklich preisen, in dieser Zeit gelebt zu haben. 48
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Schiller, Brief an Wilhelm von Humboldt vom 2.4.1805. In: Schiller, Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt (2 Bände), hrsg. von S. Seidel, Berlin 1962, Band II, S. 269.
I. Kritik der kritischen Philosophie
1. Die systematische Degradierung der Sinnlichkeit Die Autonomie des Schillerschen Denkens gegenüber der kritischen Philosophie ist deswegen nur schwer zu beschreiben, weil sie sich aus einem Dialog der Anpassung ergibt, einer Mimikry des natürlichen Bewußtseins gleichsam, das seine systematischen Schwächen durch die Übernahme einer fremden, aber zu Ende gedachten Terminologie auszugleichen sucht und seine eigene Systematik erst im Prozeß von Darstellung und Kritik findet. Die Struktur des Dialogs, der um das Wesen der Sittlichkeit kreist, gleicht daher eher einer perspektivischen Hervorhebung problematischer Aspekte als einer präzisen Auflistung von »Fehlern« oder Schwächen, jenem oft zitierten Schwanken Schillers zwischen der Anerkennung der Kantischen Sittlichkeit und ihrer kritischen »Ergänzung« durch eine »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« gegenüber der Vernunft. Auf der einen Seite Sittengesetz und intelligible Freiheit, auf der anderen das Ideal der »schönen Seele« und die sinnliche Darstellung des Sittlichen in der griechischen Kunstwelt — auf dieser Ebene hat sich das historische Verstehen eingerichtet und so einen Weg gefunden, sich sowohl vor Kant als auch vor Schiller ehrerbietig zu verneigen. Geglättet sind damit die Härten des Verhältnisses, verdeckt ist der durchaus radikale Bruch, der Schillers Versuch, durch die Konsequenz einer überkommenen Systematik die Einsicht in Phänomene hindurchzuführen und festzuhalten, die eben für dieses System ein ungelöstes und unlösbares Problem darstellen und somit, zwar in ihm selbst verbleibend, doch unüberhörbar über es hinausweisen,1
ausmacht. Gerade die »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« ist mehr als nur eine Ergänzung der Kantischen Ethik; sie ist deren Kritik und Revision, nicht zuletzt auch der systematische Impuls für Schillers gänzlich eigenständige Theorie der Freiheit, in der zwar noch Elemente der kritischen Philosophie fortwirken, ohne jedoch ihre Essenz allein länger zu bilden. In Schillers eigener Ethik, deren Systematizität allerdings nicht die eines 1
D. Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, S. 528f.
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streng konsistenzorientierten traditionellen Philosophierens ist,2 büßt das Sittengesetz zwar nichts von seiner absoluten Verbindlichkeit, wohl aber seinen absoluten Machtanspruch auf durchgängige Regierung der gesamten Erscheinungswelt ein, weil es genau dort problematisch scheint, wo es in die reale Erfahrung des Bewußtseins eintritt. Ist das Verdienst der Schillerschen Kritik an der Kantischen Ethik mit dem Wort von der »Rehabilitierung des Sinnlichen« angemessen, wenn auch noch ungenau umschrieben, so hat der erste Schritt ihrer Rekonstruktion mit einer Vergegenwärtigung der systematischen Funktion zu beginnen, die das Sinnliche in der Struktur des »Begehrungsvermögens« einnimmt; denn eine »Rehabilitierung des Sinnlichen« ist letztlich nur dort sinnvoll, wo das Sinnliche systematisch abgewertet und nicht nur »stiefmütterlich« behandelt wird. Schillers eigene Unterscheidung zwischen Geist und Buchstaben des Kantischen Denkens scheint dem in einer methodologischen Reflexion allerdings zu widersprechen: In einer Transzendentalphilosophie, wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreien und das Notwendige von allem Zufalligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen. Eine solche Vorstellungsart liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.3 Spätere Äußerungen allerdings, vorwiegend der Entwicklung des Kantischen Denkens gewidmet, zeichnen ein anderes Bild von dessen Geist: Ich bin sehr verlangend, Kants Anthropologie zu lesen. Die pathologische Seite, die er am Menschen immer herauskehrt und die bei einer Anthropologie 2
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Gerade weil von einer völlig eigenständigen Problem- und Begriffsentwicklung in Schillers ästhetischen Schriften - im Gegensatz etwa zu Hegel - nicht ernsthaft gesprochen werden kann, gerade weil Schiller »nicht bemerkt, daß er in der Beschreibung des von ihm Gesehenen die Grenzen der Systematik verläßt, an denen er sich orientiert hat, und daß er deshalb auch nicht die einzig richtige Folgerung des Systematikers ziehen kann: daß das theoretische Fundament selbst überprüft und neu begründet werden muß«, hat sich Dieter Henrich (D.H.: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, S. 540) denn auch dazu veranlaßt gesehen, Schiller in aller Bestimmtheit jedwede philosophische Originalität abzusprechen und sein Philosophieren für gescheitert zu erklären (vgl. ebd., S. 528) - ohne indessen zu überprüfen, ob der herkömmliche Systematizitätsanspruch, den er - unklar genug - als »gediegen durchgebildete Einheit« versteht (vgl. ebd., S. 528f.), sich an der Praxis und dem Selbstbewußtsein des untersuchten Denkens überhaupt bewährt. Solange dies aber ungefragt bleibt, bleiben auch solche Weitungen ungerecht und abstrakt, zumal auch innerhalb der Philosophie - vor allem in den Spätwerken Nietzsches, Wittgensteins und Heideggers - die zentralen Begriffe der philosophischen Tradition, »Einheit«, »Identität« und auch das Ideal der »Richtigkeit«, längst entscheidend in Frage gestellt worden sind. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V, S. 607Af.
vielleicht am Platze sein mag, verfolgt einen fast in allem, was er schreibt, und sie ists, die seiner praktischen Philosophie ein so grämliches Ansehen gibt. Daß dieser heitre und jovialische Geist seine Flügel nicht ganz von dem Lebensschmutz hat losmachen können, ja selbst gewisse Eindrücke der Jugend und so fort nicht ganz verwunden hat, ist zu verwundern und zu beklagen. Es ist immer noch etwas an ihm, was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöffnet hat, aber die Spuren desselben nicht ganz vertilgen konnte. 4 ... Kants Entwicklung ist mir gar zu mönchisch, ich habe nie damit versöhnt werden können. 5
Folgen diese Äußerungen auch der Diktion Goethes, das Bild des Mönchs gehört Schiller allein. Noch bei Kant bilden Protestantismus und asketischer Geist eine bedenkliche Einheit, die bei aller scheinbar nur streng scheidenden Methodik doch unübersehbar durchscheint. Die systematische Abwertung des Sinnlichen findet sich schon in der »Tafel der oberen Seelenvermögen«, die Kant seiner »Kritik der Urteilskraft« vorausschickt; unter der Rubrik von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen sucht man das Sinnliche vergebens.6 Allein die Vernunft findet sich hier, da nur sie allein der gesetzlichen Bestimmung, der sittlichen Erkenntnis fähig ist; die Neigungen dagegen, der praktische Inbegriff des Sinnlichen, sind willkürlich und blind, insgesamt mehr von tierischer Begierde bestimmt und dadurch vereinzelnd, privat, egoistisch, dadurch gegeneinandergespannt, antagonistisch und zerstörerisch. Kants Argumentation gegen den Empirismus der Moral gleicht strukturell der Argumentationsfigur Hobbes' gegen die gefährliche Vermengung zwischen den privaten und öffentlichen Interessen: Überall steht das Gespenst willkürlicher Usurpation und damit das bellum omnium contra omnes warnend im Hintergrund.7 Die Zuordnungen Kants sind dabei denkbar einfach: Das Allgemeine, das Gesetzliche und — inhaltlich — das durch das öffentliche Räsonnement8 und die Jurisdiktion Anerkannte allein sind Garanten der Freiheit, während umgekehrt dem Besonderen, den Trieben und Neigungen, von denen sich die Erscheinungswelt so sehr bestimmt zeigt, die Rolle eines Ursprungs des Bösen systematisch aufgebürdet werden muß, damit sich die Freiheit des Willens um so strahlender davon ab4
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Schiller, Brief an Goethe vom 21.12.1798. In: Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, S. 667. Schiller, Brief an Goethe vom 2.8.1799. In: Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, S. 737. Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, LVIII. Vgl. hierzu vor allem auch: R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, S. 21ff., 68ff. Zum Begriff der »räsonnierenden Öffentlichkeit« vgl. vor allem die Studie von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, S. 42ff.
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heben läßt.' Chaos ist für Kant der Name für das Reich der Triebe, deren ungebändigter Freiheit die Fesseln einer höheren Freiheit angelegt werden müssen, deren Name Vernunft ist: Die Freiheit ist eine subjektive Gesetzlosigkeit. Man weiß nicht, nach welcher Regel man seine eigenen oder anderer Menschen Handlungen beurteilen soll. Einfälle, seltsamer Geschmack, böse oder leere Grillen können Wirkungen hervorbringen, auf die man nicht vorbereitet war. Sie verwirret also. Die ganze Natur, wenn sie sich nicht selbst objektiven Regeln unterwirft, die aber nichts anderes sein können als die allgemeinen Bedingungen der Einstimmigkeit mit der Natur überhaupt, wird dadurch in Verwirrung gebracht. Daher ohne moralische Gesetze der Mensch selbst unter das Tier verächtlich und mehr als dasselbe hassenswürdig wird. Wer nach objektiven Gesetzen nicht verfährt, muß nach physischen Gesetzen gezwungen werden}0 Dieser Notiz aus dem Nachlaß Kants, in der sich der Geist des Gesetzes mit dem physischer Repression und Gewalt so überaus eindrucksvoll verbindet, steht allerdings auch Schiller nicht allzu fern. Auch bei ihm wird der völlig zügellosen Freiheit der Natur eine klare Absage erteilt: Wenn [...] der Mensch, unterjocht vom Bedürfnis, den Naturtrieb ungebunden über sich herrschen läßt, so verschwindet mit seiner inneren Selbständigkeit auch jede Spur derselben in seiner Gestalt [...] Nachgelassen hat aller Widerstand der moralischen Kraft, und die Natur in ihm ist in volle Freiheit gesetzt. Aber eben dieser gänzliche Nachlaß der Selbsttätigkeit, der im Moment des sinnlichen Verlangens und noch mehr im Genuß zu erfolgen pflegt, setzt augenblicklich auch die rohe Materie in Freiheit, die durch das Gleichgewicht der tätigen und leidenden Kräfte bisher gebunden war. Die toten Naturkräfte fangen an, über die lebendigen der Organisation die Oberhand zu bekommen, die Form von der Masse, die Menschheit von gemeiner Natur unterdrückt zu werden. Das seelestrahlende Auge wird matt und quillt auch gläsern und stier aus seiner Höhlung hervor, der feine Inkarnat der Wangen 9
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Mit einer sehr feinen Ironie hat Goethe schon dieses Dilemma mit Hinblick auf Kants Anthropologie festgehalten: »Unter andern Betrachtungen bei diesem Werk war ich auch genötigt über den freien Willen, über den ich mir sonst nicht leicht den Kopf zerbreche, zu denken [...] sobald man den Menschen von Haus aus für gut annimmt, so ist der freie Wille das alberne Vermögen aus Wahl vom Guten abzuweichen und sich dadurch schuldig zu machen; nimmt man aber den Menschen natürlich als bös an, oder, eigentlicher zu sprechen, in dem tierischen Falle, unbedingt von seinen Neigungen hinzugezogen zu werden, so ist alsdann der freie Wille eine vornehme Person, die sich anmaßt, aus Natur zu handeln. Man sieht daher auch, wie Kant so notwendig auf ein radikales Böse kommen mußte und woher die Philosophen, die den Menschen von Natur so charmant finden, in Absicht auf die Freiheit desselben so schlecht zu rechte kommen [...]« Vgl. Goethe, Brief an Schiller vom Juni 1799. In: Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, S. 735. - Zu Kants später weit differenzierterer Stellung insbesondere zum Problem des Bösen vgl. vor allem: Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 17ff. Vgl. hierzu auch S. 297 ff. dieser Untersuchung. I. Kant, Texte zur Moralphilosophie aus dem handschriftlichen Nachlaß, S. 50. (Hervorhebungen von U.T.). Im folgenden als »Nachlaß« zitiert.
verdickt sich zu einer groben und gleichförmigen Tüncherfarbe, der Mund wird zur bloßen Öffnung, denn seine Form ist nicht mehr Folge der wirkenden, sondern der nachlassenden Kräfte, die Stimme und der seufzende Atem sind nichts als Hauche, wodurch die beschwerte Brust sich erleichtern will, und die nun bloß ein mechanisches Bedürfnis, keine Seele verraten [... ] Ein Mensch in diesem Zustand empört nicht bloß den moralischenSinn, der den Ausdruck der Menschheit unnachläßlich fordert; auch der ästhetische Sinn, der sich nicht mit dem bloßen Stoffe befriedigt, sondern in der Form ein freies Vergnügen sucht, wird sich mit Ekel von einem solchen Anblick abwenden, bei welchem nur die Begierde ihre Rechnung finden kann.11 Doch während Schiller schon hier auf indirekte Weise das ästhetische Modell einer befreiten Sinnlichkeit andeutet, in dem Natur und Freiheit zu einem harmonischen Ausgleich gelangen, bleibt für Kant — zumindest in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«12 und in der »Kritik der praktischen Vernunft«13 — die Idee des Sinnlichen unlösbar mit dem Gedanken der Abhängigkeit von Naturbedingungen verbunden. Der Grund dafür ist, daß die Begründung der praktischen Vernunft ihre maßgebliche methodische Orientierung in der zuvor geleisteten Grundlegung des Gesamtsystems — in den Resultaten der »Kritik der reinen Vernunft«14 — gewinnt. Gerade weil dem Chaos der ungezügelten sinnlichen Freiheit nur durch gesetzliche Erkenntnis des Sittlichen beizukommen ist, kann nur Vernunft das Fundament der Ethik bilden; denn die Sinnlichkeit — und dies ist ein wesentliches Resultat der ersten Kritik — ist für Kant zwar die zu jeder Erkenntnis notwendige Erkenntnisquelle, aber zur wirklichen Erkenntnis vermag sie nicht durchzudringen, da alle synthetischen Leistungen, durch die Erkenntnis erst in ihr Wesen kommt, unter der Souveränität von Verstand und Vernunft stehen.15 In dieser theoretischen Blindheit der Sinnlichkeit ist die praktische Blindheit der 11
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Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 462f. - Hans Joachim Schrimpf hat übrigens mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß diese und andere gegen die Natur gerichtete Stellen auch in einem wirkungsästhetischen Sinne verstanden und interpretiert werden müssen und daher nicht notwendig schon als moralische Invektiven gelten können, obgleich es in Schillers Werk auch daran nicht fehlt. Vgl. H.J. Schrimpf, Lessing und Brecht. Von der Aufklärung auf dem Theater, S. 78ff. Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 441ff. Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 58ff. - Mit der »Kritik der Urteilskraft« freilich entwickelt die kritische Philosophie auch ein anderes und differenzierteres Bild der Sinnlichkeit als die theoretische und die praktische Vernunft und ihre »Kritik«. Vgl. hierzu S. 204 ff., 328 ff. dieser Untersuchung. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von R. Schmidt, Hamburg 1956. - Alle Zitate aus der »Kritik der reinen Vernunft« sind der hier angegebenen Ausgabe entnommen. Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel über die »Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«. In: Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 129ff.
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Begierde konstelliert. U n d weil sich für Kant i m Wesen aller A f f e k t a t i o n nur die Endlichkeit des m e n s c h l i c h e n Verstandes — i m Unterschied z u m intellektual anschauenden Verstände — zeigt," wird i h m auch die Affektat i o n der Begierde z u m prinzipiellen Z e i c h e n einer Endlichkeit und Bedürftigkeit, die v o n der u n b e d i n g t e n Freiheit der intelligiblen Natur unbedingt transzendiert werden muß, u m Vernunft und Freiheit allererst z u ermöglichen. D i e s ist der Grund für die prinzipielle Verächtlichkeit der N e i g u n g vor der Vernunft, der Kants z u w e i l e n häßliche Invektiven gegen die Sinnlichkeit erklärt. A l s zentraler Beleg mag ein längerer Passus der »Kritik der praktischen Vernunft« gelten: Freiheit und das Bewußtsein derselben als eines Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist die Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenngleich nicht als affizierenden) Bewegungsursachen unseres Begehrens und, sofern ich mir derselben in der Befolgung meiner moralischen Maximen bewußt bin, der einzige Quell einer notwendig damit verbundenen, auf keinem besonderen Gefühle beruhenden, unveränderlichen Zufriedenheit, und diese kann intellektuell heißen. Die ästhetische (die uneigentlich so genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen, so fein sie auch immer ausgeklügelt werden mögen, beruht, kann niemals dem, was man sich darüber denkt, adäquat sein. Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nötigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. Selbst eine Neigung zum Pflichtmäßigen (z.B. zur Wohltätigkeit) kann zwar die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern, aber keine hervorbringen. D e n n alles m u ß in dieser auf die Vorstellung des Gesetzes als Bestimmungsgrund angelegt sein, wenn die Handlung nicht bloß Legalität, sondern auch Moralität enthalten soll. Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht [...]" D i e blinde Identifizierung der N e i g u n g m i t der Begierde ist es, die Kant systematisch dazu zwingt, Sinnlichkeit u n d Vernunft in einen auch sachlichen Gegensatz zu bringen, durch d e n bei der Begründung des Sittlichen d e m Sinnlichen keinerlei konstitutive Rolle m e h r zufällt. Dadurch aber wird — i m Interesse der Reinheit der Vernunft u n d des W i l l e n s — die besondere Struktur des m e n s c h l i c h e n Willens, der in der Erscheinung problematisch z w i s c h e n Pflicht und N e i g u n g steht, m e t h o d i s c h z u m Epip h ä n o m e n . D e r Kantische Entwurf der Sittlichkeit begründet diese allein für vernünftige Wesen, »ohne besondere Beziehung auf die menschliche 16
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Eine besonders deutliche Erhellung dieser Zusammenhänge findet sich bei M. Heidegger, der allerdings das Verhältnis von Denken und Anschauung bei Kant zum wesentlichen Zeichen der Endlichkeit selbst des Denkens radikalisiert. Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 20ff. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 212f. (Hervorhebungen z.T. von U.T.).
Natur...Durch diesen methodischen Leitfaden wird die Endlichkeit des menschlichen Willens schon zu Beginn systematisch übersprungen, nur um später in einem eigenartigen Zwangsphänomen wiederzukehren, dessen Struktur noch zu erhellen sein wird: der Nötigung. Sie hat Kant allerdings von Anfang an in Kauf genommen: Bestimmt [... ] die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen; mit einem Worte ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemäß ist Nötigung [... ]19
Die mit dem Phänomen der Nötigung verbundene Folge: daß das freie Wesen des Menschen auch weiterhin problematisch und frag-würdig bleibt, hat Kant bejaht. Schiller dagegen hat im Namen der sinnlich-vernünftigen Natur des Menschen gegen den Zwangscharakter der Vernunft protestiert und den Umstand, daß sich die Freiheit der kritischen Philosophie stets nur als fremder Eingriff zu zeigen vermag, als Anlaß zu neuen Fragen genommen, die schließlich zu einer Revision der Kantischen Ethik und ihrer allein nur moralischen Optik führen. Die systematische Degradierung der Sinnlichkeit führt die Kantische Philosophie nicht nur zu dem strengen Gegensatz von Vernunft und Neigung, reiner Moralität und bloßer Unmoralität, die sich auch deswegen vermittlungslos gegenüberstehen müssen, weil schon die Systematik 18
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 15 (Hervorhebungen von U.T.). - In Schopenhauers »Preisschrift über die Grundlage der Moral« hat dieser Ansatz schon eine methodische und inhaltliche Kritik erfahren, die von ihrer Uberzeugungskraft bis heute nichts eingebüßt haben dürfte. Nach Schopenhauer ist Kants ethischer Anspruch und seine Methode eine Hypostasis »ohne alle Befugnis und zu perniziösestem Beispiel und Vorgang [...] Ich sage dagegen, daß man nie zur Aufstellung eines Genus befugt ist, welches uns nur in einer einzigen Spezies gegeben ist, in dessen Begriff man schlechterdings nichts bringen könnte, als was man dieser einen Spezies entnommen hätte, daher was man vom Genus aussagte, doch immer nur von der einen Spezies zu verstehn sein würde [...] Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß Kant dabei ein wenig an die lieben Engelein gedacht, oder doch auf deren Beistand in der Überzeugung des Lesers gezählt habe. Jedenfalls liegt darin eine stille Voraussetzung der anima rationalis, welche, von der anima sensitiva und anima vegetativa ganz verschieden, nach dem Tode übrig bliebe und dann weiter nichts wäre, als eben rationalis. Aber dieser völlig transzendenten Hypostasis hat er doch selbst, in der Kritik der reinen Vernunft, ein Ende gemacht. Inzwischen sieht man in der Kantischen Ethik, zumal in der Kritik der praktischen Vernunft, stets im Hintergrunde den Gedanken schweben, daß das innere und ewige Wesen des Menschen in der Vernunft bestände.« Vgl. A. Schopenhauers sämtliche Werke, Band 5, S. 286f.
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Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 412f. 23
keine Schematisierung der reinen Vernunftbegriffe erlaubt; sie führt auch zu einem Gegensatz, in dem das Wesen des Menschen gerade dann, wenn die Impulse von Moral und Freiheit sich geltend machen, nur als Entzweiung mit sich selbst begriffen werden kann. Daß das wahre Selbst nur auf dem Wege einer Selbstentfremdung gefunden werden kann: dies ist das Skandalon der Kantischen Moralphilosophie, das Schillers Protest herausgefordert hat: Womit aber hatten es die Kinder des Hauses verschuldet, daß er (Kant, U. T.) nur für die Knechte sorgte? Weil oft sehr unreine Neigungen den Namen der Tugend usurpieren, mußte darum auch der uneigennützige Affekt in der edelsten Brust verdächtig gemacht werden? Weil der moralische Weichling dem Gesetz der Vernunft gern eine Laxität geben möchte, die es zum Spielwerk seiner Konvenienz macht, mußte ihm darum eine Rigidität beigelegt werden, die die kraftvolleste Äußerung moralischer Freiheit nur in eine rühmlichere Art von Knechtschaft verwandelt? Denn hat wohl der wahrhaft sittliche Mensch eine freiere Wahl zwischen Selbstachtung und Selbstverwerfung als der Sinnensklave zwischen Vergnügen und Schmerz? Ist dort etwa weniger Zwang für den reinen Willen als hier für den verdorbenen? Mußte schon durch die imperative Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedrigt werden und das erhabenste Dokument ihrer Größe zugleich die Urkunde ihrer Gebrechlichkeit sein? [... ] Wie sollen sich [... ] die Empfindungen der Schönheit und Freiheit mit dem austeren Geist eines Gesetzes vertragen, das ihn mehr durch Furcht als durch Zuversicht leitet, das ihn, den die Natur doch vereinigte, stets zu vereinzeln strebt, und nur dadurch, daß es ihm Mißtrauen gegen den einen Teil seines Wesens erweckt, sich der Herrschaft über den andern versichert? 20
Deutlicher, prägnanter kann die Kritik nicht sein: Zwang ist die Form der moralischen Vernunft, Furcht ihre »Sprache«, Vereinzelung ihre Folge. Dies ist der Kern der Schillerschen Kritik an der Kantischen Ethik: daß das Sittengesetz, in dem es auf die menschliche Doppelnatur angewendet wird, nicht nur problematisch wird, sondern sich offen als repressiv enthüllt. Faßt man die Kritik Schillers an Kant in systematischer Absicht zusammen, so zeigen sich, wie Manfred Brelage sehr überzeugend dargestellt hat,21 im wesentlichen zwei Stoßrichtungen. Die Kritik betrifft einmal die Imperativische Form des Sittengesetzes, zum anderen den »Rigorismus«. Die Imperativische Form des Sittengesetzes besteht darin, daß es — von der sinnlichen Natur her gesehen — als ein unbedingt verpflichtendes Sollen die Struktur der Nötigung hat. D e m doppelten Charakter der menschlichen Natur muß das Gesetz daher als das »Positive«, als das radikal Fremde erscheinen: Selbst das Heilige im Menschen, das Moralgesetz, kann bei seiner ersten Erscheinung in der Sinnlichkeit [... ] (der) Verfälschung nicht entgehen. Da es 20 21
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Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 466f. Vgl. M. Brelage, Schillers Kritik an der Kantischen Ethik oder Gesetz und Evangelium in der philosophischen Ethik, S. 230f.
bloß verbietend und gegen das Interesse seiner sinnlichen Selbstliebe spricht, so muß es ihm solange als etwas Auswärtiges erscheinen, als er noch nicht dahin gelangt ist, jene Selbstliebe als das Auswärtige und die Stimme der Vernunft als sein wahres Selbst anzusehen. Er empfindet also bloß die Fesseln, welche die letztere ihm anlegt, nicht die unendliche Befreiung, die sie ihm verschafft. Ohne die Würde des Gesetzgebers in sich zu ahnen, empfindet er bloß den Zwang und das ohnmächtige Widerstreben des Untertans.22 Gegenüber der scharfen Kritik aus »Über Anmut und Würde« klingen diese Worte gewiß milder, verständiger, ja beinahe schon versöhnlich. Daß dem nicht so ist, zeigt die Kritik am »Rigorismus«: Dieser besteht für Schiller darin, daß Pflicht und Neigung als Triebfedern allen Handelns von Kant so streng voneinander geschieden werden, daß die Neigung jede Mitwirkung bei der Konstitution der Moralität verliert — was zur Folge hat, daß nun auch die Moralität nicht mehr sinnvoll deduziert werden kann. Mit den Worten Kants: Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze [... ] ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgendein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren.*3 Radikaler noch als Kant bezeichnet Schiller die Grenze des ethischen Denkens, das seine Allgemeingültigkeit nur mit dem Verlust an moralischer Kraft erkaufen kann: Wäre die sinnliche Natur im Sittlichen immer nur die unterdrückte und nie die mitwirkende Partei, wie könnte sie das ganze Feuer ihrer Gefühle zu einem Triumph hergeben, der über sie selbst gefeiert wird?24 Diese Kritik scheint über den Kantischen Text und seinen Sinn in genau dem Maße hinauszugehen, als sie selbst von einer notwendigen und daher unvermeidlichen Unterdrückung der sinnlichen Neigung und Selbstliebe ausgeht. So radikal hatte Kant selbst es sich freilich nicht vorgestellt. Die Konstitution der moralischen Handlung verlangt nach Kant als ihre notwendige Bedingung keinesfalls den radikalen Ausschluß der Neigung, sondern nur, daß sie nicht die bestimmende Triebfeder sei; die Erfüllung der Pflicht ist allein davon abhängig gemacht, daß sie ohne Rücksicht auf die Neigung geschieht, keineswegs aber davon, daß die Neigung die unterdrückte Partei ist. Ausdrücklich betont Kant in der 22
23 24
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V, S. 649f. (Hervorhebungen von U.T.). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 461. Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 467.
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»Kritik der praktischen Vernunft«: D i e Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum gehört) Mittel zur Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (ζ. B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten. Nur seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals Pflicht, noch weniger ein Prinzip aller Pflicht sein. Da nun alle Bestimmungsgründe des Willens, außer dem einigen reinen, praktischen Vernunftgesetze (dem moralischen), insgesamt empirisch sind, als solche also zum Glückseligkeitsprinzip gehören, so müssen sie insgesamt vom obersten sittlichen Grundsatz abgesondert und ihm nie als Bedingung einverleibt werden. 25 D i e s e Worte, in d e n e n sich die Weltkenntnis und Liberalität ihres Verfassers gleichermaßen eindrucksvoll bekunden, verraten die m e t h o d i s c h e Zweideutigkeit, in der Vernunft und N e i g u n g aus lediglich transzendentalen Gründen, aber e b e n nicht auch sachlich entgegengesetzt scheinen, so daß das Festhalten an einer Vernunft, die ihre Rechtfertigung nur aus der Unterdrückung des natürlichen Charakters z u g e w i n n e n vermag, einer Fehlinterpretation gleichsieht. Nichtsdestoweniger m u ß die Rede v o m »Mißverständnis«, aus der auch die Darstellung Brelages ihre D y n a m i k bezieht, 2 6 so lange abstrakt und unverständlich bleiben, wie das Verständnis sich nicht allein an den w o h l m e i n e n d e n Versicherungen Kants, sondern sich auch an der inneren Systematizität seines praktischen Philosophierens orientiert, u m die es doch eigentlich geht. 2 7 D e r Unterschied v o n Buchstabe u n d Geist war Schiller i m m e r präsent, und eigene m e t h o dologische Betrachtungen z e i g e n i h n durchaus auf der H ö h e des Verständnisses. S c h o n in »Über A n m u t u n d Würde« heißt es: »Die menschliche Natur ist ein verbundeneres G a n z e in der Wirklichkeit, als es d e m 25 26 27
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Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 166f. Vgl. M. Brelage, Schillers Kritik an der Kantischen Ethik [...], S. 242. Dies um so mehr, als sich in den Kantischen Texten zur Moralphilosophie und Anthropologie immer beides findet, liberale und illiberale Stellen, die unverbunden nebeneinanderstehen müssen, wenn sie nicht auf die systematischen Grundbedingungen des kritischen Philosophierens bezogen und nach diesen interpretiert werden und Schillers »Kritik der kritischen Philosophie« nicht allein in einem Schaukampf der sich entfremdeten und verdinglichten Zitate ausgetragen und beurteilt werden soll. Die »Kritik der kritischen Philosophie« ist daher auch stets am Systemganzen der Kantischen »Kritik« selbst orientiert, nicht nur, weil die drei »Kritiken« der für Schiller maßgebliche Kanon des kritischen Philosophierens sind, sondern deswegen, weil dieses die einzelnen Teile des Ganzen erst aufeinander bezieht und sie überhaupt erst zu einem Ganzen verschweißt - wenn auch nicht ohne »Bruch«, ja zuletzt nicht einmal so, daß die transzendentale Philosophie als Inbegriff des Kantischen Philosophierens
P h i l o s o p h e n , der nur durch Trennen was vermag, erlaubt ist, sie erschein e n zu lassen.« 2 8 V o m durchaus frag-würdigen Wesen allen Philosophierens, welches darin besteht, daß die Wirklichkeit nur u m d e n Preis einer abstrakten Verdunklung begriffen werden kann, k o m m t auch die Zweideutigkeit der Kantischen M e t h o d e in d e n Blick: Aber eben diese technische Form (der Idee der Kantischen Ethik, U. T.), welche die Wahrheit dem Verstände versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des inneren Sinnes erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freiwilligen Natur. U m die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fessel der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wiederfindet und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradox erscheint? 29 Aber obgleich Schiller die m e t h o d i s c h e Zweideutigkeit des Kantischen Philosophierens durchaus bewußt war, hat er an seiner Kritik doch bis zuletzt keinerlei Abstriche gemacht. Problematisch ist nicht allein die vermeintliche Entgegensetzung v o n Sittengesetz u n d Glückseligkeit, sondern die Partikularität der praktischen Vernunft selbst — eine Partikularität, die sich b e i m Übergang in die Welt der Erscheinung n o t w e n d i g auch in den Formen v o n Z w a n g und Gewalt spiegelt, keineswegs i m m e r nur zufällig. Schillers »Kritik der kritischen Philosophie« entspringt nicht einer O p t i k des »bösen Blicks« und sie betrifft nicht allein e i n e n nur i m m e r mißverstandenen Kant, sondern eine zentrale Problematik des praktischen Philosophierens u n d die in i h m sedimentierten Zwänge seiner systematischen Grundlegung, m i t h i n den nervus rerum der kritischen Philosophie selbst. in seiner Gesamtheit gelten kann. Nach Willi Oelmüller gibt es »eine Kontinuität bestimmter Probleme und Problemlösungen vom frühen bis zum späten Kant, die nicht zureichend erfaßt werden können, wenn man nur Kants Lösungsversuche auf dem Boden seines transzendentalphilosophischen Ansatzpunktes sieht. Der in den drei >Kritikern, und im Spätwerk, vor allem im opus postumum, entfaltete transzendentalphilosophische Ansatzpunkt der Philosophie ist [...] nicht nur in sich sehr verschieden, er ist vor allem nicht die einzige und auch nicht die abschließende Gestalt der kantischen Philosophie [...] Die Untersuchungen über die Entwicklung Kants und über den Zusammenhang seiner Philosophie mit der philosophischen Tradition und der Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel zeigen immer deutlicher, daß das wesentliche Kennzeichen der kritischen Philosophie Kants gerade nicht in dem liegt, was man seit Kant als seine Transzendentalphilosophie entweder kritisiert oder preist.« Vgl. W Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zji einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, S. 109(ff.) - (Hervorhebungen von U.T.). 28 Schiller, Über A n m u t und Würde. In: SW V S. 467. 29 Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V, S. 570f. 27
2. Das Gewissen als »Faktum der Vernunft« Die Problematik des Kantischen Vernunftbegriffes besteht nicht allein in der systematischen Degradierung der Sinnlichkeit, sondern vielmehr darin, daß sich diese Degradierung selbst als Folge der schon in der »Kritik der reinen Vernunft« geleisteten theoretischen Grundlegung ergibt. Das endliche Wesen aller Affektation ist dabei nur ein Baustein. Wichtiger und folgenreicher ist vor allem der auch für die Begründung der praktischen Vernunft stets maßgebliche Bezug zur Freiheitsantinomie. 30 Es ist der reflexive Widerstreit zwischen einer durchgängig gesetzlich bestimmten Welt und einer »Kausalität aus Freiheit«, der die Konzeption eines absoluten Sollens und die Ausschließung aller empirischen, d.h. sinnlichen Bestimmungsgründe methodisch erforderlich macht. Bei der Begründung der praktischen Vernunft bleibt der Dualismus der dritten Antinomie stets konstitutiv, wenn auch der transzendentale Idealismus deutlich macht, daß die Disjunktion von Thesis und Antithesis keine absolute Gültigkeit hat. Nach den Erkenntnissen der transzendentalen Ästhetik 31 kann das eine Objekt sowohl als Erscheinung als auch als Ding an sich vorgestellt werden, woraus allerdings nur folgt, daß die Vorstellung der Freiheit nicht widersinnig sein muß. Der Dualismus von intelligibler und erscheinender Welt indessen bleibt von der Lösung des transzendentalen Idealismus ganz unberührt. Im Gegenteil, die Zuordnungen treten noch einfacher hervor: Hier die Welt zeitlicher Erscheinungen, das Naturgesetz und die blinde Begierde; dort die Welt der Freiheit, die Welt des die Zeit und ihre Kausalität überfliegenden Willens und der moralischen Vernunft; die innere Zerrissenheit des Weltbegriffes kann größer kaum sein. Im unvermittelten Gegensatz von intelligibler und erscheinender Welt müssen auch Natur und Freiheit einander fremd bleiben. Diese strukturelle Fremdheit bedeutet, daß der sinnlichen Natur bei der Konstitution der Moralität keinerlei Mitsprache eingeräumt werden kann; daß das Phänomen des Willens und die Form der praktischen Vernunft wechselseitig aufeinander verweisen und von einem »Majestätsrecht« des Willens, sich frei zwischen Pflicht und Neigung entscheiden zu können, 32 nach Kantischen Begriffen nicht mehr ernsthaft gesprochen
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Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 472ff. Der transzendentale Idealismus setzt die transzendentale Ästhetik notwendig voraus, in der Kant zu beweisen sucht, daß Raum und Zeit nur Formen unseres Anschauens sind, wodurch die Räumlichkeit des Räumlichen und die Zeitlichkeit des Zeitlichen zu Erscheinungen »für uns« werden, ohne objektiv in die Sinne zu fallen. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 33ff. 32 Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V S. 576.
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werden kann — wodurch die Freiheit des menschlichen Willens virtuell aufgehoben wird. Dies zeigt sich auch bei einer Umkehrung des Gesichtspunktes. Denn mit der wesensnotwendigen Fremdheit von Natur und Freiheit ist auch die Notwendigkeit gesetzt, daß sich Freiheit auf dem Felde der Erscheinung nur als das ganz Andere, als das »Auswärtige« und Fremde zu zeigen vermag. Mit anderen Worten: daß der Übergang der Freiheit in die Welt der Erscheinung notwendig die Struktur eines Eingriffs hat. In diesem Eingriff liegt der der praktischen Vernunft eigene Zwangscharakter beschlossen, aus dem sich die innere Zerrissenheit und Entfremdung des Menschen von sich und seiner gesamten psychischen Natur ergibt. Die Wechselseitigkeit, innerhalb derer Freiheit und Sittengesetz aufeinander bezogen sind, stellt sich Kant vor allem als Deduktionsproblem dar; denn der transzendentale Idealismus beweist lediglich die NichtUnmöglichkeit der Freiheit, ohne jedoch ihre reale Möglichkeit, ihr mögliches Sein in der Zeit, aufweisen zu können. Dadurch aber werden eine reale Bestimmung der Freiheit wie eine sachhaltige Deduktion des Sittengesetzes gleichermaßen unmöglich. Erneut setzt die »Kritik der reinen Vernunft« die Maßstäbe, insofern sie alle reale Bestimmung von der Möglichkeit einer Schematisierung der Kategorien auf die Bedingungen des inneren Sinnes (Zeit) hin abhängig macht. Eine solche Schematisierung ist indessen bei Vernunftbegriffen, die ein Noumenon bezeichnen, a priori ausgeschlossen. Umgekehrt gilt für die bloße Möglichkeit einer praktischen Philosophie aber auch, daß Freiheit und Vernunft sich schon in der erscheinenden Welt in irgendeiner Form kundgeben müssen, wäre der Mensch doch sonst nichts anderes als der Spielball seiner Instinkte und Triebe. Daß dem nicht so ist, ist für Kant durch das bloße Faktum angezeigt, daß wir uns des Sittengesetzes a priori und unmittelbar bewußt sind, wenn wir auch sonst den Naturgesetzen unterstehen. Eine Deduktion gibt es für die Lehre vom »Faktum der Vernunft« allerdings nicht: Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, sobald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch ebensowenig beliebig erdichtet und angenommen werden. Daher kann uns im theoretischen Gebrauche der Vernunft nur Erfahrung dazu berechtigen, sie anzunehmen. Dieses Surrogat, statt einer Deduktion aus Erkenntnisquellen a priori empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens auch benommen. Denn was den Beweisgrund seiner Wirklichkeit von der Erfahrung herzuholen bedarf, muß den Gründen seiner Möglichkeit nach von Erfahrungsprinzipien abhängig sein, für dergleichen aber reine und doch praktische Vernunft schon ihres Begriffs wegen unmöglich gehalten werden kann. Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau
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befolgt wäre, auftreiben könnte. Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch keine Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch keine Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest. 33
Gerade durch die Unmöglichkeit einer Schematisierung des Freiheitsbegriffes ist auch eine objektive Deduktion des Sittengesetzes unmöglich gemacht, und vor diesem Begründungsproblem bietet allein die bloße Faktizität der Vernunft, die Kant als »apodiktische Gewißheit« ausruft, eine Zufluchtsstätte. Wichtig ist dabei, daß gerade die Form dieser Gewißheit, der Eintritt des Sittengesetzes in das praktische Bewußtsein, innerhalb des Kantischen Entwurfs systematisch nicht mehr beschrieben werden kann; immer wären solche Beschreibungen bloße Beispiele, aus der empirischen Welt für die intelligible genommen, und daher notwendig unzureichend. So scheint Kants Lehre vom »Faktum der Vernunft« selbst ein nicht weiter befragbares und erläuterungsfähiges Faktum darzustellen. Trotz der Unmöglichkeit einer Schematisierung des Freiheitsbegriffs muß aber der Versuch einer Erläuterung der Faktizität der Vernunft nicht a priori zum Scheitern verurteilt sein. Denn die Lehre vom »Faktum der Vernunft« besagt gerade nicht, daß sich in unserer Erkenntnis des Unbedingt-Praktischen das Bewußtwerden unserer Freiheit vollzieht; es ist vielmehr zunächst das Gesetz und der mit ihm verbundene Zwang, durch die eine Erkenntnis der Freiheit möglich gemacht wird. Die Erkenntnis des Unbedingt-Praktischen kann von der Freiheit nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung gibt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanismus der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen. Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingung zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt. 34
So kommt Kant zu der endgültigen Fassung seiner Lehre vom »Faktum der Vernunft«, die den Zirkel der Interdependenz von Freiheit und Gesetz dadurch auflöst, daß sie »die Freiheit... die ratio essendides moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit«35 nennt. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 81f. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 53. 35 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 6A. 33
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Dabei geht es um mehr als nur um die Auflösung eines Zirkels und die Überzeugungskraft einer Deduktion. Gerade daß es zuerst das Gesetz und nicht die Freiheit ist, die ins Bewußtsein tritt, kann für das Bewußtsein selbst keineswegs gleichgültig sein. Der Achtung, die das Bewußtsein des Sittengesetzes hervorbringt, gehen Nötigung und Zwang voran, da der notwendige Abbruch aller »pathologischen« Neigung dem Bedürfnis der Selbstliebe wie ein inneres Diktat entgegentritt. »Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch mit dem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden, ist nun Achtung fürs Gesetz«, 3 6 führt Kant aus und fügt als Beschreibung des Zwangscharakters der praktischen Vernunft weiter an: D e n n alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl. Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund, dadurch es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis einer Erkenntnis [ . . . ] zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten. 3 7
Daß der Mensch als geschöpfliches Wesen unendlich weit von einem heiligen Willen, dessen Maximen dem Prinzip der Gesetzgebung stets gemäß sind, entfernt ist, stellt sich für Kant nicht nur als grundsätzliche Bedürftigkeit einer endlichen Natur, 3 8 sondern auch als das Böse schlechthin dar, dem nur mit der unnachläßlichen Strenge des Gesetzes beizukommen ist. Deutlicher als die »Kritik der praktischen Vernunft« sind Bemerkungen aus dem »Nachlaß«: Daß die Menschen von Natur böse sein, erhellet daraus, daß sie von selbst niemals mit ihrer Idee des Guten zusammenstimmen, auch daraus, daß sie, in einem Staatskörper vereinigt, jederzeit gewalttätig, eigennützig und unvertragsam sind, und daß sie müssen gezwungen werden, imgleichen daß sie sich wechselweise durcheinander von Einem zwingen lassen. Imgleichen muß der Mensch diszipliniert werden und die Wildheit weggenommen werden. D a s Wohlverhalten der Menschen ist also was erzwungenes, und die Natur desselben ist demselben nicht gemäß. Es ist ein Grundsatz der bürgerlichen sowohl als Staatsklugheit: jedermann ist von Natur böse, und nur sofern gut, als er unter einer Gewalt steht, die ihn nötigt, gut zu sein. 3 9 D a s Roß muß entnervt werden, damit es der menschliche Zentaur regieren kann. 4 0 36 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 142f. " K a n t , Kritik der praktischen Vernunft, S. 128f. 3 8 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 45. 3 9 Kant, Nachlaß, S. 122f. 4 0 Kant, Nachlaß, S. 101.
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D a Kant den sittlichen Wert einer Reinigung der Leidenschaften innerhalb ihres eigenen Herrschaftsbereichs, wenn man will: eine Katharsis im Sinne Lessings systematisch nicht anzuerkennen vermag, 4 1 sucht er bei den Mitteln äußerlicher Disziplinierung und Zwangsgewalt seine Zuflucht. Aber es sind nicht nur Staat und Justiz, die das Wächteramt des Guten übernehmen; es ist auch jene innere Macht des höheren Selbst, die mit dem Maße des Sittengesetzes alle Gesinnungen und Taten überprüft und das Sittengesetz allererst anwesend sein läßt: das Gewissen. Das Gewissen ist das höhere Selbst, das Organ von Sittengesetz und Freiheit und das offenbare Geheimnis der Lehre vom »Faktum der Vernunft«. D a s klingt zunächst befremdlich, scheint es doch als ein Beispiel der systematisch stets unzureichende Versuch einer Versinnlichung von Vernunftbegriffen zu sein. Doch kann das Problem der Beispiele nicht zwingend angeführt werden, nicht nur, weil Kants eigene Versuche exemplarischer Darstellung immer wieder auf das Phänomen des Gewissens verweisen, sondern vor allem auch deshalb, weil die Zurechnung einer jeden Übertretung des Gesetzes stets mit der Vorstellung der Person, niemals aber mit der der Naturkausalität verbunden sein kann. Bewußtsein und Zurechnung von Schuld sind für Kant stets die Folge einer intelligiblen Selbstbetrachtung und Selbstverurteilung, die deswegen nicht zeitlich zu schematisieren ist, weil sie einem Gewissen entspringt, das sich unbeirrt und unbeirrbar auf seine eigene Schuld hin entwirft. Einzig und allein im Gewissen wird die Kausalität aller faktischen Verschuldung und Verfehlung dem Selbst zugerechnet. Ausdrücklich sagt Kant von dieser »Kausalität als
Noumens«:
Hiermit stimmen auch die Richteraussprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen, vollkommen überein. Ein Mensch mag künsteln, soviel er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit, die man niemals gänzlich vermeiden kann, folglich als etwas, worin er v o m Strom der Naturnotwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu erklären: so findet er doch, daß der Advokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen könne [ . . . ] Darauf 41
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Nicht die strenge Disjunktion von Eigenliebe und Philantropie, die Moralität nur als intellektuelles Selbstopfer kennt, liegt dem Lessingschen Modell der tragischen Katharsis zugrunde, sondern die Einsicht in das schon sittliche Wesen des Gefühls, zu dessen sittlicher Reinigung die Katharsis als allgemeine Einübung in das Mit-leiden das geeignete Mittel ist. In diesem Sinne ist »der Selbstbezug oder Selbstgenuß im Fühlen [...] der fundierende Akt, auf dem der soziale, sich dem anderen zuwendende Akt aufruht. Echtes soziales Verhalten ist nur im Mitfühlen (das auch ein Selbstgefühl meint) möglich, weil erst im Gefühl tiefere [...] Schichten des Menschlichen erreicht werden.« Vgl. J o c h e n Schulte-Sasse. Nachwort zu: G . E . Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel (zusammen mit Mendelssohn und Nicolai), hrsg. von J . Schulte-Sasse, S. 213.
gründet sich denn auch die Reue über eine längst begangene Tat bei jeder Erinnerung derselben; eine schmerzhafte durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung, die sofern praktisch leer ist, als sie nicht dazu dienen kann, das Geschehene ungeschehen zu machen [ . . . ] (die) aber als Schmerz doch ganz rechtmäßig ist, weil die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz [ . . . ] ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt undnurfragt, ob die
Begebenheit mir als Tat angehöre*1 Das Kantische Sittengesetz ist regulativ und faktisch zugleich. Als regulatives Prinzip regelt es den ordnungsgemäßen Entwurf praktischer Maximen, nach denen alles sittliche Handeln ausgerichtet werden soll; als »Faktum der Vernunft« aber entspricht es zugleich auch der faktischen Gegebenheit des Gewissens, der Wirklichkeit eines Willens, der sich freiwillig auf seine Schuld hin entwirft. Als regulatives Prinzip ist das Sittengesetz ein verpflichtendes Sollen, als »apodiktische Gewißheit« des Gewissens dagegen ist es »in der Person selbst schon gegenwärtig«.43 So tritt durch die Lehre vom »Faktum der Vernunft«, die sich beharrlich nur an intelligible Geister wendet, der Sollenscharakter des Gesetzes zurück: Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet. 44
Die Schuld des endlichen Willens, der in die Welt der sinnlichen Begierde heillos verstrickt ist, wird in den Entdeckungen des Gewissens zwar nicht getilgt, in der Reue jedoch gelöst. So hat das Gewissen selbst an der Heiligkeit des Willens Anteil; denn vom göttlichen Willen gelten »keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist«.45 Wegen dieser Analogie des Gewissens mit dem heiligen Willen verbietet sich für Kant jede Kritik des Gewissens gleichsam a priori — auch wenn diese Analogie ihre schmerzliche Grenze an der menschlichen Doppelnatur finden muß, die die moralische Urzeugung eines unmittelbar gesetzlich bestimmbaren Willens nur in den Zwangszügen zu spiegeln vermag, die — nach psychologischer Einsicht — aller realen Gewissensangst notwendig einbeschrieben sind.46 Von daher kann es nicht verwundern, daß alle Beschreibungen des Gesetzesbewußtseins, die Kant gibt, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 175ff. (Hervorhebungen von U.T.). Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 401. 44 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 455. 4 5 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 414. 4 6 Nach Adorno stößt die »Phänomenologie des Bewußtseins« und die ihr folgende Psychologie »auf eben jenes Gewissen, das in der Kantischen Lehre Stimme des Sittengesetzes ist. Die Beschreibungen seiner Wirksamkeit, zumal die der >NötigungEin Faktum der Vernunft < nennt er es selbst, >Un instinct général de société < hieß es bei Leibniz. Tatsachen aber gelten dort nichts, wo sie nicht vorhanden sind.« Vgl. M. Horkheimer, Th. W Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 85(ff.) - Auf den historischen und rechtlichen Aspekt des Gewissens verweist Rolf Grimminger: »Die moralische Vernunft soll über alle Arbeitsprozesse hinaus eine human miteinander handelnde Gesellschaft garantieren. Diese besteht darin, daß jedermann aus der Fiktion eines allgemein gültigen Pflicht- und Rechtszustandes mit jedermann verkehrt. So befiehlt es der kategorische Imperativ, der quasi ein verinnerlichter >contrat social< ist, gegenwärtig nämlich im Gewissen jedes einzelnen und bezogen stets auf den verallgemeinerten anderen, den Menschen überhaupt [...] Kant hat diesen Appell an das Gewissen nicht erfunden, er ist vielmehr in der gesamten Morallehre des 18. Jahrhunderts mitgedacht worden, und dies mit gutem Grund. Denn da es einen allgemein verbindlichen Rechtszustand im 18. Jahrhundert nicht gab, läßt sich eine dennoch vernünftig miteinander verkehrende Gesellschaft eben auch schlecht institutionell und kodifiziert nach Verfassung und Gesetzbuch, weit besser im Appell an die Moral der Individuen denken.« R. Grimminger, Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zu Kant, S. 120. - So richtig, so problematisch, denn wo das Gewissen angesonnen, anbefohlen oder - wie Kant sich gelegentlich ausdrückt - »eingepfropft« wird, erscheint es eher als Resultat einer durch und durch repressiven Erziehungsform denn als spontanes Produkt der Vernunft, das als Garant auch des gesellschaftlich Guten gelten könnte. Zur pädagogischen Repression hat die Kantische Moralphilosophie jedenfalls eine genuine, keineswegs nur eine historisch zufällige Affinität. Ihre enge Allianz mit dem preußischen Geist hat Thomas Mann in der Darstellung der täglichen Schulhölle Hanno Buddenbrooks überaus feinfühlig festgehalten und in der Figur des Doktor Wulicke gleichsam exemplarisch porträtiert. Mit ihm, dem neuen Direktor, ist ein »neuer Geist« in Hannos alte Schule eingezogen: »Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant< war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und
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»Frage dich selbst«.57 Indem das Richteramt des Gewissens bewußt gewollt werden soll, wird das Bewußtsein zum Ankläger und Richter seiner selbst, zu jenem »Gerichtshof der reinen Vernunft«, von dem Kant schon in der »Grundlegung« spricht.58 Im juristischen Modell der Selbstanklage und Selbstbezichtigung hat die Form der praktischen Vernunft ihr Vorbild; schon im erkenntnistheoretischen Zwang, der Freiheit nur als Gesetz zu denken erlaubt, ist dies konstelliert.59 Vor dem Tribunal der Vernunft finden die Neigungen keinen Verteidiger: Vernunft allein leitet das Verhör und fällt den Richtspruch. Weil Freiheit für Kant nur als »invariante Sich-Selbstgleichheit der Vernunft« 60 denkbar ist, ist die Vernunft stets auch im Recht. Sie selbst kann nicht verhört werden; nur die Neigungen, der Inbegriff menschlicher Endlichkeit, werden der Inquisition ausgesetzt. Im Phänomen des Gewissens und des Verhörs ist ein mögliches liberales Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit aufgehoben. Im Begriff des Gewissen-haben-wollens dagegen, der unbewußt die Mechanik der Begriffsbildung leitet, wird der Verzicht auf Glück derart konstitutiv, daß Freiheit sich für den Menschen nur um den Preis innerer Zerrissenheit kundzugeben vermag. Es ist weniger Liberalität, die den Geist der Kantischen Ethik ausmacht, als vielmehr die inquisitorische Orientierung am Urteil, an Selbstverleugnung und Opfer.61
3. Die Ästhetisierung der Moralität im Begriff des Erhabenen Gewissen und Gewissen-haben-wollen sind im Kantischen Entwurf der Sittlichkeit Ausdruck einer Endlichkeit. Der Zwangscharakter der praktischen Vernunft kann theoretisch nicht zurückgenommen werden; für ein endliches Wesen ist er natürlich. Dennoch ist die realistische Optik, die darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen.« Vgl. Th. Mann, Buddenbrooks, Verfall einer Familie, S. 638. - Im übrigen sei hier noch darauf verwiesen, daß unter den wenigen Interpretationen des Gewissens selbst die vorzügliche Deutung M. Heideggers nicht ohne den problematischen Terminus des Gewissen-haben-wollens auskommt. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 235ff. 57 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 122f. 58 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 443. - Die Kantische »Gerichtshofvorstellung« der Vernunft wird übrigens auch von Heidegger als Interpretation des Gewissens verstanden. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 293. 59 Vgl. dazu auch T h . W Adorno, Negative Dialektik, S. 233f. 60 Vgl. T h . W Adorno, Negative Dialektik, S. 233f. 61 Vgl. hierzu auch die ausgezeichneten Ausführungen von H. und G. Böhme, D a s Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, S. 325ff.
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sich darin aussprechen soll, scheinhaft, denn sie ist einzig die Folge der durchgehend statischen Orientierung am Problem der Begründung von Moralität; die Beschreibung und Durchdringung ihrer Funktion, ihres realen Seins in der Zeit, ist ein Standpunkt, der Kant in jeder Hinsicht versagt ist, vor allem methodisch. Schiller dagegen hat ihn zum Ausgangspunkt seiner gesamten kritischen und theoretischen Fragestellung gemacht: Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, sooft hier von Freiheit die Rede ist, nicht diejenige gemeint ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, notwendig zukommt und ihm weder gegeben, noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch, daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freiheit der ersten Art, dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art. Man könnte die letztere schlechtweg durch eine natürliche Möglichkeit der erstem erklären.62
Die allein an der Begründung von Moral orientierte praktische Vernunft, die die »natürliche Möglichkeit« der ontologischen Freiheit in selbstherrlicher Weise problematisch läßt, ist daher selbst begrenzt und einseitig und muß einer »vollständigen anthropologischen Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt und die lebendige Empfindung zugleich eine Stimme hat,«63 weichen. Weil die Empfindung vor Kants »Gerichtshof der reinen Vernunft« keine »Stimme« hat, ist die Verhandlung parteilich und ungerecht. Ironisch kehren sich bei Schiller die Verhältnisse um: Bei Kant befragt die Vernunft die Sinne in beinahe schon inquisitorischer Weise nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Gesetz; bei Schiller dagegen wird die Vernunft selbst auf ihre Vereinbarkeit mit der menschlichen Natur hin befragt. Gerade im Leitmotiv des Gewissen-haben-wollens - ohnehin ein Kunstprodukt - , ist die Einheit von Vernunft und Natur grundsätzlich versperrt; auch der teleologische Entwurf der Natur, wie Kant ihn in der »Kritik der Urteilskraft«64 vorgetragen hat, ändert nichts daran. Eine Vernunft, die als Nötigung des Bewußtseins Schmerz und Selbstzwang, ja schließlich innere Zerrissenheit und Selbstdressur bedeutet, die aber dennoch unter allen Umständen gewollt werden soll, weil nur auf diese Weise die ontologische Freiheit in ihr praktisches Wesen gelangt — dies ist in den Augen Schillers das Skandalon der praktischen Vernunft. Indem Freiheit sich für ein endliches Wesen nur in der Form selbstgewählter Repression zu zeigen vermag, wird ihr Begriff selbst frag-würdig. Erst in der »vollständigen anthropologischen Schätzung« wird daher die Notwendigkeit einer Revision des Vernunftbegriffs deutlich. Vernunft muß die Ganzheit der 62
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V, S. 631A. (Hervorhebungen von U.T.). 63 Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...] In: SW V, S. 577. 64 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 267ff.
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m e n s c h l i c h e n D o p p e l n a t u r umfassen u n d darf nicht länger als v o n ihr rigoros abgespaltener »Teil« interpretiert werden. Von daher m u ß auch die Spaltung der m e n s c h l i c h e n Ganzheit, die i m Imperativ des Gewissens liegt, überwunden werden. O b w o h l die R e f l e x i o n stets u m sie kreist, wird die Kritik Schillers am P h ä n o m e n des Gewissens u n d am G e w i s s e n - h a b e n - w o l l e n selten explizit. D o c h das ist keine b l o ß terminologische Nachlässigkeit oder systematische Schwäche; es ist eher Ausdruck der durchaus ambivalenten Haltung, mit der Schiller d e m Gewissen gegenübersteht. 6 5 Ein längeres Zitat verweist a u f das Problem: Jede Aufopferung des Lebens ist zweckwidrig, denn das Leben ist die Bedingung aller Güter; aber Aufopferung des Lebens in moralischer Absicht ist in hohem Grad zweckmäßig, denn das Leben ist nie für sich selbst, nie als Zweck, nur als Mittel zur Sittlichkeit wichtig. Tritt also ein Fall ein, wo die Hingebung des Lebens ein Mittel zur Sittlichkeit wird, so muß das Leben der Sittlichkeit nachstehen. Nicht allein der Gehorsam gegen das Sittengesetz gibt uns die Vorstellung moralischer Zweckmäßigkeit, auch der Schmerz über Verletzung desselben tut es. Die Traurigkeit, welche das Bewußtsein moralischer Unvollkommenheit 65
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Schillers Ambivalenz gegenüber dem Phänomen des Gewissens und seines Imperativs beruht einerseits darauf, daß das Gewissen, sittlich gesehen, ein problematisches Phänomen ist, zumal dann, wenn es immer nur anbefohlen oder gar »eingepfropft« wird, sich aber jederzeit als ästhetisch großer Gegenstand vor allem der tragischen Gestaltung und Darstellung empfiehlt, zumal dann, wenn es aus dem Inneren der Person hervorbricht und dieses noch gegen den eigenen Willen bestimmt; denn was »kann erhabener sein als jene heroische Verzweiflung, die alle Güter des Lebens, die das Leben selbst in den Staub tritt, weil sie die mißbilligende Stimme ihres inneren Richters nicht ertragen und übertäuben kann« (vgl. Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: SW V, S. 367); andererseits darauf, daß das Gewissen gerade im letzten Fall nicht mehr nur als »Faktum der Vernunft« verstanden werden kann, sondern schon in die Nähe ganz anderer Kräfte gerückt wird, vor allem zum »Herzen« und der in ihm wirkenden Gesetzlichkeit des Ausgleichs und der Gerechtigkeit, mithin auch und gerade auch zur Natur. Schon seit dem frühen »Versuch über den Zusammenhang« ist Schillers Perspektive auf das Gewissen nicht allein die der Vernunft, denn die »Furcht, Unruhe, Gewissensangst wirken nicht viel weniger als die hitzigsten Fieber [...]. Die nächtliche Jaktation derer, die von Gewissensbissen gequält werden, und die immer mit einem febrilischen Aderschlag begleitet sind, sind wahrhaftige Fieber, die der Konsens der Maschine mit der Seele veranlaßt.« Vgl. Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. In: SW Y S. 310 (Hervorhebungen von U.T.). Auch späterhin gilt das Gewissen zwar auch als Ausdruck des Sittengesetzes (vgl. z.B.: Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: SW V, S. 367), aber doch auch als Instanz und Medium einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die zum »Herzen« und zum Gesetz jener höheren Liebe gehört, die in die ganzheitliche Natur des Menschen immer schon ein-gebildet ist und im Extrem bis in die Leiblichkeit reicht. Vgl. hierzu auch S. 157 ff., 201 ff.A., 385 ff., 413 f. dieser Untersuchung.
erzeugt, ist zweckmäßig, weil sie der Zufriedenheit gegenübersteht, die das moralische Rechttun begleitet. Reue, Selbstverdammung, selbst in ihrem höchsten Grad, in der Verzweiflung, sind moralisch erhaben, weil sie nimmermehr empfunden werden könnten, wenn nicht tief in der Brust des Verbrechers ein unbestechliches Gefühl für Recht und Unrecht wachte [... ] Reue über eine Tat entspringt aus der Vergleichung derselben mit dem Sittengesetz und ist Mißbilligung dieser Tat, weil sie dem Sittengesetz widerstreitet. Also m u ß im Augenblick der Reue das Sittengesetz die höchste Instanz im Gemüt eines solchen Menschen sein [...] Und was kann auch erhabener sein als jene heroische Verzweiflung, die alle Güter des Lebens in den Staub tritt, weil sie die mißbilligende Stimme ihres innern Richters nicht ertragen und nicht übertäuben kann? O b der Tugendhafte sein Leben freiwillig dahingibt, um dem Sittengesetz gemäß zu handeln — oder ob der Verbrecher unter dem Zwange des Gewissens sein Leben mit eigner Hand zerstört, um die Übertretung jenes Gesetzes an sich zu bestrafen, so steigt unsre Achtung für das Sittengesetz zu einem gleich hohen Grad empor [... ] Ein Mensch, der wegen einer verletzten moralischen Pflicht verzweifelt, tritt eben dadurch zum Gehorsam gegen dieselbe zurück, und je furchtbarer seine Selbstverdammung sich äußert, desto mächtiger sehen wir das Sittengesetz ihm gebieten. 66
Auf zweifache Weise wird für Schiller das Sittengesetz sichtbar: als freiwillige Hingabe des eigenen Lebens und durch den Zwang des Gewissens. Die begleitenden Phänomene von Reue, Verzweiflung und Selbstverdammung gelten hier noch als »moralisch erhaben«; in der Abhandlung »Über Anmut und Würde« dagegen werden sie hartnäckig kritisiert. Dennoch ist der Widerspruch nur scheinbar. Mit seiner Abhandlung »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen« (1791) befindet sich Schiller nicht nur am Anfang seiner Auseinandersetzung mit Kant, sondern auch im Umkreis einer durchaus anderen Thematik. Es geht um die Wirkung der Tragödie als Darstellung des Erhabenen. Zunächst scheint es sich dabei um die bloße Anwendung des Kantischen Begriffs zu handeln. Wie für Kant 67 so setzt sich auch für Schiller das Gefühl des Erhabenen aus der Furcht der Sinne und der Erhebung der Person zusammen; 68 objektiv physische Macht, subjektiv physische Ohnmacht und subjektiv moralische Übermacht begründen die Einheit des Phänomens.69 Dennoch setzt die Anwendung des Kantischen Begriffs auf das tragische Thema eine veränderte Optik voraus. Die »Kritik der Urteilskraft« kennt das Erhabene vor allem nur als Natur, die dem anschauenden Sinn als gesetzloses Chaos begegnet und so dazu zwingt, »sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken«;70 der gänzliche Mangel 66
Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: SW V S. 366f. 67 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. lOOff. 68 Vgl. Schiller, Vom Erhabenen. In: SW V, S. 505f. 69 Vgl. Schiller, Vom Erhabenen. In: SW V, S. 503. 70 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 115.
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einer Zweckverbindung ermöglicht einerseits noch das interesselose Wohlgefallen, andererseits gewährt er — wenn auch indirekt — die Aussicht auf das intelligible Substrat der Natur. Schiller dagegen geht insofern über Kant hinaus, als er den Umkreis der erhabenen Gegenständlichkeit beträchtlich erweitert. Die Gesetzlosigkeit der Natur kann ihr Spiegelbild auch in der »bedenklichen Anarchie der moralischen Welt«, ja in der »Weltgeschichte« als ganzer finden und diese so in erhabene »Objekte« verwandeln.71 Allein durch diese Integration des Erhabenen in die menschliche Welt wird es darstellungsfähig. Damit aber verändern sich die Maßstäbe der Beurteilung. Darstellung und Dargestelltes können nicht mehr nur nach dem Maß einer möglichst getreuen* Nachahmung äußerer Naturobjekte betrachtet werden, die vor der Wirklichkeit und Macht des Naturschönen in der Tat ohnmächtig bleiben muß. Indem das Erhabene nun auch durch den Menschen selbst zur Darstellung gebracht wird, verliert die Nachahmung der natura naturata zugunsten der sich im menschlichen Innenraum erschließenden natura naturans an Bedeutung. Das Erhabene wird zu einer Form menschlicher Subjektivität. Trotz aller Subjektivierung der Ästhetik, die mit dem Kantischen Versuch einer Grundlegung der Apriorität des Geschmacksurteils verbunden ist, zeigt sich die »Kritik der Urteilskraft« nach ihrer gegenständlichen Seite hin doch stark am Begriff der natura naturata orientiert. Der Grund dafür liegt in der systematischen Absicht des Werks, die notwendige Vermittlung von Natur- und Freiheitsbegriffen durch eine Erweiterung des Naturbegriffs über den bloßen Mechanismus hinaus zu ermöglichen. Im ästhetischen Geschmacksurteil ist zwar das starre, erkenntnistheoretisch bedingte Gegenüber von Subjekt und Objekt aufgehoben; dennoch aber bleibt es bei einem Gegenüber, weil alle Vermittlung sonst schon als Fragestellung gegenstands- und endlich auch sinnlos wäre.72 Deswegen ist das Naturschöne, sei es nun schön oder erhaben, immer auch Darstellung, auf die das Subjekt als erkennendes bezogen bleibt. Dennoch muß Kant aber auch zugeben, »daß das Erhabene der Natur nur uneigentlich so genannt werde, und eigentlich bloß der Denkungsart oder vielmehr der Grundlage zu derselben in der menschlichen Natur beigelegt werden müsse.«73 Ja, Kant geht sogar so weit, das Erhabene für ein ursprüngliches Gefühl zu erklären: Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst
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Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 802ff. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, L. 73 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 132. 72
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erzeugt und etwa bloß konventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur [... ] 74
Die systematisch erzwungene Orientierung an der äußeren Natur hat Kant jedoch daran gehindert, den Gedanken einer menschlichen Grundlage des Erhabenen zu Ende zu denken. Dazu bedurfte es erst eines gewandelten Naturverständnisses und seiner systematischen Ausbeutung. Erst die Orientierung an der Natur als natura naturans, deren Begriff sich in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Diskussion des »ars imitatur naturam« immer stärker herausbildet 75 und im Sturm und Drang eine autonome Verwendung gefunden hatte, 76 hat es Schiller ermöglicht, im Erhabenen eine Form menschlicher Selbstvermittlung zu sehen, die genuin praktisch und zugleich darstellungsfähig war. Die genuin praktische Form dieser Selbstvermittlung besteht für Schiller im Gewissen — jenem Phänomen also, das als das geheime Zentrum der Lehre vom »Faktum der Vernunft« angesehen werden muß. Kants eigene Definition des Erhabenen: »Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt«,77 zeigt die Rechtmäßigkeit dieser Deutung an, ist sie doch nichts anderes als die ästhetische Wiederholung des praktischen Rigorismus. So sehr Kants Erhabenheit der Natur ein echtes Phänomen darstellt, so präzise ist Schillers Auslegung des Erhabenen als des in der Gestalt des Gewissens wirkenden Gesetzes. Die kongeniale Identifikation von Sittengesetz und Gewissen wäre Schiller wohl kaum möglich gewesen, hätten nicht schon »Die Räuber« in der spannungsreichen Dialektik von Verbrechen und Gewissen ihre dramatische Substanz gefunden. Schon hier haben beide Erscheinungsformen des Sittengesetzes — das innere Gericht des nach Sühne strebenden Gewissens und die freiwillige Hingabe des Lebens — ihre exemplarische Gestaltung gefunden. Alle Schuld wird durch das Gewissen, das seelische Kant, Kritik der Urteilskraft, S. lllf. (Hervorhebungen von U.T.). Vgl. hierzu auch den vorzüglichen Aufsatz von Wolfgang Preisendanz, Zur Poetik der deutschen Romantik I: Die Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung, S. 54ff. 76 Die im Sturm und Drang übliche Deutung des Genies als natura naturans (vgl. z.B. Goethe, Zum Shakespeare-Tag. In: Werke Band XII, hrsg. von H. von Einem und H.J. Schrimpf, 5. Auflage, Hamburg 1963, S. 224ff. - Zitate aus der Hamburger Goethe-Ausgabe sind im folgenden als »HA« gekennzeichnet) hat sich im übrigen auch auf den Kantischen Geniebegriff ausgewirkt, ohne daß dieser doch darin aufginge. Der Geniebegriff der »Kritik der Urteilskraft« ist indessen der einzige Ort, an dem die Lösung vom Begriff der natura naturata auch theoretisch fruchtbar, wird, da der Unterschied zwischen Nachahmung und Darstellung hier konsequent zur Verwerfung des »ars imitatur naturam« treibt. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 183. 77 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 115. 74
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Organ ausgleichender Gerechtigkeit, entsühnt. Franz Moors ins Kolossalische gesteigerte Mechanik des Bösen, die auch vor der hybriden Versuchung Gottes nicht zurückschreckt, muß sich schließlich doch dem finsteren, ins Apokalyptische gesteigerten Gericht des Gewissens beugen, als dessen Emanation die Gestalt des Pastor Moser auftritt.78 Und auch Karl Moor, der Räuber, der durch seinen gesteigerten Anspruch auf Gerechtigkeit in schuldhafte Verstrickung gerät, muß am Ende die innere Haltlosigkeit seines Handelns erkennen und die verletzte Gerechtigkeit durch sein freiwilliges Opfer versöhnen. 79 Schuld und Sühne wurzeln hier gleichermaßen in der Liebe zur Gerechtigkeit, die aber erst dann in ihr Wesen kommt, wenn das Amt der Nemesis in der Entscheidung des eigenen Gewissens und der Bereitschaft zum persönlichen Opfer frei übernommen und zur Darstellung gebracht wird. In der spannungsreichen Verbindung der schuldhaften Verstrickung allen Handelns und ihrer Entsühnung durch den opferbereiten Willen des ins Heroische gesteigerten 78
Vgl. Schiller, Die Räuber. Ein Schauspiel. In: SWI, S. 602ff. (V, 1). Auf die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer solchen Deutung gibt Schiller übrigens selbst zahlreiche Hinweise. So in der Selbstbesprechung der »Räuber« (1782): »Vielleicht gewinnt das Herz des Dichters auf Unkosten seiner dramatischen Schilderei; tausend Mordtaten zu geloben, tausend Menschen in Gedanken zu vernichten ist leicht, aber es ist eine herkulische Arbeit, einen einzigen Totschlag wirklich zu begehen. Franz sagt uns in einem Monologen einen wichtigen Grund: >Verflucht sei die Torheit unsrer Ammen und Wärterinnen, die unsre Phantasie mit schrecklichen Märchen verderben und gräßliche Bilder von Strafgerichten in unser weiches Gehirnmark drücken, daß unwillkürliche Schauer die Glieder des Mannes noch in frostige Angst rütteln, unsre kühnste Entschlossenheit sperren< u. s. f. Aber wer weiß es nicht, daß eben diese Spuren der ersten Erziehung in uns unvertilgbar sind?« Vgl. Schiller, Selbstbesprechung der »Räuber« im Wirtembergischen Repertorium. In: SW I, S. 626f. Aus diesen Worten spricht die nackte Angst vor der ungeheuren Macht des Gewissens, gegen die sich nur unter Aufbietung aller rhetorischen Kräfte ein schützender, letztlich freilich zerbrechlicher Wall errichten läßt. In Franz Moor hat Schiller eine Gestalt geschaffen, die sich die eigene Angst gleichsam von der Seele reden muß, um am Ende die ganze Hilflosigkeit ihrer nur intellektuellen Masken erfahren zu müssen. 79 »RÄUBER M O O R : O über mich Narren, der ich wähnete die Welt durch Greuel zu verschönern, und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht - Ich maßte mich an, o Vorsicht, die Scharten deines Schwerts auszuwetzen und deine Parteilichkeiten gutzumachen - O eitle Kinderei - da steh ich am Rande eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, daß zwei Menseben wie ich den Bau der sittlichen Welt zugrunderichtenwürden [... ] Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers - eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet - dieses Opfer bin ich selbst. Ich selbst muß für sie des Todes sterben.« Vgl. Schiller, Die Räuber, S. 617 (V, 2).
