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German Pages 424 Year 2006
Vernunft der Aufklärung Aufklärung der Vernunft Herausgegeben von Konstantin Broese, Andreas Hütig, Oliver Immel und Renate Reschke
Vernunft der Aufklärung Aufklärung der Vernunft Herausgegeben von Konstantin Broese, Andreas Hütig, Oliver Immel und Renate Reschke
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung von: Francisco de Goya: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, Capricho 43,1797 - 1799, Radierung und Aquatinta
ISBN-10: 3-05-003845-4 ISBN-13: 978-3-05-003845-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Oliver Immel, Wiesbaden Druck: MB Medienhaus Berlin GmbH Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Konstantin Broese, Andreas Hütig, Oliver Immel Aufklärung und Vernunft. Zur Einleitung
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1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Aufklärung und Aufklärungskritik
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Klaus-Dieter Eichler Zum Gründungsmythos der europäischen Philosophie
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Siegfried Wollgast Gabriel Wagner (Realis de Vienna) als Vertreter der radikalen weltlichen Frühaufklärung in Deutschland
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Karen Joisten Die Hauptstraße verlassen. Oder: Mit Giambattista Vico auf einer anderen Fährte ... 53 Helmut Seidel Jean-Jacques Rousseau - Repräsentant oder Kritiker der Aufklärung?
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2. Der Aufbruch: Konzepte und Positionen der Aufklärung
75
Helmut Reinalter Aufklärung und Französische Revolution Hans Gerald Hödl Religionswissenschaft und Aufklärung. Historische Aspekte und gegenwärtige Fragen Renate Reschke Idealische, vernünftige Schönheit. Johann Joachim Winckelmanns Antikebild zwischen Aufklärung und Klassizismus: Das Beispiel Apollon
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Steffen Dietzsch/Wilfried Lehrke Kann historische Urteilskraft ohne Kants Anthropologie auskommen?
121
3. Kant und die Folgen
129
Volker Gerhardt Menschheit in meiner Person. Expose einer Theorie des exemplarischen Handelns
131
Margit Ruffing Inwiefern Philosophie per se praktisch ist. Versuch einer Antwort im Ausgang von Kant
139
Lutz Baumann „Wohlleben und Tugend im Kampfe mit einander" Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Moralität bei Kant und Schiller
147
Manfred Baum Die Möglichkeit der Erfahrung bei Maimon und Schulze Pirmin
155
Stekeler-Weithofer
Sprachkritik bei Kant, Hegel und Nietzsche
165
4. Einsprüche und Überbietungen
177
Karol Bai Hegels Sicht der Aufklärung
179
Walter Dietz Verzweiflung en masse. Kierkegaards Einzelner und die Kritik der Masse
185
Matthias Kossler „Der Gipfel der Aufklärung". Aufklärung und Besonnenheit beim jungen Schopenhauer
207
Konstantin Broese Schopenhauers Überwindung der Theorie der Selbsterhaltung und der neuzeitlichen Rationalität - Schopenhauer als Wegbereiter Nietzsches
217
Beatrix Himmelmann Radikalisierung und Kritik - Kant im Verständnis Friedrich Nietzsches
231
5. Neuansätze und Fortentwicklungen
247
Hans Rainer Sepp Dimensionen der Vernunft bei Edmund Husserl
249
Christian Rabanus Phänomenologie jenseits der Rationalität - Patockas Kritik an Husserls Vernunftoptimismus
257
Andreas Hütig Von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur. Cassirers Transformation der Philosophie
267
Kurt Salamun Aspekte von Karl Jaspers' Vernunftphilosophie. Vernunft als Widerpart fundamentalistischer Denkhaltungen
279
Giorgio Penzo Die Autorität und das Nichts bei Karl Jaspers
289
Andreas Cesana Historismus und Existenzphilosophie, Kulturalismus und Weltphilosophie Zur Vernunftphilosophie von Karl Jaspers
293
Ö.Umwertungen
303
Karl-Anton Sprengard Geist - Widersachervorwurf und Geistvertrauen in Lebensphilosophie und Neuer Anthropologie. Gedanken zu Ludwig Klages' Misstrauen und Max Schelers Zutrauen
305
Richard Wisser Also sprach Friedrich Nietzsche. Stichworte im Blick auf Martin Heideggers Intention, „denkender" als Verstand und Vernunft zu „denken"
317
Vanessa Vidal Mayor Begriff der Aufklärung als Naturgeschichte
327
Bruno Hillebrand Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Mit Blick auf Goethe und den epiphanischen Augenblick
335
7. Aktuelle Entwicklungen und Einschätzungen
349
Christian Schärf Schellings Lichtbild. Die Philosophen und die Fotografie
351
Volker Caysa Über die Maßstäbe der Kritik moderner Körperverhältnisse. Das Versklavungstheorem und der körpertechnologische Imperativ
357
Oliver Immel Vom vernünftigen Ich. Überlegungen zur identitätsstiftenden Rolle der Rationalität im Anschluss an Jean-Paul Sartre
365
Stephan Grätzel Kollektive Schuld - individuelle Freiheit. Probleme des neuzeitlichen und modernen Menschen
381
Reinhard Mocek Aufklärung im Zeichen eines destruktiven Geschichtssubjekts
391
Werner Schneiders Vernunft und Unvernunft
401
Anhang
407
Tabula gratulatoria
409
Verzeichnis der Schriften von Hans-Martin Gerlach
411
Personenregister
419
Vorwort
Der vorliegende Band ist Hans-Martin Gerlach zum 65. Geburtstag gewidmet. Gerlach, der Ende 2005 als Universitätsprofessor für Philosophie aus dem Dienst am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Leitung der dortigen KantForschungsstelle ausgeschieden ist, hat in seinen Forschungen zur Philosophie der Neuzeit Schwerpunkte in der Aufklärung und vornehmlich deutschen Philosophie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gesetzt. Hier wie in seinen Lehrveranstaltungen waren ihm die Analyse und Rekonstruktion der Entwicklung und Rezeption des .Projekts der Moderne' stete Anliegen, wie sich nicht zuletzt in der Herausgeberschaft eines Bandes der Zeitschrift Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts (Hamburg 2001) mit Schwerpunkt Christian Wolff und in der Konzeption einer internationalen Konferenz zum Thema „Friedrich Nietzsche - Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?" (Weimar 2003) niedergeschlagen hat. Bereits zur Zeit der damaligen DDR hat Gerlach als Professor der Geschichte der Philosophie an der Universität Halle-Wittenberg Forschungsprojekte zu Themenschwerpunkten aus Aufklärung und Moderne durchgeführt, deren Ergebnisse in einem steten Entwicklungsprozess zu Bezugspunkten auch seines späteren Wirkens an der Universität Mainz und in den Vorständen der deutschen Kant- und Nietzsche-Gesellschaften wurden. Mit den meisten der in diesem Band vertretenen Autorinnen und Autoren hat Gerlach in Forschungsprojekten oder auf Tagungen und Konferenzen kooperiert und diskutiert oder bei deren Qualifikationsverfahren mitgewirkt. Die Herausgeber widmen diesen Band dem Jubilar und möchten sich damit für jahrelange, menschlich wie fachlich herausragende Zusammenarbeit bedanken. Unser besonderer Dank gilt darüber hinaus all jenen, die es durch ihre Beiträge und ihre großzügige finanzielle Unterstützung erst ermöglicht haben, dass dieser Band anlässlich des 65. Geburtstags von Hans-Martin Gerlach erscheinen konnte. Eine Liste der Unterstützerinnen und Unterstützer findet sich im Anhang. Für die Erstellung des Personenregisters danken wir Peggy Kuwan.
Konstantin Broese Andreas Hütig Oliver Immel Renate Reschke
KONSTANTIN BROESE, ANDREAS HÜTIG, OLIVER IMMEL
Aufklärung und Vernunft Zur Einleitung
1. Vernunft und Aufklärung Der Zusammenhang von Vernunft und Aufklärung ist nicht erst mit dem Auftreten der entsprechenden Termini und Epochenbeschreibungen offensichtlich. Ob die Sophistik als erste Aufklärung bezeichnet wird 1 oder Sokrates als Begründer moderner Denkhaltungen, 2 stets bildete und bildet Vernunft wenn nicht den Maßstab, so zumindest aber das Mittel einer Orientierung auf legitimes Wissen und auf selbstständiges Handeln. Zu einer noch stärkeren Nähe zwischen der Betonung von Rationalität und der Befreiung aus bisher unhinterfragt akzeptierten Wahrheiten kommt es spätestens mit der Metaphysik der Subjektivität in der Folge der cartesischen Suche nach einem fiindamentum inconcussum und deren Zentralisierung des reflektierenden Ichs, von dem ausgehend die Neubegründung sicheren Wissens gelingen soll. Aber die Gegenbewegungen sind ebenfalls Legion; in vielen philosophischen Entwürfen wird Rationalismus - und das ebenfalls philosophiegeschichtlich schon sehr früh - nicht nur als Qualitätsmerkmal verstanden, sondern als Vorwurf der Ausblendung wichtiger, wenn nicht gar entscheidender Aspekte und Momente der menschlichen Existenz. Auch wenn gelegentlich in der Kritik an angeblicher oder tatsächlicher Ratiozentriertheit auch das mit einem Rekurs auf Vernunft zwar zusammenhängende, aber wohl nicht zwingend identische .Projekt der Aufklärung' ungerechtfertigter Kritik anheim fällt, 3 so ist genauer zu bestimmen, was unter Vernunft verstanden wird - und was als Aufklärung gelten soll.
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Die Analogie zwischen historischer Aufklärung und Sophistik wird, präfiguriert von der Bezeichnung „deutscher Sokrates" für Moses Mendelssohn, entfaltet von Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, 5-42; vgl. ähnlich Vittorio Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Piaton, Stuttgart/Bad Canstatt 1984, insb. 225ff., der u. a. aus dieser Parallelität eine Zyklentheorie der Philosophiegeschichte entwickelt; dagegen diese Einordnung wegen des Fehlens einer Vernunftorientierung gerade bestreitend: Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986; als weiteres jüngeres Beispiel aus angrenzendem disziplinären Kontext Christoph Lüth, „Die Aufklärung der Sophisten als Traditionsbruch und Reaktionen Piatons. Zum Beginn der Erziehungstheorie in der griechischen Aufklärung", in: Johanna Hopfner/Michael Winkler (Hg.), Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft, München 2004. Volker Gerhardt, „Die Moderae beginnt bei Sokrates", in: Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie, Tübingen 1988, 2-20; vgl. ähnlich u. a. schon Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944), Hamburg 1996, 20ff. Vgl. Herbert Schnädelbach, „Descartes und das Projekt der Aufklärung", in: ders., Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen 4, Frankfurt a. M. 2004,45-65, v. a. 52f.
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KONSTANTIN BROESE, ANDREAS HÜTIG, OLIVER IMMEL
Eben jene Aufklärung ist indes aus historischer Perspektive v. a. eng mit dem 18. Jahrhundert verbunden und dementsprechend wird dieses als „Epoche" oder „Zeitalter der Aufklärung" verstanden. Diese Charakterisierung geht auf das Selbstverständnis einer geistigen und gesellschaftlichen Reformbewegung des 17./18. Jahrhunderts zurück, die v. a. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann, auf sich selbst zurückzublicken bzw. sich selbst zu historisieren, und zwar zunächst voller Selbstbewusstsein. Hierbei erschien ihr kein Zeitalter so aufgeklärt wie „unser Jahrhundert" (Kant), das ,,Jahrhundert[.] Friedrichs" bzw. der „Kritik" (Kant) oder das „siecle de la philosophie" (d'Alembert); „und wer nicht überzeugt war, ,in einem aufgeklärten Zeitalter' zu leben, der glaubte wenigstens, ,in einem Zeitalter der Aufklärung' (Kant) zu leben - auch wenn die Formel ,in unseren erleuchteten Zeiten' gelegentlich einen nicht zu überhörenden ironischen Klang hatte".4 Aufklärung verstand sich zunächst (d. h. bevor sie in den Prozess der Selbsthistorisierung eingetreten war) vor allem als eine bewusste, reflektierte Aktion und auch als ein Aktionsprogramm - ein Programm, das auf eine größere Klarheit der Erkenntnis und die Beförderung der Vernunft auf allen Gebieten zielte. Die Aufklärung war bestimmt durch die „Hoffnung auf Vernunft" bzw. den Willen zur Vernunft. 5 Dabei war die Vernunft „Ziel und Mittel gleichzeitig": Sie war aus der Sicht der Aufklärer „immer noch werdende Vernunft, also immer noch im Zustande der Unvernunft und daher als Vernunft in Aktion vor allem im Kampf gegen Unvernunft". 6 Und insofern es den Aufklärern vor allem um den Kampf gegen die - aus ihrer Sicht in der Wirklichkeit (vor-) herrschende - Unvernunft ging, war Aufklärung in erster Linie „ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines [d. h. des Menschen] Erkenntnisvermögens" (Kant). Als eine solche „im Ansatz kritische Aktivität" 7 hinterfragte die Aufklärung die überkommenen Autoritäten, bestimmte Formen der Religion (die sie als Aberglaube, Enthusiasmus, Fanatismus etc. bezeichnete) und deren Institutionen sowie die Legitimation der politischen Herrschaft, allgemeiner aber überhaupt von Traditionen und Wertungen, und schließlich (insbesondere in ihrer Endphase) ihren eigenen Anspruch und damit ihre eigene Legitimität. Eine besondere Rolle spielte in diesem Kontext die Vorurteilskritik, insofern die Aufklärung das Vorurteil als eine Hauptform von Unvernunft verstand. 8 Rationalitätskritik und (Neu-)Begründung sowie die Ausrichtung von Rationalität sind Kennzeichen der abendländischen Philosophie von Beginn an, sie gipfelten indes in der genannten Epoche. ,Aufklärung' bedeutet: alles bloß Gesetzte - alle Positivitäten - und alles bloß Geglaubte in Wissensgegenstände zu überführen. Dazu zählen ebenso die Formen einer bloß aus Überlieferung gerechtfertigten Lebenspraxis wie die Formen einer auf übersinnliche Kräfte sich beru-
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5 6 7 8
Wemer Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, 158f. Vgl. dazu v. a. Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, passim. Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, 20. Ebd., 21. Vgl. zu diesem Punkt die grundlegende Studie von Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteils-kritik, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983.
AUFKLÄRUNG UND VERNUNFT
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fenden Autoritäts-Ausübung. Auch die Positivität der Natur schien gebrochen: ihr mythischer Bann zersetzte sich im Licht der Gesetzmäßigkeiten in Elementarbestandteile. 9
Hieraus resultierten des Selbstbewusstsein wie das Befreiungspathos der Aufklärer. Aufklärung war jedoch in jener Zeit keineswegs nur Kritik, denn sie intendierte - ebenfalls getragen von der „Hoffnung auf Vernunft" - religiöse Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, persönliche Freiheit, freie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit für alle, Meinungs- und Pressefreiheit und damit die Herstellung von Öffentlichkeit. Außerdem forderte sie politische Selbstbestimmung und vertrat eine an der positiven Diesseitsgestaltung orientierte Humanität. 10 Eine positive Neubestimmung der Stellung des Menschen in der Welt erfolgte zudem durch das Aufdecken der Naturgesetzmäßigkeiten, indem die menschliche Vernunft in dieser nicht mehr ein anderes, sondern „sich selbst am Werk" 11 sehen und sich dadurch sowohl in der Welt heimisch wie diese Untertan machen konnte. Der Themenkreis „Aufklärung" bzw. „Aufklärung und Vernunft" ist jedoch keineswegs ausschließlich ein historischer Gegenstand, so geboten es auch ist, an dem Begriff eines „Zeitalters der Aufklärung" festzuhalten. Vielmehr ist mit dem Aufklärungsforscher Werner Schneiders zu konstatieren, dass die „Aufklärung als auf Vernunft und Freiheit gerichtete Aktion" in programmatisch-systematischer Hinsicht eine „fortwährende und andauernde Aufgabe" 12 darstellt. Und zwar eine Aufgabe, bei der es im Kern - trotz des Wechsels der geschichtlichen Erscheinungsformen der Probleme immer um dasselbe geht, nämlich „um die Kritik der Verdeckungen der Wahrheit und die Aufdeckung der Motive der Täuschung und Selbsttäuschung, um auf diese Weise theoretische Wahrheiten und praktische Verbesserungen, insbesondere aber Vernunft und Freiheit zu ermöglichen". 13 Die in diesem Sinne als „fortwährende und andauernde Aufgabe" charakterisierte Aufklärung ist angesichts des bleibenden Aufklärungsbedarfs und des bleibenden Aufklärungsbedürfnisses von ,,bleibende[r] Aktualität". 14 Letztere ist zu betonen angesichts der Tatsache, dass heute sowohl die Aufklärung als auch die Vernunft einer tief greifenden Infragestellung ausgesetzt sind und es sich bei dieser Infragestellung - wie der Aufklärungsforscher und Historiker Helmut Reinalter zu Recht herausstellt - „nicht nur um eine wieder einmal fällige Anerkennung des Irrationalen als eines philosophischen
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Manfred Frank, „Zwei Jahrhunderte Rationalitäts-Kritik und ihre »postmodeme« Überbietung", in: Dietmar Kamper/Willem van Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt a. M. 1987,99-121, hier 99. Vgl. hierzu Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 3, sowie Helmut Reinalter u. a., Ist Aufklärung noch ein tragfähiges Prinzip?, Wien 2002, 35. Manfred Frank, „Zwei Jahrhunderte Rationalitäts-Kritik", 99.
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Werner Schneiders, „Zur Aktualität der Aufklärung", in: Werner Schneiders, Philosophie der Aufklärung - Aufklärung der Philosophie, Gesammelte Schriften, Berlin 2005,474. Ebd., 477. Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, 179; vgl. außerdem ders., „Zur Aktualität der Aufklärung", inbes. 477ff.
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KONSTANTIN B R O E S E , A N D R E A S H Ü T I G , O L I V E R I M M E L
Grenzproblems" handelt, „sondern um die Infragestellung jener Grundeinstellung abendländischer Rationalität, die das Grenzproblem des Irrationalen überhaupt erst als solches entdecken konnte".15
2. Aufklärung der Vernunft Aufklärung als struktureller Begriff umfasst demnach die Forderung nach Emanzipation der Menschen von Fremdbestimmtheit und offener oder versteckter Unterjochung unter andere Menschen ebenso wie die Kritik der Verhältnisse, die diese Heteronomie fördern oder bewirken. Befreit werden soll der Mensch dabei von den Bedingtheiten all jener Institutionen, Personen und Traditionen, die ihre berechtigten Ansprüche nicht vor dem Gerichtshof der Vernunft und aus dieser einsichtig machen können. Vernunft und die durch sie in Gang gebrachte Aufklärung bleiben Bezugspunkte auch jeder heutigen Selbstverständigung ebenso wie der sprachlichen oder medial verlaufenden Weltaneignung, wie an aktuellen Beispielen deutlich wird: etwa im interreligiösen Diskurs bei der Frage, ob der Islam mit einer der europäischen analogen Aufklärung verträglich wäre oder ob eine solche Forderung nur die Überheblichkeit und den fatalen Bindungsverlust der westlichen Moderne anzeigt, oder in Untersuchungen über Möglichkeiten und Bedingungen des aufgeklärten Umgangs mit den immer dominanter werdenden neuen Medien und der durch sie konstituierten und konstruierten virtuellen Realität. Diese und andere Phänomene und Fragen werfen erneut die Frage auf, ob es sich bei dem Projekt Aufklärung um eine historische Episode, ein kulturübergreifendes Menschheitsproblem, ein Musterbild oder einen Irrweg der westlichen Kultur handelt. In der Debatte geht es so um die Rolle der Vernunft heute und um das „Andere" der Vernunft, um Mündigkeit und Selbstständigkeit des Individuums angesichts wachsender Manipulationsmechanismen und neuer Spannungen und Fundamentalismen. Die auf die historische Epoche der Aufklärung folgende Aufklärungs- wie Rationalitätskritik hat dieses strukturelle Verständnis teils übersehen, teils implizit fortgeschrieben, teils aber auch allererst in kritischer Adaptation herausgearbeitet. Mit der nicht zuletzt durch die kantischen Forderungen und Entwürfe in Gang gesetzte Abfolge von unmittelbaren Reaktionen und Ergänzungen, Korrekturen, Gegenbewegungen und Überbietungen entstand ein nicht immer gradliniger, gleichwohl untergründiger perennierender Diskurs, der selbst da als Weiter- und Fortentwicklung der aufklärerischen Vernunft anzusehen ist, wo derselben der Prozess gemacht zu werden scheint: Nur die über ihre eigene Geschichte und ihre blinden Flecke aufgeklärte Vernunft kann der ursprünglichen Intention einer Emanzipation durch Kritik unter den komplexen Bedingungen der Gegenwart gerecht werden. Dann ist der fortwährende Streit über die Aufklärung und deren Vernunft nicht Zeichen einer ruinösen Verfallsgeschichte oder einer Selbstzerstörung der von objektiven Werten losgelösten Selbsterhaltung, sondern eine
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Helmut Reinalter, Ist Aufklärung noch ein tragfähiges
Prinzip?,
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AUFKLÄRUNG UND V E R N U N F T
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Fortführung der Aufklärung mit den Mitteln ihrer Kritik, angereichert und intensiviert durch die Einsprüche und Modifikationen ihrer Rezeption. Nach dem Abklingen der etwas überreizten Moderne-Postmoderne-Debatte 16 ist eine Besinnung auf die Quellen und Ansprüche von Aufklärung und von vernünftigem Handeln nicht nur wieder möglich, ohne selbst entweder gegenaufklärerischer Tendenzen oder blinden Vernunftvertrauens geziehen zu werden, sondern angesichts der praktischen Herausforderungen der Gegenwart wie der theoretischen Entwicklungen geradezu geboten. Analysen der in der Epoche der Aufklärung entwickelten Vernunftkonzepte und von deren Vorgeschichte im europäischen Kontext einerseits, Rekonstruktionen und Diskussionen der nachfolgenden Korrekturen und Grundlinien der Debatte andererseits holen so nicht nur die (Selbst-)Aufklärung der Vernunft ein. Vielmehr wird darin zugleich Selbstaufklärung der westlichen Kultur und Geistesgeschichte geleistet, indem das Fortwirken der aufklärerischen Impulse mit den aufklärungskritischen, dabei selbst Aufklärung intendierenden Positionen verflochten wird. Vermieden wird dadurch, Aufklärung allein auf die fragliche historische Epoche zu begrenzen und sie mit dieser Historisierung auch zu relativieren. Vielmehr erweist sich gerade in der Suche nach Konstanten wie Transformationen, inwiefern Momente des aufklärerischen Impulses fortgeschrieben, modifiziert oder auch zu Unrecht in Anspruch genommen wurden. Umgekehrt verhindert die explizit historische Perspektive, dass ein zu enges Vorverständnis dessen, was Aufklärung genannt zu werden verdient, anhand bestimmter Kriterien bloß mechanisch appliziert wird und zu einer Sortierung hie Aufklärung, hie Gegenaufklärung - führt, die das verflochtene Ineinander derselben und die immer auch auf zeitbedingte Situationen und ideengeschichtliche Filiationen reagierende Positionierung und Konzeptualisierung der in Rede stehenden Philosophien für unerheblich erklärt oder gar nicht erst in den Blick bekommt. 17 Zudem wird durch eine derart historisch informierte und differenzierte Perspektivierung auch deutlich, inwiefern es immer gewagt ist, „die" Vernunft, „die" Moderne oder „die" Aufklärung welcher Vorzüge und Nachteile auch immer zu zeihen, wo es doch viele verschiedene Formen gibt, in denen diese historisch wie systematisch auftreten können und aufgetreten sind. Dabei erlaubt eine gewollte Pluralität von methodischen wie inhaltlichen Perspektiven, die hier vorgetragenen Analysen selbst wiederum als (Selbst-)Aufklärung der Vernunft, als Beiträge zu einer Selbstverständigung im Angesicht sowohl der Geschichte wie aktueller Herausforderungen zu verstehen. Es muss also nicht ein einziges und all-
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Vgl. etwa Dietmar Kamper, Willem van Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, Frankfurt a. M. 1987; Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1993; Peter V. Zima, Moderne!Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen/Basel 1997; Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 5 1996; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 6 2002.
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Vgl. beispielhaft die Relativierung einer solchen Kategorisierung Nietzsches bei Hans-Martin Gerlach, „Friedrich Nietzsche und die Aufklärung", in: Renate Reschke (Hg.), Friedrich Nietzsche - Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Nietzscheforschung Sonderbd. 2, Berlin 2004, 19-32.
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gemeines Verständnis von Vernunft oder von Aufklärung vorhanden sein, um im Umkreisen der Konzepte und Begriffe herauszuarbeiten, welche Momente der historischen Entwürfe wie der strukturellen Probleme und deren Lösungen tragfähig, einflussreich oder gerade obsolet geworden sind. So können grundlegende Fragen der Entwicklung unserer Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Folie des geistesgeschichtlichen Niederschlags der fortgesetzten theoretischen Auseinandersetzung um die Geltung des Projekts Aufklärung und um Konzeption und Rolle der Vernunft diskutiert werden.
3. Phasen und Positionen Der vorliegende Band ist in sieben Hauptabschnitte unterteilt, die von der Vor- und Frühgeschichte der Aufklärung über Hauptstränge, Einsprüche, Neuansätze und Umwertungen bis hin zu aktuellen Entwicklungen und Einschätzungen reichen. Dadurch wird der Versuch unternommen, der Aufklärung sowohl in historischer als auch philosophischer Hinsicht, sowohl in ihren Hauptströmungen als auch ihrer breiten und widerspruchsvollen Rezeption und nicht zuletzt in ihrer reflexiven Selbstaufklärung Rechnung zu tragen. Im ersten Hauptabschnitt finden sich Beiträge zur „Vor- und Frühgeschichte der Aufklärung". Den Auftakt bildet ein Beitrag von Klaus-Dieter Eichler, der den Gründungsmythos der abendländischen Philosophie in den Blick nimmt und dabei Fragen nach dem Wo, Wann und Warum der Entstehung der Philosophie nachgeht, deren Beantwortung für das Selbstverständnis der Philosophie unverzichtbar ist. Dabei setzt sich Eichler unter anderem mit dem Versuch auseinander, die Entstehung der europäischen Philosophie in Ionien aus Prozessen der Verkehrsökonomie und kommerziellen Welterfahrung der Händler zu erklären - ein Erklärungsmodell, das er nach eingehender Analyse für die Intention eines Wissens, das „widerspruchslos, objektiv, unpersönlich und allgemein ist", als unzureichend ansieht. Siegfried Wollgast richtet seine Betrachtungen auf den deutschen Frühaufklärer Gabriel Wagner und entwickelt dessen stark naturwissenschaftlich orientierte Grundthesen maßgeblich anhand dessen polemischer Auseinandersetzung mit Christian Thomasius. Überlegungen zum Verhältnis und den philosophischen Folgen der denkerischen Grundansätze von Rene Descartes und Giambattista Vico stellt Karen Joisten ins Zentrum ihres Beitrags. Mit Hilfe der Metaphern von „Hauptstraße" und „anderer Fährte" arbeitet Joisten wesentliche Ausrichtungen der beiden Denker heraus: Während es Descartes darum geht, auf einem unerschütterlichen erkenntnistheoretischen Fundament Wahrheiten aneinander zu reihen, bewegt sich Vicos Topik mittels seines verum-factum-Pnnzips auf einer anderen Fährte, auf der jede einzelne Wissenschaft danach zu befragen ist, ob und in welcher Weise die Gegenstände geistig hervorgebracht und inwieweit sie folglich überhaupt erkennbar und lebensweltlich relevant sind. Helmut Seidel wendet sich anschließend der Frage zu, ob und inwiefern Jean-Jacques Rousseau als Repräsentant und/oder Kritiker der Aufklärung gelten
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könne. Die Antwort macht Seidel von der begrifflichen Fassung der Aufklärung abhängig. Wer Aufklärung als historisch bestimmte, geistig-kulturelle Bewegung versteht, die vorzüglich durch Kritik an den soziokulturellen Gegebenheiten charakterisiert ist, muss Rousseau, wie Seidel anhand der Darstellung wesentlicher Positionen seines Denkens zeigt, als in erster Reihe dieser Bewegung stehend sehen. Der zweite Hauptabschnitt des Bandes, „Der Aufbruch: Konzepte und Positionen der Aufklärung", wird von einem Beitrag von Helmut Reinalter eröffnet, der das Verhältnis von Aufklärung und Französischer Revolution thematisiert. Dabei entfaltet Reinalter vor allem die Ambivalenz der Aufklärung, die sich ihm zufolge darin zeigt, dass sie zwei wesentliche Entwicklungsstränge hervorgebracht hat: eine Strömung hin zum Liberalismus und zur Demokratie und eine Tendenz, die während der Französischen Revolution zur Jakobinerherrschaft und später zur totalen Demokratie geführt hat. Hans Gerald Hödl widmet sich in seinem Beitrag dem Einfluss, den die Aufklärung auf die Religionswissenschaft ausgeübt hat und wendet ich dabei sowohl der Frage zu, inwieweit die für die Religionswissenschaft typischen Fragestellungen sich im Kontext der europäischen Aufklärung vorbereiten, als auch der Frage, inwiefern der Religionswissenschaft in unserer Gesellschaft eine aufklärerische Rolle zukomme. Der dritte Beitrag des Abschnitts beschäftigt sich mit einer durch Ästhetik vermittelten Aufklärung, indem Renate Reschke Johann Joachim Winckelmanns Konstruktion einer als Politikum angelegten ästhetischen Auslegung des antiken Griechentums auf deren auklärerischen Implikate und Explikate hin untersucht. Winckelmann dachte und vermittelte Reschke zufolge eine Antike, die schön und vemunftbestimmt in einem war, die in aufklärerischen Kategorien geordnet und mit Insignien antiker Idealität aufgeladen war und die von den intellektuellen Eliten schnell in den seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufgekommenen Aufklärungsdiskurs integriert wurde. Eine etwas andere Schlagrichtung besitzt der Aufsatz von Steffen Dietzsch und Winfried Lehrke, in dem die Autoren der Frage nachgehen, ob historische Urteilskraft ohne Kants Anthropologie auskomme, bzw. welche Positionen Kant überhaupt zur Geschichtsphilosophie, insbesondere in Auseinandersetzung mit Herder, eingenommen hat. Im daran anschließende dritten Hauptabschnitt des Bandes, „Kant und die Folgen", fokussiert Volker Gerhardt Kants Ausdruck der „Menschheit in meiner Person". Der Begriff gibt zu erkennen, dass Kant das Geistige, Vernünftige nicht nur im funktionalen Zusammenhang von Natur und Geschichte aufsucht, sondern es auch im Kontext des menschlichen Daseins belässt. Weil jeder Mensch immer von sich aus nach eigener Einsicht entscheiden will, hat das empirische Einzelwesen neben dem intelligiblen auch einen normativen Kern, von dem aus es in der Lage ist, sich selbst als Mensch zu begreifen, der mit anderen Menschen verbunden ist. Die Quintessenz der kantischen Moralphilosophie besteht darin, dass sich der Mensch selbst ein Beispiel zu geben hat, und wenn dies in unserem Handeln hervortreten soll, ist jede moralische Tat als ein exemplarischer Akt zu verstehen. Insofern wir die Verbundenheit der Menschen denken, exemplifiziert sich aufgrund der Universalität des Gebots der Humanität die Menschheit in der Person des einzelnen Menschen. Der Fragestellung, ob Philosophie per se prak-
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tisch ist, widmet sich Margit Ruffing in ihrem Beitrag. Grundsätzlich wird im Imperativ des Kantischen „sapere audel" nicht die Verstandestätigkeit selbst, sondern eine veränderte, mutige Einstellung des Gemüts gefordert, bevor es zum sapere kommen kann das Denken setzt also eine mutige Gesinnung voraus. Darüber hinaus betont Ruffing, dass für Kant die Vernunft kein Selbstzweck ist, sondern ihr Endzweck im Praktischen liegt. Das finale Ausgerichtetsein des menschlichen Vernunftvermögens besteht in einer Ausrichtung auf das moralische Handeln. Lutz Baumann thematisiert in seinem Artikel das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Moralität bei Kant und Schiller, und zwar insbesondere im Hinblick auf Kants Anthropologie, in der den Neigungen im Gegensatz zu früheren Einschätzungen ein Recht eingeräumt wird. Sie sind beim späten Kant Element der Tugend. Tugend und Wohlleben meinen in Kants Anthropologie ein moralisches Ganzes, wodurch das physische Dasein der Welt selbst sittlichen Charakter gewinnt. Den Streit um das richtige Verständnis der Kritik der reinen Vernunft greift Manfred Baum in seinem Beitrag auf, wobei Baum am Beispiel der Auslegung der Frage nach Bedeutung und Funktion der Möglichkeit der Erfahrung exemplarisch die beiden Auslegungen von Maimon und Schulze analysiert und sowohl ihre theoretisch präformierten Perspektiven als auch ihre argumentativen Defizite aufzeigt. Den abschließenden Beitrag dieses Hauptabschnitts bildet Pirmin Stekeler-Weithofers Aufsatz über Sprachkritik bei Kant, Hegel und Nietzsche. Erklärtes Ziel des Autors ist dabei, eine Erinnerung daran zu liefern, dass entgegen der üblichen Auffassung, der zufolge die traditionelle Philosophie der modernen sprachkritischen Philosophie gegenüber gestellt wird, auch im Denken seit der Aufklärung, ja seit Piaton die Sprache im Zentrum philosophischer Reflexion steht, wie Stekeler-Weithofer an den Beispielen Kants, Hegels und Nietzsches zeigt. Hegel bildet auch den Fokus des darauf folgenden Beitrags von Karol Bai, der den vierten Hauptteil des Bandes mit dem Titel „Einsprüche und Überbietungen" eröffnet. Dabei stellt Bai die starke Verknüpfung zwischen der Aufklärung und den Grundkonzeptionen des Hegeischen Systems heraus. Insbesondere wegen der stark manifestierten geschichtlichen Negativität wurde die Aufklärung von Hegel besonders geschätzt. Die Epoche der Aufklärung ist für ihn die wichtigste Etappe im Entwicklungsprozess des Weltgeistes. Eine etwas andere Perspektive wählt Walter Dietz in seinem Aufsatz, der sich unter dem Titel Verzweiflung en masse der Konzeption des Einzelnen im Verhältnis zur Masse im Denken S0ren Kierkegaards widmet. Dietz sieht den Einzelnen bei Kierkegaard als eine Strukturbestimmung von humanem Dasein überhaupt, während die Konstruktion der Masse aus Kierkegaards Sicht mit der Destruktion des individuellen Selbstseins einhergeht. Dietz verfolgt vor diesem Hintergrund das Problem des Verhältnisses zwischen Einzelnem und Masse durch die Positionen der christlichen Kirche, des Hegelianismus, Marxens und aktuellen Einschätzungen des Massenparadigmas hindurch. Arthur Schopenhauers Verhältnis zur Aufklärung und die Frage nach dem aufklärerischen Geist in dessen Schriften steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Matthias Kossler, in denen verdeutlicht wird, dass Schopenhauers Vernunftverständnis im Begriff der Besonnenheit seine spezifische Ausprägung und Abgrenzung gegenüber
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dem Vernunftbegriff Kants gewinnt. Eine Brücke zwischen Schopenhauer und Nietzsche schlägt der Aufsatz von Konstantin Broese, in dem Schopenhauer als Wegbereiter Friedrich Nietzsches herausgestellt wird. Broese unternimmt dabei den Versuch, nachzuweisen, dass bereits Schopenhauer und nicht erst Nietzsche die zentrale Rolle des Selbsterhaltungsgedankens grundsätzlich in Frage gestellt hat bzw. die neuzeitliche Rationalität entscheidend überbietet und dadurch ein wichtiger Wegbereiter Nietzsches ist. Im fünften Beitrag dieses Hauptabschnitts widmet sich Beatrix Himmelmann dem Versuch, Kant im Verständnis Friedrich Nietzsches zu skizzieren und dabei Nietzsches Stellung zum Erbe Kants in seiner Zwiespältigkeit zu beleuchten. Aufklärungsverständnis und die Stellung von Moral und Religion in den denkerischen Gebäuden stellen dabei die zentralen Vergleichsebenen zwischen Kant und Nietzsche dar. Der fünfte Hauptabschnitt mit dem Titel „Neuansätze und Fortentwicklungen" beginnt mit einem Beitrag von Hans Rainer Sepp zu Dimensionen der Vernunft bei Edmund Husserl, in dem Sepp das Korrelieren von Vernunft und Selbstbegebenheit im Begriff der Evidenz bei Husserl betont. Sepp stellt dabei Husserls Vernunftphilosophie als den umfassenden Versuch heraus, aus der Situation, in der die Theorie in ihrer Funktion für die Praxis in die Krise geraten ist, einen Ausweg zu bahnen und die Ethik als universale Vernunftlehre zu entwickeln. Der Husserlsche Vernunftoptimismus bzw. die Kritik, die Jan Patocka an diesem geübt hat, bilden den Ausgangspunkt für den Beitrag von Christian Rabanus. In Gedanken wie dem, dass es Aufgabe des Philosophierenden sei, Funktionär der Menschheit zu sein, zeigt sich Husserl als Denker der Aufklärung. Patocka hingegen hat nach Rabanus zwar den phänomenologischen Ansatz Husserls übernommen, nicht aber dessen Vernunftoptimismus und Husserls phänomenologisches Programm mit der Praxis als Zielpunkt weiterentwickelt, was auch mit einer Neudefinition der Rolle der Rationalität verbunden gewesen ist. Andreas Hütig zeichnet in seinem Beitrag Ernst Cassirers Transformation der Philosophie nach. Zu den Momenten der „kopernikanischen Wende" der Philosophie gehört die Neubestimmung der Vernunft, deren Kritik an das Modell menschlicher Selbstkritik gebunden bleibt. Gleichwohl muss sie mit den Praxen und kulturellen Formen in Verbindung gebracht werden, die menschliches Leben ausmachen. Cassirer hat Kants Revolution aufgegriffen und die bei Kant schon angelegte, aber der Vernunft externe Orientierung an den tatsächlichen Vollzügen und Praxen der menschlichen Kultur zur Forderung erhoben, wodurch die Kritik der Vernunft bei ihm zur Kritik der Kultur wird. Im Anschluss an diesen Beitrag folgen drei Aufsätze, deren zentraler Bezugspunkt die Philosophie von Karl Jaspers bildet. Im ersten dieser Beiträge greift Kurt Salamun Jaspers' Vernunftphilosophie als „Widerpart fundamentalistischer Denkhaltungen" auf. Im Hinblick auf Jaspers' Vernunftbegriff wird deutlich, dass Jaspers damit Komponenten einer Denkhaltung verbindet, die als offen, flexibel und kommunikativ bezeichnet werden können und der Salamun Komponenten fundamentalistischer Denkhaltungen gegenüberstellt. Dabei arbeitet er drei Gegensätze in strukturellen Grundelementen der beiden Denkungsarten heraus. Nach Salamuns Einschätzung beinhaltet der Jasperssche Vernunftbegriff wichtige Komponenten für die Kritik an fundamentalistischen Denkweisen.
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KONSTANTIN BROESE, ANDREAS HÜTIG, OLIVER IMMEL
Giorgio Penzo indes thematisiert das Verhältnis zwischen Autorität und Freiheit in Jaspers' Schriften. Jaspers selbst unterscheidet zwischen einer Dimension der authentischen und einer der nichtauthentischen Kollektivität. Penzo fokussiert dabei vor allem die Beziehungen zwischen Autorität und Freiheit einerseits und Macht und Gewalt andererseits, wobei man bei Jaspers aufgrund der zentralen Rolle des Transzendierens von einem dialektischen Gleichgewicht zwischen Macht und Gewalt sprechen kann. Andreas Cesana schließlich thematisiert das Spannungsgefüge zwischen Historismus und Kulturalismus im Hinblick auf die Philosophie von Karl Jaspers und stellt die Frage nach deren Relevanz und Haltbarkeit im aktuellen kulturphilosophischen Diskurs. Nach Cesana lässt die Kulturalität und die daraus hervorgehende Pluralität autonomer Kulturwelten grundsätzliche Zweifel daran entstehen, ob sich ein Überkulturelles im Sinne kulturunabhängiger Universalien überhaupt noch begründen lässt, weshalb es ihm zufolge zweifelhaft ist, ob, wie bei Jaspers, es legitim ist, eine Einheit der Philosophie vorauszusetzen. Jaspers' Gedanken einer philosophia perennis fehlt nach Cesana die angemessene Achtung der Andersheit des Fremden und schließt die Augen vor den Schwierigkeiten interkultureller Hermeneutik. Im sechsten Hauptabschnitt des Bandes werden „Umwertungen" der Aufklärung thematisch. Karl Anton Sprengard äußert in diesem Zusammenhang Gedanken zum Geist, wie sie vor allem bei Ludwig Klages und Max Scheler vorzufinden sind, und thematisiert dabei Widersachvorwurf und Geistvertrauen in Lebensphilosophie und neuer Anthropologie. Richard Wisser hingegen thematisiert Friedrich Nietzsches Kritik am Kantischen Vernunftdenken im Blick auf Heideggers Intention „denkender" als Verstand und Vernunft zu denken. Dabei verweist Wisser auf die zentrale Bedeutung der Kritik Nietzsches am Kantischen Vernunft-Ideal, die Verstand und Vernunft als sekundär gegenüber den impliziten moralischen Absichten erscheinen lässt. Weder die Verstandes- noch die Vernunftsysteme sind nach Nietzsche das, was sie vorgeben zu sein, nämlich fundamental. Im dritten Beitrag des Abschnitts thematisiert Vanessa Vidal-Major Begriff und Kritik der Aufklärung durch Horkheimer und Adorno und stellt neben der von diesen Autoren geäußerten Kritik den Begriff der Naturgeschichte ins Zentrum ihrer Ausführungen. Bruno Hillebrand greift in seinem Aufsatz Ernst Blochs kritische Position gegenüber Aufklärung und Vernunft im Konzept des Prinzips Hoffnung auf und widmet sein Augenmerk vor allem dem „epiphanischen Augenblick", anhand dessen Hillebrand auch das Verhältnis zwischen Bloch und Goethe darstellt. Nach Hillebrand verkörpert sich das Prinzip Hoffnung für Bloch in Goethes Faust, der immer auf der Suche nach dem erfüllten Augenblick ist. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Fotografie und die mediale Verschiebung vom Text zum Abbild thematisiert Christian Schärf in seinen Ausführungen am Beispiel von Schellings Lichtbild sowie zwei Exkursen zu den Ablichtungen Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers. Schärf vertritt dabei die These, dass durch die Fotografie der Körper des Denkers, der zuvor in der Abwesenheit der Schrift lag, ins Medium der technischen Reproduktion gerät und dadurch die „magische Strahlkraft der Schrift" entscheidend geschwächt wird. Die Philosophie verliert ihre alte Heimstatt, die die Autorität der Denker erschuf: das Abwesen-
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heitspostulat der Schrift. Eine andere Fokussierung der Körperlichkeit findet sich in Volker Caysas Beitrag über die Maßstäbe der Kritik moderner Körperverhältnisse. Im Blick auf Fragen nach Säkularisierung, Entnatürlichtung, autonomem Verfügen über den eigenen Körper und dessen Versklavung entwickelt Caysa Kriterien eines „körpertechnologischen Imperativs", der im Hinblick auf Körperselbstverhältnisse einen Bioliberalismus und Biopluralismus ermöglicht. Oliver Immel geht in seinen Überlegungen zur identitätsstiftenden Rolle der Rationalität im Anschluss an Jean-Paul Sartre der Frage nach dem „vernünftigen Ich" und dessen soziokultureller Konstituierung nach, in dessen Kontext das „sapere aude/" der Aufklärung und die Zuschreibung der Vernünftigkeit hinsichtlich ihrer vergemeinschaftenden, Anerkennung vermittelnden und darüber identitätsstiftenden Funktion in den Blick genommen werden. Das Spannungsfeld zwischen kollektiver Schuld und individueller Freiheit steht im Zentrum des Aufsatzes von Stephan Grätzel, wobei er „Problemen des neuzeitlichen und modernen Menschen" in einer Nachzeichnung philosophischer Positionen zur Schuldfrage von der Reformation bis heute nachgeht. Eine demgegenüber ganz andere Ausrichtung besitzt der Beitrag von Reinhard Mocek, der unter dem Titel Aufklärung im Zeichen eines destruktiven Geschichtssubjekts die Frage nach dem aufklärerischen Geist in der philosophischen Kultur der DDR, insbesondere in der Leipziger Schule und unter dem Eindruck Ernst Blochs, aufwirft und deren spannungsreichen Zusammenhang mit der marxistischen Theorie und sozialistischen Praxis nachzeichnet. Der Beitrag von Werner Schneiders zu Vernunft und Unvernunft schließt, ausgehend von Überlegungen von Karl Jaspers und Max Horkheimer, den Band mit Reflexionen über die Problematik der Definition von Vernunft, der Frage ihrer Degenerierung, Unvernunft, und Widervemunft, ab. Dabei problematisiert Schneiders neben dem Problem, dass, was Vernunft sei, nur durch diese selbst bestimmt werden kann, auch das diffuse Verhältnis zwischen Vernunft und Unvernunft. Unvernunft wird zwar durch Vernunft definiert, gibt sich aber selbst in aller Regel nicht als Unvernunft, sondern als Vernunft aus. Vernunft und Unvernunft bestimmen sich nach Schneiders gegenseitig, beruhen aber beide auf einem bloß partiellen Erkennen bzw. Verkennen der Wirklichkeit. Alle Vernunft, so ein Ergebnis seiner Überlegungen, ist immer auch Unvernunft, die Vernunft ist eigentlich nichts anderes als „vernünftige Unvernunft".
1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Aufklärung und Aufklärungskritik
K L A U S - D I E T E R EICHLER
Zum Gründungsmythos der europäischen Philosophie
In einer jüngeren Studie zu den „vorsokratischen Anfängen" der europäischen Philosophie sieht sich der Verfasser zu folgender resignativer Feststellung veranlasst: „trotz erheblicher [...] Fortschritte der historischen Erforschung des Altertums und trotz mannigfacher historischer Betrachtungen zur Entwicklung des westlichen Denkens" ist das „philosophische Interesse" am historischen und systematischen Problem „des Anfangs nahezu völlig versiegt."1 Auch in einer von Tobias Reichardt unlängst veröffentlichten Studie zu Recht und Rationalität im frühen Griechenland2 wird auf den Umstand einer empfindlichen Abstinenz in philosophischen Darstellungen des frühgriechischen Denkens gegenüber Reflexionen auf dessen „historische Genese" verwiesen. Ungeachtet einer durchaus nachweisbaren längeren Tradition3 der Thematisierung des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Entwicklung und Beginn der Philosophie im spätarchaischen Griechenland scheint es in der Tat so zu sein, dass Fragen nach ökonomischen,4 sozialen, politischen,5 technologischen6 und juridischen7
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Vgl. Othmar Franz Fett, Der undenkbare Dritte. Vorsokratische Anfänge des eurogenen Naturverhältnisses, Tübingen 2000, 12. Die informative Arbeit von Fett untersucht die Entstehung des philosophischen Denkens in der griechischen Antike vor dem Hintergrund des im 7. und 6. Jh. v. u. Z. aufkommenden kommerziellen Zwischenhandels im Mittelmeerraum. Unter Hinweis auf neuere Ergebnisse der Ökonomiegeschichte und der Phönizierforschung wird die „Tauschvermittlung" als die entscheidende „kulturgenetische" Kraft der Philosophieentstehung thematisiert. Ich werde am Ende dieses kleinen Aufsatzes auf den Versuch, die Genesis der frühgriechischen aus der kommerziellen Welterfahrung abzuleiten, etwas ausführlicher eingehen. Vgl. Tobias Reichardt, Recht und Rationalität im frühen Griechenland, Würzburg 2003, lOff. Reichardt wendet sich entschieden gegen eine Konzeption von Philosophiegeschichte, die im Stil einer von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängigen Geistesgeschichte auf die Thematisierung ihrer äußertheoretischen Voraussetzungen verzichtet oder diese sogar als Ausdruck eines kruden Soziologismus denunziert. Ebenso entschieden weist er auf den Umstand hin, dass die Thematisierung der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Philosophieentstehung selbst ein Problem darstellt, das das Selbstverständnis der Philosophie wesentlich tangiert. Vgl. dazu die oben genannten Arbeiten und die Dissertation von Georg Beck, Polis und Philosophieentstehung. Eine Untersuchung zum Zusammenhang von frühgriechischer Philosophie und Polisentstehung, Osnabrück 1988.
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Ökonomische Prozesse, die der Philosophieentstehung zugrunde liegen, thematisieren ausdrücklich die Arbeiten von Othmar Fett, a. a. O.; Rudolf Wolfgang Müller, Geist und Geld - Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt a. M. 1981; Georg Thomson, Die ersten Philosophen, Berlin 1969; Alfred Sohn Rethel, Warenform und Denkform - Versuch über den gesellschaftlichen Ursprung des , reinen Verstandes' Frankfurt a. M. 1971.
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„Determinanten" dieser „intellektuellen Revolution" heute eher von der Soziologie, 8 der vergleichenden Religionswissenschaft, 9 der Kulturanthropologie,10 der Wissenschaftsge-
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Die Erklärung des Übergangs vom „Mythos zum Logos" in Griechenland aus der Entwicklung des Stadtstaates lässt sich auf die Arbeiten von Emile Dürkheim und Louis Gernet zurückführen (Vgl. Louis Gernet, Les Grecs sans miracle, Paris 1983). Zu nennen sind nebendem vor allem die Arbeiten von JeanPierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt a. M. 1982, und Mythos und Gesellschaft im antiken Griechenland, Frankfurt a. M. 1987, sowie Pierre Vidal-Naquet, „Der Rationalismus der Griechen und die Polis", in: ders., Der Schwarze Denker, Denkformen und Gesellschaftsformen in der griechischen Antike, Frankfurt a. M./New York 1989. Für Vernant ist das „griechische Denken" ein Produkt des Stadtstaates; es ist das politische System der Isonomie oder Demokratie, das sich in den Werken der Vorsokratiker manifestiert. „Der Zusammenhang zwischen der Entstehung der Stadt und der Geburt der Philosophie ist so deutlich, daß wir nicht umhin können, die Ursprünge des rationalen Denkens in den für die griechische Stadt bezeichnenden geistigen und sozialen Strukturen zu suchen." (ebd., 152) Vernant stützt sich dabei auf Studien von Gregory Vlastos und Charles Kahn, so u.a. auf Isonomia, AJph 74 (1953); „Theology and Philosophy in Early Greek Thought", Philosophical Quarterly 2 (1952), 97-123; „Equality and Justice in Early Greek Cosmologies", CPh 42 (1947), 156-178; 337-367 und „Solonian Justice", CPh 41 (1946), 65-83; Charles Kahn, Anaximander and the origins of greek cosmology, New York 1962. Einflussreich ist hier die von Benjamin Farrington verfasste Studie Die Wissenschaft der Griechen, Wien 1947. Farrington betont die enge Bindung der ionischen Philosophie an die neu entstandene Klasse der „manufactures and merchants". Vgl. dazu die oben genannten Arbeiten von Tobias Reichardt und Georg Beck. Vgl. dazu vor allem die Rekonstruktionsversuche der Entstehung vorsokratischer Philosophie in den Arbeiten von Günter Dux, der diesen Vorgang in eine Entwicklungslogik von Natur-, Gesellschafts- und Denkprozessen integriert. In Dux' historisch-genetischer Theorie, die der genetischen Erkenntnistheorie Piagets stark verpflichtet ist, erfolgt die Herausbildung unterschiedlicher kognitiver Niveaus in der Geschichte der Menschheit durch eine in der Praxis situierte Handlungs- und Organisationskompetenz. Dabei verbindet er den „revolutionären" Einschnitt in der Geschichte der Entwicklung der Weltbilder mit der Entstehung der demokratisch verfassten griechischen Polis. Hier treten erstmals im Bewusstsein der Menschen Natur- und Sozialordnung auseinander (Differenzerfahrung). Die veränderte poütische Gestaltungskompetenz der Politen trifft dabei mit zwei weiteren Entwicklungen zusammen, die zu einem Prozess der „abstraktiven Reflexion" führen. Zum einen ist es das Zusammentreffen verschiedener Kulturen im Gefolge von Bevölkerungs- und Siedlungsbewegungen im Mittelmeerraum, das zur Relativierung des eigenen Weltbildes führt, und zum anderen ist es die Wissenszunahme über die Natur, die Prozesse der Säkularisierung und Dezentrierung initiiert. Philosophie verdankt ihre Entstehung somit einer „reflexiven Thematisierung" einer neuartigen sozialen Praxisform. Insofern interessiert hier der Zusammenhang zwischen soziokulturellen Formen und unterschiedlichen Kognitionsniveaus. In der Sprache der von Piaget entliehenen Entwicklungspsychologie fragt Dux also nach denjenigen sozialen Interaktionsformen, die so wirkmächtig waren, dass die ihnen entsprechende „reflexive Abstraktion" zu einer Forcierung der Anforderungen an das „konkrete operationale" Denken führt und Philosophie entstehen lässt. Vgl. dazu Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte - Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. M. 1992. Siehe auch Christopher Hallpike, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1990, und Jean Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, und Klaus Heinrich, der in Anthropomorphe - Dahlemer Vorlesungen 2, Berlin 1986, die Tatsache der Beherrschung verschiedener technai (Astronomie, Agrarwissenschaft, Meterologie, Zoogonie, Ökonomie) durch die Vorsokratiker als „Verfügungsinteresse" thematisiert. Für dieses „Verfügungsinteresse" ist die Abstraktion von den Sphären der Arbeit und der Sinnlichkeit wesentlich. Es konstituiert ein „transzendentales Subjekt" als Herrschaftssubjekt.
ZUM GRÜNDUNGSMYTHOS DER EUROPÄISCHEN PHILOSOPHIE
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schichte,11 den an den medialen Formen sprachlicher und literaler Kommunikation interessierten Sprachwissenschaften,12 der Kulturpsychologie13 oder der sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Altertums- und Geschichtswissenschaft14 gestellt werden, so dass eine angemessene Untersuchung nur noch interdisziplinär erfolgen kann.15
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Hier ist vor allem auf die Arbeiten der amerikanischen Kulturanthropologen Jack Goody und Ian Watt zum Zusammenhang von Schrift und Philosophieentstehung hinzuweisen, die in ihrem paradigmatischen Aufsatz „Konsequenzen der Literalität", in: Jack Goody (Hg.), Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1981, um eine grundsätzliche Beschreibung der Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Kulturen in Bezug auf die Entstehung abstrakten, situationsinvarianten Denkens bemüht sind. Vgl. dazu auch Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt a. M. 1992, und ders., Schriftlichkeit: Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. Havelock spricht von der „Geburt der Philosophie aus dem Geist der Schrift" (1992, 21). Er hat, so eine Bemerkung von Jan Assmann, die „Mythos-Logos Debatte auf eine empirische medienhistorische Basis gestellt." Vgl. Aleida und Jan Assmann, „Einleitung", in: Eric A. Havelock, Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, 20. Zum Problem der Beziehung zwischen Alphabetschriftgebrauch und Philosophie- und Logikentstehung siehe auch Rainer Totzke, Buchstabenfolgen, Schriftlichkeit, Wissenschaft und Heideggers Kritik an der Wissenschaftsideologie, Weilerswist 2004.
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Die These von der Entstehung der frühgriechischen Philosophie als Wissenschaft formulierte schon früh John Burnet in seinem 1892 erschienenen Werk Early Greek Philosophy. Er stellte das Stichwort „Ionian Enlightment" f ü r die weitere Diskussion des Zusammenhang von Philosophie- und Wissenschaftsentstehung zur Verfügung, das dann einige Jahrzehnte später Popper bereitwillig aufgriff, um den Vorsokratikern insgesamt ein positivistisches Wissenschaftsverständnis zu attestieren. Vgl. Karl Popper, „Zurück zu den Vorsokratikem", in: ders., Vermutungen und Widerlegungen - Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Tübingen 1994, 198-242. Vgl. dazu Christian Stetter, dem es in seiner Studie Schrift und Sprache, Frankfurt a. M. 1999 eindrucksvoll gelingt, den Zusammenhang von Schrift-, Sprach- und Weltbild auch in Bezug auf die Entstehung des philosophischen Denkens plausibel zu machen. Stetter geht von einer „gleichsam transzendentalen Funktion" der Alphabetschrift für die Entwicklung formaler Wissenschaften aus. Vgl. dazu Aaron S Lurija, Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, Weinheim 1986. Lurija, dessen in den 50er Jahren geschriebenen Arbeiten erst 1974 in der Sowjetunion publiziert werden konnten, thematisiert den Zusammenhang von mündlicher und Schriftkultur vor dem Hintergrund der Herausbildung „propositionalen Denkens", das in der frühgriechischen Wissenschaft und Philosophie dominiert. Mündlich geprägtes Denken ist nach Lurija eher additiv als subordinativ, eher aggregativ als analytisch, eher redundant und nachahmend als konstativ, eher konservativ und traditionalistisch als kritisch, eher lebensnah als situationsinvariant, eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanzierend und eher situativ als abstrakt.
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Vgl. dazu Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, und ders., „Die Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen", in: Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit, Frankfurt a. M. 1987, 89-128. Meier thematisiert, in kritischer Absetzung von Jean-Pierre Vernant und G. E. Lloyds Arbeit: Magic, Reason and Experience - Studies in the Origin and Development of Greek Science, London/New York 1979, den Zusammenhang von Polisdemokratie und Philosophieentstehung. Einen interdisziplinären Zugang fordert Joachim Ritter in Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003. Nach diesem geht es bei der Erklärung der Entstehung des vorsokratischen Philosophierens weder um die „Entdeckung des griechischen Geistes" noch um die „Loslösung eines sogenannten Rationalen aus einem mythischen Denken" (46). Im Konflikt zwischen Mythos und Logos geht es vielmehr um die Frage, „ob Dichtung und Mythos weiter in der Lage sind, die Bildung zu tragen" und das „Wissen um das das Gemeinwesen gründende göttliche Gesetz (Nomos) in einer lebendigen und tragfahigen Form zu überliefern" (46). Der Philosoph hat das Amt des Dichters zu übernehmen. Unter diesem Aspekt, so Ritter, rücken die verschiedenen Fachdisziplinen Philosophie, Geschichte und Religionswissenschaft zusammen.
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D a s „ B e w u s s t s e i n " für die p h i l o s o p h i s c h e D i m e n s i o n der Fragen nach ihrem e i g e n e n A n fang, ihrem B e g i n n in der Zeit, ist der P h i l o s o p h i e w e i t g e h e n d abhanden g e k o m m e n . M i t der Erosion der G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e in den letzten Jahrzehnten wird z u n e h m e n d auch die historische Perspektive auf p h i l o s o p h i s c h e Probleme d e m Verdacht ausgesetzt, k e i n e für das systematische Verständnis der P h i l o s o p h i e ableitbaren K o n s e q u e n z e n zu besitzen. D i e A u s blendung genetischer M o m e n t e des p h i l o s o p h i s c h e n D e n k e n s wiederholt j e d o c h , w i e schon in der frühen Kritischen Theorie nachdrücklich h e r v o r g e h o b e n wurde, lediglich das ursprüngliche, für s e i n e Entstehung n o t w e n d i g e „ V e r g e s s e n " derjenigen B e d i n g u n g e n , deren Vorhandensein sie sich verdankt. Gerade in der Abstraktion v o n ihrer G e n e s e bleibt sie negativ auf diese b e z o g e n . 1 6 Dabei sind d i e s e Fragen i m D i s k u r s der P h i l o s o p h i e s c h o n seit Piatons und Aristoteles' V e r s u c h e n , das „Staunen" 1 7 und die dazu n o t w e n d i g e M u ß e als V o l l z u g s w e i s e und anthropologische „ B e d i n g u n g " der P h i l o s o p h i e zu e r w e i s e n , in philosophischer Praxis präsent. 1 8 Einen H ö h e p u n k t erlebte die D e c h i f f r i e r u n g des A n f a n g s als einen interessengeleiteten A k t der Konstitution, als an Ort, Z e i t und äußere U m s t ä n d e g e b u n d e n e n V o r g a n g in der A u f k l ä r u n g s p h i l o s o p h i e mit der Entstehung einer pragmatisch verfahrenden „Philosophiegeschichte", die als e i n e erstmals spezialisierte D i s z i p l i n einer Interpretation v o n P h i l o s o -
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So heißt es bei Alfred Sohn-Rethel: „Es muß verstanden werden, daß die Selbständigkeit des abstrakten Intellekts in seiner begrifflichen Reflexion damit verknüpft ist, daß für ihn im Akte seiner genetischen Konstituierung jeglicher Zusammenhang mit seiner Genese zerschnitten ist. Der Akt seiner Konstitution ist in einem der Akt seiner Entfremdung, in welchem er jedweden Merkmals seiner Herkunft und geschichtlichen Natur verlustig geht, und der Akt, worin er das Vermögen der Selbständigkeit erlangt, sieht sich nach einer ihm als seiner ,Logik' angehörenden normativen Natur zu bewegen." (Alfred SohnRethel, „Das Geld, die bare Münze des Apriori", in: Paul Mattik, Alfred Sohn-Rethel, Helmut Hassis (Hg.), Beiträge zur Kritik des Geldes, Frankfurt a. M. 1976, 68f. Zur Ableitung der Philosophie aus Warenproduktion, Geld und Zirkulation vgl. auch Georg Thomson, Die ersten Philosophen, Rudolf Wolfgang Müller, Geld und Geist, Hartmut Apel, Verwandtschaft, Gott und Geld, Frankfurt a. M. 1982, KarlWinfried Schmidt, Logik und Polis, Diss. Hannover 1982. Vgl. dazu Piaton, Theaitet 155d und Aristoteles, Met. 982b 12. Das „Staunen" wird von Aristoteles als „Zweifel und Verwunderung (aporon kai thaumaton)" bestimmt, als eine Erfahrung des Nicht-Kennens (agnoein) einer Sache. „Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen (agnoein)" (Met. 982b). Das philosophische „Staunen" ist hier ein Indiz der Differenz zur gewohnheitsmäßig vollzogenen Praxis. Am Beginn der Philosophie steht also eine Differenzerfahrung, die Prozesse des methodisch geleiteten Suchens, Befragens und Problemlösens initiiert. Nicht „Dass" gestaunt wird, sondern „Wie" unterscheidet Philosophie vom Staunen des Mythos, das eine Verehrung gegenüber dem Wunderbaren zum Ausdruck bringt. Eine späte Variante, die philosophische Haltung im Staunen zu fundieren, findet man bei Heidegger. In dem 1955 gehaltenen Vortrag Was ist das - die Philosophie? beantwortet er die Frage nach der Philosophieentstehung unter Verweis auf die zentrale Kategorie der „Stimmung". „Schon die griechischen Denker Piaton und Aristoteles haben darauf aufmerksam gemacht, daß die Philosophie und das Philosophieren in die Dimension des Menschen gehört, die wir Stimmung (im Sinne der Ge-stimmtheit und Bestimmtheit) nennen" (Martin Heidegger, Was ist das - die Philosophie?, Stuttgart 1984, 24). Das „Erstaunen" wird zu einem notwendigen Ferment alles Philosophierens, es wird zur arche, die „jeden Schritt der Philosophie durchherrscht." Erst durch die Abstraktion von der Wirklichkeit als ganzer, die in der Frage „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" zum Ausdruck kommt, ereignet sich die „Entstehung" der Philosophie als „Seinsgeschick". Der bloße Umstand, „daß Seiendes ist", versetzt einen Menschen in Erstaunen, wenn er sich das Seiende zuvor als Nichtseiendes vorgestellt hat, von der Existenz alles Existierenden abstrahiert hat.