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Gewissens und der Bereitschaft zum persönlichen Opfer frei übernommen und zur Darstellung gebracht wird. In der spannungsreichen Verbindung der schuldhaften Verstrickung allen Handelns und ihrer Entsühnung durch den opferbereiten Willen des ins Heroische gesteigerten Gewissens ist daher—längst vor der Begegnung mit der Kantischen Philosophie — das genuine Thema auch der klassischen Tragödie Schillers in Grundzügen entworfen. 80 Die moralische Erhabenheit des Gewissens, die nach Schillers Entwurf des Tragischen in der Tragödie zur Darstellung kommt, scheint eine Kritik des Gewissens unmöglich zu machen. An eine ins Grundsätzliche gehende Kritik des Gewissens als Phänomen hat Schiller indessen auch nicht gedacht. Ansätze dazu, die sich in Schillers theoretischen Schriften durchaus finden, sind rudimentär geblieben, weil das Gewissen — trotz seines Zwangscharakters — in seiner Realität als Phänomen durch den Machtspruch der Kritik nicht einfach aufgelöst werden kann. Als Beschreibung eines wirklichen Faktums bleibt auch für Schiller die Lehre vom »Faktum der Vernunft« wahr. Doch Schiller beugt sich nur vor dem Faktum, nicht aber vor dem Imperativ des Gewissens, durch den die repressiven Zwangszüge eines künstlich isolierten sittlichen Phänomens zur allgemeinen moralischen Norm erhoben und als solche festgeschrieben werden. Erst der Imperativ des Gewissens bildet die Grundlage für Schillers Kritik an der Kantischen Moralphilosophie: hier erst werden die Degradierung der Sinnlichkeit, der Geist des Opfers und die inquisitorische Praxis der Vernunft 81 zur unzumutbaren Norm gemacht, deren
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Diese konfliktträchtige Thematik hat Benno von Wiese auch am Beispiel der Wallenstein-Trilogie beschrieben: »Nicht weil er [Wallenstein] unmoralisch oder gewissenlos handelt, geht er unter, sondern weil er Gewissen und Macht miteinander verknüpfen möchte [ . . . ] Aber das Gewissen bleibt der Gegenspieler für die Gewissenlosigkeit des Handelnden, vor dem er sich verantworten muß; so wie auch umgekehrt sittliche Freiheit nur als tragische möglich ist, die aus der Geschichte in das Ewige hinausdrängt. Schillers geschichtliche Tragödie entfaltet sich an dem Widerspruch von Gewissenlosigkeit und Gewissen, von Handeln und Gesinnung, von Macht und Gerechtigkeit, von Menschentum und Politik.« Vgl. B. von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, S. 228. 81 Die Rede vom inquisitorischen Charakter der Vernunft wäre vielleicht unangebracht, hätte Schiller dem Sittengesetz in der Person des Pastor Moser nicht einen christlichen Repräsentanten gegeben, der von grausamen, ja sadistischen Zügen nicht frei ist. - Im übrigen sei hier noch daraufhingewiesen, daß auch Reinhard Buchwald Schillers Kritik an der Kantischen Moralphilosophie als schroffen Angriff gegen die christliche Gewissensethik versteht, ohne allerdings den spezifisch Kantischen und den weit komplexeren Gewissensbegriff Schillers näher zu interpretieren. Vgl. R. Buchwald, Schiller, S. 514ff. Vgl. aber auch die interessanten Bemerkungen S. 545ff.
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W i r k u n g nicht anders als repressiv sein kann. 82 G e n a u auf diese W u n d e n legt die Kritik v o n »Über A n m u t u n d Würde« d e n Finger: Es erweckt mir kein gutes Vorurteil für einen Menschen, wenn er der Stimme des Triebes so wenig trauen darf, daß er gezwungen ist, ihn jedesmal erst vor dem Grundsatze der Moral abzuhören; vielmehr achtet man ihn hoch, wenn er sich demselben ohne Gefahr, durch ihn mißgeleitet zu werden, mit einer gewissen Sicherheit vertraut. Denn das beweist, daß beide Prinzipien in ihm sich schon in derjenigen Übereinstimmung befinden, welche das Spiel der vollendeten Menschheit und dasjenige ist, was man unter einer schönen Seele verstehet. 8 3 Wo das moralische Gefühl Befriedigung findet, da will das ästhetische nicht verkürzt sein, und die Übereinstimmung in der Idee darf in der Erscheinung kein Opfer kosten. 84 D o c h weist Schiller nicht nur d e n Imperativ des Gewissens zurück. A u c h das Gewissen selbst ist für i h n nur ein moralisches P h ä n o m e n unter anderen, keineswegs aber der Inbegriff aller sittlichen Kultur; zuviel hat es v o n bloßer Strafe an sich, z u sehr lebt es v o n Schuld. N u r i m Kontext der Tragödie erkennt Schiller das Gewissen als Erscheinung des Sittengesetzes an. Schillers A n e r k e n n u n g auch der Kantischen Sittlichkeit beruht letztlich nur darauf, daß das G e w i s s e n als Organ menschlicher Erhabenheit z u m O b j e k t der tragischen Darstellung z u werden vermag u n d so die repressiven Züge, die i h m als psychischem phainomenon notwendig
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Nichts wäre hier so verfehlt, wie Schillers Kritik am Gewissen und seinem Imperativ selbst absolut zu nehmen, weil dies nicht nur hinter Schiller, sondern immer auch hinter dem Gewissen selbst zurückbliebe. Die Kantische Ethik mag auch bei näherem Zusehen als eher phantastische Konstruktion erscheinen, vor allem in ihrer blinden Identifikation des Gewissens mit dem Gesetz des moralischen mundus intelligibilis; sie bleibt aber mit Blick auf die grundlegenden Probleme der Ethik eine durchaus diskussionswürdige Erscheinung, welche durch psychoanalytische und psychodynamische Entlarvungskünste nicht einfach nur eskamotiert werden kann. Sie dokumentiert kein Versagen Kants, eher das Faktum des Problems: Wo von Pflicht die Rede ist, wird die Frage der Unterscheidung zwischen Selbstüberwindung und Selbstverleugnung ebenso dringlich wie die Frage nach den Möglichkeiten des Lustprinzips, ist Schillers Entwurf der ästhetischen Subjektivität trotz seiner im Namen der Glückseligkeit und der Lust geführten Kritik an der Kantischen Ethik doch kein Versuch, »die Sublimierung der ästhetischen Funktion rückgängig zu machen«, wie Herbert Marcuse meint (vgl. H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, S. 184), sondern vielmehr das Resultat jener Anstrengung, Natur in einer Synthese aufzuheben, »die Lust erlaubt, weil durch Vernunft sublimiert, von aktiven sinnlichen Begierden entstofflicht, und Vernunft lustvoll, weil mit sinnlichen Reizen vereinigt ist.« Vgl. R. Grimminger, Die Utopie der vernünftigen Lust, S. 122. 83 Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW Y S. 468 (Hervorhebungen von U.T.). 84 Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 458.
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zukommen, verliert. Indem die Schillersche Tragödie zur lebendigen Darstellung des Sittengesetzes wird, hört das Gewissen überhaupt auf, Phänomen zu sein; durch die magische Wirkung 85 der tragischen Form verwandelt es sich von der Erscheinung zum ästhetischen Schein. Dies ist aber nur möglich, wenn das dargestellte Leiden nicht zum Selbstleiden wird, und die im Mitleiden sich ausdrückende Sympathie innerhalb der ästhetischen Grenzen verbleibt: Wenn aber das Affekterregende (oder Pathetische) einen Grund des Erhabenen abgeben soll, so darf es nicht bis zum wirklichen Selbstleiden getrieben werden. Auch mitten im heftigsten Affekt müssen wir uns von dem selbstleidenden Subjekt unterscheiden, denn es ist um die Freiheit des Geistes geschehen, sobald die Täuschung sich in völlige Wahrheit verwandelt. 86
Die Wirkung der Tragödie gründet sich nach Schiller nicht auf Illusion und blinde Identifikation, sondern auf Distanz und innere Freiheit, durch die allein sich alle menschliche Furcht vor dem unnachsichtigen Gesetz in Schein verwandelt und ein schmerzloser »Ausgang aus der sinnlichen Welt« als Darstellung des Übersinnlichen möglich wird.87 Weil die Tragödie auf Freiheit beruht, vermag sie auch Freiheit zu schenken. Schillers Tragödie ist Darstellung der Freiheit, aber nicht, weil Freiheit ihr Gegenstand ist — Freiheit hat niemals gegenständliche Bedeutung —, sondern weil sie als Funktion der Form in Erscheinung tritt. Nicht weil sie der Inbegriff von Moralität sind, bleiben das Sittengesetz, das Gewissen und der Kantische Typus des »Frage dich selbst« moralische Gegenstände, sondern weil sie der ästhetischen Darstellung fähig sind, wodurch sie ja erst erhabene Gegenstände werden. Nur als ratio cognoscendi der Freiheit, als Fähigkeit des Menschen, im Notfall auch gegen das Interesse seiner sinnlichen Selbstliebe handeln zu können, bleibt für Schiller der Begriff des Sittengesetzes verbindlich.88 Die Disjunktion von Sinnlichkeit und Vernunft wird zum Exempel der Freiheit und zur Probe der Tugend, da ihre ästhetische Koinzidenz zufällig bleiben kann: 85
Vgl. Schiller, Über den Grund des Vergnügens [ . . . ] In: SW V, S. 371. Schiller, Vom Erhabenen. In: SW V, S. 510. Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 799. 88 Der Mensch muß daher »lernen, edler zu begehren, damit er es nicht nötighabe, erhaben zu wollen«; denn um »den ästhetischen Menschen zur Einsicht und zu großen Gesinnungen zu führen, darf man ihm weiter nichts als wichtige Anlässe geben; um von dem sinnlichen Menschen eben das zu erhalten, muß man erst seine Natur verändern. Bei jenem braucht es oft nichts als die Aufforderung einer erhabenen Situation (die am unmittelbarsten auf das Willensvermögen wirkt), um ihn zum Held und zum Weisen zu machen; diesen muß man erst unter einen andern Himmel versetzen.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 645, 643 (Hervorhebungen von U.T.). Vgl. auch die weiteren Erläuterungen und Differenzierungen. In: Schiller, SW V S. 689ff., 789ff. 86 87
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Bei dem Schönen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen hat es Reiz für uns. Durch Schönheit allein würden wir also ewig nie erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen. Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüt ergreift. 89
Aber es ist für Schiller letztlich nicht die Moralität des Gesetzes, sondern allein seine Ästhetizität, die es — in letzter Instanz auch noch moralisch — annehmbar macht; auf ihr, nicht auf dem Gesetz selbst, beruht der »Zauber« des Erhabenen. In der Funktion der »Probe« repräsentiert das Sittengesetz nur noch eine Schwundstufe sittlicher Relevanz; in der Gestalt des Gewissens dagegen ist es — wie Schiller differenzierend zum »Erhabenen der Handlung« ausführt — lediglich »ein ästhetisch großer Gegenstand«, mit dem moralische Größe durchaus nicht zusammenfallt.90 Das Gewissen-haben ist für Schiller kein Beweis der Moralität, sondern lediglich ein Zeichen der moralischen Anlage,91 an die auch die Tragödie als Darstellung »nicht von dem, was geschieht, sondern von dem, was geschehen soll und kann...«,92 appelliert. Als Darstellung der rächenden Nemesis und der moralischen Selbständigkeit im Leiden ist die Tragödie Antizipation von Freiheit und warnendes Vorspiel der Schuld zugleich. Nicht dadurch, daß sie sittliche Maximen verkündet oder versinnlicht, ist sie moralisch zweckmäßig, sondern als gewaltlose Antizipation jenes Gerichts, das alle Schuld nur rächend sühnt und nur durch ein tragisches Opfer, durch »moralische Selbstentleibung« 93 zu versöhnen ist. Allein in der schmerzlosen Darstellung von Gewissen und Freiheit, die nur der Kunst möglich ist, besteht der sittliche Wert der Tragödie, der ohne den ästhetischen Wert des tragischen Spiels nicht von Bestand wäre. Durch Spiel allein verwandelt sich die schwere Bürde von Schuld und Gewissen in eine bei allem Ernst des Tragischen letztlich doch heitere Darstellung der Freiheit: Daß der Zweck der Natur mit dem Menschen seine Glückseligkeit sei, wenn auch der Mensch selbst in seinem moralischen Handeln von diesem Zwecke nichts wissen soll, wird wohl niemand bezweifeln, der überhaupt nur einen Zweck in der Natur annimmt. Mit dieser also, oder vielmehr mit ihrem UrSchiller, Über das Erhabene, in: S W V S. 797f. - In »Über A n m u t und Würde« heißt es dementsprechend: »Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der Temperamentstugend unterscheiden kann [ . . . ] Die Temperamentstugend sinkt [ . . . ] im Affekt zum bloßen Naturprodukt herab; die schöne Seele geht ins Heroische über und erhebt sich zur reinen Intelligenz.« Vgl. Schiller, Über A n m u t und Würde, in: S W V, S. 474f. 9 0 Vgl. Schiller, Über das Pathetische. In: S W V, S. 527f. 91 Vgl. Schiller, Über das Pathetische. In: S W V S. 527f. 9 2 Schiller, Vom Erhabenen. In: S W V S. 511. 9 3 Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: S W Y S. 803. 89
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heber haben die schönen Künste ihren Zweck gemein, Vergnügen auszuspenden und Glückliche zu machen. Spielend verleihen sie, was ihre ernstern Schwestern uns erst mühsam erringen lassen; sie verschenken, was dort erst der sauer erworbene Preis vieler Anstrengungen zu sein pflegt. Mit anspannendem Fleiße müssen wir die Vergnügungen des Verstandes, mit schmerzhaften Opfern die Billigung der Vernunft, die Freuden der Sinne durch harte Entbehrungen erkaufen oder das Ubermaß derselben durch eine Kette von Leiden büßen; die Kunst allein gewährt uns Genüsse, die nicht erst abverdient werden dürfen, die kein Opfer kosten, die durch keine Reue erkauft werden.94 N u r als tragisches Spiel ist die Tragödie Darstellung der Freiheit u n d warnendes Vorspiel der Schuld zugleich. D a s Spiel mildert den h o h e n Ernst des Tragischen, in dessen U m k r e i s Freiheit scheint; i m tragischen Ernst dagegen vermittelt sich — propädeutisch — die Warnung vor der Welt u n d der Schuld zugleich. D u r c h den Ernst des Tragischen verwandelt sich selbst die für Schiller scheinbar höchste Form der Moralität, die freiwillige H i n g a b e des Lebens, z u m Fluchtpunkt der tragischen Entwicklung: Fälle können eintreten, wo das Schicksal alle Außenwerke ersteigt, auf die er (der Mensch, U.T.) seine Sicherheit gründete, und ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freiheit der Geister zu flüchten — wo es kein andres Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu wollen — und kein andres Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben. 95 D i e »moralische Selbstentleibung«, in der die D i s j u n k t i o n v o n Pflicht u n d N e i g u n g i n aller Radikalität z u m Ausdruck k o m m t , ist für Schiller eher ein »tragischer Fall« als eine moralische N o r m ; so sehr sie auch auf den unzerstörbar intelligiblen Kern der m e n s c h l i c h e n Natur verweist, so ursprünglich ist sie d o c h an die N o t eines Bewußtseins gebunden, d e m sich Welt u n d Geschichte, trotz aller Freiheit u n d Ordnung, i m m e r auch als bedrängendes Chaos, als furchtbare F r e m d e 9 6 darstellen. D i e durch die Tragödie dargestellte Freiheit ist nicht die der sinnlich vernünftigen Natur, sondern die des »reinen D ä m o n s « , in der sich Freiheit nur als »Fall«, nicht als harmonisch mit den B e d i n g u n g e n des M e n s c h l i c h e n '"Schiller, Über den Grund des Vergnügens [...] In: SW V, S. 358f. (Hervorhebungen von U.T.). 95 Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 805. 96 Da die menschliche Vernunftbestimmung weder gewollt wurde noch rückgängig gemacht werden kann, ist die Freiheit - als Abfall vom Stande der unschuldigen Natur - für den Menschen das radikal Fremde und auch Bedrohliche. Durch Freiheit »wurde aus einem unschuldigen Geschöpf ein schuldiges, aus einem vollkommenen Zögling der Natur ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem glücklichen Instrument ein unglücklicher Künstler.« Vgl. Schiller, Etwas über die ersten Menschengesellschaft am Leitfaden der mosaischen Urkunde. In: SW IV, S. 769. Vgl. hierzu auch S. 283ff. dieser Unters. 47
zusammenstimmendes Sein verwirklicht.'7 Daher erschöpfen sich Moralität und Freiheit weder im Gewissen noch im Imperativ des Gewissens, noch auch im Dämonischen allein: Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zur verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. Nicht Tugenden, sondern die Tugend ist seine Vorschrift, und Tugend ist nichts anders, als eine »Neigung zu der Pflicht«.'8
Wie das Gewissen aus der Erfahrung der Schuld erwacht, so erhebt sich das Dämonische aus der tragischen Welt- und Geschichtserfahrung, die die Erhabenheit des Dämons allererst möglich macht. Schuld und tiefer Geschichtspessimismus sind die schweren Hypotheken der Freiheit," deren Darstellung die Tragödie, deren Überwindung die Schönheit sein soll. Das aber bedeutet, daß der Begriff der Schönheit nicht allein durch die Konstellation philosophischer Bestimmungen, sondern erst als Überwindung der geschichtlichen Selbstentfremdung des Menschen in sein Wesen kommt.
"Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 801, 806. "Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 464. "Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 804.
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II. Die Einheit von philosophischer und geschichtlich-politischer Kritik
1. Revolutions- und Aufklärungskritik Verwandelt sich das Gewissen aus dem Umkreis des Dramatischen erst durch die Begegnung mit der Kantischen Philosophie in ein sittlich problematisches Phänomen, so erschöpft sich die ethische Zweideutigkeit der kritischen Philosophie für Schiller doch nicht in Imperativ und Rigorismus allein. Wie die Philosophie stets auch ihrer Zeit gehört, so ist auch das Wesen der Freiheit nicht allein ihr Begriff, sondern ihr zeitliches Schicksal. Weil sich die Geschichte der Philosophie nicht nur aus der Kontinuität ewig alter und ewig junger Fragen — der schweren Hypothek der philosophiaperennis — ergibt, sondern sich immer auch als Geschichte von Brüchen, als abhängiger Kampf um ein neues, eigenes Selbstbewußtsein darstellt, findet auch Kritik ihren konkreten Sinn erst dort, wo das geschichtliche Schicksal eines ontologischen Entwurfes absehbar wird. Die Immunität und Reinheit der Philosophie vor der Geschichte ist eine ohnmächtige Fiktion der Philosophie selbst. Im transzendentalen Vorrang des Begründens hat sie sich auch dem Kantischen Entwurf der Sittlichkeit mitgeteilt, ohne daß Kant selbst sie hätte durchschauen können. Dazu hätte es einer Historisierung der eigenen Philosophie bedurft, für die Kant weder Methode noch Anlaß sah. Die Historisierung der Kantischen Philosophie konnte nur einer Form der Betrachtung entspringen, die die Wirkungsgeschichte der praktischen Vernunft durch einen ihrer Begründung systematisch fremden Fragehorizont erschließt: den der politischen Kritik. Mit Schillers sich zuletzt bis zur radikalen Kultur- und Geschichtskritik verdichtenden Darstellung der Französischen Revolution findet auch seine Kritik der kritischen Philosophie erst ihre Grundlage und ihren sie tragenden Sinn. Schillers Revolutionskritik wird zur ratio cognoscendi der Kantischen Moralphilosophie. Noch immer mag das Thema der Revolutionskritik das Nationalgefühl in die rast- und ratlose Pendelschwingung zwischen Erstaunen und Befremden versetzen, gilt doch der Autor der »Räuber« und des »Don Carlos« noch immer als Freiheitsdichter par excellence, dessen »Ich kann nicht Fürstendiener sein»1 nicht nur den Zeitgenossen, sondern ganzen 49
Generationen des nationalen und sozialen Aufbruchs beflügelnd in den Ohren gerasselt hat. Überraschend, daß Schillers »Hören«, eine Zeitschrift, die er ab 1794 mit nur mäßigem Erfolg herausgibt, sich »über das Lieblingsthema des Tages«, die revolutionären Ereignisse in Frankreich, »ein strenges Stillschweigen auferlegen, und ihren Ruhm darin suchen (wollen), durch etwas anderes zu gefallen, als wodurch jetzt alles gefallt.« Aus dem »engen vertraulichen Zirkel« soll »alles verbannt sein..., was mit einem unreinen Parteigeist gestempelt ist«, um »ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist«, zu wecken und zu fördern. 2 Klangvoll genug ist die Liste der Mitarbeiter: Goethe und A.W. Schlegel, Fichte und Herder, die Gebrüder Humboldt unterstützen das ehrgeizige Unternehmen mit ihren Beiträgen. Das sieht nach Rückzug aus dem politischen Tagesgeschäft, nach Wandlung eines politischen Dichters in einen unpolitischen Ästheten, nach kulturpolitischer Entpolitisierung der »literarischen Öffentlichkeit« aus und provoziert die Frage nach Grund und Zusammenhang. »Von dem französischen Freiheitswesen, für welches ich mich so interessierte«, so berichtet Schillers Jugendfreund v. Hoven, war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glücklichere Zukunft fand er nicht. Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volkes, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit. Er gab zwar zu, daß viele wahre und große Ideen, welche sich zuvor nur in den Büchern und in den Köpfen helldenkender Menschen befunden, zur öffentlichen Sprache gekommen; aber um eine wahrhaft beglükkende Verfassung einzuführen, sei das bei weitem nicht genug. Erstlich seien die Prinzipien selbst, die einer solchen Verfassung zum Grunde gelegt werden müssen, noch keineswegs hinlänglich entwickelt, denn bis jetzt, sagte er, indem er auf Kants Kritik der Vernunft, die eben jetzt auf dem Tische lag, hinwies, sind sie es bloß noch hier; und zweitens, was die Hauptsache sei, müsse auch das Volk für eine solche Verfassung reif sein, und dazu fehle noch sehr viel, ja alles.3
Ähnliches wie im Bericht des Freundes schreibt Schiller an den Herzog von Augustenburg, seinen adeligen Gönner: Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens, So der Marquis Posa zu König Philipp in dem denkwürdigen und berühmten Dialog des »Don Carlos«. Vgl. Schiller, SW II, S. 120 (V 3020). 2 Vgl. Schiller, Ankündigung der Hören. In: AB, S. 71ff. 'Zitiert nach: Freiherr von Biedermann, Schillers Gespräche, S. 226f. 1
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und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht wert war, und weder zu würdigen noch zu benutzen wußte. Der Gebrauch, den sie von diesem Geschenk des Zufalls macht und gemacht hat, beweist unwidersprechlich, daß das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der Tierheit zu erwehren, und daß derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt. 4 N i c h t das politische Ziel der Revolution, die bürgerliche Freiheit v o n staatlicher Observanz und Bevormundung, hat Schillers Kritik herausgefordert, sondern der revolutionäre Prozeß, die in den »terreurs« z u m Vorschein k o m m e n d e Grausamkeit der revolutionären Gewalt, der selbst der König, unversehens z u m Bürger unter Bürgern geworden, z u m Opfer fallen sollte — in den A u g e n Schillers wie der meisten deutschen Intellektuellen eine Tat nicht v o n Freiheitshelden, sondern v o n »elenden Schindersknechten«, 5 deren Tugend durch fortgesetzte Blutopfer längst obsolet geworden, deren Sache illusorisch scheint. 6 »Wäre das Faktum war«, so schreibt Schiller in tiefer Enttäuschung, wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen 4
Schiller, AB, S. 20 (Brief vom 13.7.1793). Vgl. hierzu den Brief Schillers an Körner vom 8.2.1793, wo es heißt: »Was sprichst Du zu den französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da liegt sie mir nun noch da. Ich kann seit 14 Tagen keine franz[ösische] Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.« In: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, S. 163. 6 Ursprünglich hatte Schiller im Winter 1792 den Plan gefaßt, sich an der Streitsache um den König durch ein Memorandum zu beteiligen, das durch die frühe Hinrichtung des der Konspiration mit dem feindlichen Auslande verdächtigten Monarchen schon wenige Wochen nach der Jahreswende hinfallig geworden war und so nicht mehr verfaßt worden ist, von dem sich aber vermuten läßt, daß es entschieden vom Rechtsgrundsatz des »in dubio pro reo« Gebrauch gemacht hätte. In jedem Fall ist die Hinrichtung Ludwig XVI. ein entscheidener Einschnitt in Schillers Verhältnis zur Revolution; die anfänglich beobachtende Haltung weicht nun zunehmender Skepsis und Empörung. Vgl. Schiller, Brief an Körner vom 21.12.1792. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, S. 151. - Anderer Auffassung ist Hans-Günther Thalheim: »Schiller lehnt die Rebellion der Räuber, den revolutionären Terror - entgegen weitverbreiteter Meinung - keineswegs ab. Nicht die aus republikanisch-patriotischem Denken entspringenden Terrortaten gegen die Angehörigen der Adelsklasse und des Hofes werden verurteilt, sondern allein die aus privat egoistischen Motiven geborenen Greueltaten [...]« H.-G. Thalheim, Schillers Stellung zur Französischen Revolution und zum Revolutionsproblem, S. 123. 5
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Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. Ja ich bin soweit entfernt an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu aufJahrhunderte benehmen. 7 D i e politische Askese, die Schiller d e n »Hören« auferlegt hat, erscheint so als Ergebnis politischer Enttäuschung, ist jedoch nicht als b l o ß e A b k e h r v o n Staat und Gesellschaft zu verstehen. I n d e m Schillers Zeitschrift sich alle Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf und auf die nächsten Erwartungen der Menschheit verbietet, wird sie über die vergangene Welt die Geschichte, und über die kommende die Philosophie befragen, wird sie zu dem Ideale veredelter Menschheit, welches durch die Vernunft aufgegeben, in der Erfahrung aber so leicht aus den Augen gerückt wird, einzelne Züge sammeln, und an dem stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten, von dem zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt, nach Vermögen geschäftig sein. 8 N i c h t allein ihr Begriff macht das Problem der Französischen R e v o l u t i o n aus, sondern die unzeitige historische Situation, in der sie aufbrach; Verfrühung also und die m i t ihr verbundene Verkennung nicht nur des politisch M ö g l i c h e n , sondern auch die der revolutionären D i s p o s i t i o n selbst, gipfelnd in der m e n s c h l i c h e n Unreife ihrer Verfechter samt der durch sie repräsentierten Prinzipien. »Alle Reform, die Bestand h a b e n soll«, so erklärt Schiller, muß von der Denkungsart ausgehen, und wo eine Verderbnis in den Prinzipien herrscht, da kann nichts Gesundes, nichts Gutartiges aufkeimen. Nur derCharakter der Bürger erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich.' Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen, und das große Zentrum aller Kultur — aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann. 10 D e r H i n w e i s auf die u n h e i l v o l l e »Verderbnis in d e n Prinzipien« s c h o n sollte davor bewahren, die Schillersche Revolutionskritik mit der Stell u n g n a h m e eines enttäuschten Liberalen u n d hintergangenen U t o p i s t e n Abgesehen davon, daß das hier durchscheinende Schiller-Bild noch immer sehr unkritisch und antiquiert am Autor der »Räuber« orientiert ist, steht auch der Beleg Thalheims - ein Brief der Frau von Stein an Charlotte Schiller aus dem Winter 1793 (vgl. ebd., S. 138) - in der Reihe der kritischen Zeugnisse durchaus singulär da, so daß die ihm unterstellte Beweiskraft im ganzen nicht weiter ins Gewicht fallen dürfte. 7 Schiller, AB, S. 19 (Brief vom 13.7.1793) - (Hervorhebungen von U.T.) 'Schiller, Ankündigung der Hören. In: AB, S. 71f. 'Schiller, AB, S. 22 (Brief vom 13.7.1793) - (Hervorhebungen von U.T.) '"Schiller, AB, S. 23 (Brief vom 13.7.1793). 52
z u verwechseln, dessen politische A n a l y s e n zwar hinter d e m durchaus präziseren Verständnishorizont deutscher Jakobiner zurückbleiben, aber doch konzentriert genug sind, u m die Zirkelstruktur z w i s c h e n Sein und Bewußtsein, die m i t d e m Primat der Charakterbildung vor aller einschneidenden Veränderung aufbricht, z u erkennen. 1 1 Eine ungebührliche Verkürzung des wahren Sachverhalts, wollte m a n Schillers Einspruch gegen den historischen Prozeß der R e v o l u t i o n lediglich als »Kritik der Waffen«, nicht aber als Kritik der Idee selbst begreifen. Was sich in der nur abstrakten R e f l e x i o n als Unterschied v o n Zweck und Mittel zeigt, stellt sich d e m Historiographen und Z e i t g e n o s s e n eher als einheitliches Phäno11
Der innere Zusammenhang von Revolutions- und Aufklärungskritik erst erlaubt eine historisch-politische Verortung der Schillerschen Position jenseits der von Hans-Günther Thalheim gestellten Alternative zwischen einer bloß enttäuschten Liberalität und einem bürgerlichen Utopismus, der »die wachsende Differenzierung des Dritten Standes und damit auch die hervorbrechenden Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung« ablehnt. Vgl. H.-G. Thalheim, Schillers Stellung zur Französischen Revolution und zum Revolutionsproblem, S. 139. - Gerade weil Schillers Revolutionskritik sich in einer »Kritik der beschränkten bürgerlichen Vernunft« (vgl. ebd.) vertieft und systematisiert, läßt sie das einfache Schema von Idee und praktischer Einlösung hinter sich, um die geschichtliche Funktion der Idee selbst zu betrachten. Mit einem »bürgerlich-idealistischen Revolutionsbegriff«, der sich darin erfüllt, daß die »wahren Revolutionäre [... ] sich die Ideen und Ideale der Aufklärung zu eigen machen« (ebd., S. 124), lassen .sich weder der Impetus noch auch der politische Stellenwert der Schillerschen Kritik zureichend bestimmen, unterschlägt eine solche, einseitig am späteren Modell der sozialen Topik von Basis und Überbau orientierte Rekonstruktion doch gerade die Zweideutigkeit des nur Ideellen, die Schiller in den verschiedensten Zusammenhängen seiner Theoriebildung namhaft zu machen sucht. »Vielleicht«, so schreibt Schiller an den Prinzen von Augustenburg, »dürfen Sie mir einwenden [...], daß hier ein Zirkel sei, und daß der Charakter des Bürgers eben so gut von der Verfassung abhänge, als diese auf dem Charakter des Bürger ruht. Ich gebe dieses zu, und behaupte also, daß man, um diesen Zirkel zu vermeiden, entweder auf Mittel denken muß, dem Staat aufzuhelfen, ohne den Charakter dabei zu Hilfe zu nehmen, oder dem Charakter beizukommen, ohne den Staat dabei nötig zu haben.« Schiller, AB, S. 23 (Brief vom 13.7.1793). Die politische Zweideutigkeit von Aufklärung und Idealismus erst konstituiert die Dialektik der Veränderung als theoretisches Problem, dessen innere Verschlungenheit - radikaler als der selbst idealistische Gegensatz von Idee und sozial zurückbleibender Wirklichkeit - Schiller an der paradox anmutenden Logik der Uhren-Metaphorik bis ins Extrem treibt. Der Zirkel, das »große Bedenken also ist, daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr geraten darf. Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] In: SWV, S. 575.
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men dar und erzwingt dort, wo die eigene kritische Stellungnahme als notwendig empfunden wird, eine mehr genetische und ganzheitliche Betrachtungsweise, die zugunsten der eigenen Standortbestimmung auch die historische Genauigkeit und Gerechtigkeit bewußt vernachlässigen darf. Dies gilt gerade für Schiller, für den mit dem Scheitern der Französischen Revolution auch die sie tragende Aufklärungsbewegung in zum Teil neuer Weise frag-würdig wird. Im Namen von Freiheit und Tugend geführt, ausgebrochen im Jahrhundert der Aufklärung, bei den ersten Strahlen des Lichts, mit dem die Vernunft die Nacht des Mittelalters und die Finsternis von Vorurteil und Gottesgnadentum erleuchtet hatte, ist das Scheitern der Revolution zugleich auch das Scheitern der Aufklärung, die ganz unerwartet zum Gegenstand eines anthropologischen Rätsels wird: Das Magazin ist gefüllt und aller Welt geöffnet, aus dem der gemeinste Menschenverstand Licht und Wahrheit schöpfen kann — warum sind derer so wenige, welche daraus schöpfen? Das Zeitalter ist aufgeklärt, damit will ich sagen, die Kenntnisse sind wirklich gefunden und ausgestellt, welche unsere Begriffe berichtigen könnten. Eine gesündere Philosophie hat die Wahnbegriffe unterwühlt, worauf der Aberglaube seinen Schattenthron erbaute — warum steht dieser Thron noch jetzt? Eine bessere Moral hat unsre Politik, unsre Legislation, unser Staatsrecht gemustert, und das Barbarische in unsern Gewohnheiten, das Ungereimte in unsern Konvenienzen und Sitten aufgedeckt — woran liegt es, daß wir nichts desto weniger noch Barbaren sind?12
Für Schiller ist das Scheitern der Revolution keineswegs in dem fortgesetzt verwilderten Zustand der »niedern und zahlreichern Klassen«, die vom Licht der Vernunft noch nicht erleuchtet wurden, allein zu suchen;13 es gründet vielmehr in der praktischen Form der Aufklärung selbst. Das zeigt ein Vergleich. Die Antrittsvorlesung noch, gehalten im Revolutionsjahr, rühmt die belehrende Macht von Vernunft und Geschichte; der Mensch erscheint als autonom gewordener Besitzer der Wahrheit selbst 12 13
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Schiller, AB, a. a. O., S. 29 (Brief vom 11.11.1793) - (Hervorhebungen von U.T.) Schillers Behandlung des »vierten Standes«, in mancher Revolutionskritik nicht selten als »Pöbel« verachtet, bleibt auch nach den »terreurs« erstaunlich: »Man wird [...] immer finden«, so schreibt er, »daß die gedrücktesten Völker auch die borniertesten sind; daher muß man das Aufklärungswerk bei einer Nation mit Verbesserung ihres physischen Zustandes beginnen. Erst muß der Geist vom Joch der Notwendigkeit losgespannt werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen kann. Und auch nur in diesem Sinne hat man das Recht, die Sorge für das physische Wohl der Bürger als die erste Pflicht des Staates zu betrachten [... ] Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen, und satt zu essen haben, wenn sich die bessre Natur in ihm regen soll.« Vgl. Schiller, AB, S. 30 (Brief vom 11.11.1793). Entsprechend heißt es noch in der Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung«: »Der Geisteszustand der mehresten Menschen ist auf einer Seite anspannende Arbeit, auf der andern erschlaffender Genuß. Jene
der alten Welt; er ist frei; v o n e i n e m m e n s c h l i c h e n Jahrhundert ist die Rede. 14 D i e Revolutionsanalyse dagegen, i m Abstand nur weniger Jahre geschrieben, enthüllt die sichtbar gewordene Barbarisierung der Charakterstruktur als n o t w e n d i g e Folge der Aufklärung selbst. »Die Aufklärung«, so analysiert Schiller jetzt, ist bloß theoretische Kultur, und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbnis in ein System zu bringen, und unheilbarer zu machen,15 Ich erinnere mich nicht mehr, welcher alte oder neue Philosoph die Bemerkung machte, daß das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere sei, aber man wird sie auch im Moralischen wahr finden. Aus dem Natursohne wird, wenn er ausschweift, ein Rasender; aus dem Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um aufdem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wird unsere Grundsätze von ihr an.l(l D a ß die Befreiung des M e n s c h e n aus d e n B a n d e n v o n Vorurteil u n d D e s p o t i e unvollständig blieb, ist für Schiller kein nur verfrühter »Betriebsunfall« der Aufklärung, sondern Folge ihres allein theoretischen Stils der Weltaneignung, des Primats v o n Verstandes- und Vernunftbildung auf Kosten des »Herzens«« u n d des Gefühls: Auf den Charakter wird bekanntlich durch Berichtigung der Begriffe und durch Reinigung der Gefühle gewirkt. Jenes ist das Geschäft der philosophischen, dieses vorzugsweise der ästhetischen Kultur. Aufklärung der Begriffe kann es allein nicht ausrichten, denn von dem Kopf ist noch gar ein weiter Weg zu dem Herzen, und bei weitem der größere Teil der Menschen wird durch Empfindungen zum Handeln bestimmt. Aber das Herz allein ist ein eben so unsichrer Führer und die zarteste Empfindsamkeit wird nur ein desto leichterer Raub der Schwärmerei, wenn ein heller Verstand sie nicht leitet. Gesundheit des Kopfes wird also mit der Reinheit des Willens zusammentreffen müssen, wenn der Charakter vollendet heißen soll. Das dringendere Bedürfnis unsers Zeitalters scheint mir die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu sein, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel getan worden. Es fehlt uns nicht sowohl aber, wissen wir, macht das sinnliche Bedürfnis nach Geistesruhe und nach einem Stillstand des Wirkens ungleich dringender als das moralische Bedürfnis nach Harmonie und nach einer absoluten Freiheit des Wirkens, weil vor allen Dingen erst die Natur befriedigt sein muß, ehe der Geist eine Forderung machen kann [...]« Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V S. 765 (Hervorhebungen von U.T.). 14 Vgl. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: SW IV, S. 749ff. Vgl. insbesondere S. 766f. 15 Schiller, AB, S. 21 (Brief vom 13.7.1793) - (Hervorhebungen von U.T.) 16 Schiller, Über die ästhetische Erziehung [... ] In: SW V, S. 580 (Hervorhebungen von U.T.). 55
an der Kenntnis der Wahrheit und des Rechts, als an der Wirksamkeit dieser Erkenntnis zu Bestimmung des Willens, nicht sowohl an Licht, als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur. Diese letztere halte ich für das wirksamste Instrument der Charakterbildung, und zugleich für dasjenige, welches von dem politischen Zustand vollkommen unabhängig, und also auch ohne Hilfe des Staats zu erhalten ist. 17
Was Schiller an der Aufklärung tadelt, ist das einseitige anthropologische Modell von Freiheit, das ihr zugrundeliegt: die konsequente Überbetonung der Ratio und die mit dieser einhergehende »Verleugnung der Natur«, deren Verlust nicht Befreiung bedeutet, sondern den unfreiwilligen Rückfall in Barbarei. Dieser unheilvollen Tendenz der Aufklärung nach Vernichtung der Natur und des Natürlichen im Namen von Freiheit und Tugend verdanken Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« ihre Entstehung: Sie wollen die bedenkliche Selbstbewegung der aufklärerischen Vernunft der Kritik und Korrektur unterwerfen, ohne doch ihre politischen Ideale zu verraten. Besteht die problematische Hinterlassenschaft der Aufklärung in der Abspaltung und Isolierung von Natur und Vernunft, so versuchen die »Briefe« den Begriff der Natur unter den veränderten Bedingungen der »ästhetischen Veredlung« auch für die Vernunft zu »retten« und sind so unterwegs zu einem anthropologischen Modell, das Natur und Vernunft als zusammenwirkende Einheit versteht, die ungestraft weder umgangen noch übersprungen werden darf. Schillers zur radikalen Aufklärungskritik gesteigerte Revolutionsanalyse betrifft vor allem die zivilisierten Klassen, einerseits einen der Agonie des bloßen Genusses verfallenen Adel, andererseits ein in egoistisch verhärteter Vernunft verharrendes Bürgertum. Sie erst geben uns [... ] den noch widrigem Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist [... ] Mitten im Schöße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen, nur unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte. Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmannes zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder sein elendes Eigentum aus der Verwüstung zu flüchten. Nur in einer völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verirrungen Schutz zufinden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. 18
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Schiller, AB, S. 23f. (Brief vom 13.7.1793) - (Hervorhebungen z.T. von U.T.) Schiller, Über die ästhetische Erziehung [... ] In: SW V, S. 580f. (Hervorhebungen von U.T.).
Der suggestive Ton, den Schillers Kritik anschlägt, vermag leicht über die zahlreichen Zweideutigkeiten hinwegzutäuschen, die ihn grundieren. Zweideutig ist schon die präzise Zuordnung kritischer Elemente zu besonderen Klassen und Schichten innerhalb von Adel und Bürgertum; zweideutig ist die Kritik auch insofern, als sie den Kritisierenden in keiner absoluten Position außerhalb des Kritisierten situiert; zweideutig ist schließlich die in sich verhärtete Vernunft und ihr scheinbares Therapeutikum, die Empfindsamkeit, die sich in den Verirrungen der Schwärmerei zu verlieren droht und entweder zuwenig oder zuviel an Repräsentanz erlangt, ohne daß andere als nur quantitative Bestimmungen ihres Idealbegriffs gegeben werden könnten. Zweideutig ist vor allem die Rede von nur praktischen Verwirklichungsdefiziten der Vernunft, weil ihr Β egriff so den problematischen Status einer apriorisch aller Geschichte vorgeordneten Autorität erhielte, eine Stellung also, die durch die Erfahrung der Revolution gründlich dementiert scheint. Damit aber wird nicht allein nur der Übergang der Vernunftidee in die Welt der geschichtlichen Erscheinung fragwürdig, sondern das Vernunftideal selbst. Insofern die Vernunft sich trotz aller Aufklärung dem Prozeß der Revolution entzogen hat, hat sie sich auch selbst verfinstert. Keine Gegenspieler mehr sind Licht und Finsternis, sondern nurmehr die Schatten einer erneut unbekannten Sonne. Die tiefste Zweideutigkeit und Provokation liegt nirgendwo anders als in der verfinsterten Vernunft, die sich als so unverfügbar erweist wie nur tiefste Natur, ihr scheinbarer Gegenspieler. Kennt die Tragödie die Steigerung des Menschlichen bis hin zur Heiligkeit des »reinen Dämons«, so wird umgekehrt der Zusammenstoß des Heiligen mit der geschichtlichen Welt zum »allverfolgenden Dämon der Staatskritik« 19 und verwandelt sich virtuell ins eigene Gegenteil. Politische und bürgerliche Freiheit, »immer und ewig das heiligste aller Güter«, wird unversehens zur Tyrannei; das Kantische Moralgesetz, das »Heilige im Menschen«, unterliegt der »Verfälschung«; die »heiligen Rechte« der Öffentlichkeit entarten zur privaten Willkür der bloßen Meinung. Während die tragische Kunst jedoch die Freiheit des »reinen Dämons« als Verzauberung der Individualität in den unendlichen Schein der Person kennt, wird der aufgeklärte Begriff der Freiheit in der Begegnung mit der geschichtlichen Welt entzaubert. Eine neue Welt schmerzlichster Verwandlungen hat sich aufgetan; Kantische Optik wäre es, die Schuld allein der Erscheinung aufzubürden, ist doch mit dem Ideal auch die geschichtsphilosophische Denkfigur der Approximation an feste Größen selbst obsolet geworden. 20 Schiller jedoch sperrt sich vor allem in "Vgl. Schiller, Ankündigung der Hören. In: AB, S. 71. Zur Zweideutigkeit der geschichtsphilosophischen Figur von Ideal und Wirklichkeit: Vgl. vor allem S. 0 0 0 dieser Arbeit.
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seiner Revolutionsanalyse und Aufklärungskritik der einfachen Methode transzendentaler Schuldkasuistik. Die »Rehabilitation der Sinnlichkeit« umfaßt zugleich auch die der Geschichte gegenüber den Anmaßungen einer im Grunde statischen geschichtsphilosophischen Selbstgewißheit, gerade auch deshalb, weil die geschichtsphilosophische Form des Aufklärungsdenkens selbst jede Fixierung in Endgültigkeiten versagt. Desto größer und bedrängender freilich wird so die Zweideutigkeit der Aufklärung und die von ihr ausgehende Irritation, desto schwieriger auch wird es für Schillers aufgeklärte Kritik der Aufklärung, selbst einen festen Grund zu finden und sich selbstbewußt darin zu befestigen. Im ungebrochenen Primat der Rationalität konvergiert die Kantische Ethik mit der Aufklärungsphilosophie und provoziert so die Kritik nicht allein nur im Namen des Sinnlichen, sondern im Namen von Aufklärung selbst: Der durch Aufklärung inszenierte und erreichte Fortschritt erscheint auch für Schiller als »Faktum der Vernunft« und läßt durch Kritik ebensowenig sich ignorieren wie die Resultate der Transzendentalphilosophie. Keinerlei Regressionen sind der kritischen Besinnung verstattet, schon gar nicht die »rousseauistische« und »empfindsame«. Wie unmißverständlich Schillers Position in dieser Frage ist, zeigt eine Passage aus der Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung«: Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Natur, ob deine Trägheit nach ihrer Ruhe, ob deine beleidigte Sittlichkeit nach ihrer Übereinstimmung schmachtet? Frage dich wohl, wenn dich die Kunst anekelt und die Mißbräuche in der Gesellschaft dich zu der leblosen Natur in der Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubungen, ihre Laster, ihre Mühseligkeiten, oder ob es ihre moralische Anarchie, ihre Willkür, ihre Unordnung sind, die du an ihr verabscheust? In jene muß dein Mut sich mit Freuden stürzen, und dein Einsatz muß die Freiheit selbst sein, aus der sie fließen. Wohl darfst du dir das ruhige Naturglück zum Ziel in der Ferne aufstecken, aber nur jenes, welches der Preis deiner Würdigkeit ist. Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Verhältnisse, über die Unsicherheit des Besitzes, über Undank, Unterdrückung, Verfolgung; allen Übeln der Kultur mußt du mit freier Resignation dich unterwerfen, mußt sie als die Naturbedingungen des einzig Guten respektieren; nur das Böse derselben mußt du, aber nicht bloß mit schlaffen Tränen, beklagen. Sorge vielmehr dafür, daß du selbst unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frei, unter jenem launischen Wechsel beständig, unter jener Anarchie gesetzmäßig handelst.21
Auch Schillers Kritik steht so nicht einfach jenseits der Aufklärung, sondern schreibt sich unter dem »Titel« einer »Rehabilitation der Sinnlichkeit« durch »ästhetische Erziehung« durchaus in das von der Aufklärung vorgegebene Modell permanenter Selbstkorrektur ein. O b nun die politischen Ideale der Französischen Revolution, das Kantische Moralgesetz in 21
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Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 708.
seiner gültigen Gestalt und moralischen Funktion oder aber die Bewegung des Aufklärungsdenkens zum Gegenstand der Kritik gemacht werden — immer handelt es sich um eine erneuerte Selbstprüfung der aufgeklärten Vernunft selbst. Diese theoretisch prekäre Stellung erklärt erst das oft zitierte Oszillieren der Schillerschen Kritik zwischen Anerkennung und Verwerfung, das eine systematisch strenge Verortung einer »Grundposition« durchaus erschwert. Die geschichtsphilosophischeTotalität der aufgeklärten Ratio und ineins mit ihr die durch sie erst ermöglichte Komplexität ihrer geschichtlichen Gestalt und Entfaltung unterbindet die Fixierung der Kritik in den einfachen Schablonen des Für und Wider und fungiert so als Grund der Zweideutigkeit, die nicht nur die Schillersche Kritik, sondern zugleich auch die Rekonstruktion ihres sie tragenden Grundmodells belastet. Schillers Kritik an der Aufklärung unterliegt nicht der Fiktion eines statischen Vernunftbegriffs, hat doch Aufklärung das, was Vernunft heißen sollte, selbst in den verschiedensten Zusammenhängen mehr als Funktion denn als Definition begriffen und diskutiert. Die theoretische Grundlegung der Erkenntnis entwirft Natur »als ein(en) Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts...«, die sie zur transzendentalen Vernunftkritik vergegenständlicht; »so wird man sich nicht wundern«, fügt Kant mit gelassener Selbstverständlichkeit an, Natur bloß in dem Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit zu sehen, um derentwillen allein sie Objekt aller möglichen Erfahrung, d.i. Natur heißen kann.22
Als »Objekt aller möglichen Erfahrung«, als bloßes »Material« für alle gegenständliche Erkenntnis begriffen, bleibt die besondere Erkenntnis der Natur gleichsam unterhalb des Bereichs ihrer transzendentalen Grundlegung, die ihre Einheit in die Funktion des cogito, die besondere Entwicklung ihres Begriffs jedoch ins bloß Empirische und in die progressive Entwicklung der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis verlegt. Was die Kritik der Vernunft selbst darstellt und dem kritischen Räsonnement nicht ohne Emphase vorgibt, ist das juristische Modell der Prüfung, deren Maße ins cogito fallen, ohne jedoch den Prozeß der besonderen Vergegenständlichung aller möglichen Objekte in bestimmter Form festzuschreiben. Das cogito gerät so in die Funktion allgemeiner Formalität, der nicht nur die Selbsterkenntnis der Vernunft, sondern alle besondere Erkenntnis ihrer Prüfbarkeit willen unterliegt, und garantiert als höchstes Prinzip der Einheit den Erkenntnisfortschritt der Einzelwissenschaften, ohne doch selbst als der aller Erscheinung vorausliegende Grund näher bestimmt 22
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 114.
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werden zu können. A l s Grund einer jeden Begründung ist das cogito nichts als Funktion der Substanz; 2 3 als in der Begründung allein zur Geltung K o m m e n d e s aber erscheint es durchaus als Prozeß, der v o m Grunde nicht abstrahieren kann, o h n e die eigene Substantialität z u verlieren — eine Gefahr, der das ö f f e n t l i c h e Forum, an welches das cogito schließlich zediert wird, weniger unterliegt als die Person und deren schon »beinahe zur Natur gewordene Unmündigkeit«: Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. 24 Für Kant findet der erkenntnistheoretische Primat des cogito in der Rationalität des ö f f e n t l i c h e n Vernunftgebrauchs, »den jemand als Gelehrter... vor d e m g a n z e n Publikum der Leserwelt macht«, 25 seine notwendige, die empirische und rationale Einzelerkenntnis umfassende Ergänzung. A u f klärung wird so z u m Prozeß einer p e r m a n e n t e n Selbstkorrektur der Vernunft, deren Rationalität Gegenstand und M e d i u m des ö f f e n t l i c h e n »Gerichtshofes« ist, der als gleichsam irdischer Stellvertreter des transzendentalen Vernunftgerichts betrachtet werden kann. 26 I n d e m die Kantische Philosophie z w i s c h e n der transzendentalen Grundlegung der Erkenntnis i m cogito u n d der Erscheinung als O b j e k t der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis in e i n e m m ö g l i c h e n System der Erfahrung, das 23
Daß das cogito nicht als Substanz aufzufassen ist, hat Kant im »Paralogismus«Kapitel der Vernunftkritik zwar betont und begründet (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 399ff., vgl. hierzu besonders Β 407f.), hindert jedoch nicht daran, die transzendentale Funktion des »Ich denke« in Analogie zum traditionellen Substanzbegriff zu rekonstruieren. 24 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: WA XI, S. 54f. 25 Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: WA XI, S. 55. 26 Der öffentliche »Gerichtshof« der Vernunftkritik wird in der praktischen Philosophie in der verinnerlichten Gestalt des Gewissens erscheinen und stellt so eine konstante Metapher des Kantischen Philosophierens dar. Vgl. z.B. auch: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 443. - Das Gewissen erst ergänzt nicht nur, sondern begründet das öffentliche Räsonnement; von ihm weiß dieses sich getragen und gerechtfertigt. Beide, der »private« wie auch der öffentliche Vernunftgebrauch konvergieren im juridischen Modell des Gerichtshofes, das die praktische Einheit der kritischen Philosophie in ihrer Gesamtheit begründet. 60
der Kontrolle und Korrektur der Öffentlichkeit unterworfen ist, einen prinzipiell unendlichen Spielraum der Wahrheitsfindung herstellt, wird Rationalität zum entscheidenden Modell der Vernunft jenseits aller Verengungen von Empirismus und Rationalismus. W i e Friedrich der Große in Kants berühmtem Aufsatz zur »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« in hintersinniger Form gerade als Monarch mit dem Geist des Zeitalters verschmilzt, 27 so regiert Vernunft als öffentliche und prinzipiell unabschließbare Kritik den Prozeß ihrer fortgesetzten Selbstenthüllung. Das Zeitbewußtsein wie auch Kant selbst, der es auf den Begriff bringt, setzt Wahrheit nicht voraus, sondern als Preis der fortgesetzten Mühsal aller Würdigen, die »Faulheit und Feigheit« stolz verschmähen und dort, wo die »anvertrauten bürgerlichen Posten« sie nicht im Dienste der »Maschine« zum bloßen »Privatgebrauch« der Vernunft disziplinieren, 28 die Aufklärung langsam aber beharrlich vorantreiben — in der »Gelehrtenrepublik« als einer »Weltbürgergesellschaft«, einer geistigen Elite wider Willen. »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem auf27
Nicht leicht dürfte sich ein besseres Beispiel für die Komplementarität von kritischer Öffentlichkeit und Gewissensfreiheit finden als die Begründung des Lobs, das Friedrich den Großen mit dem Geist der Aufklärung, ja des Jahrhunderts verbindet. »Ein Fürst«, so lauten die berühmten Sätze Kants, »der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.« Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: WA XI, S. 59f., Hervorhebungen z.T. von U.T. - Hintersinnig ist dieses Lob, weil Öffentlichkeit und Gewissen im formellen Zusammenhang einer kritischen Mündigkeit gewürdigt werden, die potentiell nicht nur gegen den Souverän, sondern auch gegen mögliche Deviationsformen der Aufklärung selbst ausschlagen kann. Sofern das Subjekt von Aufklärung nicht als vorausgesetzte, sondern als werdende Größe des geschichtlichen Prozesses, nicht als historisch, sondern als geschichtsphilosophisch legitimierte Instanz gedacht wird, bleibt auch Mündigkeit formal und doppelsinnig, eine offene, der Freiheit analoge Kategorie, die als solche aber - und das ist hier das punctum saliens - noch höher steht als selbst die Toleranz, welche als überflüssiger Hochmut ausgelegt, so aber, bei Unvereinbarkeit des zu Tolerierenden mit der Vernunft, nach Bedarf und machtpolitischer Konstellation auch wieder entzogen werden kann. Die Aufklärung zeigt so eine hierarchische Struktur der Werte, in der Prüfung und Kritik höher stehen als Toleranz, die nur noch nach dem kritischen Modell gedacht werden kann, das Unverständliche und Erratische dagegen, das unbewußt oder auch bewußt Abweichende ausgrenzt und virtuell der Verfolgung preisgibt.
28 Vgl.
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: WA XI, S. 55. 61
geklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung,«29 Kants transzendentale Apperzeption, das »Ich denke« als Grund aller möglichen Erkenntnis, organisiert als Prinzip der Kritik zugleich auch das System der öffentlichen Erfahrung als Vergegenständlichung der Welt nicht allein durch Vernunft, sondern als deren kritische Selbstvermittlung. Aufklärung, auch und gerade als »bloß theoretische Kultur«, ist gerade nicht bloßer Rationalismus, sondern der dem juristischen Modell nachgebildete Prozeß wissenschaftlich-technischer Rationalität. Diese beweist und dokumentiert ihren Wissenschaftscharakter auch und gerade in der kritischen Toleranz, mit der sie selbst »alternative« erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Strategien bedenkt; Integrationsfähigkeit als Konstituens der aufgeklärten Ratio, die durch den von ihr selbst eröffneten Raum möglicher Erfahrung sich nahezu selbstverständlich ergibt. Daß dies bis zur gleichsam ironischen Kontrafaktur und unfreiwilligen Parodie selbst des cogito gehen kann, dokumentiert die zeitgenössische Anthropologie und Psychologie. Die klassische Frage nach dem Ort der menschlichen Seele in der Körperweit beantwortet Kant auf die durchaus überraschende Weise: derjenige Körper, dessen Veränderungen meine Veränderungen sein, dieser Körper ist mein Körper, und der Ort desselben ist zugleich mein Ort [...] wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin eben so unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich bin es selbst, der in der Ferse leidet und welchem das Herz im Affekte klopft. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich mein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, einige Teile meiner Empfindung von mir vor entfernt zu halten, mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirnes zu versperren, um von da aus den Hebezeug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden. Daher würde ich einen strengen Beweis verlangen, um dasjenige ungereimt zu finden, was die Schullehrer sagten: meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile.10
Die Umkehrung der Cartesischen Lehre von der Reinheit der Substanz als des bloßen cogitare ergibt sich aus dem veränderten Horizont anthropologischer Fragestellung und führt Kant, ohne die Lehre von der transzendentalen Apperzeption ernsthaft zu verletzen, von der rationalen Seelenlehre in die Nähe der materialistisch inspirierten Entwürfe des »influxus physicus«. Nahe rückt Kant auch an die medizinischen Explikationen des »Zusammenhangs der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen« heran, die der junge Schiller unter dem Einfluß Abels und 29 30
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Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: WA XI, S. 59. Kant, Träume eines Geistersehers. In: WA II, S. 931 (Hervorhebungen z.T. von U.T.).
der sensualistischen Moralphilosophie vor allem Englands als gleichlautende Dissertation an der Karlsschule vorgelegt hatte,31 vor allem wenn er zu fragen fortfährt, warum die besonderen Erscheinungen der Seele lediglich von dem Orte herrühren sollten, den sie in einer künstlichen Maschine, wie der tierische Körper ist, einnimmt, wo die Nervenvereinigung der inneren Fähigkeit des Denkens und der Willkür zu statten kommt. Alsdenn aber würde man kein eigentümliches Merkmal der Seele mehr mit Sicherheit erkennen, welches sie von dem rohen Grundstoffe der körperlichen Naturen unterschiede [... ] 3 2
Die aus anthropologisch-psychologischer Fragestellung erwachsende Entfernung von der rationalen Seelenlehre hat Kant jedoch nicht daran gehindert, die Transzendentalkritik mit dem Vermögensschematismus der Schulphilosophie zu grundieren. Zwischen der »influxus-physicus«Theorie und der rationalen Vermögenslehre bricht kein Widerstreit auf, erweist die »Psychophysik« sich doch selbst als eine Applikation der Ratio auf den Bereich der cognitio obscura et confusa, die die natürliche Tendenz der Aufklärung zur begrifflichen Fassung nicht nur des physikalischen Universums, sondern zur Herstellung humanwissenschaftlicher Totalität bestätigt — ein Programm, in das sich auch die scheinbar oppositionellen Strömungen des aufgeklärten Denkens, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, wenn auch nicht reibungslos, einschreiben. Wohl provoziert der Rationalismus in Lehre und Lebenskultur den Widerstand der Empfindsamkeit, doch hat diese ihre Wurzeln keineswegs in bloßer »Misologie«; sie entspringt vielmehr der aufgeklärten Vernunft selbst, die auf Analyse und Kritik der Empfindungen nicht verzichten kann. »Die Empfindsamkeit der Aufklärung war keine Tendenz gegen die Vernunft, sondern der Versuch, mit Hilfe der Vernunft auch die Empfindungen aufzuklären«, stellt Gerhard Sauder seiner so groß angelegten wie gelehrten Analyse der Empfindsamkeit 33 gleichsam programmatisch voran und unterstreicht 31
Vgl. Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: SW V, S. 287ff., wo Schiller das »Fundamentalgesetz der gemischten Naturen« wie folgt formuliert: »Die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes; d. h.jede Uberspannung von Geistestätigkeit hatjederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der erstem oder die harmonische Tätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Übereinstimmung der letztem vergesellschaftet ist. Ferner: Trägheit der Seele macht die körperlichen Bewegungen träg, Nichttätigkeit der Seele hebt sie gar auf. Da nun die Vollkommenheit jederzeit mit Lust, Unvollkommenheit mit Unlust verbunden ist, so kann man dieses Gesetz auch also ausdrücken: Geistige Lust hatjederzeit eine tierische Lust, geistige Unlustjederzeit eine tierische Unlust zur Begleiterin.« Vgl. hierzu aber auch S. 157ff. dieser Arbeit. 32 Kant, Träume eines Geistersehers. In: WA II, S. 933f. 33 G. Sauder, Empfindsamkeit I, S. XI.
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damit zugleich die paradigmatische Einheit v o n E m p f i n d s a m k e i t u n d A n t h r o p o l o g i e mit der Aufklärung, deren pädagogisch-moralischen Int e n t i o n e n sie z u d e m zugebildet ist: Erfahrungsseelenkunde und Psychologie der Aufklärung initiieren kaum aus individualpsychologischen Interessen die Analyse der Empfindungen. Durch die Einsicht in ihre Mechanismen hoffen diese Disziplinen, in Verbindung mit der Moralität der Zeit, die menschliche Soziabilität zu steigern, indem sie das Selbstgefühl der Vollkommenheit und Realität vom Individuum auf die Gesellschaft transponieren. 34 D i e Integration scheinbar alternativer Wissenschafts- u n d Kulturstrategien ist i m Zeitalter der Aufklärung jedoch ein durchaus spannungsvoller Prozeß und faktisch durchaus nicht so unbegrenzt, wie auch der Toleranzbegriff es zu versprechen scheint. D e r psychologische Schematismus der Schule, der die umfassende Verwandlung der cognitio obscura et confusa in klare u n d deutliche Erkenntnis als innere Matrix wachsender Aufklärung entwirft, fungiert nicht allein als M o d e l l theoretischer Progression, sondern berührt mit der Differenzierung der Erkenntnis in die cognitio inferior und die cognitio superior zugleich d e n praktischen Begriff der Vollk o m m e n h e i t , durch d e n er auch seine moralische Akzentuierung erfährt. D i e g e h e i m e Teleologie des Schematismus ist praktisch-moralisch: N u r durch die kritische Ü b e r w i n d u n g des »dunklen Gefühls« k o m m t Freiheit in ihr Wesen. Von daher kann es nicht weiter verwundern, daß Kant die anthropologische A u f l ö s u n g der anima cogitans in die abhängige Welt der Physis nicht zu weit getrieben wissen will. Würde, so fragt er, dieses denkende Ich nicht dem gemeinen Schicksale materieller Naturen unterworfen sein, und, wie es durch den Zufall aus dem Chaos aller Elemente gezogen worden, um eine tierische Maschine zu beleben, warum sollte es, nachdem diese zufallige Vereinigung aufgehöret hat, nicht auch künftig dahin wiederum zurückkehren? Es ist bisweilen nötig, den Denker, der auf unrechtem Wege ist, durch die Folgen zu erschrecken, damit er aufmerksamer auf die Grundsätze werde, durch welche er sich gleichsam träumend hat fortführen lassen. 35 34 35
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G. Sauder, Empfindsamkeit I, S. XVII. Kant, Träume eines Geistersehers. In: WA II, S. 934 (Hervorhebungen von U.T.). Eine radikal durchgeführte »Psychophysik« ist vor allem deswegen gefährlich, weil sie das Zentrum des aufgeklärten Selbstbewußtseins, die Autonomie der Vernunft, als Reflex des Leiblichen enthüllt und so virtuell zerstört. Eine solche Attacke wird jedoch von der juridischen Vernunft nur desto offensiver und unnachgiebiger geahndet, indem pathologische Probleme und Fälle in moralische übersetzt und der Strafjustiz überantwortet werden. Sehr deutlich zeigt dies der Fall des Lehrers und Theologen Rüsau, der 1804 in Hamburg hingerichtet wird, weil er seine Frau und fünf Kinder aus einem psychotischen Schub von Verarmungswahn heraus umbrachte. Medizinische Gutachten plädieren für Freispruch, die philosophisch-juristische Fakultät für Tod, für Rüsau zur Sühne, für die »anderen dergleichen leidenschaftlichen, um alltägliche Sorgen des Lebens willen sich feige der Verzweiflung ergebenden Menschen zum
D e r Sensualismus, d e m Kant in d e n »Träumen eines Geistersehers« ein freies, v o n der strengen Systematik der Transzendentalphilosophie n o c h nicht erdrücktes Spiel zu gewähren scheint, wird d o c h zugleich i m N a m e n der Freiheit wieder z u r ü c k g e n o m m e n , weil die vernünftig geordnete Welt, deren V i s i o n Kant m i t der Aufklärung verbindet, allein nur i m cogito fundiert sein kann. D e r H i n w e i s auf die Gespenster v o n Zufall und C h a o s , der Fingerzeig auf deren »erschreckende Folgen«, die schon in der praktischen P h i l o s o p h i e Freiheit und Gesetz unauflöslich miteinander verbanden, 3 6 ist auch in der »vorkritischen Periode« Kants moralisch u n d berührt — als h e t e r o n o m e S u s p e n s i o n des D e n k e n s — das Tabu, vor d e m Aufklärung erschrickt und d o c h nicht halt m a c h e n kann. S o sieht keineswegs nur die metaphysische, sondern auch die kritische Vernunft sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsbereich überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, abschreckenden Beispiel.« Zitiert nach: K. Dörner, Bürger und Irre. ZurSozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychatrie, S. 204. - Eng sind die Toleranzgrenzen der philosophischen Vernunft gegenüber der menschlichen Abweichung wie auch den wissenschaftlichen Disziplinen gegenüber, die sich diese zum Thema gemacht haben; im Konfliktfall entscheidet die bloße Macht, im Zeitalter der Vernunft nichts anderes als der philosophische Diskurs, der die Herrschaft des Geistes über den Körper nicht nur ideologisch, sondern auch institutionell und politisch durchsetzt. Unmißverständlich artikuliert diese Politik sich auch in dem Vorwort, mit dem C.W. Hufeland die gleichfalls vernunftpolitische Publikation seines Freundes Kant »Von der Macht des Gemüts« bedacht hat. Die Herrschaft des Geistes über den Körper scheint dem philosophischen Arzt insbesondere bedroht, »wenn, wie in den neuesten Zeiten geschehen, selbst die Philosophie, sonst die Trägerin des geistigen Lebens, in dem Identitäts-System den Unterschied zwischen Geist und Körper ganz aufhebt, und sowohl Philosophen als Ärzte die Abhängigkeit des Geistes von dem Körper dergestalt in Schutz nehmen, daß sie selbst alle Verbrechen damit entschuldigen, Unfreiheit der Seele als ihre Quelle darstellen, und es bald dahin gekommen sein wird, daß man gar nichts mehr Verbrechen nennen kann. Aber wohin führt diese Absicht? - Ist sie nicht geradezu göttlichen und menschlichen Gesetzen entgegen, die ja auf jene Grundlage gebaut sind? Führt sie nicht zum gröbsten Materialismus? Vernichtet sie nicht alle Moralität, alle Kraft der Tugend, die eben in dem Leben der Idee und ihrer Herrschaft über das Leibliche besteht? - U n d somit alle wahre Freiheit, Selbständigkeit, Selbstbeherrschung, Selbstaufopferung, genug, das Höchste, was der Mensch erreichen kann: der Sieg über sich selbst?« C . W Hufeland, zitiert nach K. Dörner, ebd., S. 204f. - Zum Thema »Kant und die >Erfahrungsseelenkundeklugen< Utilitarismus. 4 9
Die »im Rückzugsbereich der schönen Literatur betriebene Suche nach der privaten >Naturdas einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit der Verlust des Gemeinsinns (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privatus) ist
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bei Wilkinson/Willoughby, »ist ein immer wiederkehrender Fehler in der Schillerforschung; ein Fehler, der den Blick für seine lebenslängliche Neigung, die Psyche als eine organische Einheit aufzufassen, getrübt hat. Wollte man jedoch versuchen, den Fehler dadurch zu korrigieren, daß man den offenkundigen Dualismus des Dichters gänzlich leugnet, so verfiele man einem Irrtum, der fast ebenso unglücklich ist. Denn es hieße, seinen bezeichnendsten und wertvollsten Beitrag zu unserem Verständnis der menschlichen Natur zu übersehen: den Einblick, den er in das Wechselspiel - und den Widerstreit - gegensätzlicher Kräfte im Innenleben gewann«. E.M. Wilkinson/L. A. Willoughby, Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen, S. 34. - Vgl. hierzu auch S. 382ff. dieser Untersuchung. Schiller, Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher.. In: SW V, S. 175. Schiller, Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher. In: SW V, S. 175 (Hervorhebungen z.T. von U.T.). Schiller, Theosophie des Julius. In: SW V, S. 348 (Hervorhebungen z.T. von U.T.). Daß Schillers »Theosophie« entstehungsgeschichtlich sehr eng mit dem Umkreis der Karlsschule verbunden ist und daher auch inhaltlich mit den Gedanken und Tendenzen der medizinischen Dissertation verknüpft bleibt,
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S o ist es letztlich die in der prästabilierten H a r m o n i e und in der Sympathie befestigte Liebe, in der das organologische D e n k e n des »Geistersehers« gründet und sich vollendet. In der Liebe erst wird jede Verletzung des Fremden zur Verletzung des Eigenen, ist d o c h die Scheidung der Wesen Illusion, ist es doch nur E i n Wesen, in d e m die Geister durch Liebe g e b u n d e n sind, Eine Totalität, deren Lebensprinzip die Liebe ist und in der die moralische B e s t i m m u n g des M e n s c h e n sich schon i m m e r erfüllt hat u n d sich in alle Ewigkeit erfüllen wird, es sei denn, das heilige Band wird gewaltsam zerrissen: Liebe ist es, die Seelen an Seelen fesselt; Liebe ist es, die den unendlichen Schöpfer zum endlichen Geschöpfe herunterneigt, das endliche Geschöpf hinaufhebt zum unendlichen Schöpfer; Liebe ist es, die aus der grenzenlosen Geisterwelt eine einzige Familie und so viel Myriaden Geister zu so viel Söhnen eines alliebenden Vaters macht. Liebe ist der zweite Lebensodem in der Schöpfung; Liebe ist das große Band des Zusammenhangs aller denkenden Naturen. Würde die Liebe im Umkreis der Schöpfung ersterben, — wie bald — wie bald würde das Band der Wesen zerrissen sein, wie bald das unermeßliche Geisterreich in anarchischem Aufruhr dahintoben, ebenso als die ganze Grundlage der Körperwelt zusammenstürzen, als alle Räder der Natur einen ewigen Stillstand halten würden, wenn das mächtige Gesetz der Anziehung aufgehoben wäre.56
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hat Benno v. Wiese schon ausdrücklich betont. Vgl. B. v. Wiese, Schiller, S. 98. Ausdrücklich thematisiert und analysiert ist der gesamte Komplex jetzt auch bei W Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, Würzburg 1985. Schiller, Die Tugend in ihren Folgen betrachtet. In: SW V, S. 283. - Was Schiller im Begriff der Liebe zu fassen sucht - die Illusion alles nur scheinbar Getrennten und die metaphysische Einheit der Wesen - findet seine spätere, begrifflich sicher genauere Entsprechung übrigens beim jungen Hegel, der die Einheit der Liebe unter dem Begriff des Schicksals begreift, die er dem Kantischen Gesetz gegenüberstellt und am Paradigma des Verbrechers in besonders prägnanter Form erläutert. »Nur durch ein Herausgehen aus dem einigen, weder durch Gesetze regulierten noch gesetzwidrigen Leben, durch Töten des Lebens wird ein Fremdes geschaffen. Vernichtung des Lebens ist nicht ein Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß es zum Feinde umgeschaffen worden ist. Es ist unsterblich, und getötet erscheint es als sein schreckendes Gespenst, das alle seine Zweige geltend macht, seine Eumeniden losläßt. Die Täuschung des Verbrechens, das fremde Leben zu zerstören und sich damit erweitert glaubt, löst sich dahin auf, daß der abgeschiedene Geist des verletzten Lebens gegen es. auftritt, wie Banquo, der als Freund zu MacBeth kam, in seinem Morde nicht vertilgt war, sondern im Augenblicke darauf doch seinen Stuhl einnahm; nicht als Genosse des Mahls, sondern als böser Geist. Der Verbrecher meinte es mit fremden Leben zu tun zu haben; aber er hat nur sein eigenes Leben zerstört; denn das Leben ist vom Leben nicht verschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist; und in seinem Übermut hat er zwar zerstört, aber nur die Freundlichkeit des Lebens: er hat es in seinen Feind verkehrt.« G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums. In: Werke, 185
Wo dies aber geschieht, muß die allein nur der Liebe geschuldete Einheit von Natur und Sittlichkeit zugrundegehen, muß das Eigene vom Fremden, muß der Genuß vom Guten sich scheiden, und es entsteht jene verhängnisvolle Form des Selbstgenusses, die sich von aller Allgemeinheit ausgeschlossen und verstoßen weiß und die die Totalität der Kräfte nun in der veränderten Gestalt der bloßen Macht und Machtsteigerung genießt, gleichgültig gegenüber dem Guten, zu dem zurückzukehren sie zu stolz ist, in der allgemeinen Tätigkeit ihrer Kräfte aber dennoch befriedigt. Die ohne die frühe Liebesphilosophie Schillers moralisch indifferent bleibenden Reflexionen des »Geistersehers« macht sie sich im Namen von Totalität zu eigen, indem sie in dieser den einzig verbindlichen Zweck, den bloßen Selbstzweck, absolut setzt — ein Zweck, der indessen nur in sie selbst fallen kann und der sich in dem Maße auch zu erfüllen vermag, in dem sie die Anfechtungen moralischer Anwandlungen, die sich dem Selbstgenuß bloßer Macht zuzeiten entgegenstellen, durch einen eisernen Willen zu beherrschen weiß. So zeigt sich, daß sich die organische Ganzheit ohne die alles bindende Kraft der Liebe nicht im Sittlichen, sondern mit gleichem Rechte auch in der moralischen Indifferenz bloßer Macht vollenden kann, einer Macht, der nichts wichtig ist als der Beweis der Stärke, gleich welcher Herkunft und Richtung, einer Macht, die nichts ausschließt, nicht das Gute und auch nicht das Böse. Wo die Ineinssetzung von Totalität und Moralität sich nicht der Liebe verdankt, welche die Wesen zu einer universalen Ganzheit zusammenbindet, da meint sie den ungebundenen Einzelnen, der sich selbst das Gesetz gibt und sich im Genuß der Kraft vollbringt, da verweist sie — nicht zuerst, aber auch nicht zuletzt — auf die Epoche des Sturm und Drang, die Schiller verspätet, aber nur mit desto heftigerer Kraft und Gewalt zu durchschreiten hatte und deren Problematik sich auch dem frühen Totalitätsbegriff durchaus mitgeteilt hat. Nicht, daß es schon der Wille zur Macht oder gar der Wille zum Bösen wäre, der insgeheim im Grunde des frühen Totalitätsdenkens hockte, ist doch der Zustand des moralischen Übels im G e m ü t eines Menschen ein schlechterdings gewaltsamer Zustand [ . . . ] , welchen zu erreichen zuvörderst das Gleichgewicht der ganzen Organisation (wenn ich so sagen darf) aufgehoben sein muß, so wie das ganze System der tierischen Haushaltung, Kochung und Scheidung, Puls und Nervenkraft durcheinander geworfen sein müssen, eh die Natur einem Fieber oder Konvulsionen Raum gibt, 5 7
57
Band 1, S. 342f. Vgl. hierzu übrigens auch die - allerdings sehr verknappten Anmerkungen von Jürgen Habermus, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 34ff. Schiller, Selbstbesprechung im »Wirtembergischen Repertorium«. In: SW I, S. 625 (im folgenden als »Selbstbesprechung« zitiert).
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wie es in der frühen »Selbstbesprechung« der »Räuber« heißt. Dennoch, Franz Moor, dem diese — ganz im Geiste des Organologischen vorgetragenen — Anmerkungen des jungen Schiller gelten, erweist sich vor allem in moralischer Hinsicht als durchaus treffendes Symbol für den Umschlag des frühen Totalitätsgedankens in den Selbstgenuß bloßer Macht, hatte dieser kluge Bösewicht doch von der Erkenntnis Gebrauch gemacht, »wie treffend die Stimmungen des Geists mit den Bewegungen der Maschine zusammenlauten«, 58 nicht, um Gutes zu sein und zu werden, sondern um den eigenen Vater durch ein raffiniert ausgeklügeltes System des Psychoterrors zur Strecke zu bringen, um — wie er selbst verrät — alles, »was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin«, auszurotten. 59 Nicht die offenkundige Instrumentalisierung der Dissertationsgedanken ist hierbei das Entscheidende, sondern der innere Zustand des Helden selbst. Ein vollständig Zerrütteter müßte Franz sein, folgt man der Theorie der Organologischen, und dennoch ist dieses »Monstrum der sich selbst befleckenden Natur«60 ein »Resultat aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums«, 61 ein Mensch, dem es — wie er selbst sehr wohl weiß — lediglich an »Liebenswürdigkeit« gebricht, 62 der aber ansonsten »ganz übereinstimmend mit sich selbst« ist, »ein eigenes Universum, das ich gern jenseits der sublunarischen Welt, vielleicht in einen Trabanten der Hölle einquartiert wissen möchte [...], 6 3 das aber doch eine durchaus mögliche Realität zur Darstellung bringt. Selbst Franz Moor also, das ewig zurückgestellte und zu absoluter Einsamkeit verurteilte Wesen, ist der Glückseligkeit fähig, sind die Mittel zu ihr auch amoralischer Natur. Ja, der Genuß seiner selbst ist ihm stets mehr als nur die bloße Tätigkeit seiner Kräfte, zumal sich dieser dem stets neu errungenen Sieg über die Anfechtung verdankt, die aus dem Inneren seiner Natur aufsteigt wie ein Gespenst. Wird nicht ein solcher Mensch erst tausend krumme Labyrinthe der Selbstverschlimmerung durchkriechen, tausend Pflichten verletzen müssen, um sie gering schätzen zu lernen — tausend Rührungen der zum Vollkommenen strebenden Natur verfälschen müssen, um sie belachen zu können?« 6 4
Das Böse ist offenbar mehr als nur ein vorübergehendes »Fieber«, das sich in mannigfaltigen »Konvulsionen Raum gibt«; es scheint darin vielmehr mit dem Guten verwandt, daß es wie dieses auch die lang andauernde 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. Schiller, D i e Räuber. In: SW I, S. 522 (II/l). Vgl. Schiller, D i e Räuber. In: SW I, S. 502 (1/2). Vgl. Schiller, Selbstbesprechung. In: SW I, S. 625. Vgl. Schiller, Selbstbesprechung. In: SW I, S. 627. Vgl. Schiller, D i e Räuber. In: SW I, S. 502 (1/1). Vgl. Schiller, Selbstbesprechung. In: SW I, S. 627. Schiller, Selbstbesprechung. In: SW I, S. 625.
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Arbeit der Anfechtung zu bestehen hat, die in den heimlichen Skrupeln des Gewissens Gestalt annimmt und in der sich die metaphysische Kraft der Liebe ein letztes Mal zu offenbaren scheint. Nicht nur im Guten allein, auch im Bösen läßt sich ein innerer Kampf ausmachen, der dem Wesen nach moralischer Natur ist, wird hier wie dort doch nach einem Willen verlangt, der sich den Forderungen der Natur siegreich entgegenstellt, mit dem Unterschied nur, daß für den Bösen auch das Gute noch böse Natur ist, die es abzuwerfen gilt, um die Lust einer höchsten Freiheit genießen zu können; denn das Gute, das der Ruf des Gewissens zur Geltung zu bringen sucht, ist für den Bösen zwar der Ruf der Liebe, an dem sein Wille zuschanden werden kann, ein Schicksal, wie es Franz Moor am Ende zu erleiden hat; zugleich aber ist dieser Ruf der Liebe für ihn auch eine Erinnerung an sein einstmals schuldloses Dasein und an die Verstoßung aus dem Kreis des Lebendigen, welcher er unschuldig zum Opfer fiel, mithin also selbst ein böses Prinzip und also die Heuchelei. In dieser Erkenntnis, in der das Gute im Bösen untergegangen ist, verliert nicht nur das moralische Purgatorium des Gewissens, sondern alle auf dem organologischen Denken basierende Moralität ihre Kraft und Verbindlichkeit. Das Gewissen, als Inbegriff nicht des abstrakten Gesetzes, sondern als Erinnerung von Unschuld und Liebe, hält den Bösen nicht länger mehr auf, weil die Liebe für ihn ohnehin Lüge ist, ein Schmerz, mit dem er von alters her vertraut ist und der ihm nicht länger mehr im Wege steht, wenn er nur das Gefühl der eigenen Macht genießen darf und das Schicksal ihm günstig ist. Ohnehin sind die Anfechtung und die eigentümliche Moral des bösen Willens nur ein Grenzfall, ohnehin pflegt das Gewissen nur dann zu sprechen, wenn die Mißerfolge sich in unerträglicher Weise überhäufen, so daß der Erfolg schließlich die Mittel schon heiligen wird, die die Macht einsetzt, um sich selbst als Maximum zu genießen. Die Indifferenz der Natur allein reicht schon hin, das Maximum der Kräfte als Maximum bloßer Macht zu entfalten, einig mit dem Telos des Organischen, das der gleichen Indifferenz untersteht, unbekümmert jedoch um den schmerzlichen Einspruch der Liebe, die in den Klauen des bösen Willens noch immer erdrosselt zu werden vermag. Die moralische Indifferenz des frühen Ganzheitsdenkens und die in ihr beschlossene Tendenz zum Selbstgenuß der bloßen Macht weisen mit Nachdruck darauf hin, daß es mit der Ineinssetzung von Totalität und Moralität nicht sein Bewenden haben kann, erweist sich doch selbst das Böse als ein Phänomen, das seine Befriedigung noch innerhalb der bloßen Natur zu finden vermag, wenn auch seine Herkunft und die Kraftquellen seiner gegen den Einspruch von Liebe und Gewissen behaupteten Selbsterhaltung im Dunkeln bleiben müssen. Schon die Frage nach dem Ursprung des Bösen bleibt in Schillers »Selbstrezension« der »Räu188
ber« ohne Antwort, denn schon die bloße Existenz eines Franz Moor ist ein Problem, das die engen Grenzen des frühen Liebes- und Vollkommenheitsbegriffs aufzuzeigen vermag. Schon die bloße Existenz des Franz Moor, der in keiner Liebe je geborgen und aufgehoben war, widerlegt deren Metaphysik und damit den tragenden Grund des frühen Vollkommenheitsbegriffs, der das Gewissen als die Instanz begreift, in der die Natur jede Verletzung des Ganzen zu rächen sucht, unwissend darüber, daß die Verletzung nicht erst im Bösen, sondern im Ausbleiben der Liebe gründet, an der die Natur selbst die Schuld zu tragen scheint. So hat der Böse in der Tat »große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein«,65 m u ß er doch die doppelte Strafe von Liebesverweigerung und Gewissensqual an sich erdulden, ohne von einer eigenen Schuld zu wissen. Doppelt ungerecht scheint ihm die Natur, in der er nichts erkennt als das böse Prinzip der Willkür, dem er sich gleichmacht, um nicht mehr Opfer, sondern Täter zu sein. In dieser Natur, so weiß es vor allem Franz Moor, hat jeder »gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Uberwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze«.66 Liebesmangel und vor allem die Verstoßung sind es, worin die Schuld des Guten besteht, um die nur der Böse weiß, denn er allein ist der Verstoßene, dessen in der Einsamkeit wach gebliebenes Gedächtnis nichts vergißt noch vergibt, um nur desto tiefer noch ins Böse hineingetrieben zu werden, nicht mit Notwendigkeit zwar, weil er die sittliche Aufgabe nicht annimmt, aber doch mit Grund. Erst der Böse erweist sich so als jene dunkle Gestalt, die mit einer vom jungen Schiller selbst nicht eingestandenen und moralisch zu Ende gedachten Radikalität die harmonische und in sich vollendete Ordnung verklagt, die der »Geisterseher« zugleich beschwört und vernichtet sehen möchte, zeigt sich doch nur dem Bösen das rätselvolle und in sich verhüllte Wesen der Liebe, über die kein Bewußtsein souverän zu verfügen vermag, weil sie einer Macht gleichkommt, die sich in eigener Willkür schenkt und entzieht. 67 65 66 67
Vgl. Schiller, D i e Räuber. In: SW I, S. 500 (1/1). Schiller, D i e Räuber. In: SW I, S. 500 (1/1). Auch in den ausgezeichneten, die »Räuber« ganz bewußt als experimentelle Kontrafaktur der frühen Vollkommenheitsphilosophie interpretierenden Analysen H.-J. Sellings' wird überaus deutlich, wie sehr Schiller einer konsequenten und zu Ende gedachten Reflexion des Bösen ausgewichen ist. Zwar gehorchen auch die Gebrüder M o o r dem universalen Prinzip der Vervollkommnung, zugleich jedoch reißen sie das einigende Band der »chain o f love« entzwei, das der junge Schiller in der Nachfolge vor allem der Philosophie Leibnizens alsfundamentum metaphysicum der Welt begriffen hatte. D i e Bedingung der Möglichkeit einer solchen, v o m universalen Haß bestimmten Aufkündigung bleibt jedoch im Dunkel, weil »Schiller für die Erklärung des >malum morale
malum intellectualedefectus rationis< zur Verfügung steht.« H.-J. Schings, Schillers »Räuber«: Ein Experiment des Universalhasses, S. 13f. - Daher die Stufenfolge der Agnorisis-Szenen, in der die dramatische Struktur der »Räuber« wurzelt, daher auch der im Gewissen gefeierte Triumph der Gerechtigkeit, der die metaphysische Ordnung der Welt wiederherstellt, die in der Schuld des Bösen nur temporär außer Kraft gesetzt zu werden vermag. Doch der Ausgang bleibt problematisch. Franz Moor zerreißt das Liebesband und entfacht ein Inferno, »doch leitet Schiller daraus keine Depotenzierung der Weltordnung ab. Er depotenziert vielmehr den Angreifer. Im Stück selbst geschieht das, indem Franz Moor vor der psycho-physischen Nemesis der Angst in die Selbstvernichtung getrieben wird, also gerade so, wie er den Vater umzubringen suchte - eine Ironie, auf die der Anthropologe Schiller besonders stolz war. Weiter noch geht die Selbstbesprechung von 1782. Sie macht Franz Moor dadurch unschädlich, daß sie ihn der Monstrosität überführt indem sie die Bedingung seiner Möglichkeit überhaupt in Frage stellt und solchermaßen die Natur entlastet. Nicht etwa das Vollkommenheitssystem, die >zum Vollkommenen strebende Natur< wird preisgegeben, sondern die Plausibilität des Bösewichts. Die pure Existenz des Monstrums Franz Moor sei schlechterdings nicht zu motivieren. Dagegen verblaßt auch die Frage nach der Brisanz und Herkunft seiner >herzverderblichen Philosophie< [...]. Der Rezensent, der Metaphysiker Schiller, tritt [... ] den Bösewicht an den Dichter ab, macht >das armselige Bedürfnis des Künstlers« für ihn verantwortlich. Er nimmt also gewissermaßen die Versuchsanordnung dieses Universalhasses zurück und streicht das metaphysische Wagnis des absoluten Bösewichts durch, um die metaphysische Anfechtung auf einen ästhetischen Fehlgriff zu reduzieren [... ] das Experiment des Universalhasses prallt am System der Vollkommenheit und Liebe ab. Zugleich wird in dem diabolischen Monstrum Franz Moor die materialistische Bedrohung und Anfechtung eingekapselt und ausgeschieden.« H.-J. Schings, Schillers »Räuber«: Ein Experiment des Universalhasses, S. 19f. (Hervorhebungen von U. T.). Das ist die Konsequenz, der der junge Schiller ausweicht, daß der Grund des Bösen offenbar nicht in ihm, sondern in der Natur selbst zu liegen scheint, in der doch allein nur das Gute liegen soll. Daher die Entlastung der Natur, in der auch ihre Vollkommenheit nicht länger mehr ein fundamentum metaphysicum, sondern nurmehr ein Postulat ist, das sich - so wird Schiller es später entwickeln - erst in der Veredlung der Natur zu erfüllen vermag. Was den Bösen trieb, verfällt der Vergessenheit. Noch die metaphysische Gerechtigkeit, welche die dramatische Phantasie des Dichters erregt, zeigt darum im Grunde ihr ungerechtes Wesen, daß sie das Böse offenbar nur in sich aufnehmen kann, indem sie dessen vermeintliche Schuld in seiner Vernichtung rächt, wenn auch die wahre Schuld nicht zuletzt in der ihr selbst eigenen Unvollkommenheit zu bestehen scheint. Bis zu dieser freilich extremen Konsequenz aber treibt weder Schiller noch auch sein Interpret die kritische Reflexion. Schiller nicht, weil er sein Hauptinteresse schon in den dramatischen Wechselwirkungen von Schuld und Gewissen befriedigt sieht, 190
allem Nachdruck in Erinnerung, daß die im Begriff der L i e b e gegründete Moralität des Organischen kein objektives moralisches Prinzip darstellen kann, a u f dem eine organologische Ethik sich hätte gründen können, weil das in der L i e b e Gewährte immer nur einer Gunst entspringt, über die alles Wollen und Sollen nichts vermag. Ihnen, in denen sich mit d e m Reiche der Zwecke zugleich auch die Ethik ankündigt, die alles Besondere unter das J o c h des Allgemeinen spannt, steht das Organische fern, und mit Recht versagt auch die Organologie ihnen den Zutritt zu ihrem ganz selbständigen Reich. D e n n das gerade ist ihr das Schlimme, daß wir nur moralisch vollkommen, nur glückselig sind, um brauchbar zu sein, daß wir unsern Fleiß, aber nicht unsre Werke genießen. Hunderttausend arbeitsame Hände trugen die Sterne zu den Pyramiden zusammen — aber nicht die Pyramide war ihr Lohn. Die Pyramide ergötzte das Auge der Könige, und die fleißigen Sklaven fand man mit dem Lebensunterhalt ab. Was ist man dem Arbeiter schuldig, wenn er nicht mehr arbeiten kann, oder nichts mehr für ihn zu arbeiten ist? Was dem Menschen, wenn er nicht mehr zu brauchen ist? 68 Solche Fragen, die sich der melancholischen Radikalität des »Geistersehers« verdanken, kann das bloße Sollen nicht beantworten, ist ihm doch das Sein, in d e m alle Glückseligkeit allein sich ereignet, ein radikal Fremdes und Verächtliches, daß es in der Brauchbarkeit zerstört, gleichgültig, o b diese nun den scheinbar höheren Ideen der Ethik oder den ungleich komplizierteren Rechtfertigungen der geschichtsphilosophischen Schings nicht, weil auch seine Rekonstruktion der Schillerschen Versuchsanordnung dem Problem des Bösen durchaus ausweicht, indem sie es in der Opposition von Metaphysik und Materialismus ansiedelt. Abgesehen davon, daß schon der Experimentcharakter der »Räuber« durchaus fragwürdig bleibt, wenn der Versuch nur halbherzig und ohne jede kritische Konsequenz durchgeführt wird, ist die Anfechtung des Vollkommenen durch das Böse doch auch nicht nur als »materialistische Bedrohung« zu verstehen. Der Materialismus der medizinischen Dissertation wird von Franz Moor doch nur benutzt, er ist Mittel seiner Zwecke, jedoch kaum die Grundlage des Liebeskonfliktes, und schon gar nicht die Verkörperung eines Bösen, das in ihm eingekapselt würde. Das ist ja gerade das Charakteristische an Schillers frühem Entwurf des Organischen, daß Metaphysik und Materialismus in ihm nicht nur keinen Gegensatz bilden, sondern sich vielmehr ergänzen. Komplementär, nicht antagonistisch ist ihr Verhältnis, und in dieser Komplementarität erst konstituiert sich ein materialistisch fundierter Vollkommenheitsbegriff, der sich in der Metaphysik der »chain of love« nur erfüllt. Darin ist der frühe Vollkommenheitsbegriff erst wahrhaft organologischen Geistes, daß er beides zugleich ist, materialistisch und metaphysisch, sinnlich und rational, daß er nichts ausschließt, sondern alles nur ein, nur nicht das Böse, das - und hier liegt eine Einseitigkeit von Schings' ansonsten so vorzüglicher Interpretation - eben nicht nur auf Natur, sondern auch auf jenen »Abfall aus Freiheit« verweist, der die moralische Existenz des Menschen - wenn auch negativ - dokumentiert. 68
Schiller, Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher. In: SW V, S. 182. 191
Reflexion unterliegt, gegen die das organologische Denken von Grund auf protestiert. Doch nicht nur das Sollen, gleich welche Gestalt es annimmt, auch das moralische Wollen ist dem organologischen Denken prinzipiell fremd, gehört doch der Wille als solcher schon in den Herrschaftsbereich bloßer Zwecke. Kein Wunder, daß alle Texte Schillers, die für die Rekonstruktion der frühen Organologie maßgeblich sind, den Willen kaum nennen. Nur an einer einzigen, doch bedeutenden Stelle erscheint er, in der ganz frühen »Philosophie der Physiologie«, die ihn mit der Freiheit verbindet. »Die Seele«, so heißt es hier, hat einen tätigen Einfluß auf das Denkorgan. Sie kann die materiellen Ideen stärker machen und nach Willkür darauf haften, und somit macht sie auch die geistigen Ideen stärker. Dies ist das Werk der Aufmerksamkeit. Sie hat also Macht auf die Stärke der Beweggründe; ja sie selbst ist es, die sich Beweggründe macht. Und itzt wäre es ziemlich entschieden, was Freiheit ist. Nur die Verwechslung des ersten und zweiten Willens hat den Streit darüber verursacht. Der erste Wille, der meine Aufmerksamkeit bestimmt, ist der freie, der letzte, der die Handlung bestimmt, ist ein Sklav des Verstands; die Freiheit liegt also nicht darin, daß ich das wähle, was mein Verstand für das Beste erkannt hat (dann dies ist ein ewiges Gesetz), sondern daß ich das wähle, was meinen Verstand zum Besten bestimmen kann. Alle Moralität des Menschen hat ihren Grund in der Aufmerksamkeit, d.h. im tätigen Einfluß der Seele auf die materiellen Ideen im Denkorgan. 6 '
Auch diese Bestimmung von Wille und Freiheit formuliert die Begriffe im Sinne des Organologischen um, fällt doch der »erste Wille« mit der seelischen Kraft zur Wahl der bestimmenden Motive ineins, einer Wahl, deren Leitmotiv dasjenige ist, »was meinen Verstand zum Besten bestimmen kann«; dies aber ist keine Idee, welche durch mechanische Gewohnheit »gleichsam deuteropathisch« vor allen anderen hervorsticht und sich so als »Tyrannin des zweiten Willens« erweist,70 sondern derjenige Zustand, in dem die »Aufmerksamkeit« ein Höchstmaß an innerer Lebendigkeit findet, also genau dasjenige »Maximum innerer Tätigkeit«, das auch im »Geisterseher« als inneres Maß von Moralität gilt. Auch der »erste Wille«, der nichts will als Tätigkeit und inneres Leben, besteht somit als bloßer Selbstzweck und hat seine Freiheit darin, daß er auf keinen besonderen Zweck eingeschränkt ist, auch nicht auf den moralischen. Frei ist dieser Wille, weil er überhaupt frei ist vom Besonderen, an das er nach Gutdünken sich bindet, wo dieses einen inneren Reichtum zu versprechen scheint, das er aber fallen läßt, sobald die gebundenen Kräfte in der eingegangenen Bindung zu verkümmern drohen. Schon die »Philosophie der Physiologie« meint im Begriff der Willensfreiheit daher nichts 69
Schiller, Philosophie der Phlosophie. In: SW V, S. 265f. (Hervorhebungen von
U. T.) 70
Vgl. Schiller, Philosophie der Physiologie. In: SW V S. 266.
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anderes als die Beharrung auf dem je eigenen Sein, welche nur in der Liebe aufgebrochen wird und nur in ihr dem Ethos sich öffnet, isoliert von ihr aber in den Verhärtungen des Eigensinns und der Macht zu enden verurteilt ist. Derart absolut hat das organologische Denken den Selbstzweck gesetzt, daß das Böse ihn schließlich ergreift, um nur desto unbekümmerter und brutaler seine eigenen Zwecke zu verfolgen. Die Organologie aber, darin sittlicher als das Böse, das auf sie sich beruft, verharrt im untätigen Verzicht auf das Reich aller nur möglichen Zwecke, das ihr selbst das radikal Böse ist, welches sie melancholisch macht. Den metaphysischen Absolutismus des bloßen Sollens und alle Formen der moralischen und geschichtsphilosophischen Finalität hat das organologische Denken im Namen des inneren Lebens und der Glückseligkeit mit einem so starken Bannspruch belegt, daß der Weg zur Ethik und zur moralischen Praxis sich gründlich versperrt zu haben scheint. Weder der Begriff der Liebe, der in der Gunst rätselhaft sich verhüllt, noch auch der Organismusgedanke allein sind imstande, die Welt der Moral als eine Welt des praktischen Sollens und der Prinzipien des Handelns zu begründen. Eine organologische Ethik bliebe ein Paradoxon, zumal auch unter den ungünstigen Bedingungen der Moderne, die sie zu begrifflicher Verstellung und vor allem zum Anachronismus verurteilen — ein Schicksal, das der organologische Gedanke als solcher gewiß nicht verdient, dem er sich allerdings auch nicht zu stellen hat, zumal Schiller selbst ein solches Projekt zugunsten auch seiner Ästhetik nicht weiter verfolgt hat. Es macht das prinzipielle Problem von Schillers frühen organologischen Reflexionen aus, daß sie mit weit größerer Radikalität als die Kantische Ethik auf die grundsätzliche Differenz von Glückseligkeit und Moralität verweisen. Für Kant wird die Differenz, insofern sie überhaupt ein Problem ist, wesentlich erst durch die Methode bestimmt und durch sie allein auch entschieden, weil alle moralische Wertschätzung in der absoluten Formalität gründet und durch sie erst hindurchgegangen sein muß, um vor der Vernunft gerechtfertigt zu sein. Im organologischen Entwurf des Menschen dagegen, der weit stärker als Kant die Endlichkeit des sittlichen Wesens zu seiner Sache macht, fällt die Differenz in den Gegenstand selbst, wo Genuß und Zweck in schmerzlicherWeise auseinandertreten. Fremd und unversöhnlich stehen Sein und Sollen einander gegenüber und bilden eine Entgegensetzung, die nur in der bloßen Macht zur Ruhe kommt, sich aber sonst in genau dem Maße vertiefen muß, in dem die Vermittlung beider ausgerechnet in der moralischen Dimension gesucht wird, wo sie doch nie gefunden werden kann, da die Moralität ihr eigenes Leben nur innerhalb der Entzweiung hat und deswegen dazu verurteilt ist, in ihr zu verbleiben. Das Verhältnis von Organologie und Ethik 193
erweist sich unter allein moralischen Gesichtspunkten daher als Antinomie: Unaufhörlich kritisiert die moralische Ethik die Indifferenz des bloßen Seins, unaufhörlich aber verklagt auch der Organismus das Joch des absoluten Sollens, das er schon konstitutionell nicht auszuhalten vermag und über dem nicht nur die Glückseligkeit, sondern die Moralität selbst zugrundezugehen droht. So erst zeigt sich, daß die Idee des Guten sich weder in der strengen Gestalt einer Ethik noch auch im Organismusgedanken allein befestigen kann, ist doch die zwischen dem Organischen und dem Moralischen bestehende Antinomie selbst nur der Widerstreit jener ungleich tieferen Antinomie, die im Grunde des Sittlichen selbst angelegt ist und die auch nicht einfach aufgelöst werden darf, wenn das sittliche Leben nicht ernsthaft beschädigt werden soll.71 Die sittliche Antinomie selbst ist es, die zu einer prinzipiell unendlichen Wechselkritik des Organischen und des Moralischen treibt, an der jede Verabsolutierung von Selbstzweck und Gesetz notwendig zerbrechen muß. Im Grunde des Sittlichen selbst heimisch, ist die Schwerkraft der Antinomie allemal stärker als die künstlichen Illusionen des Absoluten, die den inneren Zwiespalt des Sittlichen eskamotieren und so auch die Idee des Lebens selbst vernichten, das dem moralischen Menschen als höchstes Gut zuzufallen bestimmt ist. Selbst nichts als der perennierende Zwiespalt, erfüllt sich das höchste und zugleich das tiefste Leben der sittlichen Idee nur im unendlichen Prozeß der Kritik, denn er allein ist es, der den Widerspruch des Sittlichen mit sich selbst austrägt und dadurch offenhält, anstatt ihn in der tödlichen Starre des Absoluten nur zu vergraben. Weil sie auf den notwendigen Selbstwiderspruch des Sittlichen zurückweist, ist die Antinomie des Organischen und des Moralischen in einer Ethik allein nicht mehr zu schlichten, denn auch die Ethik bildet nur die je eine Seite des Gegensatzes, die das Ganze aus sich heraus nie rechtens zu repräsentieren vermag. Ebenso ergeht es der anderen Seite des Gegensatzes, der organologischen Prätention des sittlichen Ganzen, die im Namen der Sittlichkeit selbst zurückgewiesen werden muß, weil auch sie stets nur Teil und nie das Ganze zu sein vermag, das sie — trügerischer noch als die abstrakte Moralität des bloßen Sollens — zu repräsentieren vermeint. Damit aber erweist sich der Begriff des Sittlichen selbst als eine Idee, der keine Erscheinung je ganz zu entsprechen vermag, weil alles Repräsentierende vor ihm immer nur Teil seines eigenen Widerspruchs ist, ja mehr noch: Gerade weil das sittliche Ganze in sich selbst antinomisch ist, sind seine Repräsentationen als solche schon mit dem Stigma des Usurpatorischen gezeichnet, wo sie in Gestalt eines moralisch Absoluten in Erscheinung treten. Weder die organologische Idee des absoluten 71
Vgl. hierzu auch S. 382ff. dieser Untersuchung.
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Selbstzwecks noch die moralische des absoluten Sollens sind für sich genommen schon Repräsentationen der sittlichen Idee, sind sie doch selbst nur verschiedene Erscheinungen des Sittlichen, die seiner Repräsentation allein niemals fähig sind.72 Nur zusammen, nur in der paradox scheinenden Einheit ihres unendlichen Widerstreits, nur auf dem einzig noch möglichen Wege der Kritik können die moralisch heterogenen und antinomischen Ideen des Organischen und des Moralischen noch miteinander vermittelt werden. Einzig der kritische Weg hält die Versöhnung und damit das Sittliche selbst noch offen, weil er allein es ist, der den inneren Zwiespalt der sittlichen Idee in immer neuer Not auszutragen hat, indem er auf die bequeme Flucht in den usurpatorischen Oberbegriff und auf den Sprung ins Absolute verzichtet. Wenn die in sich selbst zwiespältige Idee der Sittlichkeit ihr tieferes Leben nur im Prozeß der Kritik findet, so darf um des Lebens des Ganzen willen weder die abstrakte Moralität des bloßen Sollens noch auch die organologische Reflexion sich in einem absoluten Anspruch auf die moralische Regierung der Erscheinungswelt verfestigen, wenn das sittliche Leben nicht verfehlt werden soIl„ist doch der sittliche Wert beider Entwürfe nur kritisch bestimmt. Umgekehrt gilt vom kritischen Konzept des Sittlichen aber auch, daß beide Gestalten des Sittlichen nicht einfach in einer höheren Einheit aufgehoben werden können, weil in dieser auch der Prozeß der wechselseitigen Kritik zum Stillstand käme, in dem das tiefere Leben der Sittlichkeit erst besteht. Genaugenommen ist aber schon jeder Verzicht auf die Regentschaft über die Welt der Erscheinung eine kritische Position, die der absoluten Moralität notwendig fremd bleibt, ist doch das Sollen in seinem Existenzgrund schon an die Welt der praktischen Zwecke gebunden, die es durchsetzen muß, um überhaupt Sollen zu sein. Das kritische Konzept des Sittlichen, das hinter dem frühen Entwurf des Organischen sichtbar wird, verlangt von der Moral somit eigentlich einen radikalen Praxisverzicht, im Grunde den Selbstverzicht. Darin noch dokumentiert sich der eigentlich amoralische Kern des organologischen Denkens, durch den es die Praxis des absoluten Sollens als solche schon kritisiert, weil es einerseits zwar das Moralische nur für sich selbst reservieren möchte, weil es andererseits in ihm aber auch eine Gestalt des Sittlichen erkennt, in der dieses selbst zugrundezugehen droht. Wie immer naiv die Gleichsetzung des organischen Ganzen mit dem Wesen des Sittlichen von einem höher entwickelten Standpunkt der praktischen Philosophie auch scheinen mag, so wird das organologische Denken des jungen Schiller dem Sittlichen doch darin zumindest gerechter als das Gesetz, daß es in der Verabsolutierung des Teils eine verhängnisvolle 72
Vgl. hierzu auch S. 243ff. dieser Untersuchung.
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Usurpation des Ganzen erkennt, die einer Verletzung des Sittlichen selbst gleichkommt. Auch wenn der Entwurf des Organischen nicht eigentlich ein Entwurf des Moralischen ist und ihm die Möglichkeit fehlt, sich zu einer systematischen Ethik zu runden, so hat er doch in der Kritik des absoluten Sollens, der Domäne der abstrakten Moralität, sein ganz eigenes Ethos und an ihm auch seinen Teil des sittlichen Lebens, dessen Idee er tiefer verteidigt als alle Moral, indem er es unter den Schutz seiner Kritik stellt. Außerhalb des kritischen Ethos hat der frühe Entwurf des Organischen für die Entwicklung der moralischen Position Schillers kaum Bedeutung erlangt, weil das kritische Konzept des Sittlichen der moralischen Dimension von Grund aus skeptisch gegenübersteht und im ganzen eine weit innigere Verwandtschaft mit dem organologischen Denken bekundet, aus dem es ja auch hervorgewachsen ist. Überhaupt ist das kritische Konzept des Sittlichen in der Entwicklung Schillers eher ein work in progress: Im noch weitgehend unausgereiften philosophischen Frühwerk erscheint es nie in systematischer Gestalt, weil schon die einzelnen, verschiedenen Diskussionszusammenhängen verpflichteten Schriften dieser Entwicklungsphase kaum systematischen Bezug aufeinander nehmen und ihren je eigenen Intentionen folgen. Nichtsdestoweniger ist das kritische Konzept des Sittlichen eine in zentralen Theoremen des philosophischen Frühwerks beschlossene Möglichkeit, eine Tendenz, die vor allem am Kernbegriff der medizinischen Dissertation, am Begriff des »Zusammenhangs« deutlich wird, in dem auch der Begriff des Organischen wurzelt, ohne daß es dem jungen Schiller gelungen wäre, schon auf dieser Stufe der Reflexion alle Möglichkeiten und Tendenzen seiner frühen Begrifflichkeit zu entbinden. Ist das medizinisch und philosophisch heikle Gebiet des »influxus physicus« auch nur schwer in positiven, wissenschaftlich präzis erfaßten Phänomenen und Begriffen festzumachen, so bieten doch umgekehrt alle Phänomene des bedrohten, ja des zerstörten Zusammenhangs ein reiches Feld der Beobachtung und Kritik. 73 Was 73
Folgt man den Darlegungen Benno v. Wieses, so wird die brennende Frage nach dem Zusammenhang der tierisçhen Natur des Menschen mit seiner geistigen »mit Hilfe eines zeitgenössischen psychophysischen Parallelismus beantwortet, der jede >Vollkommenheit< auf der einen Seite durch eine >Vollkommenheit< auf der anderen Seite bestätigt sieht, so wie auch jede Unvollkommenheit hier durch eine Unvollkommenheit dort ergänzt wird. Die Tatsache des Schmerzes, der Unlust, der Krankheit und des Todes muß in teilweise recht gewundenen Erklärungen in das Schema der Theodizee als notwendig zum >GlückTugendVollkommenheit< eingebaut werden. Schiller ist sich noch nicht bewußt, daß sein Festhalten an dem Parallelismus von Geist und Körper in Wahrheit schon dem Ziel seiner ganzen Darlegung widerspricht, die beweisen möchte, daß der Mensch >die innigste Vermischung dieser beiden
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das anthropologische Interesse bildet und ewig unterhält, ist nicht die Norm, sondern die Ausnahme, nicht das harmonische Gleichgewicht der Kräfte, sondern die schrille Dissonanz, an der sich der notwendige Zusammenhang aller organischen Einzelfunktionen weit nachdrücklicher demonstrieren läßt als in den enthusiastischen Gesängen des nur Vollkommenen, die jeder dramatischen Substanz entbehren, weil auch in ihnen das sittliche Leben, das nur im Widerspruch besteht, zum Stillstand gekommen ist.74 Nicht nur pathologische Störungen sind es, die das InterSubstanzen< ist. So kann er auch die rätselhafte Kluft zwischen beiden, die in den Anthologiegedichten noch viel deutlicher heraustritt, trotz aller Bemühungen nicht überbrücken. Die postulierte Harmonie zwischen beiden Sphären ist eben nur Postulat.« B. v. Wiese, Schiller, S. lOOf. - Unter dem Eindruck vor allem der Todesproblematik, deren zentrale Bedeutung schon in der Widmung der Anthologiegedichte zum Ausdruck kommt (»Meinem Prinzipal/dem Tod/ zugeschrieben - Großmächtigster Zar alles Fleisches/Allezeit Vermindrer des Reichs/Unergründlicher Nimmersatt in der ganzen Natur!«, vgl. Schiller, Anthologie auf das Jahr 1782. In: SW I, S. 29), sieht Benno v. Wiese hier einen Gegensatz zwischen dem »Parallelismus« und der »Vermischung«, der die Tendenz der medizinischen Dissertation zum bloßen Postulat macht. Doch so prekär scheint der Gegensatz nicht, wenn der psychophysische Parallelismus als vor allem heuristische Unterscheidung zweier Grundphänomene verstanden wird, die es erst gestattet, die Beziehungen zwischen ihnen überhaupt erst zu untersuchen. Schließlich ist es keine Identität, die Schiller zwischen Körper und Geist behauptet, sondern eine Polarität, die die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Heterogenen genauso erzwingt wie die Darstellung seiner »Vermischung«. Natürlich, schon der Ursprung der Krankheit, der ja an einer Stelle des angeblich so vollkommenen Gleichgewichts der Kräfte ansetzen muß, bleibt im ganzen der Schillerschen Untersuchung ein Rätsel. Erst recht aber muß der Tod ins Dunkel gehüllt sein, weil in ihm auch der Zusammenhang der Kräfte offenbar vollständig zugrundezugehen scheint, der die Natur des Organischen und damit - des Lebens ausmacht. Der Tod ist es, der als Chiffre der absoluten Differenz der Systeme den Zusammenhang höhnt, der die Möglichkeit des Vollkommenen in sich verwahrt, er ist es, der - radikaler noch als Franz Moor - alles Gute und alles Lebendige ohne Unterschied in den Staub tritt. Vom Organismusgedanken zu erwarten, vor dieser gleichsam absoluten Macht siegreich zu bestehen, kann nur zuviel an Erwartung sein, doch sollte die Niederlage des Organischen, die zugleich auch die Niederlage des Mediziners ist, nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Organismus dennoch »Zusammenhang« und »Vermischung« ist, wenn auch die gnoseologischen Mittel des jungen Schiller durchaus nicht hinreichen, beides in positiverWeise zu demonstrieren. 74
Ähnliches stellt auch Benno v. Wiese fest, wenn er die Liebes- und Vollkommenheitsphilosophie des jungen Schiller wie folgt kommentiert: »Das Schema dieses Weltentwurfes kennt keine Tragik. Alle Fragen der Kosmologie, der Anthropologie und der Gesellschaftslehre sind im Prinzip bereits gelöst. Aber sehr bald stellt es sich für den jungen Schiller heraus, daß die Gleichung trotzdem nicht aufgeht. Wohl wird die Theodizee noch geglaubt, jedoch mit jenem beunruhigenden Zweifel, der bereits bei Haller auf Grund der Kritik an der 197
esse des Anthropologen erregen, sondern all jene Verwirrungen des inneren Gleichgewichts, die sich aus der blinden Verkennung des »Zusammenhangs« ergeben und sich in den Herrschaftsansprüchen isolierter Einzelfunktionen verfestigt haben. Hierzu gehört aber vor allem die Welt des Willens, ist dieser doch das zentrale Organ für alle bewußt forcierte Ignorierung und Usurpation des »Zusammenhangs«, gleichgültig, ob diese sich nun im Namen des Guten oder — wie im Falle Franz Moors — im Namen des Bösen ereignet. Es ist die Welt der Moral, die sich dem anthropologischen Studium eröffnet und damit von vornherein als eine Welt in den Blick kommt, deren Geltung von einer grundsätzlichen Störung des organischen Gleichgewichts abhängig ist — einer Störung, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Dissertation durchaus dem Krankheitsverdacht unterliegen muß. Was der Kantischen Ethik als Zeichen einer höchsten moralischen Potenz erscheinen wird, die nur dem Willen eigene Kraft zur Transzendierung des bloß Sinnlichen — das ist vom Standpunkt des organologischen Denkens schon der Überschwang, den Kant an der Metaphysik tadeln wird, ja mehr noch: Die absolute Moralität, die in der Kantischen Ethik ihre für Schiller paradigmatische Gestalt annehmen wird, ist vom Standpunkt der organologischen Erkenntnis her im Kern durchaus widersittlicher Natur, überspringt doch das absolute Sollen den auch für die Sittlichkeit entscheidenden Zusammenhang der Kräfte, der die Vollkommenheit des Organismus ausmacht und zugleich auch die praktische Möglichkeit des Sittlichen erst zu gewährleisten vermag. Die dem frühen Entwurf des Organischen zufallende Bedeutung erschöpft sich daher nicht nur in der auf der Metaphysik der Liebe gegründeten Vollkommenheits- und Morallehre, die angesichts des Bösen ohnehin als brüchig zu gelten hat, sondern erst in der ihr auch systematisch einbeschriebenen, aber verdeckt gebliebenen moralkritischen Dynamik, die erst in der Begegnung mit der Kantischen Ethik in vollem Maß freigesetzt wird. Darin liegt die zentrale Bedeutung der frühen Organologie, daß sie das für Schiller grundlegende und stets verbindlich gebliebene Modell der menschlichen Psyche enthält — ein Modell, das sich durch die Begegnung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht nur erhält, sondern vielmehr die grundlegende Apperzeptionsform darstellt, in der Schiller die Kantische Ethik aufnimmt und kritisiert. Auch wenn die Kantische Philosophie das moralische Problembewußtsein Schillers beträchtlich verschärfen und den Blick auf die unbekannten Dimensiomenschlichen Gesellschaft und infolge des ununterbrochenen Versagens der Menschen entstand, bei Schiller sich mehr aus dem konkreten Wissen des Mediziners um die zum Tode verurteilte Physis des Menschen entwickelt.« B. v. Wiese, Schiller, S. 100.
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nen der Freiheit und des Intelligiblen lenken wird, die im geschlossenen Zauberkreis des Organologischen noch weitgehend fremde Größen geblieben waren, so verfällt die Kantische Ethik doch von ihrer moralischen Struktur her genau jener radikalen Kritik, die in der frühen Begrifflichkeit vor allem der medizinisch-philosophischen Dissertation im Grundriß schon vorgebildet ist. Schon der Titel der Dissertation, der den »Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen« betont und in ihm schon die Möglichkeit zum Genuß der Vollkommenheit erblickt, bezeichnet nicht nur einen bloßen Untersuchungsgegenstand, sondern zugleich ein Programm und ein kritisches Symbol, dessen Bedeutung sich freilich erst durch den kritischen Prozeß erschließt, dem noch der reife Schiller alle Formen der sinnlichen und moralischen Usurpation des Ganzen unterwirft. Denn wo diese sich durchsetzen und zur Herrschaft gelangen, da muß die menschliche Seele sich entziehen und zugrundegehen, sie, die doch das unverfügbare und geheimnisvoll verhüllte Ganze des sittlichen Lebens und das allein belebende Prinzip aller Dinge ist, sie, ohne die auch die Freiheit, die der Mensch nur im Moralischen zu haben wähnt, in ein kaltes Nichts zu stürzen droht, in dem schon das Böse lauert, um sie vollends zu entstellen. Das frühe organologische Modell der menschlichen Seele ist nichts anderes als eine Präfiguration der späteren Kant-Kritik, enthält es doch nahezu alle Motive und Erkenntnisse, die in dieser erneut hervortreten werden und durch die Revolutionsereignisse nur noch an Brisanz gewinnen. Insbesondere der kritische Widerstand gegen die Monarchie der Vernunft ist es, der seine Grundlage im frühen Entwurf des Organischen findet, nicht nur, weil der junge Schiller konsequent mit dem einseitig rationalen Vollkommenheitsbegriff der »Schule« bricht, sondern vor allem auch deshalb, weil jede Alleinherrschaft dem System des Organismus, das doch die Grundbedingungen des menschlichen Lebens enthält, schnurgerade zuwiderläuft. Selbst bis hin zum komplizierten Phänomen der Rache der Natur reicht die dynamische Kraft der Präfiguration, zumal im Begriff des Organischen eine Tendenz zur Selbstregulation der Natur mitgedacht ist, die bis zum Reich der Freiheit hinaufreicht und sich dem moralischen Wesen in der warnenden Stimme des Schmerzes zu erkennen gibt. So ist es das Leiden, was die Differenz des Organischen und des Moralischen zugleich begründet und wieder aufhebt, legt die Natur doch in jedem moralischen Wesen ein neues Zentrum an, einen Staat im Staate, gleichsam als hätte sie ihren eigenen Zweck aus den Augen verloren. Gegen dieses Zentrum müssen sich alle Tätigkeiten dieses Wesens mit einem Zwange neigen, wie sie ihn in der physischen Welt durch die Schwerkraft ausübt. Dieses Wesen ist auf die Art in sich selbst gegründet, ein wahres und wirkliches Ganze, durch diesen Fall zu seinem Zen199
trum dazu gebildet, ebenso wie der Planet der Erde durch die Schwerkraft zur Kugel ward, und als Kugel fortdauret. Erfüllt also das moralische Wesen die Bedingungen seiner Glückseligkeit, so tritt es ebendadurch wieder in den Plan der Natur ein, dem es durch diesen abgesonderten Plan entzogen zu sein schien, ebenso wie der Erdkörper durch den Fall seiner Teile zu ihrem Zentrum fähig gemacht wird, die Ekliptik zu beschreiben. Durch Schmerz und Vergnügen erfährt also das moralische Wesen jedesmal nur die Verhältnisse seines gegenwärtigen Zustandes zu dem Zustande seiner höchsten Vollkommenheit, welcher einerlei ist mit dem Zwecke der Natur. Diesen Weiser hat und bedarf das organische Wesen nicht, weil es sich durch sich selbst dem Zustand seiner Vollkommenheit weder nähern noch von ihm entfernen kann. Jenes hat also vor diesem den Genuß seiner Vollkommenheit, d. i. Glückseligkeit, voraus, mit dieser aber auch die Warnung wenn es davon abweicht, oder das Leiden. Hätte eine elastische Kugel das Bewußtsein ihres Zustandes, so würde der Fingerdruck, der ihr eine flache Form aufdringt, sie schmerzen, so würde sie mit einem Gefühle von Wollust zu ihrer schönsten Rundung zurückkehren. 75
Schon die kosmologische Metaphorik, in der die genau aufeinander berechnete Harmonie der Kräfte vergegenwärtigt wird, vermag mit Nachdruck zu zeigen, in welch entschiedenem Maße für den jungen Schiller das Zusammenspiel der seelischen Einzelfunktionen als Darstellung einer universalen Naturordnung in den Blick kommt. Schon in der »Philosophie der Physiologie« ist das Universum, wo »alle Kräfte wirken und ineinanderwirken, gleich Saiten eines Instruments«, 76 nur die gleichsam auswendige Chiffre des seelischen Ordnungsgefüges. Demgegenüber ist die Sphäre der Moralität ein Sprung aus der gemeinschaftlichen Natur, logisch die Herrschaft der Differenz über die Analogie, ästhetisch aber der Ausdruck genau jener Dissonanz, in der die große, im Spiegelgefüge der Vollkommenheit schwingende Musik unterzugehen droht — so aber der Ausdruck des Leidens, in dem die verletzte Ordnung der Natur sich schmerzhaft in Erinnerung bringt. Ein doppelt notwendiger Ausdruck ist das Leiden, der Schmerz der noch unbekannten Freiheit und die Stimme der unter ihr leidenden Natur, die in ihm von ihrer Beschädigung spricht und das moralische Bewußtsein zu sich zurückzurufen sucht. Dort aber, wo der warnende Ruf der Natur unerhört verhallt, im eitlen Stolz der moralischen Selbstverhärtung, erwächst aus der Warnung die Rache der Natur, in der die Moralität am Ende auch selbst zugrundegeht. Auch die Rache der Natur ist so ein stets doppelt geschuldetes Phänomen: Mit der moralischen Selbstverhärtung erst entstehend, ist selbst sie noch der Ausdruck jener inneren Ausgleichstendenzen, die dem organischen Aufbau der seelischen Welt zu eigen sind, freilich auch die noch einzig mögliche 75
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Schiller, D a s philosophische Gespräch aus dem Geisterseher. In: S W V, S. 163f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Schiller, Philosophie der Physiologie. In: S W V, S. 258.
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und durchaus verhängnisvolle Gestalt, in der die immer wieder überhörte und vergewaltigte Natur sich im Reich der Erscheinung eine letzte und absolute Geltung verschafft. Denkt man die kosmologische Analogie und Metaphorik des seelischen Organismus zu Ende, so ist die Sinnlichkeit, so ist aber vor allem auch die Moralität als Ausdruck jener zentrifugalen Kräfte zu begreifen, die sich stets v o m Mittelpunkt des Systems entfernen und sich im leeren Raum der Unendlichkeit verlieren müßten, wären da nicht gewaltige zentripetale Kräfte, die sie immer wieder neu diesem Mittelpunkt zuführten. Erst das harmonische Zusammenspiel der scheinbar einander entgegengesetzten Kräfte ist Vollkommenheit: Während die zentrifugale Bewegung erst alle Entwicklung ermöglicht und sich darin als wahrhaft progressiv erweist, sind die zentripetalen Kräfte als diejenigen seelischen Ordnungsmächte zu verstehen, die alle Entwicklung erst in die Entwicklung des Ganzen integrieren und dadurch die Einheit und Stabilität des Gesamtsystems gewährleisten. Integrative, ja konservative Ordnungsmächte sind es, die im R u f des Gewissens und in der Macht der Nemesis zum Ausdruck kommen und auf der Bewahrung der Natur bestehen, sei es auch um den Preis der Zerstörung. D i e Rache der Natur ist so am Ende der Ausdruck des zentripetalen Zwangs, durch den alles Vereinzelte zum Zentrum des G a n z e n zurückgetrieben wird, ein Zwang, der überall dort v o n Spuren der Wollust zeugen kann, wo er dem Leiden und der Stimme des Gewissens folgt, der aber dort zur destruktiven Gewalt anwachsen muß, wo die zentrifugalen Kräfte sich dem Leben des G a n z e n vollständig entfremdet haben und die Seele dem Diktat ihrer abstrakten Herrschaft zu unterwerfen suchen. Beide, das Gewissen sowohl als auch die Nemesis, verwahren die Einheit der Natur und des psychischen Organismus, sie sind nicht nur die Einkörperungen des moralischen Gesetzes, sondern weit mehr die v o n der Natur selbst bestellten Wächter, die das Gute vor den Maßlosigkeiten einer absoluten Freiheit zu schützen suchen. 77 77
Sowohl das Phänomen des Gewissens als auch das der tragischen Nemesis ist nicht länger mehr nur als Ausdruck des moralischen Gesetzes zu interpretieren, weil ihr Ursprung nicht eine ihrer selbst bewußte Vernunft, sondern vielmehr die Natur ist, die in ihnen alle ihr angetane Gewalt zu rächen sucht. Mehr noch: Vom frühen Entwurf des Organischen her gesehen, kann das Verhältnis von Schuld und Gewissen beinahe schon als Umkehrung der allein moralphilosophischen Interpretation von Freiheit und Gesetz gelten: Während dort das über dem mundus sensibilis thronende Gesetz sich von der Natur verletzt weiß und das Naturwesen im Gewissen zu strafen sucht, so ist es hier allein nur der Übermut der Freiheit, von dem alle Verletzung ihren Ausgang nimmt, um am Ende doch von der vergewaltigten Natur überwältigt zu werden. In der Ethik ist es das Gesetz, was als Subjekt der Moralität gilt, im Entwurf des Organischen dagegen stets nur Natur, die in genau dem Maße zum Subjekt der Sitt-
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Als die für die Entwicklung Schillers wesentlich bleibende Apperzeptionsform der Phänomene, vor allem aber als die entscheidende Präfiguration seiner Kritik an der Kantischen Moralphilosophie, ist der frühe Entwurf des Organischen zugleich die Voraussetzung und das grundlegende Modell der Kritik selbst. Auch wenn dieser der Oberbegriff fehlt, lichkeit wird, in dem sie von der Vernunft zum bloßen Objekt der Freiheit degradiert wurde. »Die Nemesis«, heißt es entsprechend bei Benno v. Wiese, »steht bei Schiller in dem merkwürdigen Zwielicht, sowohl eine naturhafte, in der Geschichte wirkende, wie auch eine moralische Macht zu sein, die gleichsam stellvertretend für ein ewiges Gericht steht.« Vgl. B. v. Wiese, Schiller, S. 180. - Das über dem Begriff der Nemesis waltende Zwielicht näher zu erhellen gelingt v. Wiese jedoch nicht, weil er der Äquivokationen nicht gewahr wird, die im Begriff des Moralischen liegen und Grund zu zahlreichen Verwechslungen bieten, unter denen die Kantische und die religiös-theologische Deutung des Gewissens die bei weitem häufigsten sind. Vgl. hierzu auch: B. v. Wiese, ebd., S. 363. - Doch nicht das Kantische Moralgesetz ist es, was im Phänomen des Gewissens zum Ausdruck kommt, sondern vielmehr genau jene Tendenz zur Selbstregulation, die dem Wesen des seelischen Organismus zueigen ist und durchaus als sittliche Tendenz der Natur selbst begriffen werden kann. Die warnende und das vermessene Individuum mit gewaltsamer Vernichtung bedrohende Stimme des Gewissens ist daher zunächst als Ausdruck jener »psychophysischen Nemesis« zu deuten, deren Idee im organologischen Denken vor allem der medizinischen Dissertation vorgebildet ist und von H.-J. Schings im Zusammenhang seiner Interpretation der »Räuber« angeführt wird. Vgl. H.J. Schings, Schillers »Räuber«: Ein Experiment des Universalhasses, S. 20. Durch den Zusammenhang mit dem frühen Entwurf des Organischen erst erhält die Interpretation von Gewissen und Nemesis ein gleichsam materialistisches Fundament, wenn auch im Rahmen von Schillers medizinisch-philosophischen Arbeiten nicht recht deutlich wird, wie sich das Gewissen als Ausdruck der organischen Selbstregulation überhaupt konstituiert und wie die all seiner Tätigkeit zugrundeliegende Gesetzlichkeit näher zu begreifen ist. Ein gnoseologisch bedingtes Zwielicht ist es daher, in das die Nemesis gehüllt ist, weil die Psychophysiologie des Gewissens vom jungen Schiller nie positiv erläutert und bestimmt wird, so daß die im Entwurf des Organischen angelegten Bestimmungen des Phänomens leicht übersprungen werden können, um die irritierende Zweideutigkeit in der moralischen oder religiös inspirierten Transzendenz zur Ruhe zu bringen. So treffend er das Zwielichtige der Nemesis auch beschreibt, so schnell auch löst Benno v. Wiese die Irritation wieder auf, die im Phänomen des Gewissens beschlossen liegt: »Die Rachegötter und der Racheengel«, heißt es im Zusammenhang mit der »Wallenstein«-Interpretation, »sind mehr als metaphorische Wendungen, sie sind als sie selbst gemeint, und doch ist ihr Name nur eine Chiffre, hinter der sie undurchdringbar verharren. Sie sind bildhafte Umschreibungen eines das Rational-Begriffliche übersteigenden Zusammenhanges, die nicht ein Seiendes nennen, sondern einen Vollzug bewirken. Das Bewirkte ist Nemesis, die nicht auf eine direkte Weise teleologisch zweckhaft zugerechnet werden kann, aber auch nicht mit mechanischen Notwendigkeiten identisch ist. Für den modernen Menschen steht diese Nemesis in dem Zwielicht zwischen dem noch vernünftig Verstehbaren und der nur scheu hinzunehmenden religiösen Transzendenz.« B. v. Wiese,
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so daß sie nur negativ zu sein scheint, so ist sie darin doch positiv, daß ihr ein gültiges Modell des seelischen Lebens zugrundeliegt, welches den Bedingungen der Natur und der endlichen Existenz weit angemessener ist als die Transzendenz von Freiheit und Gesetz, die im Kantischen Entwurf der Moralität ihre strenge Kodifizierung finden wird. Während das erkenntnistheoretische Modell des Psychischen, das der Kantischen Ethik zugrundeliegt, allein nur auf der moralischen Dualität gründet und durch den Imperativ des Gewissens auch immer wieder in diese zurückführen muß, ist das organologische Modell des Psychischen das einzige, das die Möglichkeit einer Einheit der Kräfte noch in sich verwahrt, weil es schon auf ihr beruht. Allein dadurch schon steht es höher als das abstrakte Sollen, wenn auch der Siegeszug der Usurpationen, in dem die Moderne bis an den Rand ihres eigenen Scheiterns getrieben wird, eher die Hinfälligkeit der organischen Ordnung unter Beweis zu stellen scheint. Hinfällig ist das Organische in der Tat, stellt es doch eine nur passive Macht dar, die der Gewalt der Usurpation weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, auch wenn das Phänomen der Rache der Natur mit Nachdruck demonstriert, daß diese Schutzlosigkeit allein nur der großen Geduld entspringt, mit der die Natur alle Erscheinung belehnt, ohne deswegen schwach zu sein. Mit dem Schicksal der Natur ist aber auch die Kritik zuinnerst verbunden, wo sie dieses zu ihrer ureigensten Sache macht und so ihre wahrhaft organologische Herkunft erst zu erkennen gibt. Wie die Natur ihre Verletzung im warnenden Ruf des Gewissens zu Gehör bringt, so warnt auch die Kritik vor allen Übergriffen einer absoluten Freiheit, in der die Natur keine Anerkennung zu finden vermag, weil sie gleichsam schon a priori als bloßer Widersacher in den Blick kommt. Darin ist die Kritik passiv wie nur die Natur, daß sie reaktiv auf die unendlichen Bildungen der Freiheit verwiesen ist, die sie am Leitfaden der Natur und des »Zusammenhangs« der Kräfte ihrer kritischen Prüfung unterzieht. Freilich bleibt der Leitfaden des »influxus physicus« ein durchaus unsicherer Führer, da schon die medizinische Dissertation Schillers den organischen Zusammenhang der Kräfte nicht hinreichend zu bestimmen vermochte, so daß auch das begriffliche Instrumentarium der Kritik kein festes corpus von Begriffen und Regeln bildet, nach denen die Welt der Erscheinung sich notwendig zu richten hätte. Doch darin gerade, daß sie nicht bestim-
Schiller, S. 677. - Damit aber beschreibt Benno v. Wiese das Phänomen der Nemesis schon in der Struktur des Symbols, die sich zugleich auch als innere Form der Kritik erweist, die Schiller vor allem der Kantischen Ethik entgegengebracht hat. Schillers Idee der Nemesis entspringt in ihrem Wesen daher weder der Moralphilosophie noch auch der Theologie, sondern vielmehr der zum kritischen Symbol verdichteten Anthropologie des »influxus physicus«, deren tragisch gewendeter Ausdruck sie ist.
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mend, sondern allein nur beurteilend verfahrt, ist die Kritik erst wahrhaft kritisch, ist der Begriff des Organischen ihr doch kein oberstes und für die Erscheinung konstitutives, sondern ein nur regulatives Prinzip, das den Gegenstand aus sich selbst zu entwickeln sucht, anstatt ihn der Einheit der kategorialen Bestimmung zu unterwerfen. Nie nur genügt der Kritik der abstrakte Verstand allein, zumal wenn sie den »Organismus der Seelenwirkungen« zum Gegenstand hat, der aus sich selbst betrachtet und entwickelt sein will, soll die Kritik nicht dem Souverän gleichen, den sie um ihrer selbst willen nicht anerkennen kann. Das fundamentum incottcussum, das der Kritik zugrunde liegt, ist daher so wenig fixierbar wie die ihr eigenen Grundbegriffe des Organismus und des Naturganzen, die einer konstitutiven Bestimmung unzugänglich bleiben. Beide Grundbegriffe, in denen die kritische Reflexion sich selbst dort noch bewegt, wo sie den natürlichen Zusammenhang des Organischen verlassen zu haben scheint, in den Sphären von Moral und Politik — beide Grundbegriffe erweisen sich so als regulative Ideen der Urteilskraft, nicht der bestimmenden, sondern der reflektierenden, die über kein Allgemeines verfügt noch je verfügen kann, weil sie ewig nur unterwegs zu ihm ist und eine ewig endlose Bewegung beschreibt. Der Begriff des Organismus und der des Naturganzen sind kritische Symbole und zugleich Symbole der Kritik, und erst in dieser doppelt symbolischen Funktion, die auf die Kantische » Kritik der Urteilskraft« vorausweist, wird die strukturelle Einheit der kritischen und ästhetischen Reflexion deutlich, die im frühen Entwurf des Organischen bereits in Umrissen entworfen ist.
2. Organismus und reflektierende Urteilskraft Allein in der stets doppelt symbolischen Funktion, die dem frühen Entwurf des Organischen im und für den Prozeß der Kritik zuwächst, zeigt sich eine für die Entwicklung Schillers durchaus erstaunliche Kontinuität der Motive und Formen, welche seinen vielfaltigen Reflexionen bis weit in die Zeit der Reife hinein zugrundeliegen. Weder die Revolutionsereignisse noch die für Schiller so wichtige Begegnung mit der Kantischen Philosophie markieren in dieser Hinsicht einen entscheidenden Bruch innerhalb der Entwicklung. Kritisches Symbol ist der Organismus, weil die spätere Revolutions- und Moralkritik in der symbolisierenden Applikation der organischen Struktur des »influxus physicus« auf die vielfältigen Erscheinungen der moralischen Welt und des modernen Lebens gründet. Zugleich aber ist das Organische auch das Symbol der Kritik selbst, denn das System des Organismus und die Form der kritischen Reflexion sind darin zutiefst miteinander verwandt, daß beide dem Oberbegriff ihre 204
Anerkennung versagen, weil sie in ihm das Feindliche erspüren, das sie zugrunderichten könnte. Damit aber ist der Organismusgedanke sowohl das Maß als auch die im Vollzug der Kritik selbst zur Darstellung gebrachte Form der kritischen Reflexion. In ihm, der zugleich Medium und Hypotypose des kritischen Prozesses ist, sind auch Mittel und Zweck nicht mehr nur abstrakt getrennt, sondern vielmehr zu einer symbolischen und doch konkreten Einheit verschmolzen. Wie im Organismus erst das Ensemble aller Einzelfunktionen ein lebendiges Ganzes zu bilden vermag, so bildet auch die am Begriff des Organischen orientierte Kritik stets ein Ganzes, indem sie das Einzelne und durch bloße Bestimmung weiter Vereinzelte in die Zusammengehörigkeit des Organismus zurückzurufen sucht, ohne es in einer neuen und übergreifenden Einheit als Einzelnes auszulöschen. Denn dies macht das Organische erst eigentlich aus, daß es sich nicht nur der Usurpation des Ganzen durch eine verabsolutierte Einzelfunktion, sondern zugleich auch der Vernichtung der in der Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Teile sichtbar werdenden und für das Leben des Ganzen so notwendigen Differenz konsequent versperrt, daß es mithin keine logische Einheit, sondern eine »Einheit in der Mannigfaltigkeit« repräsentiert. Freilich ist die symbolisch-kritische Vertiefung des Organismusgedankens keine aus der Struktur der »influxus physicus«-Theorie selbst abzuleitende Notwendigkeit und Konsequenz. Sie ist vielmehr auch als Resultat einer radikal zugespitzten Skepsis zu begreifen, die vor keiner übergeordneten und damit letzten Instanz haltmacht. Das zeigt vor allem ein kurzer Seitenblick auf Herders Preisschrift »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«, welche gegen die von der Schulmetaphysik aufgerichteten »Bretterwände« zwischen Körper und Geist mit einer ähnlichen Emphase sturmläuft wie kurz nach ihr die medizinische Dissertation des jungen Schiller. Auch für Herder ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich. Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pygmalions Statue mit Geist belebet — alsdenn können wir etwas übers Denken und E m p f i n d e n sagen. Drei Wege weiß ich nur, die hiezu führen möchten: Lebensbeschreibungen, Bemerkungen der Ärzte und Freunde, Weissagungen der Dichter — sie allein können uns S t o f f zur wahren Seelenlehre schaffen. 7 8
Herders Postulate spiegeln sehr deutlich den Stand einer Psychologie, die sich noch gleichsam in statu nascendi befindet und die kaum mehr von 78
Herder, Vom Erkennen und E m p f i n d e n der menschlichen Seele. In: Herders Werke in f ü n f Bänden, hrsg. von den Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin/Weimar 1982, Band III, S. 354. Im folgenden zitiert als »HW« (Herders Werke).
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sich weiß, als daß sie nichts anderes sein will als eine psychologia empirica, deren eigene Rationalität sich mit einer zunehmend enzyklopädischen Sammlung und Sichtung des empirischen Materials schon noch entwikkeln wird. Kein Wunder daher, daß Moritz' Idee eines »Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« hier eine ihrer wesentlichen Wurzeln hat. 7 ' Doch während Moritz dem wissenschaftlich bedenklichen Status der neuen Psychologie mit einem nahezu wertneutralen Asketismus begegnet, ist für Herder der notwendige Zusammenhang der seelischen Einzelfunktionen eine ausgesprochen ausgemachte Sache, sind doch die Kräfte »im Grunde nur eine Kraft, wenn sie menschlich, gut und nützlich sein sollen, und das ist Verstand, Anschauung mit innerem Bewußtsein..., lauter Äußerungen einer und derselben Energie und Elastizität der Seele«.80 So packend rebellisch der gegen die psychologia rationalis gerichtete Schwung Herders aber auch ist, so sehr ebnet die forciert polemische Stellung gegenüber der »Schule« zugleich auch die systematische Differenz der seelischen Einzelfunktionen zugunsten einer nahezu schon monistisch wirkenden Konzeption des Psychischen ein. Die begriffliche Distinktion der Vermögen, in der die rationale Seelenlehre ein Matadorstück ihrer Differenzierungskünste gefunden hatte, ist weder Herders Sache noch auch sein Wille, so daß nicht nur die Differenz der Kräfte, sondern zugleich auch ihr Ursprung in und aus der Einen Substanz im Dunkel bleiben muß. So aber entsteht nicht nur die unterschiedliche und letztlich unklar bleibende Besetzung des Seelischen mit den so heterogenen Begriffen des Verstandes, der Einbildungskraft, ja selbst des Äthers, 81 sondern vor allem auch ein trotz aller Betonung des »Zusammenhangs« unverkennbar durchscheinender Absolutismus des Seelischen, dem die Einzelfunktionen nur Marginalien seiner Herrschaft sind: 79 80
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Vgl. hierzu auch H. J. Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 39. Vgl. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: HW, III, S. 370. Vgl. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: HW, III, S. 364, wo es so programmatisch wie auch politisch heißt: »Wir empfinden nur, was unsre Nerven uns geben, darnach und daraus können wir auch nur denken. Nenne man nun diesen lebendigen Geist, der uns durchwallet, Flamme oder Äther, gnug, er ist das unbegreifliche himmlische Wesen, das alles zu mir bringt und in mir einet. Was hat der Gegenstand, den ich sehe, mit meinem Hirn, das Hirn mit meinem wallenden Herzen gemein, daß jenes Bild, daß dies Leidenschaft werde? Siehe, da ist ein Etwas, das von sonderbarer Natur sein muß, weil es so sonderbaren Verschiedenheiten dienet. Das Licht konnte nur eins, den ganzen dunkeln Abgrund der Welt zum Bilde machen, dem Auge alles veräugen; der Schall konnte nur eins, hörbar machen, was sonst nur für andre Sinne da wäre. So weiter. Dieser innere Äther muß nicht Licht, Schall, Duft sein, aber er muß alles empfangen und in sich verwandeln können. Er kann dem Kopfe Licht, dem Herzen Reiz, er muß also ihrer Natur sein oder
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Mit dem sogenannten Einfluß der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele hat es eben die Bewandtnis. Sollte hier etwas durch Zirbeldrüse, elastisch-gespannte Nerven, Hieb und Stoß erklärt werden, so stehe man immer an und leugne. Nun aber, da unser Gebäude nichts von solchem hölzernen Weberstuhle weiß, da alles in Reiz und Duft und Kraft und ätherischem Strom schwimmet, da unser ganzer Körper in seinen mancherlei Teilen so mannigfaltig beseelt, nur ein Reich unsichtbarer, inniger, aber minder heller und dunkler Kräfte zu sein scheinet, das im genauesten Bande nt mit der Monarchin, die in uns denket und will, so daß ihr alles zu Gebote steht, und in diesem innig verknüpften Reich Raum und Zeit verschwindet: was natürlicher, als daß sie über die herrsche, ohne die sie nicht das wäre, was sie ist; denn nur durch dies Reich, in diesem Zusammenhange war und ist sie menschliche Seele. Ihr Denken wird nur aus Empfindung, ihre Diener und Engel, Luft- und Flammenboten strömen ihr ihre Speise zu, so wie diese nur in ihrem Willen leben. Sie herrscht, mit Leibniz zu reden, in einem Reich schlummernder, aber um so inniger würkenden Wesen.82
Indem Herder die Autonomie der Einzelfunktionen zugunsten einer Autonomie des seelischen Ganzen zu beschneiden sucht, hat er den Absolutismus der bloßen Ratio durch die Alleinherrschaft des Seelischen ersetzt und damit auch einem Modell des psychischen Lebens das Wort geredet, das sich zur zentralen Tendenz seines kritischen Versuchs, der Betonung des Zusammenhangs, eher gegenläufig verhält. Überall, wo der Zusammenhang der Kräfte ins Spiel kommt, wird der menschliche Körper zum »ersten Vorbilde der Republik«,83 während die noch aus der metaphysischen Tradition entlehnte monistische Tendenz mit einer ganz eigenen Schwerkraft zum monarchischen Modell des seelischen Organismus zurücktreibt, das die Herdersche Preisschrift freilich nicht mehr durchgängig zu bestimmen vermag. Dennoch, rein strukturell gesehen gleicht die neu inthronisierte Seele noch immer jener abstrakten Regentin der bloßen Ratio, deren Nachfolge sie antritt, denn strukturell gleicht sie weiterhin jener bloß auswärtigen Instanz, die über den Einzelfunktionen des seelischen Organismus steht und autonom über sie verfügen soll. Demgegenüber ist in Schillers frühem Entwurf des Organischen nicht die Differenz, sondern weit stärker die Identität des seelischen Ganzen mit den je unterschiedlich entwickelten Einzelfunktionen betont, so daß der psychische Organismus eine »Einheit in der Mannigfaltigkeit« repräsentiert, in der weder zwischen den einzelnen Kräften, noch auch im Ver-
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zunächst an sie grenzen. Ein Gedanke, und Flammenstrom gießt sich vom Kopf zum Herzen; ein Reiz, eine Empfindung, und es blitzt Gedanke, es wird Wille, Entwurf, Tat, Handlung - alles durch einen und denselben Boten. Wahrlich, wenn dieses nicht Saitenspiel der Gottheit heißt, was sollte so heißen?« Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: HW, III, S. 366 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: HW, III, S. 388.