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phie folgt, die deren Vergangenheit und ihren Beginn in der Zeit19 vorstellbar und deren Geschichtserzählung möglich macht.20 Im philosophiehistorischen Diskurs Ende des 18. Jh. findet auch eine Neubelebung der auf Aristoteles und Diogenes Laertios zurückgehenden Tradition statt, der Beschreibung des Anfangs der griechischen Philosophie in der Regel einen Abschnitt über die vorgriechische Philosophie voranzustellen - Philosophie bei den Chaldäern, Persern, Arabern, Indern, Chinesen, Ägyptern und Juden - ein Verfahren, das weniger auf einen Bruch mit den Vorläufern als auf eine Kontinuität verweist und das dann im 19. Jh. zu Gunsten der These der Originalität und Exklusivität des griechischen Anfangs aufgegeben wurde und in der Behauptung eines „griechischen Wunders"21 kulminiert. Die Rede vom „Wunder des griechischen Geistes" durchzieht dann in den unterschiedlichsten Versionen die Philosophiegeschichte, hervorgehoben werden folgende Topoi: günstige Umstände,22 glückliche Begabung,23 geniales Volk, angeborene Neugierde, besondere klimatische und geographische
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Der Vergangenheitsbezug der Philosophiegeschichte besteht dabei darin, das Gewesene als Vergangenes zu präsentieren, so dass das Einnehmen einer historischen Einstellung impliziert, dieses gerade nicht zu vergegenwärtigen bzw. zu aktualisieren. Dazu benötigt die Philosophiegeschichte einen Begriff von Geschichte, der es erlaubt, einen größeren Zusammenhang, in dem das jeweilige Interpretandum steht, darzustellen. Darin liegt offensichtlich der entscheidende Unterschied zur hermeneutischen Vergegenwärtigung des Vergangenen, deren Vorgehen ihren Sinn allein aus der Situation des Hermeneuten bezieht. Die Entstehung des historischen Interesses am philosophischen Wissen dokumentiert ausdrücklich das von Wilhelm Gottlieb Tennemann 1798 herausgegebene, elf Bände umfassende Werk Geschichte der Philosophie, das diesen Titel erstmals in der Geschichte der deutschen Literatur trägt. Tennemann bekennt im Vorwort, dass die historische Betrachtung der Philosophie ein schwieriges Unternehmen sei, das besonderen Regeln unterstehe: So heißt es, dass neben der Wiedergabe der philosophischen Systeme der Forscher zugleich verpflichtet sei „seinen beobachtenden Blick immer auch zugleich auf das Leben, den Geistescharakter und Bildung der Denker, auf alle Zeit- und Ortsverhältnisse, auf ihre Verbindungen zu anderen Denkern, auf ihre Beschäftigungen zu wenden, und sich ein treues Gemälde von dem ganzen politischen, religiösen, moralischen und wissenschaftlichen Zustand jeder Zeit zu entwerfen." (Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie 1, Leipzig 1798, LIX.) Vgl. dazu Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 1990.
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Die Rede vom „griechischen Wunder" betont zugleich den autochthonen Charakter der griechischen Kultur- und Philosophieentstehung. Ein prominenter Vertreter dieser Auffassung war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der von den Semiten und Ägyptern ausdrücklich feststellte, sie hätten „den Hellenen trotz ihrer alten Kultur nichts abgeben können als ein paar Handfertigkeiten und Techniken, abgeschmackte Trachten und Geräte, zopfige Ornamente, widerliche Fetische f ü r noch widerlichere Götzen" (Ulrich von Willamowitz-Moellendorf, Staat und Gesellschaft der Griechen, Berlin 1910, 26). Diese Formulierungen spiegeln sich auch in jenen klassizistischen Typisierungsversuchen wider, die, zusammen mit antisemitischem Gedankengut, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die deutschen Altertumswissenschaften durchsetzt hatte, der „griechischen Eigenart" das Wort reden. So kann man etwa bei R. Harder lesen: „Die Natur habe den Menschen in zwei Anläufen geschaffen, das eine Mal als den allgemeinen Menschen und ein zweites Mal in einer höchstentwickelten, vielleicht auch einseitig übertriebenen Sonderform, den Griechen." (Richard Harder, Die Eigenart der Griechen. Eine kulturphysiognomische Skizze, Freiburg i. Br. 1962, 62). Vgl. Wilhelm Capelle, Geschichte der Philosophie, Berün 1953, Band I, 19. Vgl. Eduard Zeller, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Essen 1984, 21.
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Bedingungen,24 Eigenart des griechischen Geistes bis hin zur nationalsozialistischen Okkupation des Anfangs der Philosophie bei Oskar Becker, der davon sprach, dass die griechische Philosophie die Philosophie eines „rasseverwandten Volkes"25 sei. Selbst in Publikationen jüngeren Datums spricht sich die Kapitulation des Interpreten vor dem Versuch einer Herleitung des Anfangs der Philosophie von ihren verschiedenen Bedingungen recht drastisch aus. So bei Jaap Maansfeld, der sich des der Sprache der Biogenetik entlehnten Begriffs „der Mutation des Geistes"26 bedient. Die Erzählung vom Wunder oder den besonders glücklichen Umständen verwandelt jedoch den Anfang der Philosophie in ein nicht begreifbares Mysterium; anbetende Deutung wäre, wie überhaupt gegenüber Wundern, dann das einzig angemessene Verhalten. Die Philosophie müsste paradoxer Weise dann kapitulieren, wenn sie sich selbst angemessen ihres Beginns bewusst werden will. Ihr Ursprung wäre dann konsequenterweise ein Gegenstand heiliger Scheu, ihre frühesten Texte wären als Reliquien ihres Ursprungs zu frommer Meditation und tiefsinniger Exegese bestimmt. Die Antworten auf die Fragen nach dem Wo, Wann und Warum der Entstehung der Philosophie befriedigen jedoch nicht primär den Wissenstrieb des Historikers, sondern sie betreffen in erster Linie das Selbstverständnis der Philosophie. Von diesem ist es abhängig, ob die „Verflechtung" philosophischen Denkens mit gesellschaftlichen Voraussetzungen überhaupt als ein philosophisches Problem anerkannt wird. Ein zentrales Problem, das sich daraus ableitet, besteht in der Frage, inwiefern die Thematisierung historischer Entstehungsbedingungen von Philosophie ein philosophisches und nicht ein in die Geschichts- und Kulturwissenschaften zu delegierendes Unternehmen darstellt. Der Beginn von Philosophie ist nicht als ein bloßes Faktum zu registrieren, seine Datierung ist Ergebnis einer nachträglichen Setzung, indem jemand benannt wird, der zuerst eine philosophische Lehre vertreten hat oder eine philosophische Einstellung gelebt hat. Geschichten vom Anfang der Philosophie sind abhängig von der Definition der Philosophie durch diejenigen, die diese Geschichte erzählen. Die Rede vom Anfang der Philosophie in der Geschichte ist deshalb zutiefst aporetisch.27 Sie erfolgt immer postfestum, da es jedem wirklichen Anfang eigentümlich ist, dass er denen, die ihn setzen, im Vollzug dieser Praxis nicht als dieser bewusst ist. 24
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Vgl. dazu schon Aristoteles, Politik, 1327 b20ff.: „Die Völkerschaften nämlich, die in den kalten Gegenden Europas wohnen, sind zwar voll von Mut (thymos), aber weniger mit Denkvermögen (dianoia) und Kunstfertigkeit (techne) begabt. Das Geschlecht der Griechen vereinigt die Vorzüge beider, denn es ist voll Mut und zugleich mit Denkvermögen begabt." Vgl. Oskar Becker, Griechische Philosophie. Kriegsvorträge der Rheinischen-Friedrich-WilhelmUniversität Bonn, Heft 60, 1942, 26: „Die griechische Philosophie ist die Philosophie eines uns rasseverwandten Volkes. [...] es ist dieselbe geschichtliche Sendung, mit der die altionische Philosophie in dem ,schmalen Saum, dem Lande der Barbaren angewoben' begann: dieselbe, für die unsere Soldaten im Osten gegen die neuen bolschewistischen Barbaren kämpfen, fallen und siegen." Vgl. dazu auch Georg Beck, Polis und Philosophieentstehung, 150. Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker I u. II, Stuttgart 1983,11. In der Reflexion auf die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit wird sich dabei das philosophische Denken seiner Bindung an einen Zustand bewusst, dessen Vorhandensein es seine Existenz verdankt. Dies ist, um in der Sprache der Philosophie zu bleiben, ein Zustand der Entzweiung des Lebensvollzugs (Differenzerfahrung). Die Thematisierung eines Gesamt der Natur in der frühgriechischen Philosophie ist somit Moment eines Entfremdungsprozesses zwischen Mensch und Natur, so dass jeder Begriff von „Natur" die Entzweiung mit ihr voraussetzt. Deutlich wird dieser Zusammenhang bei Schelling in der Schrift Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt (Jena 1803) ausgesprochen: „Wie eine Welt außer uns war, wie eine Natur und mit ihr Erfahrung möglich sei, diese Frage verdanken wir der Philosophie, oder vielmehr mit dieser Frage entstand Philosophie. Vorher hatten die Menschen im
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Die Bestimmung des Anfangs erfolgt demnach nicht unabhängig vom Selbstverständnis des Philosophen, der diese Bestimmung vornimmt. Aristoteles' Vorgehen in Bezug auf die Arche-Bestimmungen der Vorsokratiker28 ist hierfür repräsentativ. Ob aber die Reflexion auf die Genesis der Philosophie zu den Aufgaben der Philosophie zählt und auf welche Weise ökonomische, soziale und politische Faktoren zu ihren eigenen Bedingungen zählen, sind philosophische Fragen. Es ist genuine Aufgabe der philosophischen Reflexion, darüber ein Urteil zu fällen, was daraus für ihr Selbstverständnis folgt. 29 Bejaht sie diesen Zusammenhang, steht sie vor dem Problem, die Verbindlichkeit ihrer Aussagen über ihr kulturelles Umfeld zu begründen, ohne dabei zu vernachlässigen, dass ihre Urteile über die Verbindlichkeit dieser Urteile selbst kultureller und sozialer Herkunft sind. Zwischen der Skylla des historischen Relativismus und der Charybdis dogmatischer Festlegung ist hier zu vermitteln. Auch Foucaults Versuch, den Aporien des historischen Denkens mit dem Projekt eines genealogischen Diskurses zu entgehen, für das die Perspektive der Herkunft und nicht die des Ursprungs maßgeblich ist, der selber ungeschichtlich gedacht wird, macht Anstrengungen nicht überflüssig, die Thematisierung der Herkunft als Anfang von etwas Neuem der Alternative, entweder Ergebnis einer bewussten Stiftung oder Vollzug eines Ereignisses zu sein, zu entwinden. Orientierung bietet hier schon Hegel mit seiner paradigmatischen Feststellung, dass das „Verhältnis der politischen Geschichte, der Staatsverfassungen, Kunst und Religion zur Philosophie" nicht als ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bzw. ein Grund-FolgeVerhältnis zu denken sei, sondern einzig und allein nach der „Totalität" und „Repräsentation" von „Ganzes und Teil" zu begreifen ist.30 Zu vermitteln ist also das Apriori des Grundes, d. h. die Unableitbarkeit der Philosophie, mit dem Faktum ihrer historischen Entstehung und Entwicklung. In seiner Philosophiegeschichte, die den notwendigen Entwicklungsgang (philosophischen) Naturzustande gelebt. Damals war der Mensch noch einig mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt" (12f.). Daher müsse die Philosophie „jene ursprüngliche Trennung voraussetzen, denn ohne sie hätten wir kein Bedürfnis zu philosophieren" (14). Nur aufgrund der Entzweiung können wir uns von der Versöhnung einen Begriff machen, wie wir umgekehrt jene nicht denken können, ohne Versöhnung zu entwerfen.
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Vgl. dazu Pierre Aubenque, „Philosophie und Philosophiegeschichte bei Aristoteles", in: Volker Caysa/Klaus-Dieter Eichler (Hg.), Philosophiegeschichte und Hermeneutik, Leipzig 1996, 17-26. Bei Hegel heißt es: „Jede Philosophie ist Philosophie ihrer Zeit, sie ist Glied in der ganzen Kette der geistigen Entwicklung." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke in 20 Bänden, hg. v. Karl M. Michel und Eva Moldenhauer, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1986, 65.) Hegels Kritik des „Räsonnements aus äußeren Gründen" ist keine Aufhebung der Notwendigkeit des Begründens als Praxis wissenschaftlicher Erklärung. Vielmehr wird das Ableiten aus Gründen unterschieden von der Bestimmung des „zureichenden Grundes". „Das Aufsuchen und Angeben von Gründen ist darum ein endloses Herumtreiben, das keine letzte Bestimmung enthält; es kann von allem und jedem einer und mehrere gute Gründe angegeben werden [...] es können eine Menge von Gründen vorhanden sein, ohne daß aus ihnen etwas erfolgt. [...] in ihrer Form gilt der eine so gut als der andere, weil sie nicht den ganzen Umfang der Sache enthalten, sind sie einseitige Gründe, [...] wovon keiner die Sache, welche ihre Verknüpfung ausmacht und sie alle enthält, erschöpft; keiner zureichender Grund ist, d. h. der Begr i f f (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke in 20 Bänden, Bd. 6, 108). Die äußere Reflexion greift ein Moment der Sache f ü r sich heraus, wobei jedes Moment eines Begriffs zu einem äußeren Grund gemacht werden kann. Der zureichende Grund einer Sache ist der „ B e g r i f f ' , der zureichende Grund und die Gründe der äußeren Reflexion stehen nicht auf einer Ebene, sie sind nicht gleichwertig. Der Grund der äußeren Reflexion entspricht seinem Begriff nicht. Nur der Grund ist das Setzen einer Folge. Vgl. dazu auch Georg Beck, Polis und Philosophieentstehung, 50.
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des philosophischen Denkens in der Geschichte rekonstruiert, bezieht sich Hegel deshalb auch konsequent primär auf das Textkorpus vergangener Philosophen und neben anderen Quellen auch auf Berichte von Geschichtsschreibern, die die Gedanken der Philosophen gewissermaßen als die Tatsachen dieser Geschichte dokumentieren.31 Aufgabe der philosophierenden Geschichtsbetrachtung ist es deshalb, zu unterscheiden zwischen dem äußeren Schicksal einer Wissenschaft und der Geschichte des Gegenstandes selbst. Das gelehrte objektive Interesse ist ein Interesse an der „äußeren Geschichte", die als eine Geschichte des Entstehens, des Verbreitens, des Blühens und des Wiederauflebens der Philosophie, aber auch als eine Geschichte ihrer Lehrer, Beförderer und Gegner geschrieben werden kann. Im Grunde lassen sich aus der Sicht der Hegeischen Logik die vielfachen Versuche der Ableitung philosophischen Denkens aus kulturellen und sozialen Bedingungen als „äußere Reflexion" beschreiben, die den generellen Einwänden, die ihr gegenüber vorgebracht werden können, subsumierbar sind. Wesentlich ist hier die Unterscheidung von Grund und Bedingung.32 Es gehört zum Defizit der Reflexionslogik, dass nicht entschieden werden kann, welcher der angeführten Gründe zureichender, also notwendiger Grund der Sache ist, und welche Gründe nur Voraussetzungen, Bedingungen, Möglichkeiten benennen. Es ist der Voluntarismus des Begründens, der die „Entscheidung darüber, welche Gründe gelten sollen, in das Subjekt verlegt und es auf dessen individuelle Gesinnung und Ansichten"33 ankommen lässt. Die Beantwortung der Frage, was zureichender Grund und was Bedingung sei, ist also abhängig vom Begriff der Philosophie. Nun unterstellt Hegels Konzeption einer Philosophiegeschichte bekanntlich Annahmen, die obsolet geworden sind. In seiner Nachfolge wird Kritik an der Annahme eines teleologischen Verlaufs des Geschichtsprozesses geübt und das Modell der Vermittlung von Wahrheit und historischer Perspektivität außer Kurs gesetzt.34 Nichtsdestotrotz bleibt das Problem virulent, sich der nicht nur theoretischen Bedingungen des Philosophierens zu vergewissern. In vielen der bisher oft nur stichpunktartig vorgestellten Konzeptionen wird der Beginn der philosophischen Untersuchungen zurückgeführt auf eine Erfahrung der „Entzweiung",35
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Für Hegels Konzept der „Geschichte der Philosophie" gilt die in der politischen Historiographie gängige Unterscheidung von Geschichte als dem Gesamt der res gestae (Begebenheiten und Taten) und der Geschichte als historia rerum gestarum (der geordneten Erzählung der Begebenheiten) nicht, weil hier die res gestae selbst in Form eines philosophischen Textkorpus vorliegt. Die Bedingungen begründen nichts, aber wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, tritt der Grund nicht in Existenz. Deutlich wird diese Unterscheidung schon in Piatons Phaidon. Sokrates spricht im Gefängnis mit seinen Freunden über Anaxagoras und kritisiert, dass in dessen Philosophie die Vernunft die Ursache von allem sei, er aber im einzelnen nicht sagen kann, was ζ. B. an den Planetenbahnen vernünftig ist. Der Bezug auf seine eigene Situation macht es noch deutlicher: Der Grund, warum er nicht flieht, liegt nicht darin, dass er aus Knochen, Muskeln und Organen besteht, sondern darin, dass die Athener es für gut befunden haben, ihn zu verurteilen, und er es für gut hält, die Gesetze zu befolgen. Bedingung ist also dasjenige, ohne welches der Grund nicht Grund sein könnte. Der zureichende Grund einer Sache ist ihr Zweck. Darin liegt nun wiederum der Grund, weshalb die Frage nach der Entstehung der Philosophie die Beantwortung der Frage nach ihrem Wesen immer schon voraussetzt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke in 20 Bänden, Bd. 8, §121. Vgl. dazu Klaus-Dieter Eichler, „Wie ist Philosophiegeschichte als systematische Disziplin möglich?", in: Volker Caysa/Klaus-Dieter Eichler, Philosophiegeschichte und Hermeneutik, 26-46. Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Differenz des Fichtschen und Schellingschen Systems der Philosophie", Werke in 20 Bänden, Bd. 2: Jenaer Schriften, Frankfurt a. M. 1986,20.
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einer Differenz im Lebensvollzug, 36 in der Regel aus Objektivierungs- und Entfremdungstendenzen, 37 die das Bedürfnis nach Philosophie als dem Mittel ihrer Lösung und Mediatisierung entstehen lassen. Der Philosophie sind damit ihre Probleme vorgegeben, sie wurzeln in den Krisen menschlicher Praktiken, Erfahrungen und Einstellungen. Auf eine Form dieser praktisch erfahrenen Widersprüche und ihrer möglichen philosophischen „Lösung" möchte ich nun zum Schluss thesenartig eingehen. Insofern komme ich auf den am Anfang des Artikels erwähnten Ansatz zu sprechen, der die Herausbildung der europäischen Philosophie an der Westküste Kleinasiens aus Prozessen der Verkehrsökonomie und damit der Warenzirkulation und der kommerziellen Welterfahrung der Händler und der im Auftrag der Gemeinwesen reisenden theoroi ableitet. Eine mögliche Konsequenz dieser „Skizze" besteht in dem Nachweis der Insuffizienz dieses Ansatzes. Auf konkrete Nachweise dieser eher idealtypisch vorgetragenen Argumentation wird hier aus Platzgründen verzichtet. Es gehört zur communis opinio, dass ohne Bekanntschaft mit einer Mannigfaltigkeit verschiedener Lebensweisen, Mythen und kultischer Praktiken die Entstehung der frühgriechischen Philosophie in Ionien nicht möglich gewesen wäre. Sie kann nicht entstehen, wenn für das Bewusstsein der Gruppe und des Einzelnen nur die eigene Welt, nur der eigene Kult und der sie „erklärende" Mythos besteht. Nur in der Abstraktion von der jeweiligen Exklusivität der eigenen Praxis wird das eigene Gemeinwesen vergleichbar mit jedem anderen. Dieser Abstraktion muss eine praktische Erfahrung zugrunde liegen. Es sind nun primär die kommerzielle und literarische Welterfahrung (Historie), die Etablierung eines durch Warenaustausch vermittelten Marktes, durch die die eigene bornierte Welt als eine von und neben vielen erscheinen kann. Die Aufhebung der unmittelbaren Identifikation mit dem eigenen Gemeinwesen ist u. a. das Resultat kommerzieller Aktivitäten, die es erforderlich machen, einen Standpunkt jenseits des eigenen und jedes anderen besonderen Gemeinwesens einzunehmen, in dem die besonderen Gemeinwesen als bloße Exemplare einer einheitlichen Welt und die Mythen dieser Gemeinwesen als gleichgültige Besonderheiten, als Exemplare „illusionären Selbstbewusstseins" der einzelnen Gemeinwesen erscheinen können. Die Negation mythischen Denkens in der entstehenden ionischen Naturphilosophie ist nun aber kein direktes Resultat einer kommerziellen und literarischen Welterfahrung. Es ist
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Vgl. dazu Joachim Ritter, „Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles" und „Aristoteles und die Vorsokratiker", in: ders., Metaphysik und Politik. Frankfurt a. M. 2003. So führt die Entstehung des privaten Eigentums an Grund und Boden zur ökonomischen Versachlichung der Beziehungen und zur Möglichkeit der Ausprägung eines kommerziellen Interesses an der Produktion. Die Zunahme der durch den Tausch vermittelten Produktion führt zur Herausbildung des Markts als einem universellen Leveller der konkreten Produkte. Insofern gibt es substantielle Analogien zwischen den intersubjektiven Beziehungen des marktlosen Lebens und dem mythischen Denken sowie den intersubjektiven Beziehungen des Marktes und der ionischen Naturphilosophie. In einer am Gebrauchswert orientierten autarken Produktion erfolgen Produktion und Konsumtion in der Regel gemeinsam. Die Dominanz persönlicher Beziehungen zwischen den Individuen impliziert die Tatsache, dass die „Individuen" füreinander arbeiten. Die eigenen Bedürfnisse des Gemeinwesens bestimmen, was produziert wird; in keinem Moment seiner Bewegung ist das konkrete Gut als eine bloße Sache gegenüber seinen konkreten persönlichen Funktionszusammenhängen objektiviert. Die Konstitution der Sphäre einer öffentlich betriebenen Beratschlagung über die Angelegenheiten des Gemeinwesens in der Polis führt zur Versachlichung der Beziehungen zwischen den Politen, die ihnen als unabhängige Sphäre ihres Daseins gegenübertreten. Die Inthronisation der Dike als allgemeingültiges Prinzip der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen führt zur Abstraktion von den je verschiedenen Besonderheiten der Rechtssubjekte.
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eine Besonderheit der durch Warenzirkulation und händlerische Aktivitäten vermittelten Kenntnis anderer Gemeinwesen, das dieses gesammelte Wissen ein bloßes Wissen von Phänomenen darstellt, das die Unterschiede der Gemeinwesen auf sich beruhen lässt. Die Historie stellt die mannigfaltigen Erfahrungen fremder Welten dar, beschreibt die Überzeugungen und Lebensweisen wie die unterschiedlichen Naturauffassungen, ohne sie zu beurteilen oder nach ihrer Erklärung zu fragen. Sie verhält sich positivistisch zu den Erfahrungen der Relativität der Mythen und Kulte. So ist es ihr unmöglich, sich mit irgendeiner der fremden Welten besonders zu identifizieren oder von einer besonders zu unterscheiden. Dieses notwendige unparteiische Verhalten konstituiert ein objektives, positives Wissen von den mannigfaltigen Welten, das einer Universalisierung und extensiven Zunahme potentiell zugänglich ist. Das Wissen des Händlers und der literarischen Welterfahrung hat einen empirischen Inhalt, verdankt sich eigener Anschauung und entbehrt weitgehend jeder kritischen Dimension. Es ist Wissen von Phänomenen, das die Unterschiede auf sich beruhen lässt, eine gleichmäßige Darstellung des Ungleichen. Indem die Historie Welten darstellt, ohne sich mit einer von ihnen zu identifizieren, negiert sie jedoch die unmittelbare Identifikation einer jeden Welt mit sich selbst, behauptet sie indirekt eine abstrakte Identität der Welten; jede Welt ist für sich etwas Besonderes, Unvergleichliches - aber gerade darin ist kein Unterschied zwischen ihnen. Indem die Historie das Unterschiedliche darstellt, macht sie es vergleichbar, ermöglicht sie empirische Verallgemeinerung; sie zeigt in den Verschiedenheiten der Gemeinwesen, Lebensweisen und Überzeugungen gewisse Allgemeinheiten trotz lokaler Unterschiede. Dabei optiert sie nicht für eine Aufhebung der Besonderheiten. Damit verhält sich die literarische Historie zu den Besonderheiten gerade wie der Markt. Auch dieser setzt ohne besondere Geltung irgendwelche Gemeinwesen von beliebiger Besonderheit in Beziehung zueinander, er abstrahiert praktisch von ihren Besonderheiten und relativiert sie praktisch, setzt beliebige Teile zueinander ins Verhältnis, konstituiert einen Zusammenhang der Dinge, der ihnen nicht aufgrund ihrer Besonderheit zukommt. Jedes Gemeinwesen verfügt über ein besonderes mythisches „Selbstbewusstsein", hat seine eigenen Gesetze und Überzeugungen und pflegt ein unmittelbares exklusives Verhältnis zu den Göttern. Der kommerzielle Verkehr macht den Händler zwar mit einer Mannigfaltigkeit von Mythen bekannt, mit Kulten fremder Gemeinwesen, dabei bleibt er aber als Gast ein Fremder, er nimmt an der kultisch vermittelten Praxis der jeweiligen Gemeinwesen als Beobachter und nicht als Kultgenosse teil. Durch die Bekanntschaft mit den diversen fremden Welten kann er nicht umhin zu bemerken, dass die Mythen der anderen so verschieden sind wie die Lebensweisen. Dadurch abstrahiert die Historie von der Wahrheitsbehauptung, mit der jedes Gemeinwesen sich zum eigenen Kult verhält, und durch diese Abstraktion negiert sie an sich die „Wahrheit" der jeweiligen Mythen, negiert sie die Unmittelbarkeit ihrer „Wahrheit". Sie beschreibt die Kulte und Mythen als subjektive menschliche Institutionen und Meinungen, so wie sie die fremden Lebensverhältnisse jeweils als subjektive menschliche Sitten beschreibt: Das ist keine radikale Negation und Relativierung, sondern eine, die auf der Ebene der Deskription verbleibt. Die Historie erklärt nicht für subjektiv, was sie als subjektiv beschreibt, sie lässt es offen, sie verallgemeinert deskriptiv, sie zeigt, dass alle Völker Götter haben und Kulte besitzen, sie zeigt aber auch, dass verschiedene Vorstellungen sich trotz ihrer jeweiligen Besonderheit entsprechen. Sie enthält sich dabei des Urteils über Wesen und Einheit der Götter bzw. des Urteils über das Wesen des mythischen Denkens, der Erklärung dieses Denkens, sie impliziert eine positivistische vergleichende Phänomenologie des mythischen Denkens.
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Im Unterschied dazu schließt die Aufhebung des mythischen Denkens die Aufhebung des eigenen mythischen Denkens, der exklusiven Mythologie des eigenen Gemeinwesens ein. Die Respektierung fremder Mythen und Lebensweisen relativiert die Besonderheiten der eigenen und widerspricht dem schlichten Selbstverständnis des ursprünglich autarken Gemeinwesens, das seine Mythen als verbindliche, nicht relativierbare erfährt, ohne eine Differenz von Besonderem und Allgemeinem zu thematisieren. Die Negation mythischen Denkens teilt in gewisser Hinsicht den Standpunkt der kommerziellen und literarischen Welterfahrung, die Besonderheiten durch Relativierung anzuerkennen bzw. durch Anerkennung zu relativieren, radikalisiert aber diesen Standpunkt. Während der Handel die Besonderheiten anerkennt, indem er sie relativiert, setzt die Negation die Besonderheiten absolut und entspricht damit dem ursprünglichen Selbstbewusstsein der einzelnen Gemeinwesen, dem seine Besonderheiten nicht relativierbar sind. Die Negation unterscheidet sich von diesem mythischen „Selbstbewusstsein" nur darin, jede Besonderheit absolut zu setzen, während das einzelne Gemeinwesen jeweils nur seine eigene Besonderheit absolut setzt. Auf dem Standpunkt der kommerziellen Relativierung der Unterschiede ist eine positive Integration der unterschiedlichen Welten und ihrer Mythen nicht möglich. Dass der Markt jedoch trotz universeller Erfahrung der Besonderheiten der Mythen keine Integration im Modus des Mythos vollzieht, ist kein offenkundiger Mangel. Er bedarf der Einheit der Mythen nicht, die Relativierung ist die hinreichende ideelle Widerspiegelung und Affirmation der kommerziellen Beziehungen. Zwar findet durch die kommerzielle Beziehung praktisch eine Scheidung zwischen dem statt, was kommerziell mittels Handel übertragbar ist, d. h. in den Prozess der Zirkulation eingehen kann, und dem, was nicht übertragbar, d. h. nicht in den Prozess der Zirkulation eingehen kann. Übertragbar sein und zirkulieren können die Waren, das praktische Wissen in objektivierter Form, wozu die „Erfindung" der Schrift eine notwendige Voraussetzung darstellt, die Erfahrung von Sachverhalten, die Mythen als subjektive Meinungen in Form des Redens über sie. Unübertragbar ist der Mythos in seinem jeweiligen existentiellen Sinn, als Lebensorientierung, unübertragbar ist die „subjektive Wahrheit" des Mythos, die Exklusivität der Beziehungen zu den Göttern, unübertragbar ist der Kult. Der Weltmarkt ist keine Einheit des mythischen Denkens, ist keine Kultgemeinschaft universellen Ausmaßes, er ist kein Gemeinwesen mit autarker Struktur und kann es nicht sein; demnach wird das Übertragbare durch die kommerzielle Praxis von dem Unübertragbaren, dem Besonderen getrennt, wird von seinen ursprünglichen Zusammenhängen getrennt und von seiner Bedeutung für das jeweilige Gemeinwesen abstrahiert. Diese praktische Abstraktion ist an sich ein Widerspruch, sie ist die praktische Aufhebung der ursprünglichen Identität von Besonderem und Allgemeinem. Würde dieser Widerspruch vorbehaltlos und konsequent reflektiert, würde gefragt, wie es möglich ist, dass Gemeinwesen miteinander kommerziell verkehren, die je für sich Totalitäten von Besonderheiten sind und deren Lebensorientierungen einander ausschließen, so würde die Unwahrheit des mythischen Denkens erkannt und würde sich die Natur selbst als das abstrakt Allgemeine beliebiger Gemeinwesen zeigen. Wer das mythische Denken negiert, setzt sein eigenes Gemeinwesen einem beliebigen fremden, gleichgültigen gleich. Der Handel bedarf dessen nicht, er funktioniert, indem jedes Gemeinwesen seinen Bezug auf sein Besonderes, sein Unübertragbares behält. Die kommerzielle Beziehung bedarf der Kultgemeinschaft nicht, sie abstrahiert praktisch von ihr. Das Fehlen der kultisch-mythischen Einheit des Weltmarktes ist kein Defekt, der ersetzt werden müsste durch die abstrakte Einheit des objektiven Wissens von der Natur. Insofern ist die Herleitung der ionischen Philosophie aus den Erfahrungen des kommerziellen Verkehrs nicht ausreichend, um die Intention eines Wissens zu erklären, das widerspruchslos, objektiv, unpersönlich und allgemein ist.
SIEGFRIED WOLLGAST
Gabriel Wagner (Realis de Vienna) als Vertreter der radikalen weltlichen Frühaufklärung in Deutschland
Die deutsche Reformation im 16. Jahrhundert durch Martin Luther bildete einen wesentlichen Ausgangspunkt für die deutsche Frühaufklärung. Sie war etwa 1672 bzw. 1675 bis 1721 bzw. 1723 wirksam, umfasste eine weltliche und eine geistliche Richtung. Beide enthalten auch eine radikale Strömung. Zu der im weltlichen Bereich gehört Gabriel Wagner. 1 Er wurde wohl um 1660 in Quedlinburg, der späteren Geburtsstadt Friedrich Gottlieb Klopstocks, geboren. 2 Sein genaues Geburts- und Todesdatum ist nicht mehr festzustellen, wie unsere Kenntnis seiner Lebensschicksale überhaupt große Lücken aufweist. Nach eigener Aussage wollte Gabriel Wagner von Jugend an Mediziner werden. Seine Eltern hingegen wollten aus ihm einen Geistlichen machen. 3 Auch über Wagners Universitätsstudien ist wenig Gewisses festzustellen. Dass er „viele Universitäten besucht" hat, 4 ist nicht erweisbar. Sicher ist, dass sich Wagner im Winterse-
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Vgl. Siegfried Wollgast, „Die deutsche Frühaufklärung. Grundlagen - Aspekte - Schlußfolgerungen", in: Die Aufklärung in der geistigen Auseinandersetzung unserer Tage. Kolloquium am 2. Juni 1999 in Dresden, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. 2000, 53-87. Vgl. zum ff.: Gabriel Wagner (1660-1717), Ausgewählte Schriften und Dokumente, mit ein. Einleit. versehen und hg. von Siegfried Wollgast, Stuttgart/Bad Cannstatt 1997 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung, I, 3); Siegfried Wollgast, „Die Reihe .Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung' unter besonderer Berücksichtigung von Gabriel Wagner (um 1660- nach 1717)", in: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meincke, T. II, Amsterdam-Atlanta, G A 1997(= Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 25), 1013-1053. Im Brief an Leibniz vom 18.(28.)11.1691 schreibt Otto Mencke, Wagner sei „ein mensch von 30 jähren". Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Rhe I, Bd. 7, Berlin 1964, 440. Benutzt wird im ff. auch der in der Niedersächsischen Landesbibliothek zu Hannover (NLB) erhaltene Leibniz-Briefwechsel (L Br), hier: NLB, L Br. 971, Bl. 1. Laut Mitteilung der Superintendentur des Kirchenkreises Quedlinburg finden sich in den Quedlinburger Kirchenbüchern keine Aufzeichnungen über Wagner. NLB, L Br 971, Bl. 13 verso. Vgl.: „Gabriel Wagner an Gottfried Wilhelm Leibniz 10. Nov.1696", in: Materialisten der Leibnizzeit (Friedrich Wilhelm Stosch, Theodor Ludwig Lau, Gabriel Wagner, Urban Gottfried Bucher). Ausgewählte Texte, zusammengestellt u. eingeh von Gottfried Stiehler, Berlin 1966,143-147, hier 146. Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Τ. IV, Leipzig 1751, Sp. 1772. Ebenso: Heinze, „Gabriel W. (Realis de Vienna)", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XL, Berlin 1896 (Nachdruck Berlin 1971), 498f. Vgl. Jacob Friederich Reimmann, Versuch einer Einleitung in die HISTORIAM LITERARIAM derer Teutschen [...] des dritten und letzten Theils Anderes Haupt-
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mester 1686 an der Leipziger Universität inskribieren ließ und hier am 13. Januar 1689 die Bakkalaureats- und Magisterwürde erwarb. 5 Seine erste Schrift gegen Christian Thomasius gibt ihn als Doktor beider Rechte und Student der Philosophie aus. Dies kann auch sinnbildlich gemeint sein, da er sich sonst nie so nennt. Thomasius berichtet, Wagner sei ihm „in Leipzig so familiär gewesen / daß er mir seine meiste Heimligkeiten vertraut / ich ihn auch ausser dem besser als er vielleicht sich selbst gekandt". Weiter bezeichnet er ihn „als mein guter Freund / und der täglich Gelegenheit gehabt mündlich mit mir zu conferiren [.. .]". 6 Wagner wurde, wahrscheinlich 1691, aus der Leipziger Universität ausgeschlossen. 7 Im gleichen Jahr hatte er seine Discursus et dubia in Christ. Thomasii Introductionem in philosophiam8 erscheinen lassen. Das Buch erschien im Eigenverlag, es umfasst 275 Seiten. Voran geht eine Praefatio (an den Leser). In der Arbeit „beißt" sich Wagner an einzelnen gekennzeichneten Stellen im Text von Thomasius fest und gibt seine Erläuterungen. Dies ist Wagners erste erhalten gebliebene Schrift. Thomasius antwortete bald darauf in seiner Auszübung Der Vernunfft=Lehre. Er hat dieses sein erstes in Halle gedrucktes Werk in der zweiten Hälfte des Jahres 1690 und in der ersten Hälfte des Jahres 1691 den Studenten vorgetragen. Thomasius beginnt die Vorrede mit der Feststellung, er habe bereits an anderer Stelle begründet, weshalb er nicht gegen Leute schreiben wolle, die „in Historia Philosophica gar nicht erfahren / und die hypotheses der alten und neuen Philosophen außer des einigen Cartesii nicht inne gehabt f...]". 9 Dennoch habe sich an verwichener Oster-Messe dieses 1691. Jahres ein neuer Autor hervor gethan / der unter dem entlehnten Nahmen des Realis de Vienna J.U.D. & Philos. Stud, discursus & dubia über besagte meine Introduction heraus gegeben / und dieselbe fast durch und durch sehr harte mitzunehmen sich vorgenommen. Es soll dieses Buch dem Titel nach zu Regensburg gedruckt / und bey dem Autore verleget seyn; jedoch gibt es die allgemeine sage und andere wahrscheinliche Umstände / daß es zu Franckfurth an der Oder seinen Drucker und Verleger gefunden. Thomasius habe dieses Buch gründlich gelesen und sei zu folgendem Urteil gelangt: Wagner sei
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stück..., Halle 1710, 111. Nach Gottfried Stiehler (Gabriel Wagner - ein materialistischer Philosoph und deutscher Patriot, Phil. Diss. Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1956, 5) findet sich Wagners Name nicht in den entsprechenden Matrikeln von Wittenberg, Tübingen, Duisburg, Gießen, Bamberg, Dillingen, Paderborn, Ingolstadt, Rostock, Würzburg und Straßburg. Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig, 1559-1809, hg. von Georg Erler, Bd. II: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester 1709, Leipzig 1909,478. Christian Thomas, Auszübung Der Vernunfft=Lehre/Oder: Kurtze/deutliche und wohlgegründete Handgriffe/wie man in seinen Kopffe aufräumen und sich zu Erforschung der Wahrheit geschickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urtheilen/und die Irrthümer geschicklich widerlegen solle. [...] Nebst einer Vorrede in welcher der Autor die Ursachen anzeiget/worumb er auch auff des Realis de Vienna seine Discursus und Dubia über die Introductionem ad Philosophiam Aulicam nicht antworten werde, Halle 1691; jetzt in: Christian Thomasius, Ausgewählte Werke, hg. v. Werner Schneiders. Bd. 9: Ausübung der Vernunftlehre, Hildesheim/Zürich/New York 1998, Vorr. b 2a-b. NLB, L Br971, Bl. 1; Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Rhe 1,Bd. 7,440. Realis de Vienna, Discursus & dubia in Christ. Thomasii Introductionem ad Philosophiam Aulicam In quibus De natura & constitutione Philosophiae disceritur, de ratione studiorum judicatur, & in quo constitat vera sapientia, ostenditur? Ratisbonae 1691, jetzt in: Gabriel Wagner, Ausgewählte Schriften, 83-369. Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, Vorr. a. Ebd., Vorr. ab.
GABRIEL WAGNER (REALIS DE VIENNA)
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was seinen Verstand betrifft / ein Mann / dem Gott eine zimliche Capacität zu Erkäntniß der Wahrheit verliehen / der aber dieselbe mehr zu Erkäntniß etlicher allgemeiner Irrthümer angewendet / als daß er den Ursprung derselbigen / nemlich die Praecipitanz und Dependirung von anderer Autorität untersuchen und sich dafür hüten / oder auff die Erforschung der Wahrheit mit gnugsamer Auffmerckung sich legen sollen. Was aber den Willen anlanget / sey er ein Mann / der sich zwey widerwärtige Affecten / Liebe und Haß ohne vemünfftige Gründe jämmerlich hin und wieder reissen lasse / und durch dieselben angetrieben von einem Extremo auff das andere falle / auch seinen guten natürlichen Verstand dadurch dergestalt unterdrücken lassen / daß er durch ihren Antrieb Dinge schreibe / derer er sich selber schämen würde / wenn er von diesen Affecten befreyet wäre; im übrigen aber daß es ihm an Hertzhafftigkeit nicht mangele die Wahrheit zu erforschen / und wider jederman zu vertheidigen / wenn besagte beyde Affecten ihn nicht antrieben / diese seine Hertzhafftigkeit öffters gantz unrecht zu Vertheidigung der Irrthümer anzuwenden. 1
Er habe sich entschlossen, Wagners Buch nicht zu beantworten. Werde doch „ein raisonabler Leser von selbst die Unzulängligkeiten der Gründe des Autoris erkennen / ein irraisonabler aber / und wider mich praeoccupirter auch durch die besten Gründe nicht [...] zur Raison gebracht werden können." Doch er habe den Autor kennenlernen wollen. Er habe dann erfahren, dass es Gabriel Wagner seib und sich sehr darüber gewundert. Habe doch dieser durchaus Gelegenheit gehabt, ihm seine „Fehler zu zeigen / auch / als ich meine Introduction zu Leipzig durch disputiret mir darwider zu opponiren [...]." Erkenne Wagner auch so weit, um zu wissen, „daß er in seinen einmahl gefaßten Meynungen incorrigibel und in extremo gradu halsstarrig / auch umb keiner andern Ursache willen in das grosse Unglück in dem er noch stecket / und dessen Ende er nicht sehen kan / gerathen." 12 Um 1693 scheint Wagner sich nach Halle begeben zu haben. Leibniz schreibt jedenfalls: „Von Leipzig hat er sich nach Halle begeben, ist aber alda mit Thomasio zerfallen, weil dieser seine grillen und gefehrlichen meinungen nicht billigen wollen." 13 Überhaupt war Leibniz von Wagners „Anti-Thomasius-Schrift" sehr beeindruckt. Schon kurz nach deren Erscheinen wandte er sich an verschiedenste Briefpartner mit der Bitte um Information, wer sich hinter dem Pseudonym Realis de Vienna verberge, so Mitte November 1691 an den Herausgeber der Acta eruditorum und Professor für Moral und Politik Otto Mencke (1644-1707) in Leipzig. 14 Abschließend erwähnt Leibniz in seinem Brief beiläufig die von ihm mit Wagner geführte philosophische Diskussion. Sie ist in Deutschland bisher nicht ediert worden. Eine erste Würdigung nahm wohl G. Stiehler vor. 15 Eine erste gekürzte Veröffentlichung besorgte schon G. Grua in der lateinischen Originalsprache. L. A. Foucher de Careil hat 1905 auf die Bedeutung dieser Diskussion hingewiesen und die Bedeutung von Wagners Einwänden gegen
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Ebd., Vorr. b la.
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Ebd., Vorr. b la-b 3a. H. Luden führt Gabriel Wagner nicht an, schreibt vielmehr, jede Schrift des Thomasius habe Satiren und Pasquillen hervorgebracht. Er wolle sie nicht anführen, würde man doch „wol wenig Dank ämten, wenn wir dergleichen Schriften aus der Vergessenheit zögen, die sie verdienen." (Heinrich Luden, Christian Thomasius, nach seinen Schicksalen und Schriften dargestellt., Berlin 1805, 242). NLB, L Br. 971, Bl. 59 verso. Leibniz an Otto Mencke Mitte Nov. 1691, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Rhe. 1, Bd. 7 433f. Gottfried Stiehler, „Leibniz und Gabriel Wagner", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 4/1956, 275-279. Die Diskussion ist vorhanden im Nachlass von Leibniz in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, Sign. Phil. I, 7.
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Leibniz' Philosophie hervorgehoben.16 Wagner hatte sechs Thesen aus Leibniz' Philosophie formuliert und ihnen seine Einwände (Objectiones) gegenübergestellt. Leibniz verfasste dazu im März 1698 Ergänzungen und Erklärungen. Dazu nahm Wagner wiederum Stellung und so ging die Diskussion mehrere Male hin und her. Die Thesen beschäftigen sich mit dem Problem des Kontinuums, mit der Substanz, mit der „besten aller möglichen Welten", mit der Vollkommenheit des Universums und der Frage des leeren Raumes.17 Bei der sechsten These geht um den leeren Raum. Nach Wagner kann es ohne Leeres keine Bewegung geben; die zusammengepressten Körper könnten sich ja sonst nicht ausdehnen. Leibniz leugnet eine Existenz des leeren Raumes und vertritt auch hier, ähnlich wie R. Descartes und Th. Hobbes, die Fluiditätstheorie. Die Teilchen seien nicht fest, sondern biegsam, etwa wie wächserne Würfelchen. Durch diese Fluidität sei eine unendliche Fortpflanzung der Tätigkeit, der Bewegung möglich. Wagner hält diese Theorie für unzutreffend, da sich ja in der Welt unendlich viele, sich durchkreuzende Bewegungen vollziehen - wie könnte dies sein, wären alle Materieteilchen fest aneinandergepresst? Auch die Fluidität setze die Existenz eines Leeren voraus. Die Diskussion der Thesen führte zu keiner Übereinstimmung der Ansichten. Keiner der Diskussionspartner ließ sich von den Argumenten des anderen überzeugen. Eine siebte These wird bei Grua nur kurz erwähnt („Laetitia est sensus perfectionis").18 Diese Diskussion zwischen Leibniz und Wagner von 1698 zeigt: 1. 2. 3.
Leibniz hat Wagner auch als Theoretiker sehr geschätzt; unsere Kenntnisse von Leibniz' Auffassungen (ζ. B. über die Fluiditätstheorie) werden durch diese Diskussion erweitert; wir bekommen anschaulich demonstriert, wie lebendig und tief man damals diskutierte.
Streitschriften sind häufig unnütz, manchmal aber doch wichtig. Das ζ. B. dann, wenn es grobe Schnitzer zu berichtigen gibt, die anerkannte Autoren begangen haben. Das sei, so Wagner, wieder unter dem Pseudonym Realis de Vienna, in Thomasius' Arbeit Versuch vom Geiste der Fall. Er habe sich, schreibt er hier, bereits mit Thomasius' Hoflogik auseinandergesetzt.19 Thomasius habe, so Wagner, auf seine Streitschriften nie geantwortet. Das ist nicht ganz richtig. Thomasius' Auszübung Der Vernunfft-Lehre ist ja schon von 1691, und hier hat
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Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Textes inedits d' apres les manuscrits de la Bibliotheque provinciale de Hanovre publies et annotes par Gaston Grua, Paris 1948, 389-399; Louis Alexandre Comte Foucher de Careil, Memoire sur la Philosophie de Leibniz, Tome deuxieme, Paris 1905, 63-66. Siegfried Wollgast, „Einleitung" in: Gabriel Wagner, Ausgewählte Schriften und Dokumente, 2330. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Textes inedits, 394f.
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Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs Vom Wesen des Geistes/Den Christian Thomas/Prof. in Halle/1699. An Tag Gegeben, o. O. 1699", in: Gabriel Wagner, Ausgewählte Schriften und Dokumente, 171-452, hier 376. Nach M. Pott „können heute die Streitschriften des frühen deutschen Freidenkers Gabriel Wagner [...] auch als Ausdruck einer großen Enttäuschung über Thomasius gelesen werden" (Martin Pott, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992, 298). Heinrich Luden, Lobredner des Thomasius, meint zu dessen Versuch vom Wesen des Geistes: „Wenn der Beyfall der Welt den Werth eines Buchs entschiede was nicht der Fall ist, so würde dieses von allen Thomasischen das schlechteste seyn; absoluten Werth hat es auch wol nicht" (Heinrich Luden, Christian Thomasius, 261).
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er, wie wir bereits anführten, im Vorwort auch zu Gabriel Wagner Stellung genommen. Jedenfalls wolle sich Realis de Vienna weiter mit Thomasius auseinandersetzen. Thomasius (1655-1728) hat Pedanterie, Heuchelei und Autoritätsgläubigkeit kritisiert. Mit seinen Monatsgesprächen publizierte er 1688/89 eine deutschsprachige Zeitschrift und trat für das Frauenstudium ein. Wegen seiner Kritik am dänischen Hofprediger Hector Gothofredus Masius (1653-1709) wurde er beschuldigt, den göttlichen Ursprung der königlichen Gewalt geleugnet zu haben, und erhielt 1690 in Leipzig Lehr- und Publikationsverbot. Darauf ging er nach Halle, die 1694 neu gegründete Universität prägte er in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens außerordentlich, vor allem als Rechtslehrer. Dabei schrieb er gegen die Folter, gegen die Einschätzung der Ketzerei als eines strafbaren Verbrechens und gegen die Hexenprozesse. „Zwischen 1693 und 1699 näherte sich Thomasius innerlich stark dem Pietismus an." 20 Dann kam es zu Auseinandersetzungen mit dem ihm bislang freundschaftlich verbundenen Α. H. Franke. „Nach 1714 kam es zwischen ihm und Francke zu einer dauerhaften Versöhnung'." 2 1 Philosophie ist für Christian Thomasius eine Sache des Verstandes: durch ihr Erkenntnisprinzip, Verstand bzw. Vernunft, unterscheidet sie sich vornehmlich von der Theologie. Philosophie („Welt-Weissheit") und Theologie („Gottes-Gelahrtheit") sind generell zu unterscheiden. Thomasius fühlt sich keiner Schule zugehörig und will auch keine gründen. Er will seine Studenten zum Selbstdenken anleiten. In seiner Jugend ist Thomasius der Eklektik verpflichtet, durch seine Hinwendung zur mosaischen Physik (1693), d. h. zur biblischen Schöpfungsgeschichte, kommt es zum Bruch mit der Eklektik und mit Johann Christoph Sturm (1635-1703/4). Eklektik nimmt er später wieder auf, jedoch ohne ihr sein eigenes Denken zu verpflichten. Thomasius verzichtet auf die Syllogistik. Seine Erkenntnislehre ist nicht von John Locke beeinflusst, sondern eher aristotelisch geprägt. Seine Naturphilosophie ist spiritualistisch und anticartesianisch. 22 Sie steht ganz im Zeichen des Gegensatzes passiver materieller (biblischer) und tätiger geistiger Wesen. Alles, was mit materiellen Dingen geschieht, ist die Wirkung des Geistes, nichts bewegt sich selbst. Dieses Konzept wird mit der These begründet und ausgestattet, dass Kunst ein „Affe der Natur" sei - mit der Konsequenz der Abwertung künstlicher Experimente und der Abstützung auf Alltagserfahrungen, die wir mit unseren Sinnen machen. Pneumatologisch unterscheidet Thomasius den obersten Geist (Gott), der pure Kraft ist, alles bewegt, selbst aber unbeweglich ist, von den „dienstbaren Geistern" Licht und Luft. Die Körperlichkeit von Licht und Luft wird bestritten. Das Wesen der Geschöpfe - auch des Menschen - besteht aus Licht, Luft und Materie bzw. Erde - jeweils aus einer Mixtur in einer bestimmten Proportion. Die Anziehung wird als das „Wesen der Luft" beschrieben; damit
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Helmut Holzhey/Simone Zürbuchen, „Christian Thomasius", in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, völlig neu bearb. Ausg. hg. v. Helmut Holzhey, Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, hg. v. Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch, Basel 2001, 1171. Ebd., 1172. Ebd., 1192; Wilhelm Schmidt-Biggemann, „Pietismus, Piatonismus und Aufklärung: Christian Thomasius' Versuch vom Wesen des Geistes", in: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders mm 65. Geburtstag, hg. v. Frank Grunert und Friedrich Vollhardt, Tübingen 1998, 8398. Vgl. zum ff. auch: Christian Thomasius, Versuch Vom Wesen des Geistes, Bd. 12, zit. 19, 72, 87,88-91, 100f„ Vorw. 19, 45-47,111, 127.
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distanziert er sich von der Erklärung der Torricelli-Experimente, nach denen der äußere Luftdruck die Höhe der Quecksilbersäule bestimmt. Als Gewährsmänner seiner Lehre nennt er neben P. Poiret u.a. R. Fludd, J. Böhme, V. Weigel sowie mit einem gewissen Vorbehalt Paracelsus, Ε. Stiefel und Qu. Kuhlmann; er zeigt damit, wie er seine der Aufklärung verpflichtete praktische und pädagogische Philosophie um eine spirituelle Dimension ergänzt wissen will, die auf großenteils bereits verschütteten Quellen basierte. W a g n e r s Streitschrift Prüfung Des Versuchs
Vom Wesen des Geistes hat T h o m a s i u s ' Ar-
beit zum Leitfaden. Das eigene Dawider ist zumeist kurz und knapp. Sehr viel wird bei einfachen naturwissenschaftlichen Experimenten ausgeführt. Dabei behauptet Realis de Vienna durchgängig, dass Thomasius von der Naturwissenschaft (und der Mathematik) nichts verstehe. Hinsichtlich der Auffassung des Verhältnisses von Verstand und Sinnen bezeuge Thomasius' Position, dass er ein öffentlicher Betrüger sei.23 Man dürfe Vernunft und Erfahrung nicht gegeneinander stellen. Es gehe nicht, Wahrheit gegen Nutzen zu stellen und nur nach dem Nutzen zu fragen, wie Thomasius es tue. Philosophie und Wissenschaft seien Abbild der objektiven Realität.24 Alles kommt aus der Notwendigkeit, diese ist zugleich Gottes Wesen. Gott aber ist aus sich selbst. Zudem ist zwischen der Notwendigkeit und deren Widerspiegelung in unserem Bewusstsein zu unterscheiden.25 Es gibt keinen leeren Raum, in diesem muss notwendig ein Geist sein, schrieb Thomasius. Gabriel Wagner setzt hinzu: „Diß ist zwar meine Meynung die Thomas erst von mir gehört / die ich auch hernach 1693 in das Responsum Philosoph, wider seine substantz gesetzt."26 Für ihn kommen alle Kräfte und Fähigkeiten unmittelbar aus dem Stoff. Thomasius unterschätze den Verstand. Der Geist ist nach Realis de Vienna, im Gegensatz zu Thomasius, eine Kraft, die von der ersten allgemeinen Notwendigkeit oder vom Stoff herkommt. Er bejaht „des Zeugs Ewigkeit."27 Auch Gott ist nicht ohne Stoff: „[...] ein Gott ohne Geschöpff ist eine Selb=Widersprechung; die andern Geister kommen gar außm Zeuge." Stoff hat Länge, Breite, Tiefe, Raum: „[...] der Cörper ist der Raum".28 Für Realis gibt es keinen Geist ohne Körper im weitesten Sinne. „Wie unmüglich Herr ohne Knecht / Würcken ohne Leiden / Vater ohne Sohn / also kann unmüglich Geist ohne Zeug seyn", ebensowenig Licht, Wärme und Kälte. Neben der Notwendigkeit gebe es auch den Zufall: „wären nicht alles Zufälle / so wäre kein Unterscheid zwischen einzeln Dingen einer Gattung / alle Menschen / Hunde / Aepffel / Birnen / würden einander genau gleich seyn / man könte keins vom andern unterscheiden." Zumindest habe jeder „Lebens-Geist" doch auch Luft, und diese sei materiell.29 Nach Realis de Vienna hat Bewegung vor Wärme, Licht, Schärfe, Nässe, Rauch usw. den Vorrang. Luft und Licht bringen Geist hervor. Die Luft selbst ist kein Geist, sondern ein endlicher Körper. Feuer ebenso.30 Immer wieder wird auf Thomasius' Verwandtschaft mit J. J. Scaliger, G. Postel, R. Fludd u. a. verwiesen. Realis de Viennas Kronzeugen sind auch hier J. Kepler, A. Kircher, R. Boyle u. a. - als Naturwissenschaftler! Selbst wenn Licht und Klang als Geist anzusehen sind, so haben sie doch eine
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Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs", 384. Ebd., 385-387. Ebd., 393f. Ebd., 396. Ebd., 402f„ 444, 388. Ebd., 403,406. Ebd., 407-409. Ebd., 410f.
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materielle Grundlage. Auch die Engel sind nicht ohne Stoff. Die ganze Welt ist voller Trieb, Stoß und Bewegung. 31 Auch hier wird Thomasius mit den Pietisten in Verbindung gebracht, beiden wird Vernunftfeindlichkeit zugeschrieben. 32 Thomasius zielet dahin / Sitten=Geschwätz sey höher zu achten als die Naturkundigung; diese aber lehret mich Gott und die Welt kennen / in ihr finden wir Himmel / Erde / Menschen= und Selb=Erkäntniß / in der Sitten=Lehre deren keines. [...] Warheit ist Gottes Wort / die Natur Gottes Buch / die Vernunfft / Gottes Licht zur Warheit.33
Wagners Gegenposition zu Thomasius ist auch an solchen Worten festzumachen: „Der Geist ist ein einfach Ding / das schlechtweg bewegt / und allen Unterscheid seiner Würckung vom Zeuge bekommt: also muß man ja erst des Zeugs unendliche Unterschiede lernen / ehe man des gantzen Dings zusammen gesetzte Krafft und Geist versteht." 34 Für ihn gilt: „alle Cörper bestehn allein aus Zeug und Bewegung." 35 Thomasius meint, die neueren Philosophen verwürfen die Sinne, was Realis de Vienna für Unsinn hält. Thomasius sollte lieber bei der Jurisprudenz geblieben sein und nicht über Naturkunde schreiben. 36 Verstand und Willen sind nicht einander gleich, „weil die Gehirn=Krafft von der Hertz=Krafft herrührt und geartet wird / nicht diese von jener." Dennoch vermag der Verstand unter Umständen den Willen zu bewegen. Wirkungen gehen vom Verstand wie vom Willen aus, aber der Verstand überwiegt. Und: alle die Haupt=Eigenschaffte / die der Mensch sonderlich ausser andern Geschöpften hat / fliessen aus der Vernunft; nichts unterscheidet den Menschen so / als die Eigenschafft der Vernunfft / drum muß sie nothwendig des Menschen wesentl. Gestalt heissen. Also ist ein Mensch das höchst=veränderliche stoltzeste Thier / das aufgericht geht / Hände hat / Lachen / Weinen / die Gedancken über alle Thiere brauchen / daher reden / grosse Ordnungen machen / und Künste anrichten kan. 37
Man dürfe Vernunft und Bibel nicht vermengen. 38 Gott spielt hier, wie in allen anderen Arbeiten Wagners, ebenfalls eine Rolle. Aber es ist nicht der Gottesbegriff der orthodoxen Theologen zugrunde gelegt; auch gegen Thomasius' Gottesverständnis wird ständig polemisiert. Generell gilt: Gabriel Wagner ging „als Anhänger der Naturerklärung Descartes' davon aus, dass alles in der Welt sich nach unveränderlichen, notwendigen Bewegungsgesetzen und mechanischem Aufeinanderwirken der Dinge richtet. Dabei versuchte er aufgrund der Atomtheorie die Naturerscheinungen zu erklären, wobei die Materie als das Primat galt." 39 Bald erscheint gegen Gabriel Wagners Streitschrift eine Gegenschrift. Sie ist ebenfalls mit einem Pseudonym als Autornamen versehen: Jucundus de Laboribus. Der Autor, nach ver-
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Ebd., 4 1 5 , 4 1 9 , 4 2 1 . Ebd., 428. 378f. weist er Christian Thomasius' Behauptung zurück, er sei nicht von Philipp Jakob Spener abhängig. Ebd., 429. Ebd., 431; vgl. ebd., 437. Ebd., 435. Ebd., 438,440. Vgl. Thomasius, Versuch vom Wesen des Geistes, 141f. Ebd., 4 4 6 , 4 4 8 . Ebd., 451. Daniel Minary, „Deutsche Religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie", in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie, 419-432, hier 421.