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hältnis von Teil und Ganzem eine Hierarchie der Werte befestigt werden kann. Das macht nach Schiller gerade die ausgezeichnete Stellung des Organischen aus, daß die Seele keine dritte, erneut nur metaphysisch zu verstehende Instanz verkörpert, die zwischen oder auch über den Zentralfunktionen von Sinnlichkeit und Vernunft stünde und diese souverän beherrschte, sondern daß sie nichts ist als das Ensemble der Einzelfunktionen und der Reflex ihres dem dauernden Wechsel unterworfenen Verhältnisses. Die Seele ist weder Substanz noch auch verfügt sie über eine durchgehende Autonomie, weil sie allein nur die stets wechselnde Resultante aller Einzelfunktionen und daher auch ausschließlich nur funktional bestimmt und bestimmbar ist. In allen Verhältnissen, die zum »Organismus der Seelenwirkungen« gehören, regiert das Prinzip einer durchgängigen Gleichberechtigung der Kräfte, die im Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit zueinander stehen und darum gerade die illusionären Positionen der Autonomie untergraben, in denen die auf der internen Spannung der Einzelfunktionen beruhende Dynamik seelischer Prozesse gleichsam stillgelegt wird. Noch der Kantische Antagonismus der Kräfte wird der Dynamik des seelischen Lebens daher gerechter als der Monismus der Herderschen Preisschrift, auch wenn das allein nur moralische Modell des Psychischen sein energetisches Plus mit einem gleichsam normierten Harmonieverlust zu bezahlen hat. Kein Wunder daher, daß Herder, dem das Seelische »in Reiz und Duft und Kraft und ätherischem Strom« verschwommen war, der Kantischen Philosophie nur mit kritischer Skepsis begegnen konnte. Doch während die organische Konzeption und die allein nur moralische Kants einer notwendigen Wechselkritik ausgesetzt bleiben, in der sie am Ende stets nur den eigenen Mangel verklagen, stellt Schillers früher Entwurf des Organischen schon eine erste Vereinigung beider so unterschiedlichen Modelle des Psychischen dar, weil nur in ihm die Absage an die metaphysische Tradition der Autonomie konsequent durchgehalten ist. Weil die Seele für Schiller ihr eigenes Leben ausschließlich nur in den Einzelfunktionen und ihrem Verhältnis zueinander gewinnt, untersteht auch ihr eigenes, die organische Ganzheit repräsentierendes Verhältnis zur Einzelfunktion nicht dem Prinzip der Autonomie, sondern dem, was die »Kritik der Urteilskraft« unter dem Begriff der »Heautonomie« verzeichnen wird. Was das Leben der Seele ausmacht, ist weder nur moralisch noch auch nur rational, sondern das, wonach der kritische Prozeß der Reflexion in immer neuen Anläufen unterwegs ist und was er auch selbst in der Gestalt einer nur reflektierenden Urteilskraft zur Darstellung bringt. In der Erinnerung noch des späten Goethe ist festgehalten, welch eine »höchst frohe Lebensepoche« er seiner anhaltenden Beschäftigung mit der Kantischen »Kritik der Urteilskraft« verdanke, zumal »ich meine 208
disparatesten Beschäftigungen nebeneinandergestellt (sah), Kunst- und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere, ästhetische und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselweise«.84 In der Tat scheint der thematisch seltsam anmutende Aufbau der dritten Kritik, die hier das Natur- und Kunstschöne, dort aber den Natur- und Endzweck behandelt und die heterogenen Gebiete von Ästhetik und Biologie, Moral und Religion zur Einheit eines Themas zusammenschließt, der vielseitig interessierten Persönlichkeit Goethes wie ein maßgeschneiderter Anzug zu sitzen, in den Schiller nicht recht hineinpassen will. Daß Schiller ein vielfältig belastetes und problematisches Verhältnis zur Natur hatte und es demgemäß einer sehr langwierigen, oft genug retardierenden Entwicklung bedurfte, um auch in ihr mehr zu sehen als das nur Zwiespältige und Gemeine, ist ein stehender Topos schon in der älteren Forschung, die nichts anderes als den Dichter der Menschheit in ihm erblicken wollte, während Natur allein nur dem Größten reserviert blieb, hatte sich Goethe doch nicht zuletzt durch seine vielfaltigen Bemühungen um die Naturwissenschaften einige Rechte auf seine eigene Inthronisation erworben. Demgegenüber haben die neueren Arbeiten von F.-W Wentzlaff-Eggebert85 und H. Mettler 86 mit großem Nachdruck daraufhingewiesen, daß die Entwicklung Schillers bis in die Zeit der Reife hinein sich weniger unter den Vorzeichen der Kantischen Philosophie, sondern weit mehr als 84 85
86
Vgl. Goethe, Einwirken der neueren Philosophie. In: HA 13, S. 27. Vgl. F. W Wentzlaff-Eggebert, Schillers Weg zu Goethe, Berlin 1963. Dem Paradigma von »Schillers Weg zu Goethe« folgend, räumt Wentzlaff-Eggebert dem bestimmenden Einfluß der Kantischen Philosophie nur noch einen denkbar geringen Stellenwert ein. Zwar ist der Entwicklungsgang des Schillerschen Denkens auch für ihn noch von einer Kantischen Phase bestimmt (vgl. ebd., S. 272), doch ist diese schon mehr als nur identifikatorisch, weil sie schon anfanglich ein »Messen des eigenen am Fremden« und damit kritische Auseinandersetzung ist (vgl. ebd., S. 154). Nach Wentzlaff-Eggebert weicht Schillers zunächst zustimmende, im Sommer 1787 begonnene Lektüre der geschichtsphilosophischen Schriften Kants schon ab 1790 einer zunehmenden Skepsis, die bis zum »Bruch« mit der Geschichtsphilosophie führte (vgl. ebd., S. 158). Spätestens ab 1793 setzt dann die immer stärker und bestimmender werdende Einwirkung Goethes ein, infolge derer die Kantische Phase allmählich verdrängt wird. Vgl. F. W Wentzlaff-Eggebert, ebd., insbesondere S. 151ff., S. 175ff. Vgl. H. Mettler, Entfremdung und Revolution. Nach Mettler mißbilligt Schiller schon in der Schrift »Über A n m u t und Würde« durchaus »im Sinne Goethes die unbedingte >Achtung vor dem GesetzNeigung< der >schönen SeeleWahrheitRigoristen der Moral< die Unbedingtheit der Pflicht vereinseitigt und damit gleichsam noch gesteigert, um bereits in >Anmut und Würde< anscheinend darüber hinaus zu gelangen: zur Auffassung von der >schönen Seele< und der >Liebe< als einem >Gefühl, das von Anmut und Schönheit unzertrennlich ist.Modeliteratur< der Zeit [...]. die bedeutendsten Tendenzen, die zur Ausbildung von Schillers klassischer Literaturtheorie führten«; doch Schillers auf die um sich greifende »Trivialität« - zu der auch Bürgers Gedichte der Tendenz nach zu rechnen sind - reagierender, streng »anspruchsvoller Volkstümlichkeitsbegriff« ist deswegen für ihn doch kaum mehr als nur »eine vom Künstler verordnete, von oben diktierte Volkstümlichkeit, die auf die Rezeptionsmöglichkeiten des >großen Haufens< kaum noch Rücksicht nimmt [...]. Die berechtigten Ansprüche derjenigen, die über wenig Bildungsmöglichkeit und noch weniger Freizeit verfügen, finden in Schiller keinen Ver-
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bekleidete Ideal der ästhetischen Selbstdistanzierung und Reinigung bleibt immer auch noch moralisch tingiert. Die Analogie zur moralischen Form besteht schon in der Behandlung der eigenen Leidenschaften, in jener Distanzierung, die noch das eigene Selbst einschließt, wo sie nicht nur der Zeit gilt, sondern die »poetische Kindheit«, die »Matadorstücke teidiger. So spricht Schiller über die Köpfe der Masse hinweg, niemals zu ihr oder ihren Standpunkt ergreifend.« Vgl. K. L. Berghahn, Volkstümlichkeit ohne Volk? Kritische Überlegungen zu einem Kulturkonzept Schillers. In: K.L.B.: Schiller. Ansichten eines Idealisten, S. 102,109,114. - Man braucht diese strenge Kritik schon aus wirkungsgeschichtlichen Gründen nicht vollkommen zu teilen, um anzuerkennen, daß sich in Schillers theoretischen Schriften gewiß auch »ästhetisch-idealistische und geistesaristokratische Tendenzen finden, die kritisiert werden müssen, da sie zu normativen Bildungskonzepten erstarrten.« Vgl. K. L. Berghahn, ebd., S. 118. - Aber das bedeutet doch nicht, Schillers Ästhetik von der Tendenz her auf den sozialen Hochmut des Autonomiegedankens als einer bloßen Rechtfertigungsstrategie zu reduzieren - wozu Berghahn immerhin neigt. Seiner Analyse zufolge entwirft Schiller wohl »ein genaues Bild der zeitgenössischen Misere«, aber da »er sich weder um das gemeine Volk noch um die Niederungen der Politik kümmert, fallt sein Erziehungsideal zu transzendental aus, um noch praktikabel zu sein. Die Schrift [»Über die ästhetische Erziehung des Menschen«] dient vornehmlich der Rechtfertigung autonomer Kunst und erlesener Literatenzirkel, kaum dem Volke, wenn sie auch immer wieder zu volkserzieherischen Zwecken zitiert wird.« Vgl. K. L. Berghahn, ebd., S. 111. - Die Identifizierung von Schillers Ästhetik mit dem Autonomiegedanken des ästhetischen Absolutismus ist damit endgültig und allenfalls noch modifikabel. Sie zeigt den ästhetischen Absolutismus gerade in seinen moralisch rigiden Zügen als unwillige Reaktionsbildung auf eine Moderne, der unter dem Zwang ihrer eigenen Not jedes Bewußtsein für Wert und Qualität verlorenzugehen droht, als eine - sozial und politisch gesehen - durchaus prekäre Position, die aber nicht unterschwellig mit Brechts Volkstümlichkeitsbegriff zu verrechnen ist, weil sie allein nur den ästhetischen Absolutismus, nicht aber die für Schiller zentrale Ästhetik der Wechselwirkung vor Augen hat, von der dieser nur Teil ist. So bleibt nur die sympathische Modifikation innerhalb des identischen Paradigmas: Die utopische Rettung des schönen Scheins im Zeichen des kritischen Vorscheins, bei welcher Ernst Bloch eine gewichtigere Rolle spielt als Schillers poetische Werke, die einen »ästhetischen Staat« repräsentieren, der »sich zum politischen wie die autonome Kunst zur Wirklichkeit« verhält, »also kritisch; er enthält wie fragmentarisch auch immer - das Modell einer glücklich versöhnten Menschheit.« Vgl. K. L. Berghahn, Ästhetische Reflexion als Utopie des Ästhetischen. In: K.L.B.: Schiller, Ansichten eines Idealisten, ebd., S. 147. - Wenn diese Bestimmung allerdings mehr sein soll als eine Rettung des Scheins als Utopie, die den abstrakten geschichtsphilosophischen Gegensatz von Individuum und Gattung im Grunde nur auf anderer Ebene neu wiederholt, so bedarf es vor allem auch einer genaueren Reflexion auf das Verhältnis von Fragment und Utopie, weil die utopische Teilhabe, um die es doch eigentlich geht, sich dann allein nur im »Augenblick« herstellt, der aber stets nur als variierende Funktion des besonderen literarischen Textes in Erscheinung tritt. Dieses Projekt aber steckt bislang noch weitgehend in seinen Anfängen. Vgl. hierzu auch
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der Jugend«, endlich gar alle Unmittelbarkeit des Gefühls einschließt, in der doch zugleich auch das Eigene und Unterscheidende der Individualität besteht. 65 Wo der Dichter selbst bloß leidender Teil ist, muß seine Empfindung unausbleiblich von ihrer idealischen Allgemeinheit zu einer unvollkommenen Individualität herabsinken. Aus der sanftem und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft u.s.w. selbst dem Dichter den Pinsel dabei geführt habe, hatte er damit anfangen müssen, sich selbstfremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln, seine Leidenschaft aus der mildernden Ferne anzuschauen. Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes, durch eine Selbsttätigkeit möglich, welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt.66 Wo das Wesen ästhetischer Formgestaltung allein nur in jener Idealisierung besteht, durch welche der Künstler »den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loswickeln« muß, wo menschlich nicht dasjenige heißt, »was ein einzelner Mensch wirklich so empfunden, sondern was alle Menschen ohne Unterschied mitempfinden müssen«, 67 da ist auch die logische Allgemeinheit der Gattung und ihre Abstraktion von allem Besonderen dem Schönen und seiner Idee nicht mehr nur fern. Obleich die Idealisierung Schillers Idee der ästhetischen Formgestaltung kaum schon erschöpft, 68 obgleich Schiller in der Kritik an Bürgers Gedichten nicht Leidenschaft und Gefühl als solche, sondern nur ihre bestimmende Macht ausgrenzen will, hat Bürger selbst sich nicht ohne Recht gegen die Abstraktion einer bloß idealisierten Empfindung gewehrt. 69 Hinter ihr steht jedoch immer die Sendung der Kunst zur ästheti-
65 66 67 68 69
meinen eigenen Versuch am Beispiel von Dieter Wellershoff: Ulrich Tschierske, >Neuer Realismus« und Utopie. Versuch über Dieter Wellershoff. In: Subjektivität - Humanität - Ästhetik. Studien zur Geschichte der deutschen Literatur und ihren Bedingungen. Für Hans Joachim Schrimpf zum sechzigsten Geburtstag. Redaktion: Hans Adler und Renate Werner, Bochum 1987, S. 215-312 (Privatdruck). Vgl. Schiller, Über Bürgers Gedichte. In: SW V, S. 980f. Schiller, Über Bürgers Gedichte. In: SW V, S. 982 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über Bürgers Gedichte. In: SW V, S. 987. Vgl. S. 428ff. dieser Untersuchung. Nicht ohne alles Recht und ironische Souveränität hat Bürger selbst über das Ideal idealisierter Empfindungen gespottet, an dem er da rezensiert und verrissen worden war: »Nicht meine, nicht irgendeines sublunarischenMenschen wahre, natürliche, eigentümliche, sondern idealisierte, das ist keines sterblichen Menschen Empfindungen - Abstraktionen - man denke! - Abstraktionen von Empfindungen müßten jene Gedichte enthalten, wenn sie etwas wert sein sollten. - O Petrarca, der du eigentümlicher, als je einer, für deine Laura empfandest,
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sehen Repräsentation einer Menschheit, durch welche der Kantische Geist der Prüfung und der Kritik und mit ihm der Imperativ des Gewissens vom Ideal des Vernunftmenschen auf den Typus des modernen Künstlers übertragen wird.70 Nicht Spiel und Schönheit allein, sondern der Künstler selbst wird sich zur Aufgabe und zum Postulat, das in der
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Sonne der lyrischen Dichtkunst, die du Jahrhunderte durchstrahltest, wo bleibst du nur vor dem höhern Glänze dieses ätherischen Kunstgeistes; - Bei dem allen findet es der tiefsinnige Richter seiner Theorie nicht widersprechend, wenn er behauptet, daß alles, was der Dichter uns geben könne, nur seine Individualität sei. -« G. A. Bürger, Vorläufige Antikritik. In: SW V, S. 1242f. Die historische Übertragung des Kantischen Pflichtbegriffs auf die Sphäre der ästhetischen Repräsentation und die daraus entstehenden Folgelasten für das Selbstbewußtsein und die Problematik eines modernen Künstlertums ließen sich vor allem am Beispiel des Gustav von Aschenbach näher erläutern, was an dieser Stelle jedoch nur in Form einiger weniger Hinweise geschehen kann. Im guten Glauben an eine notwendig gewordene Regeneration seiner schöpferischen Kräfte, in Wahrheit jedoch getrieben von der »Begierde nach Befreiung, Entbindung und Vergessen«, dem »Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines starren, kalten, leidenschaftlichen Dienstes« reist Thomas Manns fiktiver Held von München nach Venedig, um dort in vielfachem Sinn seinen Meister zu finden. Gustav von Aschenbach ist selbst ein Meister von klassischem Zuschnitt: »Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksale im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, >Maja< mit Namen, wob; der Schöpfer jener starken Erzählung, die >Ein Elenden überschrieben ist und einer ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der leidenschaftlichen Abhandlung über >Geist und Kunstwo er spielt« ganz Mensch ist, so können von hier aus sämtliche Inhalte des Lebens erfaßt und in dieser - in der ästhetischen Form, so weit sie auch gefaßt werden mag - der ertötenden Wirkung des verdinglichenden Mechanismus entrissen werden. Sie werden aber doch nur, insofern sie ästhetisch werden, dieser Ertötung entrissen. D. H. die Welt muß entweder ästhetisiert werden, was ein Ausweichen vor dem eigentlichen Problem bedeutet und in einer anderen Weise das Subjekt wieder in ein kontemplatives verwandelt und die >Tathandlung< zunichte macht. Oder das ästhetische Prinzip wird zum Gestaltungsprinzip der objektiven Wirklichkeit erhoben: dann aber muß das Auffinden des intuitiven Verstandes mythologisiert werden.« Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, S. 253. - Schroff und unzureichend sieht eine neuere Veröffentlichung Jürgen Boltens das Problem, nach der schon »mit dem Wechsel von der empirischinduktiven zur deduktiv-transzendentalen Methode« eine »Autonomisierung des Ästhetischen« nurmehr »um den Preis der Aufgabe des ursprünglich metapolitischen Charakters des Schönen« erfolgen kann. Indem »die Identitätserfahrung des ästhetischen Zustandes nicht mehr als Voraussetzung von Humanität, sondern bereits als Vollendung exponiert wird, erlangt jetzt auch - unbeschadet zahlreicher Widersprüche in den Briefen selbst - der ästhetische Staat< Priorität vor dem eingangs als Endzweck angegebenen >moralischen Staate« Vgl. J. Bolten, Zum werk- und denkgeschichtlichen Kontext der Briefe iÜberdie ästhetische Erziehung redet...., S. 25. - Für Peter Bürger ist es vor allem Schillers strenge Scheidung von Schein und Sein, die eine im Grunde starre und »undialektische Opposition« begründe und das Schöne in die »abstrakte Idealität« einer schroffen »Entgegensetzung zur Wirklichkeit« bringe. Vgl. P. Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, S. 59ff. - Daß die Abgrenzung von Wirklichkeit und Schönheit vor allem gattungspoetisch motiviert ist und aus der wirkungsästhetischen Notwendigkeit der »Aufrichtigkeit« entspringt, kommt Bürger jedoch nicht weiter in den Sinn, obgleich es doch diese Differenzierung ist, die die ästhetische Freiheit des Menschen verwahrt und zugleich auch den Höhepunkt der ästhetischen Haltung zu bezeichnen versucht. Denn nur »soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt), und nur soweit er selbständig ist (allen Beistand der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken und kann nichts für die Freiheit des Geistes beweisen. Übrigens ist es gar nicht nötig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sei, wenn nur unser Urteil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches [ . . . ] dem reinen ästhetischen Gefühl [...] darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen; aber freilich erfordert es noch einen ungleich höheren Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu vermissen.« Schiller, Über die ästhetische Erziehung
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tische Bewußtsein noch eine tragende und bestimmende Grundlage in der von Antagonismus aller Tendenzen zerrissenen Triebnatur zu finden vermag, anders ausgedrückt: ob die Ästhetik, der Abstraktion der Moderne zum Trotz, noch in einer Anthropologie fundiert werden kann, die auf der Idee einer ganzheitlichen Natur beruht, auf welche die menschliche Triebnatur noch in ihrer Zerrissenheit eine Anzeige gibt.
[...]. In: SW Y S. 659. - Für das Schöne sowohl als auch für die Empfindung und Deutung des Schönen ist damit auf eine Haltung verwiesen, die das Erhabene notwendig berührt, wo die Wirklichkeit selbst nur als Schein empfunden wird, den das Bewußtsein hinter sich läßt; denn die »höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität miteinander, daß beide nur das Reelle suchen und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind [...]. Insofern das Bedürfnis der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur.« Schiller, Uber die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 656. - In größte Nähe zur kritischen Bestimmung der Abstraktion rückt noch die Analyse Rolf Grimmingers, für welche die Idealität und Formalität des Schillerschen Kunstbegriffs »nur die logische Konsequenz des Erziehungsgedankens [ist]: Kunst muß autonome Erlebnisstruktur, eigengesetzliche, mit nichts vergleichbare und dem geschichtlichen Prozeß entzogene Form bleiben, denn anders wäre sie Teil der historischen Entfremdung und demnach selber Unwert oder allenfalls noch dessen Dekoration.« R. Grimminger, Die ästhetische Versöhnung. Ideologiekritische Aspekte zum Autonomiebegriff am Beispiel Schiller, S. 176. - Mehr an der Poetologie als an Anthropologie und Ästhetik orientiert, kommt Grimminger jedoch zu einem Schluß, der dem verengten Blickwinkel auch seiner Deutung entspricht: »Das Medium Kunst als ein sowohl formal wie nun auch inhaltlich freigestellter Zufluchtsort von Glückseligkeit darf selber nicht mehr problematisiert werden. So unvermittelt Schillers Gesellschaftskritik und seine Ästhetik am Ende nebeneinanderstehen, ebenso unvermittelt verhält sich die historische Praxis zu ihrer ästhetischen Utopie. Kultur wird zur Illusion, die die Mängel der geschichtlichen Existenz versöhnend überdeckt und deshalb ihre feste Position in der Gesellschaft gewinnt. Der verschwiegene Bezug zur Praxis stellt sich hinterrücks wieder ein, jetzt allerdings von aller Kritik gereinigt.« Vgl. R. Grimminger, ebd., S. 177. - Wiewohl Grimminger die Gefahr ästhetischer und poetischer Abstraktion nicht ohne alles Recht bezeichnet und sie vor allem auch als Konsequenz der radikalen Gesellschaftskritik begreift, so kann doch von einem unvermittelten Gegenüber von Wirklichkeit und Kunst nicht in dem Sinne die Rede sein, der mit Begriffen wie dem vom »Zufluchtsort« letztlich nahegelegt wird. Vor allem die tragische Kunst will alles andere als der »falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen, verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Notwendigkeit einen Schleier wirft« einen Gefallen erweisen. Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW V, S. 806. - Auch zeigt die Schillersche Abhandlung über »Notwendige Grenzen beim Gebrauch schöner Formen«, daß Schönheit und ästhetische Praxis keineswegs »nicht mehr problematisiert werden« dürfen, im Gegenteil: Weil selbst die ästhetischen »Triebe [...] durch einen Anschein von Würde und durch eine angemaßte Autorität der Sittlichkeit
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Nur scheinbar paradox ist es, wenn der im Schatten der allgemeinen Entfremdung stehende ästhetische Absolutismus schon eine Anzeige seiner ihm eigenen Idee darstellt — denn auch wenn er die Realität der ästhetischen Wechselwirkung und der in ihr erst ästhetischen Subjektivität immer nur fordern, aber nicht eigens beweisen und demonstrieren kann, so ist er doch schon ein erster Versuch der Vernunft, über ihre allein nur moralische Konstitution und den durch den Wechsel der Moralität selbst verhängten Antagonismus der Kräfte hinauszugelangen, ein Versuch, welcher selbst noch auf die ihm eigene Naturgrundlage hin zu befragen wäre und diese erst im Begriff der sentimentalischen Sehnsucht verrät und enthüllt.74 Der ästhetische Absolutismus und seine Postulate sind daher auch alles andere als nur ein Durchgangsstadium auf dem Wege zu einer anthropologischen Ästhetik der Wechselwirkung und des in ihr erst gemeinschaftlichen und zugleich freien Spiels aller Kräfte, nicht nur, weil er schon das begriffliche Vorspiel der Freiheit ist, sondern vor allem auch deswegen, weil gerade der Kreis seiner Postulate an die unendliche Differenz von Idee und Erscheinung gemahnt und diese in kritischer Absicht festhält. Was Schiller vom schönen Schein sagt, gilt daher vor allem auch für den ästhetischen Absolutismus: Nur soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt), und nur soweit er selbständig ist (allen Beistand der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts anderes als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken und kann nichts für die Freiheit des Geistes beweisen. 75
Indem der ästhetische Absolutismus die Differenz von Idee und Erscheinung festhält, ist er nichts anderes als eine Funktion der Aufrichtigkeit des Schönen auch in der Sphäre der Ästhetik, welche die illusionär bleibende Verwechslung der ästhetischen und der politischen Sphäre ebenso kritisch unterläuft wie die illusionäre Apologie des ästhetischen Menschen angesichts der verzerrten und unfreien Welt des zum Extrem getriebenen Triebwiderstreits. Indem der ästhetische Absolutismus auf der Idee beharrt, beharrt er zugleich auf der Wirklichkeit der Erscheinung und dem notwendigen Zusammenhang von Wesen und Existenz, denn er selbst ist es, welcher Natur und Vernunft in den eigenen Postulaten zusammenhält und auf ihre Vereinigung drängt, eine Gestalt des Bewußt-
74 75
des Charakters gefahrlich werden können und unter der Maske von Unschuld, Adel und Reinigkeit eine weit schlimmere Tyrannei gegen den Willen ausüben« als selbst die noch rohen Triebe der bloßen Natur, bedürfen auch sie der notwendigen Kritik und Begrenzung. Vgl. Schiller, Notwendige Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: SW V, S. 689. Vgl. S. 375ff. dieser Arbeit. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 659.
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seins, welche im Maß der Entfremdung notwendig bleibt und diese als regulative Idee kritisiert, eine Gestalt aber auch, die darin gerade auch über sich selbst hinaus- und auf eine Gestalt der ästhetischen Wechselwirkung zutreibt, welche mehr ist als nur Postulat und regulative Idee. Der ästhetische Absolutismus ist daher eine notwendige und zugleich übergängliche Gestalt der ästhetischen Subjektivität, die sich in Schillers kritischer und transzendentaler Anthropologie und Ästhetik zu bestimmen versucht, notwendig zwar, aber nicht genug und damit auch nicht Schillers letztes Wort.
2. Anerkennung und wechselnde Form Mit dem Postulat einer ästhetischen Wechselwirkung von Stoff und Form verbindet der ästhetische Absolutismus einen ästhetischen Gehalt mit einer moralischen und daher auch notwendig geschichtsphilosophischen Form, welche zuletzt in der absoluten und unerforschlichen Einheit des transzendentalen Selbstbewußtseins gründet. Denn wo »der Gedanke einmal ausspricht: das ist, so entscheidet erfür immer und ewig, und die Gültigkeit seines Ausspruchs ist durch die Persönlichkeit selbst verbürgt, die allem Wechsel Trotz bietet«.16 Noch der ästhetisierte Formtrieb geht daher aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten.11
Von der sinnlich-vernünftigen Natur ist nicht die Rede, wohl aber vom absoluten Ich, das als Grund der ästhetischen Wechselwirkung in Anspruch genommen wird. Indem das transzendentale Selbstbewußtsein als Anlage der Persönlichkeit und als Grund der ästhetischen Wechselwirkung gilt, können moralische und ästhetische Tendenzen der Form auch in der geschichtsphilosophischen Perspektive einander ersetzen. Gegebene Anlagen lassen sich erziehen und bilden, und noch diese Bildung ist unendlicher Prozeß, weil alles in der Natur der allgemeinen Perfektibilität untersteht. An diesem Sinnschema, das mit langen Zeiträumen rechnet und den Sinn der unendlichen Zeit vertraut, partizipiert noch die »ästhetische Erziehung«, muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Mög76
77
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW λζ S. 606 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 605 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
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lichen) und absolute Einheit des Erscheinens (Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm (dem Menschen, U.T.) aufgetan in den Sinnen.78
Wo der Mensch »überhaupt nur anfängt, den Stoff der Gestalt vorzuziehen und an den Schein (den er aber dafür erkennen muß) Realität zu wagen, so ist sein tierischer Kreis aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet«.7' Auch der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist.80
Der moralische und ästhetische Gehalt des transzendentalen Formbegriffs sind in diesen Bestimmungen so miteinander verschmolzen, daß ihre jenseits von »Vernunft und Erfahrung« situierte und daher notwendig als Postulat und regulative Idee bestimmte Form scheinbar nur in einer Form gründen kann, die den ästhetischen Wechsel von Stoff und Form begründet, als Form aber nicht selbst in den Wechsel kommt und diesem entzogen bleibt. Was dem der durchgreifenden Entfremdung der modernen Welt ausgesetzten Künstler seine dämonische Natur ist, das ist dem ästhetischen Absolutismus des transzendentalen Weges das absolute Ich, eine Substanz, welche beharrt und in ihrer Beharrung als Grund ihres eigenen Wechsels fungiert, ohne doch selbst in den Wechsel zu kommen. Dies wäre nichts anderes als nur ein Widerspruch, wenn nicht der Formbegriff Schillers sich in eine absolute Form einerseits und in eine wechselnde und daher endliche Form andererseits spaltete, die der Idee der ästhetischen Wechselwirkung von Stoff und Form immerhin selbst zugrundeliegt. Die Reflexion der ästhetischen Wechselwirkung kann daher auch nicht nur in jener absoluten Form gründen, in welcher der Wechsel von Stoff und Form als eine in der regulativen Gestalt des Postulats entworfene Synthesis der entgegengesetzten Tendenzen verstanden ist, sondern zuletzt nur in einer Form, welche auch selbst in den Wechsel kommt und sich darin als Form erhält. Das zeigt schon die kritische Reflexion, die vom Wechsel der Form zur Welt der Erscheinung ausging und erst von ihm her die funktionale Optik begründete, in der die allein nur moralische Konstitution der Vernunft fragwürdig wurde. Der ästhetische Absolutismus ist daher auch keine 78 79 80
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 602. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 662. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 595 (Hervorhebungen von U. T.).
m
letzte Gestalt des ästhetischen Bewußtseins: Schon die wechselnde Form, welche den Übergang der Vernunft zur Welt der Erscheinung und das Verhältnis der Form zur Natur meint, setzt mehr voraus als nur das kritische Regulativ einer Wechselwirkung, die das Zurückbleiben der Erscheinung hinter der eigenen Idee als Schuld der Erscheinung verstünde, würde sich dies doch nur wenig von jener schon an der Kantischen Ethik kritisierten Form der moralischen Schuldzuweisung unterscheiden, in welcher die sinnliche Natur sich nur in der Rolle des ewigen Angeklagten befindet. Das Postulat ist schon als Postulat stets der Kläger, dem die Erscheinung zum Angeklagten wird. Zur Erscheinung gehört für Schiller jedoch auch die Vernunft, wenn sie nur zur Erscheinung übergeht und darin praktisch wird, keineswegs nur die Sinnlichkeit — folglich kann auch die Vernunft kritisiert werden, wenn sie nur wechselt und zur Erscheinung wird, folglich ist es auch der Kritik absolut notwendig, den Wechsel der Form zur Welt der Erscheinung zu fordern, um am Schnittpunkt von Natur und Vernunft auch die Vernunft zum Gegenstand der Kritik überhaupt machen zu können. Als kritische Idee ist die Idee der ästhetischen Wechselwirkung vor allem Kritik der Vernunft, als ästhetische Idee setzt sie dagegen eine Anerkennung von Natur und Erscheinung voraus, welche die noch moralisch geprägte Form des ästhetischen Postulats an Radikalität weit übertrifft. Der Absolutismus der Form als Substanz ist daher in Schillers Reflexionen der Wechselwirkung kaum mehr als nur eine transzendentale Marginalie, wenn er sich nur auf den Machtspruch der Vernunft stützt,81 ohne die Wechselwirkung von Stoff und Form auch in der Erscheinung zu gründen, es sei denn, die reine Form der Vernunft findet in der scheinbar nur heterogenen Naturwelt ihren eigenen Grund und ihre Bestimmung. Diese Aufgabe ist der Vernunft jedoch schon in der Kritik angewiesen und in der »vollständigen anthropologischen Schätzung« 82 der Kräfte bereits in Grundzügen entworfen, so daß die regulative Idee der ästhetischen Wechselwirkung als transzendentale Darstellung der schon in der Kritik bedeuteten Wechselwirkung von Stoff und Form gelten kann. Nicht die Idee der ästhetischen Wechselwirkung ist es, welche den Wechsel der Form und damit die Form des Wechsels begründet, sondern die wechselnde Form selbst ist der Grund ihrer transzendentalen Idee, eine Form, die zur Erscheinung wird und sich als Form darum erhält, weil sie sich nicht gegen Natur und Erscheinung konstituiert, sondern sich in der Naturwelt zu reflektieren und zu bestimmen versucht. Nicht die Vernunft, sondern nur die Natur der Vernunft ist der Grund, in welchem Vernunft erst Vernunft in jenem Sinne sein kann, in dem eine 81 82
Vgl. hierzu auch S. 417ff. dieser Arbeit. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung f...]. In: SW V, S. 577.
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stets endliche Vernunft sich der göttlichen überhaupt nur zu nähern vermag. Der ästhetische Absolutismus, der die Idee der ästhetischen Wechselwirkung als regulative Idee begreift, ist daher selbst nur der Ausdruck einer ästhetischen Wechselwirkung, die in seinem Postulat einer Gemeinschaft von Stoff- und Formtrieb selbst immer schon wirkt, weil die ästhetische Wechselwirkung zwischen Natur und Vernunft sich in der Erscheinung längst schon ereignet hat, dort, wo die Natur sinnlich und vernünftig zugleich ist, im endlichen Menschen selbst. In dem Maße, in dem schon die anthropologische Kritik von Moralität und Moderne im Prinzip einer »vollständigen anthropologischen Schätzung« der Kräfte beruht und in ihm die Rechte der Natur gegenüber den Anmaßungen einer absoluten Vernunft zur Geltung zu bringen sucht, kann schon die Kritik als Ausdruck einer Vernunftbewegung gedeutet werden, in der die Natur anerkannt und geschätzt ist und der Vernunft nicht nur gleichgeordnet, sondern sogar übergeordnet wird, wenn die endliche Welt der Erscheinung betroffen ist und zur Entscheidung steht. Schon die kritische Vernunft ist eine Gestalt der Versöhnung, obgleich sie gerade auch als Kritik ihre eigene Form immer erst suchen muß. Für die Rekonstruktion der ästhetischen Subjektivität bedeutet dies, daß das Problem der ästhetischen Wechselwirkung und ihrer anthropologischen Grundlage sich in die Frage nach einer allgemeinen Naturgrundlage der kritischen Vernunft verwandelt, welche zugleich als Naturgrund des Schönen und Guten gelten kann. Von der transzendentalen Vernunft allein ist diese Frage nicht mehr zu beantworten, zumal nicht nur die Idee, sondern weit mehr ihr Wechsel zur Welt der Erscheinung fragwürdig ist, also genau das, was schon die kritische Anthropologie Schillers ins Zentrum der Reflexion gerückt hatte. Nur in der kritischen Gestalt der Vernunft kann daher die Form der ästhetischen Subjektivität und ihr Naturgrund gesucht werden. Das Paradigma der kritischen Vernunft aber ist jene organische Wechselwirkung der Kräfte, in der die moralische Form zur Welt der Erscheinung übergeht und zur rohen Natur wird, zu einem Formlosen, das jede Aussicht auf Form zu versperren scheint. Wenn es allein nur der Widerstreit ist, der das Grundverhältnis von Stoff und Form regiert, ist auch die Idee einer ästhetischen Wechselwirkung und Form im Grunde nur eine ohnmächtige Illusion, nicht nur, weil Gesellschaft und Zeit der schönen Humanität nicht eben günstig sind, sondern vor allem auch deswegen, weil ein absoluter Antagonismus der Triebkräfte ihre Vereinigung und Versöhnung hintertreibt und daher auch die Idee einer schönen Humanität nur in jenes Postulat zurückzustellen droht, welches die Frage nach der Naturgrundlage des Schönen und Guten und damit die Frage nach einer Freiheit auch in der Erscheinung nicht zureichend beantworten kann. 279
Alle Reflexion auf die Naturgrundlage der Wechselwirkung und die Realität der ästhetischen Form ist damit erneut auf das Wechselverhältnis von Stoff und Form verwiesen, das nur den absoluten Widerstreit der menschlichen Triebtendenzen zu kennen scheint, weil die moralische Form sich nur über den absoluten Antagonismus der Triebtendenzen konstituiert und diesen daher auch in der Welt der Erscheinung immer nur perpetuieren kann. Der Absolutismus des Triebwiderstreits und die Idee einer schönen Humanität aber schließen sich aus. Die moralische Form und ihr Wechsel, welche bislang als einziges Paradigma einer Wechselwirkung in der Erscheinung gelten können, können daher nur dann zum Paradigma einer ästhetischen Wechselwirkung der Grundtriebe werden, wenn ihre Form sich ästhetisiert und diese Ästhetisierung zugleich auch den Antagonismus der Triebtendenzen relativiert, welcher der schönen Humanität notwendig entgegengesetzt bleibt. Die Idee der ästhetischen Wechselwirkung kann ihren Grund daher immer nur in einer Ästhetisierung der Moralität finden, in der der moralische Wechsel sich ästhetisiert und eine Form ausbilden kann, in der diese ihre nur feindliche Stellung der Natur gegenüber aufgibt und sich der Welt der Erscheinung zubildet. Einen ähnlichen, aber kaum so weit reichenden Formbegriff hatte selbst der ästhetische Absolutismus schon angedeutet — die Idee einer Form, welche nicht will, »daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sei«.83 Dieser Formbegriff entspricht schon einer Ästhetisierung der Form, die den gesetzlichen Imperativ zur moralischen Formgebung und Bestimmung bereits hinter sich gelassen hat, aber noch eine Idee ist, deren eigene Naturgrundlage noch immer zur Disposition steht. 84 Doch nicht nur ihre noch dunkle Naturgrundlage, die Ausgrenzung der gesetzlichen Moralität aus der Form und ihrer Idee selbst ist 83 84
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 607. Schillers in diesen und ähnlichen Bestimmungen artikulierter Formbegriff entspricht bereits einer Ästhetisierung der Vernunft aus der bewußten Beschränkung der Form heraus, welche die Freiheit der Formgestaltung für sich in Anspruch nimmt und in jenen Parallelismus von Natur und Freiheit zurückführt, welcher die einander entgegengesetzten Triebe von Stoff und Form in ein je eigenes Gebiet zurückstellt: »Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden kann.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 607A. - Das Setzen der Grenze und sein Resultat einer reinen Form auf der Vernunftseite scheinen ohne zureichenden Grund in der Natur zu bleiben und einem Akt der Vernunft zu entsprechen, der sich in der Autonomie der Freiheit und ihrer Selbstgesetzgebung vollzieht. Dieser Akt kann wohl zu einem ästhetisierten Vernunftbegriff führen, welcher im Reiche der Freiheit verbleibt und daher auch
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der Grund, welcher die Strategie der Ästhetisierung der Form zu einem zwar notwendigen, längst aber nicht hinreichenden Grund der ästhetischen Wechselwirkung macht. Ausdrücklich besteht die Idee der ästhetischen Wechselwirkung »nicht in der Ausschließunggewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller«}5 Die Ästhetisierung der Form ist der Moralität daher auch immer ein Zwang, welcher sie wider Willen begrenzt, der Idee der ästhetischen Wechselwirkung aber ein Widerspruch gegen das von ihr selbst angekündigte Versprechen einer Vereinigung ohne Verlust, es sei denn, die Moralität schriebe sich die in ihrem eigenen Wechsel zur Welt der Erscheinung erstehende Formlosigkeit selbst zu. Dagegen spricht aber nicht nur die Form der moralischen Schuldzuweisung, die in der Erscheinung allein die Ursache aller Formlosigkeit sieht, sondern das eigene Gesetz der Moralität selbst, der Antagonismus von Natur und Freiheit. Nicht ohne Recht sieht die Moralität in der Erscheinung den durchgehenden Antagonismus der Kräfte, den ewigen Widerstreit der Begierden und partikularen Interessen, in denen die subjektive Gesetzlosigkeit der Willkür sich einrichtet und zugleich jene grundsätzliche Bedürftigkeit eines endlichen Wesens bestätigt, in der dieses sich selbst zum Zwang des moralischen Gesetzes treibt, weil das Gesetz ihm immerhin Schutz vor den Übergriffen der anderen zu ver-
notwendig ohne jede Naturgrundlage zu sein scheint. Doch genau dieser Schein einer absoluten Autonomie der Selbstgesetzgebung ist es, den Schiller immer schon kritisiert hatte, insbesondere in seiner Kritik an der Kantischen Ethik. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, welcher sich allerdings aufklären läßt, wenn die rekonstruierende Interpretation der ästhetischen Subjektivität den ästhetischen Absolutismus, mit welchem der Parallelismus der Triebgebiete notwendig verbunden bleibt, nicht als Grund der ästhetischen Wechselwirkung, sondern diese vielmehr als Grund des ästhetischen Absolutismus zu deuten versucht. Der ästhetische Absolutismus ist dieser Idee seiner Deutung nach nicht der Grund, sondern vielmehr schon eine Folge der ästhetischen Wechselwirkung von Natur und Vernunft, in welcher sich der moralische Absolutismus ästhetisiert. N u r auf diese Weise kann endlich verhindert werden, daß die Ästhetik Schillers in eine Ästhetik des ästhetischen Absolutismus und in eine Ästhetik der ästhetischen Wechselwirkung zerfällt, eine Tendenz, die insbesondere von Hans-Georg Pott nahegelegt wird und von ihm unter anderem auch aus der nicht immer glücklichen und »latenten Verquickung von Kantischen und Fichteschen Denkfiguren« in Schillers »Ästhetischen Briefen« erklärt wird. Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 96. - Daß der ästhetische Absolutismus nicht nur in der Vernunft und im Sollen, sondern vielmehr schon selbst in einer ästhetischen Wechselwirkung von Natur und Vernunft gründet, bedarf jedoch immer auch eines Beweises, der Schillers Idee der ästhetischen Subjektivität in ihrem eigenen Naturgrund aufzusuchen bemüht ist, soweit dieser sich in den Begriffen und ihrer Konstellation selbst darstellt (und rekonstruieren läßt). 85
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 626.
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sprechen scheint. D e r N o t d u r f t der Materie u n d d e m blinden Streit der E l e m e n t e preisgegeben, treibt der M e n s c h der moralischen Form allererst zu, obgleich die Moralität den Zwang der N o t nur durch den Z w a n g des Gesetzes ersetzt und d e n physischen A n t a g o n i s m u s der E l e m e n t e z u m moralischen K a m p f der m e n s c h l i c h e n Triebtendenzen verinnerlicht. I m Inneren der m e n s c h l i c h e n Triebnatur verlängert die moralische Form des Gesetzes den äußeren A n t a g o n i s m u s der Kräfte aber nicht nur, weil die Natur der Erscheinung ihr als Grund allen Widerstreits erscheint u n d sie der eigenen Schuld a m A n t a g o n i s m u s der Kräfte nicht innewird, sondern vor allem auch deswegen, weil der Widerstreit der Tendenzen der Grund ihrer eigenen Konstitution ist, o h n e w e l c h e n die Moralität als gesetzliche Praxis zuletzt null u n d nichtig wäre. 86 D e r gute Wille, in w e l c h e m sie festgemacht ist, 87 kann der moralischen Form freilich nicht gänzlich abgesprochen werden. A u c h die Moralität hat ihr Pathos u n d ihre W ü r d e darin, daß sie eine Versöhnung v o n Glück-
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Der entscheidende Zusammenhang von physischer N o t und moralischer Notwendigkeit ist von Schiller systematisch nicht weiter ausgearbeitet worden, zumal es ihm weit mehr um jene Ästhetisierung der nur moralischen Form zu tun war, in welcher der Absolutismus der Moralität sich relativiert, und die ästhetisierte Form ihre Größe gerade darin findet, daß sie sich der endlichen Welt der Erscheinung immer schon zubildet und diese Welt nur in jenem äußersten Notfall zu transzendieren sucht, der in der Tragödie zum Gegenstand wird. Deswegen ist die Verschlingung von physischer Not und moralischer Notwendigkeit aber doch ein zentrales Moment einer Moralität, deren gesetzlicher Absolutismus in Ursprung und Resultat an den Antagonismus der Kräfte gebunden bleibt. Während Schiller das Resultat vor Augen hat und dies in der Idee einer organischen Nemesis zu erklären versucht, ist Hegel vor allem auch eine Reflexion des Ursprungs zu verdanken, die vom erscheinenden Widerspruch des moralischen Bewußtseins mit sich selbst ausgeht und die Reflexion seiner Wirkungen in der Erscheinung weiter vorantreibt. Nach Hegel ist vor allem die Vollendung der Moralität immer nur eine »Verstellung der Sache, denn in der Tat gäbe in ihr die Moralität selbst sich auf, denn sie ist nur Bewußtsein des absoluten Zwecks als des reinen, also im Gegensatze gegen alle andern Zwecke; sie ist ebenso die Tätigkeit dieses reinen Zwecks, als sie sich der Erhebung über die Sinnlichkeit, der Einmischung derselben und ihres Gegensatzes und Kampfes mit ihr bewußt ist. - Daß es mit der moralischen Vollendung nicht Emst ist, spricht das Bewußtsein unmittelbar selbst darin aus, daß es sie in die Unendlichkeit hinaus verstellt, d. h. sie als niemals vollendet behauptet. Vielmehr ist ihm also nur dieser Zwischenzustand der Nichtvollendung das Gältige, - ein Zustand, der aber doch ein Fortschreiten zur Vollendung wenigstens sein soll. Allein er kann auch dies nicht sein; denn das Fortschreiten in der Moralität wäre vielmehr ein Zugang zum Untergang derselben.« Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 439 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. hierzu auch S. 279ff. dieser Arbeit.
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Vgl. hierzu vor allem auch die berühmte Bestimmung des guten Willens zu Anfang von Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 393ff.
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Seligkeit und Vollkommenheit als höchstes Gut zu verwirklichen sucht. Das höchste Gut aber ist nicht ihr Gesetz, sondern allein nur das zwanghafte Sollen, welches den Menschen aus der Natur zu befreien und ihn zum Reich der Idee zu führen versucht, nur um ihn noch tiefer in jenen Antagonismus der Triebtendenzen zu stürzen, in welchem sich seine Menschheit verwirrt und verliert. Eine dem Widerstreit der äußeren und inneren Kräfte preisgegebene Erscheinung, die das Bedürfnis treibt und die Hoffnung auf eine Wendung der eigenen Not, glaubt den Versprechungen der Moralität indessen nur allzu gern, obgleich es nicht sittliche Freiheit ist, welche sich im Gesetz des moralischen Sollens verwirklicht, sondern nur die im Antagonismus des Sollens verlängerte Not der Erscheinung und ihre Bedürftigkeit. Die Bedürftigkeit der menschlichen Natur und der geschichtlichen Erscheinung kann daher nicht nur als Grund der Moralität, sondern zugleich als ihr geheimes Subjekt gelten, denn physische Not, die in moralische Notwendigkeit übergeht, ist Usurpation der Form durch den Stoff, moralische Notwendigkeit aber, die in physische und psychische Not übergeht, ist Usurpation des Stoffes durch Form, in der Konsequenz jene Barbarei, die den Antagonismus der Triebkräfte ins äußerste Extrem treibt und als deren Subjekt die verhängnisvolle Verschlingung der physischen Not und der moralischen Notwendigkeit bestimmt werden kann. Die Moralität ist so in den Antagonismus der Triebkräfte nicht nur hineinverwebt, sondern sein eigentliches Subjekt, denn obgleich sie sich dazu berufen glaubt, den Widerstreit der Erscheinung zu lindern und endlich zu heilen, so ist sie doch selbst eine Gestalt des menschlichen Bewußtseins, die den Antagonismus der Kräfte nicht nur nicht heilt, sondern ihn vielmehr erst auf seine äußerste Spitze treibt, mithin also selbst ein antagonistisches Prinzip des menschlichen Daseins und damit das, was nicht zuletzt die Struktur von Schillers Tragödie zuinnerst bestimmt — eine Form des Erhabenen. 88 Als Ausdruck des Widerstreits in Natur und Geschichte bleibt das moralische Bewußtsein noch gegen den eigenen Willen auch an den Antagonismus der Kräfte gebunden, den es doch schlichten und endlich 88
Auf den Zusammenhang von Schillers ästhetischen Schriften mit seiner Theorie des Pathetischerhabenen und der poetischen Ausgestaltung des Tragischen in den Tragödien der klassischen Zeit kann an dieser Stelle nicht eigens eingegangen werden, weil dies nur der Gegenstand einer ganz eigenen Arbeit sein könnte. Immerhin ist der Zusammenhang von Schillers Geschichtsverständnis und seiner Theorie des Erhabenen und des Tragischen schon in den repräsentativen Deutungen von Schillers Tragödien bei Benno von Wiese nachhaltig dokumentiert, auf die hier zumindest verwiesen sein soll. Vgl. B. v. Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, S. 206ff., 212f., 217ff., 267f. - Zu Schillers Theorie des Tragischen und der Tragödie vgl. vor allem: K. L. Berghahn, »Das Pathetischerhabene«. Schillers Dramentheorie.
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versöhnen will. Der Widerstreit bringt das moralische Gesetz, das moralische Gesetz bringt den Widerstreit immer neu hervor, indem es als Imperativ zur Erscheinung wird und in der menschlichen Triebnatur und der geschichtlichen Welt überhaupt den gleichen Antagonismus perpetuiert, der schon am Ursprung des moralischen Sollens liegt. In ihrer Entwicklung und ihrer Funktion erscheint die Moralität daher als eine fortlaufende Kette sich stets erneuernder Antagonismen, als ein durch die Not der Erscheinung eröffneter und in der Rache der Natur sich endlich schließender Kreis des ewigen Triebwiderstreits und der Zerrissenheit, als Geist, welcher verhängnisvoll zur Natur wird, als Natur, welche sich zum moralischen Geiste getrieben sieht und durch das imperative Gesetz der Moralität und seines Wechsels dazu verurteilt wird, das zu bleiben, was sie stets war — unter das Joch des Widerstreits gebeugte Erscheinung. Tragische Züge sind in dieser Dynamik kaum mehr zu verkennen, 89 allen voran der von Schiller selbst mit Betroffenheit und Irritation festgehaltene Umschlag der moralischen Form in die Formlosigkeit barbarisierter Natur, welcher stets unfreiwillig erfolgt und den guten Willen in seiner Begegnung mit der geschichtlichen Welt in Böses verkehrt. Hinzu kommt, daß mit der moralischen Vernunft als Prinzip der geschichtlichen Bewegung und ihres Fortschritts zugleich auch das Verhältnis von Natur und Freiheit sich in einem seltsamen Zwielicht zeigt, das von Schiller nur indirekt angezeigt wird und daher auch nur in der Gestalt notwendig hypothetisch bleibenden Reflexion näher bezeichnet werden kann. Folgt man dem noch weitgehend im Geiste der Aufklärung und der Kantischen Geschichtsphilosophie stehenden Versuch über die erste Menschengesellschaft, so zeigt sich das mit dem Sündenfall in die Welt kommende und die Geschichte als eine Geschichte der Freiheit erst eigentlich gründende Prinzip der moralischen Vernunft als ein Geschick der Natur, das auf der vorrevolutionären Stufe der Reflexion von Schiller noch mit ganz ungebrochenem Vertrauen auf den geschichtlichen Fortschritt gefeiert werden konnte. Wo der Sündenfall als »die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte« gilt, ist die mah89
Auf tragische Elemente der absoluten Moralität hat die hier vorgelegte Untersuchung bereits in mehrfacher Weise schon hingewiesen (vgl. hierzu insbesondere S. 127ff.), ohne daß damit allerdings schon behauptet sein sollte, daß die absolute Moralität für Schiller ein tragisches Daseinsprinzip repräsentiere. Deswegen aber sind tragische Züge an ihr doch nicht zu verkennen, allen voran der unfreiwillige Umschlag der moralischen Form in die Formlosigkeit der barbarisierten Natur, geht doch in dieser zuletzt alles verloren, was immer der Formtrieb erstrebt - Wahrheit und Vollkommenheit, Erkenntnis und das, was auch der moralischen Form das höchste Gut ist, die Einheit des Guten und Schönen.
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nende Stimme des »Volkslehrers« übertäubt, welche in ihm die wesentliche Ursache dafür sah, daß »aus einem unschuldigen Geschöpf ein schuldiges, aus einem vollkommenen Zögling der Natur ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem glücklichen Instrument ein unglücklicher Künstler« wurde.90 Dem eigenen Optimismus zum Trotz ist damit aber auch schon im aufgeklärten Mythos vom Sündenfall eine Gleichursprünglichkeit von Schuld und Freiheit gesetzt, die das verdeckte Gespenst und zugleich das Gewissen aller geschichtlichen Vernunftgestaltung bleibt, ein mitwandernder Schatten gleichsam, der allen Fortschritt auf seinem Wege begleitet und im Scheitern der Französischen Revolution und der sie tragenden Aufklärungsbewegung erneut zum Bewußtsein drängt.91 Das Scheitern und die von ihm ausgehende Irritation spricht nun dringlicher und mit weit mehr Überzeugungskraft zum bedrängten Herzen des Menschen als alle nur dialektischen Kunstfertigkeiten der Aufklärungsphilosophie. Was vormals von Fortschritt zeugen sollte, wird jetzt auch für Schiller zu jenem pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal (ringenden) Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt und die tragische Kunst nachahmend vor unsre Augen stellt,92
Der verwendete Nachahmungsbegriff schon zeigt an, daß es Schiller keineswegs nur um die Tragödie als Gattung, sondern immer auch um das Problem der moralischen Idee am Schnittpunkt von Natur und Geschichte geht, ein Problem, das sich in dem Maße verschärft, in dem die moralische Idee und ihr absoluter Anspruch auf die Erscheinung selbst zweifelhaft
90
Vgl. Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft [...]. In: SWIV, S. 769. " Die Gleichursprünglichkeit von Schuld und Freiheit, welche schon dem Versuch über die erste Menschengesellschaft zugrundeliegt, ist von Schiller später zwar nicht mehr eigens thematisiert worden; gleichwohl aber ist sie die systematische Voraussetzung dafür, daß die gesamte Kultur unter jener entscheidenden Perspektive der Scham wahrgenommen und reflektiert werden kann, die in Schillers späterer Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« als Ursprung der sentimentalischen Empfindung und Reflexion gilt und das zentrale Element in der Definition des Naiven bildet, sein eigentliches Definiens. Vgl. hierzu auch S. 385ff. dieser Arbeit. - Das im Versuch über die erste Menschengesellschaft nur indirekt zu erschließende und nicht weiter verfolgte Theorem einer Gleichursprünglichkeit von Schuld und Freiheit ist daher auch kein nur negatives Phänomen, vor allem kein Element einer nur skeptischen und pessimistischen Geschichtsbetrachtung, sondern weit mehr das genaue Gegenteil, das Gewissen der Vernunft und ihres geschichtlichen Fortschritts, das die nur moralische Konstitution der Vernunft auf das Ideal einer noch in den eigenen Willen mit aufgenommenen Natur hin durchbricht. 92 Vgl. Schiller, Über das Erhabene. In: SW \ S. 806 (Hervorhebungen von U. T.).
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werden. Mit dem Prinzip der moralischen Vernunft und seinem geschichtlichen Scheitern rücken jedoch auch Natur und Geschichte in ein irritierendes Zwielicht, in dem sie so frag-würdig werden wie vormals der Gott in der Theodizee. Die Irritation besteht nicht einfach nur darin, daß die Freiheit sich in der unvordenklichen Zeit des menschlichen Sündenfalls vom Schoß der Natur losriß und sich auf jenen aufrechten Gang schickte, welcher trotz all seiner Mühsal der Bestimmung des Menschen durchaus entspricht, sondern weit mehr darin, daß Schuld und Freiheit dem Plan einer »Vorsehung« entsprechen, die nicht mehr im unergründlichen Ratschluß des Gottes ruht, sondern dort, wo der Gott kaum mehr ist als das Paradigma eines selbstgenügsamen Instinkts, auch als Naturbestimmung zu deuten ist,93 auf deren Rätsel die aufgeklärte Geschichtsphilosophie zu antworten sucht, wenn nicht mehr die Rechtfertigung Gottes, sondern die Rechtfertigung des Menschen und seiner Freiheit das die Selbstreflexion leitende Problem ist. Natur und Freiheit haben in der zur Geschichtsphilosophie säkularisierten Theologie die Position eingenommen, die vormals dem Gotte gebührte. Das Problem der Theodizee ist daher auch in der aufgeklärten Geschichtsphilosophie als Problem eines rätselhaften Zusammenhangs von Natur und Freiheit gestellt, der schon von Kant als ein der Vernunft nur schwer lösbares Rätsel einbekannt wird.94 Selbst die 93
94
In ihrem Kommentar zur »Nationalausgabe« halten Benno von Wiese und Helmut Koopmann dafür, daß die Natur von Schiller »erst in der Schrift >Über naive und sentimentalische Dichtung< als jene Einheit, als w a h r e Natur< verstanden wird, die die einander entgegengesetzten Prinzipien des Geistigen und Sinnlichen, der Idee und der Wirklichkeit (Wirklichkeit im engeren, endlich begrenzten Sinn) in einem geschichtlichen Prozeß aus sich entläßt.« Vgl. Schillers Werke, Nationalausgabe, Einundzwanzigster Band: Philosophische Schriften, Zweiter Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann herausgegeben von Benno von Wiese, S. 292. - Die Natur ist daher im strengen Verstände das eigentliche Subjekt auch des geschichtlichen Prozesses; denn wenn sie mit der menschlichen Vernunft auch eine Kraft aus sich entläßt, welche sie selbst transzendieren und aufheben kann, so bleibt sie in der Gestalt der Sinnlichkeit in der Geschichte doch gegenwärtig, indem sie selbst die enteilende und die Natur transzendierende Form der Vernunft auf sich zurücklenkt. Als Ursprung von Sinnlichkeit und Vernunft aber war die Natur auch schon in Schillers aufgeklärtem Versuch über die erste Menschengesellschaft gesetzt, was vor allem der hier schon gleich zu Beginn erwähnte Begriff der Vorsehung deutlich macht, der von religiösen und theologischen Implikaten ganz frei ist. Vgl. Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft [...]. In: S W I V S. 767. Der geschichtliche Aspekt auch der Natur ist von Schiller indessen auf dieser frühen Stufe der Natur- und Geschichtsreflexion noch nicht eigens erörtert worden, so daß dieser in der Tat erst mit der relativ späten Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« deutlicher wird. Schon das geschichtsphilosophische Problem eines Fortschreitens der Gattung auf Kosten des Individuums entspricht in der Kantischen Reflexion von Natur
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Freiheit, die der Natur gegenüber doch das eigentlich transzendierende Prinzip darstellt, erweist sich als integraler Bestandteil einer Natur, die so allumfassend und rätselhaft wird wie vormals der Gott. Aller Widerspruch im geschichtlichen Verhältnis von Natur und Erscheinung ist damit zum Ausdruck des ungleich tieferen Rätsels geworden, das in der Natur selbst beschlossen liegt und das die Natur nur deswegen aus sich herauszutreiben scheint, um sich im Rätsel der Freiheit zu verhüllen. A u c h die geschichtliche Freiheit ist Rätsel und Aufgabe zugleich, denn indem die menschlichen Grundtriebe v o n Stoff und F o r m sich entwikkeln und ihre Bestimmung in ihrer maximalen Entfaltung erfüllen, k o m m t es nicht nur zu jener Trennung der Anlagen, mit der die geheimnisvolle Zwischenwelt der klassischen Antike zugrundegeht, sondern endlich auch zu jener problematischen Umkehrung ihres Verhältnisses, welche Usurpation und äußerster Antagonismus zugleich ist und — vor allem auch wegen ihrer verheerenden Folgen — als naturwidrig gilt. Die
und Geschichte einem Plan der Natur, den die vernünftige Reflexion nur »befremdend« und »rätselhaft« finden kann, so daß sich sogleich auch das klassische Problem der Theodizee in einer ganz neuen Weise stellt, nämlich als Frage nach einer Rechtfertigung der Natur angesichts der unleugbaren Übel in der geschichtlichen Welt. »Eine solche Rechtfertigung der Natur - oder besser der Vorsehung - ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft's, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem den Zweck enthält - die Geschichte des menschlichen Geschlechts - , ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?« Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 8,19f. Solche und ähnliche Fragen, auf die es noch keine zureichende Antwort zu geben scheint, vermögen zu zeigen, daß auch die in der Kantischen Geschichtsphilosophie vorgetragenen Reflexionen des Ursprungs und des Zusammenhangs von Natur und Freiheit nicht frei von jedem Hinweis auf den durchaus rätselhaften Charakter von Natur und Geschichte sind. Mit ihm geht die moralische Verzweiflung einher, die sogleich auch nach einer theodizeeischen Rechtfertigung verlangt und sich in der für Kant charakteristischen Weise nicht auf die Vernunft, sondern nur auf die Natur bezieht - obgleich auch für Kant zuletzt nur die Geschichte der Freiheit und der in ihr durch Vernunft allein mögliche Fortschritt eine Rechtfertigung der Opfer in jener säkularen Form erlauben, in der die Geschichtsphilosophie überhaupt Theodizee sein kann. Vgl. hierzu und zu den problematischen Folgelasten der Säkularisierung der klassischen Theodizee-Frage zur geschichtsphilosophischen Reflexion einer nur menschlichen Bestimmung vor allem auch: O. Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Ο. M.: Abschied vom Prinzipiellen, S. 39ff.
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Problematik des Antagonismus sowohl in der menschlichen Triebnatur als auch in der geschichtlichen Welt der Erscheinung besteht daher stets auch als Rätsel seines eigenen Ursprungs in einer Freiheit, welche selbst ein Geschick der Natur ist und selbst dort zur Natur zu gehören scheint, wo sie sich von der Natur losreißt und diese nicht nur transzendiert, sondern verletzt und verstümmelt. 95 Natur und Freiheit sind derart mit95
Schon wegen des Opfers der Individuen zugunsten eines Fortschritts der Gattung, welcher nicht nur zweifelhaft ist, sondern im Grunde auch nicht mehr stattfinden kann, wenn alles Besondere unter ihm nur zertreten wird - schon deswegen m u ß es für Schiller »falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V S. 588 (Hervorhebungen von U. T.). Nirgendwo wohl wird Schillers eigene Unsicherheit dem »Gesetz der Natur« gegenüber deutlicher als hier, wo immerhin auch der Möglichkeit Raum gegeben wird, daß der absolute Antagonismus der menschlichen Grundkräfte dem »Gesetz der Natur« selbst entspringen könnte, so daß auch der Absolutismus derMoralität nur ein fundamentales »Gesetz der Natur« vollstreckte, durch welches das Opfer der Individuen und das der gesamten Totalität überhaupt notwendig schiene. Diese Möglichkeit wird von Schiller zwar nicht weiter verfolgt, da sie wohl kaum seiner eigenen Position entsprochen hätte, aber immerhin von ihm als Möglichkeit eingeräumt und nicht widerlegt. Dies ist jedoch ebensowenig möglich wie der positive Beweis. Das »Gesetz der Natur« bleibt daher notwendig im Zwielicht und ist deswegen gerade auch offen, weil zu ihm immerhin auch die von der Natur selbst eingeräumte Möglichkeit einer freien Revolte gehört, die dem Gesetz die Anerkennung selbst dann noch verweigern kann, wenn dieses tatsächlich auch absolut gültig wäre. Doch darüber läßt sich ebensowenig entscheiden wie über den Ursprung der menschlichen Freiheit und ihre Rolle in der geschichtlichen S elbstbestimmung des Menschen. Das Zwielicht ist demnach zwar da, doch die von ihm eingeräumten geschichtlichen Möglichkeiten sind offen und bleiben es, weil dieses Zwielicht doch immerhin zeigt, daß das »Gesetz der Natur« stets vieldeutig und rätselhaft ist und dadurch, daß es verschieden gedeutet und interpretiert werden kann, auch keine all seiner möglichen Auslegungen allein favorisiert. Ohnehin ist die Natur immer vielgestaltig. Schon ihre organischen Produkte zeigen Einheit in der Mannigfaltigkeit, eine Harmonie zwischen dem Einzelnen und dem ihm zugehörigen Ganzen, welche auf das genaue Gegenteil eines nur absoluten Widerstreits aller Kräfte zu deuten scheint und daher auch als Symbol der menschlichen Bestimmung gedeutet zu werden vermag. Dies aber kann immer nur aufgrund des durchgehenden Rätselcharakters der Natur in ihrer Ganzheit geschehen, immer nur in ihrer Verhüllung und ihrem Entzüge, der die Voraussetzung für Gutes und Schlechtes ist, für den absoluten Triebwiderstreit sowohl als auch für seine Ästhetisierung und seine Versöhnung nach einem Maße, welches dem endlichen Wesen des Menschen angemessen ist. Der Entzugs- und Rätselcharakter der Natur ist daher auch eine entscheidende Voraussetzung menschlicher Freiheit. Vgl. hierzu vor allem auch S. 355ff., 391f., 421ff. dieser Arbeit.
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einander verschlungen, daß das Problem der Moralität und ihres Wechsels zuletzt auf das Problem ihres eigenen Ursprungs verweist, welcher Natur und Freiheit als widerstreitende Elemente einer in sich verrätselten und unergründlich bleibenden Ganzheit zueinanderhält. Selbst die moralische Notwendigkeit und ihr strenges Gesetz scheinen daher noch einer Notwendigkeit der Natur zu entsprechen, die ohne tiefgreifende Verletzung der Natur nicht getilgt werden kann, es sei denn, die moralische Form strebte von sich aus nicht nur zu jener absoluten Herrschaft über Natur und Geschichte, in welcher sie selbst zur Erscheinung wird, sondern immer auch zu jener Ästhetisierung von Stoff und Form, die der ästhetische Absolutismus immer schon forderte. Die Natur ist zum tiefsten Rätsel der Freiheit, die Freiheit zum tiefsten Rätsel der Natur geworden, und kein Gott vermag darauf zu antworten, allein nur der in das Rätsel seines eigenen Ursprungs und seiner Bestimmung hineingestellte geschichtliche Mensch. Das über dem Ursprung der Vernunft in der Natur liegende Zwielicht und der durch den moralischen Absolutismus ins äußerste Extrem getriebene Antagonismus der Triebe und Kräfte ist der rätselhafte und in einem letzten Sinn unverfügbare Grund, in den die Bestimmung des Menschen zur Freiheit notwendig hineingestellt bleibt. Die Unverfügbarkeit ihres Grundes, die schon in der kritischen Philosophie Kants die Idee der Freiheit erst eigentlich ausmachte, mag auch ein Grund dafür gewesen sein, daß Schillers Reflexionen der Freiheit in ihrem Verhältnis zur großen Natur sich nicht in jenen nur metaphysischen Reflexionen über den Ursprung verloren haben, die zu theologischen Spekulationen verführt und Schillers noch immer aufgeklärt-säkularisierter Optik wohl kaum mehr entsprochen hätten. Das im Verhältnis von Natur und Vernunft aufscheinende Zwielicht scheint sich ohnehin auflösen zu lassen, denn in dem Maße, in dem die Freiheit sich als ein Geschick der Natur erweist, zeigt auch die Zusammengehörigkeit von Natur und Vernunft sich als das ursprüngliche Wesen der Freiheit. Die nur kurze Spekulation über den Ursprung der Freiheit hat immerhin doch das Resultat, daß selbst die Rache der Natur, die das sittliche Bewußtsein nachhaltig irritiert, nun auch als positives Phänomen verstanden und interpretiert werden kann, weil die Natur die ihr enteilende und sie verletzende Vernunft in der Rache zu sich zurückruft und darin nachdrücklich unterstreicht, daß Natur und Vernunft einander gehören. Gleichwohl setzt die Rache der Natur eine Vernunft voraus, die die Natur verletzt und gleichsam vergewaltigt, einen Absolutismus der Moralität, der vor der Natur nicht bestehen kann, aber doch längst schon geschichtliche Wirklichkeit ist. Das Faktum der absoluten Moralität und ihrer absolutistischen Usurpation der Erscheinung zeugt daher auch von 289
einer Vernunft, die in der Bestimmung des Menschen auch dann vorgesehen zu sein scheint, wenn sie mit der Natur auch sich selbst verletzt und zerstört. Der Ursprung des absolut bleibenden Triebwiderstreits und seiner Inszenierung durch den Absolutismus der nur moralischen Form bleibt daher ebenso zweideutig wie die Möglichkeit einer Form jenseits der nur absoluten Moralität. D a s Problem der Moralität besteht somit darin, daß die Möglichkeit einer ästhetisierten Form, die der Natur zugebildet ist und auf der Erkenntnis der wesentlichen Zusammengehörigkeit von Natur und Vernunft beruht, zwar im Einklang mit dem Naturbegriff gedacht und postuliert werden kann, doch durch die Rache der Natur, welche auf die Zusammengehörigkeit von Natur und Vernunft verweist, auch wieder zunichte gemacht wird. Ein ästhetisierter Vernunftbegriff ist immer nur dann eine reale Möglichkeit, wenn die moralische Form dem Menschen nicht länger mehr das entscheidende Hindernis der »totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise (ist), ohne welche er auch nicht einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde«. 9 6 Die geschichtliche Wirklichkeit der Erscheinung und der vom gesetzlichen Absolutismus der Moralität entfachte und unterhaltene »Elementenstreit in dem ethischen Menschen« entsprechen dem jedoch nicht, weil der moralische Absolutismus sich selbst absolut dünkt und die von ihm selbst inszenierte und noch gesteigerte Entfremdung und Verwilderung der Moderne als weiteres Argument gegen die widerständige Welt von Natur und Erscheinung verwenden kann. Die Ästhetisierung der Moralität, die in Schillers Kritik immer schon angestrebt ist und als der entscheidende Grund des Schönen und Guten gelten kann, kann daher auch nicht von der moralischen Form und ihrem Bewußtsein allein ausgehen, sondern immer nur von der in ihr eingezwängten und unterdrückten Natur. Doch in dem Maße, in dem die Natur von der Entfremdung selbst betroffen und angegriffen ist, in dem Maße, in dem sie durch die gänzlich auflösende und zersplitternde Kultur der Moderne so sehr verstümmelt ist, daß die Menschen nur noch »verkrüppelten Gewächsen« gleichen, 97 ist die Möglichkeit einer Versöhnung auch von der Natur allein kaum mehr zu erwarten. In »Schillers Antagonismus-Lehre eine säkularisierte Tragödien-Theorie« zu vermuten, macht Wolfang J a n k e darum auch alle Ehre, 9 8 weil die Tragik der Tragödie von genau jenem Widerstreit der menschlichen Triebkräfte zeugt, den noch in der Geschichte zu schlichten und zu versöhnen für Schiller die höchste Aufgabe der menschlichen Kultur bleibt. Die tra96 97 98
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: S W V, S. 662. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: S W V, S. 582f. Vgl. W Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 259A.