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breiteter Meinung Joachim L. Lange (1670-1744),40 bezeichnet sich als „mathematischer Philosoph", der mit Thomasius nicht in allen Punkten in dessen „Wesen des Geistes" übereinstimme.41 Realis de Vienna ist nach Jucundus de Laboribus „ein purer Pedant und Grillenfänger", beachte auch die mathematische Methode ungenügend 42 Er habe ζ. B. von der Logik und Grammatik keine Ahnung, verteidige „wider seinen Willen und mit seinem eignen Schaden die Französischen Methoden [...] / da er doch ein geschworener Feind dieser Nation zu seyn scheinet."43 Es ist eine wahre Schimpfkanonade, die Widerlegung ist nicht tief. Wagner verbreite „Quackerey und Narredey", er lüge und verleumde.44 Das erste Kapitel handelt von Realis de Viennas Pedanterie, das zweite Kapitel ist Realis de Viennas „Grillenfängerei" gewidmet. Sehr selten geht Jucundus de Laboribus auf Gesinnungsgenossen oder Quellen Wagners ein. Er erwähnt lediglich B. de Spinoza hinsichtlich der Ewigkeit der Welt.45 Das dritte Kapitel lautet „Von Realis de Vienna Dummheit". Wagner gehöre ins „Zucht=Hauß".46 Jucundus de Laboribus erfährt sehr bald eine scharfe Entgegnung, wiederum von einem anonymen Autor. Dieser nennt sich F.M.v.G. Zumeist wird statt „G" ein „B" gesetzt. Das ist aber wohl ein Lesefehler! Ein Franz Michael von Gleich reicht ja 1716 der Berliner Sozietät einen Vorschlag zur Verbesserung ihrer Arbeit ein. Er wird schon damals als Realis de Vienna bzw. Gabriel Wagner „entlarvt". So benutzte Wagner ein weiteres Pseudonym. F.M.v.G. bezeugt bereits einleitend, dass er Jucundus de Laboribus kennt. Dieser sei tückisch und ein Betrüger. Seine Schrift sei nicht 1710 ein zweites Mal, sondern erstmalig gedruckt worden. Jucundus habe Thomasius auch nicht 1691/93 oder 1707 verteidigt. Thomasius sei keine Zierde der Deutschen, besonders nicht der Sachsen, er mache sie „zu der Franzosen Schülern und zu Jedermanns=Jungen" 47 Jucundus sei auch kein mathematischer Philosoph, sondern ein Feind der Mathematik. F.M.v.G. folgt Jucundus de Laboribus in seinen Widerlegungen Wort für Wort, bzw. Absatz für Absatz. Ebenso verfährt ja Gabriel Wagner als Realis de Vienna in seinen Schriften gegen Chr. Thomasius. Dabei fallen Beschimpfungen zuhauf: „Stinckichter Schulfuchs", Betreiber von „Pickelherings=Possen", „Tölpel", „Pudel", „Lümmel", „Schulgeist", „Spitzbube"48 usw. Diese Beschimpfungen werden im Verlaufe der Abhandlung immer schärfer. Jucundus de Laboribus sei ein „Ertzschelm und Staupbesen Dieb", „ein Galgendieb", „Landbetrüger", „ein lausigter Zigeuner / ein Frontzosenluder",
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Vgl. Emil Weller, Lexicon Pseudonymorum: Wörterbuch der Pseudonymen aller Zeiten und Völker oder Verzeichniss jener Autoren, die sich falscher Namen bedienten, 2. durchaus verb. u. verm. Aufl., Regensburg 1886, 303. Der Katalog der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek zu Dresden verzeichnet bei Joachim Lange als Pseudonym Jucundus de Laboribus (Sign.: Philos. Β 639). Jucundi de Laboribus „Freye Gedancken Von REALIS DE VIENNA Prüfung des Versuchs Vom Wesen des Geistes/Den Christian Thomasius/P.P. in Halle/1699. An Tag gegeben hat", zum andernmahl gedruckt, 1710, in: Gabriel Wagner: Ausgewählte Schriften und Dokumente, 459-532, hier 464. Ebd., 465. Vgl. ebd., 468, 499. Ebd., 473-475, zit. 476. Ebd., 4 9 0 , 4 9 3 u.ö. Ebd., 511. Ebd., 522-531, hier 525. F.M.v.G. .Antwort auff Jucundi de Laboribus Unverschämtheit/die er wider Realem de Vienna vorbringt", Oeringen 1710, in: Gabriel Wagner, Ausgewählte Schriften und Dokumente, 533-630, zit. 537. Ebd., 542, 546ff„ 549, 555ff„ 558, 562 u.ö.
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„ein Stinckdieb", „ein Prahler", ein „Luder", eine „Mißgeburt".49 Ich zähle nicht alle „Ehrennamen" auf, die Jucundus de Laboribus von F.M.v.G. verliehen werden. In der Logik sei keine Wahrheit wie in der Physik und Mathematik.50 Anspielungen verweisen immer wieder auf J. Lange: „Müssen nun die jungen Pietistchen nicht kluge Leute werden / da der Hr. Docter so ein Held ist."51 Es gibt im Pamphlet auch Anspielungen auf Realis de Vienna: „Hastu nicht diese unverstandene demonstration, die Realis 1708, D. — geschickt gestohlen? versteh e s t sie? warum kanstu sie denn nicht zu Marckt bringen?"52 F.M.v.G. weist die Anschuldigung zurück, Spinoza sei Wagners Lehrmeister. Zudem sei man noch kein Spinozist, wenn man ein Wort mit Spinoza gemein habe.53 Realis habe eine Abhandlung über die Ursache der Schwere vor zwei Jahren „dem Hrn. geschickt."54 Ist damit Lange gemeint? Hier wie in der Gegenschrift geht es weitgehend um einfache naturwissenschaftliche Probleme. Es ist auch dies eine Streitschrift, mit nur geringem Tiefgang. Viel Neues kommt nicht heraus. Immer wieder klagt F.M.v.G., dass Wagner nicht gedruckt wird. Er gibt an, Wagner habe schon 1690 etwas geschrieben, was nicht gedruckt wurde. Dazu zählt er seine Verdienste in 5 Punkten auf, stellt dagegen 9 Punkte, in denen Thomasius gröblichst irre. Ja, durch die folgenden Seiten sprüht nachgehend Hass gegen Thomasius. Und Realis de Vienna habe keinen Erfolg, weil er u. a. zu ehrlich sei. Er achte auch keine äußeren Ehren 55 In seinem Leben war Gabriel Wagner u. a. auch in Berlin, Hamburg, Göttingen, Wolfenbüttel, Halle und Kassel tätig. Über seine weiteren Lebensschicksale lässt sich wenig Sicheres ermitteln. Wagner konzipiert eine völlig neue Universität. Dabei erhalten die Realienfacher zuungunsten der Theologie breiten Raum. Eine vernünftige Universität (Akademie) soll zwei Lehrstühle für Physik, 4 für Mathematik, 2 für Chemie, 1 für Anatomie und Botanik, 1 für Politik und Rhetorik, 1 für Geschichtswissenschaft, 4 für Medizin, 2 für Jurisprudenz, 1 für Theologie und Altphilologie erhalten.56 Wagner wendet sich auch konsequent gegen die noch von Chr. Thomasius vertretene - dienende Rolle der Philosophie. Die Philosophie ist kein Instrument der anderen drei Fakultäten, sie ist Selbstzweck. Die Fächer dieser Fakultäten studiert man wegen des erhofften praktischen Nutzens. So sucht etwa die Medizin, den körperlichen Gebrechen abzuhelfen, die Jurisprudenz die sittlichen Verhältnisse zu stabilisieren.57 Die Philosophie hingegen ist aus dem Streben nach Erkenntnis und Wahrheit erwach-
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Ebd., 570, 572, 575, 577, 579, 586f. Ebd., 547. Vgl. ebd., 550, 554, 561, 563. Ebd., 552. Ebd., 579f. Ebd., 581. Ebd., 606. Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 138-141. Ebd., 128f. Vgl. Christian Thomasius, Introductio ad philosophiam aulicam. Vorwort von Werner Schneiders (Christian Thomasius, Ausgewählte Werke, hg. v. Werner Schneiders, Bd. 1, Hildesheim/Zürich/New York 1993, 59). Deutsch in: Christian Thomasius, Einleitung zur Hofphilosophie, Vorwort von Werner Schneiders (= Christian Thomasius, Ausgewählte Werke, Bd. 2), Hildesheim/Zürich/New York 1994, 70: „§ 28 [...] Die Wissenschaft hat entweder ein Absehen auf die ewige Glückseligkeit/welche die Theologie zu wege bringet/oder auf ein zeitliches Wohlseyn/wohin die drey übrigen Facultäten gehören. Zu der ewigen Seligkeit contribuiret die sich selbst gelassene Vemunfft nicht das geringste/sondern es thut solches nur allein die Offenbarung/derowegen dann auch die Theologie keiner Vernunfft nöthig hat; ob gleich die Offenbarung
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sen, nicht aus dem Streben nach einem unmittelbaren Nutzen. Dabei nützt auch sie, da sie lehrt, wie die Menschen denken und handeln sollen. Aber das macht keine dienende Rolle gegenüber den Fakultäten aus! Für Gabriel Wagner ist Philosophie - im Gegensatz zur scholastischen bzw. neoscholastischen Metaphysik seiner Zeit - Zusammenfassung der Resultate der Naturwissenschaften, wie auch der Politik. Letztlich wird eigentlich diese Philosophie wieder nicht von den Einzelwissenschaften geschieden. Ja, er identifiziert sie weitgehend mit den Naturwissenschaften. Die moderne Philosophie ist für ihn experimentelle Wissenschaft, ein wesentlicher Unterschied gegenüber der Antike! Ansonsten ist die Philosophie auch Methode.58 Nach Gabriel Wagner folgt die wahre Philosophie, also seine eigene, keiner Sekte, sie ist eklektisch. Der Eklektizismus ist generell ein charakteristisches Merkmal der Frühaufklärung. Die Frühaufklärer verschiedenster Richtung gehen durchgängig von der Überzeugung aus, es führe nicht weiter, so man sich allein an die Worte, Lehren, Doktrinen eines Meisters, einer Schule, einer Richtung klammere. Letztlich ausgehend von 1. Ko 14; 1. Th 5, prüfen alle dem Neuen zugewandten Denker alle Denkformen und -inhalte. Will man die deutsche Frühaufklärung verstehen, so muss man sich ernstlich mit dem Begriff des Eklektizismus auseinandersetzen.59 Wagner respektiert die Theologie in ihren Grenzen. Er überlässt ihr das Reich des Glaubens, für die Philosophie nimmt er allein die Vernunft in Anspruch. Verschiedentlich erklärt er, wenn eine seiner Thesen nicht mit der Religion übereinstimme, sei dies Sache der Theologen, die Philosophie habe sich darum nicht zu kümmern. So schreibt er: „Ich rede hier als ein Welt=Weiser / weiß die Glaubens=Lehre vornehmlich / aber sie gehört hier nicht her / ins Vernunfft=Reich der Naturkundigung."60 Die Bibel mute der Vernunft solche Ungeheuerlichkeiten zu, dass man ihr mit rationalen oder logischen Mitteln nie beikommen könne. Vor allem lehnt Wagner die biblische Schöpfungsgeschichte ab. Der Philosoph erkenne wissenschaftlich eine Schöpfung nicht an, sie gehöre ins Gebiet des Glaubens.6 In seinem Brief an Leibniz vom 22. Januar 1697 schrieb Wagner: „Den ich der ganzen weilt Schöpfung und untergäg, seelen Unsterblichk., Gottes wilkürliche regierung u.a.m. für lauter glaubensartic. halte denen die verführische Vernunft ganz widerspricht".62 Für ihn gilt: „certö erat, e bibliis
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zu der zeitlichen Glückseligkeit des Menschen etwas beytragen kan. § 29. Derowegen ich die übrigen drey Facultäten dergestalt entwerffe/daß sie entweder Instrumentales sind/welche andern Facultäten zu Gebotte stehen/darunter die Philosophie·, oder Principales, die sich von andern bedienen lassen/darunter eine sich findet/welche ihr Absehen auf das zeitliche Heyl des Leibes gerichtet/nehmlich die Medicin; und eine andere/welche auf das Heyl der Seelen siehet/nehmlich die Rechts=Geiehrsamkeit." Ebd., 140f. Vgl. u. a. Horst Dreitzel, „Zur Entwicklung und Eigenart der eklektischen Philosophie'", in: Zeitschrift fir historische Forschung, Berlin 18/1991, 281-343, hier 306f. Ebenso: Wilhelm SchmidtBiggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, bes. 249-292; ders. „In nullus verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus", in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, 33-48, 203-222; Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994. Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs", 451. Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 285: „Creationem nescit Philosophus, sed credit." Vgl. Gabriel Wagner an Gottfried Wilhelm Leibniz am 22.01.1697, in: Materialisten der Leibnizzeit, 147. NLB, L Br. 971, Bl. 33.
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qui philosophatur". 63 Er postuliert ein einfaches Christentum, frei von logischen und metaphysischen Künsteleien. Das inhäriert den entschiedenen Protest gegen die dogmatische Schultheologie. Wagners Auseinandersetzung mit der Scholastik erreicht in seiner Polemik gegen die herkömmliche Logik besondere Schärfe. Die Auseinandersetzung mit dem Formalismus dieser „Pseudowissenschaft" nimmt im Discursus breiten Raum ein, sie bewog ihn vor allem zur Abfassung dieser Schrift. Wagners Angriff auf die Logik in seinen Vernunft-Uebungen brachte Leibniz dazu, die Logik in seinem wohl ausführlichsten Brief an Gabriel Wagner von Ende 1696 zu verteidigen. Leibniz meinte, die Logik oder die Kunst des vernünftigen Denkens sollte als Schlüssel zu allen Künsten und Wissenschaften betrachtet werden. Wagner wollte die Wissenschaft auf die Gewinnung von Tatsachenwahrheiten orientieren, deshalb führte er einen so erbitterten Kampf gegen den Herrschaftsanspruch der aristotelischen Logik. Wo durch echtes Forschen kein Inhalt gewonnen wurde, vermöge auch die Logik nichts auszurichten - sie sei eben nur eine „formale" Wissenschaft. Das wirkliche Leben sei so vielfältig, dass es nur als Hohn empfunden werden könne, wenn die Logik vorgebe, das Allerweltsmittel zur Entdeckung der Wahrheit darzustellen. Überhaupt ergebe sich Erkenntnis nur aus der Erforschung der konkreten Einzeldinge - dies aber sei Aufgabe der Naturwissenschaft und der Realphilosophie. Die Logik warte mit allgemeinen, abstrakten Schemata auf und könne deshalb kein echtes Forschungsinstrument sein. Es gibt in der Geschichte der älteren deutschen Philosophie wenige Denker, die so uneingeschränkt und voller Begeisterung das Lob der Naturwissenschaften verkünden wie Wagner. Seitenlang ließen sich Aussprüche von ihm aneinanderreihen, in denen er dazu aufruft, von den inhaltlosen Schulwissenschaften abzugehen und im Naturstudium echte, fruchtbare Erkenntnisse zu gewinnen. Die Physik bezeichnet er als Quelle jeder Erkenntnis und erklärt, echte Weisheit müsse sich auf die Kenntnis der Wirklichkeit gründen. Vorzug und Würde der Physik bestehen für ihn gerade darin, dass sie die Erforschung der Natur zum Gegenstand hat und daher die Grundlage für andere Wissenschaften bildet. Die Wissenschaft dürfe sich nicht mit Spekulationen zufrieden geben, sondern müsse von den Dingen zu den Begriffen aufsteigen. Das Bündnis der Philosophie mit der Naturwissenschaft kann für beide von Nutzen sein, nicht hingegen die Verbindung mit der Theologie. Die Resultate der Naturwissenschaften stellen eine der hauptsächlichen Grundlagen von Gabriel Wagners philosophischen Anschauungen dar. Kein Bestandteil der Realität verdanke sein Entstehen und Werden einem göttlichen Schöpferakt, dem Wirken eines außerweltlichen freien Willens, seine Entstehung wurzele vielmehr in der „ursprünglichen Notwendigkeit". Nichts dürfe „als ursprüngliche Nothwendigkeit oder eine erste allgemeine Bewegung gesetzt werden". 64 An anderer Stelle sagt er: „Aus der Nothwendigkeit f...] kömmt alles; käme aus ihr nicht alles / wären die Natur=Ausfüllungs=Bewegungs=Gesetze nicht nothwendig / es wäre gar nichts / denn wo wolte es sonst herkommen?" Indem alles aus der Notwendigkeit stamme, rühre es gleichzeitig auch von Gott, denn „die Nothwendigkeit / ist / Gottes Wesen". 65 Überhaupt wird Gott bei Wagner sehr unterschiedlich gefasst; wird er hier mit der Notwendigkeit identifiziert, so ist er an anderer Stelle der erste Bewegungsantrieb und in einer dritten Version wird Gott mit der Welt identifiziert. 66
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Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 112. Ders., „Prüfung Des Versuchs", 389. Ebd., 393. „[...] Deus, qui est ipse nil nisi mundus" (Gottfried Wilhelm Leibniz, Textes inedits, 396).
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Generell gründet sich Wagners Geistesrichtung stärker auf die Erfahrung und die Naturwissenschaften als auf Spinozas Philosophie. Die Betonung der Notwendigkeit im Naturgeschehen bedeutet bei ihm eine unmittelbare Kampfansage an die herrschende Theologie. Nach seiner Auffassung folgt das Tun der Tiere dem Naturtrieb auf der Grundlage der notwendigen Bewegungsgesetze. Vom Menschen erklärt er, dass sein „Bau aus nothwendigen Bewegungs=Gesetzen / nicht Berathschlagung / Wahl / Absicht / herrühre". Hier setzt Wagner an die Stelle einer göttlichen Zwecksetzung das objektive Gesetz, die Notwendigkeit. Bei der Empfängnis wirken „nicht Freyheit / Willkühr und Verstand", sondern die notwendigen Bewegungsgesetze. Anderenfalls würden die Menschen nicht in ihren wesentlichen Eigenschaften übereinstimmen, sondern „es würden tausenderley Gestalten an Tag kommen". Die geringen Unterschiede zwischen den Menschen „kommen offenbahr aus den Bewegungs=Gesetzen nach des Zeugs Zufällen".67 Obwohl Gabriel Wagner den Bewegungsgesetzen ewige Dauer und der Welt Ewigkeit zuschreibt, bringt ihn sein Unverständnis der Einheit von Materie und Bewegung auf die Frage nach einem ersten Bewegungsantrieb. Er nimmt an, der Raum sei niemals völlig leer, sondern ihm wohne stets eine „unendliche Raumes-Begier" inne. Diese Begier zur Erfüllung, die er gelegentlich Gott nennt, sei „fast Materie"; sie bilde die erste Ursache der Bewegung in der Welt und soll sogar „den Zeug" hervorrufen. Vielleicht handelt es sich hier um einen Rest des peripatetischen „Horror vacui", wenn Wagner auch sonst, den Spuren O. von Guerickes und B. Pascals folgend, Erscheinungen wie etwa die Saugkraft nicht auf einen horror vacui, sondern auf den Luftdruck zurückführt. So schreibt er, mittels dieser Theorie könne die „Ursach der ersten Bewegung" angegeben werden, was die Cartesianer nicht vermöchten. Hernach aber müsse diese These mit der „werckkünstigen Lehr=Art", d. h. der mechanischen verknüpft werden; denn außerhalb dieser zu philosophieren, wäre vergebliche Mühe.68 Wagner sucht gelegentlich die metaphysische Naturerklärung zu überwinden. So wendet er sich gegen Thomasius' These, die Materie sei leidend, und eine zugleich wirkende und leidende Materie nicht begreiflich. Das ist „Eben als wenn ein Sohn nicht könte zugleich Vater / Hitze und Kälte nicht zugleich im Wein seyn". Wagner meint hier zudem, der Äther den er mit Chr. Huygens annahm - könne zugleich wirken und leiden; er könne durch die erste Notwendigkeit zugleich bewegend entstehen. Die Undurchdringlichkeit, das Wesen der Körperteilchen, d. h. der Atome, mache nicht bloß leidend. „Leiden und Würcken sind gemeiniglich zugleich; selten würckt etwas das nicht eine Gegenwürckung litte / und selten leidet etwas / daß nicht wiederum in einanders würckte. Der Zeug wird nicht heute / morgen seine Eigenschafften geschaffen / sondern er entsteht zugleich mit allen Beschaffenheit^ / Undurchdringligkeiten / Grösse / Gestalt / Bewegung / oder Ruhe." Er setzt sich auch mit Chr. Thomasius' These auseinander, dass nichts sich selbst bewege. Für große Körper räumt er das, offenbar unter dem Einfluss der cartesischen Bewegungsvorstellungen, zwar ein; aber von den subtilen Körpern - er meint wohl die Atome - sei es nicht erwiesen, „denn warum soll Undurchdringlichkeit alles Vermögen wegnehmen und bloß leidend machen?"69 Doch letztendlich bekennt er seine Ratlosigkeit vor dieser Frage. So drückt er seine Überzeugung aus, dass „subtile Cörper dem Würckenden / grobe dem Leidenden ähnlicher" seien.70
67 68 69 70
Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs", 441,445. Ebd., 396f. Ebd., 389f. Ebd., 402.
GABRIEL WAGNER (REALIS DE VIENNA)
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Mit der Frage der Aktivität und Passivität der Materie hängt auch das Problem der Anziehung zusammen. Wagner erklärte es für wahrscheinlich, dass es in der Natur Anziehung gebe, obgleich sie durch die Erfahrung nicht bewiesen werden könne. Eine solche Anziehung könne es aber nur bei dem „subtilsten Zeugs" geben. 71 Denn Anziehung des „groben Zeugs", wie Luft und Wasser, gäbe keine Ordnung, „sondern Verwirrung und fast Aufhörung aller Bewegung". Hier wie auch an anderer Stelle zeigt sich, dass Wagner mit der Gravitation - als Fernwirkung - nichts Rechtes anzufangen wusste; ihm sagte, da er alles im Sinne der mechanischen Naturtheorie durch Druck und Stoß erklären wollte, die Äthertheorie weit mehr zu. Der Äther, den er „Himmelszeug" nennt, spielt für ihn bei der Erklärung der Festigkeit der Körper und der Gravitation eine große Rolle. In Wagners Naturanschauungen ist auch seine Stellung zur Atom- bzw. Korpuskulartheorie von Interesse: „Philosophia corpuscularis est optima, non tarnen sufficiens." 72 Die Frage, ob die Elementarteilchen wirklich bis ins Unendliche teilbar seien, lasse sich durch Nachforschen unmöglich beantworten. Er nehme aber an, es sei nicht der Fall. Denn jede Zerlegung scheine immer eine solche von vereinigten Teilen zu sein, nämlich infolge der Zwischenräume: das Atom aber besitze keine Zwischenräume. 73 Aus dieser letzten Bemerkung geht eine Annäherung an P. Gassendis Atomtheorie hervor. Wagners Naturanschauung bewegt sich im Wesentlichen in der Vorstellungswelt der mechanischen Naturtheorie, wie sie vor allem in Descartes' Physik dargelegt wird. Gleichzeitig verwirft Wagner alle Thomasischen Spekulationen über das Walten eines mysteriösen Geistes in den Naturerscheinungen wie auch Leibniz' Annahme einer in Gott präformierten intelligiblen Welt als Urbild der irdischen Dinge. Immer wieder macht er geltend, dass der Geist aus dem „Zeuge" kommt und dass die Natur, die Materie das Primäre, der Geist aber das Abgeleitete ist. So führt er gegen R. Descartes aus, dass Denken und Wahrnehmen vom Körper abhängen. Descartes' Dualismus von res extensa und res cogitans lehnte Wagner ab. So entgegnet er auf Thomasius' Behauptung, körperlich und geistig seien einander entgegengesetzt: „Durchaus nicht / sie sind nur unterschieden / entweder wie Ursach und Würckung / oder gar wie verwandte / einander verlangende Dinge." 74 Wagner erblickt die entscheidende Frage bei der Erörterung des Verhältnisses von Geist und Körper darin, was von beiden die Ursache des andern ist. Thomasius macht im Wesentlichen den Geist zum Primären. Gelegentlich lässt er auch die Materie (den „Zeug") dominieren. Wagner hat dies im Auge, wenn er Thomasius fragt: „Wer soll endlich Ursach seyn? der Zeug / doch auch nicht der Zeug; nicht der Geist / doch auch der Geist. Armer Thomas bist so unglücklich." Für Wagner gilt, der Geist ist „von des Zeugs Grösse / Gestalt / Lager geartet / bestimmt / daß seine Krafft darnach beschaffen ist." Die Untersuchung des Problems zeigt ihm, es werde „doch endlich der Geist außm Zeuge müssen kommen". Denn „die Geister / wo sie nicht sollen unendliche freye Götter seyn / sind an die ewigen Bewegungs=Gesetz gebunden / also an des Stöfs Unterscheid; also geben sie dem Stoff nicht Gestalt und Unterscheid sondern sie bekommen auch ihren Unterscheid und Würckung vom Zeuge." 75 Die Wahrheit erlangt der Mensch nach Gabriel Wagner durch das Studium der Natur und der menschlichen Verhältnisse. Sie liegt nicht in irgendwelchen Dogmen oder Regeln, son-
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72 73 74 75
Ebd., 397. Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 159. Ebd., 296f. Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs", 393. Ebd., 437.
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dem ist in den Dingen selbst begründet. Wagner verwirft auch Thomasius' Forderung, man solle von vornherein nur auf die Erkenntnis nützlicher Dinge ausgehen, weil die Erkenntnis unnützer, wenn auch wahrer Dinge Torheit sei. „Kan Wahrheit unnütz heissen?" fragt Wagner und fährt fort: „Warheit allein giebt beständigen Nutz; Nutz aus Lügen ist nicht gründlich: alle Warheit bringt Nutz / auch die Erkäntniß der Spitzbüberey / Zauberey / Ketzerey / Vergifftung u.d.g." 76 Die Wahrheit wird durch das Zusammenwirken von Sinnes- und Vernunfterkenntnis gewonnen. Alle Erkenntnis gründet sich letztlich auf die Sinneserkenntnis: All unser Wissen, betont Wagner, rührt aus der Einheit von Sinnes- und Vernunfterkenntnis her; jenseits beider - etwa durch Intuition - gibt es kein Wissen. Wagner meint zugleich, tiefere Erkenntnis könne nur mittels der Vernunft gewonnen werden: „die Sinne sind die erste Ursach / Gelegenheit und Thür / die Vernunfft aber der Richter der Warheit / welcher der Sinne irrige Vorstellung verbessert." Wenn man sich nur auf die Sinneserkenntnis beschränken wollte, würde man zu den absonderlichsten Vorstellungen kommen. Deshalb hat man den Vernunftsätzen mehr zu trauen, auch wenn sie scheinbar gegen Sinne und Erfahrung sind. Wollte man dem unmittelbaren Augenschein Glauben schenken, so wäre die Erde eine „platte / höckrige Tischfläche", stände still usw. Gerade die Vernunft beweise jedoch die Kugelgestalt der Erde und ihre Bewegung. Die Sinne sind lediglich das Werkzeug der Vernunft, Prüfung und Entscheidung liegen bei ihr. Denn die Sinne begreifen „nur das äuserliche / den Zeug / die Wirckung"; sie können aber nichts über das Wesen und die Ursachen der Dinge aussagen. Wagner anerkennt in der Sinneswahrnehmung den Ursprung der Wahrheit, auch, dass sie die Quelle aller Irrtümer sei. Aber nur „die Vernunfft an sich irrt nimmer / alle Irrthümer kommen vom Mangel der Sinne und genugsahmer Vorstellung." 77 Liegt ein Irrtum vor, so prüft dies die Vernunft, „überlegts die länge und quär", sucht und findet schließlich den Irrtum der Sinneswahrnehmung. Übrigens übersieht Wagner trotz seiner hohen Wertung der Rolle der Vernunft keineswegs die Wichtigkeit des Experiments und der Erfahrung. Er ist vielmehr ihr leidenschaftlicher Fürsprecher. Im Discursus bemerkte er zu Thomasius' These, die Wahrheit werde durch Nachdenken, Lehren, Erklären, Prüfen und Gedankenaustausch (meditando, docendo, interpretando, examinando et disputando) erlangt. „Crediderim, tantüm meditando, nisi velis praemittere, experimentando, vel sensibus usurpando." 78 Weiter heißt es, jeder wisse, dass die Wahrheit durch die Sinne, durch Erfahrung und Vernunft gefunden wird. Sinne, Erfahrung, Experiment liefern der Vernunft die Daten, durch die sie zu Abstraktionen gelangt, die ein tieferes Erfassen der Wirklichkeit gestatten. Thomasius hatte gefordert, die Sachen genau so zu denken, wie sie in den einzelnen Dingen sind. Dazu meint Gabriel Wagner: „O was würde da für ein Gewirre werden / wenn man in Gedancken keine Absonderung und Ordnung der Sache mache / sondern alles so auf einmahl denken wolte / wie es in den eintzeln Dingen ist." 79 Alle Erkenntnis beginnt für Wagner bei den Einzeldingen und schreitet fort zu den Allgemeinbegriffen. Die Bedeutung der Abstraktion besteht darin, dass sie die wesentlichen Züge der Dinge zu erfassen und ihre Ursachen zu erkennen hilft. Dazu sind nur die scholastischen Abstraktionen unfähig, denen Wagner eine reale Bedeutung abspricht. Im übrigen verweist er nachdrücklich darauf, dass die
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Ebd., 432. Ebd., 382f. Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 262. Vgl. Christian Thomasius, Introductio phiam aulicam, 101. Realis de Vienna, „Prüfung Des Versuchs", 382.
ad
philoso-
GABRIEL WAGNER (REALIS DE VIENNA)
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Begriffe von den Dingen bestimmt werden, deren Abbilder sie darstellen. Sie stimmen schließlich mit den Dingen überein, aus denen sie abgeleitet sind, sollen es wenigstens. Der Z u s a m m e n h a n g der Begriffe ergibt sich aus d e m Z u s a m m e n h a n g des W a h r g e n o m m e n e n . 8 0 W a g n e r bestreitet die universelle Gültigkeit der mathematischen Methode, die, von Descartes hoch gepriesen, damals von vielen Gelehrten (Spinoza, Tschirnhaus u. a.) angewandt wurde. Weit höher, da d e m Gegenstand der Naturforschung angemessener, steht f ü r ihn die mechanische Methode. Eine abstrakte, f ü r jeden Wissenszweig gleich vorteilhafte Methode lehnt W a g n e r ab; j e d e M e t h o d e soll durch die Spezifik des Objekts bestimmt sein. Die W a h r heit sei so tief in den Objekten begründet, so fest mit ihnen verknüpft, dass es sinnlos wäre, die Methode ihrer Erlangung außerhalb von ihnen zu suchen: „abstracteque quaerendi regulas tradere." 8 1 Lässt sich eine allgemeinverbindliche Experimentiermethode wegen der Verschiedenheit der körperlichen Objekte nicht angeben - u m wieviel weniger kann man angesichts der noch größeren Mannigfaltigkeit der Denkobjekte eine universale D e n k m e t h o d e erfinden! W a g n e r beruft sich wohl auf die unerschöpfliche Vielfalt der Dinge vor allem, u m die hochgespannten Ansprüche der damaligen Logik zurückzuweisen. W e r die große Mannigfaltigkeit der Dinge, der U m s t ä n d e erwägt, wird bekennen müssen, betont er immer wieder, dass man unmöglich allgemeine Regeln f ü r jeden möglichen Fall angeben kann. 8 2 Es genüge nicht, geometrische Erklärungen zu ersinnen, ohne in das Wesen einer Erscheinung eingedrungen z u . sein. Man müsse in der Mathematik mathematisch, in der Moral metaphysisch philosophieren, in der Physik „corpusculariter & causaliter", nirgends aber nach vorgefassten Begriffen. 8 3 Die Physik solle allen anderen Wissenschaften vorangehen; ihr habe die Mathematik zu dienen und nicht Vorschriften zu machen, denn die Physik hat es mit Körpern und Figuren, mit Kräften und B e w e g u n g e n zu tun, denen man mit einer geometrischen Bestimm u n g allein nicht gerecht werden kann. Das Fehlerhafte einer Ausdehnung der mathematischen M e t h o d e auf alle Wissenszweige erblickt W a g n e r darin, dass die zweifellos engstens mit der Physik verbundene Geometrie mit Größen und Figuren umgeht, die in der Natur nicht rein anzutreffen, sondern Abstraktionen des Verstandes sind, wie ζ. B. die gerade Linie. Er betont: die Forschungsmethode muss v o m Gegenstand her bestimmt sein, folglich darf man nicht die M e t h o d e einer Spezialwissenschaft in den Rang einer allgemeingültigen M e t h o d e erheben. Seine A n s c h a u u n g e n über das Methodenproblem gipfeln in der Überzeugung, es sei nicht notwendig, sich allzu viel bei der Frage nach einer allgemeinen Methode aufzuhalten. Die Methode sei frei und müsse stets frei bleiben. Das k ö n n e auch gar nicht anders sein, da alle Gewissheit aus der Sache selbst, nicht aber aus der M e t h o d e stamme. Die D u r c h f ü h r u n g von Experimenten, die A n n a h m e der Existenz von Korpuskeln und die ständige Forschung nach den Ursachen der Erscheinungen - diese Forderungen stellt W a g n e r an die Methode, wie sie in den Naturwissenschaften am Platze ist. W a g n e r hat sich a m ausführlichsten mit Descartes auseinandergesetzt, dessen mechanische Naturerklärung auf ihn wie auf viele zeitgenössische Naturwissenschaftler und Philosophen großen Einfluss ausübte. Er fixiert seine Stellung zu Descartes im Discursus. Hier bemerkt er zu Descartes' These „De o m n i b u s dubitandum est", am deutlich Wahrge-
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„[...] a rebus dependent; conceptus enim nostri conformantur rebus e quibus fluunt, debent saltern iis conformari. Connexio conceptuum oritur e connexione perceptorum." (Gottfried Wilhelm Leibniz, Textes inedits, 392). Realis de Vienna, „Discursus & dubia", 190. Ebd., 196, 224. Ebd., 298.
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nommenen könne nicht gezweifelt werden, nicht, weil den Sinnen blindlings zu trauen wäre, sondern weil der Verstand sofort berichtigend eingreift. Zu Descartes' Behauptung, man sei nur seines Denkens, seines Geistes gewiss, macht Wagner geltend, er sei von der Existenz seines Körpers überzeugt, und zwar durch sinnliche Wahrnehmung. Zuerst und unmittelbar freilich sei man sich dessen bewusst, dass man denke.84 Dass man einen Körper habe, erfahre man erst durch Sehen und Berühren. Wagner bestreitet Descartes' Behauptung, das Wesen des Körpers sei die Ausdehnung. Auch andere Dinge seien ausgedehnt, zum Beispiel der leere Raum. Wagner betont, dass das Denken eine ausgedehnte Substanz voraussetzt und vom Körper abhängt. Er wendet sich gegen die von Descartes vertretene Unsterblichkeit der Seele. Die Seele oder der Geist vergehe mit dem Körper, von dem sie abhängt. Von einer philosophischen Beweisbarkeit der Unsterblichkeit könne nicht die Rede sein. Wagner stimmt Descartes darin zu, dass die Tiere Maschinen seien, aber er bestreitet, dass sie, denen er sogar Keime des Denkens beilegt, nicht empfinden können, wie Descartes gemeint hatte. Am stärksten folgt Wagner Descartes in der mechanischen Naturtheorie. Auch er sucht gleich Descartes und den von ihm beeinflussten Naturwissenschaftlern, alle Erscheinungen der Natur durch Druck und Stoß zu erklären. Dass er dabei die cartesische Fluiditätslehre mit ihrer Leugnung des Leeren bestreitet, wurde bereits erwähnt. Wagner war generell weit davon entfernt, den Cartesianismus als Ganzes zu akzeptieren. Wagners Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie ist mithin dadurch gekennzeichnet, dass er es versteht, sich das Progressive anzueignen, das in der Auseinandersetzung mit der Scholastik von Philosophen und Naturwissenschaftlern wie Cusanus, Paracelsus, Jungius, Kepler, Guericke, Leibniz vertreten worden war. Er erhält ferner entscheidende Impulse von ausländischen Wissenschaftlern wie Descartes, Boyle, Gassendi und anderen. Von seinen Vorgängern übernimmt er vor allem die Prinzipien der mechanischen Naturtheorie und der Korpuskularlehre, wobei er die Einseitigkeit dieser Lehren durch Rezeption des Leibnizschen Kraftbegriffes zu überwinden trachtet.
Wagner ist vor allem originell in seinem Kampf gegen die scholastische Logik und in seinem Streben, den Naturwissenschaften an den Universitäten und im geistigen Leben überhaupt zur ersten Stelle zu verhelfen. Zudem ist er in seinen politischen Anschauungen radikaler als die meisten deutschen Wissenschaftler seiner Zeit. Nach Stiehler hat Wagner Schüler in seinem Geiste ausgebildet [...], die auch in Schriften die Sache ihres Lehrers vertraten. Leider lässt sich heute nicht mehr oder zumindest nur durch mühevolle Forschungsarbeit klären, wer die bedeutendsten von Wagners Schülern waren und wo sie gewirkt haben. Unbestreitbar ist, dass Wagner zu Lebzeiten eine bestimmte Wirkung in Deutschland ausgeübt hat. Nach seinem Tode jedoch scheint eine unmittelbare Wirkung von seinen Schriften nicht . · 86 mehr ausgegangen zu sein.
Dennoch haben seine Ideen fortgewirkt. Gleich F. W. Stosch, Th. L. Lau, Urban Gottfried Bucher (geb. 1679), Matthias Knutzen (1646- nach 1674) und Johann Georg Wächter (16731757) gehört Gabriel Wagner zu den herausragenden Vertretern der radikalen weltlichen Frühaufklärung in Deutschland.
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Ebd., 162, 170f.
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Gottfried Stiehler, „Gabriel Wagner (Realis de Vienna)", in: Beiträge zur Geschichte des vormaxistischen Materialismus, hg. v. Gottfried Stiehler, Berlin 1961, 63-123, zit. 122. Ebd., 123. Ders., Grundriss der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4, 1179, erwähnt Gabriel Wagner lediglich als Thomasius-Gegner (6 Zeilen!).
KAREN JOISTEN
Die Hauptstraße verlassen Oder: Mit Giambattista Vico auf einer anderen Fährte
Die Hauptstraße tradierten Wissens ist die Straße, auf der sich spätestens mit Rene Descartes und dem Aufkommen der Naturwissenschaften der Siegeszug des naturwissenschaftlich-mathematischen Denkens in Bewegung setzen konnte. Unaufhaltsam beschleunigte der Zug auf den schnurgeraden Gleisen des Fortschritts, und auch heute, mit uns als seinen Insassen, ist angesichts der Rasanz in der Entwicklung der Biotechnologie, der Nanotechnik, der Gen- und KI-Forschung keine ,Entschleunigung' zu erkennen. Diese Hauptstraße ist eine, wie Edmund Husserl beispielhaft herausgearbeitet hat, der „Lebensweltvergessenheit", bei der allmählich das „Ideenkleid" der Mathematik und das der mathematischen Naturwissenschaft, das ist „das Kleid der Symbole, [und] der symbolisch-mathematischen Theorien", zum herrschenden, alles beherrschenden Kleid wurde. 1 Die konkret-anschauliche Lebenswelt, die einen Handlungszusammenhang darstellt, wurde dabei übersehen, denn das „Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist". 2 Bei dieser unaufhaltsamen Fahrt auf der Hauptstraße der Verwissenschaftlichung des Lebens geriet ein Zeitgenosse Descartes', der gleichsam einen alternativen, einen integrativen Weg aufzeigen wollte, wirkungsgeschichtlich betrachtet auf das Abstellgleis. Die Rede ist von Giambattista Vico (1668-1744), der im Vergleich mit Descartes das Pech gehabt hat, kaum Einfluss auf die weitere Entwicklung menschlichen Handelns und Verhaltens nehmen zu können. Und blicken wir in unsere Zeit, dann gibt die Geschichte wiederum Descartes Recht. Denn auch wir leben heutzutage eher in einer Welt, wie sie Descartes denkerisch vorbereitet hat, und nicht wie sie Vico in den Blick nahm. In dieser cartesischen Welt ist die Ratio der Phantasie übergeordnet, erhält die sogenannte Kritik, die das eindeutig Wahre, die Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, anzielt, unzweifelhaft den Vorrang vor der sogenannten Topik, die sich um das Wahrscheinliche bemüht, wie es uns ζ. B. in der Rhetorik, der Poesie/Dichtung, der Malerei, der Jurisprudenz und der Geschichte begegnet. Im Folgenden geht es uns darum, zunächst Descartes' Beitrag zu dieser Entwicklung des menschlichen Geistes darzulegen. Allerdings geschieht dies abseits der üblichen Auslegungswege. Wir wenden uns nämlich primär den ersten beiden Teilen des Discours zu und hier vor allem seiner berühmten autobiographischen Schilderung (= a) Auf dem Weg hin zur Hauptstraße) und seiner Skizze zum Entwurf einer neuen Stadt (= b) Eine Stadt planen mit
2
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. v. Elisabeth Ströker, 2. verb. Aufl. Hamburg 1982, 55. Edmund Husserl, Krisis, 55.
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KAREN JOISTEN
Descartes). Wir wählen dabei vermutlich eher einen ,schrägen' Blick, der all die anderen geraden Blicke nicht ersetzen kann und will, aber vielleicht dadurch eine weitere Perspektive sichtbar werden lässt. Im Anschluss daran arbeiten wir Vicos Anliegen heraus und versuchen die Eigenart seines Denkens in der Absetzung von Descartes kenntlich zu machen (= c) Die Wege Vicos). Schließlich geht es uns d) darum, mit Vico auf dessen anderer Fährte unterwegs zu sein und e) beim Weitergehen die Möglichkeiten, die sich auf diesem Denkweg ergeben, grob zu umreißen.
a) Auf dem Weg hin zur Hauptstraße Liest man Descartes .ergebnisorientiert' und das heißt mit der Intention, seine Grundgedanken aus seinen Texten herauszuschälen, wird man hinsichtlich der Genese seines eigenen Denkens die Etappen: Bücher der Überlieferung, Buch der Welt, Weg in ihn hinein mit Hilfe eines Selbstgesprächs, benennen können. Am Ziel dieser Wegstrecke steht schließlich als das erste Prinzip seiner Philosophie das absolute und unerschütterliche Fundament der Wahrheit: sum cogitans, ich denke, also bin ich, das „so fest und sicher ist, dass die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten" (53).3 Von diesem Prinzip aus zieht Descartes bekanntlich seine geistigen Fäden hin zur Wahrheit, zur Vollkommenheit und Existenz Gottes und zur radikalen Gegenüberstellung zwischen Ich und Körper, zwischen dem Menschen als res cogitans (als denkendes Ding) einerseits und als der res extensa (als ausgedehnte Sache) andererseits. Ist der Erkennende mit Descartes geistig so weit gegangen, hat er mit ihm also das erste Prinzip der Philosophie akzeptiert und schreitet mit ihm zusammen denkerisch aus, ist er, vielleicht ohne sich darüber Rechenschaft abgelegt zu haben, bereits auf der Hauptstraße des Denkens unterwegs. Denn auf dieser gilt nur das als wahr, was wir „klar und deutlich" erfassen. Auf dieser lassen wir uns ausschließlich von der Evidenz der Vernunft und nicht von der Einbildungskraft, der Phantasie oder den Sinnen überzeugen. Auf dieser geht es darum, dank der Leitung der Vernunft voranzukommen, eine Wahrheit aus der anderen herzuleiten und so in der Linearität der ,Kette' der Wahrheiten den Raum für die Wissenschaft zu erschließen. Die Hauptstraße des Denkens ist dergestalt das Medium des sicheren Vernunftwissens, das Mittel, ,auf dem' und .entlang dem' der Transport von Vernunftgütern geschieht, und zwar zielorientiert und reibungslos und - je schneller die Fahrt im Zuge der Zeit wird - gepaart mit Effizienz und geringen Kosten. Achtet man kurz auf Descartes' geistigen Entwicklungsweg als Schüler bei den Jesuiten in La Fleche, wie er ihn in der berühmten autobiographischen Schilderung seiner Geistesgeschichte im ersten Teil des Discours darlegt, achtet man also auf seinen Weg hin zur Hauptstraße der Vernunftwahrheit, dann wurde er selbst, wie er betont, von Kindheit an entsprechend dem Lehrplan des jesuitischen Studienkollegs unterrichtet. Und das heißt, er hat eine klassische humanistische Bildung genossen, bei der klassische Literatur, Geschichte, Mathematik, Politik und Recht ebenso auf dem Programm standen wie Grammatik, Rhetorik und Philosophie. Nachdem Descartes diesen Bildungsgang, diese „ratio studiorum" durchlaufen hat, sieht er sich allerdings verstrickt in so viele „Zweifel und Irrtümer", dass es ihm
3
Die Angaben in Klammern beziehen sich auf folgende Ausgabe: Rene Descartes, Discours de la Methode: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übersetzt und herausgegeben von Lüder Gäbe, Hamburg 1960.
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M I T GIAMBATTISTA VICO AUF EINER ANDEREN FÄHRTE
schien, er hätte aus dem Unterricht keinen anderen Nutzen gezogen, als ihm mehr und mehr seine „Unwissenheit zu entdecken". Daher beschließt er, obwohl er, wie er betont, die Übungen schätzt, mit denen man sich diesen Studienbereichen zuwendet, die Bücher des Wissens zu schließen und im Buch der Welt und schließlich in ihm selbst Sicherheit zu suchen. Interessant ist, dass Descartes denkerisch seinen eigenen Entwicklungsgang - und hierzu gehört diese biographische Geschichte - nicht in seine Fahrt entlang der Evidenz der Vernunft integriert. Ist er also erst einmal auf der Hauptstraße des Denkens unterwegs, richtet er seinen Blick ausschließlich nach vorne, wodurch er solches nicht mehr theoretisch zu erfassen versucht, was ihm zu diesem Weg verholfen hat. Sagt man es in einem Bild von Wittgenstein, dann steigt Descartes auf der Leiter der Erfahrungen zu seinem Prinzip hinauf und wirft sie, kaum dass er (vermeintlich) sicheren Boden unter den Füßen erreicht hat, sofort weg. Er vergisst demnach, dass er die Erfahrungsleiter für seinen Aufstieg benötigt hat, und verhält sich in gewissem Sinne auf dieser geistigen ,Höhe' so, als wäre er seit dem Zeitpunkt seiner Geburt im „Vollbesitz" seiner Vernunft gewesen und hätte stets nur unter ihrer Leitung gestanden (vgl. 21/3). Dem widerspricht nicht, dass Descartes seinen geistigen Entwicklungsweg selbst anführt, immerhin haben wir ihn ja doch auch mit seiner Hilfe grob skizzieren können. Denn die systematische Integration dieses topischen Bereichs des Wissens würde es erforderlich machen, diesen Bereich als notwendige Bedingung für den Bereich der Wissenschaft zu erfassen und ihn zugleich (von einer integralen Mitte aus) nicht abzuwerten. Weil Descartes den topischen Bereich allerdings lediglich als rasch zu überwindende Sprosse für das Ziel V e r nunft' ansieht, erkennt er dessen Eigenwert, dessen spezifischen Wissensgrad und dessen spezifische Relevanz für das Leben nicht. So stellt der Discours, wie Samuel Ijsseling treffend herausarbeitet, „eine typische Form von erzählender Philosophie" dar, 4 die alles daran setzt, so könnte man den Gedanken fortführen, diese Form zunichte zu machen und sich endlich jenseits des Erzählens ausschließlich in dem Vernunftraum der Gewissheit zu bewegen.
b) Eine Stadt planen mit Descartes Will man mit Descartes die Unsicherheiten und Unebenheiten der Wege der Erfahrungen verlassen und sich hin zu der Sicherheit einer geradlinig-vernünftigen Hauptstraße begeben, dann kann man den Blick auf seine ,Vision' eines idealen Stadtraums richten. Diese Stadt, die für ihn zumindest in einer Art Gedankenexperiment an die Stelle der bisherigen Städte treten sollte, ist Inbegriff seines Entwurfs eines vollkommenen Wissensraums. Das heißt, dass sich am Bild der Stadt veranschaulichen lässt, wie Descartes zufolge Wissen geartet sein muss, wenn es der Wahrheit nahe kommen will. Wie charakterisiert Descartes seine neue geplante Stadt? Welche Kennzeichen können für sie herausgearbeitet werden? Im zweiten Teil seines Discours ist Ausgangspunkt seine „Überlegung, dass Werke, die aus mehreren Stücken bestehen und von der Hand verschiedener Meister stammen, häufig nicht so vollkommen sind wie Arbeiten eines einzelnen" (19). Hier wird deutlich, dass ein geistig-schöpferisches Produkt, das aus verschiedenen Teilen besteht und mittels der Tatkraft von verschiedenen geistig-schöpferisch Tätigen entstanden ist, zumeist weniger vollkommen ist als dasjenige, welches von einem einzigen Künstler hervorgebracht wurde. Die
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Samuel Ijsseling, Rhetorik gart/Bad Cannstatt 1988.
und Philosophie.
Eine
historisch-systematische
Einflihrung,
Stutt-
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KAREN JOISTEN
Vielzahl der Hände bringt für Descartes nämlich keine Vielfalt zum Ausdruck, sondern eine Inhomogenität, da jeder seinen Teilbeitrag buchstäblich dem Werk ansetzt. So ist es keine in sich abgerundete (Vernunft)Einheit, sondern bloßes Stückwerk, bei dem die Teile ungleichmäßig angeordnet sind. Im Anschluss daran wendet Descartes diese grundlegende Überlegung ,ein vollkommenes Werk hat zu seiner Voraussetzung einen Künstler mit einem einzigen Plan' zunächst auf Gebäude und dann auf alte Städte an: So kann man beobachten, dass Bauten, die ein Architekt allein unternommen und ausgeführt hat, für gewöhnlich schöner und harmonischer sind als solche, die mehrere versucht haben umzuarbeiten, indem sie alte, zu anderen Zwecken gebaute Mauern benutzten. Ebenso sind jene alten Städte, die - anfänglich nur Burgflecken - erst im Laufe der Zeit zu Großstädten geworden sind, verglichen mit jenen regelmäßigen Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer Ebene absteckt, für gewöhnlich ganz unproportioniert; zwar findet man oft ihre Häuser - betrachtet man jedes für sich - ebenso kunstvoll oder gar kunstvoller als in anderen Städten, - wenn man jedoch sieht, wie sie nebeneinanderstehen, hier ein großes, dort ein kleines, und wie sie die Straßen krumm und uneben machen, so muss man sagen, dass sie eher der Zufall so verteilt hat und nicht die Absicht vernünftiger Menschen. (19/21)
Blickt man auf den Spezialfall der Gebäude, dann kann die genannte Überlegung bestätigt werden. Denn diese sind ästhetisch „schöner und harmonischer", wenn ihnen der Entwurf eines einzigen Architekten zugrunde liegt. Ihre Teile passen dann zueinander und stehen in einer geregelten Ordnung in einem gleichmäßigen Verhältnis. Vergleicht man im nächsten Schritt alte Städte, die schrittweise (fast müsste man sagen: stückweise) zu Großstädten angewachsen sind, mit der Regelmäßigkeit und Proportionalität der Plätze, die kraft der Vorstellungskraft eines Ingenieurs auf einer dafür vorgesehenen, mit dem Maßband abgesteckten Fläche möglich wurden, dann sind diese Großstädte Ansammlungen ungleichförmiger, disparater Teile. Diese scheinen ihre Zusammenstellung auch nicht der Vernunft, sondern eher dem Zufall zu verdanken, was darin sichtbar wird, dass die Verhältnisse unter ihnen nicht stimmen und buchstäblich jegliches Haus, egal, ob es groß oder klein ist, neben den ihm entgegengesetzten und zu ihm nicht passenden stehen kann. Setzt man sich Descartes zufolge daher das Ziel, etwas möglichst Vollkommenes hervorzubringen, dann sollte der menschliche Geist nicht auf bereits Vorhandenes zurückgreifen, sondern sein eigenes Werk mit Hilfe seiner Vernunft hervorbringen: „Und wenn man bedenkt, dass es doch zu jeder Zeit Beamte mit dem Auftrag gab, die Bauten von Privatleuten zu überwachen, um sie in den Dienst der Verschönerung des Stadtbildes zu stellen, so wird man wohl einsehen, dass es schwierig ist, etwas höchst Vollkommenes zu schaffen, wenn man nur an fremden Werken herumarbeitet" (21). Arbeitet man nämlich nur äußerlich an etwas mit, ohne es in einem einzigen Entwurf selbst gestaltet zu haben, gelingt keine wirkliche Ordnung des Ganzen, da die integrale Mitte, die hier die „Absicht vernünftiger Menschen" ist, fehlt. Überblickt man Descartes' Plan einer idealen Stadt, dann lässt sie sich folgendermaßen kennzeichnen: sie hat a) b) c) d)
einen einzigen Urheber; sie ist homogen; sie ist in dieser Homogenität ein einheitliches Ganzes; in ihr manifestiert sich die Vernunft ihres Urhebers; sie ist als allein auf Vernunft gegründete voraussetzungslos, insofern sie
MIT GIAMBATTISTA VICO AUF EINER ANDEREN FÄHRTE
e) f)
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das Wissen, das sich im Lauf der Zeit als Erfahrungswissen angesammelt hat, nicht zu berücksichtigen versucht; sie ist traditionslos. In der Konsequenz ist die Stadt ein Wissensraum, in dem die Leitung in den Händen der Vernunft liegt und alte Fundamente und Grundsätze, wie Meinungen, Gewohnheiten und Beispiele, möglichst nicht berücksichtigt werden.
c) Die Wege Vicos Während es Descartes darum geht, die Hauptstraße des Denkens zu erreichen, um auf diesem unerschütterlichen Wahrheitsfundament Gewissheit an Gewissheit wie die Perlen einer Kette aneinander reihen zu können, bewegt sich Vico auf zahlreichen Wegen, die unterschiedliche Wissensformen mit sich führen. Allerdings geschieht dies nicht in naivunreflektierter Weise, sondern mittels seines berühmten Prinzips „verum et factum convertuntur", Wahres und Geschaffenes sind konvertibel, das ihm die Sicherheit bietet, sich nicht auf der Fülle der Wege zu verlaufen. Bildlich gesagt: Das Vico-Axiom 5 ist eine Art Navigationssystem, das ihm die Orientierung innerhalb unterschiedlicher Wissenswege mit je spezifischen Wahrheitsgraden gewährleistet, insofern es nicht nur die Spezifik des jeweiligen Weges zu beschreiben vermag, sondern diesem auch seinen Ort innerhalb des ganzen Wegenetzes anzeigen kann. Der Gehalt von Vicos Axiom lässt sich anhand seiner 1710 erschienenen Abhandlung Liber metaphysicus6 und anhand seines Hauptwerkes Prinzipien einer neuen Wissenschaft1 8 herausarbeiten. Im Uber metaphysicus wird sichtbar, dass für Vico - analog zu Descartes die Existenz Gottes eine Tatsache darstellt und sein Denken einer metaphysischen Konzeption Ausdruck verleiht, die den Grundsatz ,Gott ist', genauer gesagt, ,der christliche Gott ist' der Sache nach an die erste Stelle gerückt hat. Dabei wird Gott primär von seiner schöp-
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Ferdinand Fellmann hat dieses Prinzip ins Zentrum seiner wichtigen Vicodeutung Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976, gerückt. Von diesem - entsprechend der geläufigen Einteilung der Philosophie - in drei Teilen geplanten Entwurf (Metaphysik, Naturphilosophie und Ethik) ist nur der erste Teil erschienen. Der vollständige Titel dieses Entwurfs einer neuen Philosophie lautet: „De antiquissima Italorum sapientia ex Linguae Latinae originibus eruenda"- im Folgenden abgekürzt in Klammern im Text LM (Zitiert nach: Giambattista Vico, Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia liber primus) 1710, Risposte 1711, 1712, aus dem Lat. und Ital. ins Deutsche übertragen von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer, mit einer Einleitung von Stephan Otto, München 1979). 3. Auflage 1744, 1. Auflage 1725, 2. Auflage 1730. Die erste Auflage der Scienza nuova differiert im Aufbau erheblich von den beiden folgenden Auflagen und kann als ein eigenes Buch gedeutet werden. Wir beziehen uns, wie üblich, auf die 3. Auflage von 1744. Hier lautet der vollständige Titel: „Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker" - im Folgenden abgekürzt in Klammern im Text SN (zitiert nach: Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen senschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Teilband 1, übersetzt von Vittorio Hösle und Christoph Hermann und mit Textverweisen von Christoph Jermann, mit einer Einleitung „Vico und die Idee der Kulturwissenschaft" von Vittorio Hösle, Hamburg 1990). Zum Inhalt des Liber metaphysicus siehe die vier Beiträge in dem von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer herausgegebenen Sammelband Sachkommentar zu Giambattista Vico „Liber metaphysicus", München 1985. Vgl. ferner meinen Beitrag „Topik, Kritik und geometrische Methode. Die Bedeutung von Giambattista Vicos 'Liber metaphysicus'", in: Deutsche Zeitschriftftir Philosophie 52, Berlin 4/2004, 541-552.
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ferischen Seite her gesehen und als der „erste Schöpfer" und „der Schöpfer von allem" gefasst, dem „die äußersten wie die innersten Elemente der Dinge gegenwärtig sind", da er sie „in sich" enthält (LM 35/7). Das menschliche Schöpfertum steht Vico zufolge in einer inneren Entsprechung zu diesem göttlichen Schöpfertum, insofern der Mensch auch sein Wahres hervorbringen kann, auch wenn dieses im Vergleich mit dem Göttlichen „nur eine Skizze oder ein flächenhaftes Bild, gleichsam ein Tafelbild" (LM 37) darstellt, dem der Umfang und die Tiefe mangeln. Sieht der Mensch allerdings ein, dass er „das Wesen der Dinge" nicht erfassen kann, da er die „Elemente, aus denen die Dinge zusammengesetzt sind, nicht besitzt", und sieht er ein, dass dies „aufgrund der Unzulänglichkeit seines Geistes nicht gelingen kann", dann kann er den „Mangel seines Geistes zu seinem eigenen Nutzen" wenden. Er kann jetzt nämlich „gleichsam nach dem Vorbild Gottes, ohne zugrundeliegende Materie, gewissermaßen aus dem Nichts, Dinge wie den Punkt, die Linie und die Fläche" schaffen (LM 43). Mit anderen Worten: Hat der Mensch erst einmal erkannt, dass er nur das wirklich erfassen kann, was er selbst hervorgebracht hat, kann er „künstliche Gebilde" wie den Punkt und die Linie entwerfen, mit deren Hilfe er seine geistigen Wahrheiten in seinen Wissenschaften und Künsten hervorbringt. Am Ursprung der Wissenschaften steht daher die Einsicht in den „Mangel des Geistes", „nämlich in seiner äußersten Unzulänglichkeit, deretwegen er sich allen Dingen äußerlich gegenüber befindet und deretwegen er das, was er wissen möchte, nicht in sich enthält" (LM 45). Auf diesem Hintergrund ist für Vico das Kriterium des Wahren folglich keine cartesische „klare und deutliche Erkenntnis", sondern, wie er explizit heraushebt, „Kriterium und Regel des Wahren [...] ist das Geschaffenhaben selber" (LM 45). Angesichts der Fülle und Vielfalt menschlicher Wahrheitsarten gibt dem Menschen nicht das cartesische, sondern das von Vico betonte Kriterium die Möglichkeit, jede einzelne Wissenschaft und Kunst danach zu befragen, ob und in welcher Weise die Gegenstände geistig hervorgebracht wurden: „Darum sind jene Wissenschaften die gewissesten, die den Mangel ihres Ursprungs auslöschen und im tätigen Hervorbringen der göttlichen Wissenschaft ähnlich werden, wie es in jenen Wissenschaften der Fall ist, in denen das Wahre und das Geschaffene konvertibel sind" (LM 45). Auf Grund dessen kann Vico Grade der Sicherheit der jeweiligen Wissenschaften bzw. Künste bestimmen: je mehr sie ihren Ursprung außerhalb des menschlichen Geistes haben und das heißt, je mehr sie „in körperliche Materialität eingesenkt sind", desto unsicherer sind sie, denn desto weniger sind sie von ihm gemacht. Die „geoffenbarte Theologie", die eine Selbstaussage Gottes in Christus darstellt, ist daher „die sicherste von allen Wissenschaften" (LM 35), insofern sie durch Gott gleichsam verbürgt ist, neben der die Geometrie und Mathematik als die „gewissesten" menschlichen Wissenschaften herausgehoben werden. In Vicos Hauptwerk Prinzipien einer neuen Wissenschaft wird das verum-factum-Prinzip primär auf die geschichtlich-kulturelle Welt bezogen, wodurch in dieser Verschiebung der Anwendung das mathematisch-geometrische Wissen aus dem Blick gerät. Denn während man, wie herausgearbeitet, im Liber metaphysicus die Vielfalt der Wissensarten dank des „Kriterium(s) und der Regel des Geschaffenhabens selber" in eine Vielfalt von Wahrheitsgraden mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen auffächern kann, bei der die „geoffenbarte Theologie" und die Mathematik und Geometrie, hier für Gott, dort für den Menschen, die jeweils .wahrste' Wissenschaft darstellen, wird nun in der Fokussierung auf das geisteswissenschaftliche Wissen in der Lebenswelt der Völker dieses als das erkenntnistheoretisch Wahrste herausgestellt: „Doch in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: dass
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diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden" (SN 142). Der Mensch kann demnach „von der Welt der Völker oder politische(n) Welt" Wissen erlangen, weil diese auch von ihm geschaffen wurde. Dies geschieht im Zeilenabstand durch den Aufweis der „allgemeinen und ewigen Prinzipien", die im menschlichen Geist zu finden sind und das heißt, es geschieht in einer Art ,Blick zurück' im schaffenden Nachschaffen der bereits geschaffenen Welt der Völker. Dieses schaffende Nachschaffen des bereits Geschaffenen ist ein geistiges Hervorbringen allgemeiner Prinzipien, mit deren Hilfe das wissenschaftliche Verstehen der Geschichte gelingt. So wird Philosophie in der Hervorbringung dieser Prinzipien zur wahren Wissenschaft und die Philologie, die den Gegenstandsbereich der geistig-kulturellen Welt beinhaltet, zur Wissenschaft vom GewissenIcertum.
d) Unterwegs auf einer anderen Fährte Versucht man mit Vico der Vielfalt der Wahrheitsformen mit ihren je spezifischen Wahrheitsgraden gerecht zu werden, wobei jede für sich ihre je eigene Bedeutung hat und gegenüber einer anderen nicht auf- oder abgewertet werden darf, dann tritt man in einen anderen ,Wissensraum' als den von Descartes ein. Denn hier bewegt man sich nicht entlang der Hauptstraße des Denkens in einer idealen (Vernunft)Stadt, sondern in einem konkreten Lebens- und Handlungszusammenhang der Geschichte. Dieser besteht aus einem Geflecht aus Haupt- und Nebenstraßen, die in einem untrennbaren Zusammenhang stehen und in unterschiedliche Bezirke mit je eigenem Charakter führen. So kann man in ihr mittels des verum-factum-Prinzips den Bezirk der Mathematik, Mechanik oder Moralphilosophie ebenso aufsuchen wie den der Kunst oder Geschichte. Der Sich-Bewegende ist daher auch nicht das cartesische Subjekt des reinen cogito, sondern der in der tradierten Geschichte wurzelnde Mensch, der diese in ihrem Reichtum und in ihren Prinzipien zu erfassen versucht. Dabei begibt er sich nicht ausschließlich unter die Leitung der Vernunft, sondern berücksichtigt die Sinne, die Phantasie, das Gedächtnis, die Klugheit und den sensus communis, den Gemeinsinn. In der Stadt Vicos stehen daher bisweilen alte und neue Häuser in einer Straße nebeneinander, aber auch große und kleine, solche mit einem spitzen Giebel und solche mit einem Flachdach, wobei diese Straße mit anderen Straßen verbunden ist. Ja, seine Stadt ist Inbegriff eines Strukturgefüges, das aus historischen, denkmalgeschützten Gebäuden, modernsten Neubauten, einer Vielzahl von Plätzen und Bereichen besteht und Alt und Neu, Vergangenes und Gegenwärtiges, fremde Kulturen und die eigene Kultur in sich vereinigt. Sie ist, wie man mit Wittgenstein sagen kann, daher ein „Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern." 9 Will man sich in dieser Stadt zurecht finden, hat man daher nicht möglichst rasch die Leiter zum unerschütterlichen Fundament der Wahrheit hinauf zu steigen und sie dann sofort außer acht zu lassen, vielmehr muss man sich um der Wahrheit willen innerhalb des Wahrscheinlichen bewegen, darf also buchstäblich den Boden der Geschichte unter den eigenen Füßen nicht verlieren. Das bedeutet, dass Vico zufolge der Mensch seine „eigentümliche 9
Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, § 18, 245.
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Natur" zu entfalten hat, die in dem Vermögen besteht, „Getrenntes und Verschiedenes zu einer Einheit zu verbinden" und das „Zusammenmaß der Dinge zu erblicken" (LM 127). Sie besteht folglich - wie Vico insbesondere unter Rückgriff auf die humanistisch-rhetorische Tradition sagen kann - in der Entfaltung des „Ingeniums", das sowohl in der Phantasie als auch in der Vernunft als zusammenformende Kraft tätig ist. Wenn der Geist demnach seine drei Tätigkeiten Wahrnehmung (perceptio), Urteil (iudicium) und schlussfolgerndes Denken (ratiocinatio) ausübt, dann ist in ihm das Ingenium wirksam: so vermag die Phantasie als „Auge des Ingenium" die Sinnbilder der Dinge", „imagines rerum" hervorzubringen (LM 11). Das dadurch geschaffene Ähnliche kann durch die Urteilskraft als „Auge des Intellektes" in seiner Ähnlichkeit betrachtet und schließlich mittels der ingeniösen Vernunft {„mens") zusammengemessen und in eine Proportion gebracht werden. 10 Aus einer anderen Perspektive betrachtet, hat der Mensch nicht nur wissenschaftlichkritisch zu verfahren, da er zunächst topisch-inventiv möglichst viele Gesichtspunkte einer Sache finden soll. Er hat also der Vielfalt, Komplexität und dem Reichtum der Erfahrungswelt gerecht zu werden, indem er möglichst alles zu sehen versucht. Auf der Basis dieser zahlreichen Gesichtspunkte kann er Ähnlichkeitsbezüge herstellen, die einen möglichst genauen Begriff der zu untersuchenden Sache ergeben, der im nächsten Schritt einer kritischen Prüfung zu unterziehen ist. Denn „erst dann, wenn man in kritischer Intention alle topisch erhebbaren Hinsichten durchleuchtet hat, wird man auch die Gewissheit haben, einen Sachverhalt deutlich und unterschieden (clare et distincte) zu wissen. Man hat ja die zur Untersuchung stehende Sache im Hinblick auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hin und her gewendet. Das heißt: eine topische Untersuchungsweise, die alle nur möglichen Fragehinsichten durchlaufen hat, wird selber eine kritische Untersuchungsweise werden" (LM 133). Ist man daher mit Vico auf einer anderen Fährte unterwegs, versucht man weder einer weitschweifenden Phantasie noch einer dürren Rationalität zu folgen. Vielmehr bemüht man sich darum, in den topischen Bezirken des Wahrscheinlichen reich und erfinderisch zu werden und sich auf den Straßen des kritischen Denkens dem Wahren zuzuwenden. Der Weg der geistigen Bildung, die ratio studiorum, ist für Vico demnach ein integrativer Weg, bei dem nicht wie bei Descartes allein die Kritik Berücksichtigung findet, sondern bei dem Topik und Kritik miteinander versöhnt sind. In der Rede De nostri temporis studiorum ratione sagt daher Vico: [So] sollte man, meine ich, die jungen Leute in allen Wissenschaften und Künsten, ohne ihrem Urteil vorzugreifen, unterrichten, so dass sie für die Gemeinplätze der Topik reichen Gehalt gewinnen können, und inzwischen durch den Allgemeinsinn zur Klugheit und zur Redekunst heranwachsen, und in Phantasie und Gedächtnis sich für die Künste, deren Stärke diese Geisteskräfte sind, befestigen; dann sollten sie das kritische Denken lernen, und nun erst damit anfangen, über das, was man sie gelehrt hat, selbständig zu urteilen, und sich üben, sowohl dafür wie dagegen zu sprechen. So würden sie in den Wissenschaften wahrhaftig, zur sachlichen Klugheit geschickt, für die Redekunst gehaltreich, für Poesie und Malerei phantasievoll, für die Jurisprudenz gedächtnisstark; und außerdem wäre dafür gesorgt, dass sie nicht übermütig würden, wie diejenigen, die über die Dinge schon beim Erlernen disputieren, und nicht übergewissenhaft, wie Schüler, die nur das für wahr halten, was der Lehrer vorsagt. 1
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Vgl. hierzu: Stephan Otto, Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, insb. 43-48. Gian Battista Vico, De nostri temporis studiorum ratione. Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, Lat.-dt. Ausgabe, übertragen von Walter F. Otto, Darmstadt 1984, 35/7. Vgl. 55/7 und 149.
MIT GIAMBATTISTA VICO AUF EINER ANDEREN FÄHRTE
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e) Weitergehen Begibt man sich auf den Denkweg Descartes', begibt man sich, wie man in Anlehnung an Samuel Ijsselling sagen kann, auf die Suche „nach einem anderen ,Ort'". 12 Der Mensch bewegt sich dann nämlich nicht in seiner konkreten Lebenswelt, in der der Mitmensch, die Kategorien Sinn, Wert, Ideal und Norm, qualitativ differente Gegenden und Orte mit je eigenen Wissensformen, Wahrheitsgehalt und -anspruch, fraglos präsent sind, hat er doch diese Lebenswelt hin zu dem ,Ort' der Vernünftigkeit, der Wahrheit und Gewissheit überschritten. An diesem Ort kann er in der Sicherheit seiner Wahrheit verharren und buchstäblich seine Suche nach Wissen einstellen; denn er hat das Wissen, auf das es ihm ankommt, bereits gefunden. Er kann sich folglich in Descartes' idealen Stadtraum zurückziehen, der den Inbegriff seines vollkommenen Wissensraums darstellt. Und er kann von hier aus alle anderen Wissensräume abwerten - immerhin sind diesen ja auch nur niedrigere Wahrheitsgrade immanent. Descartes' Entwurf dieser idealen Stadt lässt sich auf diesem Hintergrund als Entwurf eines mathematischen Raums deuten, der im Unterschied zum Raum der Geschichte steht. Unter Rückgriff auf Otto Friedrich Bollnow können acht Bestimmungen des mathematischen Raums herausgehoben werden.13 So ist der mathematische Raum - und das ist die entscheidende Eigenschaft - homogen, das heißt, kein Punkt, Element oder Teil in ihm zeichnet sich vor einem anderen aus. Auch ist er isotrop, da in ihm alle Richtungen gleiche Eigenschaften haben: „Man kann durch eine einfache Drehung jede beliebige Richtung im Raum zur Koordinaten-Achse machen."14 Des Weiteren ist der mathematische Raum in sich unstrukturiert, stetig, unendlich und wertneutral, da er durch keine „Lebensbeziehungen fördernder wie hemmender Art auf den Menschen bezogen" ist.15 Ferner ist er bedeutungslos, insofern er für den Menschen keine Bedeutungen trägt. Schließlich hat er auch keinen konkreten Bezug zum Menschen, da er als eine Art Abstraktum getrennt und losgelöst von seiner lebendigen Wirklichkeit besteht. Ist man mit Vico demgegenüber im topischen Raum des wahrscheinlichen Wissens und von diesem ausgehend - im kritischen Raum des wahren Wissens unterwegs, dann begibt man sich nicht auf die Suche nach einem anderen Ort. Stattdessen macht man ernst damit, dass sich der Mensch zunächst und zuvor in dem Handlungszusammenhang der Geschichte 12
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Hier schreibt Samuel Ijsseling zu Recht: „Alles, was gesagt und behauptet wird, alle Theorien, denen gehuldigt, alle Auffassungen, denen angehangen wird, müssen gerechtfertigt werden. Man sucht nach einer Fundierung, nach einer Basis, aufgrund derer man etwas als wahr und gewiß annimmt. Natürlich stellt sich diese Verantwortung oder dieses Fundament bei den verschiedenen Denkern nicht immer einheitlich dar. Man sucht fortwährend nach einem anderen ,Ort\ Unter anderem kann es sich um folgendes handeln: Vernünftigkeit (Rationalismus), Verallgemeinerbarkeit (Kant), Evidenz, Wahrnehmung oder die unmittelbare Gegenwart für den Menschen selbst und die Welt (Phänomenologie), Tatsächlichkeit und Objektivität (Empirismus), Formalisierbarkeit und ähnliches mehr. Dabei geht es stets um einen Grund (logos), der selbst aber nichts mehr mit der Sprache oder dem Sprechen zu tun hat." (Rhetorik und Philosophie, 99f.) Bollnow arbeitet diese acht Bestimmungen des mathematischen Raums in der Absetzung vom erlebten und gelebten Raum heraus. Vgl. dazu: Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart/Berlin/Köln 7 1994, insb. 16-18. Wir wenden diese Kennzeichnungen im Folgenden in Abhebung zum Raum der Geschichte an. Ebd., 17. Vgl. ebd., 18.
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bewegt und diesen geistig als die mit ihm untrennbar verbundene Wirklichkeit erfassen will. Der Raum erweist sich dann als inhomogen, insofern er im nachschaffenden Erschaffen der ewigen Prinzipien seine ausgezeichneten Punkte erhält. Auch ist er anisotrop und das bedeutet, er hat in dem Prozess der geschichtlichen Ereignisse ein ausgezeichnetes Achsensystem. Des Weiteren weist er in seiner Strukturierung sowohl in der synchronen als auch in der diachronen Betrachtung qualitative Differenzen zwischen (Wissens)Gegenden und (Wissens)Orten auf, durch die er reich und vielfach gegliedert ist. Auch ist er unstetig, wodurch es bisweilen zwischen den einzelnen Bereichen Übergänge, bisweilen scharfe Grenzen, gibt. Darüber hinaus ist er als Raum der menschlichen Geschichte zwar endlich, wird aber durch die von Vico angenommene ewige ideale Geschichte unendlich.16 Schließlich ist er nicht wertneutral, da er das Verhalten des Menschen fördert oder hemmt. Er ist auch bedeutungsvoll, insofern der Mensch, von diesem oder jenem Traditionszusammenhang herkommend oder auf diesen oder jenen ausschreitend, spezifische Bedeutungen erfassen kann. Und er hat einen konkreten Bezug zum Menschen, weil er als der von ihm gemachte Raum auch von ihm durchschaut werden kann. Setzt man diese Räume in Beziehung zueinander, dann kann man vom mathematischen Raum Descartes' nicht in den topischen Raum der Lebenswelt und der Geschichte gelangen, insofern Descartes theoretisch die Tür zu diesem hinter sich verschlossen hat (dies wurde oben mittels des Bildes der Leiter veranschaulicht). So stellt seine Suche nach einem unerschütterlichen Fundament und einer letzten Gewissheit weniger eine wirkliche Suche dar, die als Philosophieren unermüdlich und undogmatisch dazu bereit ist, den einmal eingenommenen Wissensstandpunkt offen zu halten. Stattdessen zeigt sich in ihr bereits so etwas wie eine Sucht, also ein Fixiertsein und Festhalten an solchem, was letztlich in der Schwebe, im Unterwegssein, in der Veränderung, gehalten werden müsste. Vico vermeidet im Unterschied zu Descartes das zwanghaft anmutende Verharren auf der Gleichsetzung: Wissenschaftlichkeit = Wahrheit = Ziel = höchster Wert = höchstes Wissen. Stattdessen fächert er mittels des verum-factum-Prinzips die Einheit des Wissens in eine Vielfalt von Wissensarten auf, die jede für sich ihre spezifische Relevanz und Geltung hat. So hat beispielsweise die phronesis, die Klugheit, für den Menschen in seiner Beziehung zum Mitmenschen eine größere Bedeutung als das wissenschaftliche Wissen - trotz des geringeren Wahrheitsgrades, der sich in ihr zeigt. Mit Hilfe Vicos wird man sich daher in den unterschiedlichen Wissensräumen bewegen können. Ja, man wird buchstäblich dazu aufgefordert, weiterzugehen und sich in keinem Raum ein- für allemal einzuschließen und abzuschotten. Und so wird Descartes in der Stadt Vicos einen Ort finden, an dem er leben kann. In der Stadt Descartes wird sich Vico demgegenüber nur gelegentlich aufhalten wollen.
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Auf diesen Zusammenhang konnte in der vorliegenden Untersuchung nicht eingegangen werden.
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Jean-Jacques Rousseau - Repräsentant oder Kritiker der Aufklärung?
Während sich gegenüber der im Titel genannten Frage auch fragen ließe, ob Rousseau beides gewesen sei, verbietet sich hingegen der Gedanke, dass er keines von beiden gewesen sei. Rousseau (1712-1778) war ein Denker des 18. Jahrhunderts - und zwar einer der einflussreichsten. In diesem Jahrhundert, das zu Recht das „Jahrhundert der Aufklärung" genannt wird, konnte nicht theoretisiert werden, ohne auf die immer dominanter werdende Aufklärungsbewegung in dieser oder jener Weise Bezug zu nehmen. Die Aufklärer wie ihre Gegner waren Kinder ihrer Zeit. Die Antwort auf die gestellte Frage hängt davon ab, welchen Begriff man von „Aufklärung" hat. Wenn ich unter Aufklärung eine von Descartes ausgehende rationalistische Denkweise verstehe, die in Logik, Mathematik und Mechanik ihre Triumphe feierte, dann ist Rousseau alles andere als ein Aufklärer. Zu den metaphysischen Systemen des 17. Jahrhunderts, die dem Rationalismus verpflichtet waren, hatte er ein kritisches Verhältnis, und sein Bruch mit dem Mathematiker und Enzyklopädisten d'Alembert hatte nicht nur Gründe, die in der komplizierten Persönlichkeitsstruktur Rousseaus lagen. Am unumwundensten hat es Vorländer, der die rationalistische Denkweise als Hauptstrang der Aufklärung sah, ausgesprochen: „Rousseau ist kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung."' Wenn ich unter Aufklärung eine von Bacon ausgehende empiristische Denkweise verstehe, die aber ebenso wie die rationalistische auf Entwicklung von Wissenschaft und auf technische Erfindungen, auf Produktion von Reichtum und auf schwunghaften Handel zielt, dann ist Rousseau nur sehr bedingt ein Aufklärer. Zweifellos ist er von Einflüssen des englischen aufklärerischen Denkens nicht frei, aber seine Zielstellung deckt sich keinesfalls mit der, die etwa John Locke eigen ist. In ihren „philosophischen Fragmenten", die unter dem Titel Dialektik der Aufklärung erschienen sind, haben Horkheimer und Adorno die Denkweise von Francis Bacon zum Ausgangspunkt ihrer Kritik der Aufklärung genommen. Zwar haben sie den Mangel an Mathematik bei Bacon vermerkt, aber die nachfolgende Wissenschaftsentwicklung hat diesen schnell behoben. Schon bei Hobbes dominiert die geometrische Denkweise. Zwei Sätze nur, die Horkheimers und Adornos Begriff von Aufklärung beleuchten: „Was dem Maß der Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig." 2 Und weiter: Der letzte „Abhub der Aufklärung"
1
Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie, II. Band, Leipzig 7 1927, 219. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung - Philosophische a. M. 1997, 12.
Fragmente,
Frankfurt
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ist der „moderne Positivismus". 3 Da nun bei Rousseau „Berechenbarkeit" höchstens eine negative Rolle spielt und er alles andere ist, nur nicht der Stammvater des modernen Positivismus, kommt er - was ganz folgerichtig ist - in der Dialektik der Aufklärung kaum vor. Die meisten französischen Denker des 18. Jahrhunderts waren in ihren philosophischen Anschauungen stark vom Empirismus des John Locke geprägt. Condillac ist hierfür vielleicht das hervorragende Beispiel. Der ausschließende Gegensatz von empiristischer und rationalistischer Denkweise hat zwar innerhalb des gnoseologischen Bereiches Geltung, aber er ist kein absoluter. Voltaires Schriften sind nicht ordo geometrico verfasst, aber er war ein eifriger Propagandist der Newtonschen Mechanik. Überhaupt lassen sich die Denker der Aufklärungsepoche nicht über einen Kamm scheren. Es waren recht unterschiedliche Zuflüsse, die den aufklärerischen Strom speisten. Einen „reinen Aufklärer", der alle Merkmale aufklärerischen Denkens in sich vereinigt, hat es wohl nur selten gegeben. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der Aufklärung deshalb darauf hingewiesen, dass es mehr die philosophische Haltung ist, die die Aufklärer eint, weniger die verschiedenartigen Lehrgebäude, die sie errichtet haben. Über diese wurde heftig gestritten, was - um nur ein Beispiel anzuführen - die Reflexionen über Helvetius' Buch Vom Geist von Diderot bezeugen. Wenn ich das Monumentalwerk Enzyklopädie, dessen Seele eben Diderot war, in den Mittelpunkt der französischen Aufklärung stelle, dann steht Rousseau doch etwas außerhalb dieses Zentrums. Zwar hat er Artikel über Musik für die Enzyklopädie verfasst, zwar war er mit Diderot eine bestimmte Zeit befreundet - was nicht ohne Einfluss auf eine bestimmte Periode seines Schaffens geblieben ist - , aber er hat auch den Kreis der Enzyklopädisten, die „philosophers", scharf kritisiert. Wer nur die Enzyklopädisten als zur Aufklärung gehörig ansieht, der kann nur sehr bedingt Rousseau zur Aufklärung rechnen. Fasse ich dagegen „Aufklärung" als eine historisch bestimmte geistig-kulturelle Bewegung, die vorzüglich durch Kritik an den gesellschaftlichen, feudal-absolutistischen Gegebenheiten, also an religiösen und philosophischen, moralischen und rechtlichen, politischen und sozialen und auch an ökonomischen (man denke an die Physiokraten) Verhältnissen charakterisiert ist, die objektiv das Ableben der Feudalgesellschaft beförderte und der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft auf theoretische und ideologische Weise den Boden bereitete, dann werde ich all die Denker, die diese Bewegung initiierten und auf je eigene Weise, in je verschiedenen Genres und Stilarten vorantrieben, als Teilnehmer an dieser Bewegung, also als Aufklärer bezeichnen müssen. Und so gesehen ist Rousseau nicht nur ein Aufklärer schlechthin, sondern er steht in der ersten Reihe dieser Bewegung. Welche seiner Gedanken sind es, die den bezeichneten Rang unstreitig machen?
1. Die Selbstentfremdung des Menschen - Kultur- und Zivilisationskritik bei JeanJacques Rousseau Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonienlos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes. [...]
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Ebd., 98.
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Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. 4
So urteilte Friedrich Hölderlin über die Deutschen. Nicht in gleicher, aber ähnlicher Weise urteilt ein halbes Jahrhundert früher Rousseau über die Franzosen: „Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astronomen, Poeten, Musiker und Maler, aber wir haben keine Staatsbürger [Citoyens - H.S.] mehr." 5 Nun ist zwar der Einfluss Rousseaus auf Hölderlin unbestreitbar, 6 aber auf Rousseauismus lässt sich das Denken Hölderlins nicht reduzieren. Ich nenne nur zwei wesentliche Unterschiede, die zwischen Hölderlin und Rousseau bestehen. Der eine besteht in der unterschiedlichen Antike-Rezeption. Während der französisch-schweizerische Denker zu Athen eine kritische Stellung einnimmt und nur auf das Spartanische im Griechentum, also auf Sparta und auf die sokratische Feier der Unwissenheit setzt, fasst der deutsche Dichter das Hellenentum weit euphorischer und breiter. Der andere Unterschied zeigt sich in der Stellung zu Spinoza. Für Rousseau ist Spinoza (wie auch Hobbes) vorwiegend ein philosophischer und „gefährlicher" Gegner. Für Hölderlin dagegen ist Spinoza der Weise aus Amsterdam. Was aber die Kritik antihumanistischer Züge der Zivilisation ihrer Zeit betrifft, so gibt es - wie die oben angeführten Zitate belegen - Übereinstimmung. Beiden Zitaten liegt die Auffassung zugrunde, dass die Menschen ihre ursprüngliche Natürlichkeit verloren haben. Natürlichkeit aber ist für Rousseau der Inbegriff des Wahren, Guten und Schönen. Hier liegt er ganz im Trend der Aufklärungsbewegung, die das Natürliche dem Gekünstelten gegenüberstellt. Als Extreme der Unnatürlichkeit erscheinen den Aufklärern das Lasterleben der Höfe einerseits und der bigotte Asketismus des Klosterlebens andrerseits. „Man muß ein Bild von dem horriblen Zustand der Gesellschaft, dem Elend, der Niederträchtigkeit in Frankreich haben," - so Hegel - „um das Verdienst zu erkennen, das sie [die Aufklärer - H.S.] hatten." Welche Religion haben sie angegriffen? Diejenige, die durch den schmählichsten Aberglauben, Pfaffentum, Dummheit, Verworfenheit der Gesinnung, vornehmlich das Reichtum-Verprassen und Schwelgen in zeitlichen Gütern charakterisiert war. Und dies bei öffentlichem Elend. Welchen Staat haben sie angegriffen? Denjenigen, der durch die blindeste Herrschaft der Minister und ihrer Dirnen, Weiber und Kammerdiener charakterisiert war, „so daß ein ungeheures Heer von kleinen Tyrannen und Müßiggängern es für ein göttliches Recht ansahen, die Einnahmen des Staates und den Schweiß des Volkes zu plündern. Die Schamlosigkeit, Unrechtlichkeit ging ins Unglaubliche; die Sitten waren nur entsprechend der Verworfenheit der Einrichtungen." 7 Wird angesichts dieser Zustände die Frage gestellt, ob denn das „Wiederaufleben der Wissenschaft und Künste zur Besserung der Sitten beigetragen" habe, dann können nur blauäugige Optimisten eine positive Antwort geben. Rousseau war weder blauäugig noch gedankenloser Optimist. Seine Antwort fällt daher radikal negativ aus: Wissenschaft und Künste (technische eingeschlossen) haben nicht zur Besserung der Sitten beigetragen, im Gegenteil: sie haben die Verdorbenheit der Sitten wesentlich gefördert. Francis Bacon erwartete vom
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Friedrich Hölderlin, Hyperion, Weimar 1921, 207. Jean-Jacques Rousseau, „Hat das Wiederaufleben der Wissenschaften und Künste zur Besserung der Sitten beigetragen?", in: ders., Frühe Schriften, Leipzig 1965, 55. Vgl. Günter Mieth, Friedrich Hölderlin - Dichter der bürgerlich-demokratischen Revolution, Berlin 1978. Georg Wilhelm Hegel, Vorlesungen Uber die Geschichte der Philosophie, Werke, Bd. 15, Berlin 1836, 515/516.
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Aufschwung der Wissenschaften und Technik das Heraufkommen des regnum humanuni. Rousseau behauptet das Gegenteil: „Unsere Seelen sind in dem Maße verdorben worden, wie unsere Wissenschaft und Künste ihrer Vollkommenheit entgegengingen." 8 Dieser frappierende Gegensatz zu Bacon hindert Rousseau allerdings nicht, den englischen Lordkanzler als „Lehrer der Menschheit" zu feiern. Einer der vielen Widersprüche, die das Werk des Genfer Bürgers durchziehen. Der erste Discours kritisiert zunächst Phänomene des sich von seiner Natürlichkeit entfremdeten Menschen. Nicht nach Rousseaus Darstellung, aber der Sache nach ist die erste Entfremdungserscheinung die der Verstellung: Heute [...] herrscht in unseren Sitten eine niedrige und täuschende Einförmigkeit. Alle Geister scheinen über einen Kamm geschoren zu sein. Unaufhörlich heißt es: Die Höflichkeit verlangt, die Schicklichkeit befiehlt; unaufhörlich folgt man dem Brauch, niemals seiner eigenen Eingebung. Man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist. Unter diesem beständigen Zwange werden die unter gleichen Bedingungen lebenden Menschen, die jene Herde bilden, die man Gesellschaft nennt, alle dasselbe tun [...] Man wird also nie genau wissen, mit wem man es zu tun hat. [...] Welches Gefolge von Lastern begleitet nicht diese Ungewissheit. Keine aufrichtige Freundschaft, keine wirkliche Achtung, kein begründetes Vertrauen mehr. Argwohn, Neid, Furcht, Kälte. Zurückhaltung, Haß, Verrat verbergen sich ständig hinter diesem gleichförmigen und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit, hinter dieser so gepriesenen Gewandtheit [...]. 9
Diese Erscheinung gibt es ja bis auf den heutigen Tag. Eine zweite Entfremdungserscheinung ist der Luxus, der zur Schau gestellte Reichtum. „Bereichert Euch!" ist der Schlachtruf, mit dem gegen die Tugend zu Felde gezogen wird. Für Geld kann man alles haben, sagt Rousseau, nur keine Tugend und keine citoyens. „Was wird aus der Tugend, wenn man sich um jeden Preis bereichern muss? Die antiken Politiker sprachen unaufhörlich von den Sitten und der Tugend, die unseren sprechen nur vom Handel und vom Geld." 10 Dieser Satz hat ja wohl bis heute seine Gültigkeit nicht verloren. Überhaupt ist Rousseau der Aufschrei der von der Zivilisation vergewaltigten Tugend. Zwar war Rousseau in seinem alltäglichen praktischen Leben kein Ausbund der Moral - im Unterschied zu Spinoza - , aber in seinen Gedanken wollte er schon deren Heros sein. Seine Verteidigung der natürlichen Tugend hat nun gleichzeitig eine soziale Komponente. Nicht in den Palästen wohnt die Tugend, sondern in den Hütten. Nicht unter elegant-modischen Kleidung schlägt ihr Herz, sondern unter dem schlichten und derben Bauernkittel. „Der Luxus" - sagt nun Rousseau weiter - „tritt selten ohne die Wissenschaften und die Künste auf, und sie treten niemals ohne ihn auf." 11 Wissenschaft, Technik und Künste haben die Verderbtheit der Sitten gefördert und sind deshalb radikaler Kritik zu unterziehen. Rousseau hat erklärt, dass er nicht gegen sie schlechthin zu Felde zieht, sondern nur gegen jene, die Reichtum und Luxus befördern, also Sitten verderben. Liest man allerdings seine Abhandlung, dann entsteht mehr als ein bloßer Eindruck, dass es sich hier um eine vernichtende Kritik der Wissenschaft und der Künste handelt. Schon Lessing, der die Rousseauschen Gedanken würdigt, hat bemerkt, dass auch Überzogenheit in ihnen steckt.
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Jean-Jacques Rousseau, „Besserung der Sitten?", 36. Ebd., 34f. Ebd., 47f. Ebd., 47.
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Die Wissenschaften und Künste verdanken - nach Rousseau - ihr Entstehen nicht den Tugenden, sondern den Lastern. „Die Astronomie entspringt dem Aberglauben; die Beredsamkeit [Rhetorik - H.S.] dem Ehrgeiz, dem Haß, der Schmeichelei und der Lüge; Die Geometrie dem Geiz, die Physik eitler Neugier; alle, selbst die Moral dem menschlichen Stolz." 12 Die Sitten verdarben, als man anfing, über sie zu vernünfteln. Hier - wie nicht selten bei Rousseau - werden die Wirkungen für die Ursachen genommen. Die Sitten verdarben nicht, weil man rational darüber nachdachte, sondern man dachte über ethische Fragen nach, weil die Sitten fragwürdig geworden waren. Rechtschaffenheit und Wissen gehen bei dem Genfer nicht zusammen. Seit die Gelehrten auftauchten, sind die rechtschaffenen Menschen verschwunden. Dagegen ist Nichtwissen und Rechtschaffenheit eine glückliche Verbindung. Sokrates ist ihm hierfür der Gewährsmann, der allerdings auf sein „Wissen vom Nichtwissen" reduziert wird. Von der somatischen Mäeutik ist nicht die Rede. Was für die Gelehrten gilt, gilt in besonderer Weise für die Philosophen: Was ist Philosophie? Was enthalten die Schriften der bekanntesten Philosophen? Was sind die Lehren dieser Freunde der Weisheit? Könnte man sie nicht [...] für eine Truppe von Scharlatanen halten, von denen jeder [...] schreit: Kommt zu mir, ich allein täusche mich nicht!? Der eine behauptet, es gäbe keinen Körper, alles sei Vorstellung, der andere, es gäbe keine andere Substanz als die Materie, keinen anderen Gott als die Welt. Dieser nimmt an, dass es weder Tugenden noch Laster gäbe und die unter dem Gesichtspunkt der Moral vorgenommene Unterscheidung zwischen Gut und Böse nur ein Hirngespinst sei; jener versichert, dass die Menschen Wölfe seien und sich mit gutem Gewissen auffressen könnten. 13
Selbst der von Bacon so gefeierte Buchdruck wird negiert, weil er die Produkte der Philosophen und der Gelehrten überhaupt konserviert. Wenn man dies alles hört, dann könnte wohl zu recht von Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit, ja von Intelligenz-Feindlichkeit schlechthin gesprochen werden? Doch gemach! Es ist nicht zu bestreiten, dass Rousseau dort, wo Ratio und Gefühl in ein antinomisches Verhältnis treten, dem letzteren den Vorzug gibt. In der französischen Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts hat die Frage nach dem Verhältnis von „Herz" und „Vernunft" keine unwesentliche Rolle gespielt. Ich erwähne nur den genialen Mathematiker Pascal, der davon sprach, dass wir die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz erlangen, das Herz aber seine eigenen Gesetze habe, die der Vernunft verschlossen sind. Für Pascal war die Religion des Herzens Sache, für Rousseau, der allerdings kein herausragender Mathematiker war, ist es die Tugend. Die Tugend, das sittliche Handeln und Verhalten, steht über dem Wissen. Wo Wissen Sittlichkeit zerstört oder beim Zerstören hilft, ist es zu negieren. Es ist also das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft, das Jean-Jacques Rousseau bewegt. Und dies ist ja eine Frage, die auch uns Heutige beschäftigt. Zum anderen ist Rousseaus Kritik gerade wegen ihrer Einseitigkeit der Gegenschlag zur Wissenschafts- und Technikeuphorie, die für die bürgerliche Ideologie charakteristisch ist. Diese ist heute nicht mehr ungebrochen, aber in der sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergebenden Forderung nach permanenter Innovation ist sie nach wie vor präsent. Rousseau hat die eindimensionale Ansicht von Fortschritt zerstört und damit eine dialektische, also die Widersprüche bedenkende Auffassung befördert.
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Ebd., 55. Ebd., 57.
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Und letztlich schließt seine Kulturkritik immer die Kritik der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit ein. Schon im ersten Discours stellt Rousseau die Frage: „Woher kommen alle diese Mißbräuche, wenn nicht von der verhängnisvollen Ungleichheit [...]?" 14
2. Entfremdung von der Natur oder Rousseau über die Ursachen der Ungleichheit Der Gegenpol oder auch die Alternative zur verderbten Zivilisation ist für Rousseau die unverdorbene Natur, die keine Entfremdungen kennt und zu der er ein gefühlvolles, sentimentales Verhältnis hat. Ein wissenschaftliches Naturbild zu entwickeln ist seine Sache nicht. Der vom Geiste der Mechanik geprägten Naturauffassung, wie sie Hobbes philosophisch, Newton wissenschaftlich und Holbach in seinem „System der Natur" aufklärerisch entwickelten, steht er kritisch gegenüber. Während Spinoza Entfremdungserscheinungen, wie etwa die Jagd nach Reichtum, die dazu führt, dass nicht der Mensch seinen Reichtum, sondern der Reichtum seinen Menschen hat, oder die Ruhmsucht, die zum Verlust der selbstbestimmten Persönlichkeit führt, schließlich die Knechtschaft unter die Affekte aus der „ersten Natur", also nicht aus der „zweiten" ableitet,15 ist für Rousseau die Natur ohne Makel. Auch bei Spinoza finden wir den Satz, dass es nichts in der Natur gibt, was man ihr als Fehler anrechnen darf. Aber dem Anfangssatz des Emile, dass alles, „was aus den Händen des Schöpfers kommt," gut ist, alles aber „unter den Händen des Menschen" entartet,16 hätte Spinoza keinesfalls unterschrieben, weil damit folgendes Problem, vielleicht ein Grundproblem für Rousseau, verbunden ist, das auf rationale Weise kaum lösbar erscheint: Denn auch der Mensch ist ein Resultat der Schöpfung, also ursprünglich gut; wie kommt es dann, dass unter den Händen diesen guten Menschen „alles entartet"? Warum schlägt der natürliche, also gute Charakter des Menschen in sein Gegenteil um? Warum destruiert die vom Menschen erzeugte Zivilisation seine Natürlichkeit? Die christliche Theologie hat dafür zwar keine rationale, wohl aber eine mythische Erklärung: Es liegt daran, dass Adam und Eva die Früchte vom Baume der Erkenntnis kosteten; die Ursache liegt also im Sündenfall. Es gibt nun Interpreten, die das Bild vom Sündenfall auf die Rousseausche Konzeption übertragen. Und die Feier der Unwissenheit, die dazu noch Unschuld impliziert, wie sie im ersten Discours vorgenommen wurde, scheint ja ins Bild zu passen. Dass die Dinge nicht so einfach liegen, wird im Folgenden aufzuhellen versucht. Für Spinoza allerdings existiert dieses Problem nicht, weil er die modushafte Natur als nach objektiven Gesetzen wirkende fasst, weil er den natürlichen Dingen und den natürlichen Menschen nicht die Prädikate „gut" und „böse" zuschreibt. „Gut" und „Böse" sind für ihn keine objektiven Charakteristika, sondern drücken nur unser subjektives Verhältnis zu den Dingen aus. Nicht „an sich" ist die Natur gut, sondern partiell „für uns". Es macht keinen Sinn, etwa den großen Raubfisch, der seiner Natur, dem Gesetze der Selbsterhaltung gemäß, kleine Fische verschlingen muss, als böse zu bezeichnen. Die außermenschlichen Naturphänomene sind für Rousseau mehr Gegenstand der ästhetischen Anschauung; im Mittelpunkt seines Denkens steht die Anthropologie, die Frage
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Ebd., 55. Vgl. Helmut Seidel, „Spinoza und Marx über Entfremdung. Ein komparatistischer Versuch", in: STUDIA SPINOZANA, Vol. 9 (1993), 229ff. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paderborn 1972.
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nach der „Natur des Menschen" oder nach dem Menschen in seinem Naturzustand. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass die Denker des 17. und 18. Jahrhunderts, die naturrechtlich dachten, sich immer wieder dem Naturzustand des Menschen zuwandten; und dass sie den Berichten über Menschengruppen, die noch weitgehend im Naturzustand lebten, besondere Aufmerksamkeit widmeten. Ich verweise nur auf den scharfsinnigen Diderot und sein Gespräch des Schiffskaplan mit dem Häuptling Oru,17 Dieses Interesse hat einen tieferen Grund als nur das „akademische Interesse" an Vorund Frühgeschichte. Wenn Natur und Zivilisation in einem antinomischen Verhältnis stehen, wenn die Zivilisation radikal kritisiert wird, wenn durch deren Überwindung eine der „Natur des Menschen" und der „natürlichen Vernunft" entsprechende Gesellschaft entstehen soll, dann muss schon zu den Menschen zurückgegangen werden, die der zerstörerischen Wirkung der Zivilisation noch nicht ausgesetzt waren. Und es muss der Lack der Zivilisation, der alle Poren der Gesellschaft verstopft und das freie Atmen verhindert, abgekratzt werden, damit der natürliche Mensch wieder zum Vorschein kommt. In diesem, und nur in diesem Sinne kann von einem „Zurück zur Natur" gesprochen werden, nicht aber in dem Sinne, dass in die Vor- und Frühgeschichte der Menschheit zurückgegangen wird, was sowieso unmöglich ist. Voltaires ironische Bemerkung, dass er sich an den aufrechten Gang gewöhnt habe und keine Lust verspüre, wieder auf allen Vieren zu kriechen, trifft den Nagel nicht auf den Kopf. Was Rousseau über die physische Beschaffenheit des im Naturzustand lebenden Menschen sagt, kann ausgespart werden; es ist kaum der Rede wert. Zu erwähnen wäre nur, dass er im Anschluss an Descartes und in Übereinstimmung mit La Mettrie das Tier als eine Maschine betrachtet. „Ich sehe in jedem Tiere nichts weiter als eine kunstvolle Maschine, die von der Natur mit Sinnen ausgerüstet ist [...] In der menschlichen Maschine erkenne ich genau dasselbe. Es gibt nur einen Unterschied: Jene wählen und verwerfen aus bloßem Instinkt, dieser aus Freiheit." Und weiter: „Was also Tiere und Menschen voneinander unterscheidet, muss mehr in der Freiheit des Handelns als im Erkenntnisvermögen liegen." 18 Neben der Freiheit des Handelns ist der Mensch im Naturzustand durch folgende Merkmale charakterisiert: Er ist kein zoon politikon, wie Aristoteles meinte, er lebt nicht in Familienverbänden, wie Locke meinte, sondern er ist schon im Naturzustand vereinzelt. Der Satz, wonach sich der Mensch nur in der Gesellschaft vereinzeln kann, ist also keinesfalls rousseauisch. Weiter charakterisiert Rousseau den im Naturzustand lebenden Menschen als ursprünglich gut, auch dann, wenn er gar keinen Begriff von Güte hat. Dies im direkten Gegensatz zu Hobbes, für den das Fehlen des Begriffes „gut" zur Folge hatte, dass er „böse" sei - homo homini lupus est bringt es zum Ausdruck. Dass der natürliche Mensch nicht seinesgleichen leiden sehen kann, hält er für eine von der Natur gegebene Eigenschaft. Die Akzentuierung des Mitleids harmoniert zwar mit dem sentimentalen Zug in Rousseaus Denken, ob aber dieser Affekt eine derart herausgehobene Stellung in der Geschichte der Menschheit einnimmt, dürfte bezweifelt werden. Ein weiteres naturgegebenes Merkmal des Menschen im Naturzustand ist die Selbstliebe {„amour de soi"). Diese ist weniger die narzisshafte Verliebtheit in sich selbst, als vielmehr Selbsterhaltungstrieb, unreflektierte Freude an der Freiheit, Erfüllung der naturgegebenen Bedürfnisse, natürlicher Egoismus.
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Vgl. Denis Diderot, „Nachtrag zu .Bougainvilles Reise'", in: ders., Philosophische Schriften, Berlin 1961, Bd. II, 21 Off. Jean-Jacques Rousseau, „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen", in: ders., Frühe Schriften, Leipzig 1965, 132.
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Dass die Interessen, die das Leben auch des naturwüchsigen Menschen bewegen, wesentliche Momente sind, die das menschliche Handeln bestimmen, ist den Aufklärern des 18. Jahrhunderts wichtiger Gegenstand des Nachdenkens. Das von Helvetius entwickelte System des „vernünftigen Egoismus" bezeugt es. Die Interessen des Einzelnen können nicht ignoriert werden, wenn Handeln möglich sein soll. Die Gegensätzlichkeit der Interessen ist aufzuheben, indem sie in vernünftige Übereinstimmung gebracht wird. Entsprechend seiner Grundkonzeption führt nun Rousseau eine Differenz ein, die zwischen der Selbstliebe (amour de soi) und der Eigenliebe (amour propre) besteht. „Amour propre" ist die durch die Zivilisation deformierte „amour de soi". Der Egoismus, dem die „amour de soi" zugrunde liegt, ist naturgegeben, also gut, und er geht nie auf Kosten anderer. Der Egoismus, dem die „amour propre" zugrunde liegt, ist Resultat der Zivilisation, geht immer auf Kosten anderer, ist unmoralisch und daher der Kritik zu unterwerfen. Die erste Bedingung für das Heraustreten des Menschen aus der Natur ist für Rousseau die Preisgabe seiner Vereinzelung, der Zusammenschluss zu einer wie immer gearteten Gesellschaft. Dazu werden die Menschen von Kräften der äußeren Natur gezwungen. Rousseau schließt hier an die Theorie von Nicolas-Antoine Boulanger an, dessen Hauptthese lautete, dass alle gegenwärtige Zivilisation aus Katastrophen geboren wurde. Boulanger beruft sich dabei auf Mythen, die von Naturkatastrophen künden und deren bekannteste die Sintflut ist. Die durch die Naturkatastrophen erzwungene Neuformierung der Menschheit hat nun selber katastrophale Folgen, die nicht in der Natur, sondern in der Art des Zusammenschlusses ihre Wurzeln haben. Der Zusammenschluss führt zu Differenzierungen und Rivalitäten. Im Unterschied zum Naturzustand, in dem die öffentliche Anerkennung bedeutungslos war, wurde diese nunmehr gesucht. „Man legte Wert auf öffentliche Anerkennung. Der beste Sänger, der beste Tänzer, der Schönste, der Stärkste, der Geschickteste oder Beredsamste wird zugleich der Angesehenste. Dies war der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster. Der Vorrang, den man einigen einräumte, erzeugte einerseits Eitelkeit und Verachtung, andrerseits Scham und Neid. Die Gärung, welche dieser neue Sauerteig hervorrief, erzeugte schließlich einen Stoff, der für das Glück und die Unschuld verhängnisvolle Folgen hatte." 19 Die wirksamsten Ursachen für die Entstehung der Ungleichheit sieht Rousseau in der aufkommenden Arbeitsteilung und in der Einführung des Eigentums. Solange die Menschen nur Dinge herstellten, die einer allein machen konnte, und Künste pflegten, die nicht vereinte Kräfte erforderten, waren sie so frei und gesund, so gut und glücklich, wie es ihre Natur erlaubte, und genossen ohne Unterlass die Annehmlichkeiten eines unabhängigen Lebens. Sobald aber der Mensch der Hilfe eines anderen bedurfte und merkte, dass es vorteilhaft sei, Vorräte für zwei zu besitzen, verschwand die Gleichheit. Das Eigentum wurde eingeführt; die Arbeit wurde notwendig; ausgedehnte Wälder verwandelten sich in liebliche Felder, die mit dem Schweiß der Menschen getränkt werden mussten und auf denen man bald Sklaverei und Elend keimen und von Ernte zu Ernte wachsen sah. Die Erfindung der Erzverarbeitung und des Ackerbaus brachte diese große Umwälzung zustande. Der Dichter sieht in Gold und Silber, der Philosoph im Eisen und im Getreide die Ursache, die den einzelnen Menschen zivilisiert, das menschliche Geschlecht aber 20 ins Verderben geführt hat.
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Ebd., 168. Ebd., 170.
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Der zweite Teil des zweiten Discours beginnt mit der berühmten, immer wieder zitierten Passage: Der erste, der ein Stück Land umzäumte und sich erkühnte zu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der Gesellschaft. Welche Verbrechen, wie viele Kriege, Morde und Greuel, wie viel Elend hätte dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn einer die Pfähle ausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Glaubt diesem Betrüger nicht! Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört!' 21
Mit dem Eigentum aber entstehen Bestrebungen nach Reichtum, die notwendig Interessengegensätze erzeugen. „Stets [...] herrscht die geheime Begierde, sein Glück auf Kosten anderer zu machen." 2 Dieses Übel ist die erste Wirkung des Eigentums und die Folge ist, dass die ursprüngliche Gleichheit verschwindet, die Ungleichheit, die sich im Gegensatz von Armen und Reichen ausdrückt, zum Charakterzug der Zivilisation wird. Die Entstehung des Eigentums und des Gegensatzes von Armen und Reichen folgt - nach Rousseau - keinem Naturgesetz. Es ist Resultat der historischen Entwicklung. Dem daraus sich ergebenden Schluss: was historisch entstanden ist, kann auch in historischer Weise aufgehoben werden, folgt Rousseau nicht. Dagegen folgt ihm in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Physiokraten Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785). Dessen utopisch-kommunistische Position ist freilich mit dem starken Zweifel verbunden, ob je ein Zustand erreicht werden kann, in dem Gemeineigentum Grundlage der Gesellschaft ist. Dazu ist die Verderbtheit der Menschheit zu weit fortgeschritten. Rousseau ist nicht für die Aufhebung des Eigentums, das der Zeit entsprechend vorwiegend als Grundbesitz aufgefasst wird, sondern für die mehr oder weniger gleiche Verteilung desselben. Die zwiespältige Auffassung von John Locke, wonach Arbeit das Recht auf Eigentum erzeugt, findet seine Zustimmung. Mit dem Verschwinden der ursprünglichen Freiheit und dem Aufkommen des Gegensatzes von Arm und Reich ist die Entstehung des Staates verbunden, der die neuen Verhältnisse zu legalisieren hat. Der Staat entsteht auf der Grundlage eines Vertrages, dessen Schein allerdings seinem Sein entschieden widerspricht. Dieser darf nicht mit dem positiven Vertrag verwechselt werden, den Rousseau in seiner Schrift Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts konzipiert. Dieser „erste" Vertrag erscheint zunächst in einem günstigen Lichte. Die Reichen schlagen vor, dass sie den Armen Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit garantieren und auch deren kärgliches Eigentum schützen wollen. Dass sie für diese „Dienste am Staat" entsprechend honoriert werden, erscheint als recht und billig. Frondienste und Steuern sind die Mittel, die das Honorar garantieren. Für die Armen aber, die auf den Schein hereinfallen, erweist sich dieser Vertrag als Fallstrick. Abgesehen davon, dass die Reichen den Vertrag jederzeit kündigen können, die Armen aber nicht, bringt er eine zweite Form der Ungleichheit hervor: die Ungleichheit von Starken und Schwachen, von Herrschern und Beherrschten. Um in der Sprache der Hegeischen Phänomenologie des Geistes zu sprechen: Das „edelmütige Bewußtsein", also das Bewusstsein des Adels, ist das Gegenteil von dem, was es vorzugeben schien. Die Diener des Staates sind in Wahrheit seine Herren. Der Ausspruch: „L'etat c'est moi" bringt es auf den Punkt. Die Geschichte ist - nach Rousseau - geprägt
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Ebd., 160f. Ebd., 175.
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von der Entfaltung der Gegensätze von Arm und Reich, von Herrschaft und Unterwerfung. Die Entwicklung des Staates tendiert zunehmend zum Despotismus, der höchsten und letzten Form der Ungleichheit. Im Despoten konzentriert sich alle Macht und alles Recht. Vor dem absoluten Herrscher sind daher alle gleich, nämlich bar jeder Macht und jedes Rechtes. Diese höchste Stufe der Ungleichheit birgt allerdings die Möglichkeit in sich, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Despotie muss beendet und ein neuer Vertrag abgeschlossen werden.
3. Die Negation der Negation oder der Contrat social Da es kein „Zurück zur ursprünglichen Natur" gibt, da aus der Natur des Menschen keine Herrschaft über seinesgleichen abgeleitet werden kann, gibt es nur zwei Möglichkeiten, um eine naturrechtliche Verfassung einer menschlichen Gesellschaft zu begründen: Entweder man setzt auf das „Recht des Stärkeren" oder auf den „Gesellschaftsvertrag", der von freien und gleichen Bürgern geschlossen wird. Beide Möglichkeiten aber stehen im diametralen Gegensatz zueinander. Dieser Gegensatz war ja schon in der antik-griechischen Philosophie sichtbar geworden. 23 Rousseau wendet sich im 3. Kapitel des 1. Buches des Contrat social entschieden gegen das Recht des Stärkeren. „Der Stärkere ist nie stark genug, immer Herr zu sein, wenn er nicht seine Stärke in Recht und den Gehorsam in Pflicht überführt." Und weiter: „Stärke ist ein natürliches Vermögen; ich sehe überhaupt nicht, welche sittliche Verpflichtung sich aus ihren Wirkungen ergeben kann." Und schließlich: „Einigen wir uns also darauf, daß Stärke nicht Recht schafft und daß man nur gesetzmäßiger Macht zum Gehorsam verpflichtet ist." 24 Was ist das schließlich für ein Recht, das untergeht, wenn die Stärke endet? Wenn gilt, dass der Stärkere immer Recht hat, dann ist jeder bestrebt, der Stärkere zu sein. Führt dies nicht zum bellum omnium contra omnesl Anstatt also Gemeinschaft zu stiften, zerstört es dieselbe. Das Recht des Stärkeren ist also als Grund eines menschlichen Gemeinwesens, des Staates, auszuschließen. Also bleibt nur der Vertrag. Die erste Grundbedingung dieses die Gesellschaft stiftenden Vertrages ist die Freiheit der Individuen. „Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen." 25 Der Vertrag dagegen, der das Recht im Staate stiftet, ist nicht von Natur aus, sondern beruht auf menschlicher Willensentscheidung. Wie aber ist ein Zusammenschluss von Menschen möglich, ohne dass die ursprüngliche Freiheit der Individuen aufgehoben wird? Das ist die Frage, die Rousseau im Contrat social zu beantworten versucht. Er selber hat das Problem so formuliert: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genau so frei bleibt wie zuvor." 26 Das ist das grundlegende Problem, das er zu lösen gedenkt. Hegel hat gesagt, dass bei Rousseau die unendliche Stärke der Freiheit aufgeht. In der Tat durchzieht sein Freiheitspathos alle seine philosophischen Schriften. Im Contract social gewinnt es besondere Stärke. Der erste Satz des ersten Kapitels des ersten Buches lautet: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn
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Vgl. Helmut Seidel, Von Thaies bis Piaton, Berlin 1989,145ff. Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977, 9f. Ebd., 6. Ebd., 17.
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der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie." 27 Es ist charakteristisch für den Musiker Rousseau, dass er die Ouvertüre zu seinen Werken vielfach mit einem Trompetenstoß eröffnet. „Auf seine Freiheit verzichten" - heißt es weiter - „heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. [...] Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen, heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen." 28 Bei Kant und Fichte kann man dergleichen lesen. Die zweite Grundbedingung ist die Gleichheit. „Wenn man untersucht, worin das höchste Wohl aller genau besteht, das den Endzweck jeder Art von Gesetzgebung bilden soll, so wird man finden, daß es sich auf jene zwei Hauptgegenstände Freiheit und Gleichheit zurückführen läßt." 29 Freiheit und Gleichheit bedingen sich gegenseitig. Rousseau fordert Gleichheit, „weil die Freiheit ohne sie nicht bestehen kann." Gleichheit heißt vor allem Gleichheit an Macht und Reichtum. Allerdings: Unter Gleichheit darf nicht verstanden werden, „daß das Ausmaß an Macht und Reichtum ganz genau gleich sei, sondern daß, was die Macht anbelangt, diese unterhalb jeglicher Gewalt bleibt und nur aufgrund von Stellung und Gesetz ausgeübt werde, und was den Reichtum angeht, daß ein Bürger derart vermögend sei, sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen." 30 Bei Fichte finden wir den gleichen Gedanken. Die Dauerhaftigkeit eines gerechten Staates wird dadurch garantiert, dass in ihm weder Überreiche noch Bettler geduldet werden. „Diese beiden Stände, natürlicherweise gekoppelt, sind dem Gemeinwohl gleicherweise verderblich; aus dem einen kommen die Helfershelfer der Tyrannei, aus dem anderen die Tyrannen; der Handel mit der öffentlichen Freiheit findet immer zwischen diesen statt, der eine kauft und der andere verkauft sie." 31 Die Souveränität, die nichts anderes ist als die Ausübung des Gemeinwillens, ist die dritte Säule des von Rousseau konzipierten Staates. Der von Bürgern, die allerdings erst durch den Vertrag zu Bürgern werden, abgeschlossene Vertrag besteht darin, dass diese ihre natürliche Freiheit, die ja eigentlich nichts anderes als Unabhängigkeit ist, preisgeben und ihre Rechte nicht an einen anderen Einzelnen, sondern an alle, also an niemand Einzelnen übertragen. Ziel der Entäußerung meiner Rechte ist selbstverständlich nicht, dass ich mich dadurch zum rechtlosen Sklaven mache. „Sklaverei und Recht schließen einander aus." 32 Ziel dieser Entäußerung ist der Gewinn der bürgerlichen Freiheiten. Ich übertrage meine Rechte an den Souverän, der Souverän aber ist ein Gesamtwesen, das vom Gemeinwillen geleitet ist gemäß dem Zwecke des Staates: dem Gemeinwohl. Der Souverän ist keine Einzelperson von Gottes Gnaden, sondern das Volk, von dem alle Macht ausgeht und dessen Wille mit dem Gemeinwillen zusammenzufallen hat. Hier ist nun auf den „beträchtlichen Unterschied" hinzuweisen, den Rousseau zwischen dem Gemeinwillen (volonte general) und dem Gesamtwillen (volonte de tout) macht. Der Gemeinwille sieht nur auf das Gemeininteresse, der Gesamtwille, der nichts anderes ist als die Summe der Sonderinteressen, dagegen auf das Privatinteresse. In einer Anmerkung heißt es bei ihm: „Wenn es keine unterschiedlichen Interessen gäbe, spürte man den Gemeinwillen, der nie
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
11. 56. 56. 56f. 15.
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auf ein Hindernis träfe, kaum: alles andere g i n g e v o n selbst, und die Politik hörte auf e i n e Kunst zu sein." 3 3 D i e Kunst gerechter Politik bestünde d e m n a c h darin, zu verhindern, dass Sonderinteressen i m Staate dominieren; kraft seiner M a c h t hat der Souverän d e m G e m e i n willen, der auf das G e m e i n w o h l zielt, z u m Durchbruch zu verhelfen. Z u s a m m e n f a s s e n d gibt R o u s s e a u f o l g e n d e Antwort auf die Frage, w a s i m e i g e n t l i c h e n Sinne ein A k t der Souveränität ist: Es ist keine Übereinkunft des Überlegenen mit dem Unterlegenen, sondern eine Übereinkunft des Körpers mit jedem seiner Glieder; eine rechtmäßige Übereinkunft, weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat, eine billige Übereinkunft, weil sie allen gemeinsam ist, eine nützliche Übereinkunft, weil sie kein anderes Ziel haben kann als das allgemeine Wohl, eine dauerhafte Übereinkunft, weil sie die öffentliche Gewalt und die höchste Macht zum Bürgen hat. Insoweit die Untertanen nur derartigen Übereinkünften unterworfen sind, gehorchen sie niemand außer ihrem eigenen Willen. 3 4
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Ebd., 31 (Anmerkung). Ebd., 35.
2. Der Aufbruch: Konzepte und Positionen der Aufklärung
HELMUT REINALTER
Aufklärung und Französische Revolution
Die Aufklärungsbewegung Das 18. Jahrhundert wird heute als das „Zeitalter der Aufklärung" bezeichnet. Diese Kennzeichnung geht auf das Selbstverständnis einer geistigen und gesellschaftlichen Reformbewegung zurück, die sich selber als Aufklärung beschrieben hat. Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spricht man aufgrund des Erfolgs der Aufklärung von „aufgeklärten Zeiten". Immanuel Kant hat dann deutlicher zwischen einem „aufgeklärten Zeitalter" und einem „Zeitalter der Aufklärung" differenziert. Während der Aufklärung gab es eine Reihe signifikanter Reformbestrebungen, genauer gesagt: zahlreiche Menschen, die sich selbst als Reformer verstanden, weil sie Neuerungen und Veränderungen anstrebten und sich zugleich als Aufklärer begriffen. Sie wollten praktische Veränderungen durch geistigen Wandel erreichen. Die Wirklichkeit war nach ihrer Ansicht unvernünftig, weil es Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus gab. Ziel war die Beseitigung der herrschenden Unvernunft. Von einer Herrschaft der Vernunft erwartete man sich eine bessere Moral, Glück und Freiheit. Verstand und Tugend sollten die Welt regieren, damit glückliche und freie Menschen in ihr leben können. Dieser Wunsch war zwar nicht neu, aber die Form, in der er sich darstellte, und das Engagement, mit dem er auftrat, heben das Zeitalter der Aufklärung unverkennbar von anderen Epochen ab. Die europäische Aufklärung war keine einheitliche Bewegung, sondern in sich widersprüchlich, wies starke Ambivalenzen auf und brachte verschiedene Strömungen hervor. In diesem Zusammenhang spricht man in der Aufklärungsforschung auch im Plural von „Aufklärungen". Die Diskussion über „wahre" und „falsche" Aufklärung verdeutlicht diese Tendenz und verweist gleichzeitig auch auf die Grenzen der Aufklärungsbewegung. Die Aufklärung hat im wesentlichen zwei Entwicklungsstränge hervorgebracht und deren Weiterentwicklung bis ins 20. Jahrhundert beeinflusst: eine Strömung hin zum Liberalismus und zur Demokratie und eine Tendenz, die während der Französischen Revolution zur Jakobinerherrschaft und später zur totalitären Demokratie geführt hat. Die historischen Wurzeln der totalen Machtstaatstheorie reichen bis in die Zeit der Aufklärung und Französischen Revolution zurück. So hat die Aufklärung die Entstehung des totalitären Typs von Demokratie ermöglicht, gleichzeitig aber auch den liberalen Typus von Demokratie geschaffen und damit die Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie positiv beeinflusst. 1
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Vgl. dazu Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung, Freiburg u. a. 1974; Helmut Reinalter (Hg.), Die neue Aufklärung, Wien/München 1997; Siegfried Jüttner/Jochen Schlobach, Europäische Aufklärung(en).