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gischen Motive beschränken sich daher nicht nur auf die Theorie einer Gattung allein. Der hervorragenden Deutung Jankes folgend, ist die »freie Übertretung der Natur«, in der die Grundtriebe von Stoff und Form »sich selbst mißverstehen und ihre Sphäre verwirren«," letztlich »von der Art der Hamartie, des tragischen Versehens«. Der erste Fall tragischer Verfehlung entsteht, wenn der Mensch dem sinnlichen Trieb unbedingt folgt und, verzweifelnd an der Realität der Ideen, die Setzung der Zeit für alle Gebiete verbindlich erklärt und in seinem Handeln ausschließlich der Verlockung des Jetzt und dem Gebot der weltgeschichtlichen Situation folgt. Dadurch, daß die Welt die Person unterdrückt und die Zeit die Ideen verrät, wird die Möglichkeit menschlicher Existenz zunichte, nicht so, daß die verratenen Ideen sich rächen (oder der Mensch seine theodizeeische Rechtfertigung des Ewigen durch seinen freiwilligen Untergang vorwegnimmt), sondern so, daß der Mensch die Welt und das Reich der Zeit, die er doch für die absolute Sphäre der Menschheit erklärt, nicht haben und nicht behalten kann. Die mächtig fordernde Weltzeit nämlich ist nicht Objektfür ein Subjekt, sondern Macht, die sich in der Ohnmacht der Persönlichkeit manifestiert [... ] Im zweiten Falle tragischen Untergangs vermißt sich der Mensch an der Unbedingtheit des Formtriebes. Der Formtrieb dringt auf Wahrheit und Recht. Wird dieses Streben absolut gesetzt, dann überfordert es im Namen von Ideen die Zeit. Indem es die Schranken der Gegenwart und die begrenzenden Weltumstände leugnet, verletzt es gewaltsam die Wirklichkeit, deren Wandel sich ewigen Notwendigkeiten nicht fügt [... ] Der Wille, das Reich der Ideen absolut durchzusetzen, führt in die Katastrophe [... ] Mit der Aufhebung der Zeit vergeht auch die Idee oder das Allzeitliche. Mithin geschieht dieses Scheitern nicht so, daß die Wirklichkeit und die Zeit aufstehen und den maßlosen Anspruch der Ideen zurück- und niederschlagen, weil die Enge der Welt die Weite des Gedankens nicht aufnimmt, sondern so, daß die Idee, indem sie darauf aus ist, ihren Gegensatz, das wirkliche Reich derZeit, zu negieren, seihst unwirklich wird.m
Obgleich Wolfgang Janke eine Rache der Natur nicht anerkennen will und den Absolutismus der Form nicht als moralischen interpretiert, eine bessere Darstellung des moralischen Wechsels und seiner Formlosigkeit ist vor allem deswegen kaum mehr zu denken, weil die tragische hamartia der Usurpation hier als höchst vermitteltes und komplexes Phänomen erscheint, indem sich die Usurpation der Form durch den Stoff als Folge der weitaus folgenreicheren Usurpation der Natur durch den Absolutismus der nur moralischen Form und deren Übergang in die eigene Formlosigkeit darstellt.101 Wo die Usurpation durch den Stoff immer erst dann 99 100
101
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V S. 607. Vgl. W Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 244 (Hervorhebungen von U. T.). Die Antagonismus-Lehre ist eine wesentliche Crux aller Schiller-Interpretation, zumal dann, wenn das Freiheitsproblem nicht einfach nur durch neu gesetzte Anlagen und ihnen entsprechende Postulate gelöst werden soll. Mit der bloßen Setzung ist nichts gelehrt und nichts gelernt und das eigentlich brennende Problem, um das alle Reflexionen Schillers in immer neuen Varia-
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erfolgt, wenn die menschliche Existenz durch das Stadium einer vollk o m m e n e n Verzweiflung an der Realität der Ideen hindurchgegangen und an eigener Menschheit irre geworden ist, wird der moralische Wechsel zur eigentlichen Ursache aller Formen der sinnlichen Revolte, unter denen sich auch die Vorformen jenes v o n der verletzten Natur selbst ausgehenden Widerstandes finden, in welchem die nur moralische Form einer Ästhetisierung zutreiben könnte, in der sie sich selbst als Form überhaupt erst verwirklicht. N u r die rigoristische Selbstverhärtung geht den Weg der Moralität bis z u m Ende, ein Weg, der nur in der Vervielfältigung des Barbarischen bestehen kann, es sei denn, eine misanthropische Verachtung und religiös inspirierte Verehrung einer moralischen Gottheit bringen die unheilvolle Bewegung zum melancholischen Stillstand. Die sinnliche Usurpation aber ist in sich vermittelt, eine Reaktion a u f das Scheitern der Moralität und ihre Formlosigkeit und daher der Ausdruck eines gescheiterten guten Willens, der in bloße Natur umgeschlagen ist. Die erste Gestalt der umgeschlagenen Moralität ist nicht schon die Barbarei, sondern die Eudämonie, 1 0 2 die sich durch das Scheitern der tionen kreisen, der wirkliche Beweis für die »Vereinbarkeit beider Naturen, die Ausführbarkeit des Unendlichen in der Endlichkeit« schon im Grunde übersprungen. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: SW Y S. 654. Die herausragende Ausnahme ist Wolfgangjanke, denn er allein stellt Schillers Antagonismus-Lehre in jenes seltsame und irritierende Zwielicht zwischen Natur und Freiheit, das im Gegeneinander von Stoff und Form und im Problem der Wechselwirkung allererst sinnvoll reflektiert werden kann. Doch selbst Jankes Deutung bleibt insofern noch im Abstrakten, als sie das FormProblem nicht als Problem der Moralität versteht und damit auch den Konstruktivismus des »transzendentalen Weges« im Grunde nur reproduzieren kann. Aber was ist denn nun eigentlich die problematische Form, die sich durch ihren eigenen Absolutismus in Formlosigkeit und Nullität verwandelt sieht? Hat Schiller denn nur ein Gespenst kritisiert, das in den zeitgenössischen Denkformen ohne Basis und Realität geblieben ist? Was eigentlich ist denn das reale Fundament, das der Kritik an der leeren Form zugrundeliegen soll, wenn nicht die Form der Moralität, verstanden als nur befehlendes und damit abstraktes Gesetz, das unsichtbar seinen Spuk treibt und die »Kinder des Hauses« stets neu bedrängt und erschreckt?! Nur wenn das Gesetz bloßes Gesetz bliebe und nicht in Erscheinung überginge, wäre das Gesetz wirklich auch Repräsentant einer reinen Form, doch dann wäre es nicht mehr Gesetz und schon gar nichts mehr, an dem der endliche Mensch je in jene Verzweiflung stürzen könnte, die Janke selbst so eindringlich als Folge der scheiternden Idee begreift. 102
Daß die Eudämonie nicht nur als gleichsam unvermittelte, durch ausgebildeten Verstand nur mit höchster Raffinesse verwaltete und auf die Spitze getriebene Natur, sondern mit gleichem Recht auch als Frucht einer Vernunft verstanden wird, die sich aus der Verzweiflung über die eigene Formlosigkeit »in ihrem Gegenstand vergreift und ihren Imperativ unmittelbar auf den Stoff anwendet« (vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: SW V S. 648) -
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moralischen Idee von deren Sinnlosigkeit überzeugt sieht und höchstem Genuß allein sich verpflichtet weiß. Mit ihr bricht nach Schiller aber schon »furchtbarste Knechtschaft« über den Menschen herein; denn der nämliche Trieb, der ihn, auf sein Denken und Tun angewendet, zur Wahrheit und Moralität führen sollte, bringt jetzt, auf sein Leiden und Empfinden bezogen, nichts als ein unbegrenztes Verlangen hervor. Die ersten Früchte, die er in das ist auch in der Schiller-Forschung bislang noch wenig beachtet und eigentlich bedacht worden, obgleich doch die »Dialektik der Aufklärung« schon auf den inneren Zusammenhang von Eudämonie und Gesetz hingewiesen hatte, ohne allerdings näher auf Schiller einzugehen. »Denken«, so heißt es hier dezidiert und willkommen, »stand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluß ganz unterjocht wird. Der Genuß ist gleichsam ihre Rache. In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation.« Vgl. M. Horkheimer, Th. W Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 95. Es mag daran gelegen haben, daß die extreme Form, in der die »Dialektik der Aufklärung« Rationalität und Archaik in eine einzige, in sich dialektische Gestalt zusammenzwingt, die Schuld daran trägt, daß der Genuß und die aufschießenden Glückseligkeitslehren der Aufklärung bislang nicht entschieden genug als andere Seite der aufgeklärten Rationalität und ihrer moralischen Gesetzlichkeit reflektiert worden sind, zumal der Genuß im bürgerlichen Zeitalter wohl kaum je in die Nähe jener archaischen Feste gerät, in denen das Denken sich auflöst und mit dem Subjekt zugleich auch der Bann der Zivilisation selbst zugrundegeht. Wenn das bürgerliche Zeitalter es mit dem Fest zu tun hat, so mit dem höfischen; nicht mit Begierde, in der Subjekt und Zivilisation transzendiert scheinen, sondern mit höchst geregeltem und kunstvoll inszeniertem Genuß. Wo die mythische Rekurrenz die »Dialektik der Aufklärung« selbst in den Mythos umschlagen läßt, bleibt der von Schiller nur angedeutete Begriff der Eudämonie genauer, gilt hier doch nicht die radikale Disjunktion von Subjektivität und Genuß, in der die Eudämonie zuletzt nur verzeichnet wird. Auch die Eudämonie ist als in den Wechsel gekommene Form bestimmt, wenn auch als solche, die nicht schon an sich bloß leer und auch formlos wäre, sondern vielmehr nur so, daß n u n der Genuß die Form bestimmt, in der die Begierde das Objekt ergreift, nicht um es bloß zu vernichten, sondern um es für sich zu verfeinern und zu genießen. Auch die Eudämonie ersteht damit zwar in der Rache der Natur, bleibt aber durchaus Form, ja mehr noch: Indem Genuß und Form einander wechselseitig durchdringen und ergänzen, kann selbst die Eudämonie als wesentliches Vor-bild der stets gesuchten Vereinigung von Materie und Form gelten, zumal die Tendenz des Genusses zur Verfeinerung, ja selbst zur Veredlung von Subjekt und Objekt kaum anders denn als ästhetisch bezeichnet werden kann. Die ästhetische Tendenz der Eudämonie mag damit der Grund sein, der das Erstaunen Frithjof Rodis darüber zu erklären vermöchte, »daß Schiller zu unserer Überraschung dem Phänomen der >Verwilderung< sehr viel mehr an Aufmerksamkeit gewidmet haben muß, als dem der >ErschlaffungSchnellkraft< oder >Federkraft< des Geistes nennt, genauso wie sie dem Erschlafften fehlt. In dieser Gemeinsamkeit liegt der Grund für die Unmöglichkeit, den >Barbaren< dem erschlafften Menschen polar entgegenzusetzen, und der Grund für die Notwendigkeit, sie beide als unter diesem Gesichtspunkt zusammengefaßt durch das Bedürfnis nach Verlebendigung und Kräftigung zu charakterisieren.« Vgl. F. Rodi, Provokation - Affirmation, S. 99. 103
I0
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 648 (Hervorhebungen z. T. von U. T.). '' Vor allem das »Streben in die Ferne«, über dem stets der »Besitz der Gegenwart« verloren wird, ist nicht nur das Streben dessen, der sich der Eudämonie ergeben hat, sondern zugleich auch eine der wesentlichen, von Schiller erläuterten und auch kritisierten Tendenzen der idealistischen Charakterstruktur. Vgl. hierzu die zum Teil wörtliche Übereinstimmung in der Darstellung des »Eudämoni-
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E u d ä m o n i e gilt, die in der Natur selbst ihren Ursprung hat u n d in der endlichen Welt der Erscheinung ihr Glück sucht, sondern nur ihrer zur Lehre verfestigten u n d jede Pflicht nur negierenden Gestalt, welche aus einer verkehrt g e w o r d e n e n u n d in ihr eigenes Gegenteil umgeschlagenen Vernunft resultiert u n d als Folge u n d Ausdruck genau jenes Wechsels der Moralität bestimmt werden kann, der die aufgeklärte M o d e r n e in die »Epoche der herrschenden Sinnlichkeit« verwandelt und n o c h das Übersinnliche in seinen alles erfassenden und vernichtenden Strudel zu reißen droht. 105 D a ß alle Form ins Leere des N u l l s e i n s zu führen scheint, ist
105
kers« und des Idealisten, in: Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V S. 776. Vgl. hierzu auch S. 129ff. dieser Arbeit. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 648. - Keine andere Zeit als die Moderne selbst ist jene verhängnisvolle »Epoche der herrschenden Sinnlichkeit«, welche sich in den letzten Briefen über »die ästhetische Erziehung des Menschen« in zugleich idealtypischer und systematisch bedeutender Form dargestellt findet, immer in der Verschlingung, in der das idealtypische Verfahren die Konstruktion der bloßen Natur, das systematische aber die Darstellung einer durch Form erst vermittelten Sinnlichkeit meint, die n u n erst recht alle Form usurpiert und die Moderne in ihre eigene Blöße treibt. Die mit dem Untergang des Übersinnlichen erst zu sich selbst befreite Usurpation und Knechtschaft ist damit das wohl deutlichste Zeichen dafür, daß Schiller nicht einfach nur als Anwalt des Sinnlichen verstanden werden kann, denn Anwalt des Sinnlichen ist Schiller nur als Anwalt des Übersinnlichen. Von daher kann es nicht einfach nur genügen, das Formproblem tragisch, aber nicht auch als moralisches Problem zu verstehen, wie Wolfgangjanke dies tut; umgekehrt aber kann es ebensowenig schon hinreichen, das Formproblem zwar als Problem der Moralität zu verstehen, die tragische Verstrickung der Moralität aber zu leugnen. Bei Rolf Grimminger führt dies zu wahrhaft abenteuerlichen und bedenklichen Konsequenzen; folgt man seiner Darstellung, so ist die »Unvereinbarkeit zwischen [... ] ideeller Moralität und allen Triebbedürfnissen [... ] für Schiller nicht zufällig, nicht von einer irgendwie gearteten schicksalhaften Notwendigkeit angetrieben, die einzusehen unmöglich wäre. Er begründet sie vielmehr, indem er einer einzigen Ursache die Schuld für die allgemeine Entfremdung zuschiebt, nämlich dem >VerstandSelbstbestimmung< so weit formalisiert wird, daß er auch die Sphäre der ästhetischen Freiheit umfaßt [... ] Was in den »Kallias«-Briefen immer wieder anklingt, auch wenn es noch nicht näher begründet wird, das ist die Verbindung des Schönheitsbegriffs mit dem der Person. Dieser Zusammenhang ist rein formal. Die Form der praktischen Vernunft ist reine Selbstbestimmung, und diese konstituiert auch den schönen Gegenstand. Daraus ergibt sich, daß das Kunstwerk, der Organismus und die Person als Selbstzweck betrachtet werden müssen. Die Idee des Selbstzwecks ermöglicht als tertium comparationis die Analogie zwischen ästhetischer Form und praktischer Vernunft, ohne die Eigenständigkeit beider Bereiche aufzuheben.164
Mit diesen Bestimmungen hat Wolfgang Düsing den Kern der Vernunftreflexion zweifellos schon berührt, denn wenn Schiller das Schöne mit der praktischen Vernunft verbindet, ohne es dadurch der Herrschaft des kategorischen Imperativs zu unterwerfen, so übernimmt damit die praktische Vernunft die Funktion der ästhetischen Urteilskraft. Sie ist das Zentrum der Person.165
Doch genau das ist alles andere als nur jene leere Formalität, als welche das Spiel von Entsprechung und Analogie immerhin leicht erscheint, wenn der kritische Ursprung der scheinbar formalisierten Vernunft in der Rekonstruktion übersprungen wird; denn wenn auch der in der Rache der Natur und im Terror der Tugend auslaufende Wechsel der Moralität erst mit der chaotischen Entwicklung der Revolution ins Bewußtsein tritt, so ist doch die Reduktion der moralischen Form auf die scheinbar formale Idee der reinen Selbstbestimmung schon in den »Kallias«-Briefen der Ausdruck auch des Versuchs, dem schon für Kant problematischen Wechsel der Moralität zu der ihr fremden Welt der Natur durch eine beispiellos konsequente Ästhetisierung ihrer despotischen Form Form überhaupt erst zu geben und ihrem Ausdruck in der Erscheinung jene »Härte« und »Brutalität« zu nehmen, die nur das Zeugnis tiefster Zerrissenheit ist.166 Die Reduktion ist in Wahrheit höchste Erweiterung. Sobald das Gesetz nur gefallen und der ästhetische Wechsel der Form vollzogen ist, kann auch die gleichsam absteigende Bewegung der praktischen Vernunft als 164 165 166
W Düsing, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. S. 196f. Vgl. W Düsing, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität, S. 197. Schon in den »Kallias«-Briefen identifiziert Schiller bloßen Verstand und bloße Moralität mit »Härte« und »Brutalität«, was nur die Kontinuität seines kritischen Denkens und seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie unterstreicht. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 425. 323
Spiegelbild jener aufsteigenden Reflexion gedeutet werden, die mit der Relativierung des moralischen Absolutismus überhaupt erst zu einer Idee der sittlichen Freiheit führt, welche die Welt der Erscheinung nicht mehr zerreißt, sondern ihr in genau dem Maße zugebildet ist, als sie die Freiheit der Natur nicht nur zu erkennen, sondern zugleich auch zu achten lehrt. Hatte die moralische Vernunft stets nur sich selbst und das eigene Gesetz im Sinn, das mit der gesetzlichen Repräsentation von Freiheit immer auch nur auf jenes rein Allgemeine zielte, in dem mit der Natur auch alles Besondere und Individuelle getilgt sein mußte, so ist die in der eigenen Bedürftigkeit reflektierte und damit zugleich ästhetisierte Form der praktischen Vernunft das genaue Gegenteil, das Resultat des Bestrebens, den verhängnisvollen Bann des bloßen Gesetzes durch Anerkennung und Freisetzung der Natur und mit ihr alles Besonderen und Individuellen zu brechen. Erst in der ästhetischen Vernunft ist Freiheit nicht mehr nur eigene, sondern immer auch fremde Freiheit, und nichts anderes ist ihr Prinzip, als alles Lebendige, ja selbst das Tote noch überhaupt erst in Freiheit zu setzen. Kein moralisches, ein »ästhetisches Übertreffen der Pflicht« ist zum Prinzip der praktischen Vernunft geworden, sobald diese nur der Erscheinung gilt, »und ein solches Betragen heißt edel«: Edel ist überhaupt ein G e m ü t zu nennen, welches die G a b e besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß ¿/>»/(bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbständigkeit aufdrückt. Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung.167
Obgleich auch das Edle kein absolutes Prinzip von Sittlichkeit und Freiheit sein kann, weil die Idee der reinen Natur nicht schon das Total der Natur überhaupt repräsentiert,168 so ist doch die Schönheit »der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung«, das einzige Gesetz, in dem Natur und Freiheit miteinander übereinkommen, ja mehr noch: Erst im identischen Prozeß der Anerkennung und Ästhetisierung von Natur und Vernunft ist Schönheit das eigentlich identische Prinzip von Natur und Freiheit geworden, eine universale Form, nach der alles noch Formlose in Natur und Vernunft sich sehnt und sich zu formen sucht. 167
168
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: SW V, S. 644 (Hervorhebungen von U. T.). Schiller selbst kritisiert noch das Edle, wenn es sich zu einem absoluten Begriff des Sittlichen aufzuschwingen versucht. S o »haben manche ästhetischen Überfluß mit einem moralischen verwechselt und, von der Erscheinung des Edlen verführt, eine Willkür und Zufälligkeit in die Moralität hineingetragen, wodurch sie ganz würde aufgehoben werden.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: S W V, S. 645A.
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»Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zweier Welten anzusehen, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht«.1" Indem Natur und Freiheit in der Idee der Schönheit erst miteinander übereinkommen und harmonisch ineinsfallen, ist die ästhetische Form nicht nur zum heimlichen Formprinzip von Natur und Vernunft, sondern zugleich auch zu jener Form geworden, die dem Wechsel der Form zur Erscheinung überhaupt erst Form gibt. Der Wechsel der Form kann daher nicht allein so verstanden werden, daß die moralische Vernunft sich nun auch der Natur und mit ihr endlich auch aller Schönheit öffnete. Die Idee der ästhetischen Wechselwirkung und ihre nur um den Preis des gänzlichen Formverlustes lösliche Einheit von Stoff und Form sind vielmehr zu einem Gesetz der Vernunft geworden, welches weit ursprünglicher ist als das moralische. In der Anerkennung der Natur ist vielmehr die Anerkennung der wesentlichen Zugehörigkeit von Natur und Vernunft beschlossen, die Anerkennung des Fremden als des im Grunde Eigenen, ja als des eigentlich tragenden Grundes, in dem die Form sich erst gewinnen und auch behalten kann. Sobald nur der Wechsel gilt, gilt auch die Schönheit, denn diese allein ist der Ursprung der Form auch in der Erscheinung und damit das, was das moralische Gesetz zwar als seinen Grund ahnt, im Befehl allein aber niemals zu stiften vermag: Die Repräsentanz des Guten als jenes Edlen, das alles Erscheinende schon in der Erscheinung zu seinem eigenen und nur ihm gehörenden Selbst hin zu befreien sucht. Obgleich die Differenz von Natur und Vernunft nicht einfach aufgehoben ist und auch niemals aufgehoben werden kann, weil sie als Ursache und als das eigentlich Treibende allen Wechsels und aller Wirkung gilt, so ist doch die Ästhetisierung von Natur und Vernunft der entscheidende Grund, in dem sich der scheinbar ursprüngliche Antagonismus der Triebtendenzen als notwendiger Reflex der transzendentalen Abstraktion und ihrer Methode zu erkennen gibt. Noch der scheinbar absolute Widerstreit von Stoff und Form ist nichts anderes als der Widerschein der nur moralischen Weltperspektive, notwendig zwar, weil nicht nur das Übersinnliche, sondern selbst noch das Edle auf der moralischen Idee der Autonomie beruht und ein »ästhetisches Übertreffen der Pflicht« Pflicht stets voraussetzt, eingeschränkt aber auch durch die entgegenstehende Notwendigkeit einer Einheit von Wechsel und Form, welche im Freigeben der Natur alle Nötigung und allen Zwang verliert und auch die Vernunft erst zu dem freigibt, was ihr eigener Grund und ihre Bestimmung ist. Selbst die transzendentale Konstruktion der Entgegensetzung ist so 169
Schiller, Über A n m u t und Würde. In: SW V, S. 442.
325
im Grunde nur Mittel, den scheinbar absoluten Widerstreit noch innerhalb seiner eigenen Geltung über sich hinauszutreiben, so zwar, daß die Entgegensetzung nun nicht mehr nur zwischen zwei anscheinend grundverschiedene Triebe, sondern zuletzt in nur einen einzigen Trieb fallt, den Trieb nach Form. Nirgendwo wird dies am Ende deutlicher als an der kaum merklichen und allmählich zunehmenden Ästhetisierung des Formbegriffs. Den »Ästhetischen Briefen« nach ist die in der »Notwendigkeit alles Wirklichen« bestehende »Einheit des Erscheinens« dem Formtrieb nur als Gesetz der »Übereinstimmung« wirklich Gesetz,170 mithin als »Harmonie«171 und »Gestalt«.172 Obgleich der Formtrieb immer auch das moralische Gesetz der absoluten Formalität und Identität zu realisieren sucht, die Erfüllung selbst dieses absoluten Gesetzes bleibt immer auch an das gegenläufige Gesetz der absoluten Realität gebunden — ein Gesetz, das als »absolute Verkündigung des Vermögens«173 genau jenen ästhetischen Wechsel der Form betreibt, welcher die Form erst mit dem erfüllt, wonach sie doch strebt, mit Stoff und Realität. Nicht nur der Stoff, auch die ihm scheinbar entgegengesetzte Form will den Wechsel, denn alle Form kommt »nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung ihrer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung«.174 Zuletzt ist der Trieb des Stoffes auch Trieb der Form, das problematische und doch produktiv treibende und hervorbringende Gesetz der Entgegensetzung und das ästhetische Gesetz der Versöhnung in einem Geiste, der in die Endlichkeit der Erscheinung verstrickt ist und dieser Endlichkeit gehört, solange er existiert: Der endliche Geist ist derjenige, der nicht anders als durch Leiden tätig wird, nur durch Schranken zum Absoluten gelangt, nur, insofern er Stoff empfangt, han-
delt und bildet. Ein solcher Geist wird also mit dem Triebe nach Form oder nach dem Absoluten einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken verbinden, als welche-die Bedingungen sind, ohne welche er den ersten Trieb weder haben noch befriedigen könnte. Inwiefern in demselben Wesen zwei so entgegengesetzte Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe, die zwar den Metaphysiker, aber nicht den Transzendentalphilosophen in Verlegenheit setzen kann. Dieser gibt sich keineswegs dafür aus, die Möglichkeit der Dinge zu erklären, sondern begnügt sich, die Kenntnisse festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird. Und da nun Erfahrung ebensowenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüte als ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre, so stellt er beide Begriffe mit vollkommener Befugnis als gleich notwendige Bedingungen der Erfahrung auf, ohne sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu bekümmern.
170 171 172 173 174
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
326
Schiller, Schiller, Schiller, Schiller, Schiller,
Über Über Über Über Über
die die die die die
ästhetische ästhetische ästhetische ästhetische ästhetische
Erziehung Erziehung Erziehung Erziehung Erziehung
[...]. [...]. [...]. [...]. [...].
In: In: In: In: In:
SW SW SW SW SW
Y Y Y Y V,
S. S. S. S. S.
602f. 605. 614. 602f. 627.
Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beiden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beide Triebe existieren und wirken zwar in ihm, aber er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft, welches diejenigen, die den menschlichen Geist nur da selbst handeln lassen, wo sein Verfahren mit der Vernunft übereinstimmt, und wo dieses der Vernunft widerspricht, ihn bloßfür passiv erklären, nicht immer bedacht zu haben scheinen,m
Mit dem Begriff des endlichen Geistes hat sich der zunehmende und über das Medium der geschichtlichen Vernunftkritik vollzogene Prozeß der Ästhetisierung der Vernunft in der Sphäre der transzendentalen Abstraktion endgültig vollendet, wenngleich seine geschichtliche Konkretion damit noch längst nicht berührt ist. Die scheinbar unlösliche Verkettung von absoluter Moralität und Vernunft ist aufgebrochen, indem das Leiden der Natur unter dem zwanghaften Imperativ des absoluten Gesetzes und der Schmerz der Vernunft über den eigenen Untergang in der Formlosigkeit des von ihr selbst erst entfesselten Triebwiderstreits zu jener fundamentalen Anerkennung der Natur treiben, in welcher Natur in die ursprüngliche Bestimmung des endlichen Geistes selbst eingeht. Schillers Bestimmung des endlichen Geistes ist daher nicht nur ein Höhepunkt seines transzendentalen Denkens, sondern zugleich auch die transzendentale Deduktion des moralischen und ästhetischen Wechsels und jener entscheidende Begriff, in dem die transzendentale Struktur der ästhetischen Subjektivität mit der ästhetischen Bestimmung des Menschen ineinsfällt. In diesem Begriff ist die Idee der moralischen Form nicht mehr das Zentrum, sondern nur noch ein Element der ästhetischen Form als des beständigen Wechsels der Elemente und Kräfte. Der endliche Geist ist daher nicht Sinnlichkeit und nicht Vernunft, sondern der gleichsam transzendentale Ort ihres beständigen Wechsels und immer noch Form, die sich im Wechsel bestimmt, indem sie auch selbst in den Wechsel kommt, denn der Wechsel allein ist das ursprüngliche Gesetz aller Endlichkeit. Dies eigentlich ist der transzendentale Grund, warum jede Verletzung der Endlichkeit sich in eigene Verletzung verwandelt, warum der Verlust der Erscheinung immer auch der Verlust des eigenen Selbst ist, denn in der Form ist das Entgegengesetzte nur deswegen entgegengesetzt, um mit dem Wechsel auch jene Einheit im Wechsel zu ermöglichen, die zur höchsten Bestimmung der Form und damit zugleich zu dem geworden ist, was die in der Gestalt des Gesetzes wechselnde Moralität nie zur Erscheinung bringen kann, weil sich die Form in ihr notwendig verliert. Dies aber ist zugleich auch der transzendentale Grund, in dem die Anerkennung der Natur und die Ästhetisierung der Vernunft erst 175
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SWV, S. 629f. (Hervorhebungen z. T. von U. T.).
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eigentlich gründen, denn der Trieb des Stoffes ist Trieb der Form in jenem doppelten Sinn, daß der Stoff immer auch schon zur Form, die Form immer auch schon zum Stoff drängt, in genau jenem Sinn also, dessen erster Entwurf sich schon in den »Kallias«-Briefen findet — Schönheit als Freiheit in der Erscheinung«, mithin als »das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt des Spieltriebs«.176
3. Die Objektivität des Schönen und das Spiel der ästhetischen Reflexion Mit dem in der Anerkennung der Natur erst vollzogenen Prozeß der Ästhetisierung von Natur und Freiheit sind Schönheit und Wechselwirkung zum einheitlichen Prinzip der Vernunft geworden, womit die Idee von Vereinigung und Versöhnung nicht länger mehr nur als ein Traum erscheint. Der Preis der Versöhnung scheint allerdings nicht gering. Die ästhetische Form der Subjektivität und die anthropologisch in ihr begründete Idee der Schönheit sind zwar als Produkt einer Gemeinschaft von Stoff- und Formtrieb verstanden, die sich allein nur aufgrund ihrer Wechselwirkung und Ästhetisierung ergibt, aber das Resultat des ästhetischen Wechsels können sie immer nur in einer Wechselwirkung sein, welche prinzipiell unabschließbar und also unendlich ist, gerade weil die Idee der ästhetischen Wechselwirkung und ihre humane Verwirklichung nicht einfach nur in der Verfügungsgewalt einer ästhetischen und darum notwendig endlichen Vernunft stehen. Daß die Vernunft überhaupt nur als Trieb zum Wechsel bestimmt werden kann, bedeutet ihr ewig wechselnde Form, die nie zur Form, sondern immer nur zum Versuch einer Form, ewig wechselnder Geist, der nie zum Selbst, sondern immer nur zum Versuch eines Selbst kommt, denn nie steht der Trieb einfach nur still und nie kommt der Wechsel jemals zum Stehen. Hatte der Wechsel der Moralität seinen Grund in sich selbst und seinen Abgrund allein in jener gegenwendigen Wendung der endlichen Erscheinung gefunden, die sich im Phänomen der psychophysischen Nemesis zu erkennen gibt, so hat der ästhetische Wechsel der Form seinen Abgrund schon immer in sich — nicht erst in der Formlosigkeit, sondern in der Unendlichkeit seiner zum bloßen Versuch bestimmten Selbstbestimmung. Darin noch sind selbst der moralische und der ästhetische Wechsel einander gleich, daß beider Grund immer auch jener Abgrund ist, indem die Form nie frei über sich selbst verfügen kann, denn die Form gilt hier wie auch dort als das ewig Ausstehende, das auf seine Verwirklichung drängt. Desto dringender nur ist in beiden der 176
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: S W V, S. 615.
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Drang, in der ewig wechselnden Welt der Erscheinung jene antwortenden Gegenbilder zu finden, die von Schönheit und Selbstbestimmung zeugen, mithin von dem, was die Form auf ewig zu suchen bestimmt ist. Dieses Bedürfnis erst ist es, in dem das Vernunftinteresse an Schönheit und Freiheit auch der Natur überhaupt gründet, kein nur empirisches Bedürfnis, wie Werner Strube noch meint, 177 sondern das transzendentale Bedürfnis eines Vernunftinteresses, das »Bestätigung von einem andern seiner selbst her« zu finden hofft, wie es in Hans-Georg Gadamers treffender Wendung heißt.178 Dieses Bedürfnis ist es, das in der Reflexion auch die Einheit der Form noch in ihrer Entgegensetzung zu erkennen gibt, denn im Bedürfnis und in der ästhetischen Stellung der in sich selbst reflektierten Vernunft sind Gutes und Schönes stets miteinander vereint. Gleiches Bedürfnis und gleicher Drang ist es, der die Einheit von Schönheit und Freiheit schon im Naturschönen findet, eine moralische Einheit, weil die Natur als Darstellung freier Selbstbestimmung und Form, eine ästhetische Einheit, weil diese Selbstbestimmung als innere Übereinstimmung gilt, als Harmonie durch die je eigene und nur dem eigenen Selbst verdankte Subjektivität der inneren Form. Schon in der »Idee einer iritelligiblen Bestimmung der Menschheit gewinnt die Natur als schöne Natur eine Sprache, die sie zu uns führt«,179 denn die praktische Vernunft folgt nur sich selbst, wenn ihr Gesetz nicht nur der Widerstreit, sondern zugleich auch die Übereinstimmung ist, welche die schöne Natur schon von sich aus gewährt, eine Sprache sprechend, welche nur die vergessene Sprache der sittlichen Vernunft und Freiheit ist, jene geheimnisvolle »Chiffreschrift«, die es allererst zu entziffern und auszulegen gilt. Die Auslegung der Natur am Leitfaden ihrer verrätselten Sprache ist in der »Kritik der Urteilskraft« allerdings nur eine angedeutete Möglichkeit geblieben. Kants dritter Kritik genügt schon das der bloßen Naturschönheit scheinbar absichtslos antwortende »interesselose Wohlgefallen«, um dem Vernunftinteresse jene »Bestätigung von einem andern seiner selbst« zu geben, von der Hans-Georg Gadamer so überaus einleuchtend spricht. Systeminteressen anderer Art treten hinzu. Nach Gadamer hat die 177
178 179
Vgl. W Strube, Kallias-Briefe oder über die Objektivität des Schönen, S. 122. Vor allem ein kurzer Blick in die in Schillers Handexemplar der dritten Kritik ausgezeichneten Stellen reicht schon aus, um Strubes Kritik am vermeintlich empirischen Bedürfnis hinreichend zu erschüttern, hat Schiller doch vorwiegend auch solche Stellen vermerkt, die eine eigene Bedürftigkeit der Vernunft ausweisen und schon in der Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« zu finden sind. Vgl. Schiller, Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Kritik der Urteilskraft, S. 126ff. Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 48. Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 48.
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>Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen< [ . . . ] als transzendentales Prinzip der ästhetischen Urteilskraft zugleich auch die Bedeutung, den Verstand darauf vorzubereiten, den Begriff eines Zweckes auf die Natur anzuwenden. Insofern ist die Kritik des Geschmacks, d.h. die Ästhetik, eine Vorbereitung für die Teleologie. Diese, deren konstitutiven Anspruch für die Naturerkenntnis die Kritik der reinen Vernunft zerstört hatte, als ein Prinzip der Urteilskraft zu legitimieren, ist die philosophische Intention Kants, die das Ganze seiner Philosophie erst zum systematischen Abschluß führt. D i e Urteilskraft stellt die Brücke zwischen Verstand und Vernunft dar. Das Intelligible, worauf der Geschmack hinausweist, das übersinnliche Vermögen der Menschheit, enthält zugleich die Vermittlung v o n Natur- und Freiheitsbegriffen. Das ist die systematische Bedeutung, die das Problem der Naturschönheit für Kant hat: sie begründet die zentrale Stellung der Teleologie™
Neuere Forschungen scheinen diesen Befund zu bestätigen. Daß »unter der realen, absoluten Zweckmäßigkeit der Naturformen als Systeme sowohl Naturschönheiten als auch Organismen zu subsumieren sind«,181 begründet die systematische Vorrangstellung der Teleologie, denn die Form der ästhetischen Reflexion ist zuletzt in der zum »Systembedürfnis passenden und sich an der Natur bewährenden Weltperspektive« fundiert182 und nur ein Teil jener in sich reflektierten Spiegelung, welche die Formen der reflektierenden Urteilskraft beständig ineinander übergehen und sich in diesem Übergang wechselseitig erhellen läßt. Doch nicht allein systematische Interessen, auch Gründe, die in der Sache selbst zu liegen scheinen, haben die Auslegung der Natur als »Sprache« und »Schrift« hintertrieben. Das Naturschöne ist als Gegenstand nicht des Sinnen-, sondern des »Reflexionsgeschmacks« immer »bloß kontemplativ« erfaßt, in einem »Urteil, welches indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenhält«. 183 Die Reflexion des Naturschönen ist daher nicht Reflexion des Gegenstandes, sondern immer nur eine Reflexion des eigenen Zustandes und seiner Bestimmung; denn »Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht ineinander geschlungene Züge, unter dem Namen des Laubwerks, bedeuten nichts, hängen von keinem bestimmten Interesse ab und gefallen doch«.184 Der Vorzug des Naturschönen scheint daher zu Unrecht zu gelten; immer kann man die Gegenrechnung aufmachen. Der Vorzug des Naturschönen vor dem Kunstschönen ist nur die Kehrseite des Mangels des Naturschönen an bestimmter Ausdruckskraft. So kann man umgekehrt den Vorzug der Kunst vor dem
180 181
182 183 184
Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 51. Vgl. H. Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants >Kritik der Urteilskraft, S. 111. Vgl. F. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis bei Kant, S. 29. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 14. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. lOf.
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Naturschönen darin sehen, daß die Sprache der Kunst anspruchsvolle Sprache ist, die sich nicht der stimmungshaften Ausdeutung frei und unbestimmt darbietet, sondern uns bedeutungshaft bestimmt anspricht. 185 I n d e m das N a t u r s c h ö n e nur ist u n d über das b l o ß e Sein hinaus nichts mehr bedeutet, ist die ästhetische R e f l e x i o n das i n der G e s t i m m t h e i t der e i n z e l n e n Vermögen hineingehaltene und als G e s t i m m t h e i t z u s a m m e n gehaltene G e f ü h l des Z u s a m m e n h a n g s , das Beispiel einer Urteilskraft, die zwar urteilen will, »ihre normale, auf Erkenntnis gerichtete Funktion jedoch nicht ausüben kann«, 186 es sei denn, der reine A n b l i c k des in sich selbst Vollendeten ist ihr e i n Sinnbild ihrer eigenen B e s t i m m u n g , jener inneren Übereinstimmung, die durch die G e s t i m m t h e i t der ästhetischen R e f l e x i o n hindurch aufscheint u n d sich erst in der R e f l e x i o n der Zwecke als ein moralisches G e f ü h l z u erkennen gibt. Gadamers »Gegenrechnung« ist daher bei Kant s c h o n eröffnet; d e n n w o der Gegenstand für ein Produkt der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt werden soll, so muß, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll; und da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge zu einer inneren Bestimmung desselben als Zweck die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen, wonach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist [... ] Die Natur wird nicht mehr beurteilt, wie sie als Kunst erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche) Kunst ist; und das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur Grundlage und Bedingung worauf dieses Rücksicht nehmen muß [...] man muß noch über die bloße Form auf einen Begriff hinaussehen, damit der Gegenstand auf solche Art durch ein logisch-bedingtes ästhetisches Urteil gedacht werde. 18 ' M i t d e m Begriff des logisch bedingten ästhetischen Urteils ist die — o h n e h i n nur aus d e m »Systembegehren« der Vernunft erwachsene u n d aus nur heuristischen G r ü n d e n des transzendentalen M e t h o d e n z w a n g s eingeführte — D i f f e r e n z v o n ästhetischer u n d teleologischer Urteilskraft gefallen 188 u n d jenes intellektuelle Interesse am S c h ö n e n begründet, in d e m die Kantische Grundlegung eines v o n allem Interesse freien ästhetischen 185
Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 48 (Hervorhebungen von U. Τ·)· 186 Yg[ ρ Kuypers, Kants Kunsttheorie und die Einheit der Kritik der Urteilskraft, S. 90. 187 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 188 (Hervorhebungen von U. T.). 188 Schon systematisch begründen sich die ästhetische und teleologische Urteilskraft durchaus wechselseitig; die ästhetische die teleologische, indem sie es überhaupt erst gestattet, den Zweckbegriff auf die Natur anzuwenden; die teleologische die ästhetische, indem sie den Zweckbegriff selbst in Ansehung der Natur erst legitimiert. Vgl. hierzu auch: H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 51. - Weil aber die Idee des Naturzwecks als eines heuristischen, 331
Geschmacks sich der Idee des K u n s t s c h ö n e n ö f f n e t , obgleich »der Naturbegriff der unangefochtene Maßstab« der transzendentalen R e f l e x i o n bleibt. 189 »An e i n e m Produkte der s c h ö n e n Kunst«, so heißt es in der »Kritik der Urteilskraft«, muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch m u ß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. Auf diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen, welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust, welche allein allgemein mitteilbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu gründen. Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht N o c h i n der Ö f f n u n g gegenüber der s c h ö n e n Kunst scheint sich daher der »Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit« 1 9 1 und die v o n i h m provozierte »Gegenrechnung« H a n s - G e o r g Gadamers zu bestätigen, zumal schöne Kunst vor allem als »Kunst des Genies« gilt — der transzendentalen R e f l e x i o n u n d B e s t i m m u n g nach eine »angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt«. 192 O b gleich alle Kunst Regel und Zweck n o t w e n d i g voraussetzt, kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zustande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich. 193 D a s eigentlich macht das Geniale der Genialität erst aus, daß der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen, die sie instand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen;
nichtsdestoweniger aber durchaus objektiven Prinzips der empirischen Forschung auch mit dem Systembegriff selbst konvergiert, ist die Funktion der Teleologie die zuletzt schließlich bedeutendere. Georg Kohler kommt daher nach hochgradig subtilen Untersuchungen sogar zu dem Ergebnis, daß Kant die Form der ästhetischen Urteilskraft immer schon nach dem Vorbilde der teleologischen entworfen habe und daß es zuletzt diese Strategie der Paralleli. sierung sei, welche zu logisch inkonsistenten und phänomenologisch auch unerweislichen Konstruktionen vor allem in der begrifflichen Konstitution der ästhetischen Urteilskraft führe. Vgl. G. Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. S. llOff., 199. 189 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 51. 190 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 179 (Hervorhebungen von U. T.). 191 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 169. 192 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 181. 193 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 181. 332
daß die geniale Produktion sich aber dennoch von der aus bloßer »Eingebung« entspringenden »Originalität« zu jener exemplarischen Allgemeinheit194 aufzuschwingen vermag, welche als Urbild des reflektierten und in sich durchgearbeiteten Geschmacks und als jene tief verborgene Regel gilt, die nur »von der Tat, d. i. vom Produkt abstrahiert« werden kann195 — denn nur im Werk ist das Urbild ästhetischer Reflexion und Schönheit Ideal im Sinne einer Idee in individuo. Indem schöne Kunst in der »schönen Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist«,196 gründet, ist das Kunstwerk allein jener gleichsam transzendentale Ort, an dem die Schönheit eine weit bestimmtere und weit mehr auch der Vernunft zugeordnete Sprache zu sprechen scheint als das Schöne nur der Natur. Von bloßer Unbestimmtheit wie bloßer Bestimmtheit, von bloßer Natur und von bloßer Vernunft ist diese Sprache gleich weit entfernt; denn aller Geschmack muß ein selbsteigenes Vermögen sein [...] Hieraus folgt aber, daß das höchste Muster, das Urbild des Geschmacks eine bloße Idee sei, diejeder in sich hervorbringen muß, und wonach er alles, was Objekt des Geschmacks, was Beispiel der Beurteilung durch Geschmack sei, und selbst den Geschmack von jedermann beurteilen muß. Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff, und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens. Daher kann jenes Urbild des Geschmacks, welches freilich auf der unbestimmten Idee der Vernunft von einem Maximum beruht, aber doch nicht durch Begriffe, sondern nur in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden, besser das Ideal des Schönen genannt werden, dergleichen wir, wenn wir gleich nicht im Besitze desselben sind, doch in uns hervorzubringen streben. Es wird aber bloß ein Ideal der Einbildungskraft sein, eben darum, weil es nicht auf Begriffen, sondern auf der Darstellung beruht; das Vermögen der Darstellung aber ist die Einbildungskraft,197
In der Kantischen Lehre von Genie und Geschmack reflektiert, wird die zuletzt doch nur auf Kosten des Naturschönen aufgestellte »Gegenrechnung« im Grunde gegenstandslos,198 nicht nur, weil schon Genie und 194 195 196 197 198
Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 182f. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 185. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 190. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 53f. (Hervorhebungen z. T. von U. T.). Gadamer stellt diese »Gegenrechnung« vor allem auch auf, um das allmähliche Vordringen des Genie- und Erlebnisbegriffs und die historische Genesis des ästhetischen Bewußtseins in ihr sachliches Recht zu setzen. Nach Gadamer ist die Genieästhetik aber dennoch eine Abstraktion von allen außerästhetischen Maßstäben, welche der Erfahrung von Kunst - und vor allem auch ihrer Wahrheitsbedeutung - nicht mehr gerecht wird. Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 52ff., S. 81. - Vor allem Schillers Begriff des schönen Scheins gilt als der entscheidende Wendepunkt, in welchem Natur nicht mehr der Maßstab des Schönen, sondern dieses allein nur für sich selbst Maß und Bestimmung ist, was späterhin zur Erlebnisästhetik führt (vgl. Gadamer, ebd., S. 76f.). Nach Gadamer besteht die »Idee der ästhetischen Bildung... - wie wir sie von Schil-
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G e s c h m a c k eine unzertrennliche Einheit bilden u n d sich wechselseitig z u i m m e r n e u e n B i l d u n g e n treiben, in d e n e n die eigene Vollendung Grund und Ziel der vereinigten Anstrengung eines identischen Triebes geworden ist, sondern vor allem auch deswegen, weil die i m Ideal der S c h ö n h e i t erst sich erfüllende Einheit des Kunst- und N a t u r s c h ö n e n nicht nur Natur u n d nicht nur Vernunft, sondern das beide erst eigentlich »belebende Prinzip i m G e m ü t e « ausmacht. S c h o n der »Kritik der Urteilskraft« ist dies nichts anderes als der Geist, in ästhetischer Bedeutung, [... ] als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. ein Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. 1 " D i e s e B e s t i m m u n g e n sind zentral, vor allem für Schiller. Aber auch s c h o n für Kant ist es vor allem »die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen 1er herleiteten - ... darin, keinen inhaltlichen Maßstab mehr gelten zu lassen und die Einheit der Zugehörigkeit eines Kunstwerks zu seiner Welt auszulöschen. Ausdruck dessen ist die universale Ausbreitung des Besitzes, den das ästhetisch gebildete Bewußtsein für sich in Anspruch nimmt. Alles, dem es >Qualität< zuerkennt, ist das Seine. Darunter wählt es nicht mehr aus, weil es selbst nichts ist und sein will, woran sich eine Auswahl bemessen könnte. Es ist aus allem bestimmenden und bestimmten Geschmack herausreflektiert und stellt selbst einen Nullgrad an Bestimmtheit vor.« Vgl. Gadamer, ebd., S. 80. Diese »Herleitung« ist so verknappt und verkürzend, daß das Hergeleitete mit einigen Fragezeichen und Anmerkungen zu versehen ist, zumal schon die ganze Anlage von Schillers Ästhetik um die Frage nach einem in der Natur selbst gegründeten Grund des Schönen kreist, welcher das Schöne und das ästhetische Bewußtsein allererst trägt, so zwar, daß nicht dem Menschen der Grund, sondern der Mensch nur dem Grunde gehört und in dieser Zugehörigkeit zu seiner eigenen Natur auch erst den Spielraum der eigenen Freiheit und einer erkennenden Wahl zwischen Stoff und Form hat, welche sich an der Natur und an den Gegenständen bemißt. Daher bleibt der Begriff des Geschmacks eine stets verbindliche Größe des ästhetischen Bewußtseins, auch und gerade für Schiller - denn das Genie ist immer nur jener nur schnellste, weil an glücklichen Instinkt gebundene Umschlag des exemplarisch Allgemeinen, keineswegs aber die Brutstätte eines nur in sich und für sich selbst Verbindlichen und daher auch Unbestimmten. Vor allem das sentimentalische Genie ist auf Reflexion angewiesen, und man wird wohl die Abhandlung »Uber naive und sentimentalische Dichtung« kaum als Probe eines ästhetischen Bewußtseins lesen können, dem es nur um den unklaren und unbestimmt bleibenden »Besitz« ginge, ohne je schon die Sache selbst zu meinen. Gadamers »Herleitung« reicht daher selbst für die eigene - und bedeutend genug erscheinende - Fragestellung kaum aus, nicht zuletzt deswegen, weil seine Gegenüberstellung von Geschmack und Genie auch selbst Züge jener ungeschichtlichen Abstraktion aufweist, gegen die er sich mit allem Recht wendet. 199
Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 192f.
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ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann«,200 wenn diese auch in einem Sinn verstanden wird, den krudeste Aufklärungspoetik kaum kruder entworfen hat als Kant. Doch obgleich die Lehre von den ästhetischen Ideen in dem denkbar unzureichenden und befremdlichen Sinn der ästhetischen Attribution erläutert wird, die mit der schönen Kunst kaum mehr zu verbinden weiß als didaktisch eingesetzte Allegorien zur Versinnlichung von Vernunftideen201 — die Lehre selbst sagt doch weit mehr als nur der mißlungene Versuch ihrer eigenen Versinnlichung, nicht nur, was schöne Kunst betrifft, sondern auch und vor allem mit Hinblick auf die Idee des Schönen als einer Sprache der Einbildungskraft. Erst mit der produktiven Einbildungskraft ist jenes geheime Zentrum der Kräfte erreicht, nach dem die doppelte Sehnsucht von Stoff und Form geht, denn sie allein ist es, welche die nur isolierten und darum noch eigentlich leeren und toten Kräfte zu einem gemeinschaftlichen Leben erweckt und bildet und Natur und Vernunft in einer schier unerschöpflichen Sprache zueinanderhält. Die Sprache der Einbildungskraft ist eine Sprache der Natur und eine Sprache auch der Vernunft, eine Sprache des Geistes, in welcher das figürliche Sprechen der reinen Natur und das ästhetische Sprechen der reinen Vernunft beständig einander antworten und sich zu entsprechen suchen. Vor allem das Genie ist der Ort dieses Sprechens, das immer zugleich auch ein Hören und ein Entziffern ist, nicht allein dessen nur, was die äußere Natur in »Figur oder Textur«202 vor den äußeren Sinn stellt, sondern vor allem auch dessen, was aus der inneren Natur der Subjektivität selbst aufsteigt und sich dem inneren Sinn als stets wechselndes »Spiel der Empfindungen« 203 zeigt. Die rätselhaften 200 201 202 203
Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 194. Zur ästhetischen Attribution: Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 195ff. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 249. »Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußeren sowohl als mittelbar auch des inneren) ist entweder Gestalt oder Spiel; im letzteren Falle entweder Spiel der Gestalten (im Räume: die Mimik und der Tanz), oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit).« Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 42. - Das Lesen und Entziffern der äußeren und der inneren Natur ist nach Schiller gerade das, was den »Dilettanten« vom wirklichen Künstler unterscheidet. Jeder echte Zögling der Kunst »studiert, wenn die Natur ihn zum plastischen Künstler ausstattete, den menschlichen Bau unter dem Messer des Anatomikers, steigt in die
unterste herum, geboren auf der
Tiefe, um auf der Oberfläche wahr zu sein, undfragt bei der ganzen Gattung um dem Individuum sein Recht zu erweisen. Er behorcht, wenn er zum Dichter ist, die Menschheit in seiner eigenen Brust, um ihr unendlich wechselndes Spiel weiten Bühne der Welt zu verstehen, unterwirft die üppige Phantasie der
Disziplin des Geschmackes und läßt den nüchternen Verstand die Ufer ausmessen, zwischen welchen der Strom der Begeisterung brausen soll.« Vgl. Schiller, Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: SW V, S. 687.
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Chiffren, durch welche »Natur in ihren s c h ö n e n Formen figürlich z u uns spricht«, finden sich daher nicht nur in der genialen, sondern schon in der a l l g e m e i n e n Subjektivität, keineswegs nur als das, was sich »der stimm u n g s h a f t e n A u s d e u t u n g frei und u n b e s t i m m t darbietet«, sondern vielm e h r in jenen m i t großer Eile am inneren Sinn vorüberlaufenden Form e n , welche der reinen A n s c h a u u n g entsprechen u n d auf jene »figürliche Synthesis« verweisen, welche schon in der ersten Kritik als »transzendentale Synthesis der Einbildungskraft« genannt und unter d e m N a m e n der »synthesis speziosa« verzeichnet w o r d e n war. 204 »Allein, diese Synthesis auf Begriffe z u bringen, das ist eine Funktion, die d e m Verstände zukommt«, 2 0 5 hier schon »eine verborgene Kunst in den T i e f e n der m e n s c h l i c h e n Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor A u g e n legen werden«. 206 N o c h die Genialität des G e n i e s besteht daher darin, »das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen u n d in e i n e n Begriff (der eben darum original ist und zugleich eine n e u e Regel eröffnet, die aus k e i n e n
204 205 206
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 151ff. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 103. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 181. - Die heimlichen Beziehungen der transzendentalen Einbildungskraft sind selbst in der »Kritik der reinen Vernunft« schon angedeutet, wenn auch im skeptischen Sinn. Nach ihr ist das »Bild [... ] ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Räume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden [ . . . ] « Vgl. Kant, ebd. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). An fortgeschrittener Stelle wird dies so erläutert, daß die Bildungen der Einbildungskraft als Geschöpfe gelten, »darüber sich niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann, gleichsam Monogrammen, die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Regel bestimmte Züge sind, welche mehr wie eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwebende Zeichnung als ein bestimmtes Bild ausmachen, dergleichen Maler undPhysiognomen im Kopf zu haben vorgeben, und die ein nicht mitzuteilendes Schattenbild ihrer Produkte oder auch Beurteilungen sein sollen. Sie können, obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinnlichkeit genannt werden, weil sie das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer Anschauungen sein sollen, und gleichwohl keine der Erklärung und Prüfung fähige Regel abgeben.« Vgl. Kant, ebd., Β 598f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Der hier eher noch skeptische Ton ist in der dritten Kritik allerdings ganz geschwunden, reflektiert diese doch den Begriff des »Monogramms« nun auch als eine Idee der Einbildungskraft, welche nur immer »in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden«, aber doch stets das verborgene »Urbild des Geschmacks« bleibt, ein »Archetypon«, welches nun freilich »auf der unbestimmten Idee der Vernunft von einem Maximum beruht.« Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 54,207. - Zur Problematik der transzendentalen Einbildungskraft insgesamt vgl. auch: M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik.
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vorhergehenden Prinzipien oder Beispielen hat gefolgert werden können) zu vereinigen«,207 mit dem Unterschied nur, daß im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse die erstere unter dem Zwange des Verstandes steht und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein; in ästhetischer Absicht sie hingegen frei ist, um noch über jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht, reichhaltigen unentwickelten Stofffür den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber nicht sowohl objektiv zum Erkenntnis, als subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte, indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet, so besteht das Genie eigentlich in dem glücklichen Verhältnisse, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann, zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden, und andererseits zu diesen den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte Gemütsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, anderen mitgeteilt werden kann. Das letztere Talent ist eigentlich dasjenige, was man Geist nennt. 2 0 8
Frei bleibt die Einbildungskraft aber nicht nur »in ästhetischer Absicht«, sondern noch dort, wo sie »unter dem Zwange des Verstandes« steht, nicht nur, weil die Absicht sich schon auf das Werk und damit aufs Schöne in jenem engeren Sinne bezieht, den die »Kunst des Genies« bezeichnet, sondern vor allem auch deshalb, weil sie als allgemeines Vermögen der Darstellung immer auch auf den Begriff bezogen bleibt und ihre Produktivität erst eigentlich darin beweist, daß sie die logische Einheit und Allgemeinheit des Begriffs ästhetisch übertrifft: Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein soviel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriffselbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert, so ist die Einbildungskraft hierbei schöpferisch und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann. 2 0 9
So sind es ästhetische Ideen der Einbildungskraft, die in genau dem Maße »zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen«, als »ihnen als inneren Anschauungen kein Begriff völlig adäquat sein kann«.210 Die produktive Ein-bildung gerade ist jene Kraft, welche die Macht des bloßen Begriffs überwindet und die Vernunft zu jener unendlichen Reflexion entspannt, in der sie auch selbst zur Ein-bildungskraft wird und sich in dieser Gestalt zu einer Rückreise in jenes kritisch verdächtige Land der cognitio inferior aufmacht,
207 208 209 210
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kant, Kant, Kant, Kant,
Kritik Kritik Kritik Kritik
der der der der
Urteilskraft, Urteilskraft, Urteilskraft, Urteilskraft,
S. S. S. S.
198f. 198 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). 197 (Hervorhebungen von U. T.). 193f.
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die ihr zu ihrer eigenen Überraschung auch eine unendliche Lust verheißt, weil die ästhetische Idee zu nahezu allen Begriffen »viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet«.211 N u r Eine Sprache ist es daher, welche Natur und Vernunft sprechen, die Sprache der Ein-bildungskraft als Sprache des Geistes, figürlich in der Natur als Natur, ästhetisch in der Vernunft als Reflexion, dem Verstand aber ein Rätsel, wo dieser einer anderen Sprache als der seiner eigenen Diskursivität gegenüber verschlossen bleibt und nicht bilden, sondern allein nur bestimmen will. Allein nur dem Genie scheint es daher auch überlassen, die Sprache des Geistes als Sprache der unbewußten Natur und ihrer schönen Einbildungskraft zu entziffern und diese Sprache in den Gestaltungen der schönen Kunst als Sprache der ein-bildenden Vernunft aus sich herauszustellen, damit die ästhetische Reflexion vor allem der schönen Sprache die Erweiterung nicht nur der eigenen, sondern aller Subjektivität darin erkenne. Unter allen Künsten behauptet daher die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt und am wenigsten durch Vorschrift oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb der Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfälle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt. Sie stärkt das Gemüt, indem sie es sein freies, selbsttätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur, als Erscheinung, nach Ansichten zu betrachten und zu beurteilen, die sie nicht von selbst, weder für den Sinn nochfür den Verstand in der Erfahrung darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schemades Ubersinnlichen zu gebrauchen. Sie spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel, welches gleichwohl v o m Verstände und zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden kann. 2 1 2
Scheinbar paradox, doch konsequent, daß die »Kritik der Urteilskraft«, welche die reine Schönheit allein nur der Natur reserviert zu haben schien, 213 endlich doch in eine Apologie schöner Kunst und Poesie einmündet, welche zugleich eine Apologie der Ein-bildungskraft als der gemeinschaftlichen Sprache von Natur und Vernunft ist, durch die sie zugleich eine neue und in ihrer Art ausgezeichnete Möglichkeit zu einer bewußt freien Schönheit ineins mit ihrer künstlerischen und geschichtlichen Gestaltung begründet, eine Möglichkeit, die aber stets an die Natur als ihren creator spiritus gebunden bleibt. 211 212 2,3
Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 194. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 215f. (Hervorhebungen ζ. T. v o n U. T.). Vgl. hierzu die berühmte Unterscheidung v o n freier und bloß anhängender Schönheit: Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 48ff.
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Die unbewußten Elemente, die schon in der Tradition des Geschmacks als »je ne sais quoi« repräsentiert waren und in der Kantischen Reflexion des Genies immer noch für den Ursprung der Genialität in der Natur und ihrer notwendigen Beziehung zu ihr einstehen, sind allerdings auch der entscheidende Grund dafür, daß der Auslegungscharakter von Sprache und Schrift im Genie leicht übersprungen werden kann und in den Bestimmungen der Genialität in genau dem Maße verschüttet wird, als diese sich in ihrer historischen Genesis von ihrer Bindung an den Geschmacksbegriff lösen.214 Für Kant trifft dies freilich nur in einem eingeschränkten Sinn zu, denn ihm noch ist der Geschmack nicht nur die notwendige »Disziplin (oder Zucht) des Genies«, sondern zugleich auch das wesentliche Organ aller Auslegung seiner Werke; »und indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle hineinbringt, macht er die Ideen haltbar, eines dauernden, zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer und einer immer fortschreitenden Kultur fähig«.215 Das Schöne der Natur und das Schöne der Kunst sprechen der Kantischen Ästhetik nach immer nur Eine Sprache, die Sprache der Einbildungskraft als Sprache der »freien Bildungen« von »Figur« und von »Spiel«,216 unbestimmt und daher der Ein-bildung bedürftig noch in der Natur, bestimmbar durch Einbildung und daher des schönen Verstandes bedürftig noch in der Vernunft, gänzlich entgegengesetzt aber einer Behandlung, welche die »gleichsam zum Schema des Übersinnlichen« gewordene Sprache von Natur und Einbildungskraft gleich neu »mit Ideen besetzen« 217 und über die freie Bestimmbarkeit nur noch bestimmen will. Gleichwohl bleibt dies zuletzt doch der unbeirrte Gang der dritten Kritik, die Natur zum »Schema des Übersinnlichen« und das Schöne in ihr zum »Symbol der Sittlichkeit« 218 zu machen, um über der Lehre von Zweck und Endzweck
214
Vgl. hierzu auch Gadamers kritische Ausführungen zur Emanzipation des Genies v o m Geschmack und zur Genesis des ästhetischen Bewußtseins, in denen das Überspringen v o n Natur und Geschichte durch die Genieästhetik auch und vor allem als eine Verdrängung des Auslegungscharakters von Sprache und Schrift erscheint und Gadamers eigenes Projekt einer Aufhebung des ästhetischen Bewußtseins in einer sinnverstehenden Hermeneutik ganz eigener Art provoziert. Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 52ff., 157ff. - Daß dieses Projekt schon in Ansätzen bei Kant und Schiller nachgewiesen werden kann und im Modell der ästhetischen Reflexion im Grunde nurmehr verdeckt geblieben ist - dies vor allem auch soll hier gezeigt werden, einig mit Gadamers systematischer Tendenz, gegenläufig zu seiner historischen Rekonstruktion des »Ästhetischen«.
215
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
216 217 218
Kant, Kant, Kant, Kant,
Kritik Kritik Kritik Kritik
der der der der
Urteilskraft, Urteilskraft, Urteilskraft, Urteilskraft,
S. 203. S. 2 4 9 . XIX. S. 254ff.
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den Auslegungscharakter ihrer chiffrierten Sprache und Schrift und mit ihm die Reflexion der Auslegung selbst unter sich zu begraben. Die Kantische Lehre vom Genie, vor allem aber die »zentrale Stellung der Teleologie« und die moralische Besetzung der freien Bestimmbarkeit durch die Lehre vom Endzweck haben den schon in der »Kritik der Urteilskraft« ins Werk gesetzten Prozeß der Ästhetisierung der Vernunft zu einer auslegenden und interpretierenden Form der Reflexion verdeckt, obgleich »das Intelligible, worauf... der Geschmack hinaussieht«, der ästhetischen Urteilskraft eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit ist, denn diese gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut; und sieht sich, sowohl wegen dieser inneren Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, aufetwas im Subjekte selbst und außer ihm verwiesen, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Ubersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird.219
Jenes geheimnisvolle Andere, das innen wie außen und zwischen Natur und Freiheit aufzusteigen scheint, ist kaum anderes als die »Freiheit der Einbildungskraft«, 220 jenes Organ, das alles Schöne und mit ihm auch alle ästhetische Reflexion erst eigentlich ausmacht und trägt, eine ästhetisierte und zu höchster Tätigkeit und Reflexion entspannte Vernunft. In der aufsteigenden Reflexion sind das Schöne und der Geschmack daher nicht nur Symbole, sondern das höchst reale Vorspiel der Sittlichkeit, in der absteigenden Reflexion sind sie der von der Vernunft selbst der Erscheinung ein-gebildete Spiegel der Form, so zwar, daß nicht die moralische, sondern vielmehr eine längst schon ästhetisierte Vernunft sich auf dem vergänglichen Grund reflektiert und dort immer nur das findet, was sie auch selbst schon entworfen hat. Nichts anderes scheint auch Schillers Entwurf des Schönen als einer »Darstellung der Freiheit« zu sein,221 das Produkt einer Vernunftbewegung, die sich aus eigenem Bedürfnis dazu getrieben sieht, sich im regulativen Prozeß ihres Abstiegs zur Welt der Erscheinung zu ästhetisieren und in ihm eine Welt ästhetischer Formen
219 220
221
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 258f. (Hervorhebungen von U. T.). Vor allem die Einbildungskraft ist es, welche die Analogie zwischen dem Schönen und Guten erst überhaupt trägt und den Geschmack als jenes Organ erscheinen läßt, welches »gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich« macht. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 258ff. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S.401. - Vgl. hierzu auch die akribische Untersuchung von Fritz Heuer, Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst, Köln/Wien 1970.