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HELMUT REINALTER
Aufklärung ist für unser historisches Bewusstsein eng mit dem 18. Jahrhundert verbunden. Aufklärung als Denkvorgang auf andere Epochen, auch auf unsere Gegenwart zu erweitern, ruft Bedenken und Zweifel hervor. Der im 18. Jahrhundert häufig verwendete Begriff von Aufklärung in einem materiellen Sinne der „Vermehrung von Wissen und der Verbreiterung von Kenntnissen" kann jedoch auch heute - wenn auch mit Modifikationen problemlos verwendet werden, weil so strukturell eine Analogie zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts erkennbar ist. Obwohl ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass die Aufklärung einen ganzen Komplex von unterschiedlichen Tendenzen bildete, lassen sich doch einige Hauptmerkmale bestimmen: 1.
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Aufklärung ist Entfaltung eines Denkens, das kritisch überkommene Autoritäten in Frage stellt, darunter insbesondere die tradierten religiösen Vorstellungen, Dogmen und Institutionen, Aufklärung ist Legitimation der politischen Herrschaft und, im Reifestadium, Kritik ihres eigenen Anspruchs, ihres eigenen Verfahrens und ihrer eigenen Legitimität, Aufklärung verlangt (religiöse) Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, persönliche Freiheit und freie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit für alle, Meinungs- und Pressefreiheit und Herstellung von Öffentlichkeit, Aufklärung fordert politische Selbstbestimmung und intendiert eine an einer grundsätzlich positiven Diesseitsgestaltung orientierte Humanität. 2
Was Aufklärung ist, darüber diskutierten die Aufklärer noch zu einer Zeit, als der Be-griff schon als Schlagwort in der Debatte benutzt wurde. Neue Anstöße zur Reflexion über dieses Problem gaben der Theologe Johann Friedrich Zöllner, der Philosoph Immanuel Kant und der jüdische Aufklärer Joseph Mendelssohn. Zöller betonte 1783 in der Berlinischen Monatsschrift, dass diese Frage beinahe so wichtig sei wie die der Wahrheit. Fundierte Antworten versuchten 1784 Kant und Mendelssohn. Der Protagonist der jüdischen Aufklärung meinte, dass die Begriffe Aufklärung, Kultur und Bildung noch neue „Ankömmlinge" wären. Die Sache sei aber nicht neu, denn Aufklärung beziehe sich mehr auf das Theoretische, auf vernünftige Erkenntnis und Fertigkeit zum vernünftigen Nachdenken über praktische Probleme des Lebens. Der Schlüsselsatz über Aufklärung lautet bei Mendelssohn: „Ich setzte alle Zeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen". 3 Aus diesen Überlegungen wird die Bedeutung des Menschen für das Denken der Aufklärung klar, das in gewisser Weise als anthropozentrisch aufgefasst wurde. Die Anthropozentrik wurde offensiver, sodass die Diesseitigkeit des Menschen gegen seine
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Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992; Jakov Leb Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961. Helmut Reinalter, „Reflexive Aufklärung", in: Zeitschrift für internationale Freimaurer-Forschung 4, 2000, 5Iff.; Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1995; Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989; Christoph Jamme (Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a. M. 1997; Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a. M. 1996; Hartmut und Gemot Böhme, Das Andere der Vernunfl, Frankfurt a. Μ. 1983; Helmut Reinalter, Ist die Aufklärung noch ein tragfähiges Prinzip?, Wien 2002. Berlinische Monatsschrift IV, 1784, 193ff.
AUFKLÄRUNG UND FRANZÖSISCHE REVOLUTION
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religiös verankerte Jenseitigkeit ausgespielt wurde. Kants Definition verweist gleichfalls auf diesen Zusammenhang: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. 4
Da das Selbstdenken die Mündigkeit des Menschen bedeutete, war für Kant die Freiheit eine wichtige Voraussetzung der Aufklärung. War hier vor allem der religiöse Bereich angesprochen, so erfährt dieser zentrale Bezug im aufgeklärten Denken sehr rasch eine Erweiterung auf den Staat, wie sie ζ. B. in Kants Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kam. 5 Aufklärung bedeutete für Kant auch einen geschichtlich konkreten Entwicklungsprozess seiner Gegenwart und eine neue Perspektive. Entscheidend ist dabei die kritische geistige Öffentlichkeit als zentrales methodisches Verfahren. Neben der „Vernunft" gehörte auch der Begriff „Kritik" zu den entscheidenden Schlüsselwörtern der Aufklärung. Aus dem positiven Begriff „Kritik", womit zunächst das sachgemäße Urteil in Kunst und Wissenschaft gemeint war, wurde allerdings sehr rasch eine „Krittelei", die schon 1780 Lessing bedauert hatte. Der ursprüngliche Sinn der Kritik, wie er zur Zeit der Aufklärung entwickelt wurde, baute auf der philologischen Textkritik auf. Aufklärung war ein prozessual verstandenes Denkprinzip und bezeichnete zunächst keine feststehenden Inhalte, sodass der Weg wichtiger erschien als das Ziel. Diese Problematik hat Lessing aufgegriffen und deutlich formuliert: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen." 6 In diesem Zusammenhang wurde auch die Toleranz zu einem Hauptziel der Aufklärung, zumal die Wahrheit, die nicht nur mit der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern auch als menschenrechtliches Postulat begründet wurde, vielen Aufklärern als relativ erschien. Auch das Wort „Vernunft" war zunächst eine formale Kategorie, ein menschliches Vermögen, das sich von göttlicher Offenbarung unterschied. Deshalb war es ein wesentliches Ziel der Aufklärung, die individuellen Überzeugungen durch einen Diskurs aller denkbaren und erfahrbaren Überlegungen zu relativieren und auf einen vernünftigen Kem zu bringen: „Der Prozess der Aufklärung ist der Prozess der Freisetzung der Vernunft, die endliche Vereinigung der partikulären Wahrheiten zur einen und ungeteilten Wahrheit." 7 Die Beurteilung der eigenen Zeit zeigte, wie in der Aufklärungsforschung hervorgehoben wurde, unterschiedliche Begriffsverwendungen des Wortes „Aufklärung": einerseits die Orientierung an der Existenz aufgeklärter Kenntnisse und Prinzipien oder die Ausrichtung auf die Durchsetzung dieser aufgeklärten Denkansätze und Methoden, die Frage nach dem Grad ihrer Wirkung oder nach den Folgen der Aufklärung. Zur Intention kam nun auch die Funktion der Aufklärung. Dieser funktionale Begriff bestimmte Kants spätere Bewertung seiner Epoche als „Zeitalter der Aufklärung" und wies starke emanzipatorische Züge auf. Er 4
7
Ebd., 481. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, 7 (Vorr. Α. XI). Gotthold Ephraim Lessing, „Eine Duplik" (1778), in: Sämtliche Schriften, IX, hg. v. Karl Lachmann, Leipzig 1893, 183. Norbert Hinske (Hg.), Was ist Aufklärung?, Darmstadt 1973, XIX.
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stellte die Frage nach dem Epochencharakter mit großer Eindringlichkeit. Die Periodisierung der Aufklärungsbewegung ist allerdings aus verschiedenen Gründen sehr schwierig, da sie als komplexe europäische Bewegung sowohl in ihren einzelnen Bereichen als auch in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich entwickelt war. Zu ihren Voraussetzungen zählten u. a. die Formierung einer kapitalistischen Marktordnung, der Aufstieg des Bürgertums, die Entwicklung der Naturwissenschaften, die Philosophie des Rationalismus und die rationale Politik der souveränen Staaten. Als Programm des Handelns umfasste die Aufklärung alle Bereiche des politischen, sozialen und kulturellen Lebens. Als dominierende Bewegung trat sie zuerst in England und später in Kontinentaleuropa erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Erscheinung. Neben der klassischen Aufklärungsphilosophie entstand auch eine in ihrer Breitenwirkung kaum zu überschätzende Popularphilosophie, in deren Mittelpunkt sehr realitätsbezogene Fragen der Moral sowie Probleme der praktischen und vernünftigen Lebensbewältigung standen.8 Zur Aufklärung gehörten auch die Ausweitung des Buchdruckes, die steigende Zahl der Schriftsteller und Leser bzw. die Entstehung eines breiteren, interessierten Publikums. Im Kommunikationszusammenhang von Schriftsteller und Publikum begann sich die Aufklärungsgesellschaft auf der Basis eines locker gehandhabten Konsenses der Meinungen und einer bestimmten Denkhaltung für Probleme der Lebenspraxis zu formieren. Zweifelsohne war das Zeitalter der Aufklärung ein schreibendes und lesendes, ein räsonierendes und kritisierendes. Ihr Erziehungsprogramm verfolgte den Zweck, einen tiefgreifenden Prozess der Befreiung des Menschen aus allen gesellschaftlichen Zwängen einzuleiten. Dieses Ziel sollte durch entsprechende Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft gefördert werden. So setzte sich die Aufklärung auch mit Problemen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auseinander, wie ζ. B. mit der Staatsform und Rechtsordnung, mit dem Gerichtswesen und dem Strafvollzug, mit der Polizei und Wirtschaft, mit dem Verhältnis der Stände zueinander und der öffentlichen Moral. Zur Zeit der Aufklärung entstanden auch Ansätze, die zu einer wissenschaftlichen Begründung von Politik, wie ζ. B. bei Montesquieu, führten. Vgl. dazu auswahlweise Helmut Reinalter, Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Reform, Umbruch und Modernisierung in Aufklärung und Französischer Revolution, Düsseldorf 1989, 13ff.; Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648-1779, Frankfurt a. M. 1981; Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hg.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, 2 Bde, München 1981; Franklin Kopitzsch (Hg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976; Reinhard Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a. M. 1973; Werner Krauss, Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung, Neuwied 1965; ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963; Nicoiao Merker, Die Aufklärung in Deutschland, München 1982; Paul Rilla, Lessing und sein Zeitalter, München 1973; Fritz Schalk, Studien zur französischen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1972; Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung·, Fritz Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien 1961; Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. Handbuch der europäischen Geschichte, IV, Stuttgart 1968; Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 17761847, Frankfurt a. M. 1978; Eduard Winter, Frühaufklärung, Berlin 1966; Waceslav Petrovic Wolgin, Die Gesellschaftstheorien der französischen Aufklärung, Berlin 1965; Ernst Walter Zeeden, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Stuttgart 1981; Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995; Wemer Bahner, Aufklärung als europäisches Phänomen, Leipzig 1983; Peter Gay, The Enlightenment, 2 Vol., 1967/68; Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer, Frankfürt a. M. 1986; Siegfried Jüttner/Jochen Schlobach (Hg.), Europäische Aufklärungen); Horst. Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986; Barbara. Stollberg-Rjlinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000; Ulrich Im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993.
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Im späten 18. Jahrhundert wurde der schon vorher eingeleitete Politisierungsprozess durch die Polarisierung der Öffentlichkeit und die daraus resultierende Aufspaltung in ideologisch-politische Strömungen wie Liberalismus, Republikanismus und Konservativismus noch weiter verstärkt. Diese Einzelbewegungen waren bereits seit ca. 1770 klar voneinander abgrenzbar. Bis zur Spätaufklärung hat die Aufklärung noch keine wesentlichen Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Realität bewirkt. Sicher konnte sie aber einen tiefen Wandel in den Vorstellungen einleiten, zumal sie Herrschaft nicht mehr als Selbstzweck auffasste, sondern als Mittel zur Ermöglichung des individuellen und allgemeinen Wohls. Darüber hinaus nahm auch die Diskussion über Gesellschaft, gesellschaftliche Moral und soziale Ordnung zu. Zwar war die Aufklärung primär eine literarisch-philosophische Bildungsbewegung, die aber gleichzeitig auch starke gesellschaftliche und politische Dimensionen aufwies. Ihre Wortführer setzten auf die Notwendigkeit des permanenten Lernens, der öffentlichen Informationsvermittlung und der freien Diskussion. Sie erwarteten förmlich eine Veränderung und Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Rousseau stellte allerdings die Grundüberzeugung der Enzyklopädisten, den Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt, prinzipiell in Frage. Sein Modell einer guten und gerechten Gesellschaft, das er im Contrat social entwickelte, hatte ein ökonomisches Niveau zur Voraussetzung, auf dem die sozialen Unterschiede noch wenig ausgebildet waren. Mit ihm kam das Problem der sozialen Ungleichheit, die Frage der Verteilung des Eigentums, in die Diskussion. Die Sozialutopisten, Morelly und Mably, gaben sich mit der annähernd gleichen Verteilung des Privateigentum nicht zufrieden, sondern forderten die Aufhebung des Privateigentums und die Einführung einer in Gütergemeinschaft lebenden Gesellschaft. Ungefähr zur selben Zeit entstand auch der Physiokratismus als aufklärerische Wirtschaftstheorie, die für die volle Freiheit von Produktion und Handel eintrat. Nicht selten wurde die Aufklärung in der Forschung als bürgerliche Emanzipations- und Bildungsbewegung mit der höfisch-aristokratischen Kultur des Barock verglichen und davon abgegrenzt. Dabei wurde offensichtlich übersehen, dass im 18. Jahrhundert die Aristokratie noch politisch und kulturell dominierte. Was sich verlagerte, waren jedoch die Gewichte. Die Zahl der bürgerlichen Gelehrten, Schriftsteller, Künstler und Pädagogen vermehrte sich, sodass sie den Kern der gebildeten Schicht darstellten. Sie waren von einer spezifischen Welt- und Lebensanschauung geprägt, die als bürgerliche Mentalität bezeichnet wurde. Der soziale Status war nicht mehr ausschließlich bestimmend. Zur bürgerlichen Mentalität gehörte vor allem die Betonung der Persönlichkeit, die nicht durch Geburt und Zugehörigkeit zu einem Stand und Verband, sondern durch die unveräußerliche Menschenwürde, durch Leistung und Verdienst bestimmt war. Die sozialen Beziehungen untereinander unterlagen einem Rationalisierungs- und Funktionalisierungsprozess, sie wurden nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern als Aufgabe und Chance der Gestaltung im Interesse der einzelnen Menschen gesehen. Ein wesentlicher Faktor der Aufklärung war das Entstehen einer politischen Öffentlichkeit. Dazu gehörten nicht nur Zeitschriften, Buchproduktionen und Broschüren, sondern auch die verschiedensten Formen aufgeklärter Sozietäten. Eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Zeitschriften wie der gesamten Buchproduktion bildete die Pressefreiheit. Diese von allen Aufklärern artikulierte Forderung richtete sich an Staat und Kirche. Die politische Brisanz dieses Postulats manifestierte sich deutlich in der Reaktion der Regenten weltlicher und geistlicher Provenienz. Wirkliche Pressefreiheit gab es jedoch im aufgeklärten Absolutismus nicht. König Friedrich II. von Preußen untersagte ζ. B. 1784 jede öffentliche Kritik an Hof und Verwaltung. Da aber konkurrierende Blätter und Broschüren zugelas-
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sen waren, hatte die Presse wenigstens einen kleinen Spielraum. Da sich die gelehrten Diskussionen seit Ende der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts auch auf politische Bereiche erstreckten, berührten die Öffentlichkeitsforderungen auch den Staat. Die Forderung nach Öffentlichkeit entsprach mit ihrer politischen Konsequenz durchaus dem aufklärerischen Denken, das Verständlichkeit und Wendung zum Publikum intendierte. Die erwähnte bürgerliche Welt- und Lebensanschauung manifestierte sich auch in neuen Geselligkeits- und Vergesellschaftungsformen. Zu ihnen zählte eine Vielzahl unterschiedlicher Sozietäten, darunter auch die Freimaurerlogen, Gelehrtengesellschaften, literarische Vereinigungen, Lesegesellschaften, ökonomische und patriotische Sozietäten, die sozial von der höfischen Welt bis in das gebildete und besitzende Bürgertum hineinreichten. Allen diesen Gesellschaften war das Bekenntnis zur Aufklärung und zur Verwirklichung des Gemeinwohls gemeinsam. Im Entwicklungsprozess bürgerlicher Emanzipation bildeten sie eine eigene Stufe zwischen feudaler Korporation und bürgerlicher Assoziation. Sie trugen wesentlich zur Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit bei, als deren Medien sie aber noch nicht bezeichnet werden können. Diese Sozietäten müssen als Erscheinungsform eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses gesehen werden, der das Werden der modernen bürgerlichen Gesellschaft entscheidend beeinflusst hat. Nur auf der Grundlage des sich langsam herausbildenden modernen Staates mit seiner Bürokratie und Wirtschaft konnten sich die Aufklärungsgesellschaften konstituieren. In ihnen wurden erstmals über konfessionelle, staatliche und ständische Interessen hinweg für die ganze Gesellschaft verbindliche gemeinsame Anliegen vertreten. 9 Die Aufklärung veränderte bei Fortdauer des theologischen Interesses in einem Wandlungsprozess ihre Interessenschwerpunkte, was zu einer prinzipiellen Verweltlichung des Denkens und Handelns führte, wobei sich Formen und Grade dieser zunehmenden Säkularisierung unterschieden. Ein weites Spektrum gab es auch in der Literatur und literarischen Kritik, wenngleich bei aller charakteristischen Spezifik die Autoren doch die Anliegen der Aufklärung vertraten, wie ζ. B. die prinzipielle Offenheit des Denkens, das kritische Selbstdenken, die kritische Prüfung im Detail und die Auffassung des Fortschritts als dynamische Kategorie. Diese Einstellung galt auch für die Philosophie und Wissenschaft, für die Politik und Gesellschaft. Die Unterschiede innerhalb der einzelnen aufklärerischen Strömungen und Gruppen waren durch gesellschaftliche Lage, die regionalen Besonderheiten und politischen Strukturen beeinflusst und bestimmt. Dass Volksaufklärung eine wichtige Aufgabe ist, darüber waren sich viele Aufklärer einig. Die aufgeklärten Denker des 18. Jahrhunderts stuften ihre Zeit als philosophische Epoche ein. Der Begriff „Philosophie" umfasste daher ein weites Bedeutungsfeld. Der wahre Philosoph müsse, so betonte Kant, als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen Gebrauch von seiner Vernunft machen. In diesem Sinne verstanden sich die meisten Aufklärer als Philosophen, da ihre Werke nicht nur für den engeren Kreis der Philosophen geschrieben wurden, sondern auch für ein breiteres Publikum. Das Denken der Aufklärung, das nicht allein mit Rationalismus gleichzusetzen war, wies starke dialogische Züge auf. Bereitete Thomasius die praktische und aufgeklärte Popularphilosophie vor, so kam Wolff das Verdienst zu, die abendländisch philosophiehistorische Tradition in Deutschland
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Vgl. dazu Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt a. M. 1993; Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer; Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, HZ-Beiheft 9, München 1984; Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999.
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aufrecht zu erhalten. Bis zu Kants großen Kritiken hatte Wolffs System in der deutschen Schulphilosophie eine dominierende Rolle gespielt. 1787 bezeichnete Kant Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als wesentlichste Postulate der praktischen Vernunft. Diese Forderungen gingen „alle vom Grundsatz der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt". 10 Diese Position teilten viele deutsche Aufklärer. Im Unterschied zu Frankreich war die deutsche Aufklärung keine areligiöse Bewegung, wobei in Frankreich Materialismus und Atheismus auch auf Widerspruch stießen. Voltaire hatte den Glauben an ein höchstes Wesen mit dem gesellschaftlichen Nutzen begründet. Zu den wichtigen Zielen der Aufklärung gehörten auch die Intensivierung der Wissenschaften und die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, zumal die Entwicklung der Wissenschaften für den Fortschrittsglauben eine wichtige Grundlage darstellte. Diese dokumentierte sich besonders in d'Alemberts Discours preliminaire de l'encyclopedie (1751) und in Condorcets Exquisse d'un tableau historique de progres de 1'esprit humain (1793). Diderot und d'Alembert hatten den Versuch unternommen, das gesamte Wissen der Zeit in einer insgesamt in 34 Bänden herausgegebenen Enzyklopädie zu sammeln." Dieses Ereignis machte klar, dass die Aufklärung in der Zwischenzeit eine breite Bewegung geworden war. Später änderte sich die Auffassung des Wissens, das nun weniger zweckgerichtet verstanden, sondern im Sinne eines neuhumanistischen Bildungsideals um 1800 zum Selbstzweck wurde. Hatte Lessing Glaubens- und Wissensgeschichte stark verbunden, so interessierten sich andere Aufklärer besonders für die praktische Dimension. Ihre pädagogischen Interessen verbanden sich dabei mit philosophischen, literarischen und politischen Zielen. Die wirkungsvollste pädagogische Schrift war Rousseaus Emile (1762), die als Schlüsselwerk der aufklärerischen pädagogischen Bemühungen galt. Auch für die deutsche Aufklärung war das Problem der Erziehung von zentraler Bedeutung, wobei hier besonders deutlich wurde, dass die Erziehungsfähigkeit des Menschen zugleich eine Erziehungsnotwendigkeit mit einschließt und nur mit Hilfe einer angemessenen Pädagogik bessere Menschen im Sinne der Aufklärung erzogen werden können. Die großen Verdienste der aufgeklärten Pädagogik lagen in erster Linie in der reflektierenden Praxis. So verstanden sich viele Werke über Sozialphilosophie und Ethik auch als Anleitungen zur Erziehung zum Selbstdenken, zur Autonomie des freien Willens und der Vernunft, die mit der Erziehung zur Glückseligkeit verbunden war und als gesellschaftlich bezogen aufgefasst wurde. Das pädagogische Ziel der Aufklärung war keinen konfessionellen Beschränkungen unterworfen, obwohl es religiös unterschiedlich beeinflusst wurde. Besonders stark ausgeprägt war auch das Interesse der Aufklärung an der Geschichte. Ihr Verhältnis zur Geschichte - das vor allem anthropologisch gesehen wurde - wies viele Dimensionen auf, die sich im Wesentlichen auf drei Motive reduzieren lassen: die Kritik der Geschichte, das kirchengeschichtliche Interesse und die teleologisch-geschichtsphilosophisch geprägte politische Argumentation. Sie waren konstitutive Elemente des aufgeklärten Geschichtsverständnisses. Der anthropologische Ausgangspunkt der Geschichte der Menschheit als Geschichte des Fortschritts zeigte sich in mehreren Reflexionen der Aufklä-
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Immanual Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1959, 152. Encyclopedie ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers. Par une societe de gens lettres, Paris 1751-1765; Fritz Schalk, „Enzyklopädie", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. II, Darmstadt 1972.
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rer über den Begriff der Weltgeschichte. Daraus wurde die anthropologisch bedingte „Zukünftigkeit" abgeleitet, die bis heute im Zentrum jeder fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophie zu finden ist: der Mensch hat Zukunft und sein Endzweck ist seine Vervollkommnung und Glückseligkeit. Ein weiterer zentraler Punkt aufklärerischer Diskurse war das Problem der Natur. Die radikalste Infragestellung erfolgt im aufgeklärten Naturrecht. Rechts- und Vergesellschaftungsformen des Menschen fanden in der Aufklärung nicht mehr allein aus historischer Tradition, sondern auf der Grundlage der ethisch und geschichtsphilosophisch abgestützten Fiktion eines natürlichen Zustands ihre Begründung und Beurteilung. Fundamentale Ansatzpunkte naturrechtlicher Überlegungen waren Fragen nach dem Sinn und der Aufgabe der Rechtsordnung. Die entscheidende Triebfeder des modernen Naturrechts bildeten die ethische Normsetzung und die Zweckbestimmung der menschlichen Natur. In der Aufklärung verstärkte sich die Orientierung des Staatszweckes am allgemeinen Wohl. Durch die naturrechtlich begründete Herrschaftstheorie, die die Legitimation monarchischer Herrschaft aus dem Gottesgnadentum in Frage stellte und der Vertragstheorie langsam zum Durchbruch verhalf, wurde die bisherige absolutistische Staatspraxis einer kritischen Prüfung unterzogen. So betonte ζ. B. Wolff schon 1721, dass sowohl die Obrigkeit als auch die Untertanen verpflichtet seien, „den zwischen ihnen aufgerichteten Vertrag zu halten."12 Wolff dachte intensiv über das Wesen der absoluten Monarchie nach und beeinflusste dabei die neue Begründung entscheidend. Herkunft und damit Legitimation der Herrschaft wurden nun in einen Vertrag verlegt, wobei beide Partner - Herrscher und Beherrschte - gleichermaßen zur Einhaltung des Vertrages verpflichtet waren. Neu war auch, dass auf der Grundlage dieser Theorie die Herrschaftsausübung dem Sinn und der Zielsetzung des Vertrages entsprechen oder auch widersprechen konnte und dass die Herrschaft der Gesellschaft und dem Staat diente, nicht mehr der Dynastie Dies hatte zur Folge, dass die Person des Herrschers und seine Amtsführung öffentlich zur Diskussion standen, obwohl durch die Zensur Grenzen gesetzt waren. Der aufgeklärte Absolutismus unterschied sich von der Regierungsweise König Ludwigs XVI. von Frankreich nicht nur durch neue Formen propagandistischer Selbstrechtfertigung, sondern auch durch neue innenpolitische Zielvorstellungen, Regierungsmaßnahmen und ein neues Selbstverständnis der Monarchie. Er überwand jedoch den Feudalismus nur teilweise auf politischer, nicht aber auf sozialer Ebene. Zwar hatte er zumindest vorübergehend Teilerfolge in der Beseitigung der rechtlichen und ökonomischen Privilegien des Adels, doch blieb das aufstrebende Bürgertum letztlich benachteiligt. Der aufgeklärte Absolutismus stieß auch dort auf Grenzen, wo, wie zum Beispiel in Österreich Joseph II. oder in Preußen Friedrich II., die Persönlichkeit des Herrschers eine zentrale Rolle spielte. Außer Zweifel steht jedoch, dass er bereits innovative innenpolitische Ziele verfolgte, wie ζ. B. in der Wirtschaft, im Polizei- und Gesundheitswesen und im Schul- und Bildungssystem. Schließlich darf bei seiner Beurteilung nicht vergessen werden, dass mit ihm der Versuch unternommen wurde, den gesamten Staat und alle seine Einrichtungen von einem säkularisierten Weltverständnis her zu gestalten. Die Grundgedanken der Neufassung des aufgeklärten Staatsabsolutismus beruhten auf einer Abschwächung bzw. Ausschaltung des Ständewesens und des-
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Christian Wolff, Vernünftige Gedanken vom gesellschaftlichen
Leben (1721), Hildesheim 1983, 169.
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sen Ersetzung durch einen Zentralismus, um die neue Gesetzgebung durchzusetzen und die Basis einer neuen Staatsordnung zu schaffen. 13 Der gesellschaftspolitische Anspruch und das soziale Selbstverständnis der Aufklärung bildeten keinen Gegensatz zu ihrer sozialen Realität. Die Aufklärung entwickelte sich im Rahmen der ständischen Gesellschaft, ging aber gleichzeitig über ihn hinaus. Sie nahm entscheidend Einfluss auf den gesellschaftlichen Wandlungsprozess und wurde sogar zum sozialphilosophischen und publizistischen Medium dieser Veränderung. Die Aufklärung hatte wesentlichen Anteil an der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung und Differenzierung, und sie war von ihren Intentionen her sogar eine ständetranszendierende soziale Bewegung: ,,[V]erständige und ehrliche Leute gehören zusammen ohne Rücksicht auf Stand, auf Religion und auf andere Nebensachen." 14 Zwar gehörte nicht jeder zur Gesellschaft der Aufklärer, doch sollte grundsätzlich jeder die Möglichkeit haben, dieser anzugehören. Die zeitgenössische Verwendung des Begriffes „bürgerliche Gesellschaft" war daher nicht sozialständisch gemeint, sondern zunächst als eine Entgegensetzung zum fiktiven natürlichen Zustand und später als Gegenbegriff zur höfisch-ständischen Gesellschaftsordnung der absoluten Monarchien zu verstehen. 15 Die meisten Aufklärer traten für Reformen ein. Für den Unterschied zwischen Aufklärung, Reform und Revolution waren mehrere Kriterien entscheidend. Die Anhänger der Revolution und der radikalen Spätaufklärung stellten sich im Gegensatz zum aufgeklärten Absolutismus und zur Aufklärung mit theoretischer und praktischer Konsequenz auf den Boden der Revolution. Sie glaubten nicht mehr daran, dass die Aufklärung und die Reformen das politische Herrschaftssystem und die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändern oder sogar beseitigen würden, sondern waren davon überzeugt, dass der Absolutismus nur mehr durch den politischen Kampf erschüttert werden könne. Entscheidend war für sie die Erfahrung, dass durch Reformen keine grundlegende Änderung der Gesellschaftsordnung zu erreichen wäre. Die Aufklärungsbewegung, die in sich sehr ambivalent war, konnte aber trotz ihrer politischen Grenzen wenigstens teilweise die gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen des Ancien Regime in Frage stellen und darüber hinaus programmatische Prinzipien für eine neu zu formierende gesellschaftliche Ordnung entwickeln, sodass sie durch die Schaffung eines neuen kulturellen und geistigen Klimas die Revolution mit vorbereitet hat.
Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewusstseins Dass die Aufklärung ein geistig-kulturelles Klima schuf, das für den Ausbruch der Französischen Revolution günstig war, steht heute in der Forschung weitgehend außer Frage. Dass sie durch ihre starke Politisierung und Ideologisierung seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts das Entstehen einer neuen politischen Kultur in der Französischen Revolution begünstigt hat, ist eine weitere wesentliche Tatsache. 16
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Vgl. dazu Helmut Reinalter/Harm Klueting (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien u. a. 2002. Friedrich Nicolai, zit. bei Horst Möller, Aufklärung in Preußen, 246. Vgl. dazu Horst Möller, Vernunft und Kritik, 289ff. Vgl. dazu Lynn Hunt, Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989; Reinhard Koselleck/Rolf Reichardt (Hg.), Die
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Die Französische Revolution entsprach den besonderen Bedingungen Frankreichs am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie war in Zielsetzung und Verlauf nicht eindeutig. Trotz unterschiedlicher Verlaufsperioden kann man die wichtigsten Entwicklungen in einigen wenigen Schwerpunkten zusammenfassen. Ihre Bedeutung liegt zunächst in den von ihr erlassenen neuen Proklamationen, wonach sie eine Revolution der Freiheit und Gleichheit war und am Ende des 18. Jahrhunderts, von den Ideen der Aufklärung beeinflusst, eine neue Gesellschaftsordnung etablierte. Verlauf und Ergebnis zeigen jedoch, dass sie nicht monolithisch gesehen werden kann, zumal sich in ihr in Abfolge der Diskurs der verfassungsgebenden Revolution mit der Verfassung von 1791 und zuvor schon mit der Erklärung der Menschenrechte von 1789 berührten, worauf sich die jakobinische Verfassung von 1793 anschloss, die den Kulminationspunkt der Vorstellung von einer sozialen Demokratie darstellte, und schließlich die Verfassung des Jahres III mit ihren neuen bürgerlichen Wertvorstellungen. In diesem Zusammenhang wurde in der Forschung von drei verschiedenen Revolutionen gesprochen, die 1789 parallel verliefen: die Revolution der Abgeordneten in Versailles, die der klein- und unterbürgerlichen Schichten in den Städten und die der Bauern auf dem Land.17 Unter dem Gesichtspunkt der frühen Demokratieentwicklung beseitigte die Revolution die ungleichen Hierarchien der Gesellschaft des Ancien Regime und ersetzte sie durch das Prinzip der Gleichheit. Die Voraussetzung dafür war die Beseitigung aller früheren Privilegien und Abhängigkeiten. Unter dieser Gleichheit ist vor allem die zivile Gleichheit in all ihren Formen zu verstehen, einschließlich jener der Protestanten und Juden. Einschränkungen gab es allerdings bei den Sklaven und bei den Schwarzen. Erst der jakobinische Konvent hat dann kurzfristig eine Entscheidung im emanzipatorischen Sinne getroffen. Daraus geht hervor, dass die bürgerliche Revolution die Gleichheit auch begrenzte. Politisch kam es zwischen 1793 und dem Jahre II nur zu einer einzigen Erprobung des Allgemeinen Wahlrechts für männliche Erwachsene. Im Jahre III dominierte das Zensuswahlrecht, das zwischen aktiven und passiven Bürgern aufgrund eines Zensus differenzierte. Diese Einschränkungen waren soziale Schranken, die die Grenzen der bürgerlichen Demokratie dieser Entwicklungsphase der Revolution klar aufzeigten. Die Revolution hat zudem auch das Prinzip der Freiheit proklamiert: Die persönliche Freiheit des Bürgers und die Unverletzlichkeit der Person. Die Revolutionsregierung wollte jede willkürliche Grausamkeit der Strafe beseitigen und berief sich dabei auf die Menschenfreundlichkeit (Humanität) der Aufklärung. Die Glaubensfreiheit beseitigte das Bildungsmonopol der katholischen Kirche und umfasste von vornherein die Protestanten und später auch die Juden. Am Ende dieser Entwicklung stand die Trennung von Kirche und Staat. Diese zeitabhängige Entscheidung war allerdings eine bloße Antizipation, die keineswegs dem Charakter der Revolution entsprach. Laizistisch war sie nur vom Winter 1793 bis zum Direktorium, während die Zivilverfassung des Klerus 1791 ebenso wie das Konkordat von
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Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, München 1988; Helmut Reinalter (Hg.), Die Französische Revolution und das Projekt der Moderne, Wien 2002. Vgl. auswahlweise Francois Furet/Denis Richet, Die Französische Revolution, Frankfurt a. M. 1968; Albert Soboul, Die Große Französische Revolution, Darmstadt 1973; Michel Vovelle, Die Französische Revolution - soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München 1982; Ernst Schulin, Die Französische Revolution, München 1988; Rolf Reichardt/Reinhard Koselleck (Hg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins', Roger Chartier, Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1995; Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfürt a. M. 1998; Helmut Reinalter, Die Französische Revolution und Mitteleuropa, Frankfurt a. M. 1988; Helmut Reinalter, Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit.
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1801 Kompromisse mit der herrschenden Religion darstellten. Die Meinungsfreiheit bedeutete die logische Fortsetzung der Glaubensfreiheit, auch wenn die Verfassungsgeber die Einschränkung hinzufügten, dass diese nicht zum Missbrauch der Freiheit führen dürfe. Die politischen Freiheiten boten die Basis für zahlreiche exemplarische Erfahrungen: die Erklärung der Menschenrechte proklamierte die Volkssouveränität, den Grundsatz der Wählbarkeit auf allen Ebenen und die Notwendigkeit eines repräsentativen Staatswesens mit Gewaltenteilung. Alle diese demokratischen Elemente waren in den Verfassungen von 1791 und 1793 enthalten, wenngleich die letztere stärker die Dezentralisation hervorhob und durch Volksabstimmungen die direkte Demokratie vorbereitete. Eine ähnliche Kontinuität galt auch für die Verfassung des Jahres III, die gleichfalls die Gewaltenteilung besonders betonte. Damit wurden die Grundlagen des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert in Frankreich geschaffen. 1 8 Die Prinzipien Freiheit und Gleichheit, bedeutsame Eckpfeiler demokratischer Vorstellungen, müssen hier noch durch den Begriff der Brüderlichkeit vervollständigt werden. Die wirklich gelebte Brüderlichkeit, die mit der Pflicht zur Fürsorge gegenüber den Mittellosen und dem Recht auf Leben identisch war, galt jedoch als Einschränkung des Rechtes auf Eigentum und war daher eine in den Ventose-Dekreten angekündigte Utopie der jakobinischen Demokratie des Jahres II. Da die Französische Revolution nicht ohne Störungen verlief und ihre konstitutionellen und demokratischen Proklamationen durch den Verlauf des Revolutionsgeschehens ernsthaft bedroht wurden, müssen hier auch einige Ursachen dieser Gefährdung erwähnt werden. Es ist sicher kein Zufall, dass Robespierre die repräsentative Versammlung als Ausdruck des Volkswillens, der sich mit dem Allgemeinen Willen (Rousseau) deckt, ablehnte. Parlamente waren für ihn geprägt von Sonderinteressen, obwohl sie formal durch Wahl des Volkes entstanden. Eine repräsentative Versammlung, die auf der Grundlage eines Wahlzensus gewählt wurde, war nach seiner Auffassung nicht im Sinne des Volkes. Die absolute Unabhängigkeit einer parlamentarischen Versammlung war für ihn „repräsentativer Despotismus". 19 Deshalb war er bestrebt, Sicherungen gegen diese Form des Despotismus einzubauen, wie die ständige Volkskontrolle über die gesetzgebende Körperschaft und direkte demokratische Aktionen durch das Volk. Robespierre polemisierte auch gegen ein Bündnis zwischen Legislative und Exekutive, das für ihn einem Komplott gegen das Volk gleichkam. Der Allgemeine Wille war für ihn jener der Volksmehrheit und daher nicht gleichbedeutend mit parlamentarischer Mehrheit oder Minderheit. Diese prinzipielle Einstellung, die als direkte demokratische Aktion umschrieben werden kann, lief in Richtung einer Rechtfertigung der unmittelbaren Volksaktion, die Unterdrückung und den Despotismus, die Regierungskomplotte und die Intrigen der Abgeordneten zu bekämpfen. Unter den repräsentativen Einrichtungen des Pariser Volkes, der Kommune und den Sektionen, kann nur die Kommune als gewählte und klar definierte Körperschaft bezeichnet werden. Die Sektionen setzten sich in Form von Volksversammlungen der Bewohner verschiedener Bezirke zusammen. Hier allerdings wurde direkte Demokratie praktiziert, wobei jedoch die revolutionären Aktivisten, eine kleine Minderheit, dominierten. Im Frühjahr 1793
18 Vgl. dazu Gilbert Ziebura, Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation, Frankfurt a. M. 1979; Michael Erbe, Geschichte Frankreichs von der Großen Revolution bis zur III. Republik 1789-1884, Stuttgart 1982; Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Regime zur Moderne 19 1630-1830, Stuttgart 1980. Jakov Leb Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961, 89.
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vertrat Saint-Just noch immer das Prinzip des unbeschränkten Selbstbestimmungsrechtes des Volkes. Diese Einstellung ist auch als „demokratischer Perfektionismus jakobinischer Prägung" bezeichnet worden. Dieser war dadurch gekennzeichnet, dass die demokratische Souveränität bis an ihre Grenze getrieben wurde. In dieser Entwicklung sahen einige Revolutionsforscher wichtige Vorstufen zur „totalitären Demokratie". 20 Die bis zu einem gewissen Grad totalitären Anlagen des Jakobinismus basierten auf der Überzeugung dieser Bewegung, die alleinige Wahrheit zu vertreten. Je mehr sich die Jakobiner der Machtergreifung näherten, umso intensiver formulierten sie ihren Standpunkt über Freiheit als positiven Wert. Die jakobinische Diktatur entwickelte sich stufenweise ohne genauen Plan. Sie beruhte auf zwei wesentlichen Fundamenten: auf der Ergebenheit der Gläubigen und der strengen Orthodoxie. In dieser Verbindung lag wahrscheinlich auch ihre Stärke. Zu Beginn war der Jakobinismus eine Bewegung, die für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes eintrat, später wurde er zu einer „Gemeinschaft der Gläubigen". Unterwerfung wurde zur Erlösung, Gehorsam als Freiheit gesehen und die Mitgliedschaft in Jakobinerklubs zu einem Symbol der Zugehörigkeit zu den „Erwählten" und „Reinen". So entstand im revolutionären Frankreich eine inoffizielle Organisation der Demokratie, die den offiziellen Organismus und seine Glieder verdoppelte. Die Jakobiner identifizierten sich mit dem Volk, und das offizielle Dogma lautete sogar: „die Jakobiner sind das Volk". Die jakobinische Gesellschaft sei ihrem Wesen nach unbestechlich, ihre ganze Macht liege in der öffentlichen Meinung, und sie könne daher die Interessen des Volkes nicht verraten. Die Protokolle des Jakobinerklubs in den letzten Monaten vor dem Thermidor zeigen jedoch, dass sich die Forderung der plebiszitären Volkssouveränität in der Herrschaft einer kleinen Gruppe der Nation erfüllte. Die Idee des Selbstbestimmungsrechtes des Volkes geriet auf die Bahn einer immer exklusiveren Orthodoxie. Die Jakobiner waren davon überzeugt, dass ihre Diktatur nur ein Vorspiel zu einem harmonischen Zustand der Gesellschaft sei.21 Diese Überzeugung ging von der Annahme aus, dass der Mensch in seiner Anlage gut und im Sinne der Aufklärung der Vervollkommnung fähig sei und ein sozialer Fortschritt vor sich gehe, der in ein Endstadium sozialer Integration und Harmonie einmünde. Die totalitäre Demokratie, die in der Aufklärung und in der Französischen Revolution wurzelt, bestand seit dem 18. Jahrhundert in ununterbrochener Kontinuität. Ihre Ursprünge reichen daher weiter zurück als auf politische Systeme des 19. Jahrhunderts. Die Idee des 18. Jahrhunderts von einer natürlichen Ordnung oder einem „Allgemeinen Willen" (Rousseau) entwickelte eine Geisteshaltung, die bis dahin in der Politik unbekannt war. Das Erleben einer strukturellen und unheilbaren Krise der Gesellschaft begünstigte das Entstehen dieser totalitären Tradition. J. L. Talmon meint, dass die jakobinische Diktatur, die auf die Einsetzung einer Tugendherrschaft ausgerichtet war, und der Plan Babeufs einer egalitären, kommunistischen Gesellschaft die frühesten Ausprägungen des modernen politischen Messianismus waren. Die totalitäre Demokratie nahm sehr früh Züge einer Ideologie von Zwang und Zentralisation an. 22 Eine modifizierte Fortsetzung der aufgeklärten und jakobinischen Staatstheorie findet sich u. a. in der Machtstaatstheorie Hegels. Der Hegeische Staat stellt
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Ebd., 94; Eberhard Schmitt, Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution, München 1976, 1 Iff.; Michel Vovelle, Die Französische Revolution, 58ff. Helmut Reinalter, Die Französischer Revolution und Mitteleuropa, 11 ff., 17; Jakov Leb Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 120, 122, 225 ff. Jakov Leb Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 225 ff.
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ein System von Kreisläufen und Organen dar, wie Familie, Stände, Korporationen, die alle an der Allgemeinheit des Staatsorganismus partizipieren, weil sie dessen Teile oder Glieder sind. Da der Staat höchste Verwirklichung der Freiheit, Vernunft und Sittlichkeit ist und sich seine Macht im konkreten politischen Leben zeigt, sind seine Glieder als Befehlsempfänger von Aufträgen eines zwischen den Völkern wirkenden „Weltgeistes" zu sehen. Die Idee des Staatsorganismus steht zwar im Gegensatz zur absoluten Monarchie, in der Realität entfaltet sie sich allerdings zum absoluten Machtstaat. 23 Wie diese Beispiele verdeutlichen, reichen die historischen Wurzeln der totalitären Machtstaatstheorie bis in die Zeit der Aufklärung und Französischen Revolution zurück. Beide haben die Entstehung des totalitären Typus von Demokratie ermöglicht und mitgeprägt, beide haben aber auch, u. a. in Hegel wurzelnd, den liberalen Typus von Demokratie geschaffen und damit die Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie beeinflusst. Dieser Widerspruch ist in den Ambivalenzen der europäischen Aufklärung begründet. 24 Die Französische Revolution und die europäische Aufklärungsbewegung haben reformerische gesellschaftliche Zielvorstellungen und Utopien als Elemente der Modernisierung im 19. Jahrhundert beeinflusst. Der gesellschaftliche Wandel, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf verschiedensten Ebenen angekündigt hat, erfuhr durch die französische Staatsumwälzung eine erhebliche Beschleunigung. Dabei spielten die Dynamisierung innergesellschaftlicher Kräfte, die revolutionären Impulse und die Herrschaft Napoleons eine entscheidende Rolle. Nach der Französischen Revolution bildeten sich zwei alternative Modelle einer Zukunftsgesellschaft heraus: die Idee der klassenlosen Gesellschaft und die Konzeption einer immer stärker außengeleiteten neuen bürgerlichen Gesellschaft. Die Frage nach der Utopie war mit dem Projekt der Moderne eng verknüpft. So wurden schon während der Aufklärung und dann in der Französischen Revolution neue Utopien entwickelt, die eng mit dem Glauben an die Möglichkeit einer rationalen Gesellschaftsgestaltung verbunden waren. Als Darstellungsform der Utopie gewann die Zeitkritik zunehmend an Bedeutung. Neu war durch die Französische Revolution das Entstehen einer Kluft innerhalb des Utopie-Diskurses, die es vorher in dieser Schärfe nicht gab, nämlich der Gegensatz zwischen der herrschafts- und institutionenbezogenen Utopie und ihrer anarchistischen Variante. In den meisten Utopien dieser Zeit wurde das Konstrukt der idealen Gegenwelt aus der Kritik an den bestehenden sozialen und politischen Zuständen entwickelt. Die Zeitkritik war radikal und richtete sich vor allem gegen die feudalen absolutistischen Strukturen des Ancien Regime. Der hier angesprochene Aspekt der Modernisierung ist in einem größeren Entwicklungszusammenhang bis heute noch nicht gründlich aufgearbeitet. Jürgen Habermas spricht allgemein von einem „unvollendeten Projekt der Moderne". 2 5 Dieses Projekt ist heute allerdings eigentümlich zersplittert. Die Aufsplitterung hängt vor allem mit den Ambivalenzen
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Vgl. Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815 bis 1945), Frankfurt a. M. u. a. 1995, 107; s. weiters Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Helmut Reinalter, „Aufklärung und Totalitarismus", in: Recht und Weltanschauung, hg. v. Michael Fischer/Günther Kreuzbauer, Frankfurt a. M. 2000,228ff. Zygmund Bauman, Moderne und Ambivalenz, 1995; Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, 1989. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Frankfurt a. M. 1994; Helmut Reinalter (Hg.), Die Französische Revolution und das Projekt der Moderne, 2002,4ff.
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der Aufklärung und Französischen Revolution zusammen, aus denen sich unterschiedliche Entwicklungsstränge gebildet haben. Habermas fordert nachdrücklich, aus den Verirrungen und Fehlentwicklungen, die das Projekt der Moderne begleitet haben, und aus den Fehlern der „verstiegenen Aufhebungsprogramme" zu lernen, statt die Moderne und ihr Projekt grundsätzlich in Frage zu stellen. Das Projekt der Moderne, das im 18. Jahrhundert von der Aufklärung formuliert und von der Französischen Revolution zum Teil politisch-praktisch umgesetzt wurde, versucht programmatisch, „die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potenziale [...] aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen" (Jürgen Habermas). In diesem Zusammenhang darf die Bedeutung der Aufklärung nicht übersehen werden. Ihr Ziel war die allmähliche Verbesserung von Mensch und Welt durch die autonome Vernunft. Dieser Fortschritt manifestierte sich im Zuwachs an empirischem Wissen und in der Ausnutzung der Naturgesetze mit dem Ziel, die natürliche Umwelt zu beherrschen. Es ist gerechtfertigt, die Moderne mit den demokratischen Revolutionen und der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts beginnen zu lassen, wenngleich diese Zäsur nicht in jeder Hinsicht zutreffend erscheint. Die europäische Doppelrevolution stellt aber einen tiefen Einschnitt dar. Häufig werden die Prozesse der Urbanisierung, Industrialisierung, Demokratisierung, Modernisierung und die Entstehung eines empirisch-analytischen Verständnisses von Wissen als entscheidende Faktoren der sich ausbildenden Moderne erwähnt. Das zeitlich relativ enge Zusammentreffen von Amerikanischer und Französischer Revolution kann man als den Beginn der politischen Moderne bezeichnen, weil hier neue Grundlagen für das moderne Politikverständnis gelegt wurden. Die Französische Revolution wurde bei unzufriedenen sozialen Gruppen als Anstoß gesehen, längst überfällige Reformen und gesellschaftliche Veränderungen im eigenen Land energisch zu betreiben. Häufig löste sie eine Welle politischer Publizistik von neuer Radikalität und sozialer Reichweite aus, die die revolutionären Grundvorstellungen und Schlagworte verbreitete. Mit dieser Entwicklung verbanden sich auch eine neue Klubkultur und internationale Freiheits- und Gleichheitssymbolik. Durch die von der Revolution ausgelösten Akkulturationsprozesse wurden neue soziale Schichten politisiert und näher an die Politik herangeführt. In der Auseinandersetzung mit der Revolution bildeten sich gegensätzliche politische Gruppierungen heraus, sodass in diesem Kontext von neuen Impulsen zur Herausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur in Europa gesprochen wurde.
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Religionswissenschaft und Aufklärung Historische Aspekte und gegenwärtige Fragen
„Aufklärung" bezeichnet einesteils eine Periode in der europäischen Geistesgeschichte, andernteils ein Programm, eine bestimmte Haltung, die nicht auf die gleichnamige Periode beschränkt ist. Wenn ich im Folgenden kurze Bemerkungen zum Verhältnis der Religionswissenschaft zur „Aufklärung" mache, möchte ich beide Hinsichten berücksichtigen. Auf der einen Seite will ich der Frage nachgehen, inwieweit die für die Religionswissenschaft typischen Fragestellungen sich im Kontext der europäischen Aufklärung vorbereiten oder sich einem „aufklärerischen" Geist verdanken. Auf der anderen Seite möchte ich, Bezug nehmend auf die aktuelle Diskussion über Aufgaben und Wesen der Religionswissenschaft, nach der „aufklärerischen" Rolle der Religionswissenschaft in unserer Gesellschaft fragen. Beides kann in diesem Rahmen freilich nur kursorisch geschehen. Ohne hier einleitend bereits auf die Diskussion über Eigenart und Aufgaben der Religionswissenschaft einzugehen, kann festgehalten werden, dass darunter offensichtlich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion(en) - in Abhebung von anderen solchen Unternehmungen wie Theologie und Religionsphilosophie - verstanden wird. Gerade die Abgrenzung der Religionswissenschaft von den beiden zuletzt genannten Unternehmungen ist für ihr Verhältnis zur „Aufklärung" von Bedeutung, wie ich im Folgenden zu zeigen versuchen werde.
1. Religion in der europäischen Aufklärung Unter dem Zeitalter der europäischen Aufklärung versteht man gemeinhin die Zeit zwischen der englischen und der französischen Revolution (1688-1792). Ungeachtet der hier nicht zu diskutierenden Frage, ob und in welchem Ausmaß in der Antike (etwa bei den antiken Materialisten und Skeptikern), im Mittelalter und der frühen Neuzeit bereits dezidiert atheistische Positionen zu finden seien, kann festgehalten werden, dass sich die in Frage stehende Epoche durch die Möglichkeit umfassender Kritik der Religion und deren radikaler Ablehnung bis hin zu einem mit Argumenten gestützten und lebenspraktisch umgesetzten Atheismus auszeichnet, wie etwa bei Pierre Bayle (1647-1706) und Paul Henry Thiry d'Holbach (17231789). Damit ist zweifellos ein Heraustreten aus dem Rahmen theologischer Bezugnahme auf Religion gegeben, und zwar zugunsten der in diesem Zeitraum sich ausbildenden Disziplin der Religionsphilosophie im neuzeitlichen Sinne. Es wird zu fragen sein, inwieweit sich in diesen philosophischen Reflexionen auf das Wesen der Religion Fragestellungen ankündigen, die wir später auch im Kontext der im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert sich ausbil-
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denden Religionswissenschaft und ihrer Teildisziplinen finden. In der üblichen Einteilung des Jahrhunderts der europäischen Aufklärung in drei einander überlappende, eher durch den jeweiligen Sprachraum geschiedene Phasen 1 zeigt sich eine starke Diversifizierung der unter diesem Titel zusammengefassten Philosophien gerade auf dem Gebiet der Religionsphilosophie.
1.1 David Humes Naturgeschichte der Religion im Kontext der englischen Aufklärung In der englischen und schottischen Aufklärung ist im Großen und Ganzen der Deismus die vorherrschende religionsphilosophische Strömung. Neben der Ansicht, dass die Welt einen letzten Urheber habe, der nach dem Inswerksetzen der Schöpfung nicht mehr direkt in den Lauf der Dinge eingreife, ist die Idee einer „Vernunftreligion", einer allen Menschen auf natürliche Weise zugänglichen, gemeinsamen Religion, ein wichtiges Charakteristikum deistischer Religionsphilosophie. Diese wird als der eigentliche Kern der historisch vorfindbaren Religionen aufgefasst, deren unterschiedliche rituelle Praktiken und glaubensmäßige Inhalte als unwesentliche Ausschmückungen oder aber Abweichungen von dieser reinen Lehre angesehen werden. Damit ist im Prinzip, bei allen Differenzen im Einzelnen, klar Position gegen die Idee einer Offenbarungsreligion bezogen. Die akzeptierten Gottesbeweise sind in der Regel der kosmologische und der teleologische, es wird aus der Ordnung der Natur auf einen Urheber geschlossen, der diese Ordnung herbeigeführt habe. Vorbereitet wird diese Idee einer Vernunftreligion wenn nicht schon in der Stoa, so wohl bereits bei dem spätmittelalterlichen Kardinal Nikolaus v. Cues (1401-1464) in seinem Werk De pace fidei, der den Gedanken der „einen Religion in unterschiedlichen Riten" ausgedrückt hat.2 Jedenfalls gilt Herbert v. Cherbury (1583-1648) als derjenige neuzeitliche Denker, der die Lehre vom Unterschied zwischen der einen wahren Vernunftreligion und den geoffenbarten Religionen, die als Vorstufen der Vernunftreligion sich dieser unterzuordnen haben, zuerst entwickelt hat. Für Cherbury 3 gibt es fünf Grundzüge dieser wahren Religion, nämlich (1) den Glauben an ein höchstes Wesen, (2) die Verehrung dieses Wesens mit verschiedenen Riten, (3) Tugend und Frömmigkeit, (4) Ablehnung/Wiedergutmachung von Verbrechen, (5) Glaube an jenseitige Vergeltung. Dieses Konzept der Vernunftreligion gibt einesteils, wie GrabnerHaider schreibt, „ein Grundthema der europäischen Aufklärung" vor,4 steht aber auch Pate für den modernen Begriff der Religion überhaupt, der sich erst in nachreformatorischer Zeit herausgebildet hat.5 Cherburys Definition hat demnach nachhaltigen Einfluss auf die Heraus-
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Die englische, die französische und die deutsche Aufklärung. „[...] omnem diversitatem [religionum] in ritibus potius compertum est fuisse quam in unius Dei cultura", wie wörtlich zu lesen steht; Nikolaus von Kues. Philosophisch-Theologische Schriften, hg. v. Leo Gabriel. Übers, v. Dietlind u. Wilhelm Dupre. Studien und Jubiläumsausgabe. Lateinisch-deutsch. Band III, Wien 1967,796. Edward Herbert of Cherbury, De veritate, hg. u. eingeh v. Günter Gawlick, Stuttgart/Bad Canstatt 1966. Anton Grabner-Haider, Kritische Religionsphilosophie. Europäische und außereuropäische Kulturen, Graz/Wien/Köln 1993, 143. Vgl. dazu den instruktiven Sammelband: Ernst Feil (Hg.), Streitfall „Religion". Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegrijfs, Münster 2000.
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bildung eines „abstrakten Religionsbegriff[es]"6 gehabt. Freilich ist dieser heute gerade in der Religionswissenschaft als a) eurozentrisch und b) ungeeignet, die Vielfalt der Formen des Religiösen zu bündeln und zu reflektieren, verabschiedet worden. Während Autoren wie John Toland,7 der zeigen wollte, dass das Christentum der Vernunft weder widerspricht noch über der Vernunft steht, sondern der vernünftigen Religion entspricht, und Matthew Tindal, der sich um den Aufweis bemühte, dass Christus die natürliche Urreligion freigelegt habe,8 sich deutlich im Rahmen dieser deistischen Vorgaben aufhalten, ist David Hume aus diesem wohl ebenso deutlich herausgetreten. Wenn auch Uneinigkeit über die letztendliche Stellung Humes zur Religion besteht, die vor allem darin begründet zu sein scheint, dass er seine religionsphilosophische Hauptschrift in Form eines Dialoges abgefasst hat,9 so wird man seine Haltung gegenüber der Möglichkeit der Gotteserkenntnis wohl am besten als „agnostisch" bezeichnen.10 Seine Bestimmung der Person als „bundle of perceptions" lässt wenig Raum für eine wie immer substantiell gedachte Seele,11 die drastische Einschränkung des mittels der Kategorie der Kausalität Erfassbaren12 kann wohl nicht mit dem kosmologischen Gottesbeweis und nur schwer mit dem teleologischen in Übereinstimmung gebracht werden, wenn Hume auch am Beginn seiner Natural History of Religion die Frage nach der vernünftigen Grundlage der Religion mit dem lapidaren Satz beantwortet: „The whole frame of nature bespeaks an intelligent author".13 Im Abschnitt 6 der Schrift14 erläutert Hume, dass der Theismus aus dem Polytheismus entstanden sei, aber nicht aufgrund jener „invincible reasons, on which it is undoubtedly founded",15 sondern durch aus Angst hervorgegangenen Schmeichelei, die zur Verherrlichung (adulation) eines Hauptgottes führe, dem schließlich die unbegrenzte Macht zugeschrieben werde.
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So Johann Figl, „Einleitung", in: ders. (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen [=HBRW], Innsbruck 2003, 18-80,64. John Toland, Christianity not mysterious or a treatise shewing, that there is nothing in the gospel contrary to reason nor above it. The II. ed. Enlarged, London, 1696. Reprint: London 1995. Matthew Tindal, Christianity as Old as the Creation, hg. v. Günter Gawlick, Stuttgart/Bad Canstatt 1967. Zu den Spannungen in Humes Religionsphilosophie und den sich daraus ergebenden divergierenden Interpretationstendenzen vgl. Thomas Brose, „David Humes geistesgeschichtliche Zäsur. Das Umschlagen von aufgeklärter Religionsphilosophie in Religionskritik", in: ders., Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik, Würzburg, 1998. Wenn man etwa den 11. Abschnitt der Enquiry heranzieht; David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers, u. hg. v. Herbert Herring, Stuttgart 1979, 168-187. Robert Spaemann hat darin eine Konsequenz gesehen, die Hume aus Lockes Definition der Person als mit sich identischem denkendem Wesen gezogen hat. In seinen kritischen Überlegungen zu den bedenklichen Folgen, die das seiner Ansicht nach für die philosophische Bestimmung des Seins von Personen hat, fuhrt er das von Hume selbst im Appendix zum Treatise eingestandene Unvermögen, personales Sein zu erfassen, letztlich auf Descartes' Definition der Gewissheit als unmittelbarem Bei-Sich-Sein zurück. Vgl. Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas" und „jemand", Stuttgart 2 1996, 144-157, bes. 154ff.
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Diese hat Bertrand Russell dazu gebracht, von einer „rejection of the principle of induction" bei Hume zu sprechen; Bertrand Russell, A History of Western Philosophy, London 1979,646. David Hume, Principal Writings on Religion including Dialogues Concerning Natural Religion and Natural History of Religion, ed. with an Introduction and Notes by John Charles Addison Gaskin, Oxford/New York 1993, 134. David Hume, Writings, 153-157. Ebd., 153.