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zu entwerfen, durch die sie auch selbst zum Gegenstand ihrer eigenen Bestimmung wird. Folgt man der Darstellung Düsings, so ergibt sich damit ein paradoxer Sachverhalt. Die ästhetische Subjektivität realisiert sich nur in der Bindung an ein Objekt. Dessen ästhetischer Charakter wiederum beruht darauf, daß es als Gegenstand Projektion der Subjektivität und Darstellung der Freiheit ist [... ] Die ästhetische Form ist ein Produkt des Bewußtseins, und das Gefallen in ihr beruht darauf, daß das Subjekt im Anschauen der Form seiner eigenen Tat und damit sich selbst begegnet.222
Einerseits kann schon die regulative Vernunftbewegung als ästhetisches Spiel gelten, weil die zur Einbildungskraft ästhetisierte Vernunft der Natur eine Freiheit zuspielt, die vor dem kritischen Blick der transzendentalen Vernunftkritik nur als »Schein« bestehen kann; andererseits aber ist die der Natur in der Ein-bildung zugespielte Freiheit nicht schon die Freiheit auch der Natur, wenn die Ein-bildung nur spielende Projektion und die Natur erneut nichts anderes als nur das Produkt der Vernunft ist. Was der Natur ein-gebildet wird, ist immer nur eigene Vernunft und eigene Freiheit, eine Freiheit, die zwar die Freiheit ästhetischer Subjektivität ist und der Natur nur die eigene Freiheit einbildet, doch in der eigenen — und im Begriff des ästhetischen Scheins transzendental deduzierten — Ein-bildung eigener Freiheit Freiheit auch wieder verliert. Dieser Verlust an Freiheit ereignet sich in der ästhetischen Einbildung keineswegs deshalb, weil diese nur Schein wäre, sondern vielmehr, weil die in der Kritik der Moralität gegründete Anerkennung der Natur in der ästhetischen Projektion sogleich wieder eingezogen wird und erneut nur in jenen Absolutismus des Schönen zurückführt, der den Wechsel der Form dadurch zerstört, daß die ästhetische Subjektivität allein nur sich selbst hervorbringt und perpetuiert, indem sie ausschließlich nur in sich und mit sich selbst wechselt, nicht aber mit jenem Anderen, dessen Freiheit die Idee des Wechsels doch eigentlich will. In der Ein-bildung der ästhetischen Subjektivität in die Natur geht daher nicht nur die Freiheit der Natur, sondern mit ihr auch alle Differenz von Natur und Freiheit in einer imaginären Identität auf, die mit der Differenz auch allen Wechsel und damit auch die Idee des Schönen selbst preisgibt — obgleich Schiller gerade darin als jener erste nach Kant auftretende Pionier gilt, »der die Kunst als Darstellung des freien, seiner selbst bewußten Geistes von dem Vorbild des Naturschönen befreite und damit ihre konstitutive Rolle für die Ästhetik begründete«.223 Schillers eigene Bestimmungen freilich entziehen sich einer solchen Radikalität durchaus, nicht nur in jenem »von ungemeiner Fruchtbarkeit« zeugenden Zitat, nach dem schöne Kunst 222
223
W. Diising, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität, S. 209 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. W Düsing, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität, S. 215. 341
immer nur dann als wirklich schön gelten kann, »wenn sie aussieht wie Natur«,224 sondern vor allem auch in jener grund-legenden und alle weitere Reflexion erst eigentlich tragenden Bestimmung, in der die Schönheit als »Natur in der Kunstmäßigkeit« bestimmt wird und daher keineswegs nur aus der Projektion einer ästhetischen Subjektivität entspringt.225 Für Schiller hat die Schönheit vielmehr das ganz Eigentümliche, daß sie in der Sinnenwelt nicht bloß dargestellt wird, sondern auch in derselben zuerst entspringt; daß die Natur sie nicht bloß ausdrückt, sondern auch erschafft. Sie ist durchaus nur eine Eigenschaft des Sinnlichen, und auch der Künstler, der sie beabsichtigt, kann sie nur insoweit erreichen, als er den Schein unterhält, daß die Natur sie gebildet habe. 2 2 6
Indem die Idee des Schönen an die Natur gebunden bleibt, bleibt auch die Idee schöner Kunst an die Natur verwiesen, auch und gerade als Darstellung eines freien und sich bewußten Geistes, muß alles Bewußtsein sich doch schon in der Natur suchen, um durch die Natur hindurch auch sein eigenes Selbst allererst finden zu können. Ohne die Auslegung der Natur freilich ist weder ein freies Selbstbewußtsein noch auch eine auf ihm erst beruhende Darstellung der ästhetischen Subjektivität schon mit der dem Schönen so notwendigen Idee einer schönen Gestaltung zusammenzudenken, nicht nur, weil selbst das Genie des Geschmacks und der Arbeit bedarf, um gegen die auch in ihm wirksame Naturferne der Moderne jenes Spiel der reinen Formen aus sich herausstellen zu können, in dem sich die höchste Idee der Schönheit erfüllt, sondern vor allem auch deshalb, weil ohne die in der auslegenden Reflexion der Natur erst als Humanität erscheinende Bildung nicht nur alle Schönheit, sondern auch alle Freiheit auf ewig hintertrieben wird; denn bevor nicht »der innere Mensch mit sich einig« ist, wird auch der Staat nie »der Ausleger seines schönen Instinkts«.227 Natürlich, alles Schöne und allemal das der Kunst ist Produkt, wenn auch ein solches, dessen Produkt- und Arbeitscharakter nicht in Erscheinung treten darf,228 wenn nicht die Kunst aufhören soll, noch als »Kunst des Genies« zu gelten. Doch dies bedeutet zugleich, daß das Schöne der schönen Kunst nie nur Produkt sein kann, wenn nicht die Genialität des Genies aufhören soll, in jener privilegierten Stellung zu aller Natur zu stehen, die insbesondere in ihrer je eigenen Einbildungs-und Gestaltungskraft besteht, beides Kräfte, die in der Moderne kaum mehr entwickelt sind und vollständig zu verkümmern drohen. Schon die geschichtliche Stellung der ästhetischen Subjektivität 224 225 226 227 228
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
342
Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 417. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 411. Schiller, Über A n m u t und Würde. In: S W V, S. 440f. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [ . . . ] . In: S W V S. 578. hierzu auch: P. Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, S. 61f.
treibt damit zur Auslegung, doch nicht sie allein. Das eigentlich Frag-würdige einer nur imaginär konstituierten Subjektivität besteht vielmehr darin, daß die nur in Gestalt eigener Projektion in die Natur ein-gebildete Vernunft mit der Natur kaum weniger willkürlich umspringt als die in die Willkür der bloßen Egoität umgeschlagene Moral, nur mit dem Unterschied, daß das ästhetische Subjekt sich noch genießen will, wohingegen das nur moralische gerade auch im Genuß der Glückseligkeit das denkbar gefährlichste Hemmnis der praktischen Zwecke sieht. Hier wie dort gilt die Idee des Zwecks und damit auch die Idee der Bestimmung, welche der auslegenden Reflexion und damit auch der Idee der Schönheit in genau dem Maße zuwiderläuft, als sie die Freiheit der Natur durch die Bestimmungen des nur eigenen Gesetzes aufhebt. Schillers Einspruch gilt daher nicht nur der Erscheinung, sondern zugleich auch dem Wesen einer im bloßen Produktcharakter ihrer nur eigenen Hervorbringungen erstarrten Vernunft, gleichgültig, ob diese sich nun nur moralisch oder nur ein-bildend ästhetisch gebärdet: Das Schöne wird zwar jederzeit auf die praktische Vernunft bezogen, weil Freiheit kein Begriff der theoretischen sein kann — aber bloß der Form, nicht der Materie nach. Ein moralischer Zweck gehört aber zur Materie oder zum Inhalt und nicht zur bloßen Form [...] Praktische Vernunft verlangt Selbstbestimmung. Selbstbestimmung des Vernünftigen ist reine Vernunftbestimmung, Moralität; Selbstbestimmung des Sinnlichen ist reine Naturbestimmung, Schönheit. Wird die Form des Nichtvernünftigen durch Vernunft bestimmt (theoretische oder praktische, das gilt hier gleichviel), so erleidet seine reine Naturbestimmung Zwang also kann Schönheit nicht statthaben. Es ist alsdann Produkt, kein Analogen, eine Wirkung, keine Nachahmung der Vernunft, denn zur Nachahmung eines Dinges gehört, daß das Nachahmende mit dem Nachgeahmten bloß die Form und nicht den Inhalt, nicht den Stoff gemein habe. 229 Es ist nicht nur die Idee des Schönen, sondern immer auch die Idee des Guten, in deren Namen der kritische Einspruch gegen die Diktatur eines bloß imaginären Ein-bildens und Bestimmens erfolgt, denn in der Welt der Erscheinung sind Gutes und Schönes nicht ohne Gewalt voneinander zu scheiden, und selbst eine dem Ubersinnlichen allein verpflichtete Vernunft kann daher im Wechsel zu einer lebendig-empfindenden Welt nur jenen ästhetischen Charakter annehmen, der vom Objekt nur wissen will, »ob es das, was es ist, durch sich selbst sei«,230 die in ihm gefundene Fremdbestimmung aber in jener zugleich schönen und sittlichen Haltung, die unter dem N a m e n des Edlen verzeichnet ist, in die dem Objekt eigene Selbstbestimmung zu verwandeln sucht. Vor allem das Edle ist es, das eine nur reflektierende Auslegung verlangt, denn selbst das Schöne scheint es 229 230
s chiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 403f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 401. 343
noch darin zu übertreffen, daß ihm der reine Anblick des in sich selbst Vollendeten, daß ihm der schöne Schein selbst des höchsten Schönen kaum schon genügt, muß es doch »alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen«, nicht nur zum Schein, sondern zu seiner je eigenen Wirklichkeit und seinem je eigenen Selbst. Indem das Edle nicht nur die eigene, sondern auch und vor allem die Freiheit des Anderen meint, ist es notwendig Reflexion des Anderen in seiner nur ihm eigenen Sehnsucht und seinem nur ihm eigenen Wollen, Auslegung nicht als bloßes Bestimmen und bloßes Verfügen, sondern vielmehr als Frei-legen dessen, was seine nur ihm eigene innere Form und damit auch seine Glückseligkeit erst eigentlich ausmacht. Alle Natur, ja selbst die eigene Natur ist so in jene in sich verrätselte Freiheit zurückgestellt, in der die Natur überhaupt erst zu sprechen beginnt, eine Sprache sprechend, die es allererst zu verstehen und auszulegen gilt und auf die der Mensch in genau dem Maße zu hören hat, als er ihr selbst immer schon zugehört. Die Sprache der Natur als die Sprache des Anderen ist dem Menschen kaum geringeres als das figürliche Geheimnis seiner eigenen Freiheit, jene »Chiffrenschrift«, in der eigene und fremde Glückseligkeit vereint miteinander beschlossen liegen. Was den »Kallias«-Briefen zugrundeliegt — es ist das gleiche Motiv, das schon die »Theosophie« des Julius in nahezu enthusiastischen Tönen angeschlagen, auf ihre eigene Weise bereits durchgespielt und selbst ins Kosmische gewendet hatte, das Universum als ein Gedanke Gottes [...] Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft, die mir ähnlich ist. Die Gesetze der Natur sind die Chiffren, welche das denkende Wesen zusammenfügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen — das Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkommensten Geist und mit sich selbst unterhandeln [...] Willst Du Dich überzeugen, mein Raphael, soforsche rückwärts. Jeder Zustand der menschlichen Seele hat irgendeine Parabel in der physischen Schöpfung, wodurch er bezeichnet wird, und nicht allein Künstler und Dichter, auch selbst die abstraktesten Denker haben aus diesem reichen Magazine geschöpft. Lebhafte Tätigkeit nennen wir Feuer, die Zeit ist ein Strom, der reißend von hinnen rollt, die Ewigkeit ist ein Zirkel, ein Geheimnis hüllt sich in Mitternacht, und die Wahr-
heit wohnt in der Sonne. Ja, ich fange an zu glauben, daß sogar das künftige Schicksal des menschlichen Geistes im dunklen Orakel der körperlichen Schöpfung vorherver-
kündigt liegt. Jeder kommende Frühling, der die Sprößlinge der Pflanzen aus dem Schöße der Erde treibt, gibt mir Erläuterung über das bange Rätsel des Todes und widerlegt meine ängstliche Besorgnis eines ewigen Schlafs. Die Schwalbe, die wir im Winter erstarret finden und im Lenze wieder aufleben sehen, die tote Raupe, die sich als Schmetterling neu verjüngt in die Luft erhebt, reichen uns ein treffendes Sinnbild unsrer Unsterblichkeit. 231
Was sich in diesem Grundmotiv zu erkennen gibt, ist die auch von Wolfgang Düsing in schöner Wendung hervorgehobene und noch in den »Kal231
Schiller, Theosophie des Julius. In: SW V, S. 344f. (Hervorhebungen von U. T.).
344
Iias«-Briefen bestimmend bleibende »Tendenz, im Medium der Dichtung die gesamte Natur als Bild des Selbst zu verstehen«,232 mit dem Unterschied nur, daß die als Ein-bildung bildende Dichtung jetzt nicht mehr nur als Projektion der ästhetischen Subjektivität, sondern zugleich auch als Auslegung der Natur in ihrer geheimnisvollen Sprache und Schrift gelten kann. Nicht zuletzt wegen der längst dazwischengetretenen Vernunftkritik, welcher die aus dem Enthusiasmus geborenen Projektionen des Julius nur als höchst subjektivistischer Ausgriff der Schwärmerei auf Natur und auf Wahrheit erscheinen können, gehen die »Kallias«-Briefe einen anderen und nahezu gänzlich entgegengesetzten Weg, mit dem gleichen Motiv zwar, das auch die »Theosophie« bestimmt hatte, aber mit einem nun transzendental gefüllten und auch verschnürten Gepäck, welches dazu verhelfen soll, noch innerhalb der von der Vernunftkritik ausgesteckten Erkenntnisgrenzen »einen Begriff der Schönheit objektiv aufzustellen und aus da Natur der Vernunft zu legitimieren, so daß die Erfahrung ihn zwar durchaus bestätigt, aber daß er diesen Ausspruch der Erfahrung zu seiner Gültigkeit gar nicht nötig hat«.233 Es scheint kaum mehr als recht und billig, wenn man die »Kallias«Briefe an ihrer zentralen Intention einer transzendental gerechtfertigten Objektivität des Schönen zu messen sucht, obgleich diese Messung immer dann auch das eigentlich Interessante verfehlt, wenn sie die zahlreichen Schwierigkeiten der Argumentation nur zu jenem bekannten Ergebnis verdichtet, daß eine objektive Theorie des Schönen, welche die Objektivität aller Schönheit in die nur eigene Formkraft der Materie verlegt und ihre Freiheit im Grunde als Entelechie versteht, die strengen Maßstäbe der transzendentalen Vernunftkritik schon überschritten und damit das kritische, allein nur der reflektierenden Urteilskraft angehörende Prinzip der Heautonomie in metaphysischer Argumentation auch auf die Welt der Gegenstände selbst übertragen habe. Ein Weg von Kant zu Goethe, einmal mehr vorgetragen und nicht ohne minuziöse Akribie nachgezeichnet von Werner Strube,234 gestützt vor allem auf jene Auslegung innerer Formkraft, welche die Schönheit überall dort wahrzunehmen sucht, »wo die Masse von der Form und (im Tier- und Pflanzenreich) von den lebendigen Kräften (in die ich die Autonomie des Organischen setze), völlig beherrscht wird«,2i5 gestützt aber auch auf jene nicht 232
233
234 235
Vgl. W Düsing, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität, S. 191. - Vor allem Wolfgang Düsing ist der Hinweis auf den Zusammenhang der »Theosophie« mit den »Kallias«-Briefen zu danken. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 394 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. W Strube, Kallias oder über die Objektivität des Schönen, S. 125ff„ 131. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 413 (Hervorhebun-
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immer glücklichen und keineswegs immer v o n großer Auslegungskunst zeugenden Beispiele, welche der scheinbar nur metaphysischen Bestimmung a u f ihre je eigene Weise zu entsprechen suchen. 2 3 6 Gleichwohl geht es nicht nur u m die Beispiele und nicht allein nur um ihre allgemeine Bestimmung, weil Schillers transzendentale und transzendente Argumentationsformen nicht einfach nur säuberlich voneinander geschieden werden können, sondern vielmehr eine methodische Einheit bilden, die aus der Sache entspringt und sich einer endgültigen Bestimmung notwendig versperrt. A u c h für Schiller ist kein Gegenstand in der Natur und noch viel weniger in der Kunst zweck- und regelfrei, keiner durch sich selbst bestimmt, sobald wir über ihn nachdenken. Jeder ist durch einen anderen da, jeder um eines anderen willen da, keiner hat gen ζ. T. von U. T.). Diese Bestimmung auch ist es, die in Elmar Dods sprachlich sensibler Interpretation der »Kallias«-Briefe entschieden vernachlässigt ist wodurch die »ästhetische Form als Gewaltakt« erscheint und Schillers Idee des »ästhetischen Staates« sogar »totalitäre Züge« bescheinigt werden, an denen die fortwährende Herrschaft des »kategorischen Imperativs« sich scheinbar bestätigt. Vgl. E. Dod, Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik. S. 198f., 205ff. Auch Dod bewegt sich damit nur in einem strengen Gegensatz zwischen dem transzendentalen Ansatz Kantischer Provenienz und Schillers Versuch über die »innere form«, der in dieser Strenge weder für Kant noch für Schiller gilt. Der Richtungssinn von Schillers Formel der »Freiheit in der Erscheinung« ist der von Elmar Dod beanstandeten »Verleugnung der Individualität« gerade entgegengesetzt, indem er sich - trotz Schillers sprachlich nicht immer glücklichen Fügungen - auf eine »Logik der Individualität« zuspitzt, welche sich in concreto freilich nicht immer realisieren läßt. Elmar Dods Ausführungen stehen daher auch im Gegensatz zum Richtungssinn der hier vorgetragenen Interpretation, zumal die für Schiller grundlegende Revision des Kantischen Vernunftbegriffs als solche geleugnet wird und auch das »Spielen als Kongruenz von Natur und Vernunft im Handeln nur im autonomen Scheinbezirk vorstellbar« ist, was nur erneut in den undialektischen Gegensatz von Schein und Realität einmündet, über den Schiller gerade hinauswill. Vgl. E. Dod, ebd., S. 54,104. 236
Der Sieg der freien und aus sich selbst bestimmten Bewegung über die Fesseln der Schwerkraft ist das entscheidende Prinzip, in dem alle Beispiele Schillers in je unterschiedlicher Art übereinkommen, wenngleich die Darstellung Schillers zuweilen an den zugrundegelegten Normierungen des jeweilig intendierten Wesens leidet und deswegen nicht immer als überzeugend bezeichnet werden kann. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 412 (Pferd, vgl. auch S. 421); S. 413 (Vogel); S. 420f. (Gebäude, Kleidung); S. 421 (Bäume); S. 422 (Komposition, Landschaft). Gerade die Beispiele lebendiger Wesen zeigen übrigens, daß Schillers Bestimmungen sich durchaus nicht schon als »Weg zu Goethe« darstellen, wie Strube mehr systematisch unterstellt. Vgl. W Strube, Kallias oder über die Objektivität des Schönen, S. 131. - Darstellungen der Schönheit sind für Goethe auch immer »Ruhe und Gleichgültigkeit«, nicht also Bewegung und freier Aufschwung. Vgl. Goethe, Inwiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Wesen angewendet werden könne. In: HA, 13, S. 21ff.
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Autonomie. Das einzig existierende Ding, das sich selbst bestimmt und um seiner selbst willen ist, muß man außerhalb der Erscheinung in der intelligiblen Welt aufsuchen. Schönheit aber wohnt nur im Feld der Erscheinungen, und es ist also gar keine Hoffnung da, vermittelst der theoretischen Vernunft und auf dem Wege des Nachdenkens auf eine Freiheit in der Sinnenwelt zu stoßen. 237 D e r streng t r a n s z e n d e n t a l e A n s a t z selbst ist der G r u n d , w a r u m »ohne das Z e u g n i s der E r f a h r u n g n i c h t a u s z u k o m m e n « ist, 238 das Schillers vorwieg e n d der B e w e g u n g g e l t e n d e n Beispiele zu d o k u m e n t i e r e n suchen, nicht in der n u r starren Gestalt einer i m G r u n d e n u r m e t a p h y s i s c h v e r t i e f t e n E m p i r i e , s o n d e r n weit m e h r in j e n e m zugleich kritischen u n d symbolischen Sinn, d e m das »Gesetz der Schwere« als »allgemeine Naturkraft« u n d d a m i t zugleich als S y m b o l j e n e r I d e e v o n A l l g e m e i n h e i t gilt, die in ihrer logischen u n d m o r a l i s c h e n Gestalt die I n d i v i d u a l i t ä t ihrer G e g e n s t ä n d e a u f h e b t u n d in der Welt der E r s c h e i n u n g i m m e r n u r h e t e r o n o m wirkt. 239 Alle »Schwere« steht d a h e r stets f ü r d e n Z w a n g v o n T h e o r i e u n d Praxis u n d d a m i t f ü r das, w o r i n alle S c h ö n h e i t erdrückt wird, d e n n ihr Gesetz ist i m m e r n u r das G e s e t z einer i m G r u n d e n u r starren u n d gleichsam in sich e r d r ü c k t e n F o r m , die in der E r s c h e i n u n g in g e n a u d e m M a ß e n u r S t o f f ist, als sie d e n S t o f f n u r b e s t i m m e n will, u m d u r c h die B e s t i m m u n g über i h n zu v e r f ü g e n . D a s »Gesetz der Schwere« ist d a h e r ästhetisches Gesetz, d e n n i m m e r s c h o n setzt sein G e s e t z t s e i n die aus der kritischen O p t i k ästhetisierte V e r n u n f t - u n d W i r k l i c h k e i t s p e r s p e k t i v e voraus, will diese d o c h n i c h t die B e s t i m m u n g , welche d e m O b j e k t n u r f r e m d e r Z w a n g sein k a n n , s o n d e r n die auslegende R e f l e x i o n , in der sich das S c h ö n e allererst als »Freiheit in der Erscheinung« z u e r k e n n e n gibt, als in sich u n d d u r c h sich b e s t i m m t e u n d d a r u m s c h ö n e Individualität, d e r e n Logik die auslegende R e f l e x i o n zu e n t f a l t e n sucht. W o r u m es Schillers Versuch ü b e r die O b j e k t i v i t ä t des S c h ö n e n erst eigentlich geht, ist nicht die — o h n e h i n n u r scheinbar n o t w e n d i g e — R e h a b i l i t i e r u n g der s c h ö n e n K u n s t g e g e n ü b e r der f r e i e n S c h ö n h e i t s c h o n in der N a t u r , s o n d e r n k a u m weniger als der E n t w u r f einer als Logik der I n d i v i d u a l i t ä t v e r s t a n d e n e n u n d als R e f l e x i o n der a u s l e g e n d e n R e f l e x i o n d u r c h g e f ü h r t e n ästhetischen Logik. D a s p r o b l e m a t i s c h e »Gesetz der Schwere« ist n u r jenes Gesetz, welches die ästhetisierte V e r n u n f t sich entgegensetzt, u m d e n Bestand der S c h ö n h e i t vor d e n a l l g e m e i n e n M ä c h t e n der Logik u n d M o r a l i t ä t z u sichern. Alles wird bereits anders, wenn man die theoretische Untersuchung hinwegläßt und die Objekte bloß nimmt, wie sie erscheinen. Eine Regel, ein Zweck kann nie erscheinen, denn es sind Begriffe und keine Anschauungen. Der Realgrund der Möglichkeit eines 237 238 239
Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 402. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 394. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 414ff. 347
Objekts fällt also nie in die Sinne, und er ist so gut als gar nicht vorhanden, >sobald der Verstand nicht zu Aufsuchung desselben veranlaßt wird< [... ] Eine Form erscheint also frei, sobald wir den Grund derselben weder außer ihr finden, noch außer ihr zu suchen veranlaßt werden. Denn würde der Verstand veranlaßt, nach dem Grund derselben zu fragen, so würde er diesen Grund notwen¿/¿außer dem Dinge finden müssen; weil es entweder durch einen Begriff oder durch einen Zufall bestimmt sein muß, beides aber sich gegen das Objekt als Heteronomie verhält. Man wird also folgenden Grundsatz aufstellen können: daß ein Objekt sich in der Anschauung als frei darstellt, wenn die Form desselben den reflektierenden Verstand nicht zu Aufsuchung eines Grundes nötigt. Schön also heißt eine Form, die sich selbst erklärt; sich selbst erklären heißt aber hier, sich ohne Hilfe eines Begriffs erklären [... ] Schön, kann man also sagen, ist eine Form, die keine Erklärungfodert, oder auch eine solche, die sich ohne Begriff erklärt240 Daraus schon, daß die Idee der Schönheit »von Begriffen schlechterdings unabhängig« und daher auch »nicht bei der theoretischen Vernunft anzutreffen« ist,241 entwickelt Schiller die Hoffnung, »daß das subjektive Prinzip doch ins Objektive hinübergeführt werden kann«. 242 In solchen Reflexionen ist die Idee der Schönheit als jenes in sich Vollendete begriffen, angesichts dessen die »unmittelbare Reflexion über den Anblick« 243 schon zu genügen scheint, um den Schein seiner Heautonomie aus sich heraus zu erzeugen. Nach Schiller ist es bloß »ein Bedürfnis unserer theoretischen Vernunft, uns die Form eines Dings als abhängig von einer Regel zu denken; aber daß es durch keine Regel, sondern durch sich selbst ist, ist ein Faktum für unsertt Sinn«.244 Vor allem nur das Naturschöne ist es, welches den Schein freier Schönheit aus sich erzeugt und dem Bewußtsein erst jene Idee schöner Freiheit ein-bildet, in deren Zeichen es eigenes und auch fremdes Selbstbewußtsein allererst suchen und finden kann. Weil alles Schöne allein der Natur entspringt, wird es dieser nicht einfach nur ein-gebildet, sondern immer schon in der Natur »entdeckt«, 245 indem es »der Einbildungskraft als durch sich selbst vorgehalten wird«, 246 um ihr im Schein als »reine Zusammenstimmung des innern Wesens mit der Form« zu erscheinen, als »eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt 240 241 242 243 244 245
246
Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 402f. Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S.398. Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S.403. Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 410. Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 418 (Hervorhebungen von U. T.). Entsprechend heißt es auch in den »Rallias«-Briefen: »Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, [...] so schreibt sie demselben Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu.« Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 400 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Rallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 427.
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und gegeben ist«.247 Freie Naturschönheit ist d e m Bewußtsein i m m e r auch ein-gebildeter Zu-fall, d e n n allen Vorstellungen, die nichts als A n schauung sind, ist es zufallig, o b sie mit der Form der Vernunft übereinstimmen; in den Begriffen ist es notwendig, wenn sie sich nicht selbst aufheben sollen. Hier also findet die Vernunft Übereinstimmung mit ihrer Form; dort wird sie überrascht, wenn sie sie findet,248 Im überraschenden Finden entspringt erst die Lust des Bewußtseins a m Schönen, 2 4 ' nicht i n der Ein-bildung, welche nur Projektion u n d Spiegel der ästhetischen Subjektivität u n d ihrer allein imaginären Selbstkonstitution wäre, w e n n die Natur nicht als »Freiheit in der Erscheinung« erschiene und d e m Bewußtsein die Möglichkeit z u jener gleichsam nur rückläufigen Ein-bildung zuspielte, die sie für Kant und m e h r n o c h für Schiller zu einem Ausdruck von Ideen macht. Wir meinen hier aber keineswegs diejenige Erweckung von Ideen, die von dem Zufall der Assoziation abhängig ist; denn diese ist willkürlich und der Kunst gar nicht würdig; sondern diejenige, die nach Gesetzen der symbolisierenden Einbildungskraft notwendig erfolgt. In tätigen und zum Gefühl ihrer moralischen Würde erwachten Gemütern sieht die Vernunft dem Spiele der Einbildungskraft niemals müßig zu; unaufhörlich ist sie bestrebt, dieses zufällige Spiel mit ihrem eigenen Verfahren übereinstimmend zu machen. Bietet ihr sich nun unter diesen Erscheinungen eine dar, welche nach ihren eigenen (praktischen) Regeln behandelt werden kann; so ist ihr diese Erscheinung ein Sinnbild ihrer eigenen Handlungen, der tote Buchstabe wird zu einer lebendigen Geistersprache, und das äußere und innere Auge lesen dieselbe Schrift der Erscheinungen auf ganz verschiedene Weise. Jene liebliche Harmonie der Gestalten, der Töne, des Lichts, die den ästhetischen Sinn entzückt, befriedigt jetzt zugleich den moralischen; jene Stetigkeit, mit der sich die Linien im Raum oder die Töne in der Zeit aneinanderfügen, ist ein natürliches Symbol der inneren Übereinstimmung des Gemüts mit sich selbst und des sittlichen Zusammenhangs der Handlungen und Gefühle, und in der schönen Haltung eines pittoresken oder musikalischen Stücks malt sich die noch schönere einer sittlich gestimmten Seele.250 D e r d e m B e w u ß t s e i n erst zugespielte und in die Natur zurückgespielte Schein ist der Schein der ästhetischen Ideen, in d e m Natur u n d Vernunft erst ein gemeinschaftliches L e b e n entfalten, jener doppelte und in sich vervielfältigte Schein v o n S c h ö n h e i t und Freiheit, der seinen Ausgang 247 248
249 250
Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 416. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 396 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. parallel dazu: Kant, Kritik der Urteilskraft, XL. Schiller, Über Matthisons Gedichte. In: SW V, S. 999f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Durch die ganz ausgezeichneten Arbeiten von O. J. M. Jolies ist die genauere Analyse von Schillers Sprachverständnis und Sprachhandhabung übrigens nicht mehr nur ein Desiderat. Vgl. O. J. M. Jolies, Toter Buchstabe und lebendiger Geist. - Vgl. auch: O. J. M. Jolies, Das Bild des Weges und die Sprache des Herzens. 349
von der nur unmittelbaren Reflexion des Anblicks nimmt, um nur desto tiefer in jenes Innere zu führen, in dem der ästhetische Mensch sich zuletzt selbst zu begegnen vermag; denn eben darin liegt das eigentlich Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken. Der wirkliche und ausdrückliche Gehalt, den der Dichter hineinlegt, bleibt stets eine endliche; der mögliche Gehalt, den er uns hineinzulegen überläßt, ist eine unendliche Größe. 251
Das Schöne der Kunst ist die unendliche Verinnerlichung und Vertiefung des Naturschönen und seiner nur unmittelbaren Reflexion, Selbstreflexion als Reflexion jenes in sich immer auch grundlosen Grundes, in den das freie Selbst von Natur und Vernunft schon immer hineingestellt ist und auf seine freilegende Auslegung wartet. Erst mit der dem Naturschönen verdankten Verinnerlichung freier Subjektivität kann sich daher der in der Natur nur verborgene Sinn der Freiheit erschließen, nicht nur, weil ohne die auslegende Reflexion der Natur auch die Selbstreflexion kaum mehr wäre als der sich im mundus inteUigibilis verfliegende Überschwang, sondern vor allem auch deshalb, weil in der höchsten Verinnerlichung und Vertiefung der Subjektivität sich der Sinn der Welt allererst aufschließt. Als »Freiheit in der Erscheinung« erweckt die Schönheit nicht bloß Lust über den Gegenstand, sondern auch Neigung zu demselben; diese Neigung der Vernunft, sich mit dem Sinnlichen zu vereinigen, heißt Liebe. Das Schöne betrachten wir eigentlich nicht mit Achtung, sondern mit Liebe; ausgenommen die menschliche Schönheit, welche aber Ausdruck der Sittlichkeit als Objekt der Achtung in sich schließt. 252
Allein die Liebe ist »eine freie Empfindung, denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freiheit, aus unserer göttlichen Natur«,253 so zwar, daß es freie Natur ist, welche der freien Vernunft erst jene freie Empfindung ein-bildet, in der das Gefühl ihrer selbst in ihr erwacht. Im Medium des Naturschönen sieht die Vernunft 251
252
253
Vgl. Schiller, Über Matthisons Gedichte. In: SW X S. lOOOf. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Aus den ästhetischen Vorlesungen. In: SW V S. 1040. - Das Befremden Dieter Henrichs angesichts der paradox anmutenden Konzeption einer »Neigung der Vernunft« zur Sinnlichkeit ist nur aus seiner zu starken Orientierung an der Kantischen Begriffsbildung zu erklären, selbst verwunderlich und befremdlich, wenn man an gleichlautende Stellen in der »Kritik der Urteilskraft« denkt. Vgl. D. Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, S. 537f. - Natürlich, aus der strengen Systematizität der Kantischen Terminologie vor allem der ersten zwei Kritiken ist eine rationale Deduktion der »Suche« und »Liebe« - systematisch gesehen ohnehin eher eine contradictio in adiecto - kaum möglich, wenngleich sie schon aus der Idee des Systems und damit auch aus der gesamten Anlage der dritten Kritik entspringt und Schillers Idee der Liebe ein breites und tragendes Fundament gibt. Vgl. Schiller, Über A n m u t und Würde, In: SW V S. 483.
350
ihre Forderung in der Sinnlichkeit erfüllt, und überraschend tritt ihr eine ihrer Ideen in der Erscheinung entgegen. Diese unerwartete Zusammenstimmung des Zufälligen der Natur mit dem Notwendigen der Vernunft erweckt ein Gefühl frohen Beifalls (Wohlgefallen), welches auflösend für den Sinn, für den Geist aber belebend und beschäftigend ist, und eine Anziehung des sinnlichen Objekts muß erfolgen. Diese Anziehung nennen wir Wohlwollen — Liebe; ein Gefühl, das von Anmut und Schönheit unzertrennlich ist.254 Zwar ist die Liebe für Schiller »das Selbstsüchtigste in der Natur«, d e n n es ist »immer nur eigenes Selbst, was sie in ihrem Gegenstande sucht u n d schätzet«; 255 u n d d o c h wird v o n »ihrem heiligen F e u e r . . . jede eigennützige N e i g u n g verzehrt, u n d reiner k ö n n e n Grundsätze selbst die Keuschheit des G e m ü t s kaum bewahren, als die Liebe des H e r z e n s Adel bewacht«. 256 D i e i m Schein ihrer S c h ö n h e i t und ihrer Freiheit erst aufscheinende Natur ist es daher, die die Vernunft in sich selbst führt und sie zu einer sich auch e m p f i n d e n d e n u n d i m M a ß e der eigenen E m p f i n d u n g erst zu einer wirklichen Weltvernunft werden läßt, die der Naturwelt in jener Liebe zugewandt bleibt, die ein »Herabsteigen« 2 5 7 u n d zugleich jenes Edle ist, das alle Natur beschützt und behütet. Erst i m Angesicht der freien Naturschönheit und der v o n ihr ein-gebildeten Liebe ist es nicht mehr das Kleine und Niedrige, was sich mit dem Großen und H o h e n mißt, nicht der Sinn, der an dem Vernunftgesetz schwindelnd hinaufsieht; es ist das absolut Große selbst, was in der A n m u t und Schönheit sich nachgeahmt und in der Sittlichkeit sich befriedigt findet, es ist der Gesetzgeber selbst, der Gott in uns, der mit seinem eigenen Bilde in der Sinnenwelt spielt. 258 254
255 256
257 258
Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 482 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V S. 484. Vgl. Schiller, Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: SW V S. 690. Vgl. Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V, S. 484. Vgl. Schiller, Über Anmut und Würde. In: SW V S. 483. - H.-G. Pott ist darin zuzustimmen, daß die Liebe nicht jenes zentrale Vereinigungsprinzip darstellt, in dem Natur und Freiheit sich schließlich versöhnen, denn wenn »der Begriff der Schönheit nun [... ] in den der Liebe eingeht, so ist damit die Kategorie des Erhabenen aus der Ästhetik getilgt... Die Liebe ist der Ausdruck einer synthetischen Einheit (einer Äußerung des Spieltriebes mithin), die aber noch im Subjekt verharrt (ein Zustand also bleibt) und nicht auch schon sein anderes umgreift. Damit konnte sie für Schiller aber auch nicht ins Zentrum des Vereinigungsgedankes rücken.« Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 90. - Der systematische Grundgehalt ist damit herausgestellt, wenn auch um den Preis einer Vereinfachung, ist doch der Liebesbegriff mit einer sich allein selbst genügenden und genießenden Liebe nicht vollständig zu umschreiben, zeigt er zumindest doch Spuren auch jener reinen Liebe, welche den Eigennutz der nur noch sich selbst genießenden Liebe gleichsam verbrennt und einer anders gearteten Welt geneigt bleibt. Die Liebe allein trägt die Versöhnung nicht, denn sie 351
D a s Spiel v o n Natur u n d Vernunft ist keineswegs nur jenes imaginäre Spiel einer der b l o ß e n N a t u r erst ein-gebildeten Freiheit, sondern vielm e h r ein Spiel, in d e m Natur u n d Vernunft beständig die R o l l e n w e c h s e l n und zugleich auch das Subjekt u n d O b j e k t des v o n und mit i h n e n gespielten Spiels sind. D a s nur imaginäre Spiel bloßer Projektionen ließe sich dagegen nie in ein Verhältnis v o n Subjekt u n d O b j e k t eintragen und kann daher auch zu keiner Idee des S c h ö n e n führen, die sich d e n Titel des O b j e k t i v e n verdiente. D i e b l o ß e Ein-bildung eines ästhetischen S o u v e räns ist i m Grunde nicht Spiel, d e n n das Spiel ist i m m e r nur als ein ästhetischer Wechsel v o n Subjekt und O b j e k t erst wirklich Spiel, nicht aber jene ästhetische Schwärmerei des ästhetischen Absolutismus, der das O b j e k t nur A n b l i c k und Ausblick nur a u f sich selbst ist, nicht mehr als ein bloßer A n l a ß zur Wiedererkennung nur eigener Projektionen u n d daher auch niemals ein O b j e k t i m Sinne realer Erkenntnis. O h n e O b j e k t aber ist auch die Objektivität des Objekts nicht m e h r als ein Traum der b l o ß e i n - b i l d e n d e n Einbildungskraft, den das Bedürfnis der praktischen Vern u n f t nach einer Bestätigung v o n e i n e m anderen ihrer selbst her nur an die eigene Kerkerwand malt. Folglich »muß der Verstand ins Spiel gesetzt werden«. 2 5 9 D i e Idee freier Selbstbestimmung und das ihr korrespondierende sinnliche Merkmal an dem Objekte müssen miteinander in einem solchen Verhältnis stehen, daß die Vernunft durch ihre eignen unveränderlichen Gesetze zu dieser Handlung genötigt wird. In der Vernunft selbst muß also der Grund liegen, warum sie ausschließend nur mit einer gewissen Erscheinungsart der Dinge eine bestimmte Idee verknüpft, und in dem Objekte muß wieder der Grund liegen, warum sie ausschließend nur diese Idee und keine andre hervorruft. 2 6 0
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ist kein Prinzip und kann keines sein, gerade weil sie auch jene Stimmung und Haltung ist, in welcher das Edle besteht und sich als aufschließende Kraft bewährt. Vgl. hierzu auch: H. Mettler, Entfremdung und Revolution, S. 26ff. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S . 410. So die treffende Formel aus Schillers Abhandlung »Uber Anmut und Würde«. In: SW V, S. 442. - In den »Kallias«-Briefen heißt es entsprechend: »Wenn aber die Dinge, insofern sie in der Erscheinung vorkommen, Freiheit weder besitzen noch zeigen, wie kann man einen objektiven Grund dieser Vorstellungen in der Erscheinung suchen? Dieser objektive Grund müßte eine solche Beschaffenheit derselben sein, deren Vorstellung uns schlechterdings nötigt, die Idee der Freiheit in uns hervorzubringen und auf das Objekt zu beziehen. Dies ist, was jetzt bewiesen werden muß. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 409. - Ausdrücklich merkt Schiller an, daß ohne das »Objektive an den Dingen« selbst die Lehre von der Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung« nur subjektiv und also »noch gar nicht bewiesen« (vgl. ebd., S. 408), daß - auch hierin folgt Schiller einer Beweisform der Kantischen Ethik - die vom Objekt selbst ausgehende »Nötigung« erst der Beweis der Objektivität sei. Schon hier ist die Argumentation der Idee des Wechsels zugebildet, denn auf die Nötigung der Natur durch Vernunft antwortet genau die entgegengesetzte
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Das Hinausgehen über Anblick und bloße Ein-bildung ist daher immer auch ein Hineingehen in die Gegenständlichkeit der Naturwelt in der Gestalt einer Reflexion, die mit dem Realgrund des Gegenstandes zugleich auch den Grund seiner Form zu fassen sucht und in diesem Versuch über »die innere Notwendigkeit der Form«261 erst auf jenes Grundlose stößt, das den eigentlichen Grund seiner Freiheit ausmacht und einer höchsten Schönheit darin zum Dasein verhilft, daß alle Bestimmung notwendig an ihm zerbricht; denn eben darin zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glanz, wenn sie die logische Natur ihres Objektes überwindet, und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand da ist? Wie kann sie dem völlig formlosen Stoff ihre Form geben? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist, und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit hingegen ist die Form dieser Vollkommenheit; die sich also gegen die Schönheit wie der Stoff zu der Form verhält. 262
Diese Idee schon ist nicht nur die Wirkung jener kritischen und symbolischen Bestimmung, welche das Wesen des Schönen vor allem im Sieg über die Schwerkraft des allgemein Logischen und Moralischen sieht und in dieser Gestalt schon auf Heinrich von Kleists Versuch »Über das Marionettentheater« verweist,263 sondern zugleich auch die Wirkung jener von Schiller nur angedeuteten Theorie der auslegenden Reflexion, der der Verstand nicht das ewige Hindernis einer stets »antigraven« Schönheit, sondern vielmehr der notwendige und entscheidende Widerstand ist, der die ästhetische Reflexion aus der Unmittelbarkeit des bloß kontemplativen Anblicks reißt und dem nur »wesenlosen Reich der Einbildungs-
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Nötigung der Vernunft durch Natur; zwei Nötigungen mithin, welche in ihrer wechelseitigen Aufhebung die Möglichkeit auch der Freiheit entspringen lassen. Denn sobald nur »zwei entgegengesetzte Grundtriebe [... ] tätig sind, so verlieren beide ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der Freiheit den Ursprung.« Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SWV, S. 631. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 416. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 395 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). In dieser Gestalt, ist doch schon Schillers Idee einer der Natur selbst angehörenden und bis in die äußere Form und Bewegung hinein sich aus sich selbst bestimmenden »Person des Dinges« (vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 411). von Kleists Bestimmung der Seele als einer »vis motrix« mit einem nur eigenen »antigraven« Schwerpunkt nicht weit entfernt, zumal für Schiller wie auch für Kleist die Schönheit in genau diesem »antigraven« Charakter der Seele liegt. Vgl. Kleist, Über das Marionettentheater. In: Gesamtausgabe Band 5, S. 71ff. - Vgl. hierzu auch die allerdings nur zum Teil zutreffenden Anmerkungen Benno v. Wieses, in: B. v. W , Tragödie und Theodizee, S. 288ff.
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kraft«264 eine Bestimmtheit zu geben sucht, in der die Objektivität des Schönen eigentlich erst ins Spiel kommen kann und zum Gegenstand und zum Prinzip der ästhetischen Reflexion wird. Auch das Schöne kann daher nur eine solche Form besitzen und zeigen, die eine Regel zuläßt; denn der Verstand kann sein Geschäft nur nach Regeln verwalten. Es ist aber nicht notwendig, daß der Verstand diese Regel erkennt (denn Erkenntnis der Regel würde allen Schein der Freiheit zerstören, wie bei jeder strengen Regelmäßigkeit wirklich der Fall ist), es istgenug, daß der Verstandauf eine Regel—unbestimmt welche—geleitet wird [...] Eine Form, welche auf eine Regel deutet (sich nach einer Regel behandeln läßt), heißt kunstmäßig oder technisch. Nur die technische Form eines Objektes veranlaßt den Verstand, den Grund zu der Folge zu suchen und das Bestimmende zu dem Bestimmten; und insofern also eine solche Form ein Bedürfnis erweckt, nach einem Grund der Bestimmung zu fragen, so führt hier die Negation des Vonaußenhestimmtseins ganz notwendig auf die Vorstellung des Voninnenbestimmtseins oder der Freiheit. 265
Vom gänzlichen Ausschluß des Verstandes und seines Bestimmens kann die Rede nicht länger mehr sein, denn daß die Schönheit als Form verstanden wird, »die keine Erklärung fodert«, bedeutet allein nur, daß die Erklärung nicht außerhalb, sondern immer nur innerhalb des Objekts zu suchen ist, sobald es nur »einer Technik durch Natur (wie bei allem Organischen)« gleichkommt und darin auch mehr als der nur ein-gebildete Schein der Freiheit ist, daß es »gänzlich unabhängig von der Existenz des vernünftigen Subjekts« existiert.266 Schon die »technische Form selbst«267 ist dem Verstand Grund genug, den Bestimmungsgrund des Objekts im Gegenstand selbst zu suchen, obgleich er hier niemals auf einen letzten Grund seiner Gestalt stoßen kann, da in der technischen Form des Objekts nur jene Zweckmäßigkeit ohne Zweck zu finden ist, die dem Verstände alles bloß kategoriale Bestimmen in genau dem Maße raubt, in dem sie einer ihm notwendig fremden und schwer nur begreiflichen Kunst der Natur entspringt und jener Schönheit entspricht, von der die organisierten Naturprodukte ein so beredtes Zeugnis ablegen. Die in der Technik angedeutete Regel ist daher auch das, was den Gegenstand erst »aus der unendlichen Reihe des Nichtssagenden und Leeren hinaushebt und unsern Erkenntnistrieb reizt«,268 indem sie den gleichförmigen Leer264 265
266 267
268
Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 658. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 410 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 417. Die technische Form ist daher auch immer der Grund, welcher den Verstand erst ins Spiel bringt, mit der Pointe freilich, daß dem Verstand diese Form das notwendig Auswärtige und Fremde bleiben muß, wenn diese nur der Natur entspringt. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 414. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 410.
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lauf der kategorialen Gegenstandskonstitution unterbricht 269 und das bloße Bestimmen in jene Gestalt der nur regulativen Reflexion verwandelt, in der das innere Formprinzip eines Objekts nach dem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ausgelegt und interpretiert werden kann. Verstand und auslegende Reflexion sind kaum mehr zu unterscheiden. Es ist die der Teleologie angehörende Idee des Zwecks, in der sich »die innere Möglichkeit eines Naturprodukts« als ein Zweck der Natur zeigt. Dieser Zweck ist es, der das technisch organisierte Produkt der Natur als eine »besondere Vorstellung eines Ganzen, welche vor der Möglichkeit seiner Teile vorhergeht«, 270 entwirft und damit eine zu ewig nur kritischer Reflexion verurteilte Auslegung der Natur und Erfahrung sowohl begründet als darstellt. Schon der Kantischen Reflexion der Reflexion ist die Verwandlung des kategorialen Verstandes in auslegende Reflexion alles andere als ein Verlust, nicht nur, weil in dieser Verwandlung erst jene grundlegende Differenz von Natur und Freiheit umspannt werden kann, die das »Systembegehren« der architektonischen Vernunft zu einem befriedigten Abschluß führt, sondern vor allem auch deshalb, weil der zur auslegenden Reflexion bestimmte Verstand sich erst in der Auslegung einer ihm heterogenen Welt der Natur öffnet und in der Begegnung mit dieser Welt und ihrer nur immer konkreten Gegenständlichkeit ein Maximum höchster Tätigkeit entfaltet. 271 Der Verlust der Bestimmung ist dem Verstände daher auch immer Gewinn der Welt und eine Erweiterung seiner selbst, welche bis zur Vernunft reichen kann, wenn der kritische und transzendentale Charakter der Reflexion nur darin gewahrt bleibt, daß sich die Gegenständlichkeit der Naturwelt der vollständigen Auslegung entzieht und in diesem Entzug zur Darstellung genau jenes »Voninnenbestimmtseins« wird, das mit ihrer Kunst zugleich auch die Freiheit der Natur schon in der Natur selbst offenbart, jene »Autonomie des Organi-
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270 271
Schon in der Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« ist zu lesen, daß »wir von dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorien) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen und auch nicht antreffen können, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt.«Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, XXXIX. Vgl. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 43f. Wolfgang Janke formuliert dies in der Sprache der Wechselwirkung: »Je mehr folglich der sinnliche Trieb l e i d e t , d. i. durch Welt bestimmt wird, desto mehr vermag der Formtrieb zu tun, d. i. die ergriffene Weltgegenwart im Lichte allzeitlicher Gesetze zu begreifen. Ein Wechselverhältnis, in welchem Subordination mit Koordination zugleich besteht, heißt Harmonie.« Vgl. W Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 246.
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sehen«, die Schillers kritischer Reflexion von Natur und Vernunft schon immer zugrundelag: Hieraus ergibt sich n u n eine zweite Grundbedingung des Schönen, ohne welche die erste bloß ein leerer Begriff sein würde. Freiheit in der Erscheinung ist zwar der Grund der Schönheit, aber Technik ist die notwendige Bedingung unsrer Vorstellung von der Freiheit. Man könnte dieses auch so ausdrücken: Der Grund der Schönheit ist überall Freiheit in der Erscheinung. Der Grund unsrer Vorstellung von Schönheit ist Technik in der Freiheit. Vereinigt man beide Grundbedingungen der Schönheit, so ergibt sich daraus folgende Erklärung: Schönheit ist Natur in der Kunstmäßigkeit. 272
Somit ergibt sich die scheinbar paradoxe Bestimmung, daß der allein kritische und transzendentale Charakter der auslegenden Reflexion erst der entscheidende Grund für jene schon transzendente Wendung der nur transzendentalen Bestimmungen ist, in der das allein nur der Reflexion angehörende Prinzip der Heautonomie von Schiller als inneres Formprinzip der lebendigen und frei sich bildenden Naturwelt verstanden wird. Schillers eigene und abstrakt bleibende Erklärung reicht dafür allein kaum schon aus, nach welcher »diese Natur und diese Heautonomie objektive Beschaffenheiten der Gegenstände sind, denen ich sie zuschreibe, denn sie bleiben ihnen, auch wenn das vorstellende Subjekt ganz hinweggedacht wird«.273 Der eigentlich erst bestimmende Grund und daher die Auflösung des Paradoxons ist vielmehr der in der Bestimmung der technischen Form als Vorstellungsgrund der Freiheit versteckte Hinweis auf die Idee des Objekts und seiner Objektität. Für Schiller fungiert die Technik vor allem deswegen als Grund des Freiheitsbewußtseins, weil sich die Kunst der Natur in ihrem eigentümlichen Grund aller vollständigen Bestimmung und Auslegung entzieht und sich im Entzug des ihr eigenen Bestimmungsgrundes gerade erst als jener grundlose Grund zu verstehen gibt, welcher die technische Form bestimmt, selbst aber nicht Technik, sondern Freiheit als sich entziehender und darum grundloser Grund der Technik ist. Technik und Freiheit sind daher auch immer zu scheiden, denn wenn auch die technische Form als ratio cognoscendi der Freiheit verstanden ist, so ist doch die Technik noch überall etwas Fremdes, wo sie nicht aus dem Dinge selbst entsteht, nicht mit der ganzen Existenz desselben eins ist, nicht von innen heraus, sondern von außen herein, nicht dem Dinge notwendig und angeboren, sondern ihm gegeben und also zufallig ist.274
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Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 411 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 416. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 415.
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Dies ist nicht schon und nicht allein nur ein Nachklang der Lehre von den eingeborenen Ideen, sondern immer noch eine im Horizonte der Kantischen Reflexionsphilosophie beheimatete Bestimmung. Der im Entzug des Naturganzen deutliche Entzug des Grundes selbst ist der Grund, welcher die Reflexion der nur technischen Form zur Reflexion von Vernunft und Freiheit werden läßt und die Vernunft dazu führt, die Idee der Freiheit in jene »Natur des Dinges« zu verlegen,275 die mit der Vernunftfreiheit Kantischer Prägung nicht umsonst darin übereinkommt, daß sie allein nur sich selbst bestimmt und selbst nicht erscheint, nur das Gesetz ihrer eigenen Form als Darstellung ihrer selbst. Nicht nur die Freiheit, auch die Natur ist daher ins Übersinnliche zurückgestellt und darin auch Freiheit. Letztlich ist der Entzug eines letzten Bestimmungsgrundes in allen freien und nur reflektierten Naturprodukten nur jener ewige Sieg des eigentlich Dinglichen des Dinges über die eigene Objektität und über jenes Bestimmen, dem schon das reine Objekt sich entzieht, um in diesem Entzug auf jene »Natur des Dinges« zu verweisen, in der das Ding die Form seiner Erscheinung bestimmt.276 Die Form des Dinges in der Erscheinung ist daher bereits schon der Vorstellungsgrund der Freiheit, das, was wir schon immer »mit unsern Augen« sehen, zugleich aber auch das, worauf auch die Reflexion der Form in immer neuen Gestalten stößt — Freiheit als grundloser Grund der Natur: Der Verstand erwartet und fodert eine Regel, der Sinn lehrt, daß das Ding durch sich selbst und durch keine Regel ist. Läge uns nur an der Technik, so müßte uns die fehlgeschlagene Erwartung verdrießen, die uns doch vielmehr Vergnügen macht. Also muß uns an der Freiheit und nicht an der Technik liegen. Wir hätten Ursache, aus der Form des Dinges auf einen logischen Ursprung, also auf Heteronomie zu schließen und wider Erwartungfinden wir Autonomie. Da wir über diesen Fund froh sind und uns dadurch gleichsam von einer Sorge (die in unserm praktischen Vermögen ihren Sitz hat), erleichtert fühlen, so beweist diese, daß wir bei der Regelmäßigkeit nicht soviel als bei der Freiheit gewinnen. 277 Freilich wird der Begriff der Freiheit selbst, oder das Positive, von der Vernunft erst in das Objekt gelegt, indem sie dasselbe unter der Form des Willens betrachtet, aber das Negative dieses Begriffs gibt die Vernunft dem Objekt nicht, sondern siefindet es in demselben schon vor. Der Grund der dem Objekte zugesproche-
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277
Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 411. A u f das Problem der Dinglichkeit des Dinges als ein Problem von Wahrheit und Kunst verweist vor allem auch Martin Heidegger, wenngleich die ihm nur metaphysischen Bestimmungen von »Stoff« und «Form« an die Frage und das Problem der Wahrheit von Kunst nicht einmal heranreichen. Vgl. M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, S. 7ff. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 418 (Hervorhebungen von U. T.).
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nen Freiheit liegt also doch in ihm selbst, obgleich die Freiheit nur in der Vernunft liegt.278
Indem sich das technische Objekt aller Bestimmung beharrlich entzieht und den Verstand in jene nur kritische Reflexion verwandelt, die schon die dritte Kritik im Prinzip der nur transzendentalen Zweckmäßigkeit der Natur reflektiert hatte, ist der Entzug der Bestimmung zum objektiven Beweis der Freiheit geworden. Die Idee der Freiheit ist daher keineswegs mehr ein der Natur bloß ein-gebildeter Begriff, sondern vielmehr ein Reflex jenes Widerstandes, den das scheinbar bloß Dingliche aller Bestimmung siegreich entgegensetzt, weil diese ihm das nur Heteronome ist. Erst im Widerstand der Natur gegen die bloß verfügende Macht des Bestimmens ist daher auch ihre Freiheit beschlossen, so zwar, daß die Idee der Freiheit sich im Entzug nur entziehen und darin nur zu genau jener Bestimmung zurückführen kann, in der sie als »Freiheit in der Erscheinung« gilt und den Schein bloßer Ein-bildung notwendig aus sich erzeugt — einen Schein, welcher der »Objektivität des Grundes«279 darin gerade entspricht, daß er vollkommen grundlos zu sein scheint. Um die Idee der Schönheit steht es nicht anders. Auch die Idee der Schönheit ist als »Freiheit in der Erscheinung« bestimmt, so daß das Schöne als der frei von der Natur erzeugte Schein ihrer eigenen Freiheit zu gelten hat, als Schein jenes grundlosen Grundes, in dem die Natur sich zugleich schenkt und entzieht und im Entzug zu immer tieferer Reflexion einlädt.280 Immer schon ist dieser Schein sinnlicher Schein eines 278
279 280
Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW Y S. 417 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 417! Daß diese Bestimmungen nicht irgendeinen nur immer gewollten Tiefsinn ausdrücken, bestätigt die glänzende und mit Begriffen von Fichtes »Wissenschaftslehre« durchgeführte Analyse und Darstellung Hans-Georg Potts, nach der die in der Schönheit sich herstellende Freiheit des Wechsels »das andere der inneren Notwendigkeit, der Selbstbestimmung [ist]. N u n soll diese Freiheit Freiheit ermöglichen (den Denkkräften Freiheit verschaffen); sie erweist sich so als Grund einer Freiheit, der selbst freier Grund ist.« Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 76 (vgl. aber auch das gesamte Kapitel Potts, S. 71-86). Die Bestätigung dieser von Pott vielfältig ausgeführten Bestimmungen schon von den »Kallias«-Briefen her macht so nicht nur deutlich, daß auch das philosophische Denken Schillers sich schon weit früher um den Horizont der Wechselwirkung bewegt als dies von der Chronologie sogenannter »Einflüsse« nahegelegt wird, sondern zugleich auch, daß selbst zentrale Momente und Begriffe von Schillers Ästhetik auch ohne die - immer wichtige - Hilfe der »Wissenschaftslehre« rekonstruiert werden können, auf die sich die Darstellung Potts nahezu ausschließlich bezieht. In dieser Ausschließlichkeit wird die »Wissenschaftslehre« Fichtes zum entscheidenden Konstitutionspunkt von Schillers Ästhetik, der die vernunftkritische Konstitution des Schönen in Schillers Anthropologie der Wechselwirkung nur noch rudimentär zu behandeln erlaubt und auch die zen-
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Objektiven und darum der Schein freier Schönheit und schöner Freiheit zugleich, wenn nur »die F o r m durch das innere Wesen bestimmt ist« und »die Natur des Dinges mit seiner Technik zusammenstimmend erscheint, wenn es so aussieht, als wenn diese aus dem Dinge selbst hervorgeflossen wäre«. 281 Die »Zustimmung zu einem Ganzen«, 2 8 2 welches allein nur im »freiwilligen Konsens des Dinges zu seiner Technik« 283 seine Schönheit gewinnt, kann gerade durch den Entzug des Naturganzen immer nur in der Sprache von Schein und Erscheinung ausgedrückt werden, jenem Alsob, welches dem Wesen entspricht, indem es von nichts mehr zu sprechen scheint als v o m Schein. N i e m a n d anders als Kant ist es daher, auf den Schillers Reflexionen der Einheit v o n Schönheit und Freiheit sich eigens berufen. Schon die »Kritik der Urteilskraft« stellt einen Satz auf, der von ungemeiner Fruchtbarkeit ist und der, wie ich denke, erstaus meiner Theorie seine Erklärung erhalten kann. Natur, sagt er, ist schön, wenn sie aussieht wie Kunst; Kunst ist schön, wenn sie aussieht wie Natur. Dieser Satz macht also die Technik zu einem wesentlichen Requisit des Naturschönen und die Freiheit zur wesentlichen Bedingung des Kunstschönen. Da aber das Kunstschöne schon an sich selbst die Idee der Technik, das Naturschöne die Idee der Freiheit mit einschließt, so gesteht Kant selbst ein, daß Schönheit nichts anders als Natur in der Technik, Freiheit in der Kunstmäßigkeit sei. Wir müssen erstlich wissen, daß das schöne Ding ein Naturding ist, d. i. daß es durch sich selbst ist; zweitens muß es uns vorkommen, als ob es durch eine Regel wäre, denn er sagt ja, es muß aussehen wie Kunst. Beide Vorstellungen: es ist durch sich selbst, und es ist durch eine Regel, lassen sich aber nur auf eine einzige Art vereinigen, nämlich, wenn man sagt: es ist durch eine Regel, die es sich selbst gegeben hat. Autonomie in der Technik, Freiheit in der Kunstmäßigkeit. 284 D e r Grund dieses Scheins und der Grund seiner Sprache ist die eigentümliche F o r m seiner Objektivität selbst. Vor dem undurchdringlichen Hintergrund aller Dinglichkeit und ihres fortwährenden Entzuges kann der
281 282 283 284
trale Rolle von Kants dritter Kritik nur noch statistisch besetzt. Potts Fokussierung der »Wissenschaftslehre« bleibt daher auch eine einseitige Regie des theoretischen Gesamtensembles der für Schillers Ästhetik maßgeblichen Theoreme und Prozesse, denn Schiller ergreift die transzendentale Idee der Wechselwirkung nur deswegen mit aller Entschiedenheit, weil ihr Grundriß bereits in seinem frühen Entwurf des Organischen entworfen und in der Praxis seiner geschichtlichen Form der Vernunftkritik immer auch schon realisiert ist. Die »Wissenschaftslehre« Fichtes ist nicht der Konstitutionspunkt von Schillers Ästhetik, wohl aber der transzendentale Ort ihrer Deduktion als Kritik und Praxis des Triebes, der später dann als »sentimentalisches Streben« erscheint und reflektiert wird. Vgl. hierzu auch S. 375ff. dieser Arbeit (insbesondere S. 395ff.). Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 419. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 422. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 414. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V S. 417 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
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Idee schöner Freiheit im Grunde nur jene paradox scheinende Objektivität erwachsen, die im Entzüge erscheint und im Maß ihrer Erscheinung sich wieder entzieht, eine nur regulative Idee, die nicht nur die in sich selbst reflektierte Produktion des Kunstschönen, sondern alle Formen der produktiven Reflexion erst überhaupt leitet.285 Gerade der grundlose Grund von Schönheit und Freiheit ist darin Grund einer höchsten Produktivität, daß der fortwährende Entzug von Grund und Bestimmung zugleich eine höchste Anziehung der Erscheinung begründet und einem Versuch der Natur gleichkommt, die auslegende Reflexion nur immer tiefer in sich zu ziehen. Dies um so mehr, je deutlicher sich die in der Freiheit konstituierte Analogie freier Natur mit der Vernunft als nur scheinbar erweist. Obgleich die freie Natur der Vernunftfreiheit darin entspricht, daß die »Natur des Dinges« nie selbst erscheint und daher auch als »Person« bestimmt werden kann, so ist doch die Personalität der Natur etwas von Grund auf anderes als die nur vernünftige Person. Die »Person des Dinges« ist für Schiller gerade kein Allgemeines, in dem sich die an den Stoff gebundene Individualität zuletzt nur verlieren kann, sondern vielmehr das Widerspiel, jener geheimnisvolle »Kern« der reinen Individualität, der sich dem allgemeinen Logischen des Begriffs und seiner bloßen Bestimmung beharrlich widersetzt und darin auch seine Freiheit und Schönheit beweist. Die »Natur des Dinges« ist für Schiller deswegen auch stets allem demjenigen entgegen, was von dem Objekt verschieden ist, was bloß als zufällig an demselben betrachtet wird und hinweggedacht werden kann, ohne zugleich sein Wesen aufzuheben. Es ist gleichsam die Person des Dings, wodurch es von allen andern Dingen, die nicht seiner Art sind, unterschieden wird. Daher werden diejenigen Eigenschaften, welche ein Objekt mit allen andern gemein hat, nicht eigentlich zu seiner Natur gerechnet, ob es gleich diese Eigenschaften nicht ablegen kann, ohne daß es aufhörte, zu existieren. Bloß dasjenige wird durch den Ausdruck Natur bezeichnet, wodurch es das bestimmte Ding wird, was es ist. 286
Besonderes und Allgemeines sind einander nur immer das Zufällige. Obgleich es die Aufgabe des Allgemeinen ist, das je Besondere der Naturwelt zu fassen und zu begreifen, so repräsentiert dieses doch stets jene äußerste Grenze, an welcher der nur bestimmende Verstand notwendig scheitert, ein Noumenon der Natur gleichsam, auf welches die notwendig noch an 285
286
Eine willkommene Bestätigung dieses Befundes ergibt sich aus der geradezu mikrologischen Analyse der dritten Kritik durch Georg Kohler, welcher zu dem Ergebnis kommt, daß gerade die durch Kant vorbereitete und von Gadamer einseitig kritisierte Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung die Objektivität des Schönen verwahre und rette. Vgl. G. Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung, S. 296. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: S W V, S. 411 (Hervorhebungen z. T. von U. T.).
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den Begriffen von Art und Gattung orientierten Beispiele Schillers zuletzt nur verweisen können. Die Idee des Individuellen ist daher auch mit der Idee einer Logik der Individualität verbunden, in der das Besondere allererst reflektiert und ausgelegt werden kann und die Erkenntnis erst wirklich Erkenntnis der Realität ist. Schillers Idee einer schönen Freiheit und Form ist daher auch kein ästhetischer Exotismus einer ästhetischen Metaphysik, sondern weit mehr nur die Reformulierung jenes entscheidenden und zuletzt grundlegenden Erkenntnisproblems, aus dem die Wissenschaft der Ästhetik erst eigentlich hervorgegangen war, jenes bei Wolff und Meier schon reflektierte Problem, daß alle nur »abstrahierende Begriffsbildung« im Grunde nur »dem Vergessen verdankt ist« und »auf die Richtung nach oben, zu den Allgemeinbegriffen hin angesehen, ins absolut Inhaltsleere« führt.2®7 Schon Baumgartens Ästhetik ist daher »Logik der Induktion und Analogie, eine Logik des Individuellen; nicht die zum obersten Gattungsbegriff aufsteigende, sondern die zum untersten Artbegriff absteigende Begriffsbildung« 288 ist ihr Thema und damit zugleich das, was noch die ganze Vernunftkritik bis zuletzt in Atem hält. Schon diese ist ja vor allem auch in der Erkenntnis kritisch, daß der Begriff ohne Anschauung immer nur eine leere Möglichkeit des bloß kategorialen Verstandes bleibt, ohne Realität und ohne Bedeutung. Nach Kants erster Kritik kann deswegen der Gegenstand einem Begriffe nicht anders gegeben werden, als in der Anschauung, und, wenn eine reine Anschauung noch vor dem Gegenstande a priori möglich ist, so kann doch auch diese selbst ihren Gegenstand, mithin die objektive Gültigkeit, nur durch die empirische Anschauung bekommen, wovon sie die bloße Form ist. Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen auch alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d.i. auf data zur möglichen Erfahrung. O h n e dieses haben sie gar keine objektive Gültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft, oder des Verstandes, respektive mit ihren Vorstellungen [...] Daher erfordert man auch, einen abgesonderten Begriff sinnlich zu machen, d. i. das ihm korrespondierende Objekt in der Anschauung darzulegen, weil, ohne dieses der Begriff[...] ohne Sinn, d. i. ohne Bedeutung bleiben würde.289
Zur Erkenntnis hat der Begriff immer schon eine Stellung eingenommen, die das Vermögen der bloßen Begriffe als solches zwar niemals aufheben 287
288 289
Vgl. hierzu die immer noch ausgezeichneten Darlegungen von A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 204ff. - Vgl. hierzu jetzt auch: Hans Adler. Fundus animae - Der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: Subjektivität - Humanität - Ästhetik. Studien zur Geschichte der deutschen Literatur und ihren Bedingungen. Für Hans Joachim Schrimpf zum sechzigsten Geburtstag, S. 1-40. Vgl. A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 212. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 298f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. auch: Β 298ff.
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kann, doch den Begriff nur dann als Erkenntis begreift, wenn dieser auch seine Darstellung in der Naturwelt und in ihren je nur besonderen Gesetzen zu finden vermag. In der besonderen Welt von Natur und Erscheinung freilich ist dies auch für Kant so wenig selbstverständlich, daß jede »entdeckte Vereinbarkeit zweier Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Prinzip der Grund einer merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung« ist, »selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist«.290 Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, welche zwar auch schon Versinnlichung, aber nur »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und eine erste Anwendung desselben... auf Gegenstände der uns möglichen Erfahrung ist«,291 reicht daher allein nicht schon aus, um ein System der Erfahrung auch als Erfahrung des je Besonderen zu begründen. Was der Begriff zu jeder Erkenntnis verlangt, ist vor allem auch Anschauung, jene »Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann«292 und als repraesentatio singularis erst jene so notwendige Verbindung zwischen Logik und Ästhetik erzeugt, welche als Grund und als Ziel aller besonderen Erkenntnis als einer Erkenntnis des je Besonderen gelten kann und in der Idee des Individuellen nur ihre äußerste Grenze erreicht. Da die Individualität des Individuellen als solche niemals erscheint, scheint sie auch einem Begriff zu entsprechen, »den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann«, allein das Symbol, jene nur »indirekten Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält«.293 Das nur Individuelle ist daher weder nur Gegenstand einer Anschauung, noch auch nur Gegenstand eines Begriffs, sondern vielmehr das Symbol einer nur auslegenden Reflexion, die das Noumenon der Natur selbst immer nur darstellen, es aber nicht auf Begriffe bringen kann und daher auch dazu eingeladen ist, die Individualität des Individuellen und mit dieser auch ihren eigenen Gegenstand immer erst auslegend aus sich heraus erzeugen. Erst von dieser Form der nur auslegenden Reflexion, die ja auch selbst als Reflex der ihr zugehörigen und ihr zuletzt doch entzogenen Form der Gegenständlichkeit selbst gelten kann, läßt sich daher auch das Geheimnis der transzendentalen Konstitution und Struktur des klassischen Individualitätsgedankens erschließen: Indem die Idee der Individualität sich nicht nur der Anschauung, sondern sich immer auch dem Begriff beharrlich ent-
290 291 292 293
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
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Kant, Kant, Kant, Kant,
Kritik Kritik Kritik Kritik
der der der der
Urteilskraft, XL. reinen Vernunft, Β 152. reinen Vernunft, Β 47. Urteilskraft, S. 255f.
zieht, repräsentiert sie sowohl eine Idee der Vernunft als auch eine Idee der Einbildungskraft. Schon Kant formuliert deswegen noch in der Differenz von Einbildungskraft und Vernunft eine analoge Struktur, denn wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht erreicht, so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch seine Begriffe nie ganz die innere Anschauung der Einbildungskraft, welche sie mit einer gegebenen Vorstellung verbindet. Da n u n eine Vorstellung der Einbildungskraft auf Begriffe bringen soviel heißt als sie exponieren, so kann die ästhetische Idee eine inexponibele Vorstellung derselben (in ihrem freien Spiele) genannt werden. 294
In der Idee des Individuellen jedoch wird die Analogie von Einbildungskraft und Vernunft auf ihre Gemeinsamkeit hin durchbrochen, da das im Entzug verweilende Individuelle Einbildungskraft und Vernunft sowohl strukturell als auch symbolisch repräsentiert. Gerade weil die Idee des Individuellen eine Idee der Vernunft und der Einbildungskraft ist, ist die freie Individualität ein Noumenon der Natur — eine »grundlose Tiefe« der freien Vernunft in der Gestalt einer sich stets entziehenden Dinglichkeit, welche den Schein der Freiheit im Entzug objektiv aus sich erzeugt und die »Freiheit in der Erscheinung« erst eigentlich gründet; eine »grundlose Tiefe« der freien Einbildungskraft in der Gestalt jenes Überflusses, der den Schein der Freiheit erst als jenen Schein freier Schönheit erscheinen läßt, welcher in immer neuen Gestalten und Formen schon in der Natur erglänzt und der Natur als einer »technica speziosa« zu verdanken ist,295 hinter der die figürliche Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft in all ihrer Freiheit und ihrer daher auch immer nur eigenen Form der Bestimmtheit steht. Alle Schönheit ist für Schiller daher stets ein Effekt der Einbildungskraft, oder [...] ein Objekt derselben. Wenn etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, so m u ß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden. Von der Einbildungskraft aber wissen wir, daß sie allen ihren Vorstellungen sinnliche Vollständigkeit, materielle Totalität zu verschaffen sucht. Der Verstand braucht aber von einer Vorstellung der Einbildungskraft nicht alle Teile, nicht das ganze Mannigfaltige. Sie gibt ihm also mehr als er braucht, und gerade dadurch entsteht die Schönheit, jede ihrer Vorstellungen ist durchgängig bestimmt, und diese durchgängige Bestimmtheit ist ein Überfluß für den Verstand.
Nicht nur der Entzug der in sich bestimmten Dinglichkeit, sondern zugleich auch sein scheinbares Gegenteil, der schon durch sich selbst bestimmte und darin erst eigentlich überraschend lustvolle Überfluß der produktiven Einbildungskraft zeugt daher von jenem Sieg der Natur über 2.4 2.5 2.6
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 242. Vgl. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 41. Schiller, Brief an Körner vom 25.10.1794. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, S. 227f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
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das allgemein Logische, welcher für Schiller der Grund der Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung« ist und die schöne Freiheit erst zu jenem ästhetischen Spiel werden läßt, welches die Sprache der Einbildungskraft spricht und das Spiel der auslegenden Reflexion führt und bestimmt. Die Sprache der Natur ist eine Sprache der Einbildungskraft, die Sprache einer schon ästhetisierten Vernunft, die in der ein-bildenden Auslegung jenes eigentümliche Medium hat, in dem die Vernunft sich das freie und schöne Spiel der Figuren und Formen als ein ihr selbst immer schon zugeeignetes Spiel mit dem Grunde zu deuten und sich zueigen zu machen vermag. Was der ästhetischen Subjektivität als freier Grund einer freien Natur entgegentritt, ist immer auch eigenes Spiel, immer nur jene fremde und doch vertraute Tiefe, welche der unverfügbare Grund der »Freiheit in der Erscheinung« ist, ein Grund, der in seiner ewigen Unergründlichkeit erst jene unwiderstehliche Anziehung bewirkt, die jedem Versuch der Vernunft, sich in der Freiheit des Grundes eine freie und zugleich schöne Form zu geben, als Sehnsucht und Liebe zugrundeliegt. Schillers Versuch, den aus der freien Naturschönheit aufscheinenden Schein der Freiheit als objektives Prinzip innerer Form und Schönheit zu entwickeln und zu erweisen, scheint darin vor allem besonders geglückt, daß die Idee der Schönheit sich als das Produkt einer freien und darum auch schönen Wechselwirkung zu erkennen gibt und daher nichts weniger ist als jenes ästhetische Spiel, das die »Ästhetischen Briefe« schon immer voraussetzen und auf dem transzendentalen Wege der Abstraktion mit weit geringerer Konkretion zu begründen suchen. Individualität und Einbildungskraft sind die Mächte, welche der Macht des nur Allgemeinen stets siegreich sich widersetzen und allen Verstand dazu nötigen, sich zu einer bloß auslegenden und darum schönen Reflexion zu entspannen, welche zugleich höchste Tätigkeit und Entfaltung ist, jene durch ihren Entzug, diese durch ihren Überfluß. Schillers Idee des ästhetischen Wechsels als einer wechselseitigen Nötigung von Natur und Freiheit beruht daher schon in den »Kallias«-Briefen auf einer moralischen Nötigung, auf welche kein Postulat und kein Imperativ des Schönen, sondern vielmehr eine ästhetische Nötigung der Vernunft antwortet, in der auch die Nötigung allen Zwang verliert, weil sie der freien Schönheit der autonomen Natur entspringt und einem Bedürfnis entspricht, das in der Vernunft selbst seinen Ursprung hat, dem Bedürfnis nach »Freiheit in der Erscheinung«. Nicht nur die Ästhetisierung der Form, auch die Ästhetisierung der wechselseitigen Nötigung entspringt daher stets der Natur; subjektiv der verletzten und vergewaltigten Sinnlichkeit, objektiv der freien Naturschönheit, ihrem Anblick und ihrer Reflexion in jenem ästhetischen Sinne, der der Vernunft nicht nur die Möglichkeit lustvoller Empfindung, sondern weit mehr noch die Möglichkeit gibt, dem schein364
baren Gegenspieler, der Natur, in anerkennender Liebe entgegenzutreten. Aller Wechsel und alles Spiel hat daher sowohl jene objektive Dimension, in welcher das in der Freiheit des Grundes gespielte Spiel von Entzug und Überfluß sich notwendig auch als ein Spiel wechselseitiger Ein-bildungen zwischen Natur und Vernunft darstellt, als auch jene scheinbar nur subjektive, in der auch die auslegende Reflexion sich als das von Einbildungskraft und Verstand stets in Gemeinschaft gespielte Spiel mit dem Besonderen und Allgemeinen erweist. Unangesehen ihrer ästhetischen und teleologischen Form und ihrer je besonderen Ausprägung ist das Wesen der Reflexion selbst als Wechsel und Spiel bestimmt. Immer besteht das Spiel der auslegenden Reflexion in einem notwendigen Mangel des Allgemeinen, welcher mit gleicher Notwendigkeit auch dazu zwingt, das Allgemeine nur im Besonderen selbst aufzusuchen. Obgleich alles Einzelne stets nur auf eine allgemeine Idee hin entworfen und ausgelegt werden kann, so ist diese doch nie das Ziel, sondern immer nur Medium und Mittel zur logischen Erzeugung des je Besonderen. Darin schon liegt das Spiel, im Zusammenhalten und Ineinanderspielen des Allgemeinen und des Besonderen, in dem sich die Reflexion erst gewinnt; darin auch liegt der Wechsel, in dem sich die Reflexion in genau dem Maße erhält, als das Konkrete selbst allen Wechsel erst eigentlich trägt. Folgt man der Darstellung Baeumlers, so ist das Konkrete das Ziel; das >entworfene< Allgemeine dient nur zu seiner Bestimmung. Andererseits >bestimmt< aber auch das Konkrete das Allgemeine; das Gesetz, der allgemeingültige S atz, erhält durch das Beispiel Farbe, Leben, Anschauung. Esfindet ein Hin- und Herspielen zwischen Konkret und Abstrakt statt, das sich v o n der einsinnigen Logik der Induktion deutlich unterscheidet. 2 ' 7
In seinem Entzug und zugleich in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit ist das Konkrete und Individuelle zu einem Grunde geworden, welcher die Reflexion erst ins Leben ruft und sie als Wechsel von Einbildungskraft und Verstand unterhält, mithin als jenes von Kant schon bezeichnete Spiel, welches alle »Erkentniskräfte« zu einer höchsten Entfaltung bringt und ihm darum ein freies heißt, »weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt«. 298 Schon das Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts, bei einer gegebenen Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst, weil es einen Bestimmungsgrund der Tätigkeit des Subjekts in Ansehung der Belebung der Erkenntniskräfte desselben, also eine innere Kausalität (welche zweckmäßig ist) in Ansehung der Erkenntniskräfte überhaupt, aber ohne auf eine bestimmte Erkenntnis eingeschränkt zu sein, mithin eine 297
298
A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [ . . . ] , S. 211. (Hervorhebungen v o n U. T.). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 28.
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bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung in einem ästhetischen Urteile enthält. Diese Lust ist auch auf keinerlei Weise praktisch, weder die aus dem pathologischen Grunde der Annehmlichkeit, noch die aus dem intellektuellen des vorgestellten Guten. Sie hat aber doch Kausalität in sich, nämlich den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten. Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert [.. ,/299
Die Wahrnehmung »der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit«300 ist zwar immer nur bloße Empfindung, und doch ist sie der nur subjektive Reflex der Natur in ihrer sich nur im Entzüge offenbarenden Objektivität, der Reflex eines Objektiven, welches in genau dem Maße zum Gegenstand aller Reflexionen wird, als sich in ihm die Naturwelt selbst als der tragende Grund aller ästhetischen Lust und Schönheit und endlich auch dessen erweist, was in der Reflexion als Wahrheit des je Besonderen gilt. Schönheit und Wahrheit sind nie nur einfach zu trennen, denn immer ist es die Reflexion selbst, in welcher beide stets zur Erkenntnis zusammengehalten werden. Nach Kant ist dieses Zusammenhalten gerade die grund-legende Bestimmung der Reflexion, welche genau darum, weil sie keinen Begriff für die gegebene Anschauung bereit hat, die Einbildungskraft (bloß in der Auffassung [ . . . ] ) mit dem Verstände (in Darstellung eines Begriffs überhaupt) zusammenhält und ein Verhältnis beider Erkenntnisvermögen wahrnimmt, welches die subjektive, bloß empfindbare Bedingung des objektiven Gebrauchs der Urteilskraft (nämlich die Zusammenstimmung jener beiden Vermögen untereinander) überhaupt ausmacht,301
Der im Entzüge erst objektive Grund der Naturwelt ist daher der stets ästhetische Grund der auslegenden Reflexion und Erkenntnis, und alle Erkenntnis ist darin auch objektiv, zumindest in Grund und Tendenz. Folgt man den Darlegungen Ernst Cassirers, so ist die scheinbar nur subjektive Zweckmäßigkeit darin schon »durchaus >objektiv< in dem Sinne, daß auf ihr nichts Geringeres als der Bestand der empirischen Wissenschaft und die Richtung der empirischen Forschung selbst beruht«, 302 denn alle einzelnen »Elemente des Spiels bilden die allgemeinen Grundfunktionen des Bewußtseins«303 und daher auch die aller Erkenntnis der Welt und ihrer besonderen Gesetze. Selbst die nur subjektive Zweckmäßigkeit der ästhetischen Lust ist ein Reflex der ästhetischen Objektivität ihres Grundes und daher auch Grund einer Reflexion, die sich dazu
299 300 301
302 303
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 36f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 146. Vgl. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 30 (Hervorhebungen v o n U. T). Vgl. E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 314. Vgl. E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 335.
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»genötigt« sieht, das eigene Spiel ihrer Kräfte »mit Lust zu empfinden«,304 da dieses Spiel dem reinen Verstände nur als die ihm entgegengesetzte Affektation erscheinen kann und ihm daher kaum frei scheint. Eigene Freiheit hat daher die Reflexion immer nur darin, sich »irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen«,305 schon dies eine Tätigkeit, die über die bloße Kontemplation hinausgeht und im Interesse der freien Lust selbst ein Interesse am Gegenstande begründet. Die Lust gilt daher als jener doppelt gegründete Zustand, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt, als Grund, entweder diesen bloß selbst zu erhalten (denn der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemütskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst) oder ihr Objekt hervorzubringen.306
Die ästhetische Lust ist daher zwar »nicht auf Begriffe gegründet oder auf solche abgezweckt«,307 doch freie Lust einer freien Reflexion ist sie dann, wenn sie das »ohne alles Interesse«308 erst zugespielte und darum reine Wohlgefallen auf den Gegenstand hin übersteigt und diesen erst in einer freien Gunst zum reinen Gegenstand einer reinen Lust macht. Martin Heidegger bestätigt diesen Befund höchst willkommen. In der Tat ist es Irrmeinung, es sei mit der Ausschaltung des Interesses jeder wesenhafte Bezug zum Gegenstand unterbunden. Das Gegenteil ist der Fall. Der wesenhafte Bezug zum Gegenstand selbst kommt durch das >ohne Interesse< gerade ins Spiel. Es wird nicht gesehen, daß jetzt erst der Gegenstand als reiner Gegenstand zum Vorschein kommt, daß dieses in-den-Vorschein-Kommen das Schöne ist. Das Wort >schön< meint das Erscheinen im Schein solchen Vorscheins. 30 '
Das im Interesse der Reflexion selbst hervorgebrachte Interesse am Gegenstand entspricht daher nie dem bloß verfügenden Interesse der Subjektivität an der eigenen Lust und Luststeigerung, sondern immer nur jenem reinen Interesse, welches den Gegenstand in seiner ihm eigenen Form und Freiheit meint und darum auch erst reine Lust einer freien Reflexion ist. Selbst ein Zuspiel der freien Natur, ist die freie Gunst der Grund einer stets doppelten und überhaupt erst zur reinen Natur führenden Tendenz ihrer Reflexion, denn der in ihr vollzogene Uberstieg auf 304 305 306
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Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 155. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 15f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, S. 38 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 14. Vgl. Kants zentrale Bestimmungen des Gesamturteils der Kategorie der Qualität nach: »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 16. Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, S. 130.
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den Gegenstand ist immer auch Überstieg über die eigene Subjektivität des Subjekts und darin erst Einstieg in jene Tiefe, die im Entzug immer Fülle ist und in der Reflexion höchste Lust. Schon für Kant ist es stets nur die eigenste Tendenz der ästhetischen Reflexion selbst, das nur formelle und subjektive Spiel mit sich selbst zu einem Spiel mit dem Gegenstande zu machen, wenn diese Tendenz auch durch die - ihr nicht gerade schon zugebildete — Idee des Systems eher verdeckt geblieben ist. Die »Kallias«-Briefe legen genau diese verdeckte Tendenz allererst frei: Für Schiller ist die ästhetische Zweckmäßigkeit und ihre Lust nur ein formelles Vorspiel der ungleich höheren und sublimeren Lust, die aus dem Überstieg auf die Gegenständlichkeit der Naturwelt entspringt und sowohl Grund als auch Folge eines ästhetischen und zugleich objektiven Spiels zwischen Subjekt und Objekt ist. Objektiv ist dieses Spiel vor allem durch seinen ästhetischen Ursprung in jener freien Gunst, welche sich auf die innere Form der Gegenständlichkeit selbst richtet und darin nach Kant das »einzige freie Wohlgefallen« darstellt, das, was Martin Heidegger die »Befreiung unserer selbst zur Freigabe dessen, was in sich eine eigene Würde hat« nennt 3 1 0 und genau das bezeichnet, was für Schiller das Wesen des Edlen ist, jene zugleich ästhetische und sittliche Haltung, die alle Natur als Natur zu befreien und zu sich selbst zu führen versucht. D a s nur formelle und subjektive Spiel ist daher immer nur ein nur notwendiges Vorspiel jenes zugleich tieferen und auch höheren Spiels, das die auslegende Reflexion mehr und mehr in die gegenständliche Welt der Erscheinung zieht. Dieses Spiel, so hebt auch Dieter Henrich mit allem Nachdruck hervor, ist nicht mehr Spiel des Subjektes mit sich selbst anläßlich der Anschauung eines Gegenstandes, in ihm spielt sich das Subjekt vielmehr ganz in den Gegenstand ein. Schillers Intention ist eine objektive. 3 1 1
Tiefer ist dieses Spiel, weil es die auslegende Subjektivität nur immer tiefer in die Naturwelt und ihre je eigene Wahrheit hineinführt und die ästhetische Reflexion erst zur Weltreflexion werden läßt; höher, weil es die Freigabe zur Würde als auslegendes Frei-legen dessen zu realisieren sucht, was Freiheit und Form des je Anderen erst eigentlich ausmacht und die Freigabe erst aus dem Kerker einer den Dingen immer bloß ein-gebildeten Idee befreit. Erst in der objektiven Tendenz der ästhetischen Reflexion kommt das in der freien Gunst veredelte Weltverhalten auch zu 310 311
Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, S. 129. Vgl. D. Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, S. 537. - Henrich versucht übrigens auch, Schillers sich-einspielendes Spiel in den Gegenstand gemäß der Kantischen Kategorien-Lehre zu begreifen, wonach sich folgendes Bild ergibt: 1) Anspruch auf Zustimmung, 2) interesselose Ruhe, 3) Innerlichkeit, 4) Gedankenfülle. Vgl. D. Henrich, ebd., S. 534ff.
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jener nur je besonderen Wirklichkeit, der doch sein eigentliches Interesse und seine Bestimmung gilt, denn ohne die Realität des Anderen in seiner Andersheit wäre das Edle nie Repräsentant einer schönen und darum höchsten Form sittlicher Freiheit. Wenn für Schiller »nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwikkeln kann«, so liegt der Grund genau hier, denn »daß es überhaupt reine Form für den sinnlichen Menschen gebe, dies, so behaupte ich, m u ß durch die ästhetische Stimmung des Gemüts erst möglich gemacht werden«.312 O h n e das in der freigebenden Freilegung erst zu sich selbst kommende Spiel bleibt auch die Vernunft immer nur bloße Physis, weil sie allein sich und die eigene Allgemeinheit sieht, nicht aber die je eigene Würde von Natur- und Mitwelt, in deren freigebender Freilegung sich ihre eigene Form erst erfüllen und das Bewußtsein zu einer nur eigenen Würde überhaupt erst erwachen kann. O h n e die in der freigebenden Freilegung sich erfüllende ästhetische Reflexion der inneren Form des je Anderen ist der Mensch noch mit seiner Menschenwürde unbekannt, ist er weit entfernt, sie in den andern zu ehren, und der eignen wilden Gier sich bewußt, fürchtet er sie in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er andre in sich, nur sich in andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein. In dieser dumpfen Beschränkung irrt er durch das nachtvolle Leben, bis eine günstige Natur die Last des Stoffes von seinen verfinsterten Sinnen wälzt, die Reflexion ihn selbst von den Dingen scheidet und im Widerscheine des Bewußtseins sich endlich die Gegenstände zeigen.3'3
Das ist gerade das Wesen des Spiels, daß die freigebende Freilegung der Natur auch die eigene Natur zum Bewußtsein von Freiheit und Würde bringt und den Menschen erst zu seiner Menschheit hin freigibt, daß die freigebende Gunst der ästhetischen Reflexion nie nur der Gunst des Menschen einer ihm rätselhaft bleibenden Natur gegenüber, sondern immer nur einer ihn selbst allererst durch ihren Entzug frei-gebenden Gunst der Natur entspringt. Schon weil die ästhetische Stimmung des Gemüts [... ] der Freiheit erst die Entstehung gibt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie sein; die Gunst der Zufalle allein kann die Fesseln des physischen Standes lösen und den Wilden zur Schönheit führen. 314
Grund aller Schönheit und Freiheit ist immer nur der im Entzug freie Grund der Natur selbst, jener grundlose und darum ästhetische Grund, 312
313
314
Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S 647 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: S W Y S. 655 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S 655 (Hervorhebungen von U. T.).
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welcher schon in den äußeren Formen der schönen Natur den objektiven Charakter des Schönen verwahrt, indem er das Spiel seiner auslegenden Reflexion im Entzug unterhält. Selbst die teleologische Auslegung der Natur, obgleich sie doch immer nur auf Begriffe gerichtet ist, verleugnet nicht mehr ihren Ursprung aus der ästhetischen Reflexion, nicht allein nur, weil sie auch selbst ein ästhetisches Spiel mit dem Besonderen und Allgemeinen spielt, sondern vor allem auch deshalb, weil der nur heuristische nexusfinalis ihr in der Gunst der Natur selbst zum Grund für den objektiven Charakter des Schönen wird. Die Objektivität aller Schönheit ist daher nicht erst die scheinbar grundlose Idee nur der »Kallias«-Briefe, sondern vielmehr schon eine von Kant ausgesprochene und auch begründete Vorstellung. Zuletzt kann für Kant noch die Schönheit der Natur, d. i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spiel unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erscheinungen [...\als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden, wenn einmal die teleologische Beurteilung derselben durch die Naturzwecke, welche uns die organisierten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur uns berechtigt hat. Wir können es als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, daß sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austeilte, und sie deshalb lieben, sowie ihrer Unermeßlichkeit wegen mit Achtung betrachten und uns selbst in dieser Betrachtung veredeltfühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich zu dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe.m
Obgleich der Zweck der Natur selbst im Dunkel ihres Entzuges verbleibt und ihre Reflexion dazu verhält, stets kritisch und regulativ zu bleiben, so kann doch das in der Schönheit ihrer Figuren und Formen angeschaute und in ihrer Reflexion immer neu auch erfahrene Entgegenkommen als Schein eines Objektiven gelten, das im Entzug selbst gegründet ist und daher auch immer nur scheinen kann. Als freier Grund allen Scheinens ist der Entzug daher nicht nur der Grund der ästhetischen Reflexion in all ihren besonderen Formen und Ausprägungen, sondern immer auch jener Grund, welcher das auslegende Spiel mit der Welt auch im Spielenden selbst erst eigentlich trägt und unterhält, denn indem die Natur sich entzieht, ist das auslegende Sich-Einspielen in ihre Figuren und Formen prinzipiell endlos. Was in der äußeren Natur der Überfluß von Form und Figur, das ist in der inneren genau jener Überfluß, welchen die Einbildungskraft 316 in Gestalt der ästhetischen Ideen frei darstellt und aus sich 315
316
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 303f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Nicht ohne Grund ist dies übrigens auch die einzige von Schiller ausgezeichnete Stelle aus dem zweiten Teil der »Kritik der Urteilskraft«. Vgl. hierzu: Schiller, Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Kritik der Urteilskraft, S. 144. So entspricht schon das »physische Spiel« der Natur, welches Überfluß und »ästhetische Zugabe« ist, dem »Spiel der freien Ideenfolge«, welches die Einbil-
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erzeugt, eine Kraft, welche d e m freien Grund einer freien Natur darin entspricht, daß ihre Bildungen sich einer letzten B e s t i m m u n g durchaus entz i e h e n und i m E n t z u g ihres Grundes erst jenen endlosen Versuch zur B e s t i m m u n g ins L e b e n rufen, welcher das Spiel v o n Einbildungskraft und Verstand erst eigentlich ausmacht. N u r i m Begriff der Erkenntnis verstanden, scheint das ästhetische Spiel allerdings nicht o h n e Grund gefährdet. S c h o n für Kant ist das Spiel v o n Einbildungskraft und Verstand ein beständiger Wechsel der gegenläufigen T e n d e n z e n v o n A n s c h a u u n g und Begriff, beides stets Kräfte, »die einander zwar nicht entbehren k ö n n e n , aber d o c h auch o h n e Zwang u n d wechselseitigen Abbruch sich nicht w o h l vereinigen lassen«, 317 es sei denn, die Einbildungskraft wird als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen) angenommen; und ob sie zwar bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form gebunden ist und sofern kein freies Spiel (wie im Dichten) hat, so läßt sich doch noch wohl begreifen, daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit den Verstandesgesetzen überhaupt entwerfen würde. Allein daß die Einbildungskraftfrei und doch von selbst gesetzmäßig sei, d. i. daß sie eine A utonomie bei sich führe, ist ein Widerspruch. Der Verstand allein gibt das Gesetz. Wenn aber die Einbildungskraft nach einem bestimmten Gesetze zu verfahren genötigt wird, so wird ihr Produkt, der Form nach, durch Begriffe bestimmt, wie es sein soll; aber alsdann ist das Wohlgefallen [ . . . ] nicht das am Schönen, sondern am Guten [...] Es wird also eine Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz, und eine subjektive Übereinstimmung der Einbildungskraft zum Verstände ohne eine objektive [...] mit der freien Gesetzmäßigkeit des Verstandes (welche auch Zweckmäßigkeit ohne Zweck genannt worden) [... ] allein zusammen bestehen können. 318 Zwar gilt das freie u n d in sich harmonische Spiel der Erkenntniskräfte als nur »subjektive Ü b e r e i n s t i m m u n g der Einbildungskraft z u m Verstände«, i m m e r jedoch ist die Form des Objekts der eigentlich tragende Grund dieser Ü b e r e i n s t i m m u n g selbst. N a c h Gerhard Kohler ist die Form des O b jekts schon »von sich selbst her in solcher K o n v e n i e n z verfaßt«, 319 daß es
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dungskraft noch nach dem empirischen Gesetz der Assoziation spielt, um sich alsdann durch einen zuletzt rätselhaft bleibenden »Sprung« zum ästhetischen Spiel zu erheben - zumindest thematisiert Schiller den Sprung nicht weiter. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V, S. 662ff. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 206. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 69. Vgl. G. Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung, S. 125. - Auch nach Helga Mertens bezieht sich die ästhetische Urteilskraft »sowohl auf die Form der subjektiven Zweckmäßigkeit der Vorstellungen und des Verhältnisses der Vermögen als auch auf die Form des Gegenstandes der Anschauung.« Vgl. H. Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung von Kants >Kritik der Urteils371
als Darstellung freier Gesetzmäßigkeit u n d freien Spiels schon in der Natur gelten kann und dadurch erst e i n e n Spieltrieb erweckt, welcher sich darin versucht, »so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, u n d so hervorzubringen, wie der Sinn zu e m p f a n g e n trachtet«. 320 Kohler b e s t i m m t das ästhetische Spiel daher als das Sich-Darstellen der schönen Sache selbst: >subjektive< Tätigkeit und >objektiver< Anlaß fließen in eins, bilden ein Ganzes — das Ganze des gemeinsamen Spiels, so wie ein Spiel stets diejenigen, die in ihm zusammenspielen, übergreift. Das Spiel ist das Ins-Dasein-Treten des Schönen selbst?21 D a ß es eine Gesetzmäßigkeit o h n e Gesetz auch nur g e b e n kann, beweist allein die Natur, in j e n e n technischen Darstellungen, welche in gänzlich freier Gesetzmäßigkeit gebildet sind u n d in ihrer Form v o n der Einbildungskraft nur g e f u n d e n werden, damit sie in i h n e n das Grundgesetz schöner Darstellung erkenne. Was die Gesetzmäßigkeit o h n e Gesetz darstellt, ist somit kaum weniger als das Bildungsgesetz aller Schönheit, dargestellt als ein Gesetz der produktiven Einbildungskraft und ihrer nur je besonderen Bildungen. A l l e Bildung der ästhetischen Einbildungskraft ist für Schiller daher auch stets ein »organisches Produkt, w o nicht b l o ß
320 321
kraftUnendlicher Prozeß< ist der Euphemismus für Aussichtslosigkeit. 337
Das wäre vollständig brillant, wenn es nur zuträfe, ist doch die Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit in der kritischen Philosophie nirgendwo weiter getrieben als bis zu jenem Versuch, der in Natur und Geschichte immer nur die Bestätigung der Vernunft als System sucht, ohne auch nur in die Nähe der eigenen Frag-würdigkeit zu geraten. Anerkannt und geachtet ist die Natur nur im Maße der eigenen Bestätigung, nicht aber als jenes aus der Vernunft selbst aufsteigende und integral zu ihr gehörende Andere, das notwendig Teil ihrer Reflexion und Bestimmung sein müßte. Natürlich, auch in der »Kritik der Urteilskraft« ist über den stummen Beifall zur Idee des Systems hinaus bereits festgehalten,
337
O. Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, S. 107f. Vgl. auch die ganz ähnlichen, nur knapper referierten Bestimmungen in: O. Marquard, Kant und die Wende der Ästhetik, insbesondere S. 242ff. 377
daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen (nicht bloß Geschmack haben, um sie zu beurteilen), jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei [... ] Der, welcher einsam [... ] die schöne Gestalt einer wilden Blume, eines Vogels, eines Insekts usw. betrachtet, um sie zu bewundern, zu lieben und sie nicht gerne in der Natur vermissen zu wollen, ob ihm gleich dadurch einiger Schaden geschähe, viel weniger ein Nutzen daraus für ihn hervorleuchtete, nimmt ein unmittelbares und zwar intellektuelles Interesse an der Natur.3ii
Über die diätetischen Zwecke einer Erholung und Regeneration seiner Kräfte hinaus geht der noch ganz in der empfindsamen Nachfolge Rousseaus vorgestellte Spaziergänger Kantischer Provenienz zwar in die Natur, »um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann«;339 im Unterschied zu seinem empfindsamen Vorbilde bleibt ihm jedoch die Bedeutsamkeit des Naturschönen noch ein wesentlich intellektuelles Phänomen, das sich nur demjenigen voll erschließt, der »vorher schon sein Interesse am Sittlich-Guten wohl gegründet hat« 340 — einem Gesetz auf zwei Beinen mithin, das in der Natur seine Bestätigung findet und diese als seine höchste Wollust weiß. Wie anders dagegen bei Schiller, wo das Naturschöne eine weit stärkere und ungleich tiefere Wirkung entwickelt und an ein Bewußtsein rührt, welches längst schon getrieben ist von Bedürfnis und Not, aufgeladen mit Motiven der Sehnsucht und dem elegischen Ton der Trauer: Wir sehen [...] in der unvernünftigen Natur nur eine glückliche Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören im fernen Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme. Sobald wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden und haben beides verloren. Daraus entspringt eine doppelte und ungleiche Sehnsucht nach der Natur; eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verlust der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern kann nur der moralische trauren. 3 4 1
Schon der elegische Ton zeigt zur Genüge, daß es sich nicht mehr nur um ein »unmittelbares und zwar intellektuelles Interesse« handelt, was der Natur aus der Distanz eigener Überlegenheit entgegengebracht wird. Das Naturschöne ist vielmehr zum Grund für die nahezu schon dramatische Evokation eines im Stande der eigenen Vernunft und Bestimmung verfehlten und endlich verlorenen Ganzen geworden, welches immer auch nur die Sprache des Ganzen zu sprechen weiß, die Sprache der reinen 338 339 340 341
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 166f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 168. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 169. (Hervorhebungen von U. T.). Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 707f. (Hervorhebungen von U. T.).
378
Natur im Stande ihres Verlustes, eine elegische Sprache der reinen Empfindung als Sprache auch der Erinnerung und der Schuld. Das ist nicht mehr die glückliche Bestätigung eigener Souveränität und die harmonische »Wollust« im Angesicht einer Natur, welche noch der moralischen Subjektivität mit beifälligem Kopfnicken entgegenzukommen scheint, obgleich diese ihr keineswegs günstig gesinnt ist, sondern vielmehr die Umkehrung und das gerade Gegenteil — die aus der ganzheitlichen Natur der Subjektivität selbst aufsteigende Erinnerung an längst verdrängte Leiden, der aufbrechende Schmerz einer mißachteten und verletzten Natur und die in ihm erst Empfindung und Ausdruck gewordene Erinnerung an die schon mit dem Sündenfall in die Welt gekommene und immer noch fortwährende Schuld einer moralischen Freiheit, die das Vertrauen der Vorsehung bislang noch kaum je hat rechtfertigen können. Was das Naturschöne anrührt, ist daher für Schiller auch viel zu ernst und zu weittragend, um nur in jenem sentimentalischen Geschmack aufzugehen, »welcher sich, besonders seit der Erscheinung gewisser Schriften, in empfindsamen Reisen, dergleichen Gärten und Spaziergängen und andern Liebhabereien dieser Art äußert«. 342 Die sich im Schatten des eigenen Scheiterns fühlende und erkennende Vernunft selbst vielmehr ist der entscheidende Grund, der der einfachsten und unscheinbarsten Natur schon die Macht zu jenem schmerzlichen »Rückblick auf uns selbst und die Unnatur in uns«ÌAÌ verleiht, welcher der Menschheit überhaupt gilt, an deren Verfall wir bei einem solchen Anlaß erinnert werden. Es ist zu offenbar eine moralische Trauer, die einen edlern Gegenstand haben muß als die physischen Übel, von denen die Aufrichtigkeit in dem gewöhnlichen Weltlauf bedrohet wird, und dieser Gegenstand kann nicht wohl ein anderer sein als der Verlust der Wahrheit und Simplizität aus der Menschheit. 344
Das selbst von einfachster Natur hervorgerufene Gefühl der moralischen Trauer zeigt seinen moralischen Ursprung schon darin, daß das aufbrechende Leiden Natur und Vernunft gleichermaßen schmerzlich betrifft und jener verhängnisvollen Gestalt von »Unnatur« und »moralischer Anarchie« 345 gilt, die schon die Kritik des moralischen Absolutismus als das eigentlich einheitliche Unwesen der Moderne begriffen hatte und die im Anblick der freien Naturschönheit als moralische Trauer er-innert wird. Das Naturschöne selbst ist es, was dazu treibt, daß »wir uneinig mit
342 343
344
345
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 696. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 696 (Hervorhebungen z. T. von U. T.). Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 699A (Hervorhebungen z. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 708.
379
uns selbst und unglücklich mit unsern Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus derselben herauszufliehen und eine so mißlungene Form aus unsern Augen zu rücken«. 346 Was von Schiller als Interesse und in der zweideutig bleibenden Metaphorik der Flucht noch immer kaum zureichend und konsequent umschrieben wird, ist im Grunde ein Doppeltes: Nicht nur der Reflex der Moderne und ihrer geschichtlich verhängten, tief bis in die menschliche Triebnatur reichenden Not, sondern weit mehr noch ein erster Ausdruck für das erst in der totalen Entfremdung als ganzheitlicher Impuls im Bewußtsein aufsteigende Bedürfnis nach ganzheitlicher Natur und Existenz, mithin nichts geringeres als der Ausdruck der seelischen Strukturnotwendigkeit des Ausgleichs und der Versöhnung. Nicht das Gesetz, sondern genau diese aus der Schuld und Bedürftigkeit einer der sinnlichvernünftigen Natur unterstellten Vernunft selbst erwachsende Bewegung des Ausgleichs und der Versöhnung wird von Schiller als Inbegriff sittlichen Wesens verstanden und mit der Idee einer Vernunft belegt, deren Sittlichkeit erst in Anerkennung der Natur und in dem Bestreben besteht, diese zu suchen und sich ihr zuzubilden. Wo das absolute Gesetz des kategorischen Imperativs beim Wechsel zu einer ihm gänzlich heterogenen Welt der Erscheinung sich in sein eigenes Gegenteil verkehrt und sich darin auch als zerstörbar erweist, so erweist diese in der menschlichen Doppelnatur als organischer Ganzheit fundierte Idee der sittlichen Totalität sich dagegen als eine zuletzt unzerstörbare Kraft, die allen Entstellungen und Verirrungen der Freiheit widersteht und in diesem Widerstand nicht nur als schön, sondern zugleich auch als gut gilt; denn entfernt sich gleich der Mensch durch die Freiheit seiner Phantasie und seines Verstandes von der Einfalt, Wahrheit und Notwendigkeit der Natur, so steht ihm doch nicht nur der Pfad zu derselben immer offen, sondern ein mächtiger und unvertilgbarer Trieb, der moralische, treibt ihn auch unaufhörlich zu ihr zurück, und eben mit diesem Triebe steht das Dichtungsvermögen in der engsten Verwandtschaft,347
So ist es vor allem der Schmerz und der aus der ganzheitlichen Natur der verletzten Seele selbst aufsteigende Wille zur Ganzheit, der die Verhärtungen einer allein nur moralischen Form bricht und sie in jenen »moralischen Trieb« verwandelt, welcher den dunklen Impulsen der Triebnatur nicht mehr nur mit dem eitlen Stolz der Verachtung begegnet, sondern sich ihnen in genau dem Maße öffnet, als eigener Schmerz und eigenes Leiden ihn dazu bestimmen, sie immer auch als die eigenen zu erkennen 346
347
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 711 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 716 (Hervorhebungen von U. T.).
380
und den ihm scheinbar fremden Willen zur Ganzheit nicht nur zu achten, sondern ihn in den eigenen Willen und seine Bestimmungen mit aufzunehmen. Das ist nicht mehr nur jene stets abgespaltene und sich in dieser Spaltung befestigende Form, welcher Natur nur das schlechthin Gleichgültige und letztlich Feindliche ist, sondern vielmehr schon eine neue Form des Sittlichen und seiner Freiheit, eine Form, die sich auch selbst nur als Teil weiß und sich zum Organ der seelischen Ganzheit macht, deren Ausdruck sie ist. Die äußere Natur wird so zum Bilde der inneren und ihrer Geschichte, zum Bild der verlorenen Ganzheit und zum Bilde vor allem auch dessen, was der Vernunft darin als eigene Vollendung entgegenscheint und gleichwohl all ihre Sehnsucht treibt: Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollkommenheit im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.348
Durch »eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt«,349 sind die verlorene Vergangenheit und die aufgegebene Zukunft so miteinander verbunden, daß selbst die einfache Natur im Schein der Idee zur Form und Person wird, indem sie »das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eigenen und unabänderlichen Gesetzen« 350 verkörpert, mithin den Inbegriff höchster Form und Vollendung und das Vor-bild der Form schon in der Natur. Bild und Idee sind kaum noch zu unterscheiden, ist dies doch schon der Beginn jener Ein-bildung, in der die Vernunft die ihr eigene Freiheit in die Natur zurückspielt und die Natur als Darstellung ihrer selbst begreift. Immer geschieht dies vermittelt, »durch einen Effekt der poetischen Einbildungskraft« immer so, daß wir dem Willenlosen in unsern Gedanken einen Willen leihen und auf die strenge Richtung desselben nach dem Gesetz der Notwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit über unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freiheit und über die in unserem Handeln vermißte sittliche Harmonie führt leicht eine solche Stimmung herbei, in der wir das Vernunftlose wie eine Person anreden und demselben, als wenn es wirklich mit einer Versuchung zum Gegenteil zu kämpfen gehabt hätte, seine ewige Gleichförmigkeit zum Verdienst machen, seine ruhige Haltung beneiden. Es steht uns in einem solchen Augenblicke wohl an, daß wir das Prärogativ unserer Vernunftfür einen Fluch undfür ein Übel halten und über 348
349 350
Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW Y S. 695 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 695. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 694.
381
dem lebhaften Gefühl der Unvollkommenheit unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und Bestimmung aus den Augen setzen,351
Trotz der ästhetischen Form, in der sich die Vernunft zur Welt der Erscheinung bildet, zeigt Schillers Idee der ästhetischen und zugleich sittlichen Freiheit immer noch die moralische Tendenz einer sittlich gebotenen und darum notwendigen »Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und Bestimmung«, eine Tendenz, welche sich darin auch gegenläufig zur ästhetischen Anerkennung und Sehnsucht verhält, daß sie immer auch von der Natur zur Freiheit strebt und darin zugleich zu erkennen gibt, daß das sentimentalische Bewußtsein und seine Reflexion nur in der Einheit ihrer notwendig gegenläufigen Tendenzen bestehen können. Diese Gegenläufigkeit ist kein Widerstreit und ihre Reflexion kein Widerspruch. Überall dort, wo die Vernunft sich nur ihrer Bestimmung zuwendet und sich denkend und handelnd auf diese entwirft, bleibt das Vernunftlose vernunftlos und die Natur nur das tote Material einer Moralität, welcher die Sehnsucht zur schönen Natur bloß retardierende »Stimmung« ist; überall dort aber, wo die Natur als Bild und als Vor-bild der freien Notwendigkeit gilt, ist es keineswegs nur eine moralische, sondern schon eine ästhetische Form, in welcher die reine Vernunft sich der Welt der Natur zuwendet und reine Natur entdeckt. Der »moralische Trieb«, welcher sich zur Natur getrieben sieht und »unaufhörlich zu ihr zurück« will, ist daher schon die ästhetische Form einer Vernunft, welche als ein-bildendes Spiel zwischen Natur und Vernunft im Medium der Einbildungskraft und ihres beständigen Wechsels von Bild zu Bild eine Natur und Vernunft gleichermaßen umgreifende Realität bildet und darin auch ihre eigentümliche Form erst noch sucht. Vor allem die Idee der Natur als Person ist keine Idee der Vernunft, sondern ein Bild der Einbildungskraft in einem Spiel wechselseitiger Ein-bildungen — nicht nur das der Natur ein-gebildete Bild einer moralisch tingierten Einbildungskraft, sondern immer auch das der Vernunft ein-gebildete Bild ihres eigenen Scheiterns, ein Bild, das ihr nur deswegen Empfindung und Vor-bild wird, weil sie in ihm nur das Bild ihrer Notwendigkeit erkennt und Natur das heimliche Subjekt der Einbildung überhaupt ist. Immer ist es ein doppeltes Bild, was die Einbildungskraft der Vernunft vorhält, das gegen-bildliche Bild ihres Ursprungs ineins mit dem vor-bildlichen Bilde der eignen Bestimmung, das Bild ihrer Schuld und das Bild ihrer Aufgabe in der ihr immer schon ein-gebildeten Empfindung des Schönen und der ihr eigenen Scham angesichts einer Freiheit, die in ihrer geschichtlich verhängten Entformung beständig beschämt. Was die freie Naturschönheit der moralischen Vernunft zuspielt, ist das Geschenk einer Reflexion, welche immer ein Innehalten 351
Vgl. Schiller, Über naive u n d sentimentalische Dichtung. In: SW Y S. 707.
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und Innewerden jenseits der Zwänge von Denken und Handeln ist und den geschichtlichen Menschen erst in jenes rätselhafte Zwielicht seiner Bestimmung entrückt, das ihn zur eigenen Existenz hin befreit. Nicht nur das Schöne, sondern weit mehr noch die sentimentalische Reflexion aller Natur ist ein »ästhetischer Augenblick« in dem von Wolfang Janke bezeichneten Sinn, denn hier vor allem er-innert die Gunst des Augenblicks den Menschen an sein vergessenes Selbst. Ihm wird symbolisch die Idee einer Seelenverfassung anschaulich, die der Menschheit durch das unbedingte Gebot der totalen Wechselbestimmung seiner Triebe aufgegeben ist. 3 5 2
Daß die Natur keineswegs nur das Objekt, sondern das heimliche und in der Reflexion nur verdeckt gebliebene Subjekt der sentimentalischen Erfahrung ist, wird schon an den überall merklichen Spuren von Affektation deutlich, welche sich dem moralischen Bewußtsein noch gegen den eigenen Willen einprägen, von ihm aber nicht ohne Widerstand einfach nur anerkannt werden können, weil Affektation und Freiheit sich zwar nicht notwendig ausschließen, aber doch gegenläufige Prinzipien sind. In der Konstitution der sentimentalischen Erfahrung bildet die Affektation der Vernunft durch die freie Natur daher auch eine Tiefenschicht aus, welche den Schein einer nur von der Idee erzeugten Erfahrung gleich einem Schatten begleitet und an der Oberfläche des moralischen Bewußtseins eher verdeckt und überspielt wird. Auch für Schiller bleibt die notwendige Ambivalenz von Affektation und Vernunft, welche dazu tendiert, die auch im sentimentalischen Bewußtsein deutliche Affektation der Vernunft eher zu leugnen. Im »sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neueren an Naturszenen und an Naturcharaktere hangen«,353 spiegelt sich scheinbar nur das, was die moralische Reflexion erst aus den ihr zugespielten Empfindungen macht und was diese auch erst zur Erfahrung werden läßt, nicht das, was ursprünglich darin gegeben wird und der reinen Vernunft alles andere als günstig zu sein scheint; denn obgleich »weder Affektation noch sonst ein zufälliges Interesse im Spiele« sein soll, und die in der Naturwelt nur »dargestellte Idee« reiner Form als jener entscheidende Grund gilt, welcher die Anziehung der Vernunft und endlich auch die Struktur der sentimentalischen Erfahrung bestimmt — ursprünglich
352
353
Vgl. W. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 255. - Jankes Bestimmungen gelten vor allem dem Spiel, scheinen jedoch mehr das sentimentalische Selbstverhältnis und den er-innerten Schmerz von Schuld und verlorenem Ganzen zu treffen, zumal Janke es offen läßt, warum »das Schöne in seinem Wirken und Sein allein im Leiden und Betroffensein der Seele anwesend ist«. Vgl. Janke, ebd. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: S W V, S. 709 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
383
ist sie unmittelbare Empfindung, »eher demütigend als begünstigend für die Eigenliebe«, ursprünglich ist das Bewußtsein »genötigt, den Gegenstand zu achten«, um erst daraufhin »in der Idee dazu hingetrieben« zu werden und ihn als Darstellung freier Vollendung zu sehen und zu behandeln. 354 Noch gegen den Lauf von Schillers eigener Intention gibt sich schon in der phänomenalen Darstellung der sentimentalischen Empfindung freie Natur als deren Subjekt zu erkennen, das die moralische Vernunft in einer Art Gegenzwang zu seiner Anerkennung als eines lebendigen und zugleich bildenden Wesens zu nötigen scheint, zuletzt aber kaum weniger darstellt als das, wonach die bislang unterdrückte Natur der moralischen Vernunft sich in ihrer Not und Bedürftigkeit sehnt, da sie doch über die Freiheit, welche sie anstrebt, nicht verfügt noch jemals verfügen kann. Diese Sehnsucht nach Freiheit und Form, in der das Wesen aller Vernunft eigens besteht und sich bildet, ist daher auch als der entscheidende Grund zu verstehen, in dem der verdeckende Schein einer von der moralischen Idee nur erzeugten und in die Natur allererst ein-gebildeten Freiheit gründet, denn dort, wo das Schöne in der Natur nur die eigene Sehnsucht erweckt und zur Bildung bestimmt, kann auch von Affektation nur noch schwerlich gesprochen werden. Die sentimentalische Erfahrung ist daher auch immer erst dann vollständig bestimmt, wenn sie als jener Prozeß einer der Vernunft immer erst zugespielten und von ihr gleichsam in die Natur zurückgespielten Sehnsucht und Freiheit begriffen wird, in dem das Verhältnis von Natur und Vernunft sich als ein ästhetisches Wechselspiel zeigt, welches in dem Maße auch als Vereinigung ohne Verlust gelten kann, in welchem die transzendentale — und auch der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung so notwendige — Differenz und Gegenläufigkeit von Natur und Freiheit sich als eine Bewegung zeigt, in der die Vernunft der Natur zugebildet bleibt, auch wo sie sich ihr gegenüber behauptet und sich von ihr entfernt. Worin die sentimentalische Stimmung und Reflexion ihren Grund und das Medium ihrer unendlichen Selbstbewegung hat, ist nichts geringeres als ein ästhetisches Wechselspiel von Natur und Vernunft, welches zugleich auch als höchst reales Vorspiel der Freiheit bestimmt werden kann. Die sentimentalische Erfahrung und Reflexion ist der Ausdruck der ausgleichenden Triebnatur in ihrer Ganzheit, die Realität der ästhetischen Wechselwirkung in der entfremdeten Zeit der Moderne, nicht mehr nur ein Postulat, sondern das in der Stimmung angekündigte und in der Selbstreflexion der ästhetischen Subjektivität fortgespielte Spiel mit dem eigenen und immer nur freien Grund zwischen Bestimmbarkeit und Bestimmung.
354
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 694ff.
384
Die Anerkennung der Natur als des heimlichen Subjekts der sentimentalischen Erfahrung widerspricht dem Laufe von Schillers Intention daher auch nur an jener Oberfläche, die durch den Bezugspunkt der Kantischen Systematik bezeichnet wird, keineswegs aber in j ener Tiefe, in der die Not und Bedürftigkeit der Vernunft diese erst eine Natur entdecken lassen, welche ihr durch das Schöne als eigene Sehnsucht bewußt wird und dadurch auch erst als freie Darstellung ihrer Freiheit gilt. Mit dieser Sehnsucht hat Schiller aber zugleich auch den Affektations-Charakter der sentimentalischen Stimmung systematisiert. Indem die der Natur eingebildete Freiheit als Form einer der Vernunft immer erst zugespielten Empfindung bestimmt werden kann, ist die Form als Zuspiel einer Demütigung und Beschämung bestimmt, als deren Subjekt das nur moralisch konstituierte Bewußtsein sich in einer Erfahrung erkennt, in welcher es ursprünglich eigentlich Objekt ist. Worin sich die sentimentalische Stimmung gerade als Stimmung konstituiert, ist so nichts weniger als der Sieg der Natur über die bloße Vernunft in der ein-gebildeten und erweckten Sehnsucht nach dem Naiven, welches daher auch darin besteht, »daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme«.155 Die in der Beschämung empfundene Scham der Vernunft selbst ist der Grund dafür, daß die Wirkung des Naiven immer nur darin bestehen kann, »daß die Natur nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamische, sondern daß sie durch ihre Form als moralische Größe, kurz, daß sie nicht als Notdurft, sondern als innere Notwendigkeit über die Kunst triumphiere«. 356 Was das Naive dokumentiert, ist daher nichts weniger als ein moralischer Sieg der Natur über eine verstellte und virtuell schon entformte Form einer Vernunft, die weder der eigenen Form noch der Freiheit in der Erscheinung länger mehr mächtig ist. In der der Vernunft immer schon ein-gebildeten und erweckten Sehnsucht nach dem Naiven ist der moralische Sieg der Natur aber zugleich auch ästhetisch bestimmt. Deswegen gleicht das Naive formell genau Schillers früher Bestimmung, nach welcher die Schönheit »Natur in der Kunstmäßigkeit (ist)... Natur in der Kunstmäßigkeit, was sich selber die Regel gibt — was durch seine eigene Regel ist»; als das Naive, das seine Schönheit und all seinen Glanz darin hat, daß »die Natur darin über Künstelei und Verstellung ihre Rechte behauptet«?51 Alles Schöne ist daher naiv, alles Naive objektiv schön, ein Sieg innerlich reiner Natur über die nur gesetzlich konstituierte Vernunft in einer sittlichen Wirkung der Form, welche sich selbst einer Gunst der Natur ver-
355
356 357
Vgl. Schiller, Über nàive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 694 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 699f. Vgl. Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: SW V, S. 423 (411).
385
dankt und in jene siegreiche Resistenz der Natur gegenüber der allgemeinen Entfremdung einmündet, die dem moralischen Subjekt notwendig Beschämung ist, nicht nur, indem es als Ur-sache aller Kultur und Entfremdung zu gelten hat, sondern vor allem auch deswegen, weil es in der Beschämung das eigentlich Unterliegende ist. Die Beschämung der gesetzlich konstituierten Vernunft ist sittlich notwendig und unausweichlich, weil die moralische Kultur und ihr Scheitern selbst ihre innerste Voraussetzung ist: Jederfeinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindungfehlt, erfährt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfaltigen Natur überrascht wird. 358
Es ist immer schon sprechend, daß der gebildet-verbildete Mensch der Kultur in der Natur etwas findet, wonach er nicht notwendig gesucht hat. Schon das Moment der Überraschung zeigt eine Affektation der Vernunft durch die äußere, mehr aber noch durch ihre eigene und von ihr selbst unterdrückte Natur, in der die in ihrer Verhärtung entfremdete und darin sich selbst feindliche Moralität sich endlich als Ganzheit zu fühlen beginnt. Daß die sentimentalische Erfahrung der Ganzheit dem moralischen Bewußtsein nur über den Schmerz der Beschämung zufällt, ist nur der Tribut, der mit dem Scheitern der Moralität und dem malum morale notwendig verbunden ist und eine blinde Identifizierung der sentimentalischen Stimmung mit dem ästhetischen Spiel auch dann noch verbietet, wenn die sentimentalische Erfahrung der freien Natur sich als Resultat jenes ästhetischen Wechselspiels von Natur und Vernunft konstituiert, welches zugleich das reale Vorspiel ästhetischer Freiheit ist. Vor allem die Scham ist weder nur eine Idee noch ein der Natur immer nur ein-gebildetes Bild, sondern vielmehr die der Vernunft immer schon ein-gebildete Empfindung der ganzen unter ihr leidenden Natur, eine Empfindung, die mit der moralischen Vernunft gleichen Ursprungs ist und auf jene uralte Schuld zurückweist, welche bereits mit dem Sündenfall in die Welt kam und alle Vernunft als ein vom eigenen Ursprung geworfener Schatten begleitet — versteckt in der Regel, immer auftauchend, wenn ihr geschichtliches Scheitern mächtiger wirkt als die Verdrängungen ihrer Erfolge. Die 358
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 694 (Hervorhebungen von U. T.). Daß Schiller das »Naive der Überraschung« und das »Naive der Gesinnung« später noch unterscheidet und differenziert (vgl. Schiller, ebd., S. 699), ändert wenig daran, daß die - noch von Affektation zeugende - »Überraschung« ein zentrales Moment in der Konstitution des Naiven ist, das in der allmählichen Habitualisierung der »bloßen Gesinnung« nicht mehr zutagetritt, weil diese schon Aneigung des Naiven unter den Bedingungen der sentimentalischen Reflexion ist.
386
Beschämung des moralischen Bewußtseins im Angesicht des Naiven kann daher als die in der Scham er-innerte und wiederholte Schuld seines eigenen Ursprungs bestimmt werden, als ein im Grunde eigenes Gesetz, was im Angesicht seines geschichtlichen Scheiterns erneut in ihm aufbricht und endlich Gestalt werden will. In der sentimentalischen Stimmung spricht eine Stimme, die von der moralischen Vernunft nicht mehr nur einfach verdrängt werden kann, weil die schuldhafte Scham stets in ihr eigenes Wesen gehört und nur der fühlende Teil ihrer eigenen Natur ist. Die Scham der Beschämung ist dem moralischen Bewußtsein daher zwar notwendig demütigend und schmerzlich, doch dieser Schmerz ist ihm keineswegs nur der bloß fremde Zwang eines nur fremden Gesetzes, sondern vielmehr der notwendige Nachhall des eigenen Ursprungs und seiner Schuld, eine Gestalt und Funktion seines ihm eigenen Gewissens. Das im moralischen Bewußtsein aufbrechende Gefühl der Beschämung ist die Gestalt seines ihm schon von der Natur ein-gebildeten Gewissens, kein heteronomes Gesetz, sondern der produktiv treibende Impuls einer Reue, welche das geschichtliche Scheitern der Moralität nicht mehr nur in der Natur, sondern vielmehr auch in sich selbst sucht und den in der Scham sprechenden Willen der ganzen Natur als eigenen Willen erkennt. Dem geht jedoch stets ein Kampf zwischen der schmerzlichen Demütigung und der moralischen Selbstbehauptung voraus, ein Kampf, der den Widerstand der Natur gegen das imperative Gesetz unter umgekehrten Vorzeichen nur wiederholt und das Phänomen der sentimentalischen Stimmung mit dem Begriff der moralischen Idee in Zusammenhang bringt, ein Kampf aber auch, der sich noch in der ästhetischen Doppelgesichtigkeit des Naiven sedimentiert, denn seiner eigenen Form nach ist das Naive als schöne Darstellung der Freiheit in der Erscheinung bestimmt, seinem Gehalte und seiner Wirkung nach aber ist es eine Gestalt des Erhabenen, mit der Macht versehen, den Menschen selbst wider den eigenen Willen »in eine erhabene Rührung« zu versetzen. Ist die sentimentalische Stimmung das Gewissen des in sich verhärteten und sich entfremdeten moralischen Bewußtseins, so ist die sentimentalische Reflexion ein ästhetisches Spiel von Einbildungskraft und Vernunft in der Gestalt des beständigen Wechsels von Attraktion und Repulsion, mithin genau jener lebendig pulsierende Rhythmus, von dem Schillers Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« in immer neuen Variationen zeugt. Die zentralen Begriffe des Naiven und Sentimentalischen, Wolfgang Binder hat darauf hingewiesen,359 sind vor allem transzendental-onto359
Vgl. W. Binder, Die Begriffe >naiv< und >sentimentalisch< und Schillers Drama, S. 140ff„ S. 157.
387
logische Prinzipien, die im Zuge ihrer Entwicklung erst jenen anthropologischen, geschichtsphilosophischen und schließlich auch dichtungspsychologischen Status erhalten, in dem weitere Reflexion ihre Bestimmung vorantreibt. Nichts ist an sich schon naiv, nichts an sich schon sentimentalisch; allein nur im Horizont der transzendentalen Prinzipien scheinen die Dinge erst dies oder das zu werden, immer phainomenon, immer Produkt nur der Reflexion und des autonomen Subjekts, in dem sie auf unbekannte und unbegreifliche Art miteinander verbunden sind. In einer solchen, allein nur begriffslogisch orientierten Rekonstruktion ist der Standpunkt von Reflexion und Subjekt allerdings immer schon eingenommen, zum Nachteil der Rekonstruktion selbst, weil Fragen zur Genesis der Prinzipien auf dem Boden der transzendentalen Denkform allein nicht mehr zureichend gestellt werden können, so daß der schon phänomenal durchscheinende und in Schillers Bestimmung des Naiven als notwendiger Beschämung endlich auch systematisierte AffektationsCharakter der sentimentalischen Stimmung darin nur übersprungen werden kann. Natürlich, alles Naive ist reines Produkt, nicht aber so, daß die moralische Reflexion allein es erzeugte, sondern ursprünglich so, daß es die dem Bewußtsein immer schon ein-gebildete Form seiner reinen und ganzheitlich organisierten Natur ist, eine Form, welche sich in der Gestalt des Naiven machtvoll in Erinnerung ruft und das moralische Bewußtsein im Schmerz seiner ursprünglichen und unmittelbar wirkenden Beschämung erst in sentimentalisches Bewußtsein verwandelt. Naives und Sentimentalisches bedingen sich wechselseitig: Einerseits ist das Sentimentalische immer schon in die Begriffsbestimmungen des Naiven eingegangen — in der Beschämung, welche den Zustand der allgemeinen Entfremdung von aller Natur notwendig voraussetzt; andererseits ist das Naive schon immer in die Begriffsbestimmungen des Sentimentalischen eingegangen — in der Beschämung, welche dem nur moralischen Subjekt erst jene verlorene und nur verdrängte Ganzheit zuspielt, welche zu seinem eigenen Wesen gehört und in diesem aufbricht, um im Schmerz der Erkenntnis erst zur Entstehung des sentimentalischen Strebens zu führen. Mit Peter Szondi kann die sentimentalische Reflexion daher als eine in der Scham erst erweckte Sehnsucht bestimmt werden, welche den Gegensatz naiv — sentimentalisch, indem sie das Sentimentalische als die Wiedergewinnung des Naiven unter den Bedingungen seines anderen, der Reflexion, setzt, im hegelschen Wortsinn aufgehoben hat.
Für Peter Szondi ist dies der »Endpunkt von Schillers progredierender Erkenntnis«, weil auch er vorwiegend begriffslogisch argumentiert und über dem nur geschichtsphilosophischen Ideal der Versöhnung den eigentlich allgemeinen und anthropologisch für jedes Bewußtsein bestimmenden Gehalt der sentimentalischen Reflexion auf seine allein nur 388
poetologische Dimension hin verkürzt. 360 Zwar ist das Naive das Sentimentalische und dieses auch wiederum das Naive, in einer Bewegung, welche sich Ursprung und Ziel ist und daher auch als ästhetische Selbstbewegung eines von Grund auf modernen und in den Ursprung des eigenen Triebwiderstreits zurückgestellten Bewußtseins ist; stets jedoch ist die von Szondi herausgestellte dialektische Einheit des Naiven und Sentimentalischen nur Einheit in einer Differenz, welche nicht erst zwischen die je geschichtliche Faktizität und die ihr antwortende Idee, sondern immer schon in jedes einzelne und sich entfremdete Bewußtsein selbst fallt und dort einen Spannungszustand begründet, der mit dem allein nur geschichtsphilosophisch verstandenen Ideal der Versöhnung eher verdeckt wird. Diese Spannung ist ein geschichtliches Sediment, ein Niederschlag der Entfremdung in jenen gegenläufigen Tendenzen, welche die Struktur und die in sich bewegte geschichtliche Suche der sentimentalischen Sehnsucht erst eigentlich ausmachen. Einerseits treibt der Schmerz der eigenen Beschämung das moralische Subjekt zur sentimentalischen Aneignung des Naiven, das sich als ein-gebildeter Grund und als Vorbild der sentimentalischen Suche erweist; andererseits gebietet es »die Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und Bestimmung«, den Prozeß dieser Aneignung nicht nur der Empfindung einer empfindsamen retour à la nature zu überlassen, sondern ihn als in sich selbst reflektierte Empfindung aus sich herauszustellen und in einem geschichtlichen Sinn zu gestalten, wenn anders das Ideal nicht bloß abstrakt bleiben soll. Indem das moderne Gefühl für Natur immer nur »der Empfindung des Kranken für die Gesundheit« 3 6 1 gleichen kann, spricht das Ideal keineswegs nur die Sprache der bruchlosen Anerkennung der Natur und der Versöhnung, sondern mit gleicher Notwendigkeit auch die zweite Sprache einer moralischen Selbstbehauptung, welche nicht mehr dem Gesetz, sondern vielmehr der in sich bedrohten moralischen Seele und ihrer so dringlich gebotenen Diätetik gilt; denn aus Gründen der kritischen Sittlichkeit neigt das zur sentimentalischen Suche sich aufmachende moralische Bewußtsein kaum weniger zu jener schon pathogenen Form der Empfindsamkeit, die in der Empfindelei schon entschieden krankhafte Züge annimmt. 360 vgl. P. Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, S. 104. - D a s große Verdienst dieses Aufsatzes soll durch die Kritik nicht geschmälert werden, im Gegenteil; diese verdankt sich allein ihm, weil Szondis präzise Bestimmungen zu weiterer Reflexion treiben und in eine Dimension führen, in der es möglich und endlich geboten ist, die zentralen Begriffe von Schillers Abhandlung im Zusammenhang mit der »Wissenschaftslehre« zu diskutieren. 361
Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: S W V, S. 695.
389
Nirgendwo wird diese bedenkliche Affinität zwischen der pathogenen Empfindsamkeit und der sentimentalischen Suche für Schiller deutlicher als an Rousseau, dessen »kranke Empfindlichkeit« schuld daran sei, daß er die Menschheit, um nur des Streits in derselben recht bald loszuwerden, lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes zurückgeführt, als jenen Streit in der geistreichen Harmonie einer völlig durchgeführten Bildung geendigt sehen, daß er die Kunst lieber gar nicht anfangen lassen, als ihre Vollendung erwarten will, kurz, daß er das Ziel lieber niedriger steckt und das Ideal lieber herabsetzt, um es nur desto schneller, um es nur desto sicherer zu erreichen. 3 6 2
In dieser Kritik Schillers spricht nicht nur die transzendentale Differenz von Natur und Freiheit in ihrer grund-legenden Gültigkeit, sondern zugleich die — mit der Bestimmung des Menschen notwendig verbundene — Abwehr einer erneut unkritischen und fragwürdig bleibenden Identifizierung mit der Natur, eine Differenz, welche die sentimentalische Suche und Reflexion auf immer von ihrer allein nur empfindsamen Variante zu trennen sucht. Die moralische Selbstbehauptung übernimmt genau diese Funktion, ist aber deswegen nicht frei von Zügen genau jener Verhärtung, die das Verhältnis des moralischen Absolutismus zu eigener und auch fremder Natur schwer belastet und Schillers Kritik an der Kantischen Ethik erst eigentlich herausgefordert hatte. Noch das sentimentalische Verhältnis des Subjekts zu sich und der Welt kennt nicht nur die Anziehung der Natur, sondern zugleich auch Formen der Abstoßung, welche keineswegs nur jener kritischen Distanzierung entsprechen, welche im Namen der Freiheit so notwendig bleibt. Auf Attraktion antwortet beständige Repulsion, auf die vernunftlose Notwendigkeit und die » s i n n liche Harmonie« 363 einer verlorenen Ganzheit immerhin auch der bis zur Verleugnung der eigenen Scham gehende Stolz der Bestimmung, welcher die Freiheit der ganzen Natur sich immer nur selbst zuschreiben möchte und nicht davor zurückschreckt, selbst das Wehrlose noch vor das kritische Tribunal der transzendentalen Vernunft zu zerren: Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen usw. für sich selbst so Gefalliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. 3 6 4 362 363 364
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 730f. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: S W V S. 717. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: S W V S. 695 (Hervorhebungen von U. T.). Nicht nur dieses Beispiel und die Kritik an Rousseau, vor allem auch systematische Phänomene sind es, welche als Ausdruck der Repulsion gedeutet werden können, allen voran der Versuch, den Affektations-Charakter der sentimentalischen Erfahrung als Selbstaffektation und als eine der Natur immer nur ein-gebildete Idee der moralischen Vernunft zu verstehen -
390
Eine solche Abwertung des Naturschönen ist aber keineswegs nur der Reflex der transzendentalen Vernunft und ihrer Hybris, welche da wähnt, der ganzen Natur die Gesetze vorschreiben zu können, sondern weit mehr der Widerschein jener ambivalenten Beschämung, die alles Naturschöne ins Erhabene verwandelt und die Form der modernen Subjektivität in die gegenläufigen Tendenzen von sentimentalischer Anerkennung und moralischer Selbstbehauptung stellt, Tendenzen, die in das sentimentalische Streben zum Ideale selbst fallen und darin nicht immer schon harmonieren. So wenig anziehend die Phänomene der Repulsion zuweilen auch sein mögen, sie bleiben der objektive Reflex der stets gegenläufigen Tendenzen von Freiheit und Ganzheit und ihres beständigen Wechsels, welcher selbst zu jenem entscheidenden Grund wird, der eine letzte Vereinigung im Ideale schon durch sich selbst dementiert. Schon die entwicklungslogische und geschichtsphilosophische Reflexion zeigt alle Wechselwirkung von Freiheit und Ganzheit in einer ewigen Spannung der Gegenläufigkeit, die eine letzte Einheit nicht zuläßt und den beständigen Wechsel zwischen den zentrifugalen Kräften der Freiheit und den stets zentripetalen der Ganzheit nur noch in der Gestalt einer beständig wechselnden Sehnsucht erlaubt. Ewig verloren ist schon die Kindheit und darum »ein heiliger Gegenstand«,365 ewig verloren ist auch die Antike, denn die moderne Welt ist
365
womit vor allem auch der in sich bedürftige Charakter der reinen Vernunft verdeckt wird (vgl. hierzu auch die Polemik gegen den Mangel als Ursprung: Schiller, ebd., S. 700). Auch dies ist jedoch nicht einfach falsch und schon gar nicht als Ausdruck eines wiedergekehrten »Kantianismus« zu deuten, da die Zweideutigkeit in der Frage nach einer ästhetischen oder moralischen Konstitution des Naiven schon der Reflex des ursprünglichen Strebens ist, in dem praktische und ästhetische impulse sich noch nicht voneinander getrennt haben, mithin ein Reflex des Fichteschen Ich-Begriffs. Gleichwohl geht es im Phänomen der beständigen Repulsion nicht nur transzendental zu; immer auch geht es um Ambivalenzen, die bis ins Persönliche reichen und sich hier insbesondere um die schillernde Deutung Goethes ranken. Vgl. hierzu vor allem: F. WentzlaffEggebert, Schillers Weg zu Goethe, - P. Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische, - Vgl. hierzu auch die interessante Studie von H. Mayer, Goethe. S. 57ff. »In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet; und der, was er auch in der Beurteilung des Verstandes verlieren mag, in der Beurteilung der Vernunft wieder in reichem Maße gewinnt.« Schiller, Uber naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 697 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
391
die homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in denselben Gefühlen begegnen konnten. Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben ein sehr großer Abstand sichtbar, wovon die Ursache zum Teil schon darin liegt, daß Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredlung ein zusammenhängendes Ganze ausmachen, mit dessen Bruchstücken nichts gewonnen wird. Außer diesem Kulturunterschied ist es noch die Konvenienz, welche die Glieder der Nation in der Empfindungsart und im Ausdruck der Empfindung einander so äußerst unähnlich macht. Es würde daher umsonst sein, willkürlich in einen Begriff zusammenzuwerfen, was längst schon keine Einheit mehr ist. 366 Gravierender noch als die entwicklungslogische und geschichtsphilosophische Dimension dieser Wechselwirkung ist indessen die transzendentalphilosophische. Die transzendentale Reflexion zeigt den Mangel als Ursprungsgesetz allen Wechsels, denn was immer auch in den Wechsel kommt, ist durch den Mangel zum Wechsel und durch den Wechsel auch immer zum Mangel bestimmt, weil Mangel und Wechsel sich wechselseitig begründen und darin auch jenes ewig suchende Streben nach Idealen einer letzten und absoluten Vereinigung unterhalten, welches sich niemals erfüllt. Der sentimentalischen Reflexion ist dies ihre Sehnsucht, ein Zusammenhalten der reinen Natur und des aufgegebenen Ideals in den Bildern der Ein-bildung, die reine Selbstanschauung einer ästhetischen Subjektivität, welche notwendig im ästhetischen Modus des Scheins besteht und von diesem gefördert wird, solange die reine Natur und das geschichtliche Ideal im Entzüge verwahrt sind und durch ihren Entzug gerade das Streben stets neu entfachen. Das transzendentale Gesetz des ursprünglichen Mangels ist daher zugleich das Gesetz von Kultur und Geschichte und das Gesetz aller Sehnsucht: Solange der Mensch noch reine [...], nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttätiges Vermögen, haben sich in ihrem Geschäfte noch nicht getrennt, viel weniger stehen sie im Widerspruch miteinander. Seine Empfindungen sind nicht das formlose Spiel des Zufalls, seine Gedanken nicht das gehaltlose Spiel der Vorstellungskraft; aus dem Gesetz der Notwendigkeit gehen jene, aus der Wirklichkeit gehen diese hervor. Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend sich äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert jetzt bloß idealisch: sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens.1" 366 367
Schiller, Über Bürgers Gedichte. In: SW V, S. 973. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, In: SW V, S. 716f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
392
Auch der sentimentalischen Suche teilt sich das ursprüngliche Gesetz des Mangels mit, schon subjektiv. Der Entzug von Vereinigung und endlicher Freiheit droht auch die sentimentalische Reflexion zu jener abstrakten und leeren Bewegung zu machen, als welche die aufgeklärte Kritik aller Sehnsucht die Sehnsucht allein nur zu kennen scheint — als Hang nach dem unwiederbringlich Verlorenen und nach dem ewig Zukünftigen und als Fixierung an diesen Hang in der Sucht, als Überspannung der Kräfte, welche für Körper und Geist nicht ohne Gefahr ist. Noch in der »Kritik der Urteilskraft« war es nachzulesen, daß die Sehnsucht zu den »phantastischen Begehrungen« gezählt werden müsse, die ihren pathologischen Kern darin haben, daß sie das Herz ausdehnen und welk machen und so die Kräfte erschöpfen, daß die Kräfte durch Vorstellungen wiederholentlich angespannt werden, aber das Gemüt bei der Rücksicht auf das Unmögliche unaufhörlich wiederum in Ermattung zurücksinken lassen.368
Auch die sentimentalische Reflexion ist mit dieser Gefahr ihrer Sehnsucht durchaus vertraut; immer ist »das Gemüt in Bewegung, es ist angespannt, es schwankt zwischen streitenden Gefühlen«, 36 ' zwischen »der Wirklichkeit als Grenze und seiner Idee als dem Unendlichen« 370 und daher auch zwischen den aufreibenden Extremen von »Schlaffheit« und »Uberspannung« — ein »Geistesspiel ohne Gegenstand«, das den »Bedingungen aller möglichen Erfahrung überhaupt widerstreitet« und daher auch im Extrem ein ästhetisches »Nichts«.371 Für Schiller jedoch gilt dies alles nur als Extrem einer nur subjektiven Verzerrung, als stets von innen verzerrter Widerschein einer verzerrten Kultur und eines von dieser Verzerrung nie gänzlich frei bleibenden Strebens zu einem Ideal, das notwendig noch Spuren jener abstrakten Unendlichkeit aufweist, welche auch dem moralischen Idealismus zu eigen sind, denn hier wie auch dort kann das geschichtliche Subjekt nie ganz über die von ihm angestrebte Freiheit verfügen, weil die geschichtliche Konstitution der modernen Subjektivität und die Idee einer absoluten Freiheit einander notwendig ausschließen. Gleichwohl sind die gegenläufigen Tendenzen von Attraktion und Repulsion und die abstrakte Bewegung der sentimentalischen Sehnsucht zwischen der reinen Natur und dem stets aufgegebenen Ideal das eigentlich konstitutive Problem der humanen Versöhnung, zumal dieses sich nicht einfach schon durch den abstrakten und bis zur ermüdenden Platitüde wiederholten Hinweis auf das Idei als »ästhetischer Utopie« lösen läßt, der über die leere Formalität des ästhetischen Absolutismus 368 369 370 371
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kant, Kritik der Urteilskraft, XXIV A. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 752. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 720f. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 759ff.
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u n d i m Grunde auch über das nur ins Schwärmerische verkehrte Vorurteil v o m »Dichterphilosophen« nicht s c h o n hinausgeht. D a s Ideal gerade ist das Problem, s c h o n in jener Abstraktion, welche m i t der geschichtsphilosophischen D e n k f o r m darin übereinkommt, daß Ziel und A n n ä h e r u n g stets abstrakt miteinander vermittelt u n d die »Güter der Erwartung« kaum d e m j e n i g e n zuteil werden, welcher sich da i m Schweiße des eigen e n Angesichts nur i m m e r strebend bemüht. M i t solchen abstrakten Verm i t t l u n g e n hatte bereits die Kritik der geschichtsphilosophischen Vern u n f t gebrochen, und nur k o n s e q u e n t scheint daher auch Schillers vor allem in systematischer Hinsicht zentraler Vermerk, daß die scheinbar getrennten und i m Ideale scheinbar vereinigten Formen der naiven u n d sentimentalischen E m p f i n d u n g in ihrem höchsten Begriff gedacht, sich wie die erste und dritte Kategorie zu einander verhalten, indem die letztere immer dadurch entsteht, daß man die erstere mit ihrem geraden Gegenteil verbindet. Das Gegenteil der naiven Empfindung ist nämlich der reflektierende Verstand, und die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalte nach, wiederherzustellen. Dies würde durch das erfüllte Ideal geschehen, in welchem die Kunst der Natur wieder begegnet. Geht man jene drei Begriffe nach den Kategorien durch, so wird man die Natur und die ihr entsprechende naive Stimmung immer in der ersten, die Kunst als Aufhebung der Natur durch den frei wirkenden Verstand immer in der zweiten, endlich das Ideal, in welchem die vollendete Kunst zur Natur zurückkehrt, in der dritten Kategorie antreffen. 3 7 2 S o konsequent diese B e s t i m m u n g aus der Kritik aller Formen der A b straktion hervorgeht u n d in der kategorialen Absage an diese erst ihren S i n n erfüllt, so u m w ä l z e n d sind ihre kategorialen Konsequenzen; d e n n i n d e m sie der sentimentalischen Stimmung als dem Resultat des Bestrebens, das Ideal zu erreichen, denselben geschichtsphilosophischen Index gibt wie dem Ideal, wird dessen Zukünftigkeit geringer zugunsten seiner Nähe zur Gegenwart. Das Sentimentalische und das Ideal erlangen eine Gleichzeitigkeit, in der Peter S z o n d i völlig z u Recht eine »Apothese des Sentimentalischen« erkennt, das darin beschlossene Problem aber nicht weiter bedenkt. 3 7 3 372
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V S. 752A (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). 373 vgl. ρ Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische, S. 96ff. - Was Peter Szondi vernachlässigt, ist die sich durch seine eigene begriffslogische Rekonstruktion aufdrängende Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, daß schon das Sentimentalische als das Naive, mithin also selbst das schon Vereinigte und Versöhnte ist - eine Frage, die Szondi nicht stellt, weil die Herleitung der zentralen These schon alle Kräfte absorbiert zu haben scheint, vor allem aber auch deshalb, weil er die wichtige Vermittlung der »Wissenschaftslehre« nicht weiter beachtet und für sich nutzt. Szondi schließt traditionell in der Erkenntnis, »daß Schiller die Begriffslogik seiner Geschichtsphilosophie Kant, deren Evi394
Indem die sentimentalische Stimmung nicht in der zweiten, sondern erst in der dritten Kategorie erscheint, ist die »Gleichzeitigkeit« immer auch eine doppelte: einerseits die derauf den geschichtsphilosophischen Index gesetzten Versöhnung, als die Idee einer Reflexion, welche sich immer nur selbst suchen kann, weil sie selbst sich das Ideal ist, nach welchem sie strebt; andererseits die einer schon immer gegebenen und in der sentimentalischen Sehnsucht selbst bereits anwesenden Form der Versöhnung, eine Gegenwärtigkeit des Ideals, in der die geschichtsphilosophische Differenz von Wirklichkeit und Idee immer schon eingezogen ist und welche daher die Frage nach einem Grund ihrer Möglichkeit provoziert. Wenngleich auch der ideelle Charakter der sentimentalischen Sehnsucht nie gänzlich gelöscht werden kann, ohne die Sehnsucht in ihrem eigenen Wesen aufzuheben, so ist doch die in der Sehnsucht bewegte sentimentalische Stimmung und ihre Reflexion keineswegs nur als ein ewig unendliches Streben zum Ideale, sondern immer auch schon als dessen reale und faktische Einlösung bestimmt. Schillers kategoriale Bestimmung des Sentimentalischen als »Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalte nach, wiederherzustellen«, führt daher auch zu einem keineswegs poetologischen, sondern vielmehr zu dem der poetologischen Reflexion erst eigentlich Grund und Gestalt gebenden anthropologischen Rätsel der sentimentalischen Reflexion als einer Form des Bewußtsein, die sowohl ästhetische als auch moralische Züge noch in der Gegenläufigkeit ihrer Tendenzen in sich vereint und in sich versöhnt ist, auch wenn seine unendliche Sehnsucht mit gleichem Recht das genaue Gegenteil zu bezeugen scheint. Das sentimentalische Bewußtsein und seine Reflexion ist doppelt und gegenläufig bestimmt und doch eine Einheit — eine Realität des Ideals in der paradox anmutenden Gestalt des unendlichen Strebens zum Ideale, eine schon in sich erfüllte Sehnsucht, die immer nur Sehnsucht bleibt und stets über sich hinausgeht, um nur desto tiefer noch auf sich zurückzukommen und desto tiefer noch in sich hineinzugehen, ein durch die eigene Reflexion hindurchgehender und darin in sich bestimmter und doch wiederum unendlich pulsierender Rhythmus des eigenen Herzens. • All dies scheint eine Umwertung der Sehnsucht vorauszusetzen, welche die aufgeklärte Kritik weit hinter sich läßt und den Begriff der sentimentalischen Sehnsucht in unmittelbare Nähe schon der Romantik
denz aber Goethe« verdanke, weil sie der »Einsicht in die Gesetzlichkeit eines exemplarischen Lebens« entspringe, »das sie dankbar festhält.« Vgl. P. Szondi, ebd., S. 105. - Das ist sicherlich zutreffend, aber doch auch ein sehr konventioneller Schluß für einen in Anlage und Resultat im Grunde unkonventionellen und überzeugenden Aufsatz.