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Man könnte die von Hume beschriebene Bewegung also als vom Polytheismus über den Monolatrismus zum Monotheismus führend beschreiben. Sie kommt nun ihm zufolge in ihrem Ergebnis nur zufällig mit der Religion, die auf den „principles of reason and true philosophy"16 beruht, überein. Diese wird im Übrigen von Hume17 mit den Charakteristika des Deismus (ein letzter Urheber der Welt, der ihr ihre Gesetze gegeben hat und danach nicht mehr in den Ablauf der so geregelten Welt eingreift) geschildert. Ob oder bis zu welchem Grade dies wirklich Humes Haltung der Religion gegenüber wiedergibt, wie man sie den Dialogues on Natural Religion entnehmen können sollte, will ich der spezialisierten HumeForschung zur Beantwortung überlassen. Worin er sich deutlich von diesem Konzept abhebt und eine neue Blickrichtung vorzugeben scheint, ist, dass er neben der Frage nach der vernunftgemäßen Religion diejenige nach der Entstehung der Religion stellt, und diese nicht innerhalb der Alternative „Vernunftreligion" und „Offenbarungsreligion" beantwortet, sondern im Rahmen einer „Naturgeschichte der Religion" behandelt. Dabei nimmt er entschieden sowohl gegen die Offenbarungsreligion wie gegen die deistische Version einer anfänglichen Vernunftreligion Stellung, wenn er der Frage nachgeht, wie der Glaube an eine unsichtbare, intelligente Macht in der menschlichen Psyche entstehen konnte. Hume bestreitet sowohl die Universalität des Religiösen als auch den chronologischen Vorrang des Monotheismus. Vielmehr sieht er die ursprüngliche Form der Religion im Polytheismus, den er letztlich aus Gemütsbedürfnissen wie ζ. B. Sorge um das Wohlergehen, Furcht vor Unglück, Angst vor dem Tod, entstehen lässt. Demnach erlebt der Mensch in den Wechselfällen des Lebens unterschiedliche Kräfte am Werke, die einesteils förderlich, andernteils schädigend sind. Interpretiert er diese Agenten nun als unsichtbare, geistige Wesenheiten (Götter), so liegt es angesichts dieses Befundes näher, eine Vielzahl solcher miteinander im Kampfe liegender Wesen zu konzipieren. Die Notwendigkeit, sich die Gottheiten wohlgesonnen zu machen, liefert Hume sodann das eine Prinzip, mit dem er die verschiedenartigsten religiösen Gebräuche erklären kann.18 Weiters gibt er dem Polytheismus als der seiner Ansicht nach toleranteren Religion in Hinsicht auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen den Vorzug. Ich will jetzt weniger darauf eingehen, dass damit eine Debatte vorweggenommen scheint, die in den letzten Jahren rund um entsprechende Thesen von Odo Marquard oder Jan Assmann geführt worden ist.19 Die für den Zusammenhang mit der Religionswissenschaft bedeutsamen Punkte sind für mich darin zu erblicken, dass mit dieser erstaunlich modernen Erläuterung der Entstehung der Religion einerseits spätere Stadienlehren, etwa die von Auguste Comte oder Edward B. Tylor, vorbereitet sind, andererseits eine funktionale Betrachtungsweise des religiösen Segmentes der Gesellschaft antizipiert wird. Nicht von ungefähr rechnet Hubert Knoblauch also
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Ebd., 155. Ebd., 154. Hume fasst dies wie folgt zusammen: „In short, the conduct of events, or what we call the plan of a particular providence, is so full of variety and uncertainty, that, if we suppose it immediately ordered by any intelligent beings, we must acknowledge a contrariety in their designs and intentions, a constant combat of opposite powers [...] Each element is subjected to its invisible power or agent. The province of each god is separate from that of another. Nor are the operations of the same god always certain and invariable. To-day he protects: Tomorrow he abandons us. Prayers and sacrifices, rites and ceremonies [...] are the sources of his favour or enmity [...]." (Writings, 139). Zur Diskussion von Assmanns „Rehabilitierung" des Polytheismus vgl. Jürgen Manemann (Hg.), Monotheismus, Münster 2002 (= Jahrbuch politische Theologie 4).
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David Hume zu den Wegbereitern der Religionssoziologie. 20 Der Religionssoziologe fragt nämlich, wie uns Max Webers Ausführungen am Beginn des einschlägigen Kapitels von Wirtschaft und Gesellschaft belehren, nicht nach dem „Wesen" der Religion, sondern nach den „Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln [...], dessen Verständnis [...] nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken der Einzelnen [...] aus gewonnen werden kann." 21 Diese Betrachtungsweise ist den Deisten noch fremd, die nach dem „Wesen" der Religion fragen, während Humes Naturgeschichte der Religion sich genau hier ansiedelt: Aus bestimmten psychischen Konstellationen als ihren Bedingungen erklärt, wird eine bestimmte Art und Weise gemeinschaftlichen Handelns, wie es die Riten und Gebräuche der Religionen sind, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit hin untersucht, wenn auch auf vergleichsweise rudimentär vorhandenen religionsgeschichtlichen Daten basierend, und somit bescheidener angelegt als Webers Entwurf.
1.2 Religionsgeschichte als Mittel radikaler Religionskritik bei Holbach Die Hinwendung zur Religionsgeschichte, die sich in Humes Reflexionen feststellen lässt, geschieht aber nicht ohne eine philosophische Begründung. Es zeigt sich darin der Sachverhalt, dem Hans Georg Kippenberg das erste Kapitel seiner Darstellung der Geschichte der Religionswissenschaft gewidmet hat, „dass es zwischen der Religionswissenschaft als einer historischen Disziplin und der Religionsphilosophie Zusammenhänge gibt, die mehr als [...] marginal sind." 22 Sein Versuch, die Entstehung der „Idee einer Geschichte der Religionen" aus einer längerfristigen philosophischen Perspektive heraus zu verstehen, die er zwischen Hobbes und Schopenhauer ansiedelt, nimmt ausdrücklich Bezug auf Humes Schrift. 23 In der gegenüber der englischen philosophisch weit uneinheitlicheren französischen Aufklärung ist, bei den Vertretern einer radikalen Religionskritik eine Art polemische Hinwendung zur Religionsgeschichte festzustellen. Im Gegensatz zu deistischen Interpretationen der biblischen Tradition, die deren Übereinstimmung mit der Vernunftreligion nachweisen wollen, geht es in der kritischen Relektüre der Evangelien durch Holbach 24 um den Aufweis der Ungegründetheit der christlichen Religion, so man sie vom Standpunkt der aufgeklärten Vernunft betrachtet. In den Schriften Holbachs, für den das Naturgeschehen materialistisch und mechanistisch zu erklären ist, finden sich die religionskritischen Argumente der Epoche in radikaler Zuspitzung, v. a. die Entstehung der Religion aus Furcht und verwandten Affekten und die These vom Priesterbetrug, im Verein mit heftiger Kirchenkritik. Seine Evangelienauslegung stellt eine mit gelehrten Anmerkungen versehene, die deistische Ausrichtung
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Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin/New York 1999, 22f., in dem Kapitel mit dem Titel „Die Geburt der Religionssoziologie aus dem Geiste der Religionskritik". Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen s 2 0 0 0 , 2 4 5 . Hans Georg Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, 23 München 1997, 13. Hans Georg Kippenberg, Religionsgeschichte, 18-21. 24
Paul Thiry Baron d'Holbach, Histoire Critique de Jesus Christ ou Analyse raisonee des Evangiles, hg. v. Andrew Hunswick, Geneve 1997; der Text samt der Einleitung von Hunswick ist zuvor in einer englischen Ausgabe unter dem Titel der ursprünglichen Übersetzung, ,Jicce homo!" erschienen: Baron Paul Tiry d'Holbach, Ecce Homo! An Eighteenth Century Life of Jesus. Critical edition and Revision of George Houston 's Translation form the French by Andrew Hunswick, Berlin/New York 1995.
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der Vorlage ausmerzende erweiterte Adaption eines frühen „Lebens Jesu" im rationalistischen Geist der Aufklärung dar.25 Die religionsphilosophische Tendenz ist deutlich: die Exegese zielt insgesamt auf eine Destabilisierung der frommen, theologischen Lesart. Wenn etwa Jesus bei der Auferweckung der Tochter des Jairus dem Bericht der Evangelien zufolge zu den Trauernden sagt, dass jene nicht gestorben sei, sondern nur schlafe, dann nimmt Holbach diese Aussage nicht als allegorische religiöse Rede, sondern als Indiz, dass der angebliche Wundertäter bloß Bescheid gewusst hätte, dass „il y a vraiment de filles qui des l'äge de douze ans sont sujettes a de pareilles syncopes".26 Die Wundertätigkeit wird auf medizinische Kenntnisse, die Jesus in Ägypten erworben haben könnte, zurückgeführt.27 So wird der frommen Lesart eine natürliche entgegengesetzt, die aber, wie in dem genannten Beispiel, oft eher als mehr oder minder gewagte Hypothese denn als gesicherte historische Kenntnis anzusehen sein wird. Jedenfalls wird der Stifter des Christentums als normaler Mensch, werden dessen berichtete Wundertaten als Scharlatanerie dargestellt. Religionsvergleiche dienen ebenso als argumentative Waffen gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, so, wenn ζ. Β auf die auch anderswo übliche Konstruktion einer göttlichen Geburt hingewiesen wird.28
1.3. Die Vernunftreligion in der deutschen Aufklärung Der durchgehend religionskritische Charakter der Religionsphilosophie der Aufklärung tritt in der eher auf rationalistischer Philosophie beruhenden deutschen Aufklärung als Suche nach einer Vernunftreligion zu Tage - Religion wird somit nicht, wie etwa im Kreis um Holbach, vollständig abgelehnt. Freilich wird auch die deutsche Aufklärung im sog. Atheismusstreit zwischen dem Hamburger Theologen Goeze und Lessing kirchenkritisch, und die deutsche Aufklärung hat in Lichtenberg zudem ihren skeptisch-ideologiekritischen Denker hervorgebracht. Nicht zuletzt wird der Begriff „Religionskritik" im Kontext der kantischen Philosophie geprägt. Das im Laufe des 17. Jhdts. im deutschen Sprachraum heimisch gewordene Wort „Kritik" bekam in Baumgartens Philosophie seine erkenntnistheoretische Bedeutung,29 an die Kant in seiner „Kritik des Vernunftvermögens überhaupt"30 anschließen konnte. Dabei bezieht sich der Königsberger Philosoph insofern auf den neutestamentlichen Gebrauch des Wortes, als er die Metapher des „Gerichtshofes" für dieses Verfahren einsetzt.
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Histoire critique des Jesus fils de Marie, tirees d'ouvrages authentique par Salvador, juif et traduite par une Frangais reßigie; ein Exemplar des Buches ist in der Deutschen Staatsbibliothek, Berlin, erhalten; vgl. dazu Andrew Hunswick 1995, 14ff. Paul Thiry Baron d'Holbach, Histoire, 301. „[...] Ie recit de ce miracle semble nous prouver que les fils de Dieu avait pris en Egypte quelque teinture de medecine; il parait au moins qu'il etait au fait des maladies spasmodiques de femmes [...]" (Paul Thiry Baron d'Holbach, Histoire critique, 302). „Chez les pai'ens Minerve sortit du cerveau de Jupiter; Bacchus fut conserve dans la cuisse de ce meme Dieu. Chez les Chinois le Dieu Fo fut engendre par une vierge feconde par un rayon de soleil". (Paul Thiry Baron d'Holbach, Histoire 176f.). Vgl. zum Folgenden: Claus ν. Bormann, Giorgio Tonelli, Helmut Holzhey, „Kritik". In: HistWbPh 4, Basel 1976, 1249-1282, bes. 1261, 1267-1271. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke in zehn Bänden, Darmstadt 1983 (= KantWerke), Band 3, 13 (A XII).
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Das kritische Unternehmen zielt darauf, alle Argumente der öffentlichen Überprüfung durch die Vernunft zu unterwerfen und keine Berufung auf Autorität alleine zuzulassen: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.
Im Sinne des hier definierten Programmes nimmt Kants Religionsphilosophie die der Aufklärungsphilosophie insgesamt eigene Forderung einer „Vernunftreligion" als einer durch die Prinzipien der Vernunft „gereinigten" Religion in eminentem Maße auf. In der Schrift Der Streit der Fakultäten von 1798 geht er darauf ein, dass die drei „oberen" Fakultäten, die theologische, juristische und medizinische, sich auf Schriften beziehen, die ihnen von der Regierung vorgeschrieben werden: „Daher schöpft der biblische Theolog [...] aus der Bibel, der Rechtslehrer [...] aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte [...] aus der Medizinalordnung". 32 Kant zeigt, dass es die Aufgabe der allein auf der Vernunft gründenden Philosophie ist, diese Schriften auf ihre Vernunftgemäßheit hin „mit kalter Vernunft" 33 zu prüfen, was an der Universität als ein öffentlicher Vorgang zu geschehen habe. In dem Streit der philosophischen mit der theologischen Fakultät gehe es darum, aus dem bloß partikularen Kirchenglauben (der sich auf Offenbarung stützt) die der Menschheit allgemeine Religion (die identisch ist mit der Sittenlehre der reinen praktischen Vernunft) zu bilden, die allein als Grundlage der Moral dienen kann: „Nicht der Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher Offenbarung, sondern der aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote (und subjektiv der Maxime, sie als solche zu befolgen) ist Religion".34 Im Sinne dieser kritischen Prüfung der offenbarten Religion vor dem Gerichtshof der Vernunft entsteht im Umfeld der kantischen Philosophie der Begriff „Religionskritik", der in Kants religionsphilosophischer Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft von 1793 selbst nicht verwendet wird. Johann Heinrich Tieftrunk (1759-1837) entwickelt 1790 in seiner Abhandlung Versuch einer Kritik der Religion und aller religiösen Dogmatik, mit besonderer Rücksicht auf das Christenthum im Berlinischen Journal fiir Aufklärung das Programm einer Versöhnung der Religion mit der Kritik, die die Vernunftprinzipien zur Geltung bringt. Wie Kant vertritt Tieftrunk eine reine Vernunftreligion auf der Basis der praktischen Vernunft. Er fordert, dass die Auslegung der Bibel sich vor der Religionskritik zu rechtfertigen habe. In gewisser Weise kann man diese kantische Idee einer Vernunftreligion in die Geschichte der deistisch motivierten Religionskritik einordnen, wobei aber zu beachten ist, dass Kant die bedeutsame Modifizierung der Trennung der Vernunftvermögen einführt und in der Kritik der reinen Vernunft die klassischen rationalistischen und deistischen Beweisführungen für das Dasein Gottes verabschiedet, hierin konsequenter als Hume, 35 die von diesem gezogenen Grenzen der Anwendbarkeit der Kategorie der Kausalität auf die Welt möglicher Erfahrung beachtend.
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Ebd. A . a . O . , Band 9, 285 ( A l 6). Ebd., 297 (A 37). Ebd., 300f (A 44f.). Wenn man in den o. g. Aussagen Humes zur Erkennbarkeit Gottes aus dem „design" mehr als ein hauptsächlich diplomatisch motiviertes Zugeständnis an die Religion von Seiten des Skeptikers sehen will.
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Die für die Aufklärung insgesamt typische, im Namen der Vernunft kritische Haltung geoffenbarter Religion gegenüber wird mit dem zweiten von uns angeführten Prinzip, dem der Hinwendung zu einer historischen Betrachtungsweise der Religion, bei Gotthold Ephraim Lessing zu einer theologischen Synthese gebracht. Lessing, der wie der Deist Voltaire allein in der moralischen Wirkung das Kennzeichen echter Religiosität erblickt, berühmt für seine in Nathan der Weise vertretene Ansicht der zugrundeliegenden Einheit der drei monotheistischen Religionen, stellt in Die Erziehung des Menschengeschlechtes ein entwicklungsgeschichtliches Schema der Religionsgeschichte auf, wonach auf die „Gesetzesreligion" des alten Testamentes die „Dogmenreligion" der inneren Überzeugung des Christentums gefolgt sei, die nunmehr durch eine natürliche, moralische Vernunftreligion überwunden werde. Man kann ihn mit diesen Gedankengängen als einen Vorläufer der rationalistischen Bibelkritik des 19. Jahrhunderts ansehen. Diese steht nun aber in direkter Verbindung zur entstehenden Religionswissenschaft.
2. Philosophie, Bibelkritik und Religionswissenschaft Die von Renaissancegelehrten entwickelte philologische Kritik, deren Ziel es war, die überlieferten antiken Texte zu ergänzen, zu korrigieren und zu erläutern, führt in weiterer Folge in der Gestalt der Bibelkritik zu einem bedeutsamen Strang der neuzeitlichen Religionskritik, der Auflösung des historischen Wahrheitsanspruches der biblischen Erzählungen. Eine wichtige Rolle in deren Geschichte spielt Baruch Spinozas Tractatus theologico-politicus von 1670.36 Er systematisiert einerseits vorliegende Ansätze und baut sie andererseits in einem System rationaler Theologie aus, von der aus der biblische Text als historisch bedingt erscheint. Im 7. Kapitel des Werkes legt er als Prinzip der Erklärung der heiligen Schrift deren Geschichte, analog zur Naturgeschichte,37 dar und sucht zu zeigen, dass die Bibel sich in Hinsicht auf das zum Heil Notwendige, die Sittenlehre, deutlich ausgedrückt habe, die Undeutlichkeiten sich aber auf die Dinge bezögen, die unbegreiflich oder bloß vorstellbar seien; das Bedeutsame an der Schrift könne somit mittels der natürlichen Vernunft erkannt werden, die er als höchste Instanz zur Auslegung bestimmt. 38 In Anknüpfung an Andeutungen in den Bibelkommentaren des mittelalterlichen jüdischen Theologen Abraham Ibn Esra (1089-1164) wendet er sich gegen die biblische Chronologie. Im 8. Kapitel führt er aus, dass Mose nicht den ganzen Pentateuch verfasst habe, sondern nur dessen älteste Schichten. Was die anderen Schriften der Bibel betrifft, wendet er sich gegen die Datierung in der Tradition und datiert sie in viel spätere Zeit. Damit ist ein bedeutsamer Schritt über die reine biblische Textkritik - der kritischen Überprüfung der verschiedenen Lesarten auf verschiedenen Überlieferungsträgern - in Richtung auf historische Kritik der biblischen Überlieferung getan. Der Gedanke der Prüfung der Überlieferung durch die Vernunft, den Spinoza vertritt, weist auf die philosophische Religionskritik, wie sie in der Aufklärungsphilosophie ausgeformt wird, voraus, die kritische Untersuchung der Heiligen Schrift auf die historisch-kritische Methode der Bibelexegese, wie 36
37
38
Zitiert nach der lat.-dt. Ausgabe: Benedictus de Spinoza, Tractatus Gawlick und Friedrich Niewöhner. Darmstadt 1979.
Theologico-Politicus,
hg. v. Günther
„[...] dico methodum interpretandi Scripturam haud differre a methodo interpretandi naturam, sed cum ea prorsus convenire." (Benedictus de Spinoza, Tractatus, 230). „Praeterea non dubito, quin unusquisque j a m videat hanc methodum nullum lumen praeter ipsum naturale exigere." (Benedictus de Spinoza. Tractatus, 264).
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sie im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ausgebildet worden ist. War die mosaische Verfasserschaft des Pentateuch bereits im 17. Jhdt. zu einer Hauptfrage der literarischen Kritik geworden, etwa bei Johann Bernhard Witter (1655-1711), 39 der bereits annahm, dass Moses verschiedene (mündliche) Quellen zusammengefasst hatte, oder Jean Astruc (1684-1766), 40 der als Begründer der sog. älteren Urkundenhypothese gilt und als erster in der Verwendung der beiden Gottesnamen „Elohim" und „Jahwe" (b. Astruc: Jehova) nicht nur ein Quellenmerkmal erkannte, sondern auch entdeckte, dass man die Texte mit den beiden Gottesnamen zu je eigenen zusammenhängenden Quellenschriften über etwa denselben Stoff zusammenstellen konnte. Diese Entdeckung wurde von Johann Gottfried Eichhorn (17521827)41 zur Quellenscheidungshypothese ausgebaut. Die Pentateuchforschung des beginnenden 19. Jhdt. war, indem die Untersuchung vom Buch Genesis nach und nach auf den ganzen Pentateuch ausgedehnt worden war, von der Diskussion über die Quellen und Fragmente, aus denen die fünf Bücher Mose zusammengestellt worden seien, geprägt, wobei verschiedene Modelle vorgeschlagen worden sind. Letztendlich hat sich im 19. Jhdt. die Ansicht durchgesetzt, dass es sich um vier Quellschriften handle, den Jahwist, den Elohist, die Priesterschrift und das Deuteronomium, das Gesetzbuch, das dem biblischen Bericht zufolge zur Zeit der Herrschaft des Königs Josia im Tempel aufgefunden worden war. Karl Heinrich Graf (1815-1869) 42 kam in seiner umfänglichen literarkritischen Analyse der Bücher Gen bis 2. Kön 25 zu dem Schluss, dass die gesetzlichen Teile des Pentateuchs (die Priesterschrift) nach dem babylonischen Exil (597/86-538) abgefasst seien. Auf dieser Grundlage veröffentlichte Abraham Kuenen (1828-1891) 43 die erste Geschichte Israels und dessen Religion. Darauf aufbauend entwickelte Julius Wellhausen (1844-1918), 44 der bezeichnender Weise von einem theologischen auf einen orientalistischen Lehrstuhl wechselte, seine historisch-kritisch fundierte Religionsgeschichte Israels, derzufolge sich die jüdische Religion aus einer den Umweltreligionen vergleichbaren Stammesreligion über die prophetische Religion in der vorexilischen Zeit zur von der Priesterschaft bestimmten Gesetzesreligion der nachexilischen Zeit entwickelt habe. Damit hat er die bis dahin angenommene Chronologie der Entstehung des Pentateuch umgedreht. Diese Konstruktion der Geschichte Israels hat großen Einfluss auf William Robertson Smith (1846-1894) und die von ihm und John F. MacLennan entwickelte Theorie des Totemismus, aber auch auf Max Webers Auffassung von der zentralen Rolle der Prophetie in der abendländischen Religionsgeschichte gehabt. Doch auch die von dem radikalen Religionskritiker Friedrich W. Nietzsche in seinem Spätwerk angestellten Überlegungen zur Religionsgeschichte Israels verdanken sich der Beschäftigung mit Wellhausens Theorien. Von der philologischen Bibelkritik in ihrer Anwendung auf die Evangelien geht auch David Friedrich Strauss (1808-1874) in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Kritik des Christentums aus.
IQ 40 41 42 43
44
Vgl. Bibliographisch-Biographisches Kirchenlexikon, Herzberg 1990ff(= BBKL), 23, 1575-1578. Vgl. BBKL 1,258. Vgl. BBKL 1, 1477f. Vgl. BBKL 2,282f. Vgl. BBKL 4, 760-768. Zur Bedeutung Wellhausens für die entstehende Religionswissenschaft vgl. Hans Georg Kippenberg, Entdeckung, 99-119, bes. 100-108.
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3. Konstruktionen der Religionsgeschichte Die im Kontext der entstehenden wissenschaftlichen Disziplin „Religionswissenschaft" entstandenen religionsgeschichtlichen Konstruktionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts teilen mit den diesbezüglichen Versuchen aus der Aufklärungszeit das Bestreben, eine Urform der Religion zu finden, sei diese nun als die Idee einer Allbeseelung im „Animismus" gedacht, wie dies Edward B. Tylor wollte, oder im totemistischen Opferritual bei Robertson Smith, Dürkheim und dessen Schülern, resp. in Freuds Religionstheorie zu finden oder in anderen als Frühstufen angenommenen Formen des religiösen Bewusstseins, wie etwa in dem von Robert R. Marett vorgeschlagenen Präanimismus.45 Im frühen 20. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang schließlich auch ein Streit um den Monotheismus entstanden, in dem die Vertreter der sogenannten „Wiener Schule der Religion sethnologie" um Pater Wilhelm Schmidt46 mit Mitteln der ethnographischen Forschung den Nachweis erbringen wollten, dass die Urreligion der Menschheit der Monotheismus gewesen sei, basierend auf einer primordialen Offenbarung.47 Dieser Streit zwischen der „Uroffenbarungsthese" und den evolutionistischen Modellen der Konstruktion eines quasi naturgesetzlich geregelten Verlaufes der Religionsentwicklung wirkt wie eine späte und verfeinerte Nuance in der Kontroverse Humes mit den Offenbarungstheologen und den Deisten seiner Zeit, resp. derjenigen zwischen den beiden letzteren. Eine weitere Frage, die bereits von Hume aufgeworfen und negativ beantwortet worden ist und deren positive Beantwortung in viel radikalerer Form von atheistischer Seite, wie etwa bei Holbach oder später auch von Sigmund Freud 48 zurückgewiesen wird,49 besteht darin, ob es sich bei der Religion um ein anthropologisches Apriori handle, also alle Menschen Religion haben. Eng verbunden ist diese Frage mit der notorisch schwierig zu behandelnden Frage nach einer allgemein gültigen Definition von Religion. Diese Frage ist gerade angesichts der Fülle von religionsgeschichtlichem Material, das die spezialisierte religionsgeschichtliche Forschung in den letzten beiden Jahrhunderten zusammengetragen hat, virulent geworden und hat in der Fachentwicklung zu einem Paradigmenwechsel insofern geführt, als in der Systematik des Faches die Tradition der Religionsphänomenologie, die das historische Material innerhalb der großen Fragen der Transzendenz angeordnet hat, zugunsten eines weitgehend beobachtbaren Rückzuges auf reine Deskription einerseits und kontroverse Diskussion der grundlegenden Begriffe des Faches auf der anderen Seite zurückgedrängt worden ist. 45
Zu diesen Autoren und ihren Theorien vgl. einführend die entsprechenden Beiträge in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997; weiters die ihnen gewidmeten Abschnitte in: Hans Georg Kippenberg, Entdeckung·, die klassische kritische Evaluation der „evolutionistischen" Religionstheorien vom Standpunkt des ethnologischen Feldforschers findet man bei Edward E. Evans Pritchard, Theorien über primitive Religionen, Frankfurt a. M. 1981 (engl. Erstausgabe 1965). Zur Entwicklung des Fachverständnisses von Religionswissenschaft vgl. insgesamt Johann Figl, „Einleitung", in: HBRW, 18-80, bes. 20-61. 46 Vgl. Hans Waidenfels, „Wilhelm Schmidt", in: Axel Michaels, Klassiker, 185-197. 47 Vgl. dazu Johann Figl, „Gott-monotheistisch", in: HBRW, 545-558, 547f. 48 Zu Freuds Abwehr der Idee einer allen Menschen eigenen Religiosität vgl. Ursula Baatz,,„Dieses Gefühl kann ich bei mir nicht entdecken'. Ozeanisches Bewußtsein bei Freud, Rolland und Nietzsche", in: Johann Figl (Hg.), Von Nietzsche zu Freud. Ubereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven, Wien 1996, 49 143-163. Wie von einem Atheisten, insofern (was nicht unbedingt der Fall sein muss) damit eine ablehnende Haltung allen Religionen gegenüber gemeint ist, schon aus Gründen der Systemkonsistenz zu erwarten ist.
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Wenn man grob zwischen funktionalistischen und essentialistischen Religionsdefinitionen unterscheidet, so ist deutlich, dass sich für letztere die Frage nach einem Apriori des Religiösen eher aufdrängt als für erstere. Es bedarf eines Heraustretens aus der religiösen Perspektive, um Religion rein auf ihre Funktion hin zu betrachten. Insofern ist die funktionale Betrachtungsweise ein Kind der Religionskritik und damit im neuzeitlichen geistesgeschichtlichen Kontext der Aufklärung, da in dieser Periode die Grundlagen der neuzeitlichen Religionskritik gelegt worden sind. Dies zeigt sich schon daran, dass David Hume als Vorläufer dieser Betrachtungsweise angesehen werden kann. Auf der anderen Seite ist die Etablierung eines eigenen Sonderbereiches des Religiösen vollzogen worden, dem eine besondere Phänomensphäre im seelischen Leben des Menschen zuzuordnen sei, das einem bestimmten ontologisch verankerten Erfahrungsbereich als demjenigen entspreche, der von dem Erfahrungsbegriff neuzeitlicher Wissenschaft zu unterscheiden sei, den Hume skeptisch reflektiert und dem Kant seine phänomenal aufweisbaren Grenzen gezogen hat. Dies ist in unterschiedlichen Entwürfen geschehen, die sich auf das „Heilige" als einer phänomenal ausweisbaren Grunderfahrung des Menschen beziehen, wie immer diese näher bestimmt wird. 50 Die konsequent der aus dem Geist des Humanismus und der Aufklärung geborenen religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise folgende neuere Religionswissenschaft lehnt einen solchen Standpunkt als selbst religiös und damit ungeeignet zu wertneutraler religionswissenschaftlicher Theoriebildung ab. Die religiöse Perspektive, die immer die Perspektive einer bestimmten Interpretation des Religiösen aus der Innensicht ist, kann nicht die grundlegenden Begriffe der Religionsforschung vorgeben, ohne zu einer erkenntnistheoretisch höchst bedenklichen Verzerrung des Gegenstandsbereiches zu führen. 51
4. Heutige Fragestellungen Doch was wird in diesem Zusammenhang aus dem Projekt der Religionswissenschaft, ein vergleichendes Studium der Religionen zu betreiben? Der wahrscheinlich erste Gelehrte, der den Ausdruck „science of religion" verwendet hat, der Sanskritgelehrte, Philosoph und Sprachwissenschaftler Friedrich Max Müller, 52 hat ausdrücklich ein „vergleichendes Studium der Religionen der Menschheit" angestrebt und bereits Typen von Religionen mit Sprach-
50
Dass Kants Erfahrungsbegriff sich von demjenigen der experimentellen Methode neuzeitlicher Wissenschaft unterscheidet und dass seit Kant das dadurch nicht Erfassbare an der menschlichen Weltwahmehmung unter dem Titel des Ästhetischen abgehandelt wird, ist eine These von Odo Marquard. Vgl. ders., „Kant und die Wende zur Ästhetik", in: ders., Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989, 21-34. Freilich wird dieser Erfahrungsbereich auch dort eingemahnt, wo es um eine religiöse Erfahrung geht, sei es bloß die gesellschaftsstützende „effervescence" bei Dürkheim oder handle es sich um die Erfahrung des wie immer näher bestimmten „Heiligen" bei Rudolf Otto, Nathan Söderblom oder Mircea Eliade. Zur De(kon)struktion des „Heiligen" als Grundparadigma der Religionswissenschaft vgl. Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt a. M. 1990, und ders. (Hg.), Die Diskussion um das „Heilige", Darmstadt 1977. Vgl. dazu Hans Gerald Hödl, „A Fatal Attraction? Gedanken zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft", in: Konrad Huber, Gunter Prüller-Jagenteufel, Ulrich Winkler (Hg.), Zukunft der Theologie - Theologie der Zukunft. Zu Selbstverständnis und Relevanz der Theologie (theologische trends 10), Thaur 2 0 0 1 , 3 9 - 6 1 .
52
Vgl. Hans Joachim Klimkeit, „Friedrich Max Müller", in: Axel Michaels, Klassiker, Kippenberg, Entdeckung, 60-79; Johann Figl, „Einleitung", in: HBRW, 18-80, 22f.
29-40; Hans Georg
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gruppen zusammen gestellt.53 Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Faches trennen sich deutlich die Bereiche der Religionsgeschichte und der Religionssystematik. Ansätze zu einer einheitlichen, allgemein akzeptierten Systematik des Faches sind m. E. kaum zu erkennen.54 Religionsphilosophie, insofern sie die erste der beiden von Hume in seinen Religionsschriften gestellte Frage, nämlich die nach dem Wesen der Religion als deren Wahrheit, stellt, wird als systematische Disziplin innerhalb der Religionswissenschaft jedenfalls abgelehnt.55 Folgt man jedoch Kippenbergs Vermutung, so scheint es, dass gerade diese Ablehnung, die als eine Hinwendung zur Religionsgeschichte angesehen werden kann, sich wiederum bestimmten philosophischen Vorgaben oder Einstellungen verdankt. Wie ich skizzenhaft zu zeigen versucht habe, ist die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Zeit der europäischen Aufklärung in einem religionskritischen Kontext eingeführt worden, wobei sich innerhalb dessen die ganze Bandbreite des Begriffes der Kritik, vom Vorgang der Scheidung des Wertvollen vom Wertlosen innerhalb eines Bereiches über den forensischen Gebrauch des Wortes bis hin zur polemischen Ablehnung einer Sache findet. Ohne hier in die spannende Frage einzusteigen, die paradigmatisch vom jungen Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung aufgeworfen worden ist, nämlich wozu wir denn Geschichte betreiben, wenn wir uns denn erdreisten, sie nicht als ein schlechthin Gegebenes anzusehen, meine ich, dass aus dem Kontext der aufklärerischen Hinwendung zur Religionsgeschichte klar wird, dass die historische Methode eine wichtige Rolle im Prozess der Befreiung von traditionellen Absolutheitsansprüchen spielt. Was immer eine Geschichte hat, ist geworden und muss seinen Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit zunächst einmal zurücknehmen. Die Frage nach der Entwicklung der Religion kann aber mit sehr verschiedenartigen demonstrativen Zielsetzungen gestellt werden: auf der einen Seite wird, wie beispielsweise im Deismus, versucht, das historisch Zufällige an den Religionen von dem überzeitlich Gültigen zu trennen und etwa zu zeigen, dass es keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion gibt. Die radikale Kritik wiederum kann dazu dienen, die Gültigkeit des gesamten Bereiches durch Hinweis auf Gewordenheit und kulturelle Verschiedenheit zu destabilisieren. Die Erklärung der Religion aus ihren intrapsychischen und sozialen Entstehungsbedingungen und Funktionen kann ebenso als Mittel der Ablehnung wie auch als Strategie zur Erläuterung der anthropologischen Notwendigkeit der Religionen dienen. Gerade die funktionale Methode kann, vorsichtig angewandt, den Vorteil mit sich bringen, die Beantwortung dieser Frage in der Schwebe zu lassen. Hat die essentialistische Betrachtungsweise ihr gegenüber den Vorteil einer schärferen Bestimmung des intendierten Gegenstandsbereiches, so liegt die Stärke der funktionalen Betrachtung darin, mit einem sehr geringen Aufwand an ontologischen Vorentscheidungen auszukommen, weil man ja nichts darüber sagen muss, was die Sache außerhalb ihrer Funktionalität bedeutet. Dies bringt es mit sich, dass man leichter wertneutral und deskriptiv bleiben kann. Die prinzipielle Bevorzugung des neutralen, wertungsfreien Standpunktes ergibt nun das, was ich als die Dialektik von „emischer" und „etischer" Betrachtungsweise bezeichnen würde. Die emische Betrachtungsweise, das meint, die Beschreibung eines kulturellen Systems, die möglichst nahe am Selbstverständnis der Individuen gearbeitet ist, die ihre Existenz mit 53
54 55
Gegen den Vorwurf, mit seiner Rekonstruktion einer „arischen" Religion habe sich Müller in den Kontext rassistischer Theorien gestellt, argumentiert Kippenberg überzeugend (Entdeckung, 72f.). Vgl. Johann Figl, „Einleitung", 27-32. Vgl. dazu Hans Gerald Hödl, „Bedarf die Religionswissenschaft der Religionsphilosophie?", in: Rainer Born, Otto Neumaier (Hg.), Philosophie - Wissenschaft - Wirtschaft. Miteinander denken- voneinander lernen (Akten des VI. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie), Wien 2001, 334-338.
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den von diesem System zur Verfügung gestellten Mitteln der Symbolisierung und Kommunikation definieren und reflektieren, ist Bedingung für ein angemessenes Verstehen der beschriebenen kulturellen Zusammenhänge. Sie ist erkenntnistheoretisch gefordert, um vom Standpunkt des Beschreibenden dem Beschriebenen gegenüber wertneutral, d. h. unvoreingenommen, zu bleiben. Andererseits ist es erstens nicht möglich, vom Vorverständnis des Beschreibenden völlig zu abstrahieren und kann es zweitens nicht der Sinn der Beschreibung eines kulturellen Systems sein, das ja immer der Raum der Interaktion konkreter Individuen ist, die darin gegebenen und durch die jeweiligen religiösen Systeme etwa auch legitimierten Machtverhältnisse kritiklos anzuerkennen. Aus diesem Grund gibt es auch eine Diskussion um die Rolle der Religionskritik innerhalb der Religionswissenschaft. 56 So kann man sich angesichts von religiös motivierten Verstümmelungen, von der Genitalbeschneidung über geforderte Opferhandlungen bis hin zu selbstgesuchtem Martyrium und Selbstmordattentaten die Frage stellen, ob sich das alles letzten Endes wertneutral beschreiben lässt. Und genau hier besitzt die Dialektik von emischer und etischer Beschreibung ihren positiven Sinn. Gerade die möglichst wertneutrale Beschreibung einer religiösen Konfliktsituation kann dazu dienen, den Standpunkt aller Agierenden zumindest von deren Motivationslage her einsichtig zu machen, um zu einem Urteil „mit kalter Vernunft" zu gelangen. Diese ist aber letztendlich, wenn wir auch den in den Religionen behaupteten Transzendenzbezug vorsichtig auf Distanz halten und Religion rein funktional betrachten, ein Vermögen des Menschen, nicht ohne Bezug auf das von uns jeweils entworfene Ideal der Humanität, so sehr wir dieses auch durch Kenntnis der Geschichte des Menschen und seiner Selbstentwürfe verfeinert haben mögen. Letztendlich ist Religionswissenschaft als Wissenschaft, die sich mit von Menschen ausgebildeten kulturellen Symbolsystemen beschäftigt, Anthropologie und bringt als solche Aufklärung über Religionen und ihre Rolle in der menschlichen Sozietät. Insofern kann sie nicht vollkommen wertfrei, ohne Bezug auf ein Verständnis dessen, was Humanität ausmacht, und ohne Kritik an religiös legitimierten Verhältnissen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist",57 betrieben werden. Dies ist das unaufgebbare Erbe der Aufklärung in der Religionswissenschaft, wenn auch die religionsgeschichtliche Kenntnis zu einer Differenzierung in unserer Einschätzung der Vielfalt menschlicher kultureller und sozialer Interaktionen geführt hat. Besonders virulent wird die Thematisierung dieser sozialen Interaktion dort, wo wir uns auf fremde Kulturen beziehen, zu denen wir uns aufgrund unserer Geschichte (Kolonialismus) in einem asymmetrischen Machtverhältnis befinden, wo wir, mit anderen Worten, das Projekt der Aufklärung denjenigen gegenüber, die wir innerhalb desselben zu Objekten unseres Erkenntnistriebes gemacht haben, verantworten müssen. Das ist jedoch eine zwar nicht andere, aber doch weiter, als es hier noch Raum gibt, führende Geschichte. 58
56
Vgl. etwa Gritt Maria Klinkhammer e.a. (Hg.), Kritik an Religionen. Religionswissenschaft und der kritische Umgang mit Religionen, Marburg 1997; Heinz Robert Schlette (Hg.), Religionskritik in interkultureller und interreligiöser Sicht. Dokumentation des Symposiums des Graduiertenkollegs „Interkulturelle religiöse bzw. religionsgeschichtliche Studien " vom 20.-23.11.1996 an der Universität Bonn, Bonn 1998.
57
Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels, Studienausgabe, hg, v. Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1966, Band 1, 17-30,24. Vgl. dazu etwa die Diskussion um die anthropologische Repräsentation, dargestellt bei Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt 2 1995b oder bei Volker Gottowik, Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation, Berlin 1997.
RENATE RESCHKE
Idealische, vernünftige Schönheit Johann Joachim Winckelmanns Antikebild zwischen Aufklärung und Klassizismus. Das Beispiel Apollon Antike - aufklärerisch, schön In seiner berühmten Schrift von 1755 Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunst empfahl Johann Joachim Winckelmann seinen Zeitgenossen das Vorbild der Antike: den Künstlern, ihre großen Werke nachzuahmen, um selbst Größe zu erlangen, dem gebildeten Bürger, sich am Bild der Antike eine Zukunft zu imaginieren, in der Freiheit und Kunst, Gesittung, Natur und Schönheit sich zu einer konstitutiven Einheit zusammenfügen, dem mittleren Adel, sich an antiker Kultur und Kunst zu bilden, um die Schranken seines Standes zu überwinden. Ausgehend von der Annahme, die er zur Gewissheit machte, der gute Geschmack habe sich von Griechenland aus in der Welt verbreitet und habe dort seine Herkunft 1 („Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem Griechischen Himmel zu bilden."), 2 weil nur in antiker südlicher Landschaft eine freie Gemeinschaft an Körper und Geist schöner Menschen sich bilden konnte: „In Griechenland [...], wo man sich [...] der Lust und Freude von Jugend auf weihete, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freyheit der Sitten niemahls Eintrag gethan, da zeigte sich die schöne Natur unverhüllet zum grossen Unterricht der Künstler. 3 Begünstigt durch Klima und Natur und fortgeführt durch Bildung und Wettstreit, konnte sich Schönheit entfalten und zum Inhalt und Zeichen einer ganzen Kultur werden. Schritt um Schritt zeichnete Winckelmann das Bild einer Antike, hin zu einer Idealität, deren offensichtlicher Konstruktcharakter von den Zeitgenossen zwar bemerkt wurde, der sie aber nicht abhielt, sich von ihm begeistern zu lassen. Er erfand sich und ihnen eine (griechische) Antike, die in Abstand und Differenz zur historischen Wirklichkeit, aber mit signifikanter ästhetischer Eindringlichkeit, einen Sehnsuchtsraum eröffnete, der nicht Fluchtpunkt, sondern Gegenpol und Vision einer anderen Möglichkeit sein sollte und so auch verstanden wurde. Ein Bild mit einer eigenen Wahrheit, das seine Koordinaten weder aus historischen noch aus logischen Prämissen zog, sondern aus der Verabredung einer Alternative zur feudalen Kultur und zum höfischen Klassizismus und deren Inanspruchnahme der Antike für die Inszenierung ihrer Macht und Herrlichkeit, nach Überzeugung des nach Herder ,deutschen Griechen' Winckelmann eine Verzerrung, die dem
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Der Gedanke der Klimaabhängigkeit der Kultur ist nicht genuin Winckelmannscher Prägung. Er profitierte vom Kausalitätsdenken französischer Aufklärung, von Charles de Secondat Montesquieu. Johann Joachim Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, hg. v. Walther Rehm, Berlin/New York 2002,29. Ebd., 33.
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verehrten Vorbild in unbeschreiblicher Dimension Hohn sprach. Um den Griechen näher zu sein, wenn schon nicht in Griechenland selbst, dann sollten ihre Werke dort studiert werden, wo sie zugänglich waren: „Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen; und Dreßden wird nunmehro Athen für Künstler." 4 Der Vergleich mit Dresden bezog sich auf die dortige Antikensammlung und Gemäldegalerie. Er selbst fand sein Athen in Rom. Die Erfindung , seiner' Antike, das Bild vom freien, gesitteten und schönen Polisbürger, fiel aus mindestens zwei Gründen auf fruchtbaren Boden. Es wurde von den intellektuellen Eliten schnell und mit Recht als Politikum begriffen, und es fügte sich nahtlos ein (und profilierte und erweiterte ihn zugleich) in den seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland wirksam werdenden europäischen Aufklärungsdiskurs, in dem Vernunft und Verstand mit Kritik, zunehmend auch mit Freiheit, Sensitivität und Schönheit ineins gedacht wurden. Winckelmann verband in seinem Antikebild diese Fahnenwörter der Aufklärung zu einem faszinierenden Ensemble, zu einer Synthese, die als conditio sine qua non einer Art Hermeneutik der Antike gelten kann. Ohne die antiken Inhalte wären die großen Ideale ohne den emanzipatorischen Geist geblieben, der ihre utopische Kraft begründete. Gut aufklärerisch war sein Antikebild, und eine Provokation zugleich. Sein normativer Gestus verdankte sich einer Emphase der Anschaulichkeit, die auf dem erzählerischen Moment seiner Imagination beruhte und die doch keineswegs allein einer Sinnlichkeitsdominanz das Wort redete, wie manchmal gern interpretiert wird. Winckelmann stellte eine Antike vor Augen, die schön und vernunftbestimmt in einem war. 5 Über die Apotheose des Maßes und Maßhaltens, die Kardinaltugend der Politen, entwarf er eine authentisch wirken-sollende Bildwelt, in der die Körper der Jugend zu edlen Formen gebildet wurden, in denen Schönheit als Ideal und als Realität in gleicher Weise ihren Ausdruck fanden und die wiederum als Spiegel einer idealen Poliswirklichkeit gelten konnten, in der nichts so hohen Rang besaß wie die Freiheit und das Gesetz. In der Erkenntnis, schöne Kunstbilder vom Menschen könnten nur gelingen, wenn die Menschen selbst schön seien, und sie könnten nur als freie Bürger ihre Schönheit leben, lag aufklärerisches Fundamentalpotenzial beschlossen. Die antike Polisgesellschaft avancierte zum Bild einer idealen kulturellen Ordnung, deren Inhalte Wunschszenarien mit historischen Tatsachen ebenso einsichtig wie einseitig miteinander verbanden. Winckelmann entführte in einen Raum Antike, an dem man wie an der Inszenierung eines großartigen Ideals teilhaben sollte. Weder ungünstiges Klima noch Krankheiten störten das Bild: „Die Kranckheiten, welche so viel Schönheiten zerstören, und die edelsten Bildungen verderben, waren den Griechen noch unbekannt." 6 Venerische Übel und die englische Krankheit, Zeichen einer verweichlichten Kultur, unübersehbarer Seitenhieb gegen die Dekadenz feudaler Moderne, blieben griechischer Antike fremd, verunstalteten nicht die natürliche Schönheit. Gesundheit gegen Krankheit, der Abstand der Kulturen konnte aufklärerisch nicht größer sein. Gesundheit verband sich mit Schönheit, Krankheit war aus dem Bild der Alten ebenso eliminiert wie die bloße Sinnlichkeit, die sich der Lüsternheit ergab. Die schönen nackten Jünglinge in den Palästen, Gymnasien und im Theater, die klassischen Athletengestalten der olym-
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Ebd., 29. „Die Aufklärung [...] erblickte in den Alten zwar einseits lauter rationalistische Popularphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts, aber rühmte doch auch andererseits an ihnen Natürlichkeit und Kraft, Einheit und Einfachheit als Widerspiel der verstandesmäßigen Verkünstelung und Zerstückelung der Gegenwart" (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 1, München 1987, 788). Johann Joachim Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung", 32.
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pischen Wettkämpfe und die „leicht und kurtz bekleideten]" Spartanerinnen wurden von denen, die sie wohlwollend betrachteten und sich an ihnen erfreuten, nicht zu Objekten sinnlicher Begehrlichkeit oder zu Protagonisten freier Körperlichkeit im modernen Sinne, sondern „gründliche [...] und gelehrte [...] Richter [...]" waren da, „die Schönheit in den Cörpern zu betrachten und zu beurtheilen."7 Damit setzte Winckelmann den Akzent aufklärerischer Ästhetik auf den Spannungsbogen zwar eines zugleich rationalen und emotionalen Zugangs zur Kunst und der ihr zugrunde liegenden Realität, um letztlich aber vernünftiger Maßhaltung das Wort zu reden. Im Spektrum von Betrachtung und Beurteilung arbeiteten sich die antiken Akteure ab, um in der Vollkommenheit und Schönheit die Ordnung eigener Existenz zu begründen und ihr eine unhintergehbare Substanz zu geben. So wie die Antike, so ihr aufklärerischer Interpret Winckelmann, der sie imaginierte. Man wird den Eindruck nicht los, hinter allem stünden Sokrates und Piaton. Letzteren sah er denn auch in die Gymnasien gehen, um sich ein Bild von den edlen Seelen der Jünglinge zu machen; die edle Einfalt und stille Größe des Laokoon fand er in den Dialogen des Sokrates und in den Schriften seiner Schüler. Alles schien auf Unterricht und Unterrichtung abgesehen, auf sinnfällige Sinngebung der Werte- und Handlungsmuster, auf die permanente Anstrengung natürlicher Idealität, an der sich Einfachheit und Klarheit als Grundmuster ihrer Kultur und Künste erweisen sollten. In diesem kulturellen, künstlerischen und ideellen Fundus der Antike arretierte Winckelmann, ästhetisch vermittelt, die philosophischen Grundbegriffe zeitgenössischer Aufklärung. Sein .Traumbild von Antike' (Wilhelm Waetzoldt) dachte er wesentlich in aufklärerischen Kategorien, lud sie mit Insignien antiker Idealität auf, gab ihnen ein griechisches Kostüm und Pathos und vollzog deren Verwandlung in antike Heldengestalten, in olympische Götter mit dem Gestus edler Einfachheit und Größe. Im Abstand zur historischen Wirklichkeit gewann die Antike ihre philosophische Wahrheit. Die Idee der Freiheit sollte sich fortan mit dem Bild antiken Lebens in Athen verbinden, bei dem Gedanken an sittliches Ethos sollte Laokoon, bei dem an Schönheit Apollon vor Augen stehen. In letzterem kulminierte für Winckelmann der Griechengedanke schlechthin. In seiner Gestalt, wie sie in der Statue des Apollon im Belvedere (Abb. 1) gegenwärtig war, sah er alles zusammengefasst, was ihm an griechischer Antike vorbildhaft schien: Einfachheit, Natürlichkeit, Maß, Freiheit, Würde, Schönheit. So sehr, dass er ohne Einbuße für alle diese Begriffe den Namen des Gottes setzen konnte. Und sein Bild.
Apollon - falsch verstanden Bild und Name des Gottes waren, wie die gesamte Antike, ikonographisch und ideell besetzt. Lange bevor Winckelmann in Rom den Apollon im Belvedere des Vatikans bewunderte und ihm apotheotischen Tribut zollte, gehörten seine Kopien zum Statuenprogramm europäischer Feudalhöfe, gaben griechische und römische Antike die Bühnendekoration für die großen Inszenierungen absolutistischer Macht,8 war der antike Gott Symbolgestalt monarchischen Selbstverständnisses. Barock-höfischer Klassizismus rief ihn immer dann auf, wenn es galt,
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Ebd., 32. Uber die „Repristination der Antike unter Ludwig dem Vierzehnten" schreibt Friedell: „die Hellenen Racines, Pugets und Poussins sind Römer mit griechischen Spitznamen", auf die lange Tradition der Antikerezeption hinweisend und sie als „Griechentum dritten Grades" sehend (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd.l, 790).
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die Außerordentlichkeit von Herrscherpersönlichkeiten hervorzuheben und sinnfällig zu machen. Als ästhetisch-ideologisches Fundament dynastischer Identifikationsstrategien war er solitäres Moment kulturell-feudalen Selbstbewussteins, das die jahrhundertelang tradierte Symbolik des Zeussohnes in seiner Machtintensität und sonnengleichen Strahlkraft9 auf den absolutistischen Herrscher übertrug, um wechselweise eine Identifizierung herzustellen, die dem verbindlichen Kanon höfischer Zeremonialpraxis unterlag. Im Versailles des 17. Jahrhunderts trat Ludwig XIV. selbst als Apollon auf, ließ sich mit dessen Zeichen malen (Abb. 2)10; innen- und parkarchitektonisch zentral gesetzt, verwiesen Apollon-Darstellungen auf die permanente Anwesenheit des Regenten und auf die Verpflichtung, ihm zu huldigen.11 Andere europäische Höfe standen wenig nach. Noch Friedrich II. widersprach nicht dem Vergleich mit Apollon, vor allem dann nicht, wenn es sich um den musischen, um Apollon Kitharodos handelte,12 er sich durch ihn als Förderer des Geistes und der Künste sehen konnte, noch verzichtete er auf dessen Inanspruchnahme für die Demonstration und ästhetische Inszenierung preußischer Macht und eigener Herrschaftsansprüche.13 Winckelmann war solche politisch-dynastisch instrumentalisierte Inanspruchnahme des Gottes und seiner Ikonographie ebenso bekannt wie suspekt. Bereits unter sächsischem Vorzeichen profilierte sich seine Abneigung gegen die Desavouierung der Antike zur bloßen ZurSchau-Stellung feudal-imperialer Machtgesten oder zur gefälligen Unterhaltung einer gelangweilten, an sich melancholisch werdenden Hofgesellschaft. Sein Rom-Aufenthalt und die nähere Bekanntschaft mit hohen Vertretern des vatikanischen Klerus fugten dem eine (nicht immer offen gezeigte) Aversion gegen deren Vorliebe für den antiken Gott, ihn in einer allgemeinen all'antica-Attitüde ihren Villen- und Park-Interieurs einzugliedern, hinzu. Die Tatsache, dass er für seine Studien am belvederischen Apollon Geld geben musste, um sie besichtigen zu können,14 tat ein übriges. Mindestens ebenso sehr widerstrebte ihm jede barock-üppige Schein-Naturalität, die sich ά la grecque gab. An dem Italiener Gian Lorenzo Bernini, dem Hauptvertreter des europäischen Q
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Hauptmotive waren Apollon im Sonnenwagen in strahlendem Gold und der pythische Apollon als überlegende Siegergestalt. Zwischen 1651 und 1659 trat der junge Ludwig in den Balletts de Cour als pythontötender Apollon und aufgehende Sonne in Gestalt des Gottes auf; 1664 zeichnete Joseph Werner ihn als Apollon im Sonnenwagen (Abb. 2). Dazu Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt a. M. 1996; Rudolf Braun/David Gugerli, Macht des Tanzes - Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeretnoniell 1550-1914, München 1994. So das Deckengemälde Phoebus Apollon auf dem Sonnenwagen von Charles de Lafosse im Thronsaal, der Apollonbrunnen (Apollon im Sonnenwagen) von Tuby in der Zentralachse der Parkanlage; in der Sichtachse zum Schloss steht die Kopie des belvederischen Apollon. Er ließ sich geschmeichelt von Voltaire als Apollon bezeichnen, allerdings nicht, ohne das Kompliment dem französischen Aufklärer zurückzugeben: Voltaire betrachtete sich mit Friedrich II. als „Bruder in Apoll" (Brief vom 17. 3. 1749; 305), dessen Residenz als „Palast des Apoll" (Brief vom September 1739; 145); der Preuße sah in dem Franzosen seinen „einzigefn] Apoll" (Brief vom 10. 7. 1750; 342), wollte ihm dessen Reich überlassen (Brief vom 8.9. 1751; 359) (Die Seitenzahlen beziehen sich auf: Voltaire - Friedrich der Große. Briefwechsel, ausgewählt, vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski, München 1995). Dazu Sibylle Badstübner-Gröger, „Aufgeklärter Absolutismus in den Bildprogrammen friderizianischer Architektur?", in: Friedrich II. und die europäische Aufklärung, hg. von Martin Fontius, Berlin 1999. „Ich habe ein gewisses Geld, wie gewöhnlich, gegeben, um den Apollo, den Laokoon, wann ich brauche, zu sehen, um meinem Geist durch das Anschauen dieser Werke desto mehr in Bewegung zu setzen" (Brief an Johann Michael Francke vom 20.3.1756, zit. nach: Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe, Weimar 1960, 295).
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Barock und unangefochtenen Meister seines Metiers, der seine Hauptwerke u. a. im Auftrag des französischen Hofes, italinienischer Fürstenfamilien und des vatikanischen Klerus arbeitete, profilierte er seine grundlegende Barockkunst-Kritik, die in der Ablehnung jeder Dominanzbedeutung der Naturnachahmung gegenüber den antiken (griechischen) Vorbildern Programm wurde. Die Weigerung des Italieners, nach antiken Vorbildern zu arbeiten, machte ihn in Winckelmanns Augen zum ,größten Esel' und Berninis berühmte Plastik Apoll und Daphne (1622/25) (Abb. 3) wurde ihm, abzüglich der Anerkennung handwerklicher Meisterschaft, zum negativen Paradigma einer ganzen Ästhetik und zum Aufweis eines Kunstverständnisses, in dem Schönheit, Vollkommenheit und menschliche Gestalt auf beeindruckende Weise scheiterten und die jede antike Idealität zuschanden machten. Des Gottes Jagd auf Daphne, um seine bis zum Wahnsinn erhitzte Leidenschaft zu befriedigen, gestaltete der Bildhauer als tändelnde Liebeswerbung eines galanten Liebhabers. Nicht nur die floralen Gestaltungselemente, in die Bernini die Körperformen des Gottes und der Nymphe übergangslos verfließen ließ, widersprachen Winckelmanns ästhetischen Vorstellungen. Die Darstellung des Apollon im Zusammenspiel von begehrlicher Erotik und fülliger, fleischlicher Körperlichkeit stand jedem Bild von Klarheit, Einfachheit und Würde entgegen. In der Differenz einer „sanft gezogenen" Haut, die sich „über ein gesundes Fleisch" zieht, wie beim Apollon im Belvedere, zu seiner ,,schwülstige[n] Ausdehnung" 15 bei Bernini zeigte sich ihm die Differenz der Menschenbilder, die sich in der Göttergestalt verkörperten. Im taktisch raffiniert nachgereichten Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, in dem er die eigene Position kritisch perspektivierte, sprach er davon, die „Weichlichkeit des Fleisches"16 sei die Frucht von Berninis Studien der Natur gewesen und habe ihn davon abgehalten, was den Griechen strebenswertes Ziel der Kunst gewesen sei: die menschliche Gestalt der Natur gemäß und zugleich schön zu machen. Was Barockkunst als Natur ausgab, war, folgt man Winckelmann, nicht, so es den menschlichen Körper betraf, Natur, sondern Pose, eine kunstvoll-künstliche Bewegung (was dem Barock leidenschaftliche Bewegtheit war), die den Abstand zum antiken Ideal unter dem Stichwort fehlender Grazie, einem der Hauptbegriffe aufklärerischer Ästhetik, hoffnungslos manifestierte. Als ob bloße Sinnlichkeit, ohne durch den Geist gegangen zu sein, bleibende Schönheit evozieren könnte. Was an Bernini für Winckelmann transparent wurde, charakterisierte eine ganze Epoche. Sein aufklärerischer Geist wäre ebenso, hätte er einen Spaziergang durch den Schlosspark von Versailles unternehmen dürfen, von Fran5ois Girardons Großplastik17 Apoll im Bade wird von den Nymphen bedient (1664/72) (Abb. 4) zur Kritik gereizt worden. In betont lasziver Körperhaltung lässt sich der Gott von sechs Nymphen mit Kannen, Schwämmen und Tüchern, mit Wasser und Duftölen verwöhnen. Ihre Mühe um ihn gilt dem Wohlbefinden seines Körpers, dessen Nacktheit keinerlei Momente anmutiger Natürlichkeit besitzt, dafür aber die ausdrückliche Pose raffinierter Ent- und Verhüllung, unterstützt durch die wohlkomponierte Anordnung üppiger Faltenwürfe der Tücher, aus denen er im Begriff ist, sich zu lösen. Seinem Körper sind
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Johann Joachim Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung", 36. Ders„ „Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 76. Francois Girardon war bei Bernini in Rom in die Schule gegangen; er schuf u. a. mehrere Bildwerke für die Apollon-Galerie im Pariser Louvre. Winckelmann bezog sich auf ihn im gleichen Sinne negativ wie auf Bernini (Johann Joachim Winckelmann, „Von der Grazie in Werken der Kunst", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 162).
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Jugendlichkeit und Anmut verloren gegangen, beginnende Fettleibigkeit soll durch die Anstrengung der Bewegung überspielt werden. Er kommt dem Lebensausdruck barocken Überdrusses und barocker Üppigkeit, dahinter liegender Angst vor dem memento mori und horror vacui, die Winckelmann als existentielle Erschöpfung einer ganzen Kultur attackierte und bloßstellen wollte, näher als mythologischer Überlieferung und Wahrheit. Feudale Herrschaftsgesten und barocker Prunk, beide in falscher Inanspruchnahme antiker Überlieferungen ihren ästhetischen Projektionen den Impetus des Großartigen gebend, bildeten die eigentlichen Angriffspunkte und Ziele Winckelmannscher Kritik, mit der er die griechische Antike und vor allem Apollon für ein neues, bürgerliches Selbstverständnis reklamierte und aus dieser Perspektive neue, andere Zugänge zu den verehrten , Alten' eröffnen wollte. Deren bürgerlich-emanzipatorische Momente involvierten ein Streben, leidenschaftlich und idealisch zugleich, „sich aus der Welt feudalabsolutistischer Misere und Abhängigkeit zu befreien" 18 und in antiker Vergangenheit Modell und Norm für eine Zukunft jenseits feudaler Verhältnisse zu entdecken und diese in klassizistischen Bildern zu imaginieren. Dazu bedurfte es nicht nur „sub auspicii Oeseri"'9 zu denken und zu malen, um sich auf diese Weise der Antike zu nähern, sondern es ging darum, einen Diskurs zu initiieren, durch den das Griechenphantasma neu zu erfinden, mit neuen Inhalten zu besetzen war.
Apollon - schön, vernünftig An Apollon hat sich Winckelmann abgearbeitet. Seinem Apollon zur geistig-bildlichen Geburt zu verhelfen, nahm er vielfältige Anleihen bei antiken Schriftstellern. Homer, die Homerischen Hymnen, Kallimachos von Kyrene gaben Anstöße, die seiner Faszination unverwechselbare Konturen einzeichneten. Vor allem hat ihn die mehrfach bezeugte hohe Achtung des Gottes und seiner Macht durch die Nachfolger Homers beeindruckt: „Denken und nimmer vergessen will ich des Schützen Apollon. / den selbst Götter fürchten, wenn er dem Hause Kronions / naht; und sie erheben sich gleich, sobald er herankommt, / alle vom Sitz". 20 Von Kallimachos wusste er, dass sich Türen von selbst öffneten, um den Gott einzulassen und ihm Respekt zu zollen: „Öffnet euch jetzt, aus eigener Kraft, ihr Riegel der Tore, / öffnet euch, Schlösser! Nicht weit mehr entfernt schon wandelt die Gottheit." 21 Ebenso beeindruckt zeigte er sich von Kallimachos' Hinweis, Apollon zeige sich nicht jedem: „Jedem erscheint nicht Apollon, er zeigt sich nur Edlen und Frommen. / Wer ihn erblickt, ist selig, wer nicht, ein Mensch nur des Durchschnitts. / Schütze, wir möchten dich sehen und niemals zum Durch18
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Wolfgang Heise, „Winckelmann und die Aufklärung", in: Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild. Schriften der Winckelmann-Gesellschaft, Bd. 1, hg. v. Berthold Häsler, Berlin 1973,33. Johann Joachim Winckelmann, Briefe, hg. v. Walther Rehm und Hans Diepolder, Bd.l, Berlin 1952, 159. Zur Bedeutung Adam Friedrich Oesers für Winckelmann Friedrich Schulze, Adam Friedrich Oeser, Leipzig o. J.; ders., „Max Kunze, Johann Joachim Winckelmann und Adam Friedrich Oeser", in: Beiträge der Winckelmann-Gesellschaft 7, Stendal 1977; Gerald Heres, Winckelmann in Sachsen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Dresdens und zur Biographie Winckelmanns, Berlin/Leipzig 1991. Die Homerischen Götterhymnen, Hymne an den Delischen Apollon, dt. von Thassilo von Schefer, Leipzig 1987,49 (Vers 1-4). Kallimachos von Kyrene, „Hymnos auf Apollon", dt. von Dietrich Ebener, Digitale Bibliothek 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Berlin 2000, 6130 (Vers 6-7). In den Florentinischen Manuskripten hat er sich entsprechende Stellen notiert (II Manoscritto Fiorentino di J. J. Winckelmann. Das Florentiner Winckelmann-Manuskript, hg. von Max Kunze, Firenze MCMXCIV, 30).