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rückt, die i h m nicht u m s o n s t viel verdankt. 374 Immerhin ist die Sehnsucht auch s c h o n für Kant nicht nur ein bloßes Nichts, d e n n »gemeiniglich lern e n wir unsere Kräfte nur dadurch kennen, daß wir sie versuchen. D i e s e Täuschung in leeren W ü n s c h e n ist also nur die Folge v o n einer wohltätig e n A n o r d n u n g in unserer Natur«. 3 7 5 S c h o n die »Kritik der Urteilskraft« gibt der Sehnsucht damit auch eine Wendung, in welcher sie mit d e n »phantastischen Begehrungen« überhaupt teleologisch gerechtfertigt u n d selbst mit der Aufklärung u n d ihrem kämpferischen »sapere aude« versöhnt wird. D e r Kantische H i n w e i s auf die A n s p a n n u n g aller Kräfte wäre schon Umwertung, w e n n die fixierte und nur abstrakte B e w e g u n g z u m unerreichbaren Ziele nicht zur Erschöpfung führte und die Sehnsucht nicht als »Affekt« erschiene, welcher als solcher s c h o n »pathologisch« ist u n d der moralischen Vernunft zuletzt so suspekt bleibt wie aller Affekt. 3 7 6 D i e sentimentalische Sehnsucht ist dagegen zwar auch nicht v o n jeder A f f e k t a t i o n frei, doch ist sie nicht als A f f e k t , sondern als jene in sich
374
Die Romantik selbst hat Schillers Vorläuferschaft vermerkt und dankbar anerkannt, insbesondere Friedrich Schlegel in seiner - nachträglich geschriebenen - »Vorrede« zum Versuch »Über das Studium der griechischen Poesie«, wo es ausdrücklich heißt: »Schillers Abhandlung über die sentimentalen Dichter hat, außer daß sie meine Einsicht in den Charakter der interessanten Poesie erweiterte, mir selbst über die Grenzen des Gebiets der klassischen Poesie ein neues Licht gegeben. Hätte ich sie eher gelesen, als diese Schrift dem Druck übergeben war, so würde besonders der Abschnitt von dem Ursprünge und der ursprünglichen Künstlichkeit der modernen Poesie ungleich weniger unvollkommen geworden sein.« F. Schlegel, »Vorrede« zu: »Uber das Studium der griechischen Poesie«. In: F. S., Kritische Schriften, S. 116. - Vgl. hierzu auch: R. Brinkmann, Romantische Dichtungstheorie in Friedrich Schlegels Frühschriften und Schillers Begriff des Naiven und Sentimentalischen. - A. Doppler, Schiller und die Frühromantik, - H. R. Jauß, Schlegels und Schillers Replik auf die »Querelle des Anciens et des Modernes«, - H.-D. Weber, Friedrich Schlegels >Transzendentalpoesie< und das Verhältnis von Kritik und Dichtung im 18. Jahrhundert, - E. Dod, Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik. - Daß das Verhältnis Schillers zur Frühromantik schon umfassend erforscht wäre, wird man allerdings trotz dieser z. T. hervorragenden Arbeiten kaum annehmen dürfen, zumal es gerade hier noch an genaueren Untersuchungen zum Zusammenhang von Schiller, Fichte und endlich der frühromantischen Philosophie und Kritik fehlt. Auch an Mißverständnissen fehlt es übrigens nicht, wie eine »kritische« Anmerkung O d o Marquards zum Thema zeigt: »Die Kunst und das Schöne - bei Kant die Vorwegnahme der geschichtlich sozialen Wirklichkeit des guten Staates - wird beim späteren Schiller zur temperierten Wiederholung der ungeschichtlich-asozialen Wirklichkeit derfernen Natur. Damit ist die romantische Position grundsätzlich erreicht.« Vgl. O. Marquard, Kant und die Wende zur Ästhetik, S. 253 (Hervorhebungen z. T. von U. T.).
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Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, XXIV A. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, XXIV A.
376
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reflektierte Bewegung bestimmt, die nach dem Unendlichen strebt und darin auch selbst in sich unendlich ist; sie ist keine Fixierung und keine stets nur erschöpfende Sucht, sondern vielmehr die in sich erfüllte Anspannung aller Kräfte in einem Wechsel, welcher sein Ziel niemals außer sich, sondern immer nur in sich selbst hat und daher nichts anderes will als den Wechsel. Keine Sehnsucht, die im Begrenzten aufginge, keine Sehnsucht, die nach dem M a ß ihrer Reflexion nicht den Wechsel vor allem auch in sich selbst wollte — denn der Wille zum Wechsel ist nur ein anderer Name der Sehnsucht und der Begriff für jene transzendentale Grundlegung der ästhetischen Subjektivität, welche in Schillers Reflexionen des sentimentalischen Bewußtseins als »Resultat« schon immer vorausgesetzt und in Fichtes »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« von 1794 ausführlich dargestellt und wohl deduziert ist.377 Schon mit dem nach Bestimmung strebenden Streben des Ich ist das Ich sowohl als endliches als auch als unendliches Ich gesetzt, worin sich bereits eine Entgegensetzung zu erkennen gibt, die in das transzendentale Ich selbst fällt und sich dort in einer Gegenläufigkeit seiner Tendenzen manifestiert, welche dem doppelten Streben des endlichen Ich nach Stoff und nach Form entspricht und überdies auf jene prekäre Stellung des Subjekts zwischen Natur und Freiheit verweist, in der dieses zwischen ästhetischer Anerkennung und moralischer Selbstbehauptung, zwischen Attraktion und Repulsion beständig nur wechseln kann. Die ästhetische Anerkennung und die moralische Selbstbehauptung sind daher Tendenzen, welche sowohl die Struktur als auch die Bewegung des endlichen Ich bestimmen, Tendenzen, welche sich wechselseitig sowohl begrenzen als auch hervorbringen und in diesem Prozeß genau jener differentiellen Einheit entsprechen, welche Schillers Idee der ästhetischen Wechselwirkung erst eigentlich ausmacht und auf jene transzendentale Grundlegung des sentimentalischen Bewußtseins zurückweist, in der dieses mit der transzendentalen Grundverfassung des endlichen Ich als ästhetischer Subjektivität endlich ineinsfällt. Dies bedarf der Begründung und eines angedeuteten Grundrisses, zumal Schillers Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« das dem sentimentalischen Bewußtsein als ästhetischer Wechsel
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Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I. - Der im folgenden angestrebte Rückgriff auf Fichte beansprucht keine umfassende Deutung, sondern allenfalls einige Klärung der von Schillers ästhetischen Schriften aufgeworfenen und - von Schiller nicht immer hinreichend erläuterten - Fragen und Probleme, hat Schiller die »Wissenschaftslehre« nach ihrem Erscheinen doch zumeist als bekannt vorausgesetzt und nur sehr gelegentlich auf sie verwiesen.
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vorausliegende und sich in ihm darstellende Spiel der wechselseitigen Ein-bildungen zwischen Natur und Freiheit und seinen transzendentalen Grund im ästhetischen Wechsel des endlichen Ich in sich selbst nicht eigens erörtert und ihn noch immer unter dem mißverständlichen Begriff der moralischen Idee zu fassen versucht. Terminologisch erscheint das ästhetische Prinzip der Anerkennung und jener in die Natur gleichsam zurückgespielten Freiheit, in welcher das Edle Schönes und Gutes vereint, noch immer als ein moralischer Trieb, so zwar, daß dieser nicht im Gesetz, sondern darin besteht, daß er sich der Natur zubildet und sich mit ihr zu versöhnen sucht. Der beständige Wechsel von Anerkennung und Selbstbehauptung vor allem ist es, welcher nicht eigens zur Reflexion gebracht wird, nicht nur, weil das Spiel von Attraktion und Repulsion auch für Schiller nicht absolut durchsichtig ist, sondern vor allem, weil Schillers Darstellung des Naiven und Sentimentalischen in ihrer wechselseitigen Konstitution immer schon eine gänzlich eigenständige Anwendung von Prinzipien ist, welche in Fichtes »Wissenschaftslehre« als transzendentale Grundlegung eines endlichen Ich entwickelt und deduziert werden. Von einer Abhängigkeit Schillers von den zentralen Bestimmungen der »Wissenschaftslehre« kann daher nicht ernsthaft die Rede sein: Indem die transzendentale Grundlegung eines endlichen Ich sich als Frage nach den notwendigen und allgemeinen Bedingungen von Erkennen und Handeln konstituiert und in deren Ableitung schon sich am Ziele weiß, bleibt ihr nicht nur jede besondere sittliche und ästhetische Fragestellung notwendig fremd, sondern vor allem auch jenes Problem der psychophysischen Nemesis und des moralischen Wechsels, welches den gordischen Knoten von Schillers Kritik und Ästhetik darstellt und im sentimentalischen Bewußtsein erst ganz sich zu lösen beginnt. Die in der sentimentalischen Sehnsucht bewegte und in sich reflektierte Totalität faßt nicht nur die als Stoff- und als Formtrieb sedimentierten und gegenläufigen Tendenzen von Natur und Vernunft, sondern immer auch die im transzendentalen Ich und seiner endlichen Formgestaltung sedimentierten und gleichfalls gegenläufigen ästhetischen und moralischen Tendenzen zu einer stets differentiellen Einheit zusammen, deren Grund und Ausdruck die zugleich in sich erfüllte und ewig unendliche Sehnsucht ist. Indem die Sehnsucht der Natur sowohl als der Freiheit gilt, ist sie stets eine in sich gegenläufige und différentielle Einheit, die mit der transzendentalen Struktur des endlichen Ich ineinsfällt, notwendig nur in der Sehnsucht besteht und sich als Sehnsucht verwirklicht. Es ist die gleiche Sehnsucht, welche die transzendentale Struktur des endlichen Ich und das sentimentalische Bewußtsein zuinnerst bestimmt und der transzendentale Grund für jene von Peter Szondi bemerkte und paradox anmutende Gleichzeitigkeit von Erfüllung und ewiger Suche ist, in welcher die sentimentalische Reflexion sich 398
bewegt und sich als genau jene erfüllte Unendlichkeit offenbart, die dem ästhetischen Zustand und der Bestimmung des Menschen entspricht. O h n e die transzendentale Grundlegung des endlichen Ich ist dies allerdings kaum zu verstehen geschweige denn zu einem Beweise zu bringen, in welchem die »Wissenschaftslehre« als transzendentale und damit als höchste Deduktion von Schillers geschichtlicher Form der Vernunftkritik und mit ihr jener ästhetischen Wechselwirkung von Natur und Vernunft erscheint, welche dem sentimentalischen Bewußtsein in seiner transzendentalen und seiner geschichtlichen Selbstreflexion zugrundeliegt und seine Struktur der differentiellen Einheit als eine geschichtliche Vor-gestalt der Versöhnung erkennen läßt. Voraussetzung dieser Erkenntnis ist nicht nur der Schmerz der Vernunft in der schuldhaften Beschämung, sondern zugleich auch die transzendentale Selbstbewegung der Vernunft in ihrer systematischen Genesis, die von dem von Kant offen gelassenen Rätseln der transzendentalen Apperzeption zu jener von Fichte inszenierten Grundlegung des endlichen Ich führt, welche die transzendentale Basis der sentimentalischen Stimmung und Reflexion und daher auch deren so notwendige Präzisierung ist. Diese beginnt mit dem grund-legenden Streben des Ich nach Bestimmung, in welchem das Ich sowohl als endliches als auch als unendliches Ich gesetzt ist und seine Bestimmung zwischen Natur und Freiheit zu erfüllen sucht. Nach Fichte kann schon das Streben des Ich [... ] nicht gesetzt werden, ohne daß ein Gegenstreben des Nicht-Ich gesetzt werde; denn das Streben des ersteren geht aus auf Causalität, hat aber keine; und daß es keine hat, davon liegt der Grund nicht in ihm selbst, denn sonst wäre das Streben desselben kein Streben, sondern Nichts. 378
Ein transzendentaler Reflex der Natur als dynamischer Macht in ihrem überall aufscheinenden Entzüge, ist das Gegenstreben des Nicht-Ich dem ursprünglich ungeordneten und chaotischen Streben der Reflexion stets die »Aeusserung eines Zwanges«,m der aus der ursprünglichen Reflexion selbst entspringt und von der transzendentalen zuletzt nur noch fixiert wird, um darin als Trieb zu erscheinen. Nach Hans-Georg Potts differenzierter Analyse bezeichnet der transzendentale Triebbegriff Fichtes daher kein Unbewußtes, sondern vielmehr »das in der Reflexion bestimmte Streben«,380 welches im »Gegentriebe des Nicht-Ich, sich selbst zu bestimmen«,381 378
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380 381
Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 288. Vgl. Fichte, Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 288f. (vgl. auch: S. 303). Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 45. Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 308.
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freilich nur eine neue Begrenzung der eigenen Wirksamkeit erfahrt. Als »Konstitutionspunkt des endlichen Ich« ist die Begrenzung durch den substantiellen Widerstand der Natur keineswegs nur eine beschämende Kränkung des scheinbar nur absoluten Ich, das in der »Ich-Philosophie« Fichtes ständig zu Unrecht vermutet wird; 382 nach Fichte gründet sich auf diese Begrenzung vielmehr die »Möglichkeit eines Sehnens; auf dessen Möglichkeit die Möglichkeit eines Gefühls, auf dieses —Leben, Bewußtseyn und geistiges Daseyn überhaupt«,383 Begrenzung und Sehnsucht bringen einander stets wechselseitig hervor, denn wenn das Ich sich nicht als sehnend fühlte, so könnte es sich nicht als beschränkt fühlen, da lediglich durch das Gefühl des Sehnens das Ich aus sich selbst herausgeht — lediglich durch dieses Gefühl im Ich und für das Ich erst etwas, das ausser ihm seyn soll, gesetzt wird. (Dieses Sehnen ist wichtig, nicht nur für die praktische, sondern für die gesammte Wissenschaftslehre. Lediglich durch dasselbe wird das Ich in sich selbst—außer sich getrieben; lediglich durch dasselbe offenbart sich in ihm selbst eine Außenwelt.) Beide sind demnach ursprünglich synthetisch miteinander vereinigt, eins ist ohne das andere nicht möglich. Keine Begrenzung, kein Sehnen; kein Sehnen, keine Begrenzung— Beide sind einander auch vollkommen entgegengesetzt. Im Gefühl der Begrenzung wird das Ich lediglich als leidend, in dem des Sehnens auch als thätig gefühlt. 3 8 *
Ein beständiger »Trieb nach etwas unbekanntem, das sich bloß durch ein Bedürfniss, durch ein Misbehagen, durch eine Leere offenbart, die Ausfüllung sucht«,385 bringt der ursprüngliche Mangel beständig das Sehnen, das Sehnen beständig auch das Bedürfnis und allen erst treibenden Trieb nach Dasein und Realität hervor, denn in der transzendentalen Bestimmung des endlichen Ich gilt die Sehnsucht nur als ein anderer Name für die »ursprüngliche, völlig unabhängige Aeusserung des im Ich liegenden Strebens«386 und des in ihm zum unendlichen Wechsel getriebenen und in der eigenen Reflexion zu ihm hintreibenden Ich in sich und mit sich selbst. Stets eine endliche und unendliche Bewegung, ist der Wechsel des 382
Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 43. - Zur Verkennung von Fichtes Philosophie und Lehre, welche zuweilen so groteske und skandalöse Züge angenommen hat, daß man dahinter nur immer Methode vermuten kann, hat HansGeorg Pott das Nötigste gesagt, insbesondere zum »Fall« Arnold Gehlens. Vgl. H.-G. Pott, ebd., S. 40f. 383 V g l Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 308 (Hervorhebungen von U. T.). 384 Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 303 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). 385 Ygj pichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 302f. 386 vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 304.
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Ich i n sich selbst keineswegs nur die ewig leere B e w e g u n g einer n o t w e n d i g abstrakten u n d daher haltlosen Sehnsucht; i m Gegenteil ist das a m Widerstand der Natur erst entspringende und an i h m gebildete Gefühl eines entgegengesetzten [... ] die Bedingung der Befriedigung des Triebes, also der Trieb nach Wechsel der Gefühle überhaupt ist das Sehnen [... ] Der Trieb der Wechselbestimmung geht demnach zugleich aus auf ein Gefühl. In ihm sind daher ideale Thätigkeit und Gefühl innig vereint; in ihm ist das ganze Ich Eins.3'7 D e r Trieb z u m Wechsel u n d die i h n treibende Sehnsucht sind daher stets ein und dasselbe, die unendliche Ä u ß e r u n g eines i m m e r nur endlichen Ich, welches als endliches in sich wechselt und in diesem Wechsel die Kräfte stets fest- und zueinanderhält. 3 8 8 S c h o n m i t diesen wenigen, aber zentralen B e s t i m m u n g e n ist der Grundriß des endlichen Ich als einer in seiner Begrenzung u n d seiner Sehnsucht n o t w e n d i g differentiellen u n d d e n n o c h in sich erfüllten Ein*heit entworfen. »Alles«, so merkt Fichte an, reproducirt sich selbst, und es ist da kein hiatus möglich; von jedem Gliede aus wird man zu allen übrigen getrieben. Die Thätigkeit der Form bestimmt die der Materie, diese die Materie des Wechsels, diese seine Form; die Form dieses die Thätigkeit der Form u.s.f. Sie sind alle ein und ebenderselbe synthetische Zustand. Die Handlung geht durch einen Kreislaufin sich zurück. Der ganze Kreislauf aber ist schlechthin gesetzt. Er ist, weil er ist, und es lässt sich kein höherer Grund desselben angeben. 38 ' In seiner u n e n d l i c h e n Sehnsucht nach B e s t i m m u n g ist die transzendentale Struktur des endlichen Ich die différentielle Einheit einer erfüllten Unendlichkeit. A l s unendlich dynamische und gleichwohl in ein ganzes Bewußtsein fallende B e w e g u n g der w e c h s e l n d e n Kräfte ist das endliche Ich eine D i f f e r e n z n o c h in seiner Einheit; als R e f l e x i o n , w e l c h e die gegen-
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Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 320f. (Hervorhebungen z. T. von U. T.). So heißt es entsprechend: »Das Vermögen der Synthesis hat die Aufgabe, die entgegengesetzten zu vereinigen, als Eins zu denken (denn die Forderung ergeht zunächst [... ] an das Denkvermögen). Dies vermag sie nun nicht; dennoch aber ist die Aufgabe da; und es entsteht daher ein Streit zwischen dem Unvermögen und der Forderung. In diesem Streit verweilt der Geist, schwebt zwischen beiden; schwebt zwischen der Forderung und der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, und in diesem Zustande, aber nur in diesem, hält er beide zugleich fest, oder, was das gleiche heisst, macht sie zu solchen, die zugleich aufgefasst und festgehalten werden können - giebt dadurch, dass er sie berührt, und wieder von ihnen zurückgetrieben wird und wieder berührt, ihnen im Verhältnis auf sich einen gewissen Gehalt und eine gewisse Ausdehnung, die zu seinerzeit als Mannigfaltiges in der Zeit und im Räume sich zeigen wird. Dieser Zustand heisst der Zustand des Anschauens. Das in ihm thätige Vermögen ist schon oben die productive Einbildungskraft genannt worden.« Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 225. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre ... In: FW I, S. 170f.
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läufigen und auseinanderstrebenden Kräfte zu einer Bewegung zusammenhält und sie nicht nur aufeinander bezieht, sondern sie als sein eigener Trieb nach Bestimmung vereinigt, gilt das endliche Ich als Einheit noch in seiner Differenz. Der in die Sehnsucht gestellte Wechsel des Ich in sich selbst wird von Fichte daher auch als ein »harmonirendes Zwiefaches« bestimmt, das die Zusammenstimmung des Gegenläufigen als gegenläufige Spannung und darin bewegte und schon erfüllte Form erfährt und vollbringt — einerseits so, daß das Gefühl der »Zufriedenheit«, der eigenen »Ausfüllung« und endlich der »völligen Vollendung« immer nur »einen Moment, wegen des nothwendig zurückkehrenden Sehnens, dauert«; 390 andererseits und vor allem auch so, daß der in die Sehnsucht zurücklaufende und sich darin scheinbar stets übersteigende Wechsel selbst in der Sehnsucht zum Wechsel gründet und sich darin immer auch schon erfüllt hat, weil die im Wechsel der Sehnsucht sich immer neu herstellende Einheit von Reflexion und Gefühl der stets lebendige und stets gefühlte Vorschein des Unendlichen selbst ist. In der unendlichen Sehnsucht sind die einzelnen Kräfte des endlichen Ich zu höchster Tätigkeit und höchster Wechselwirkung zugleich gebracht und im Maße der eigenen Reflexion nicht nur zusammengehalten, sondern auch miteinander versöhnt. Nicht umsonst hatte schon die »Kritik der reinen Vernunft« die Wechselwirkung als Kategorie der »Gemeinschaft« bestimmt,391 für Kant eine Kategorie unter anderen, für Fichte schon die Grundverfassung eines transzendentalen Subjekts, welches in sich auf ein Ideal entworfen ist, das es im Grunde immer schon selbst repräsentiert. Als Energie gedacht, ist die Sehnsucht stets die in der gegenläufigen Spannung der Kräfte und ihrer Reflexion gründende Einheit von Harmonie und Energie, mithin genau jener Rhythmus von Attraktion und Repulsion, in dem das Naive der sentimentalischen Reflexion die schon immer gefühlte Einheit von Reflexion und Gefühl ist, der Rhythmus des eigenen Herzens als »Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalte nach wiederherzustellen«. Die Bewegung des Wechsels, in welche das sentimentalische Bewußtsein als Stimmung schon immer hineingestellt ist, gibt sich daher auch als genau jenes Wechselspiel von Natur und Freiheit zu erkennen, über welches die scheinbar nur autonome Vernunft nicht verfügt noch je verfügen kann, weil sie selbst immer nur dessen Teil ist und das Ganze der Wechselwirkung aus sich allein niemals vollständig begründen kann. Das Wechselspiel von Natur und Freiheit liegt der Ver390
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Vgl. Fichte, Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 325ff. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 106ff.
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nunft stets s c h o n voraus, so daß sie es i m m e r s c h o n in sich vorfindet u n d in i h m ihre endliche Freiheit erspürt. D a s »Geschehen des Wechsels« ist daher auch in den R e f l e x i o n e n der »Wissenschaftslehre« als ein i m Grunde magnetischer Prozeß v o n Attraktion u n d Repulsion verstanden, u n d die mit i h m verbundene Frage ist nicht mehr die: mit welchem Rechte wird [...] gewechselt; sondern: wie wird überhaupt gewechselt. Und da findet sich denn, dass ein intelligentes Wesen ausser dem Eisen und dem Magnete vorhanden seyn müsse, das beide beobachte, die Begriffe beider in seinem Bewußtsein vereinige, und genöthigt sey, dem einen das entgegenstehende Prädicat des anderen (ziehen, gezogen werden) zu geben. 392 In dieser stets differentiellen u n d nur in der vollständig b e w u ß t e n Reflex i o n m ö g l i c h e n Vereinigung ist die moralische Repulsion s c h o n virtuell a u f g e h o b e n u n d endlich kaum m e h r als das n o t w e n d i g e Spannungsprinzip, das den Wechsel als Wechsel erhält. 393 D e r moralische W i l l e als W i l l e zu einer gesetzlich b e s t i m m t e n und daher n o t w e n d i g auch absoluten Freiheit, w e l c h e n die Kantische P h i l o s o p h i e z u m Mittelpunkt ihrer Ethik gemacht hatte, hat in der transzendentalen Grundlegung des endlichen Ich keinen Ort u n d keine Bedeutung, weil diese mit d e m Begriff einer transzendentalen Wechselwirkung des endlichen Ich in seiner stets differentiellen Einheit in eine D i m e n s i o n vorstößt, welche weit ursprünglicher ist als das moralische Gesetz. In dieser ursprünglichen — und n o c h vor aller Scheidung der p h i l o s o p h i s c h e n R e f l e x i o n in theoretische und
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Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 161 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Die Metaphorik des Magnetismus zur Erläuterung zentraler Begriffe ist in der »Wissenschaftslehre.« durchaus kein Einzelfall. Vgl. ζ. B. auch: Fichte, ebd., S. 167, wo der Wechsel als »Leiter« interpretiert wird. Das naive Genie, seiner Stilisierung nach ohne Reflexion und ohne Moralität im modernen, insbesondere im Kantischen Sinn, kann daher im transzendentalen Entwurf eines in sich wechselnden und im Gegenstreben der Außenwelt sich konstituierenden Ich keinen Ort finden, allein nur den in sich vollendeten des absoluten und in sich substantiellen Ichs, das nicht in den Wechsel kommt noch je in ihn kommen kann, es sei denn, es geht als absolutes in ihm zugrunde. Das immerhin ist das dem naiven Menschen zugemessene Schicksal, immer das eines Gottes, der im Zusammenstoß mit der Welt nicht der Gott bleiben kann, der er scheint. Darauf verweist auch Wolfgang Binder, ohne allerdings die Analogie des Naiven zum substantiellen und absoluten Ich Fichtes zu berücksichtigen: »Der naive Mensch existiert nur vergleichsweise absolut wie ein Gott und befindet sich in einer Welt, die er nicht ist. Sobald er aus seinem naturhaft-unbedürftigen Sein heraustritt und mit der Welt zusammenstößt [...], verwandelt sich seine Unendlichkeit in eine Endlichkeit, der er sich gänzlich preisgegeben sieht, weil er sie reflektierend zu bewältigen nicht mehr imstande ist.« W Binder, Die Begriffe >naiv< und >sentimentalisch< und Schillers Drama, S. 212. 403
praktische Vernunft liegenden — Dimension wird der Begriff des Moralischen stets nur als Trieb zur Bestimmung vergegenwärtigt, nicht als gesetzliches Sollen, welches immer nur aus ihm abgeleitet werden kann, ohne daß hinter der Ableitung selbst noch ein Sollen stünde, das sie befiehlt. Als Trieb zur Bestimmung ist die moralische Sphäre des endlichen Ich daher auch in genau jenem Sinn repräsentiert, der in der kritischen Optik der »Kallias«-Briefe schon als ästhetische Reflexion einer Vernunft entworfen und ausgelegt war, welche gerade aus praktischen Gründen nicht auf die Ästhetisierung ihrer moralischen Tendenzen verzichten kann. Dieser Ästhetisierung der praktischen Vernunft, in welcher das bloße Gesetz seine Stellung als Inbegriff der Sittlichkeit verliert, entspricht die »Wissenschaftslehre« in ihrer transzendentalen Grundlegung aller Tendenzen des endlichen Ich in der Sehnsucht. Der Trieb nach Bestimmung ist schon als Trieb kein moralischer Wille, sondern schon immer ein Sehnen, das in die Sehnsucht gehört und in ihrer Selbstreflexion erst zu einem in sich bestimmten Triebe wird, welcher als reflektierte Stimmung der Sehnsucht dem sentimentalischen Bewußtsein und seiner Reflexion von Natur und Vernunft entspricht. Die reflektierte Stimmung der Sehnsucht entspringt daher weder nur der Vernunft noch ist sie nur deren regulative Idee; sie ist vielmehr genau jenes idealische Gefühl, welches das Ideal als Gefühl bereits anwesend sein läßt und darin zum Vorschein einer Vollendung wird, welche nach Bild und Körper verlangt, um darin erst Trieb zu sein.394 Das Bild ist niemals erst herzustellen; in der freien Naturschönheit liegt es beständig vor Augen, nicht nur als schöne Form und Gestalt, sondern als eine Er-innerung eigenen Wesens und eigener Sehnsucht, als jene von Schiller hervorgehobene Liebe zur »grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde«,395 in welcher die Trauer über die ewig verlorene Kindheit und ihre Unschuld zugleich auch die Trauer darüber ist, 394
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Fichtes Triebbegriff meint einen Trieb, der immer erst aus dem Zusammenstoß des ursprünglichen Strebens mit dem Gegenstreben des Nicht-Ich entsteht und sich in der Reflexion der Begrenzung bestimmt. Er ist demnach immer in sich bestimmt und sich bestimmend, keineswegs nur ein unbestimmter Drang: »Ein sich selbst producirendes Streben aber, das festgesetzt, bestimmt, etwas gewisses ist, nennt man einen Trieb.« Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 287. - Eine vergleichende Untersuchung zwischen dem transzendentalen Triebbegriff Fichtes und dem der Psychoanalyse ist übrigens bis heute ein dringendes Desiderat der Forschung geblieben. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 697. Entsprechend verschaffen alle nur rührenden Eindrücke des Naiven »den süßesten Genuß unserer Menschheit als Idee, ob sie uns gleich in Rücksicht auf jeden bestimmten Zustand unserer Menschheit notwendig demütigen müssen.« Vgl. Schiller, ebd., S. 696. - Immer zeigt sich, daß das Naive die Darstellung von Bestimmbarkeit und Bestimmung zugleich ist, und daß seine symbolisierende
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überhaupt in der Welt zu sein und sich in dieser bestimmen zu müssen, ewig wechselnd und in einem letzten Sinn unerfüllt. Diese Sehnsucht und diese Liebe sind alles andere als pathogen, weil die im Bilde des Kindes gefühlte Bestimmbarkeit stets die in der verhärteten Kultur nur verborgene Rückseite ihrer und aller Bestimmung ist. Was im Bilde der Kindheit evoziert und er-innert wird, ist die erfüllte Unendlichkeit jenes im Grunde eigenen Wesens, in welches das endliche Ich selbst dort noch hineingestellt bleibt, wo die fixierten Bestimmungen der kulturellen Absolutismen den Wechsel des Ich in sich selbst derart verhärten und in sich verformen, daß noch die Sehnsucht jene schon pathogenen Züge anzunehmen vermag, in denen der in sich verhärtete und mit der Gefahr seiner Entformung kämpfende Rigorist sie insgesamt denunziert und verfolgt. Daß die transzendentale Struktur des endlichen Ich in der wechselnden Sehnsucht besteht, bedeutet aber nicht schon, daß der Mensch in seinem ihm eigenen Wesen stets aufgehoben und vor jenen gewaltsamen Kräften geschützt wäre, welche die Macht haben, seine Sehnsucht und mit ihr sein Wesen so zu verformen, daß die verzerrte Natur sich nur noch in der entformten Gestalt derpsychophysischen Nemesis zeigen kann, obgleich sie als Sehnsucht schon immer gesprochen und auch gemahnt hatte und dies noch im äußersten Chaos der Barbarei tut. In der Rache der Natur wird immer nur eine Form vernichtet, deren Zerstörung bereits mit der Fixierung der wechselnden Sehnsucht beginnt, in einem Willen, welcher über dem Absolutismus des eigenen Bestimmens und Machens seine Bestimmbarkeit und seine Freiheit verliert, mithin genau das, was im Bilde der Kindheit evoziert wird und was das sentimentalische Bewußtsein als seine Sehnsucht weiß. Daß Trauer in Melancholie und Begeisterung in Schwärmerei übergeht, sind erst die Folgen einer in ihren eigenen Absolutismen verhärteten und erstarrten Kultur, Symptome einer gleichsam erstickten und eingefrorenen Sehnsucht und eines Willens, welcher in genau dem Maße, als seine eigene Bestimmung und Freiheit ihm über alles geht, auch seine Bestimmung verliert, denn diese kann ohne die freie Bestimmbarkeit nicht von Bestand sein. Nur in der doppelten Sehnsucht nach freier Bestimmbarkeit und Bestimmung kann auch ein freier Wille erst Wille sein, nicht aber am Gängelband der Moral und der in gänzlicher Leblosigkeit erstarrten Kultur. Der sentimentalischen Sehnsucht dagegen sind alle Verhärtungen notwendig fremd, nicht nur, weil sie der transzendentalen Konstitution Funktion die Sphären des Schönen und Guten, des Ästhetischen und des Moralischen umfaßt. Es ist Darstellung einer Ganzheit vor der Trennung und Darstellung eines idealen Ganzen nach deren Uberwindung, so zwar, daß die sentimentalische Reflexion das Naive immer schon in jener Einheit erfaßt, die das doppelte Ganze zur Darstellung bringt.
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des endlichen Ich entspricht, sondern auch deswegen, weil die in sich wechselnde und sich im Wechsel bestimmende Sehnsucht jede fixierte Gestalt in ihr eigenes Gegenteil treibt. Das in die wechselnde Sehnsucht gestellte Ich und das sentimentalische Bewußtsein sind als Trieb zum je Anderen bestimmt. In dieser Sehnsucht treibt alles Bestimmbare stets zur Bestimmung und alles Bestimmte stets zum Bestimmbaren, wie sich das Kind nach der Reife und ihrer Bestimmung, wie sich die Reife nach der »Bestimmbarkeit in dem Kinde« sehnt und sich in seinem Bild zu vollenden sucht. Was in der Schönheit der Natur und in der Gestalt des Naiven dargestellt und er-innert wird, ist daher das der Natur des endlichen Ich als Sehnsucht immer schon ein-gebildete Bild seines eigenen Daseins und seines Gesetzes der eigenen Existenz, eines beständigen Wechsels zwischen der doppelten und in sich gegenläufigen Sehnsucht nach freier Bestimmbarkeit und Bestimmung. Die eigene Existenz in der wechselnden Sehnsucht, in welcher das endliche Ich besteht und sich allein suchen und finden kann, ist es, in welche die in der anrührenden Schönheit alles Naiven sprechende Natur den Menschen zurückruft, um ihn darin erst in eine Suche zu schicken, die seiner Bestimmung entspricht. Die sentimentalische Reflexion ist daher nur jene Gestalt des Bewußtseins, welche nicht nur der Schönheit des Naiven mit Achtung begegnet, sondern auch seiner Sprache entspricht, indem sie den Zuruf der über die Formen einer verhärteten Kultur siegreichen und erhabenen Natur als Aufruf zur eigenen Existenz und zur Freiheit versteht. Sind die ästhetischen Elemente in Schillers Darstellung und Reflexion des sentimentalischen Bewußtseins schon so wenig zu übersehen, daß eine eigene Aufzählung sich erübrigen dürfte, so zeigt eine genauere Betrachtung der »Wissenschaftslehre«, daß der Wechsel der Sehnsucht nicht nur ästhetische Züge aufweist, sondern in seinem Grund und seiner Bewegungsform als ästhetischer Wechsel bestimmt werden kann. Die transzendentale Grundlegung des endlichen Ich ist zugleich eine transzendentale Grundlegung der ästhetischen Subjektivität und der sentimentalischen Reflexion als eines im Grunde ästhetischen Bewußtseins. Der Wechsel der Sehnsucht ist nach Fichte immer ein Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt — ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich seihst besteht und dadurch in sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jetzt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben setzt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht — ist das Vermögen der Einbildungskraft,396 396
Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 215 (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.).
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Mit diesen Bestimmungen ist die moralische Vernunft im ästhetischen Wechsel der Einbildungskraft untergegangen und aufgehoben, weil der Wechsel der Einbildungskraft als Wechsel zwischen Bestimmbarkeit und Bestimmung die transzendentale Darstellung der Sehnsucht schlechthin ist und daher stets eine Ganzheit repräsentiert, von der die moralische Sehnsucht nach absoluter Bestimmung zwar ein absolut notwendiger Teil, selbst aber nicht absolut ist und darum das Ganze auch niemals vertreten kann.397 Fichtes »Wissenschaftslehre« ist daher auch als Prozeß 3,7
Die Vernunft ist der »Wissenschaftslehre« nur das Vermögen der notwendigen Fixierung des Strebens, dem Wechsel und damit dem endlichen Ich entgegengesetzt und darin gerade das, was den Wechsel erst immer als Wechsel bestimmt und in Gang hält; immer jedoch so, daß die Unvernunft nicht den Wechsel beherrscht, sonden ihm unterworfen ist und ihm dient: »Das ganze Fixiren«, heißt es entsprechend, »geschieht zum Behuf der Reflexion selbst [... ] mithin kommt die Handlung des Fixirens zu dem schlechthin setzenden Vermögen im Ich, oder der Vernunft [... ] Es ist klar, dass, wenn das geforderte Festhalten möglich seyn solle, es ein Vermögen dieses Festhaltens geben müsse; und ein solches Vermögen ist weder die bestimmende Vernunft, noch die producirende Einbildungskraft, mithin ist es ein Mittelvermögen zwischen beiden. Es ist das Vermögen, worin ein wandelbares besteht, gleichsam verständigt wird), und heisst daher mit Recht der Verstand. - Der Verstand ist Verstand, bloss insofern etwas in ihm fixirt ist; und alles, was fixirt ist, ist bloss im Verstände fixirt. Der Verstand lässt sich als die durch Vernunftfixirte Einbildungskraft, oder als die durch Einbildungskraft mit Objekten versehene Vernunft beschreiben. - D er Verstand ist ein ruhendes, unthätiges Vermögen des Gemiiths, der blosse Behälter des durch die Einbildungskraft hervorgebrachten, und durch die Vernunft bestimmten und weiter zu bestimmenden; was man auch von Zeit zu Zeit über die Handlungen desselben erzählt haben mag.« Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 233 (Hervorhebungen z. T. von U. T.). Abhängig von der Einbildungskraft und dem Wechsel nur dienend, kommt der Vernunft nicht mehr jene absolute und autonome Stellung zu, welche sie in der kritischen Philosophie noch behauptet hatte, obgleich sie auch hier stets ein Aufgegebenes bleibt, so zwar, daß die Fichtesche »Wissenschaftslehre« einer Wechselbestimmung des Ich und des Nicht-Ich gilt, »die, vermöge der Einheit des Subjekts, zu einer Wechselbestimmung des Ich durch sich selbst werden muß [... ] Ein Trieb von der Art wäre ein Trieb, der sich absolut selbst hervorbrächte, ein absoluter Trieb, ein Trieb um des Triebes willen. (Drückt man es als Gesetz aus [... ] so ist ein Gesetz um des Gesetzes willen ein absolutes Gesetz, oder der kategorische Imperativ. - Du sollst schlechthin.) Wo bei einem solchen Triebe das unbestimmte liege, lässt sich leicht einsehen; nemlich er treibt uns ins unbestimmte hinaus, ohne Zweck (der kategorische Imperativ ist bloss formal ohne allen Gegenstand) [...] Eine Handlung ist bestimmt und bestimmend zugleich, heisst: es wird gehandelt, weil gehandelt wird, und um zu handeln, oder mit absoluter Selbstbestimmung und Freiheit. Der ganze Grund und alle Bedingungen des Handelns liegen im Handeln. - Wo hier das unbestimmte liege, zeigt sich ebenfalls sogleich: es ist keine Handlung, ohne ein Object; demnach müsste die Handlung zugleich ihr selbst das Object geben, welches unmöglich ist.« Vgl. Fichte, ebd., S. 326f. (Hervorhebungen z. T. von U. T.). Der katego-
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einer in sich reflektierten u n d konsequent durchgehaltenen Marginalisierung der Vernunft zu verstehen, an deren Stelle der Wechsel der Sehnsucht u n d Einbildungskraft tritt. Sehnsucht und Einbildungskraft sind kaum m e h r geschieden, z u m a l nicht nur auf der Sehnsucht, sondern auch auf der Einbildungskraft »die Möglichkeit unseres Bewusstseyns, unseres Lebens, unseres Seyns für uns, d. h. unseres Seyns, als Ich, sich gründet«; 398 selbst die »Wissenschaftslehre« ist nur ihre zur Lehre systematisierte Form der Erscheinung, ein Ausdruck u n d eine Gestalt der transzendentalen Einbildung und ihrer stets produktiven Kraft, nicht der Vernunft. D e r »Wissenschaftslehre« k o m m t es nur darauf an, zwischen d e n allwärts entgegengesetzten B e s t i m m u n g e n mitten inne (zu) schweben. Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft, und diese — ist ganz gewiss allen Menschen zu Theil geworden, denn ohne sie hätten dieselben auch nicht eine einzige Vorstellung; aber bei weitem nicht alle Menschen haben dieselbe in ihrer freien Gewalt, um durch sie zweckmäßig zu erschaffen, oder, wenn auch in einer glücklichen Minute das verlangte Bild, wie ein Blitzstrahl, vor ihre Seele sich stellte, dasselbe festzuhalten, es zu untersuchen, und es sich zu jedem beliebigen Gebrauche unauslöschlich einzuprägen. Von diesem Vermögen hängt es ab, ob man mit oder ohne Geist philosophiere. Die Wissenschaftslehre ist von der Art, dass sie durch den blossen Buchstaben gar nicht, sondern dass sie lediglich durch den Geist sich mittheilen lässt;
398
rische Imperativ ist schon insofern, als er sich reiner Gegenstand ist, von jenem ästhetischen Element, das er mit der reinen Gestalt der Sehnsucht gemein hat, denn wie auch diese treibt er »ins unbestimmte hinaus«, in einer Formalität, die er mit dem interesselosen Wohlgefallen teilt. Aber in dem Maße, in dem er sein Objekt erst selbst hervorbringen muß, um überhaupt nur moralische Handlung zu sein, verwickelt er selbst sich in Widerspruch und in Endlichkeit, treibt er doch dadurch sogleich in den ästhetischen Wechsel des endlichen Ich mit sich selbst zurück, weil das Gegenstreben des Nicht-Ich die autonome Hervorbringung eines moralischen Objekts verwehrt und darin - so müßte man noch hinzufügen - die Moralität als Wille zur Handlung erst eigentlich gründet. Virtuell ist der kategorische Imperativ damit aufgehoben, ist er doch schon beschränkt und begrenzt und ohne die Autonomie der Gesetzgebung, welche ihn nicht nur zur Beurteilung, sondern zum Handeln und zur moralischen Praxis überhaupt qualifiziert. Freilich, die ästhetischen Elemente des kategorischen Imperatives und seine inneren Widersprüche haben Fichte nicht daran hindern können, den »Spieltrieb« Schillers nicht nur in seiner Existenz in Zweifel zu ziehen, sondern ihn als Inbegriff des nur Unbestimmten und Unpraktischen zu kritisieren, mithin im Namen genau jener Moralität, an deren Rand in der »Wissenschaftslehre« einige Fragezeichen stehen, wenn auch nur solche, die mehr den Wasserzeichen zu gleichen scheinen. Vgl. hierzu vor allem: Fichte, Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In: FW VIII, S. 270-300, insbesondere S. 278ff. Vgl. zum Thema der Auseinandersetzung zwischen Schiller und Fichte die herausragende Darstellung von Ε. M. Wilkinson/L.A. Willoughby, Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen, S. 121ff. Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 227.
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weil ihre Grund-Ideen injedem, der sie studiert, durch die schaffende Einbildungskraft hervorgebracht werden müssen [...]3,9 Die Wissenschaftslehre soll den ganzen Menschen erschöpfen; sie lässt sich daher nur mit der Totalität seines ganzen Vermögens auffassen. Sie kann nicht allgemein geltende Philosophie werden, so lange in so vielen Menschen die Bildung eine Gemütskraft zum Vortheil der anderen, die Einbildungskraft zum Vortheil des Verstandes, den Verstand zum Vortheil der Einbildungskraft, oder wohl beide zum Vortheil des Gedächtnisses tödtet; sie wird so lange sich in einen engen Kreis einschliessen müssen — eine Wahrheit, gleich unangenehm zu sagen, und zu hören, die aber doch Wahrheit ist.400
Überdeutlich die vielen Entsprechungen zu Schillers Idee der ästhetischen Erziehung, unübersehbar vor allem auch die immer schon eingebildete und durch den »Blitzstrahl« des Bildes erweckte Sehnsucht, welche zur Reflexion und zum zweckmäßigen Bilden bestimmt und darin auch erst jener in sich bestimmte Trieb zur Bestimmung ist, welcher in der Gestalt der produktiven Einbildungskraft die Sphären des Schönen und Guten gleichermaßen umspannt und »nicht absolute Thätigkeit überhaupt, sondern absolute Thätigkeit, die einen Wechsel bestimmt«401 ist, »bestimmte Bestimmbarkeit« als »Totalität« und »Substanz«.402 Gerade als transzendent bleibender Einheitsgrund des ästhetischen Wechsel in seiner Ganzheit und als immer nur schwebende und darum reine Bestimmbarkeit bedarf auch die transzendentale Einbildungskraft der Erweckung zur Reflexion und zu eigenem Bilden, denn sie ist zwar »ein psychisches Faktum«, aber immer nur »virtuell« und »zumeist überspielt«, ein »unmittelbares, präreflexives Sich-Haben«, welches »erleuchtet in sich verharrt«, wie es in schöner Wendung bei Hans-Georg Pott heißt. 403 Dem »Blitzstrahl« von außen entspricht nach Fichte daher auch stets ein Innehalten der Reflexion »im Gefühl des Erhabenen, wo ein Staunen, ein Anhalten des Wechsels in der Zeit entsteht» 404 und das transzendentale Ich sich in einer gegenständlichen Form reflektiert, die zwar das reine Bild und Gefühl seiner selbst ist, aber im streng transzendentalen Ansatz der »Wissenschaftslehre« nicht weiter berührt und bestimmt werden kann, ohne daß diese sich selbst schon aufs Spiel setzte. 3
" Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre S. 284 (Hevorhebungen ζ. T. von U. T.). 400 Ygi Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre S. 284f.A. (Hervorhebungen von U. T.). 401 Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre S. 160. 402 Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre S. 200ff. 403 Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 76ff. 404 Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre S. 217.
[...]. In: FW I, [...]. In: FW I, [...]. In: FW I, [...]. In: FW I,
[...]. In: FW I,
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An solche Verpflichtungen ist Schiller zum Glück nicht weiter gebunden. Für ihn stellt sich die reine, das sentimentalische Ich in seiner substantiellen Bewegung berührende Form der in der »Wissenschaftslehre« offengebliebenen Gegenständlichkeit als das Naturschöne, vor allem jedoch als das Naive dar; eine »erhabene Rührung« der eigenen Sehnsucht, die zum »glühenden Triebe für das Ideal« werden kann, dem »höchsten Anliegen des Herzens«.405 Dies um so mehr, als das Naive für Schiller als Darstellung reiner Bestimmbarkeit und — in der Sprache des Sittlichen — reiner Unschuld gilt, als Ansprache des ursprünglichen und geschichtlich verlorenen Gefühls der eigenen Ganzheit und ihrer Erweckung als Bild und Gefühl. Was das Naive erweckt, ist die Er-innerung des Verlorenen und die ursprüngliche Sehnsucht des ganzen Ich — ein Sehnen, welches im Bilde und im Gefühl sich gespiegelt sieht und sich darin bestimmt, ein Trieb, der über den »ästhetischen Augenblick« stets hinausgeht und das Naive in seinen eigenen Willen aufnimmt, weil dieses die Darstellung eigenen Seins und die Verkörperung eigenen Bildens ist. Schon das »Naive der Überraschung«, welches doch »wider Wissen und Willen« über den Menschen hereinbricht und »immer die Übermacht des Affekts« anzeigt, erzeugt daher »ein wirklich moralisches Vergnügen«, obgleich »nichts, was aus Mangel entspringt, kann Achtung erzeugen«; denn bei dem Naiven der Überraschung achten wir [...] immer die Natur, weil wir die Wahrheit achten müssen; bei dem Naiven der Gesinnung achten wir hingegen die Person und genießen also nicht bloß ein moralisches Vergnügen, sondern auch über einen moralischen Gegenstand. In dem einen wie in dem andern Falle hat die Natur recht, daß sie die Wahrheit sagt, aber in dem letztern Fall hat die Natur nicht bloß recht, sondern die Person hat auch Ehre.*06
Die Achtung selbst vor dem blinden Affekt — wenn dieser nur aller Kunst zur Beschämung wird — und die hohe »Ehre« vor allem dessen, welcher die Stimme der reinen Natur nicht nur als Stimmung des eignen Gefühls genießt, sondern sie in den eigenen Willen mit aufnimmt und ihr dort auch ein ewiges Stimmrecht gewährt, entspringen nicht nur der Vernunft, sondern erst einer ihr ein-gebildeten und nur vergessenen Sehnsucht. Der Ursprung des Naiven ist daher auch dort, wo seine Verehrung moralisch ist, nicht die Vernunft, sondern vielmehr das der transzendentalen Subjektivität immer schon ein-gebildete Bild und Gefühl seiner freien Bestimmbarkeit und Bestimmung, jene geschichtlich verlorene und nur in der Sehnsucht noch an-sprechende Ganzheit, in der das Naive die reine Natur der ästhetischen Subjektivität repräsentiert und diese zu einer 405
406
Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 722f. (Hervorhebungen ζ. T. von U. T.). Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 699ff.
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geschichtlichen Suche bestimmt, die in der sentimentalischen Reflexion erst eigentlich anfängt. Die wechselseitige Spiegelung des Naiven und Sentimentalischen ist daher auch erst der entscheidende Anfang einer erst menschlichen Geschichte, nicht nur, weil sie der transzendentalen Bestimmung des endlichen Ich in der Sehnsucht entspricht, sondern vor allem, weil der von der Schönheit hervorgerufene und in der sentimentalischen Reflexion erneuerte Anfang der menschlichen Formgestaltung auf einem Bruch mit der illusionären Autonomie der Vernunft beruht, der die Vernunft nicht verabschiedet, sondern sie vielmehr als Teil seiner transzendentalen Ganzheit weiß. Indem die Sehnsucht sowohl der Natur als auch der Freiheit gilt, ist sie zugleich eine Anerkennung und »Schätzung« der lebendigen Kräfte, welche nicht der Vernunft, sondern vielmehr der ein-gebildeten Natur der ästhetischen Subjektivität in ihrer Ganzheit entspringt. In der sentimentalischen Reflexion der eigenen Sehnsucht ersteht daher sowohl jene Anerkennung der Vernunft, welche das Abgleiten in puren Irrationalismus von innen her unterbindet, als auch jene grund-legende und erst entscheidende Anerkennung der Natur, auf welcher die schöne Humanität beruht und ihre transzendentale Bestimmung frei aus sich herauszustellen und in einem geschichtlichen Sinn zu gestalten vermag. In der transzendentalen Natur der ästhetischen Subjektivität selbst gegründet, führt die Sehnsucht mit gleicher Notwendigkeit auch zur Anerkennung der Natur als ihres eigenen Ursprungs. Die im Naturschönen angesprochene Sehnsucht und Ganzheit des sentimentalischen Wesens verdankt sich für Schiller daher auch stets einer »Gunst der Natur«mi in ihrem Sieg über die Kunst noch gegen den eigenen Willen des Subjekts. Eine »Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird«m, ist das Naive das der Vernunft allererst zugespielte Gefühl und Symbol dessen, was nur ihr eigener Ursprung und Grund ist, die Wahrheit des Ganzen als das ihr immer schon ein-gebildete und ihr in der Gunst der Natur und ihrer Schönheit nur neu zu-gebildete Ideal einer ästhetischen Subjektivität und Vernunft. Der »moralische Trieb« zurück und die ihm an-gebildete Haltung des Naiven auch der Gesinnung ersteht daher erst in einer doppelten Gunst der Natur gegenüber der transzendentale Einbildungskraft und der in sich verhärteten und erstarrten Vernunft; der Vernunft gegenüber durch die in der Scham er- innerte Sehnsucht zur Ganzheit, der Ein-
407
408
Vgl. Schiller, Über naive undsentimentalische Dichtung. In: SW Y S. 751. - Was Schiller hier vom naiven Dichter sagt, gilt wegen der durchgehenden Analogie zwischen Mensch und Dichter natürlich mit gleichem Rechte auch vom naiven Menschen. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 699. 411
bildungskraft gegenüber durch die Erweckung zur Reflexion und zu lebendiger Bildung. Schon das Naive der Gesinnung und jenes »ästhetische Übertreffen der Pflicht«, welches unter dem Namen des Edlen verzeichnet ist, sind der lebendige Ausdruck der ein-bildenden und darum ästhetischen Bildung zwischen Natur und Freiheit, beides Formen der reflexiven Bewußtheit, in denen der Schmerz der Beschämung zu jener reinen Form der sentimentalischen Existenz übergegangen ist, welche allein in der in sich wechselnden Einheit von Sehnsucht und Anerkennung besteht. Mit der sentimentalischen Selbstreflexion und ihrer ästhetischen Bildung ist der Wechsel von Freiheit und Ganzheit in eine wechselnde Einheit von Anerkennung und Sehnsucht übergegangen, in welcher die wechselseitige Nötigung zur gegenseitigen Anerkennung den ihr noch eigenen Zwangscharakter endgültig abgelegt hat, nicht nur, weil die Sehnsucht Freiheit und Ganzheit schon immer synthetisch vereint hat, sondern vor allem auch deshalb, weil die Anerkennung nur immer der Sehnsucht entspringt. Mit dieser Überwindung der wechselseitigen Nötigung in der Einheit von Sehnsucht und Anerkennung zeigt sich die transzendentale Bewegung eines in sich und mit sich selbst wechselnden Ich endgültig als eine ästhetische Wechselwirkung der sich begrenzenden und sich erweiternden Kräfte und Triebe. In dem Maße jedoch, in welchem die Sehnsucht als transzendentaler Reflex jener Begrenzung gilt, in welcher das absolute Ich sich zum Wechsel in sich und mit sich verendlicht, kann auch die ästhetische Wechselwirkung zwischen Natur und Freiheit nur als eine wechselnde und darum endliche Ganzheit bestimmt werden. Auch der ästhetische Wechsel von Sehnsucht und Anerkennung ist daher keine einfache und gleichsam in sich vollendete Harmonie, sondern die spannungsvolle Bewegung einer unendlichen Suche nach Form, welche sich notwendig nur in den wechselnden Formen der differentiellen Einheit ausdrücken kann, zu welcher die transzendentale Grundlegung auch die ästhetische Subjektivität bestimmt. Der Grund dafür ist nicht nur die Begrenzung der absoluten Subjektivität zur unendlichen Sehnsucht, sondern zugleich auch das in sich wechselnde Wesen der Sehnsucht selbst. Nach Fichte ist Sehnsucht der universale »Trieb nach Wechsel überhaupt«, welcher stets »etwas anderes, dem Vorhandenen entgegengesetztes« sucht.409 Ist die Anerkennung stets eine zentripetale und konservative Tendenz, so ist die in sich wechselnde Sehnsucht immer auch eine zentrifugale und progressive Kraft, welche der Anerkennung in ihrem Ungenügen und ihrer beständigen Suche kaum zugebildet scheint, obgleich es doch stets 409
Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [...]. In: FW I, S. 320.
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ein wechselseitiges Entgegenkommen ist, was die Sehnsucht der sentimentalischen Suche erst ausmacht: Die Natur kommt der Vernunft in der Gunst der erweckten Er-innerung und Sehnsucht entgegen, welche nur ihrer eigenen Sehnsucht nach Anerkennung entspricht; die Vernunft kommt der Natur in der Gunst der an ihr erst gebildeten und in sie eingebildeten Anerkennung entgegen, welche nur ihrer eigenen und in der Beschämung erst in ihr erwachten Sehnsucht nach Anerkennung entspricht. Stets ist es die Sehnsucht, welche als Grund der Anerkennung und des Entgegenkommens erscheint und den ästhetischen Wechsel als Spiel der wechselseitigen Ein-bildungen von Natur und Freiheit konstituiert. Dies wäre kaum mehr als ein Wechsel, welcher im Konservativismus der Anerkennung notwendig unterginge, wenn nicht die heimliche Sehnsucht von Natur und Vernunft noch über die Anerkennung hinausginge, um überhaupt Sehnsucht zu sein und zu bleiben, immer als jener Impuls eines Nichtidentischen, der der Impuls der Kritik und aller Praxis ist, mithin der Impuls des ursprünglichen Strebens und aller Verwirklichung. Die zentrifugalen Tendenzen der Sehnsucht gehen daher zwar stets über die für sich allein affirmative Anerkennung hinaus, aber immer nur, um durch den Prozeß der kritischen Reflexion dem ästhetischen Wechsel von Anerkennung und Sehnsucht erst einen Grund zu geben, welcher das Anerkannte in seiner Schönheit und seiner Würde bestätigt. Die Sehnsucht ist daher auch das Organ der ästhetischen Kritik, die sich als freigebende Freigabe der Gegenstände zu ihrer eigenen Sehnsucht und Würde vollzieht und der Ausdruck des Edlen ist. Schillers eigene Kritik an der Kantischen Ethik steht dafür ein, denn sie selbst ist ein Ausdruck für den ästhetischen Wechsel von Anerkennung und Sehnsucht, welcher mit dem allmählich sich bildenden Bewußtsein der Wechselwirkung die dem moralischen Bewußtsein eigene Sehnsucht nur aufnimmt und sie im Begriff der sentimentalischen Reflexion in ihr eigenes Zentrum führt. Indem der Begriff der sentimentalischen Reflexion sich als ästhetische Vollendung des sittlichen Selbstbewußtseins erweist, wird er zugleich zum Beweise auch dafür, daß die kritischen Tendenzen der Sehnsucht beständig zur Anerkennung zurücktreiben und der ästhetische Wechsel von Anerkennung und Sehnsucht eine spannungsvolle und in sich bewegte Einheit, ein Ganzes als harmonierendes Zwiefaches ist. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als an der moralischen Dimension, in welche die sentimentalische Reflexion hineingestellt bleibt, wenn auch ihr Grund in der ein-gebildeten Sehnsucht und ihrem beständigen Wechsel besteht. Vor allem in der moralischen Vernunft scheint sich im Grunde alles nur der Natur und ihrer Anerkennung entgegenzudrängen — die eigene Scham der Beschämung im Angesicht ihrer fortwährenden Schuld und ihres geschichtlichen Scheiterns, die Erschöpfung der Kräfte 413
und die Lähmung des unter der Fuchtel des eigenen Gesetzes stets unfreien Willens, vor allem aber der anhaltende Drang ihrer Sehnsucht und der in der Scham ihrer Demütigung immer neu mobilisierte Trieb ihrer Bestimmung, die Verwirklichung einer freien und in sich bestimmten Totalität in allen Sphären der Existenz. In dieser Sehnsucht wird die »Wahrnehmung der verlorenen Naivität zum Seinsgrund des Bewußtseins der Modernität«. 410 In dieser Wahrnehmung, die an den im moralischen Bewußtsein vergessenen und verlorenen Ursprung der eigenen Sehnsucht rührt, ersteht jene entscheidende Selbstreflexion, in welcher das moralische Bewußtsein die Gestalt der sentimentalischen Sehnsucht annimmt und die Sehnsucht zugleich als moralisches Phänomen erkennt. Das Naive ist dem moralischen Bewußtsein jener erhabene Spiegel, welcher ihm nur seine eigene Sehnsucht und seine Bestimmung zuspiegelt und nicht nur sein eigenes Streben, sondern zugleich auch das diesem Streben immer schon ein-gebildete Gewissen des Fortschreitens reflektiert. In der der sentimentalischen Reflexion notwendig eigenen moralischen Dimension und Perspektive ist das Naive an die Stelle des moralischen Gesetzes getreten, indem es die Repräsentation des Gewissens als Bild und Gefühl der sittlichen Sehnsucht frei übernimmt. In dieser seiner moralischen Perspektive ist das Naive ein reflektiertes Symbol der Entfremdung und zugleich jener erste und anfängliche Impuls, in dem die Entfremdung schon über sich selbst hinaustreibt, der Impuls einer Entfremdung, hinter welcher sich eine, ja die elementare Kraftäußerung der menschlichen Psyche zeigt, die schon immer im Dienste der Verwirklichung ihrer eigenen Entelechie steht — die ausgleichende Kraft der menschlichen Triebnatur in ihrer Ganzheit. Ist das Naive in der sittlichen Gestalt und Funktion des Gewissens die ansprechende Mahnung der ganzen Natur vor ihrer Verdrängung und vor Verletzung, so ist das Sentimentalische das dieser Ansprache selbst schon entsprechende Streben, indem es sich in der eigenen Sehnsucht und Reflexion als reflektiertes Naives erkennt und zu Anerkennung und Ausgleich strebt, wo eine letzte Vereinigung sich entzieht und daher notwendig »Glaube« bleibt.411 Für Schiller stellt sich das Problem der Einheit im Wechsel daher vor allem als Frage nach der »Gerechtigkeit« dar. Wenn die Vereinigung nur der in sich beständige Wechsel der Sehnsucht ist, kann sie auch nur als Frage nach einem je gleichen Recht von Natur und Vernunft zum Gegenstand werden, zumal die in der Sehnsucht fundierte und noch die Freiheit umgreifende Ganzheit der sentimentalischen 410
411
Vgl. H. R. Jauß, Schlegels und Schillers Replik auf die »Querelles des Anciens et des Modernes«, S. 96. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: SW V, S. 746.
414
Suche nicht mehr »als etwas Statisches begriffen werden kann« und immer nur als ein in der Zeit sich veränderndes Ideal zu erreichen (ist), als eine sich ständig verschiebende Hierarchie der Interessen und Werte und Kräfte, in der das jeweils Dominierende von den Anforderungen der unmittelbaren Situation bestimmt
wird, wie es bei Wilkinson/Willoughby heißt.412 Das Problem der menschlichen Ganzheit wird zur Frage nach der Gerechtigkeit und dem Gleichgewicht, symbolisiert in den Schalen der Waage, welche gleich stehen, »wenn sie leer sind« und »wenn sie gleiche Gewichte enthalten«,413 begrifflich gefaßt und verstanden als ein »Gleichgewicht der Realität und der Form«, das mit der Idee der ästhetischen Humanität ineinsfallt und daher selbst in der weniger anspruchsvollen Gestalt eines Ausgleichs der gegenläufigen Triebtendenzen noch ein Ideal bleibt, das von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben, und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beiden Prinzipien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist.414
Diese in den »Ästhetischen Briefen« zu findende Fassung der Frage nach der Gerechtigkeit und dem Ausgleich der Triebtendenzen ist am erweiterten Stande der sentimentalischen Reflexion und ihres Begriffs gemessen allerdings kaum mehr angemessen, da sie noch auf jener verdeckt gebliebenen und von Hans-Georg Pott herausgestellten »Verquickung von Kantischen und Fichteschen Denkfiguren« beruht, welche das Wesen der Idee immer noch »aus der abstrakten Gegenüberstellung von Freiheit und Zeit« begreift415 und die Idee einer in sich erfüllten Unendlichkeit noch nicht eigens in jener Konkretion aus sich herausstellen kann, welche ihr im Begriffe der sentimentalischen Sehnsucht zufallen wird. Hinzu kommt, daß das sentimentalische Ideal der ästhetischen Humanität eine wechselnde Einheit ist, so daß auch der Ausgleich der Triebtendenzen nicht mehr vom Ideal eines absoluten Gleichgewichts und seiner Gerechtigkeit her rekonstruiert werden kann. Nach Wilkinson/Willoughby besteht Schillers Erkenntnis vielmehr darin, daß eine gewisse Abweichung vom Gleichgewicht durchaus nicht unvereinbar ist mit einer stabilen Lebenssituation, ja, daß wahrhaft lebensfördernde >Harmonie< nur durch ständiges H i n und Her zwischen Symmetrie und Assymmetrie, Gleichgewicht und Un-Gleichgewicht erreicht werden kann. Wenn 412
413 414 415
Vgl. E. M. Wilkinson/L. A. Willoughby, Schillers Ästhetische Erziehung [...], S. 44 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V S. 633. Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung [...]. In: SW V S. 619. Vgl. H.-G. Pott, Die Schöne Freiheit, S. 96.
415
>Gefühl< jetzt sowohl gemeistert als auch gefördert werden soll, dann deshalb, weil Schiller es sich im Licht seines neuen Prinzips der wechselseitigen Unterordnung je nach Gelegenheit bald als übergeordnet bald als untergeordnet vorstellen kann. 416
Dieser Befund ist bestechend, weil er zeigt, daß auch die Gerechtigkeit nicht als nur abstraktes Prinzip verstanden werden kann, nach dem die »Freiheit in der Erscheinung« einzurichten und so nur neu durch eine Idee zu beschränken wäre, denn mit den stets wechselnden »Anforderungen der unmittelbaren Situation« kommt es allein auf die reflexive Durchdringung des je Besonderen, auf die innere Angemessenheit an das Innen wie Außen, subjektiv wie auch objektiv »je nach Gelegenheit« Verlangte an, mithin darauf, den angemessenen Gesichtspunkt von Reflexion und Verhalten zu finden — eine Aufgabe, für die der ästhetische Geschmack geradezu prädestiniert scheint. Nach Schillers eigener Bestimmung bezieht der schöne Geschmack jederzeit »etwas Empirisches auf Rationales«, immer verrät er schon »höhere Tätigkeit, das Verlangen, einen günstigen Eindruck auf andre zu machen, welches schon die Meinung vom Werte der anderen voraussetzt«417 und die ästhetische Reflexion zu einem sittlichen und sozialen Spiel um erzeigte und zu erzeigende Gunst macht, das als reales Vor-bild für eine angemessene Reflexion von Natur und Vernunft in ihrem Zusammenhang und ihrer organischen und differentiellen Einheit zu gelten hat. Alfred Baeumlers Befund weist in die gleiche Richtung. Nach ihm urteilt der schöne Geschmack stets »von einem allgemeinen Standpunkt, einem idealen Ganzen aus«,418 das »allen Urteilenden gemeinsam werden kann, ohne doch begrifflich festgelegt zu sein«,419 und das doch nichts weniger als »die Grundidee der Vernunft sowohl als der damit vereinigten Sinnlichkeit« ist,420 das metaphysische principe de convenance in der Gestalt der von aller Doktrin freien ästhetischen Reflexion als Kritik und daher auch als genau das, was der sentimentalischen Reflexion das ewige Suchbild der eigenen Sehnsucht ist.421 Immer ist das ideale Ganze das Ganze von Subjekt und Objekt und ihrer gemeinsamen Reflexion,422 nie ist das Ganze in Subjekt und Objekt nur einfach gege416
417 418 419 420
421 422
Vgl. E. M. Wilkinson/L. A. Willoughby, Schillers Ästhetische Erziehung [...], S. 90 (f.). (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. Schiller, Aus den ästhetischen Vorlesungen. In: SW V S. 1022f. Vgl. A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 284 (vgl. auch S. 254). Vgl. A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 281. Vgl. A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 280 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem [...], S. 270ff., 281ff., 285. Nach Baeumler sind stets »zwei Arten des Ganzen« voneinander zu unterscheiden, »das subjektive ideale Ganze aller derer, die über den gleichen Eindruck urteilen, auf das ich mich im Reflexionsurteil beziehe, und das reale objektive, dem Verstände unfaßliche Ganze gewisser Gegenstände oder Handlungen, das
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ben, nur in der Sehnsucht und jener sentimentalischen Reflexion, der die ästhetische convenance zugleich Form und Ziel ihrer eigenen Suche ist. Die in der eigenen Sehnsucht fundierte sentimentalische Reflexion ist daher auch in ihrer ästhetischen Form die für Schiller wesentliche Gestalt des Sittlichen als des Edlen — eine entgegenkommende Anerkennung als ein sich-einspielendes Freilegen, welches keineswegs nur die Naturwelt, sondern notwendig auch die an ihr erst sich bildende ästhetische Subjektivität und ihre innere Verfassung betrifft, da das ideale Ganze immer nur in der wesentlichen Zusammengehörigkeit von Subjekt und Objekt und in dem beständigen Wechsel des endlichen Ich in sich und mit seiner Welt besteht und nur in dieser Zusammengehörigkeit auch gesucht werden kann. Nicht nur durch die Endlichkeit des transzendentalen Ich, sondern vielmehr auch durch den freien und darum notwendig entzogenen Grund von Natur und Freiheit ist die sentimentalische Suche unendliche Reflexion von Welt und Ich in ihrem Zusammenhang und ihrer verborgenen und darum idealen Einheit und Ganzheit. Die différentielle Einheit, als welche die ästhetische Subjektivität allein nur besteht, ist daher auch selbst der rätselhaft bleibende Grund, worin die ideale Ganzheit entzogen bleibt, denn der ewige Wechsel der Sehnsucht erlaubt keine Fixierung und daher auch keine feste Identität. Schon Wilkinson/Willoughby sehen in Schillers Entwurf der ästhetischen Subjektivität deswegen auch die »Gefahr«, daß er »Kants einseitige Unterdriickungstendenz, sei es von oben oder von unten, durch einen Begriff von Ganzheit ohne festen Mittelpunkt« ersetzt, ungefestigt durch Mangel an [ . . . ] Trieb überhaupt: >eine schöne Seele