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schnitt gehören!" 22 Winckelmann fühlte sich bestätigt, zu denen zu zählen, denen der Gott seine Epiphanie nicht verweigerte, zur andächtigen und gebildeten Elite zu gehören. Die Achtung, die in der Mythologie die Olympier ihm entgegenbrachten, brachte er seinem Kunstbild entgegen: „Mit Verehrung angefüllt schien sich meine Brust zu erweitern und aufzuschwellen. Ich nahm durch eine mächtige Rührung, die mich über mich selbst hinaussetzte, einen erhabenem Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen [...]."23 Eine Art paganer Ästhetik, die den Befindlichkeiten des 18. Jahrhunderts entgegenkam. Sein Bild des Gottes hat, außer aus literarischen Quellen, fast ausschließlich an der Statue des Apollon im Belvedere Profil erhalten. Er hat sie als Werk der klassischen Periode gesehen. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellte. 24 Vor ihr hat er gesessen, sie demütig betrachtet und ihr, ihre Schönheit erkennend, eine ganze Ästhetik abgerungen, deren Begriff, aufklärerisch, eine Kultur- und Gesellschaftsvorstellung in nuce beinhaltete. In einer nur dem 18. Jahrhundert verständlichen Emphase ließ er sich durch ein Kunstwerk auf eine Weise affizieren, deren Ergebnis als höchste Steigerung eine ästhetische Reflexion inaugurierte, in der der Mensch, wie Johann Wolfgang von Goethe es in seiner Winckelmann-Studie 1805 formuliert hat, sich über sich selbst erhebt und sich als Gott fühlen konnte: „Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde und ward für die höchste Schönheit begeistert [...] Für diese Schönheit war Winkelmann, seiner Natur nach, fähig, [...] sie kam ihm aus den Werken der bildenden Kunst persönlich entgegen [...]."25 Was hat er gesehen? Einen Gott, „über die maßen schön", 26 einen jugendlichen Apollon, mit allen Zeichen junger Männlichkeit, einen nackten Körper im Moment vollendeter Anstrengung, durch Anlage und Training (im Sinne antiker paideia) wohlgeformt, für Winckelmann betörend in der Übereinstimmung von Stärke und Zartheit. Den Ausdruck ungezwungener Natürlichkeit fand er im Wechselspiel von Spannung und Entspannung der Muskelpartien, in der Körper-, Kopf- und Bein-Haltung, im Mienenspiel, in dem Göttlichkeit und Schönheit sich in unwiderstehlicher Einheit verbanden. Der Gott, literarisch und bildnerisch gegenwärtig, avancierte für Winckelmann zur zentralen Figur seines Denkens. Vor allem auf seine Erhabenheit, den Stolz, die Macht, konzentrierte er sein Interesse. Apollon, wie ihn die Mythologie überliefert hat und griechische Bildhauer, resp. ihre römischen Nachfolger, ihn dargestellt haben, gab das Hauptargument für die Großartigkeit antiker Kultur- und Menschensicht. Dieser Apollon konnte nur dem Geist und den Gegebenheiten antiker Polis-Kultur entspringen. In ihn sah er die Voraussetzungen antiker Schönheit hinein, wie er sie in der NachahmungsSchrift entwickelt hatte, um sie sogleich wieder als Beweis seiner Antike-Sicht aus ihr zu extrapolieren. Im Antlitz und in der Körperhaltung Apollons fand er dessen Wesensmerkmal, das er in allen Darstellungen realisiert sah: eine Siegergestalt zu sein: „Er hat den Python, wider welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreichet und 22
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Ebd. (Vers 9-11).
Johann Joachim Winckelmann, „Fassungen im Pariser Manuskript. Erster Entwurf. Apollo", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 273f. 24 Die Marmorstatue ist eine römische Kopie nach einem griechischen Original aus dem 3. Viertel des 4. Jh.s 25 v. Chr. und stammt aus der Zeit Kaiser Hadrians. Johann Wolfgang von Goethe, „Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns", in: ders., Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen, Tübingen 1805 (Reprint), Hildesheim/Zürich/New York 2005, 401. Johann Joachim Winckelmann, „Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere. Fassung im Florentiner Manuskript", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 269.
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erleget. Von der Höhe seiner Genügsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lippen [,..]."27 Wer wie Apollon auftritt, ist sich seiner Stellung und Macht bewusst. Bereits bei Kallimachos war er mit „wuchtigen Schritten" (Vers 3) und hocherhobenen Hauptes dahergekommen, und bei Homer stand in der Ilias vom stets siegreichen Apoll zu lesen, der, seine Macht verteidigend, sie seine Gegner spüren ließ. Winckelmann wusste um diese Passagen. Verachtung im Blick und die Blickrichtung ins Große gewendet, dem korrespondierte das „stolze [...] Gebäude seiner [Apollons - R.R.] Glieder",28 das Gelassenheit gegenüber allem Geschehen ausdrückt, aus der Gewissheit der Überlegenheit. Da ist in den Gott gezeichnet, wie sich der nach Freiheit strebende Bürger des 18. Jahrhunderts sehen sollte. In Apollon stellte ihm Winckelmann mit seiner Sicht auf den Gott das Selbstporträt der ganzen bürgerlichen Schicht vor: idealisch, utopisch und mit den beeindruckenden Zügen antiker Größe, die sich auf das moderne Subjekt übertragen sollte. Was im Aufklärungsdiskurs an Konturen des bürgerlichen Subjekts denkbar geworden war, Winckelmanns Apollon machte sie sinnfällig, gab ihm das intime Gesicht des antiken Gottes zur Identifikation frei und damit den notwendigen Hauch eigener historischer Bedeutsamkeit, um die Bühne der Geschichte zu betreten. Ohne Prunk und Üppigkeit, mit dem Stolz auf die eigene Herkunft und das eigene Tun, verband sich mit Apollon die Hoffnung auf die Erneuerung desolater Gesellschaft und Kultur, deren feudale Träger ihr Recht verwirkt hatten, sich im Bild Apollons sehen zu wollen. Den bürgerlich perspektivierten Apollon, den lebensvollen und zukunftsbegründenden, setzte Winckelmann gegen den des feudalen Übermutes und dynastischer Selbstinszenierung. Aufklärerischer Ästhetik blieb die Eigenwertigkeit von Sensitivität und Körperlichkeit, so sehr sie seit Alexander Gottlieb Baumgarten thematisiert war, suspekt. Winckelmanns Apollon bildete nur scheinbar eine Ausnahme. Des Interpreten unverhohlene Sympathie für den schönen männlichen Körper hat indes nie die Schwelle aufklärerischen Konsens-Denkens überschritten. Die Sinnlichkeit, die in der Beschreibung des belvederischen Apollon Gestalt geworden war, war die bedenkenswerte des antiken Vorbildes. Winckelmann ließ zwar keinen Zweifel an der Unwiderstehlichkeit nackter Körper, aber die Nacktheit war eine über jede Begehrlichkeit erhabene und eigentlich eine sich selbst übersteigende; das Vorbild antiker Kultur und die Distanz erzeugende reflektierende Betrachtung arbeiteten einer beispiellosen Vergeistigung zu, die genuin aufklärerisch war. Über die Statue heißt es: Es scheint ein geistiges Wesen, welches aus sich selbst, u. aus keinem sinnlichen Stoff sich eine Form gegeben, die nur in einem Verstände, in welchem keine Materie einen Einfluß hat, mögl. war: eine Form die von nichts erschaffenem sichtbaren genommen ist, und die allein eine Erscheinung höherer Geister hatte bilden können.29
An ihrer Komposition fiel ihm auf, dass nichts „wider die Vernunft"30 sei, dass es ein großer Verstand gewesen sein muss, der sie über die Materie erhoben habe, dass ein „himmlischer Geist" den Gott umspiele und „ein Ausfluß eines himmli(s)chen Lichts" ihn umfließe.31 Winckelmann sah ihn „ungerührt von Leidenschaften"32 und da, wo Wolllüste namhaft werden,
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Ders., „Beschreibung des Apollo im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Alterthums", in: ebd., 267. Ebd. Ders., „Fassungen im Pariser Manuskript", 273. Ebd., 271. Ebd., 274f. Ebd.
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waren sie sanft und heiter. So sehr, dass der Körper des Gottes insgesamt „verklärt und rein" 33 erscheint und aus einer „höchsten Idee entworfen [...]."34 Höchste Schönheit und höchste Idealität fallen zusammen: „Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind"; sie zu begreifen, schien es Winckelmann nötig, mit dem „Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten" zu gehen, und was er von dem „Bild" geben konnte, war ein „Begriff'. 35 Und dieser ,Begriff' Apollon verband sich mit dem der Schönheit, der „wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist [ist], welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der im Verstand der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur." 36 Die ästhetische Anschaulichkeit des Vernünftigen fand im Bild des Gottes ihre kongeniales Medium. Aufklärerische Schönheit hat im klassizistischen Apollon Winckelmanns ihre Gestalt gefunden und er in ihr seinen Begriff.
Von Baumgarten gelernt Gedämpfte Leidenschaften, Erhöhung und Verklärung des Körperlichen in eine geistige Sublimierung, Priorität des Begrifflichen, Kunstwerke als Verwirklichung einer Idee, dies gehörte zum Vokabular und in die Vorstellungswelt einer Aufklärungsästhetik, wie sie sich seit Baumgarten zu einer philosophischen Disziplin mit dem Anspruch auf eine eigene, dem unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen verpflichtete Logik entwickelt hat. Winckelmanns Schlusspassage in seiner Nachahmungs-Schrift liest sich wie eine Zusammenfassung dieser Gedanken: „Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunckt seyn, [...] Er soll mehr zu dencken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, [...] Der Kenner wird zu dencken haben, und der bloße Liebhaber wird es lernen" 3 - und klingt wie ein Pendant zu Baumgartens Mahnung, den Verstand als Kontrollinstanz gegenüber den ästhetischen Übungen nicht zu vernachlässigen. 38 Die dabei von ihm avisierte Begeisterung, die dem Feuer des Prometheus gleichkäme, ist nicht zu verwechseln mit der, die wenige Jahrzehnte später die Generation der Stürmer & Dränger rebellierend eingefordert hat. Sie geht eher in die Richtung der Fähigkeiten angemessenen Urteilens und gemäßigter Einbildungskraft. Temperament und Begeisterung, wusste die Ästhetik Baumgartens, bedurften der Zügelung durch die Regeln ästhetischer Kunstlehre. Der „schöne Geist", Empfindung und Phantasie unterstanden weiterhin der „Leitung des Verstandes und der Vernunft", um die Schönheit „vor Augen zu stellen."39, Begeisterung' war keine eigentliche Vokabel aufklärerischer Ästhetik um 1750.
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Ebd., 275. Ebd., 273. Ders., „Beschreibung des Apollo im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Alterthums ", 267f. Ders., Geschichte der Kunst des Alterthums, erste Auflage Dresden 1764, zweite Auflage Wien 1776, hg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher, Max Kunze, Mainz 2002,250. Ders., „Gedancken über die Nachahmung", 59. Alexander Gottlieb Baumgarten, „Ästhetik", §§ 42-44, in: ders., Theoretische Ästhetik, hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983,25ff. Ebd., § 3 9 , 2 5 .
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Baumgartens Vorlesungen gehörten zu den wenigen, die Winckelmann regelmäßig besuchte und die er durchgehalten hat.40 Ihm imponierte die Bücherkenntnis des Philosophen, die dessen Enzyklopädie-Kolleg fundierte. Man kann davon ausgehen, dass ihm auch die ästhetischen Auffassungen des Hallenser Professors bekannt waren. Mindestens kannte er sie durch dessen Schüler Georg Friedrich Meier. Aber nicht so sehr Baumgartens Ästhetik-Definition dürfte sein Hauptinteresse gefunden haben, er partizipierte mehr an deren Folgerungen. Im Banne Leibniz-Wolffischer Philosophie hatte Baumgarten auf,Klarheit' und .Deutlichkeit' als Kriterien von Schönheit, schöner Erkenntnis und schönem Denken rekurriert. Winckelmanns Sympathie für die Kontur gegenüber dem Kolorit,41 für die Ruhe gegenüber der Bewegung, für die Schönheit gegenüber dem Ausdruck, korrespondieren mit der aufklärerischen Vorliebe für extensive Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis und des zu Erkennenden. Am Apollon im Belvedere war es leicht, weil sinnfällig exemplarisch, sich in der Opposition zwischen Kontur und Kolorit für die Kontur zu entscheiden. Das scharf und prägnant geschnittene Gesicht des Gottes konnte ihm als Argument gelten. Vor allem kam ihm Baumgartens Auffassung entgegen, zwischen dem Denken von Schönheit und schönem Denken bestehe eine unauflösliche Einheit. Jeder Versuch, sie zu ignorieren, richte das Streben nach schöner Bildung zugrunde. Die Schönheit der Erkenntnis sei die Leistung des schön Denkenden, 42 und schöne Bildung fördere das Vermögen schönen Denkens, das allein als Voraussetzung und Ziel jeder ästhetischen Bemühung zu gelten habe. Genau dieses Ziel verfolgte Winckelmann, die „Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben" 43 zu entwickeln. Er sah es als höchstes Vermögen, sein Denken so zu bilden, dass er fähig werde, kongenial auszudrücken, was er an den Kunstwerken sah, d. h. eine Sprache zu (er)finden, in der der schöne Gedanke schön auszudrücken war. Mit den Beschreibungen der Statuen im Belvedere tat er sich schwer; er wollte „lauter Originalgedanken" 44 und dafür eine Sprache, die vernünftig und schön zugleich sein sollte. Gemäß dem Baumgartenschen Diktum, ästhetische Wahrheit realisiere sich als sinnlich erkennbare in vollkommener sensitiver Rede als Schönheit, sind Winckelmanns Beschreibungen antiker Kunstwerke als Proben aufs Exempel zu verstehen.
Apollon - visuell, literalisiert Wolf Lepenies hat von Winckelmann gesagt, er sei fast ein Poet gewesen 45 An ihm werde nicht nur deutlich, wie sehr neben der Ratio die Empathie das wissenschaftliche Denken im 18. Jahrhundert bestimmt hat, sondern dass sich daraus auch die für diese Zeit „große Bedeu40
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Dazu Markus Käfer, „Winckelmann - Pierre Bayle: ,das Neuere mit dem Alten verbinden'", in: Die Freiheit und die Künste. Modelle und Realitäten von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, (Schriften der Winckelmann-Gesellschafl XX), hg. v. Volker Riedel, Stendal 2001. Dem liegt die Auseinandersetzung mit Roger de Piles zugrunde, der in seinen Schriften Conversation sur la connaissance de la Peinture und Cours de Peinture par Principes dem Kolorit Priorität zugesprochen hatte. Winckelmann sah darin eine verzerrende Unterschätzung der scharfen Kontur in den Skulpturen. Alexander Gottlieb Baumgarten, „Ästhetik", § 27, 17. Johann Joachim Winckelmann, „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben" (1763), in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 211. Brief an Berendis vom 29. 1. 1757, in: Johann Wolfgang Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert, 101. Wolf Lepenies, „Fast ein Poet: Johann Joachim Winckelmanns Begründung der Kunstgeschichte", in: ders., Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, München und Wien 1988, 91.
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tung von Sprache und Stil für die Wissensproduktion" 46 erkläre. Winckelmann war sich darüber im klaren: „Die Beschreibung des Apollo wird mir fast die Mühe machen, die ein Heldengedicht erfordert." 47 Dass er, wollte er kongenial antike Werke beschreiben, eine neue Sprache entwickeln und zum Prosaschriftsteller werden musste, wusste er: den Erkenntnissen, die er in Augenhöhe mit Apollon gewann, einen adäquaten sprachlichen Stil zu geben, um den Geist der Antike lebendig vorzustellen, gegen jede Kritik. Seine Beschreibungen der Statuen im Belvedere sind eine Vermittlungsinstanz, bildende Kunst und Literatur zusammenzuschließen, so dass die Beschreibungen selbst literarische Qualität und Eigenwert erhalten. Visualisierung und Literalität gehen eine Symbiose ein, die zeigt, was aufklärerischer Ästhetik charakteristisch war: Wort-Emanzipation zu sein, auf die Wirkmächtigkeit der Sprache zu setzen, die Sprache als adäquatestes Instrument von Aufklärung zu begreifen, ohne ganz vom Bild lassen zu wollen. In der Doppelpraxis von Malen und Schreiben suchten viele Intellektuelle des aufklärerischen Jahrhunderts dem gerecht zu werden. Anton Raphael Mengs war eine Schlüsselfigur; bei ihm ging man in die Mal-Schule. Winckelmann und Goethe waren prominente Schüler. Die von Winckelmann favorisierte Kunstbetrachtung, die sinnfällige Nähe zu den Kunstwerken, die eine erkennende Empfindung des Schönen erst ermöglicht, vollzog sich paradoxerweise durch die distanzierende Sprache, durch die narrative Imagination des Kunstwerkes. Goethe erkannte, dass Winckelmann im Spannungsfeld zweier Künste stand: „Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen Drang mit Worten und Buchstaben ihnen beyzukommen [...] Er muß Poet seyn, er mag daran denken, er mag wollen oder nicht." 48 An den mehrfachen Entwürfen der Apollon-Beschreibung ist dieser Weg abzulesen. Vom nüchtem-analysierenden Ton zur poetischen Beschreibung, in der seine ästhetische Rhetorik sich mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit im aufklärerischen Sinne verbindet. Wort für Wort, Satz für Satz ließ er Apollon vor seinen Lesern entstehen. So sehr er der Macht des Auges vertraute, sein Vertrauen in die Macht des Wortes war mindestens ebenso groß. Der „Augenarbeit" 49 folgte die Spracharbeit. Er visualisierte Apollon, um ihn zu erzählen, um ihn erzählend dem ,inneren Sinn' sichtbar zu machen. Er erzählte ihn, damit sein Bild zum festen Bestandteil eines Kunstwertekanons werden konnte, dem Antikes die Inhalte gab. Er formte ihn sprachlich nach seinen Vorstellungen hin zu einer Idealität, die er an der antiken Vorgabe nicht verifizieren konnte. Den Zug von Weichlichkeit, den er im Florentiner Manuskript noch beanstandete, 50 kassierte er in den späteren Formulierungen. Die Beschreibungsarbeit ist Erfindungsarbeit par excellence: sie macht Apollon zu einer literarischen Figur. Vor den Augen des Lesers entsteht Schritt für Schritt das Bild des Gottes in einer Lebendigkeit, die literarischer Fiktion eigen ist. Nicht nur seine körperliche Gestalt erhält plastisch-sprachliche Kontur; man begegnet dem Gott in den Landschaften seines Wirkens und seiner Epiphanien: „Unvermerckt fand ich mich im Geist nach Delos u. in die Lycischen Hay-
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Ebd., 115. Zit. nach Gottfried Baumecker, Winckelmann in seinen Dresdner Schriften. Die Entstehung von Winckelmanns Kunstanschauung und ihr Verhältnis zur vorhergehenden Kunsttheoretik, Berlin 1933, 101 f. Johann Wolfgang Goethe, „Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns", 427. Robert Trautwein, Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks, Köln 1997, 76. „Der gantze Leib ist ziemlich breit: die Hüften sind fast stärker als sei in einem geschlanken Mann seyn sollten; und sind fast ein wenig weibisch." (Johann Joachim Winckelmann, „Fassung im Florentiner Manuskript", 270).
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ne, Orte die Apollo mit seiner Gegenwart beehrete, gefiihret u. ich glaubte den schönsten der Götter mit Bogen u. Pfeilen zu sehen f...]."51 Im Pariser Entwurf ist die Landschaft noch ausführlicher gezeichnet: „So wie in dem glückseeligen Elysien wo niehmals ein Nördlicher Wind das das haupt der Blumen gebäuget noch die schwüle Mittags Hitze die Lust der Thäler verdorret, ein immerwährendes Spiel von sanften Zephirs die jugendliche Natur belebet und erfrischet [...]."52 In dieser Szenerie bringt Winckelmann die Statue per Wort in Bewegung, beschwört ihre in sich ruhende unnahbare Sicherheit, in dem er den Körper Apollons beschreibend erschafft: „Über die Menschlichkeit erhaben ist sein Gewächs und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling der Jugend bekleidet die vollkommene Männlichkeit dieses Körpers und der Reitz von blühender Schönheit gefälliger Jahre spielet auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder."53 Dies ist antik-göttliche Personifizierung von Schönheit, die zwar an der Statue gesehen werden kann, die aber erst durch ihre sprachliche Modellierung ästhetisch anschaulich wird. Apollon im Licht und in der Helle delphischer und delischer Landschaft, erst dem literarischen Auge sichtbar, gibt eine Ahnung von dem, was die empirische Wahrnehmung der Statue übersteigt: ihre Transzendenz in eine ästhetische Vollendung, die am und durch den Gott zu erfinden war. Seine Idealität wird sozusagen durch seine schöne Körperlichkeit hindurch erzählt, um zeitlose Schönheit literarisch-geistig zu imaginieren. Sehnsucht verantwortet die Aufhebung alles Historischen. Die Lust sinnlicher Wahrnehmung wird dem semantischen Kapital der Sprache anverwandelt und als Lust an der Sprache realisiert. Die Wahl Apollons war von Winckelmann wohlkalkuliert. Den Gott zu erzählen, bedeutete die Narration eines Ideals. Formbeobachtung und Phantasie, Auge und Gedanke, Deskriptivität und Diskursivität in ihrem Aufeinander-Bezogensein bedienen ein erodierendes Moment Winckelmannscher Ästhetik: Das Mimetische des Apollon erliegt zunächst seiner sprachmächtigen Imagination. Friedrich Nietzsche hätte wohl vom Sieg apollonischer Geistesstärke gesprochen. Diese wird jedoch durch die visuelle Lektüre der Statue unterlaufen. Der Magie ihrer letztendlichen Körperlichkeit erlag ihr Interpret mit seiner Apotheose (homo)erotischer Privilegierung von (männlicher) Schönheit und Eros. Die Apotheose schöner Männlichkeit machte einen Grundzug aufklärerisch-klassizistischen Denkens virulent: humane Ganzheit einzufordern und zu postulieren. Aber auch diese Magie bannte er im Wort: damit die Präsenz des Körperlichen nicht übermächtig werde, bändigte er sie in einer brillierenden Sprache. Das mitschwingende dionysische Element blieb sekundär. Winckelmann war sich dessen sicher bewusst. Sein Resümee: „Das wahre Gefühl des Schönen gleichet einem flüßigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen wird, und denselben in allen Theilen berühret und umgiebt [...] Ich sage, was seyn sollte, nicht was zu seyn pfleget, und mein Begriff ist wie die Probe von der Richtigkeit der Rechnung."54 Aber erst eine aus romantischer Erfahrung entspringende Refle-
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Johann Joachim Winckelmann, „Zweiter Entwurf. 1. Beschreibung des Apollo in Belvedere", in: ders., Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, 276. Ders., „Fassungen im Pariser Manuskript", 274. Im zweiten Entwurf heißt es zusätzlich: wo „(geschlancke Reben mit immergrünem Laube sich mit dem Oelbaum gatten) u. Blüthe u. Früchte zugleich die Zweige der Bäume frölich machen" (Ders., „Zweiter Entwurf. 1. Beschreibung des Apollo in Belvedere", 276). Ders., „Zweiter Entwurf. 1. Beschreibung des Apollo in Belvedere", 276. Die endgültige Fassung formuliert: „Ein ewiger Frühling [...] bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder." (Ders., „Beschreibung des Apollo im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Alterthums ", 267). Ders., „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung der Empfindung des Schönen", 217.
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xion konnte dem Bruder des Apollon größere konstitutive Bedeutung geben. Alle aufklärerischen Versuche dazu blieben Ausnahmen.
Apollon - mäßigend, wissend Das „Wunder der Kunst", 55 der vatikanische Apollon, hat Johann Caspar Goethe auf seiner Kavalierstour durch Italien 1740 nicht beeindruckt. Er erwähnte ihn in seinem Reisebericht nicht und konstatierte nur lapidar: „In den Winkeln dieses Hofes [des Belvederes - R.R.] stehen vier große Marmorstatuen, von denen die Künstler gerne Zeichnungen anfertigen." 56 Wie anders sein Sohn, als dieser über vier Jahrzehnte später mit Winckelmann im Kopf und im Gepäck, Rom erkundet hat. Wie dieser war er fasziniert: In St. Peter habe ich begreifen lernen, wie die Kunst sowohl als die Natur alle Maßvergleichung aufheben kann. Und so hat mich Apoll von Belvedere aus der Wirklichkeit hinausgerückt. Denn wie von jenen Gebäuden die richtigsten Zeichnungen keinen Begriff gegeben, so ist es hier mit dem Original von Marmor gegen die Gipsabgüsse, deren ich doch sehr schöne früher gekannt habe. 57
Er sah sich so sehr gefangen, dass er „daneben fast nichts mehr sehe." 58 Wie Winckelmann empfand er nicht nur die Differenz von Original und Kopie, war ihm der unmittelbare (Blick)Kontakt zur Statue wichtig, sondern war es vor allem der Eindruck mäßigender Vergeistigung des Gottes und seines (Kunst)Erlebnisses. Zwischen den Künstler-Kollegen, u. a. Karl Philipp Moritz und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, war er Gesprächsthema. Winckelmann war im Geiste dabei. Goethes Beschreibungen der Statue waren ganz in seiner Spur. Der Apollon im Belvedere war ihm „der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreien, ewig jungen Wesens", der in jeder Kopie verloren gehe, 59 das Schönste, was er gesehen habe. Und in Dichtung und Wahrheit erinnerte er sich an seine erste Begegnung mit Apollon, nach dem er bei Winckelmann viel dazu gelesen hatte. Im Mannheimer Antikensaal fand er ihn schnell im „Wald der Statuen": „Nachdem ich die erste Wirkung dieser unwiderstehlichen Masse eine Zeitlang geduldet hatte, wendete ich mich zu denen Gestalten, die mich am meisten anzogen; und wer kann leugnen, daß Apoll von Belvedere, durch seine mäßige Kolossalgröße, den schlanken Bau, die freie Bewegung, den siegreichen Blick, auch über unsere Empfindung vor allen andern den Sieg davontrage?' 60 Eine Sicht auf den Gott, die noch der Goethe der klassischen Phase beibehalten hat. Winckelmanns klassizistische Apotheose erfuhr durch ihn seine Transformation in ihre klassische Version. Apollon wurde immer dann aufgerufen, wenn die Ausgewogenheit zwischen Natürlichem und Künstlerisch-Kulturellem, Sinnlichem und Geistigem Thema poetischer, dramatischer oder philosophischer Reflexion war. Mäßigkeit und Harmonie sollte er ebenso bezeugen wie Reinheit, Wortgewalt, Weisheit und Wissen. Dem Bild des Gottes mit dem Bogen stellte Goethe, stärker als Winckelmann, den mit der Leier: „Mächtig führt er den Bogen, doch seine 55
Ebd., 214. Johann Caspar Goethe, Reise durch Italien im Jahre 1740 (Viaggio per I 'Italia), München 1986,246. Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise (8. 11. 1786), in: ders., Werke in zwölfBänden, Bd. 10, Berlin, Weimar 1988, 137. 58 Ebd. (3. 12. 1786), 150. 59 Ebd. (25. 12. 1786), 154. fin Ders., Dichtung und Wahrheit (11. Buch), in: ebd., Bd. 9,62.
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Lust ist die Leier" (Apollo der Hirt)61 zur Seite und ließ ihn zudem als den Wortgebenden, den wissenden und weisen Gott vor Augen treten. So setzte sich aufklärerische Kontinuität in die Klassik fort. Wie Goethe Apollon gern als delphischen sah, wollte auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel ihn als Vertreter von Wissen und Weisheit verstanden sehen. Den Apollon im Belvedere sah er skeptisch, durch die greifende Erkenntnis, das Kunstwerk gehöre wohl stilgeschichtlich eher „zum Übergange vom hohen Ideal zum Reizenden"62: man zolle der Statue nicht mehr die ungeteilte Bewunderung wie zu Winckelmanns Zeiten.63 Seine Beschreibung der Statue wich aber kaum von der Winckelmanns ab. Apollon schreite „siegesgewiß, nachdem er den Python mit dem Pfleile getötet, in seiner Hoheit zürnend [,..]."64 Wesentlicher jedoch war die idealische geistige Kontextualisierung, die Winckelmann an ihr vorgegeben hat, sie kam seinem Konzept ästhetischer Favorisierung antiker Kunst entgegen. Anders formuliert, er verstand sich durchaus in der Kontinuitätslinie klassizistischer Idealisierung. Gemäß seiner eigenen Position radikalisierte er den Blick auf Apollon, stattete er den Gott mit den Insignien einer anderen Macht aus: mit der des Wissens. Für Hegel avancierte er zum „wissenden Gott",65 er war ihm „der neue Gott, das Licht des Wissens",66 der Interessenvertreter des Geistes, der Lehrer der Musen: „,Erkenne dich selbst' ist die Überschrift seines Tempels zu Delphi, ein Gebot, das sich jedoch nicht etwa auf die Schwächen und Mängel, sondern auf das Wesen des Geistes, auf Kunst und jedes wahrhafte Bewußtsein bezieht [...]."67 Apollon war angekommen auf dem Olymp eines idealistischen Systems, das ihn reiner Begrifflichkeit zuführen wollte. Wenn da nicht der „Reiz der lebendigen Menschlichkeit" als das „Positive [der] griechischen Götter [,..]"68 gewesen wäre, das vor endgültiger ideeller, idealistischer Einvernahme bewahrte. Und ihn in den historischen Kontexten beließ, die ihn zum Haupthelden aufklärerischer Ästhetik gemacht hatten. Mit einer entscheidenden Differenz allerdings. Wollte Winckelmann ihn in die Gegenwart versetzen, blieb er für Hegel im Reich des Vergangenen und für die Moderne verloren. Nur die Trauer über den Verlust holte ihn, wie die Antike überhaupt, Anfang des 19. Jahrhunderts noch ein.
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Ders., „Xenien und Votivtafeln", Werfe, Digitale Bibliothek 4, Berlin 1998, 1838. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, nach der zweiten Ausgabe von Heinrich Gustav Hotho 1842, redigiert und mit ausfuhrlichem Register versehen von Friedrich Bassenge, Bd. 2, Berlin, Weimar 1965, 12. „[...] jetzt [ist] sie, seitdem man im Ausdruck tiefere und in den Formen lebendigere und gründlichere Werke hat kennenlemen, in ihrem Werte etwas heruntergedrückt, und man setzt sie in eine schon spätere Zeit, in welcher die Glätte der Ausarbeitung schon das Gefällige und Angenehme im Auge hat und nicht mehr im strengen echten Stil beharrt. Ein englischer Reisender nennt sogar (,Morning Chronicle' vom 26. Juli 1825) den Apollo geradezu einen theatralischen Stutzer (a theatrical coxcomb) [...]" (ebd., 146). Ebd., Bd. 1,201. Ebd., 441. Ebd., 456. Ebd., 471. Ebd., 477.
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Abb. 1: Apollon im Belvedere, Vatikan.
Abb. 2: Joseph Werner, Der triumphierende Ludwig XIV. (Guache, 1664). Schloss Versailles.
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Abb. 4: F r a n c i s Girardon, Apoll im Bade wird von den Nymphen bedient (1664/72), Schlosspark Versailles.
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Kann historische Urteilskraft ohne Kants Anthropologie auskommen? Uns täte ein Kant not, der einen kategorischen Imperativ der Geschichte, den lebendigen Quell nachwiese, dem das geschichtliche Leben der Menschheit entströmt. (Johann Gustav Droysen 1843)
Es mussten „wohl die dornigten Pfade der Speculation [...] einmal betreten werden",' so schrieb Kant einem vertrauten Studenten, als er ihm einige kritizistische Pointen aus seinem neuen Werk, der Kritik der Urteilskraft, vorstellte. Aber auf diesen Pfaden wollten ihm so viele nicht folgen. Es war schon so, wie sich jener Student später erinnerte, Kants Schriften „sind Vielen wohl immer dadurch so lange dunkel und schwierig geblieben, weil er den Lesern [...] zu viel zutraute." 2 Das aber rächt sich immer. Im Falle Kants mit zunehmendem Unmut der philosophisch interessierten Öffentlichkeit. Es sei nicht sehr freundlich, so ironisierte einmal Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) die skeptischer werdende Leserschaft der Vernunftkritik seines Bruders-im-Geiste, dass „Herr Kant sein Werk so geschrieben hat, daß man es studieren muß, wie ein Werk der Natur. [...] Die Gegenstände von Herrn Kants Buch sind freilich sehr interessant, aber das konnte doch nicht jedermann gleich wissen." 3 Die Kantsche kritizistische Theorie des Erkennens war also beileibe kein Allgemeingut bei seinen Zeitgenossen und es sei gut, so schreibt einmal Goethes ,Urfreund' Knebel an einen gemeinsamen Bekannten, „daß das Kantische Unwesen auf alle Weise gestört werde, und die Vernunft nicht durch Übervernunft zur Unvernunft werde."4 Das sind Nachklänge von Herders Metakritik, die den Weimarer Zeitgeist so überwiegend kant-kritisch sich äußern lässt. „Kant erscheint freilich da in seinem ärmsten Lichte, oft ist es mir fast unausstehlich", so schreibt Knebel weiter, „nur seine Worte zu lesen, so platt sind sie." 5 Zudem habe Kant, so die verbreitete Meinung, zu vielen aktuellen Problemen gar keinen Zugang, namentlich zum Problem der Sprache und dem der Geschichte. Und deshalb: Metakritik der Kritik der reinen Vernunft. Das war, wie es schien, seit Mitte der achtziger Jahre
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Immanuel Kant an Johann Friedrich Reichardt, v. 15. Oct. 1790, in: Kant's gesammelte Schriften, hg. v. d. Köngl. Preuss. Akademie d. Wiss. [im F.olgenden: AA], Berlin 1922, Bd. 11,228. Johann Friedrich Reichardt, „Kant und Hamann", in: Urania 1812, zit. nach: Hans Michel Schletterer, Johann Friedrich Reichhardt, sein Leben und seine Werke, Augsburg 1865, 83 ff. Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen - Essays - Briefe, hg. v. Kurt Batt, Leipzig 1970, 158. Karl v. Knebel an Karl August Böttiger, v. 15. Juni 1799, in: Karl August Böttiger, Literarische Zustände, Leipzig 1838, Theil 2,220. Karl v. Knebel an Karl August Böttiger, v. 30. Juni 1800, ebd., 225.
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des 18. Jahrhunderts das Gebot der Stunde. Denn, wie schon Kant zugestand: „Alle Cultur der Erkenntnisvermögen theilt sich in zwei Zweige auf: Geschichte und Philosophie."6 Namentlich das Problem der Geschichte schien sich der transzendentalphilosophischen Methodenkritik, die in der Metaphysik so erfolgreich war, zu entziehen, weil „die Critik der reinen Vernunft von einem logischen Spinngewebe abhängt".7
I. Über Geschichte denken war aber ein zentrales Alternativ-Thema der Aufklärung zur Kantschen Kritik. Geschichtsphilosophisch schien sich eine Kritik der neuen Denkungsart am eindruckvollsten zu vollziehen. In Deutschland kann man einen geschichtstheoretischen Diskurs etwa seit Carl Renatus Hausen's Leipziger Antrittsrede von 1765 über die Theorie der Geschichte datieren. Hausen (1740-1805) hatte vier Jahre später den Plan gefasst, einen biographischen Gelehrtenkalender zu publizieren, der auch einen Eintrag zu Kant enthalten sollte. Er bat deshalb Kant um biobibliographische Hinweise, „weil ich gern den Geist der Kantischen Philosophie zeigen möchte."8 Die im Konnex mit den im Aufstieg begriffenen Erfahrungs- und Lebenswissenschaften entwickelten Begriffe - namentlich die Terminologie der Biologie - gaben die Stichwörter für die Metaphorik ab, mit der Problemlagen und -lösungen des neuen Geschichtsdenkens darstellbar waren: Wachstum, Kreislauf, Alter, Verfall und Tod. Weltalter, geschichtliche Verläufe, schienen ζ. B. Lebensbäume bzw. Lebensalter anschaulich zu machen.9 Das Begreifen des Geschichtlichen in Deutschland blieb lange im Bannkreis der Metaphern- und Analogienmethodik. Und Herder ist dabei derjenige, der diesbezüglich die einflussreichsten Texte verfasst hat. Herder, der bei Kant Vorlesungen verwandten Inhalts, vor allem aus dem Umkreis der physischen Geographie, gehört hat, ist dieser sinnlich-anschaulichen Methodologie seit langem verpflichtet, schon seit der Vorbereitung auf Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774).10 Dies ist zunächst wohl schon ein Indiz für kognitive Insuffizienz gegenüber der gerade in dieser Zeit anstehenden Aufgabe, Geschichten, „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen als ein System darzustellen".11 Es ist jener Theoriewandel der Ablösung des Verstehens erzählter ,Geschichte' durch die Erklärung der inneren Formen von ,Geschichte', d. h. „hinter der Singularisierung der Geschichte, hinter ihrer Verzeitlichung [...] hinter ihrer Produzierbarkeit kündigt sich ein
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Immanuel Kant, Opusposthumum, AA, Bd. 21, 115. Johann Georg Hamann an Kriegsrath Scheffher, v. 7. Oct. 1784, in: Hamanns Schriften, hg. v. Friedrich Roth, Berlin 1824, Siebenter Theil, 175. Carl Renatus Hausen an Immanuel Kant, v. 18. Nov. 1769, AA, Bd. 10, 79. Vgl. prototypisch [Johann Christoph Adelung:] Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782. Johann Gottfried v. Herders sämmtliche Werke. Zur Philosophie und Geschichte, hg. ν Johann v. Müller [abgk.: SW], 2.Theil, Tübingen 1806,241-506. Immanuel Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Band 4, Berlin 1913, 164.
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Erfahrungswandel an, der unsere Neuzeit durchherrscht." 12 So kommt es, wie Manfred Riedel festhielt, „dass Kant terminologisch zwischen Historie (im Sinne von Taisachenbeschreibung) und Geschichte unterscheidet und der .historischen Erkenntnis' unter bestimmten Prämissen den Status einer Wissenschaft zuerkennt." 13 Aber zugleich ist das vitalistische und dynamistische Allegorisieren bei Herder sowohl Ausdruck eines tiefen Missbehagens an traditioneller rationalistischer Geschichtsskepsis vieler seiner Zeitgenossen als auch ein Versuch, selber ganz neue Wege zu gehen. Methodologisch hatte jener Skeptizismus seinen Grund darin, dass mit den vorherrschenden Erkenntnismitteln, etwa der Philosophie Christian Wolffs, das Erfassen historischer, d. h. sich ständig wandelnder Sachverhalte nur mit Einschränkung möglich war. Den hier zu erreichenden Resultaten konnte immer nur ein niederer (inferiorer) Erkenntnisstatus zugesprochen werden. Denn, wie ζ. B. die in Königsberg philosophische persona non grata Christian August Crusius (1717-1775) festhielt, und darüber bestand auch bei ansonsten philosophisch kontroversen Aufklärern in Deutschland allgemeiner Konsens: „Die Verknüpfungen der Dinge in der Welt sind zu mannigfaltig, als dass wir die Begebenheiten aus den Ursachen, oder diese aus jenen durch den Weg der Demonstration entdecken könnten." 14 Hinsichtlich der Geschichtstatsachen blieb man so dem, wie es hieß, Pyrrhonismus historicus verpflichtet; das maßgebliche, nachhaltige und gerade in Deutschland weit verbreitete Werk diesbezüglich waren Lord Bolingbrokes Briefe über das Studium und den Nutzen der Geschichte (1738).
II. Der Weg der Geschichte aus ihrer philosophischen Deklassierung heraus, hin zu einer historischen Logik', wie sie etwa Justus Moser 15 vorschwebte, war in Deutschland noch weit. Allenthalben wurde Lessings Diktum zugestimmt: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden." 16 Diesbezüglich hatte allerdings der Kantianer Friedrich Schiller ein systemlogisches Problembewusstsein, als er bemerkte: „Die Geringschätzung der Geschichte kommt mir unbillig vor. Allerdings ist sie willkürlich, voll Lücken und oft sehr unfruchtbar, aber eben das Willkürliche in ihr könnte
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Reinhard Koselleck, „Historia Magistra Vitae", in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1967, 209; vgl. auch Peter H. Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Univ. of California Press 1975; auch: Franz Wagner, „Entstehen der Geschichte als Wissenschaft", in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1(1978), H. 1/2, 43ff.; Horst Dreitzel, „Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft", in: Zeitschrift f . hist. Forschung 8(1981), 257ff.; Werner Schneiders, „Aufklärung durch Geschichte", in: Studio Leibnitiana, Sonderheft 10(1982), 79 ff. Manfred Riedel, Urteilskraft und Vernunft, Frankfurt a. M. 1989, 132. Christian August Crusius, Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1747, 1041. Vgl. Clemens August Hoberg, „.Historische Logik'. Ein Beitrag zu Mosers Geschichtsauffassung", in: Historische Zeitschrift 158(1938), 492flf. Gotthold Ephraim Lessing, „Über den Beweis des Geistes und der Kraft", in: Gotthold Ephraim Lessing's sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, Bd. 13, Leipzig 1897, 5. - Vgl. Wilm Pelters, Lessings Standort. Sinndeutung der Geschichte als Kern seines Denkens, Heidelberg 1972,28-77.
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einen philosophischen Geist reizen, sie zu beherrschen."11 Wie sollte man aber einer ,Logik der Geschichte' (Thomas Abbt) auf die Spur kommen? Einen der eher hoffnungsvolleren Wege schien gerade Herder zu beschreiten. Er versucht, sich der modernen Naturwissenschaft als einer Art .Basistheorie' für seine geschichtsphilosophischen Analysen zu versichern. Herder bemüht sich, auch in geschichtlichen Verhältnissen, Zuständen und Veränderungen - analog zur Natur - nachvollziehbare Gesetz- und Regelmäßigkeiten, Determinanten zu finden. In seiner neuen Konzeption von Geschichte wird diese, gut spinozistisch, zum unendlichen Modus einer allumfassenden (Substanz)Natur erhoben. Die Ideen etwa folgen in ihrem Aufbau einem doppelten Kursus, da zuerst die Geschichte der Natur, dann erst die Geschichte der Menschheit erscheint. Herder vermag damit solchen auch in der aufgeklärten Zeitgenossenschaft verbreiteten Auffassungen entgegenzusteuern, die - aus einer eindimensionalen kulturkritischen Rousseau-Rezeption heraus - im geschichtlichen Raum nur Regelverlust, Verfall, Irrtum, ja Chaos zu erblicken meinten. Auch Herder war der Anblick des historisch Kontingenten, „der Trümmer auf Trümmer unerträglich",18 und so versuchte er einen begreifbaren Ordnungszusammenhang für menschliches Handeln und dessen Artefakte in der Perspektive der Natur zu finden. Herder sucht im Wandel und in der Entwicklung der geschichtlichen Bewegungen natürliche Faktoren, die nun ihrerseits in den Sog der Historizität geraten. Damit aber „konfrontiert Herder die universalhistorische Sehweise der Aufklärung mit seinem Bewußtsein absoluter Geschichtlichkeit, in dem gleichzeitig das Bewußtsein seiner eigenen Modernität gegenüber diesem zum Abschluß kommenden Zeitalter [der Aufklärung] Ausdruck findet."19 Herders Fortschritts- und Humanitätsbewusstsein entwickelt sich am Konzept einer sich dynamisch und genetisch bildenden natura naturans', es ist seine Überzeugung, dass „die Menschheit sowohl im Ganzen, als in ihren einzelnen Individuen, Gesellschaften und Nationen ein dauerndes Natursystem der vielfachsten lebendigen Kräfte ist."20
III. Indessen blieb Herders geschichtliches Denken aus dem Geist eines vitalen Naturalismus nicht ohne Kritik seitens der Kollegenschaft, namentlich aus Königsberg und Göttingen. Ansatz der Kritik war ein augenfälliges methodologisches Ungenügen am Übergang vom Natürlichen zum Geschichtlichen, ein, wie es schien, ungenügendes Wahrnehmen der Differenz in jener Identität bei Herder. Denn jeder unvermittelte, bloß imaginierte Strukturtransfer aus der Natur in die Geschichte stellte doch offensichtlich deren eigentümliche Formen und Spezifika zur Disposition der Natur. Wenn man Geschichte bloß als Naturgeschichte denken wollte, da wird zu fremd von der Geschichte gedacht. Gerade das aber war es, was ζ. B. Kant monierte, als er 1785 Herders Ideen rezensierte. Er markierte die Bruchstelle deutlich: „Rezensent muß gestehen, daß er diese Schlußfolge aus 17
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Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, v. 7. Jan. 1788, in: Schillers 25, hg. v. Eberhard Haufe, Weimar 1979, 2.
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Heinrich Luden, „Einleitung zu Herders ,Ideen'", Leipzig 1821, XXXV; vgl. auch Michael Maurer, „Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung", in: Johann Gottfried Herder 1744-1803, hg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, 141ff. Ernst Behler, „Historismus und Modernitätsbewußtsein in Herders Schrift „,Auch eine Philosophie der Geschichte'", in: Etudes Germaniques 49 (1994), 269. Johann Gottfried Herder, SW, 5. Theil, 343.
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der Analogie der Natur, [...] nämlich der Annäherung zum Menschen [...] doch nicht einsehe", und er hinsichtlich der Geschichte überzeugt sei, „daß sie weder in der Metaphysik, noch im Naturalienkabinett [...] aufgesucht werden müsse; [...] sondern daß sie allein in seinen Handlungen gefunden werden könne, dadurch er seinen Charakter offenbart."21 Und an anderer Stelle betonte er: „Herder verdirbt die Köpfe dadurch, daß er ihnen Muth macht, ohne Durchdenken der Principien mit blos empirischer Vernunft allgemeine Urtheile zu fällen",22 denn: „Die Einheit der Geschichte aus einer [...] Idee macht aus ihr ein System."23 Herder war von dieser neuen Konzeption sehr irritiert. Grimmig schrieb er nach Königsberg, an Freund Hamann: „Es ist sonderbar, daß die Metaphysiker, wie Ihr Kant, auch in der Geschichte keine Geschichte wollen und sie mit dreister Stirn so gut als aus der Welt leugnen. [...] Laß sie in ihrem kalten, leeren Eis-Himmel speculiren!"24 Am Individuum - dessen Status als Naturwesen ist für Herder übergreifend interessant bleibt so die Ansicht seiner natürlichen Determinationsgefüge dominant. Aber die so umstandslos in den Menschen hinein verlängerte Natur wird dem spezifischen Gewicht des Menschen mit seiner intersubjektiven Textur nicht gerecht, denn „will man das (ganze) Eigenthümliche der Menschheit studiren, muß man den Gesitteten Zustand, darin sich alle Keime entwikeln, nehmen. Die Unterschiede der Geschichte sind dann kenntlicher."25 Alle widersprüchlichen Probleme des tätigen Menschengeschlechts, eben des Geschichtlichen, all die Antagonismen, die aus seinen Handlungen hervortreten - da es ,in einem Verfasser und Schausteller seines eigenen Dramas' (Karl Marx) ist - müssen in jeder gewissermaßen obsessiven Natur-Analogie gleichsam organologisch entschärft werden. „Man sieht", so kritisierte einmal Goethe ein entsprechendes Werk, „in dieser ungeheueren Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten."26 Humanität als natürliches Resultat der Organik - diese reduzierte Auffassung von Entwicklung konnte die Zustimmung vieler Zeitgenossen Herders nicht finden. Wenn der Mensch so noch ein aufklärerisches Essential - nur als Akzidens der Natur gedacht wird, dann wird letztlich zu gering von ihm gedacht. Der Eigenwert von Geschichte - nicht als eine eingebildete Autonomie von der Natur! - stand hier in Frage: dass nämlich ,Geschichtsgesetze' in dieser Formbestimmtheit, als gewissermaßen ,νοη außen' eingreifende, aus dem analytischen Blick verschwinden möchten. Dies wiederum wäre folgenreich, ζ. B. beim Erfassen geschichtlicher Krisensituationen; eine solche Entwicklungsmetaphorik bliebe etwa geschichtlichen Beschleunigungsprozessen gegenüber weitgehend irrelevant. Hegel wird dann in seiner Geschichtsphilosophie solche naturalistischen Entwicklungsprinzipien ebenfalls zurückweisen als unerlaubte Übertragungen organologischer Metamorphosen auf gesellschaftliche Tätigkeitsmuster, als Verwechslung von „bloßem Hervorgehen, wie die des organischen Lebens" mit „harter, unwilliger 21
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Immanuel Kant, „Rezension von Herders ,Ideen'", in: Kants Werke, hg. v. Emst Cassirer, a. a. O., Bd. 4, 187 u. 191. Otts., Reflexionen zur Anthropologie, AA, Bd. 15,399. Ebd., 618. Johann Gottfried Herder an Johann Gottfried Hamann, v. 28. Febr. 1785, in: Johann Gottfried Herder, Briefe, hg. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold, Bd. 5, Weimar 1979, 111. Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, 555. Vgl. Norbert Herold, „Ein Kant fur die Historiker", in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 5 (1979), 75ff. Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, v. 9. März 1802, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. v. Houston Stewart Chamberlain, Bd. 2, Jena 1910, 435. Vgl. auch Wolf Lepenies, „Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert", in: Historische Zeitschrift 231 (1980), 21 ff.
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Arbeit gegen sich selbst", als Verwechseln „des Entwickeins überhaupt" mit „Hervorbringen eines Zwecks von bestimmtem Inhalte."27 Auch in der Göttinger historischen Schule, namentlich bei August Ludwig Schlözer, wird Herders geschichtsphilosophische Natur-Poetik deutlich kritisiert. Hier wird bereits versucht, geschichtliche Strukturen weitgehend aus sich selbst heraus zu erklären, als eigenständiges System mit eigentümlichen Formen und Verläufen. Schlözer beginnt - ebenfalls in Anlehnung an die erfahrungswissenschaftliche Forschung der Zeit - das Nachdenken über Geschichte als methodenbewusste Wissenschaft; er sieht in ihr auch bereits bestimmte Möglichkeiten der Quantifizierbarkeit (Statistik), eine Denkrichtung, die Herder völlig fremd blieb. Schlözer integriert unter dem Einfluss der Linneschen Methodologie die Statistik als neuen Faktor geschichtswissenschaftlicher Arbeit. Schlözer begreift Geschichte als Strukturproblem der menschlichen Gattung; bei Herder dagegen wurde das Problem der Gattung als geschichtstheoretisches Element abgewertet; Herder ist befremdet über diese „Behandlung der Geschichte als ein großes Ganzes, synchronistisch, ethnographisch, und wie die harten Worte mehr heißen".28 Bei Schlözer wird Geschichte nun begriffen als ein System hierarchisch geordneter, zusammenhängender gesellschaftlicher Aggregate; mit seinem Konzept von Universalhistorie will er „uns zeigen, wie die Welt [...] im Ganzen und ihren Theilen ward [...] sie soll die vergangene Welt an die heutige anschließen und das Verhältnis beider gegeneinander lehren."29 Schon der frühe Herder kritisierte diesen Zugang zum Geschichtlichen dahingehend, dass Geschichte hier „in Absicht der Aggregation vieler einzelner Geschichten nur zu oft ein Gemisch werde, wo die Theile nicht halten wollen, auseinanderfließen oder auseinanderfallen; insonderheit aber, daß es mit dem Einen in der Geschichte, ,fürs menschliche Geschlecht' betrachtet, immer für uns Menschen eine so problematische Sache sei."30 Herder vermisst offensichtlich das Walten der .natürlichen Kräfte', welche die verschiedenen Teile zusammenhalten, das Reden von ,Gattung' ist ihm bloß eine ,nominalistische Abstraktion'. Im übrigen ging Schlözer mit dem ambitionierten Neuling auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie von 1772 dann scharf ins Gericht, als er 1773 im Teil II seiner Universalhistorie eine umfassende Kritik an Herder vorlegte.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M.1970,76. Johann Gottfried Herder, „Rezension von August Ludwig Schlözers .Vorstellung seiner Universalhistorie'" 1772, in: Herder's Werke, hg. v. Heinrich Düntzer, 23. Theil, Berlin 1878,223. Und: „Die wahre Philosophie der Geschichte", so kritisiert Herder noch 1798 eine spätere historische Arbeit Schlözers, „ist nicht, die Geschichte α priori ersinnen oder malen, sondern Facta darstellen und ordnen." (SW, 17. Theil, 637). August Ludwig Schlözer, Vorstellungseiner Universalhistorie, Göttingen 1772,4. Johann Gottfried Herder, „Rezension von August Ludwig Schlözers .Universalhistorie', in: Herders Werke, a. a. O., 23. Theil, 223. Vgl. auch Johan Huizinga, „Naturbild und Geschichtsbild im 18. Jahrhundert", in: Corona 5(1933/34), 536ff.
HISTORISCHE URTEILSKFRAFT OHNE K A N T S ANTHROPOLOGIE?
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IV. Auch transzendentalphilosophisch wird dann später versucht, Geschichte aus sich selber heraus zu begreifen; Kant betonte - vor allem auch gegen Herder dass es ihm geschichtstheoretisch nicht um die Naturgeschichte, sondern um die Sittengeschichte zu tun ist, die man allerdings „als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen" 31 könne. Die Natur verstärke so die Absicht der Vernunft. Diese Kommunikation zwischen Natur und Vernunft in der Sittengeschichte' selber zeigt für ihr Begreifen Folgen. Es geschieht nämlich, dass dem Menschen neben seiner (naturhaften) Substanz und seines (absichtsvollen) Subjektseins gleichsam ein .Drittes' aufgeht - nämlich sozusagen ein Selbstverhältnis, das Kant terminologisch als , ungesellige Geselligkeit' identifiziert. Dieses Selbstverhältnis bedeutet, „dass der Mensch ,den Hang hat, in Gesellschaft zu treten', aber sich gleichzeitig dagegen sträubt, ganz in gesellschaftliche Bindungen aufzugehen. Der Hang, sich zu vergesellschaften, wird vom Hang, sich zu vereinzeln, überlagert." 32 Das aber ist von Kant als die Verlaufsform von Geschichte ausgemacht, dass der Mensch (in dem sich gleichermaßen ,Gutes' wie ,Böses' fokussiert!) im Handeln immer nur ein .Mittleres' zwischen beiden Natur und Freiheit - wird realisieren können. Durch die neue transzendentalphilosophische Theorie der Subjektivität wird dann also eine neue Sicht auch auf das Geschichtliche möglich, nämlich Geschichte als gegenläufigen Selbsterzeugungsprozess der Gattung (Menschheit) zu begreifen. Eine zeitgenössische Stimme hat diesen Paradigmenwechsel dann so beschrieben: „Von diesem Zeitpunkt an hat die Geschichte den Nahmen einer Wissenschaft verdient; denn sie stellt nicht bloß die einzelnen Fakta auf, sondern sie bildet auch aus ihnen eine ununterbrochene Kette, [...] die so wenig Grenzen hat als die Zeit." 33 Kurzum: mit Kant wird das Denken von Geschichte wieder möglich, ohne es in eine Heils- oder Erlösungsgeschichte einzubinden. Auch nicht in eine gewissermaßen .säkulare' Form dessen, vielleicht als .Erziehung des Menschengeschlechts', als .Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit' oder als .Beendigung der Vorgeschichte der Menschheit'. Ein Aberglaube, der in „unserer Zeit noch vornemlich in der geschichte anzutreffen, entweder weil sie nicht der Philosophie hülfreiche Hand darbietet, oder weil sie von der Theologie gebunden ist." 34 Also: Geschichtsphilosophie bei Kant ist, „in Fortsetzung des allgemeinen Programms der Transzendentalphilosophie, der methodische Versuch, Vernunft in die Geschichtswissenschaft zu bringen." 35
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Immanuel Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, a. a. O., Bd. 4, 161. Vgl. Ulrich Gaier, „Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant", in: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, hg. v. Martin Bollacher, Würzburg 1994, Iff. Karl-Heinz Nusser, „Die Geschichtsphilosophie bei Kant", in: Oikeiosis: Festschrift jur Robert Spaemann, hg. v. Reinhard Low, Weinheim 1987, 193. Christian Ancillon, „Betrachtungen über das Studium der Geschichte", in: Historisches Bd., 375. Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Logik, AA, Bd. 16, 197 [Refl.Nr. 2018], Manfred Riedel, Urteilskraft und Vernunft, 146.
Journal 2( 1800), 1.
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V. Als Karl Rosenkranz - der dritte akademische Nachfolger Kants in Königsberg - in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft in Königsberg (vom 18. Januar 1835) die Verdienste der jüngstvergangenen deutschen Philosophen um die Philosophie der Geschichte würdigte, da hob er natürlich Herder besonders hervor, eben als denjenigen, der gezeigt habe, dass „aus dem Verhältnis der Natur zum Geist und aus den dem Geist innewohnenden Anlagen [...] das Menschengeschlecht zu unendlicher Perfectibilität bestimmt sei";36 aber auch ein Denker, der alle Geschichtsphilosophie als methodisch widersprüchlich dezidiert verwarf, wie Jacob Burckhardt - er nannte sie einen .Kentauren' - , akzeptierte immerhin Herder als einen, der „Salz in die Geschichte"37 gebracht habe. Doch Burckhardt hat gerade auch auf die Problemlage, was, wenn es überhaupt eine Philosophie der Geschichte geben sollte, diese denn zuallererst zu beachten hätte, hingewiesen, als er schrieb: „Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes."38 Auf eine „Auflösung des großen Räthsels", wie einmal Heinrich Luden bei Gelegenheit der Herausgabe von Herders Hauptwerk alle Geschichtsphilosophie genannt hatte, darf der nicht rechnen, der „nicht versteht, wie sich die starre Nothwendigkeit in der Natur dadurch von der Freiheit im Leben der Menschen unterscheidet, daß ihr Wesen durch sie selbst eben nicht verstanden, nicht vernommen wird oder nicht als Vernunft erscheint";39 kurz: die Differenzierungen im Begriff des Geschichtlichen, die jetzt notwendig werden, stehen hier, im Übergang von der Spätaufklärung zum frühen Idealismus - exemplarisch zwischen Herder und dem jungen Schelling - , unter der zugespitzten Fragestellung: Die Natur kann wohl nicht die Lösung des Rätsels der Geschichte sein, aber kann es eine Lösung ohne die Natur geben? Wie ist hier die Stiftung eines Zusammenhangs methodisch nachvollziebar möglich? Denn: „Die Geschichte zerstört den Schein der Identität; sie kennt nichts wirklich Identisches, nichts gleichartig Wiederkehrendes;"40 Denn das liegt eben am anthropologischen Stoff der Geschichte: „Der Mensch ist ein Gaukler von Natur und spielt eine fremde Rolle."41
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Karl Rosenkranz, Das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte, Königsberg 1835, 12; vgl. auch seine Königsberger „Rede zur Säcularfeier Herders" fam 25.August 1844], Königsberg 1844: „Diese Vorstellung, daß wir noch im Werden begriffen, daß wir unserer Idee noch nicht entsprechen, daß wir noch vollauf zu thun haben, daß herrliche Zustände der Menschheit, Lichtphasen höhereGesittung, als Trümmer, sogar uns schon wieder im Rücken liegen, daß wir nimmer müde werden dürfen im Ringen und Arbeiten [...] diese Perfectibilität, diese Progressivität (ist) recht eigentlich das, was Herder seine Philosophie der Geschichte der Menschheit, seine Humanität nannte" (21).
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Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Johannes Wenzel, Leipzig 1985, 21. Ebd., 38. Vgl. hierzu auch Wemer Kaegi, „Jacob Burckhardt zwischen Naturwissenschaft und Philosophie", in: Historische Zeitschrift 224 (1977), 15. Heinrich Luden, „Einleitung", in: Johann Gottfried Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, XXXVIII. Ernst Cassirer, Philosophie der Auflclärung, Tübingen 1932, 309. Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlaß zur Anthropologie, AA, Bd. 15,92 [Refl.Nr. 240].
3. Kant und die Folgen
VOLKER GERHARDT
Menschheit in meiner Person Expose zu einer Theorie des exemplarischen Handelns
1. Vielseitigkeit Ein großer Denker gibt viel zu denken. Deshalb reichen auch zweihundert Jahre nicht aus, um sich über die Größe eines Philosophen zu verständigen. Es muss daher offen bleiben, was Kants größte Leistung ist. Doch fest steht, dass Kant die großen Fragen aus den Anfängen des Philosophierens - die nach der Wahrheit, der Natur des Geistes, der Tugend und der Schönheit - aufnimmt und mit der Aufgabe der Selbsterkenntnis des Menschen verbindet. Sich selbst aber kann der Mensch nicht zureichend bestimmen, ohne nicht auf seine Beziehung zu Pflanzen und Tieren auf der einen und zu Gott auf der anderen Seite einzugehen. Also muss er nach sich selbst als Teil des kosmologischen Ganzen fragen. Eben das geschieht bei Kant von den frühesten Schriften an. Und es versteht sich von selbst, dass er sich dabei von wissenschaftlichen Prinzipien leiten lässt.
2. Intellektualität Kant nimmt die großen Fragen auf, um sie in Beziehung zum Erkenntnisstand der modernen Wissenschaft zu setzen. Er orientiert sich am Methodenideal der fortgeschrittenen Naturwissenschaft, der Physik, ohne sich ihr zu unterwerfen. Dabei übernimmt er die Einschätzung der Empirie, als der elementaren Quelle alles sachhaltigen Wissens von der Welt und von uns selbst. Eben dabei macht er erstmals bewusst, warum es nicht ausreicht, allein auf das „fruchtbare Bathos der Erfahrung" zu setzen. Sinnliche Eindrücke können nur dann zu einer Erkenntnis führen, wenn sie sich einer Ordnung fügen, die dem Erkennenden zugehört. Diese Ordnung liegt in der Logik des erkennenden Bewusstseins, die Kant in der transzendentalen Analytik auszubuchstabieren sucht. In einer funktionalen Analyse epistemischer Leistung kann er zeigen, dass alles das, was die Philosophie vor ihm mit dem Logischen, Ideellen und Kategorialen, mit dem Übersinnlichen und Göttlichen verbindet, als organisierendes Moment in epistemischen Leistungen wirksam ist. Er führt vor Augen, dass alles, was den erkannten Dingen anschauliche Gestalt, und begriffliche Form verleiht, aber auch alles als un-endlich oder unbedingt Gedachte nur insoweit erkannt werden kann, insofern es im Sinnlichen, somit im Endlichen wirksam ist. Kant demonstriert das Intelligible als wirksames Moment in den lebendigen Vollzügen der Welt. Geistiges und Sinnliches sind nicht nach Art ontischer Sphären getrennt, sondern sie sind prozessual aufeinander bezogen. Das Noumenale ist wirklich, sofern es in den Phänomenen wirksam ist. Wie weit diese Wirksamkeit in die lebendige Natur hinabreicht, ge-
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ben die Leistungen der Urteilskraft in Ästhetik und Teleologie zu erkennen. Der „Nous", also die Vernunft im weitesten Sinne, ist formgebendes Moment der vom Menschen erkannten Welt.
3. Spontaneität Das Geistige und somit das wirksam Prinzipielle weist Kant auch in den praktischen Leistungen des Menschen auf. Menschliches Handeln hat als solches einen rationalen Kern. Deshalb greift jede Analyse des Handelns zu kurz, wenn sie das Tun des Menschen als ein ausschließlich aus kausalen Elementen bestehendes Geschehen zu fassen sucht. Unmittelbar vor dem epochalen Aufstieg der empirischen Sozialwissenschaften ist das allein schon ein bedeutender wissenschaftstheoretischer Vorgang. So wie es uns nicht gelingt, unsere Welterkenntnis auf die reine Positivität zu beschränken, so verfehlen wir die Erkenntnis der menschlichen Handlungssphäre schon im Zugang, wenn wir sie ohne die Spontaneität und Freiheit denken, aus der sie im Selbstverständnis des Menschen hervorgehen. Das Noumenale des Handelns liegt tatsächlich schon in der Ursprünglichkeit des individuellen Tuns, in der sich der Mensch nicht nur äußern, sondern jederzeit auch beschränken kann. Ganzheiten entspringen aus Einsichten, die sich auf etwas beziehen, dass es in dieser Einheit physikalisch gar nicht gibt.
4. Selbstorganisation Wenn nicht schon hervorgehoben worden wäre, dass ein großer Denker uns viel zu denken gibt, so dass seine Leistung schwerlich durch eine einzige Großtat ausgezeichnet ist, müsste man jetzt behaupten, die Demonstration der Freiheit sei Kants größte Leistung. Er hat nicht nur gezeigt, sondern erwiesen, dass sich der Mensch ohne Freiheit gar nicht verstehen kann. Sogar jene, die sich offenkundig selber nicht verstehen, kommen ohne sie nicht aus. Denn wer Freiheit bestreitet, der muss sie gerade dabei in Anspruch nehmen. Eine derart in das Selbstverständnis des Handelnden eingelassene Freiheit bedarf keiner „Lücke" in der Natur. Sie ist vielmehr etwas in der Natur, weil sie auf die strikte Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse angewiesen ist und nur die Spielräume nutzt, die schon das Lebendige in seiner Spontaneität und Selbstorganisation für sich zu verwenden weiß. Ob Freiheit möglich ist, entscheidet sich nicht in der Alternative zur determinierten physikalischen Natur, sondern in ihrer Relationsbestimmung zu den Prozessen des Lebens. Das hat Kant leider nicht deutlich genug exponiert, es ist aber in seiner Theorie des Lebendigen angelegt und bereits in der Auflösung der dritten Antinomie in Anspruch genommen. Wenn er die Freiheit in der Spontaneität der eigenen Bewegung erkennt, also darin, dass er „jetzt" von seinem Stuhl aufsteht, dann hat er die von ihm in der Kritik der Urteilskraft exponierte „Selbstorganisation" des Organismus auf den Vorgang des eigenen Handelns übertragen. Die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit entscheidet sich damit mit der Antwort auf die Möglichkeit des Lebens. Wenn der Mensch sich nach eigenen Impulsen, somit auch nach eigener Einsicht bewegen kann, dann ist er frei. Unfrei wird er nicht durch die Gesetze der Natur, sondern durch den Willen eines anderen, der ihn zwingt, sich dessen Willen zu unterwerfen.
MENSCHHEIT IN MEINER PERSON
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5. Selbstbestimmung Die lebendige Einheit oder Ganzheit, in der sich der Mensch versteht, tritt im Verstehen und im Erkennen, deutlicher aber noch in dem auch für andere erkennbaren Handeln des Individuums hervor. Hier gibt sich der Einzelne selbst eine Richtung, für die er Beweggründe nennen kann. Sie machen das einigende Moment ei-nes Bewegungsvollzuges aus. In ihnen tritt eben das hervor, was man die „Vernunft" des Menschen nennen kann. Die Selbstbewegung nach eigener Einsicht, für die Kant als erster den Ausdruck „Selbstbestimmung" verwendet, ist der immer schon verstandene und zugleich für jedermann erkennbare Ausdruck der Freiheit. Da die innere wie äußere Erkenntnisbedingung der Freiheit in der „Einsicht" dessen liegt, der von ihr spricht, kann man den Grund der Freiheit „einsichtig", also „intelligibel" nennen. Wer über Einsicht verfügt, kann als einsichtig bezeichnet werden. Ihn nennt Kant ein „intelligibles", also ein „vernünftiges Wesen". Man braucht also keine „große Vernunft" der Systeme oder der unbestechlichen Konsequenz, um als vernünftig zu gelten. Es genügt, dass man etwas versteht und sich danach richten kann, es reicht, dass man Erfahrungen macht, die - unter Bedingungen der Verständigung mit sich oder mit anderen - als Gründe das eigene Verhalten bestimmen. Also ist es nur konsequent, wenn Kant sich bemüht, seine kritische Ethik ausschließlich auf den Menschen als „vernünftiges Wesen" zu fundieren, ja, er gelangt sogar zu der für viele befremdlichen Feststellung, die Moral habe für alle vernünftigen Wesen, einschließlich der Engel und unter Einschluss Gottes, zu gelten.
6. Zweck und Mittel Dieser zunächst unerschwinglich erscheinende Preis ist leicht zu entrichten: Wir müssen nämlich auch in einer Grundlegung der Sitten von den Leistungen ausgehen, die eine adäquate Erkenntnis einer Handlungslage, die zugehörige Selbsteinschätzung der Kräfte sowie eine angemessene Begründung tragen. Zwar sind die Tatsachen der Zeitknappheit, der Bedürftigkeit und der Erschöpfbarkeit des Menschen zu unterstellen. Aber da dies für alle Menschen gilt, kann man die Realitätsbedingungen des menschlichen Wesens (mit Blick auf die Geltung) vernachlässigen. Denn das Intellektuelle liegt ganz und gar im Prozess; es ist organisierendes Element im praktischen Geschehen. Es zeigt sich im spontanen Anfang sowie in der Selbstregulation durch eigene Zwecke wie auch - in den ausdrücklich moralischen Akten - in der Selbstgesetzgebung autonomer Selbstbestimmung. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass diese moralisch-praktische Selbstorganisation praktischer Vollzüge auf das Engste mit der Selbstorganisation des Lebendigen zusammenhängt. Für einen Organismus gilt, dass in ihm jeder einzelne Teil niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck begriffen werden kann. Das ist das organische Analogon zu jener Formel des kategorischen Imperativs, die vom einzelnen Menschen verlangt, dass er die Menschheit in seiner Person, wie auch in der Person eines jeden Anderen, niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu gebrauchen habe. In beiden Fällen geht es um lebendige Vorgänge: Im Organismus muss alles wechselseitig Zweck und Mittel sein können, und die vernünftige Person darf sich niemals bloß als Mittel gebrauchen, sondern hat sich immer auch als Zweck zu verstehen. Zweck und Mittel gibt es nur im Kontext des Lebens, zu dem das menschliche Handeln nun einmal
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gehört. Die Person jedoch, die sich in den handelnd zu bewältigenden Lebensvollzügen als Zweck zu wahren sucht, begreift sich darin, dass sie „Selbstzweck" ist, nicht einfach als Repräsentant seiner selbst, sondern als Exponent der „Menschheit". Dafür steht die geistesgeschichtlich erstmals in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verwendete Formel von der „Menschheit in meiner Person".
7. Humanität Der in den kritischen Schriften selten, aber einschlägig gebrauchte Begriff der „Menschheit in meiner Person" gibt zu erkennen, dass Kant das Geistige, das Vernünftige, das Einsichtige oder Intelligible nicht nur im funktionalen Zusammenhang von Natur und Geschichte aufsucht, sondern es im Kontext des menschlichen Daseins belässt. Seine Antwort auf die moralische Ursprungsfrage: „Was soll ich tun?" geht in die Natur, in den Kontext des lebendigen Daseins und damit zugleich in den gewordenen und weiterhin werdenden Kulturzusammenhang des menschlichen Lebens zurück. Einfacher: Das intelligible Konstrukt der Person ist auf niemand anderen als auf den empirischen Menschen gerichtet. Würde Kant den intelligiblen Ausgangspunkt seiner kritischen Ethik unabhängig von Naturprozessen begreifen, dürfte von der „Menschheit" gar keine Rede sein. Denn Menschheit ist die Gesamtheit empirischer Wesen, deren Besonderheit in einer bestimmten Art des Verhaltens besteht. Menschen verhalten sich - im Unterschied zu anderen Lebewesen indem sie sich (zumindest gelegentlich) auf Einsichten berufen. Und sie tun dies stets unter Berücksichtigung der empirischen Bedingungen, die sie an sich selbst, an ihresgleichen und in ihrer Handlungslage vorfinden. Erst das, was man auf diese Weise vorfindet, lässt sich in einem Ideal menschlichen Lebens überbieten. So entstand die zunächst auf den Bildungsanspruch des vornehmen Römers (in Abgrenzung zur Plebs und zu den Barbaren) bezogene Idee der „Humanität", die im Zeitalter Kants aber längst auf alle lebenden Menschen ausgeweitet war. Hätte Kant den empirischen Lebensbezug vermeiden wollen, hätte er sich nicht auf die Menschheit berufen dürfen. Er hätte es bei der Rede vom „Reich der Zwecke" oder beim „reinen Vernunftwesen" belassen müssen. Aber schon der häufiger vorkommende Begriff eines „Reiches der intelligiblen Wesen" ist, wenn wir beachten, dass Intelligibilität nur etwas ist, was sich im Verhalten von Lebewesen zeigen kann, deutlich genug: Er bezieht sich mit der Freiheit auf Wesen, die nur als Naturwesen möglich sind und die der Kultur bedürfen, um einsichtige und begründbare Ansprüche an sich selbst zu stellen. Gleichwohl spricht Kant gerade auch an jenen Stellen, an denen er den ausschließlich rationalen Kern der moralischen Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen will, von „reiner Vernunft" und vom „rein vernünftigen Wesen". Damit soll gesagt sein, dass es dem Menschen möglich ist, sich tatsächlich nach seiner Einsicht richten und den folgenden Gründen zu richten. Der Mensch handelt nicht zu 50% aus Einsicht und zu 50% aus triebhafter Anlage. Er kann sich ganz nach seiner Einsicht ..., nicht zuletzt auch weil eine Einsicht alles aufnehmen kann, was zu seiner Natur und ihren empirischen Bedingungen seiner Handlungslage gehört. Also sind Natur und Vernunft bereits in der Einsicht und den ihr folgenden Gründen vermittelt. Deshalb gibt es auch keinen Anlass, den notwendig auf Natur bezogenen Begriff der „Menschheit" preiszugeben. „Menschheit in meiner Person" kommt bei Kant, wie gesagt, selten vor, „Menschheit" dafür um so öfter. Die ausgedehnte Verwendung des Begriffs der Menschheit lässt keinen Zweifel daran zu, dass Kant die Leistungen der
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praktischen Vernunft auf das natürliche, geschichtliche und damit auch gesellschaftliche Wesen des Menschen anwenden will.
8. Die empirische Gesamtheit der Menschen Für die Anwendung auf den Menschen gibt es zahllose Gründe. Der soziologische Zeitgeist des 20. Jahrhunderts hätte dabei vor allem auf die soziale Natur des Menschen gesetzt. Für Kant hingegen steht die von ihm hervorgehobene Tatsache im Vordergrund, dass die Moral überhaupt nur mit Blick auf den Menschen einen Sinn erhält. Ein Gott oder reine vernünftige Wesen, wie z.B. Engel, brauchten schon deshalb nicht moralisch zu sein, weil ihnen der Anspruch dazu fehlt. Denn sie stehen gar nicht in Versuchung, nicht-moralisch zu sein. Sie entsprechen nämlich immer schon von selbst der Einsicht, die sie von etwas haben. Sie müssen sich nicht erst davon überzeugen, dass es richtig ist, die Erkenntnis zu befolgen. Sie haben sich nicht zu disziplinieren, um moralisch zu handeln, sondern sie tun es immer schon von selbst. Die Ethik hat damit für sie gar keinen Sinn. Die Moral muss sich also, so rein, unbedingt und intelligibel ihre Prinzipien auch immer sein mögen, auf den Menschen beziehen, also auf das einzige Tier, das sein eigener Herr sein kann, um nach seinem eigenen Anspruch auch sein eigener Herr zu sein.
9. Der Selbstbegriff des Menschen Normalität und Gesundheit vorausgesetzt, will jeder Mensch immer schon von sich aus, nach eigener Einsicht entscheiden. Damit hat das empirische Einzelwesen nicht nur einen intelligiblen, sondern auch einen normativen Kern, von dem aus es von sich aus eine Disziplinierung von sich und von anderen fordert. Die Frage aber ist, ob der explizite Bezug auf den Menschen nicht von den reinen Vernunftprinzipien abführt? Dieser Verdacht, so glaube ich, lässt sich widerlegen: Wer immer in der Lage ist, sich als Mensch zu begreifen, der hat die rationale Kraft, sich selbst als spontan wirksame Einheit zu erkennen. In dieser (Selbst-)Erkenntnis agiert der Mensch als prozedurale Einheit, die im Begriff seiner selbst werkanaloge Einheiten schafft. So wirken im Selbstbegriff des Menschen drei verschiedene Einheitsleistungen zusammen, die sich nur unter empirischen Konditionen ergeben können, aber Empfindung, Gefühl und Verstand des Menschen als organisierende Kräfte wirksam werden lassen. Wir könnten sie gar nicht verstehen, wenn sie nicht aus verschiedenen Anlässen, unter natürlichen Bedingungen und mit natürlichen Folgen auftreten und ablaufen würden. Die Natur stellt die Sinnund Wirkungsbedingungen des Geistigen dar. Die konkrete Erscheinung ist das unverzichtbare stofflich-leibhaftige Element, in dem sich alle Handlungen vollziehen. Das Materiale des Lebens ist es, in welchem Absicht und Einsicht organisieren wirksam werden, um das hervorzubringen, was eine menschliche Handlung genannt werden kann.
10. Exemplarische Existenz Es wäre nicht nur vollkommen unangebracht, sondern im strikten Verständnis des Wortes sinnlos, wollte man Kant eine sich isolierende Subjektivität, einen selbstverliebten Maximalismus oder gar einen kategorischen Egoismus unterstellen. In der moralischen Frage: „Was
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soll ich tun?" übernimmt das Individuum zwar die Verantwortung für sich selbst, doch schon indem es sich selbst dem vernünftigen Selbstanspruch unterstellt, geht es über seine bloße Individualität hinaus und betrachtet sich selbst als einen Fall, oder besser: als ein Exemplar eines Allgemeinen, dem es sich selbst zurechnet. Dieses A l l g e m e i n e kann der Naturzusammenhang sein, w e i l unstreitig jedes Lebewesen Natur ist und sich nach den Naturgesetzen zu richten hat. A b e r als Natur braucht sich der Mensch keine Gesetze zu geben, w e i l er den Naturgesetzen ohnehin schon untersteht. Deshalb kommt als A l l g e m e i n e s nur das in Frage, w o f ü r das zweifelnde, fragende, Rat und Orientierung suchende, allemal hilfsbedürftige, aber letztlich zu einer eigenen Entscheidung genötigte Individuum tatsächlich das Beispiel ist: Und das ist der von der Vernunft erschlossene Zusammenhang, in dem sich ein unter moralischen Selbstansprüchen stehendes Wesen selbst versteht. Und es versteht sich so unter den Bedingungen einer Einsicht, die in einem Grund praktisch werden kann.
11. Korrespondenz im Selbstbegriff Bei Kant steht dieser allgemeine Zusammenhang unter verschiedenen Begriffen. M a l nennt er ihn „Reich der vernünftigen W e s e n " , ein andermal „ R e i c h der Z w e c k e " . O f t sagt er auch einfach nur „Vernunft", weil die Vernunft ja tatsächlich der denkbar allgemeine Kontext ist, zu dem jedes Individuum sich selber rechnet, sobald es nur über seine eigene Vernunft und die zugehörigen Einsichten verfügt. Denn die Vernunft, die einer hat, ist immer auch die Vernunft, die ein anderer hat. Hier geht es uns, wie mit den Regeln der L o g i k oder der Grammatik: Indem ich mich ihrer bediene - und es mag noch so eigenwillig sein - operiere ich so wie alle anderen auch, bin also gerade im individuellen Gebrauch, die ich von den Begriffen oder Schlüssen mache, ein Moment eines allgemeinen Zusammenhangs. Das sich selbst als einsichtig begreifende menschliche Wesen steht gerade in seinem individuellen Selbstbegriff in Korrespondenz zu seinesgleichen. Es ist nicht nur in den theoretischen Leistungen seines Bewusstseins ursprünglich auf andere seiner selbst bezogen, sondern es richtet sich sowohl in seiner nüchternen empirischen als auch in seiner idealisierten Selbstauffassung nach dem, w a s andere von ihm verstehen können - selbst dort, w o es sie alle zu übertreffen sucht. Der existenzielle Selbstbezug des sich aus eigener Einsicht steuernden menschlichen Wesens ist deskriptiv w i e normativ durch den B e z u g auf die gegebene wie auf die vorgestellte Sozialität vermittelt.
12. Menschheit als ideale Gesamtheit W e r immer in der L a g e ist, sich selbst als Mensch zu begreifen, der weiß sich in diesem B e g r i f f ursprünglich mit anderen Menschen verbunden. Das heißt zwar nicht, dass er jeden Menschen wie ein offenes Buch begreift, auch nicht, dass er jeden sympathisch findet. A b e r es heißt, dass er das, w a s ihm die Möglichkeit bietet, das zu wollen, was ihm selber wichtig oder wertvoll erscheint, nicht nur bei sich selber, sondern auch bei seinesgleichen schätzen muss. B e i m B e g r i f f der Menschheit geht es daher nicht um die empirische Quersumme aller real existierenden W e s e n , auch nicht allein um das, w a s in deren politischer, kultureller oder religiöser Vertretung historisch zum Ausdruck kommt. Menschheit meint die ideale G e samtheit jener Eigenschaften, die gegeben sein müssen, damit der Mensch (als Individuum
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und als Kollektiv) in der Lage ist, das zu erreichen, wofür seine Einsichten sprechen und wozu er gute Gründe hat. Suche ich als moralisches Wesen selbst nach guten Gründen für mein Tun, dann rechne ich mich notwendig dieser Gesamtheit von Menschen zu, in der Gründe verständlich sind und als Motive anerkannt werden können. Die ideale Gesamtheit aller menschlichen Gattungswesen ist die Menschheit, die ihren Ort und ihren Ursprung in der Natur und ihre Wirklichkeit in der Geschichte hat. Darauf ist der Mensch von Natur aus bezogen. Der „kategorische Imperativ" verlangt somit nur, das in meinen Überlegungen ohnehin schon wirksame und natürlich geschichtlich begründete Ideal auch ernst zu nehmen. Folglich habe ich die „Menschheit in meiner Person" zu achten.
13. Universalität in der Individualität Dass die Menschheit sich in der Person eines einzelnen Menschen exemplifiziert, unterstreicht die Zuständigkeit des Individuums und zeigt dessen impliziten Bezug auf die Universalität. Die Universalität des Gebots der Vernunft benötigt die Idee der Menschheit, die sich wiederum nur in der Erkenntnis einzelner Wesen ausbilden kann. Darauf bleibt sie praktisch unter allen Umständen angewiesen. Denn die ethische Universalität lässt sich praktisch nur in der Form eines Selbstanspruchs realisieren. Und in ihm versteht sich das Individuum als Exemplar einer Gattung. Im Selbstzweck ist es sich und seinesgleichen ein Zweck, der als Ideal der Menschheit gelten kann.
14. Exemplarische Existenz Die Quintessenz der Kantischen Moralphilosophie liegt darin, dass der Mensch sich selbst ein Beispiel zu geben hat. Und wenn dies nicht unser Geheimnis bleiben, sondern in unserem Handeln hervortreten soll, dann ist jede moralische Tat ein exemplarischer Akt. Insofern ist nicht erst die Politik auf Öffentlichkeit angelegt. Auch das moralische Wesen nimmt sich in einem Univer-sum wahr, in dem es nicht nur sich selbst, sondern grundsätzlich jedem in die Augen sehen können möchte. Deshalb lassen sich, nach Kant, alle Tugenden letztlich in einer einzigen zusammenfassen: nämlich in der der Wahrhaftigkeit. Der Unterschied zur Politik liegt freilich darin, dass in der Moral letztlich jeder für sich allein zu verantworten hat, für was er sich entscheidet. Der Anspruch der Moralität ergeht an das einzelne Individuum, das einen Konflikt, den es von sich aus auf sich selbst bezieht, selber lösen will. Gleichwohl bewegt es sich mit seinen Fragen in einem grundsätzlich öffentlichen Raum, in dem es idealer Weise von seinesgleichen wahrgenommen und in möglichst bester Verfassung erkannt werden möchte. Da aber niemand anderes exakt die gleiche Stellung einnimmt, sondern Beobachter bleibt (der allerdings in eine vergleichbare Lage geraten kann), vermag das handelnde Individuum seinesgleichen tatsächlich nur ein Beispiel geben. Der damit verbundene Selbstanspruch hat aber nur unter der Voraussetzung seines allemal verletzlichen und endlichen und damit stets gefährdeten Daseins einen Sinn. Und da jeder sein Dasein in uneinholbarer Bedingtheit mit anderen teilt, kann er sich auch in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit mit ihnen verbunden wissen. Es spricht somit nicht nur alles dafür, sich in kluger Vorausschau des Beistands der Tiere und Pflanzen zu versichern; es ist auch nicht genug, auf den ästhetischen Verlust zu verweisen, der mit dem Schwinden der Arten und dem Leiden der Kreaturen einhergeht. Entscheidend ist das moralische Ar-
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VOLKER GERHARDT
gument zu ihrem Schutz: In der Lebensgemeinschaft mit Pflanzen und Tieren hat sich der Mensch so zu verhalten, dass er auch ihnen gegenüber seine Würde wahrt. Jeder hat vor jedem exemplarisch zu sein.
15. Kultur als exemplarische Natur Die Humanität, die der Mensch in seiner Person zu achten hat, beweist sich also nicht nur im Umgang mit sich und seinesgleichen, sondern auch im Angesicht der stummen Geschöpfe, deren Leiden nur die Vernunft auf einen Begriff bringen kann. So erlangt die von ihr gewahrte Einheit des Lebens praktische Bedeutung sowohl für das Selbstverhältnis des Menschen wie auch für die Welt, in der er lebt. Wie aber kann unter den Bedingungen des Lebens, in dem alles wechselseitig Zweck und Mittel ist, überhaupt irgend etwas als „Selbstzweck" ausgezeichnet sein? Angenommen, die Vernunft setzte keine Zwecke, dann könnte im Ganzen weder von Zwecken noch von Mitteln die Rede sein. Also ist die Fähigkeit, überhaupt von Zwecken und Mitteln zu unterscheiden, vor allem anderen zu sichern. Da wir diese Fähigkeit nicht nur nach alter philosophischer Tradition, sondern auch im heute noch gültigen alltäglichen Verständnis als „Vernunft" bezeichnen, ist es die Vernunft, die als Bedingung jeder Zwecksetzung überhaupt zu gelten hat. Ohne sie könnten wir weder Zwecke erkennen noch nach Zwecken handeln. Folglich hat sie als „Zweck an sich selbst" zu gelten. Fragen wir ferner welchen Sitz die Vernunft im Leben hat, bleibt am Ende nur der Mensch als dasjenige Wesen übrig, in dem sie ihren originären Anspruch erhebt. Weit davon entfernt, die anderen Lebewesen als unvernünftig zu bezeichnen, und nicht weniger weit davon entfernt, in der Vernunftfähigkeit eine metaphysische Auszeichnung zu vermuten, die den Menschen in einen höheren Seinsrang erhebt, ist die Vernunft die Fähigkeit, in der sich der Mensch biologisch komplettiert um sich damit kulturell zum Menschen zu machen. Das heißt: Wenn er Mensch sein und bleiben möchte, muss er sich seiner Vernunft bedienen. Wenn aber diese Vernunft als Selbstzweck zu gelten hat, dann ist auch der Mensch als Zweck an sich selber ausgezeichnet. Denn der Mensch, so unvollkommen er sein mag, ist Träger dieser Vernunft. Also gilt, was Kant über die „Moralität" behauptet: Sie ist die „Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann". Der Mensch hat die Vernunft nur, insofern er als Individuum zur menschlichen Kultur gehört. Also hat er sie als eminentes Merkmal der Menschheit an sich selbst zu sichern. Diese Sicherung der Vernunft aber ist in die Verantwortung eines jeden einzelnen Menschen gestellt. Folglich hat er die Menschheit tatsächlich „in seiner Person" zu sichern. Es ist somit nichts anderes als die Wahrung des Selbstzwecks, die in der Würde des Menschen zum Ausdruck kommt. Mit und in ihr besteht ein existenzieller Anspruch, dem sich kein Individuum, das Wert auf seine Eigenständigkeit legt, entziehen kann. Durch diese Überlegung ist kenntlich gemacht, dass Kants Wendung zum Menschen in seiner praktischen Philosophie eine existenzielle Bedeutung gewinnt. Der Individualist, Prinzipialist und Universalist ist immer auch ein Existenzialist. Darin wird er allererst ein Humanist. Kant Individualismus, sein Prinzipialismus, Universalismus und Existenzialismus muss daher - ganz gleich, was Sartre darunter verstanden haben mag - als Humanismus begriffen werden.
MARGIT RUFFING
Inwiefern Philosophie per se praktisch ist Versuch einer Antwort im Ausgang von Kant
Das von Immanuel Kant zum Wahlspruch der Aufklärung erhobene „Sapere aude!" ist dieses nicht nur durch die Forderung nach Wissen, ausgedrückt in der syntaktischen Vorrangstellung des sapere, sondern es lässt sich auch als Symptom einer Polarisierung des Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses des Vernunftwesens Mensch auffassen, die sich mehr oder weniger vordergründig in allen Kantischen Schriften findet. Denn der zweite Teil des Terms besteht aus dem Imperativ „aude!", „wage es!", „habe Mut!", mit dem Kant die deutsche Version des Aufklärungsmottos beginnen lässt: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Es heißt ausdrücklich nicht: „Bediene dich deines eigenen Verstandes!", d. h. der eigentliche Imperativ betrifft nicht die Verstandestätigkeit selbst, wie man es von einem Wahlspruch der Aufklärung erwarten könnte, sondern es bedarf zunächst einer Ermutigung dazu. Mit anderen Worten: Es wird eine veränderte Einstellung des „Gemüts" vorausgesetzt und gefordert, bevor es zum „sapere" kommen kann, indem die - naturgegebene - Möglichkeit der Verstandestätigkeit realisiert wird. Ebenso wie jedem Menschen ein Verstand eignet, dessen er sich bedienen kann, scheint es also auch Widerstände - welcher Art diese sind, ist zunächst nicht relevant - dagegen zu geben, genau dies zu tun; Widerstände, die durch „Mut" zu überwinden sind. Zugespitzt könnte man formulieren, dass das Denken eine „mutige Gesinnung" 1 voraussetzt. Am Beginn des Erkenntnisprozesses steht demnach eine Entscheidung, nämlich die, das unmittelbar naheliegende, unreflektierte, bequeme Unmündigsein des Bewusstseins zu beenden aus dem Vertrauen auf das eigene Denkvermögen und der Autarkie des Willens heraus. Der Neigung zu „Faulheit und Feigheit" steht das „Selbstdenken" gegenüber 2 - dem naturhaften ungebildeten Bewusstsein des „Unmündigen" das Selbstverständnis des sich in der Reflexion verwirklichenden - „aufgeklärten" - Vernunftwesens. In diesem Zusammenhang kommt der Philosophie per se eine ausgezeichnete Bedeutung zu: Als Wissenschaft „von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" 3 erforscht sie letztlich die conditio humana als ganze, als Zusammenwirken von Vernunft, Wille und „Gemüt". Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, dass es Kant nicht um die Hegemonie des „inneren Sinnes", nicht um „Selbsterforschung" im psychologischen Sinne geht. Seine Reflexionen (und unsere daran anknüpfenden) sind dem Forschungsgebiet der empirischen
Das althochdeutsche muot akzentuiert die Bedeutung „Entschluss, Absicht", im Mhd. erweitert um „Gesinnung". 2
Immanuel Kant, Beantwortung
3
Ders., Kritik der reinen Vernunft, Β 866/A 838.
der Frage:
Was ist Aufklärung?,
A A VIII, A 481-482, 35f.
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Psychologie vorgeordnet. Insofern bleibt die Bedeutung der theoretischen Philosophie als Beantwortung der Frage nach den Fähigkeiten und Grenzen des Wissens unangetastet, mit der nach Kant das Philosophieren notwendig beginnt. Doch mit der gleichen Notwendigkeit führt der Vollzug der Vernunftkritik zum Primat des Praktischen. Die von Kant beschriebene Polarisierung des menschlichen Selbstverständnisses, die letztlich in der Auffassung vom Menschen als sinnliches Vernunftwesen, „Bürger zweier Welten", aufgeht, findet gewissermaßen unter werkhistorischem Aspekt eine Entsprechung darin, dass die Kritik der Vernunft in theoretischer Hinsicht zu der Einsicht in das eigene Unvermögen führt, in der transzendentalphilosophischen Reflexion dem Menschsein in seiner Totalität gerecht zu werden. Das (vorläufige) Ergebnis der kritischen Reflexion in theoretischer Hinsicht lautet demnach, dass der Endzweck der Vernunft im Praktischen zu suchen ist. Denn es ist das natürliche Anliegen der Vernunft überhaupt, aus dem Begreifen unseres Daseins in seiner physischen und metaphysischen Bedeutung unser Handeln zu bestimmen: Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes. In Ansehung aller drei ist das bloß spekulative Interesse der Vernunft nur sehr gering, [...]. Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, w a s z u t u n s e i , wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet. 4
Diese Einsicht in das finale Ausgerichtetsein des menschlichen Vernunftvermögens auf das moralische Handeln hat zur Folge, dass Kant sein kritisches Projekt um die Untersuchung der Vernunft in praktischer Hinsicht erweitert; die Kritik der praktischen Vernunft wiederum ergibt, dass der Gegensatz Vernunft - Natur (bzw. Pflicht - Neigung) auf einer höheren Ebene aufgehoben werden muss, weil die vernünftige Natur des Menschen auf diese Weise nicht angemessen aufgefasst werden kann. Für die Beantwortung der Frage, inwiefern wahre Philosophie - im Ausgang von Kant immer aus sich heraus praktisch ist und sein muss, wollen wir im Folgenden zwei Aspekte näher betrachten, die Kants „Lehre von der Kenntnis des Menschen" zuzuordnen sind, deren systematische Abfassung seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht darstellt, die sich in Konzeption und Durchführung elementar von der kritischen Philosophie unterscheidet, indem sie empirisch vorgeht und pragmatisch sein soll - und das heißt nichts anderes als „auf Nützlichkeit hin orientiert, auf praktisches Handeln gerichtet". Vorrangig geht es in dieser letzten Schrift Kants um die Anwendbarkeit der erlangten Kenntnis des Menschen auf die Lebenspraxis - nicht um die Bestimmung und Letztbegründung des Wissens um das Wesen des Menschen aus Prinzipien a priori. Es wird in zwei Teilen also die Rede sein von Kants Auffassung von der Unterweisung im Philosophieren (d. i. Selbstdenken) und seinen Ausführungen zur Charakterbildung. Während die erste den Praxisbezug im Ausgang von der Philosophie in ihrem Vollzug weitgehend unabhängig von ihrem Inhalt in den Blick nimmt, tragen die Passagen zum Charak-
4
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft: Methodenlehre, Des Kanons der reinen Vernunft Erster Abschnitt: Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft; hier: Β 826/A 798, Β 828/A 800-B 829/A 801.
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ter aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus der Fülle des empirischen Materials inhaltliche Belege für die praktische Relevanz des Philosophierens bei.
I. Kant stellt fest, dass es der Philosophie um das gehe, „was jedermann notwendig interessiert" (vgl. KrV, AA 03, 543); in der Einleitung in die Logik definiert er Philosophie als „Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft" (Einleitung in die Logik, AA 09, 23); im Kontext beider Zitate finden sich die berühmten Fragen „Was kann ich wissen?", „Was soll ich tun?", „Was darf ich hoffen?", „Was ist der Mensch?". Die Ergebnisse der Vernunftwissenschaft Philosophie, die im Idealfall als theoretisches System durchgeführt wird, das die Gesetze der Natur in eins bringt mit den Gesetzen der Freiheit, diese Ergebnisse oder Antworten auf die o. g. Fragen bedeuten in ihrer Anwendung den Fortschritt der Vernunft: insofern zielen sie immer schon auf das Praktische. Von denjenigen, die die Wissenschaft der Philosophie betreiben, heißt es: „Es kann sich überhaupt keiner einen Philosophen nennen, der nicht philosophiren kann. Philosophiren läßt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen" (AA 09, 25). Das bedeutet aber nichts anderes, als dass es in der Philosophie insgesamt (d. h. dem Schul- und dem Weltbegriff nach, die Kant deutlich differenziert) unabhängig von ihrem jeweiligen Gegenstand um die Tätigkeit, den Vollzug des Philosophierens geht, wogegen der Inhalt der Philosophie durch Erfahrung bedingt ist; insofern entspricht der „Skandal der Philosophie" der Natur der Sache. Darin liegt auch der Grund dafür, dass „Philosophie" im eigentlichen Sinne sich nicht lemen lässt: „sie [ist] noch nicht gegeben", stellt Kant lapidar fest. Die vorhandenen Systeme der Philosophie müssen vom Philosophie Betreibenden demnach „als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft [...] und als Objecte der Übung seines philosophischen Talents" angesehen werden (AA 09, 26). „Der wahre Philosoph muß [...] als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen" (ebd.). Der Begriff des Selbstdenkens wird in der Einleitung in die Logik folgendermaßen bestimmt: es findet nur dann statt, wenn es objektiv rational, d. .h. durch das Denken, also durch eigenen freien Vernunftgebrauch, hervorgebracht ist, und nicht subjektiv rational wie die empirisch begründete Einsicht; und nur wenn das der Fall ist, liegt philosophische Erkenntnis vor. Dabei kann es sich um Wissen handeln, das auch andere schon erworben haben oder erwerben können, der Wert des subjektiv rationalen Erkennens wird dadurch nicht beeinträchtigt. Philosophisches Wissen lässt sich nicht erwerben im Sinne von Eigentum oder patentieren wie eine Erfindung, sondern es entsteht und besteht im Vollzug der Reflexion selbst, mit Kant gesprochen: im „selbsteigenen Vernunftgebrauch". Es geht um ErKenntnis, nicht um Kenntnisse, den Inhalt oder Stoff, der dem Vernunftgebrauch gewissermaßen als Übungsmaterial dient. 5 In Was heißt: sich im Denken orientiren? findet sich eine weitere Definition des Selbstdenkens: Kant spricht der Vernunft als das, „was sie zum
5
Vgl. Immanuel Kant, Logik, AA 09, 26: „Wir werden also zum Behuf der Übung im Selbstdenken oder Philosophiren mehr auf die M e t h o d e unsers Vernunftgebrauchs zu sehen haben als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe gekommen sind."
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höchsten Gut auf Erden macht", das „Vorrecht" zu, „der letzte Probirstein der Wahrheit zu sein", und ergänzt in einer Anmerkung6: Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnißvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklärt ist.
„Aufklärung" ist demnach aufzufassen als Praktizieren des Grundsatzes selbsttätigen Urteilens auf der Basis des Selbstdenkens, nicht als das Sammeln, Verwalten und Vermitteln von Kenntnissen, sondern als praktischer Gebrauch des Erkenntnisvermögens. Es heißt in der gleichen Anmerkung weiter: Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich findet, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauches zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objectiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich blos der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjecten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.
Diese Passagen enthalten vier wesentliche Aussagen: (1.) Die Vernunft bietet die Möglichkeit, die Regeln des Denkens selbst - das Begründen von Annahmen oder Schließen aus Annahmen - zu reflektieren. Mit anderen Worten: es ist jedermann möglich, qua Vernunft jederzeit selbst zu denken, um selbsttätig Kriterien für Wahrheit zu suchen. (2.) Diese Möglichkeiten sind grundsätzlich zu nutzen: sie entsprechen „der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft", zudem handelt es sich bei der Maxime des Selbstdenkens um einen „negativen Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens", d. h. es geht nicht um Wissensinhalte, sondern um den von diesen unabhängigen (d. i. freien) Modus des Denkens. (3.) Auch ohne objektives Wissen über Begründungszusammenhänge ist die Beurteilung einer Annahme dahingehend möglich, ob sie „vernünftig" oder, als „Aberglaube" oder „Schwärmerei" erkannt, nicht länger haltbar ist. (4.) Die Reflexion auf den eigenen Vernunftgebrauch kann und soll Bestandteil der Erziehungjunger Menschen sein. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich in Bezug auf den Praxischarakter von Philosophie Folgendes: Die Verfasstheit der Vernunft ermöglicht nicht nur die Reflexion ihres eigenen Gebrauches (1.), sondern erfordert diese sogar grundsätzlich zur „Selbsterhaltung"; d. h. im Vollzug eines Denkens, dem nicht an Kenntnisreichtum, positivem Wissen, sondern an der Suche nach Wahrheitskriterien aus der Vernunft gelegen ist, ist sie sich gemäß (2.); es geht also unter (1.) und (2.) um die Optimierung der Nutzung natürlicher Kapazitäten des Menschseins, die zugleich die Erhaltung derselben bedingt, indem der bewusste Rückbezug 6
Immanuel Kant, Was heißt: sich im Denken orientiren? AA 08,146f.
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auf sich selbst (Re-Flexion der Vernunft) geregelt wird und nach Gesetzen und Grundsätzen geschieht. Ein derartiges Sich-Verstehen der Vernunft nennt Kant „aufgeklärt". Durch es wird ein Missbrauch dieser Kapazitäten (3.) vermieden („Aberglaube", „Schwärmerei"), der - so können wir ergänzen - dann erfolgt, wenn die Vernunft ihre eigenen Gesetze nicht kennt und nicht befolgt, die ihr mögliche Selbstregulierung oder Selbstgesetzgebung nicht realisiert wird. Die Situation des menschlichen Bewusstseins ist gekennzeichnet von der Entscheidung zum freien Vernunftgebrauch, d. h. einem Willensbeschluss, der sich als Maxime äußert und als solche das aktive Agieren (Selbstdenken) des Subjekts dauerhaft regelt. Der eigene, freie Vernunftgebrauch kann und muss aber auch gelehrt werden (4.) und lässt sich üben. Dazu bedarf es weniger umfangreicher spezifischer Kenntnisse, sondern eines subjektiv rationalen Erkennens; nicht das Ergebnis ist entscheidend für die Selbsterhaltung der Vernunft, sondern der Vollzug der Wissenssuche. Aus dieser Auffassung ergibt sich eine spezifische Didaktik, die „zetetische Methode", die von Kant in der Nachricht von den Vorlesungen im Winterhalbenjahre 1765/66 vorgestellt wird. 7 So verstanden bewirkt Philosophie, oder besser: Philosophieren, eine Veränderung im Selbstbewusstsein und Selbstverständnis dessen, der sie ausübt; sie bleibt dabei formal, es geht zunächst nicht um die äußerliche, inhaltlich bestimmbare „Tat", sondern die Realisierung der Spontaneität des subjektiven Erkenntnisvermögens Vernunft als selbstregulierendes, das zugleich gattungshaft und insofern allgemein ist. Praktisch ist zudem die didaktische Intention dieser Reflexion zur „Aufklärung" im Allgemeinen und in Bezug auf die akademische Ausbildung im Besonderen. 8 Was im zitierten Aufsatz über die Orientierung im Denken „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft" genannt wird, der Grundsatz des freien Vernunftgebrauchs, taucht als „Allgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrthums" in der Logik (AA 09, 57), als „Maximen des gemeinen Menschenverstandes" in der Kritik der Urteilskraft (AA 05,
An dieser Stelle sei auch hingewiesen auf den Aufsatz von Rudolf Malter, „Philosophieunterricht nach zetetischer Methode. Gedanken zur Didaktik der Philosophie im Ausgang von Kant", in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, Stuttgart, 3/1981, 63-87. Dass sich Kants Methodenbewusstsein Mitte der 1760er Jahre im Zuge seiner Lehrtätigkeit immer stärker ausprägt, belegt auch eine Passage aus einem Brief an J. H. Lambert vom 31. Dezember 1765: „[...] nach so mancherley Umkippungen, bey welchen ich jederzeit die Qvellen des Irrthums oder der Einsicht in der Art des Verfahrens suchte, [bin ich] endlich dahin gelangt, daß ich mich der Methode versichert halte, die man beobachten muß, wenn man demjenigen Blendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu seyn, aber eben so oft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstöhrende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt; weil gar kein gemeines Richtmaß da ist, ihre Bemühungen einstimmig zu machen." (AA 10, 55f.) Nach Ansicht von Traugott Weisskopf - unter Bezugnahme auf Friedrich Paulsen und Gerhard Lehmann - „leitete Kant durch seine pädagogische Intention, die er vornehmlich in seinen Vorlesungen zu verwirklichen trachtete, eine Entwicklung ein, welche den akademischen Unterricht grundlegend änderte. Obwohl einengende und demütigende Bestimmungen den Lehrbetrieb lenkten [...], gelang es Kant mit andern zusammen, dem entscheidenden, sowohl die Denkweise als auch die Institution der Universität revolutionierenden Prinzip [gemeint ist die libertas philosophandi, M.R.] zum Durchbruch zu verhelfen." Traugott Weiskopf, Immanuel Kant und die Pädagogik, Basel 1970, 109ff., hier 110. - Es sei an dieser Stelle noch auf eine aktuelle Veröffentlichung hingewiesen: Kants grundlegender Einflussnahme auf die Pädagogik bis in unsere Zeit, u. a. durch die von ihm erstmals vorgetragene Forderung, sie wissenschaftlich zu betreiben, war aus Anlass des 200. Todestages ein Symposion von Fachkollegen gewidmet, deren Beiträge als Bd. 6 der Reihe Systematische Pädagogik des Ergon-Verlages von Lutz Koch und Christian Schönherr unter dem Titel Kant - Pädagogik und Politik, Würzburg 2005, herausgegeben wurden.
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294) und als „Vorschrift", zu Weisheit zu gelangen, in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07, 200) auf. Dort werden drei aufeinander aufbauende Maximen angesprochen: Den Anfang macht das „Selbstdenken", das um die Regel ergänzt wird, sich denkend in den anderen, den Kommunikationspartner, hineinzuversetzen und dabei zugleich die Identität des Subjekts durch Eindeutigkeit des eigenen Denkens zu wahren. Diese Maximen, wie sie in der Anthropologie formuliert sind, führen zum zweiten Aspekt der Praxisrelevanz von Philosophie, in dem das Ziel des freien, selbständigen Vernunftgebrauchs - seine Vervollkommnung auf Weisheit hin, die der Wissenschaft als ihrem „Organ" Wert verleiht9 angegeben wird, und zugleich die Tugendpflicht der Selbstvervollkommnung in den Blick gerät: Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig-vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von Menschen gefordert; aber auch selbst dem mindesten Grade nach kann sie ein anderer ihm nicht eingießen, sondern er muß sie aus sich selbst herausbringen. Die Vorschrift, dazu zu gelangen, enthält drei dahin führende Maximen: 1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.
Philosophie ist nach Kant dem „Weltbegriff' nach Weisheitsforschung und -lehre, 10 und der Philosoph als professioneller Weisheitsforscher und -lehrer ist deshalb in besonderer Weise der „moralischen Selbsterkenntniß" verpflichtet, weil dieses „aller menschlichen Weisheit Anfang" ist. In § 14 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten heißt es „Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst": Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine Pflicht - dein Herz, - ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag. Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen vermag, ist aller menschlichen Weisheit Anfang. 11
Diese Passage lässt sich als Ergänzung und Spezifizierung des anfänglichen „Sapere aude!" auffassen, als die Anwendung der Erkenntnisvermögen auf das moralische Selbstverständnis des einzelnen, mit dem Ziel, nach „menschlicher Weisheit" zu streben, die im gleichen Kontext definiert wird als „Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck". Selbsterkenntnis, zumal wenn sie moralisch heißt, darf nach Kant nicht verwechselt werden mit einem - wir würden heute sagen: egozentrischen - „Beobachten seiner selbst", das „eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen [ist] [...] und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt". 12 Philosophie als „Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft" 13 hat vielmehr die Aufgabe, selbstdenkend das Menschsein in seiner überindividuellen Bedeutung zu begreifen und es zugleich dem Individuum im Ausgang von seiner je eigenen, gattungshaften Vernunft begreiflich zu machen. 9 10
11
Vgl. Immanuel Kant, Logik, AA 09, 24. Vgl. ebd.; s. auch ders., Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, AA 08,417. Ders., Metaphysik der Sitten, AA 06, 441.
12 13
Ders., Anthropologie, AA 07,132. Ders., Logik, AA 09, 24.
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Diese Aufgabe lässt sich als pädagogische fassen, das Selbstdenken anderer zu fördern sapere aude! - , als moralische der Weisheitsforschung und -lehre, und zuletzt pragmatisch im Sinne der Charakterbildung.
II. Die reine praktische Vernunft ist es nach Kant, die Moralität ermöglicht, indem sie es vermag, den menschlichen Willen zu einem guten zu bestimmen, wobei „Wille [...] ein Vermögen [ist], nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d. i. als gut, erkennt". 14 Die Bestimmung des Willens unabhängig von subjektiven Bedürfnissen und Neigungen aus dem Bewusstsein des Vernunftwesens „gesetzmäßig-vollkommen", d. h. ausnahmslos und bestmöglich, zu praktizieren, ist allerdings unrealistisch, bleibt Idee der Vernunft. Weisheit in ihrer Totalität ist demnach eine subjektiv nie erreichbare, empirisch nicht auszufüllende Vorstellung. 15 Doch als diese ist sie möglich und in ihrer Möglichkeit praktisch: jeder Mensch kann „sie aus sich selbst herausbringen", und er muss es, insofern sie sich nicht von außen „eingießen" lässt. Dazu bedarf es, wie oben ausgeführt, einer Entscheidung, nämlich der, Maximen zu fassen und zu befolgen; Maximen wiederum, handlungs- und zweckorientierte Grundsätze des Individuums, sind nicht in der Vernunft gegeben, sondern müssen willentlich hervorgebracht werden, was der „Denkungsart" des „vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens" Mensch entspricht. 16 Diese Denkungsart ist es, die den moralischen Charakter eines Menschen ausmacht: „Der Mann von Grundsätzen, von dem man sicher weiß, wessen man sich nicht etwa von seinem Instinkt, sondern von seinem Willen zu versehen hat, hat einen Charakter." 17 Die Bezeichnung „Charakter" wird, so Kant zu Beginn des 2. Teils der Anthropologie, „in zwiefacher Bedeutung" verwendet: der physischen mit unterschiedlichen Bestimmungen - jemand hat diesen oder jenen Charakter - oder der moralischen, um einen Menschen mit Grundsätzen zu bezeichnen; es heißt dann: jemand hat Charakter oder hat keinen. In diesem Sinne zeige „Charakter schlechthin oder Denkungsart" an, „was er [der Mensch] aus sich selbst zu machen bereit ist". 18 So erklärt sich auch, was zunächst paradox klingen mag: Nach Kant wird dieser Charakter, den einer „hat" oder „nicht hat", erworben. Erwerben bedeutet dabei allerdings nicht: nach und nach entwickeln. Es ist vielmehr die Rede von einer „Umwandlung", wobei sich der Zeitpunkt dieser Umwandlung im Bewusstsein als unvergesslicher Beginn einer neuen Epoche findet. Kant spricht sogar von „einer Art der Wiedergeburt". 1 9 Die Gründung des Charakters wird als den Menschen innerlich bewegendes, lebendiges Ereignis beschrieben. Diese „Revolution" geschieht „gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt". ,,[D]ie Gründung eines Charakters [...]", führt Kant weiter aus, „ist absolute Einheit des innern Prinzips des Lebenswandels überhaupt". 20 „Erziehung, Beispiele und Belehrung"
14
16 17 18 19 20
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 0 4 , 4 1 3 . Vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, AA 05, 194ff. Vgl. ders., Anthropologie, AA 07, 285. Ebd. Ebd. Ebd., 294f. Vgl. ebd.
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sind es, die auf diese radikale Weise, die den gesamten Menschen betrifft, „Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen [...] bewirken". In einer Nebenbemerkung stellt Kant die Vermutung an, dass die Philosophen daran Schuld tragen, dass es bei zahlreichen Menschen mit der Festigkeit des Charakters nicht weit her ist, und zwar „dadurch, dass sie diesen Begriff [Charakter, M. R.] noch nie abgesondert in ein gnugsam helles Licht gesetzt und die Tugend nur in Bruchstücken, aber nie ganz in ihrer schönen Gestalt vorstellig und für alle Menschen interessant zu machen gesucht haben." 21 Philosophische Charakterologie im Rahmen der Anthropologie gehört damit nach Kant zur praktischen Philosophie im engsten Sinne, ist philosophische Praxis. Das Philosophieren selbst wiederum ist Teil des Prozesses der inneren Vervollkommnung des Menschen, u. a. dadurch, dass zetetisches (forschendes, suchendes, fragendes „unfertiges") Philosophieren „demütig in der Selbstschätzung und bescheiden in der Schätzung anderer 22
[macht]". Für den Einzelnen bedeutet diese die möglichst vollständige Entwicklung seiner individuellen Anlagen, von denen die wichtigste in der Tat die Entfaltung der Denkspontaneität, des oberen Erkenntnisvermögens, zu sein scheint, weil die Vernunft es ist, die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist somit nicht nur als individuell-autonomer Vollzug gedacht, sondern verwirklicht das Menschsein, die Gattung selbst, im Individuum, das sich als unvollendetes, unvollkommenes Wesen erfährt, wobei Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbstvervollkommnung gattungshaft sind. Diese Haltung - „demütig in der Selbstschätzung und bescheiden in der Schätzung anderer" zu sein - relativiert ein (auch schon zu Kants Zeiten verbreitetes) aus Mangel an philosophischer Reflexion unterentwickeltes Selbstverständnis, das die Bedeutung der Individualität für das menschliche Dasein überschätzt. Abschließend lässt sich festhalten, dass Philosophie per se praktisch sein soll, indem sie zu verstehen und zu erklären versucht, warum wir wollen können müssen, was wir sollen. Im Anschluss an Kant zeigt sich das idealerweise darin, dass die professionell angeleitete Auseinandersetzung mit dem Philosophieren anderer als Grundlage des Selbstdenkens dient und gleichermaßen die eigenständige Reflexion des menschlichen Selbstverständnisses die Gesamtpersönlichkeit des Philosophierenden auf eine Weise beeinflusst, dass von ihm eine bestimmte innere Haltung eingenommen wird; diese schließt Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber ein sowie bescheidene Selbst- und Fremdeinschätzung. Festigt sich diese Denkungsart, gelingt auch das Erwerben von Charakter, was sich in konsequent verantwortungsbewusstem sittlichen Handeln als praktizierter Gesinnung ausdrückt. Das entscheidende Argument für die notwendige Praxisbezogenheit von Philosophie mag aber darin bestehen, dass nach Kants Auffassung Philosophie, wenn sie wahr ist, nichts anderes zum Endzweck haben kann als etwas, das auch ohne sie gilt - das durch sie gewissermaßen über schmale Pfade erreicht werden kann (die, von vielen beschritten, möglicherweise einmal zur „Heerstraße" werden können...), aber auch der „gemeinsten Menschenvernunft" zugänglich ist: „[...] da diesen [einen Charakter, M. R.] zu haben, das Minimum ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich aber auch das Maximum des inneren Werts (der Menschenwürde): so muß, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter zu haben), der gemeinsten Menschenvernunft möglich und dadurch dem größten Talent der Würde nach überlegen sein." 23 - Das lässt hoffen, noch 200 Jahre nach Kant.
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22
23
Ebd. Immanuel Kant, AA 15, 417. Ders., Anthropologie, AA 07, 295.
LUTZ BAUMANN
„Wohlleben und Tugend im Kampfe mit einander" Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Moralität bei Kant und Schiller
Ende des 18. Jahrhunderts bestand in Deutschland eine besondere Situation des philosophischen Denkens: Kant, der noch selbst Schriften verfasste und veröffentlichte, sah sich mit den Werken seiner Schüler und Nachfolger konfrontiert. So konnte er seinerseits auf die Rezeption und Fortentwicklung seines Denkens im frühen deutschen Idealismus reagieren, was bis zum Ende der neunziger Jahre geschehen ist und mit der Erklärung gegen Fichtes Wissenschaftslehre seinen Abschluss fand. Die Vehemenz und Härte, mit der sich Kant dort gegen eine Lehre wendet, die er selber wohl eher oberflächlich kannte, ist erstaunlich. Es könnte sein, dass Kant sich in seiner öffentlichen Zurückweisung Fichtes weniger mit der Doktrin von dessen Wissenschaftslehre auseinandersetzt, als vielmehr mit einer Tendenz und einer Versuchung des philosophischen Denkens insgesamt, die somit auch in seinem eigenen Denken angelegt war. Das dogmatische Denken des deutschen Idealismus scheint für Kant eine dogmatische Ausführung der Versuchung des Hanges der Vernunft zu sein, von der sich Kant selbst bleibend affiziert sah. Diese dogmatische Versuchung hat vor allem die ethische Doktrin des Kant der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts geprägt. In den späteren ethischen Schriften, vornehmlich in der Metaphysik der Sitten und in der Anthropologie, ist es Kant dann darum gegangen, dieser Versuchung (die als solche nicht beseitigt werden kann, da sie das Geschehen der Vernunft als solcher ausmacht) zu widerstehen und sich dem unverstellten moralischen Selbstverständnis, über das jeder Mensch verfügt, in philosophischer Reflexion bzw. in Beobachtung zuzuwenden. Die ethische Doktrin vornehmlich der Kritik der praktischen Vernunft erscheint für den späten Kant als Verzerrung bzw. Verstellung des natürlichen sittlichen Empfindens, da in ihr eine philosophische Lehre propagiert wird, die die Neigung als dasjenige, worin sich dieses Empfinden vollzieht, vom sogenannten reinen moralischen Selbstverständnis, das sich aus Prinzipien zu begreifen habe, trennt. Das so verstandene Denken kann mit dem Empfinden nicht konform gehen, denn das philosophisch fundierte moralische Bewusstsein gründet, so der mittlere Kant, in einer unveränderlichen Zufriedenheit, und diese kann intellectuell heißen. Die ästhetische (die uneigentlich so genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen, so fein sie auch immer ausgeklügelt werden mögen, beruht, kann niemals dem, was man sich darüber denkt, adäquat sein. Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. (AA V, 117f.)
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Hierauf kann man direkt die Äußerungen Kants zum Wesen der Tugend, die sich in der Anthropologie finden, beziehen. Am Ende der Anthropologischen Didaktik, des Hauptteils der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, findet sich im § 88 das Schlusskapitel Von dem höchsten moralisch-physischen Gut, welches mit den Worten endet: „Der Purism des Cynikers und die Fleischestödtung des Anachoreten ohne gesellschaftliches Wohlleben sind verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend; sondern, von den Grazien verlassen, können sie auf Humanität nicht Anspruch machen." Nach dieser - die ganze kantische Moralphilosophie beschließenden - Stelle, hätte die Lehre der Kritik der praktischen Vernunft etwas Inhumanes an sich, das die menschliche Natur verzerrt. Zwar geht es dem kantischen kritischen Denken insgesamt um das reflektierende Begreifen der Welt in dem Sinne, dass sie, in reinem Begreifen, als die Manifestation sittlicher Bedeutung hervorgehe (in dieser Weise hat Fichte im Jahre 1798 von der Welt als dem „versinnlichten Materialen der Pflicht" gesprochen). Die Lehre, die sich in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft findet, ist dabei lediglich die dogmatische Durchführung dieses Anliegens, die in einer Art schwärmerischer Disziplin den intellektualistischen Purismus preist, der die Neigungen, dem Zyniker gleich, gering schätzt und sich über sie erhebt. Dies alles wandelt sich beim späteren Kant: In der Anthropologie kommt den Neigungen ein ganz anderer Stellenwert zu. Im Gegensatz zur Doktrin der Kritik der praktischen Vernunft, in der sie als das Wechselhafte nicht mit der in sich konstanten tugendhaften Gesinnung übereinkommen konnten, sind sie nun vielmehr das Element der Tugend, so dass es auch nicht mehr erforderlich ist, das Intellektuelle gegen das Sinnliche zu konzipieren.1 Neigung und Gesinnung meinen, in ihrer jeweiligen Teilhaftigkeit, dasselbe, Tugend und Wohlleben meinen ein moralisches Ganzes, das sich, in permanenter Anstrengung, als Bezeugen des unbezüglich Positiven realisiert: „Neigung zum Wohlleben und Tugend im Kampfe mit einander und Einschränkung des Princips der ersteren durch das der letzteren machen zusammenstoßend den ganzen Zweck des wohlgearteten, einem Theil nach sinnlichen, dem anderen aber moralisch intellectuellen Menschen aus" (AA VIII, 277). Nach dem späten Kant kommt es darauf an, den ganzen Zweck des Menschseins in der philosophischen Reflexion zu erfassen und ihn so Durchsichtigkeit gewinnen zu lassen. Das Sinnliche und das Intellektuelle sind dabei nur Teile eines Ganzen, das man am ehesten, so wie Kant dies an der aufgeführten Stelle nahe legt, durch Begriffe wie „Kraft" oder „Wille" kennzeichnet.2 Das Ganze des Menschseins, das Sinnlichkeit und Verstand ohne Unterscheidung umfasst, äußert sich unmittelbar in der Kraftanstrengung, die sich allein durch das Aufeinanderstoßen von Neigung und Tugend realisieren kann. Kampf und Einschränkung sind die unmittelbare Äußerung des unbedingten Willens, als der sich das „wohlgeartete Menschsein" realisiert. Das Unstete, Wechselhafte der Neigungen, das Kant noch in der Kritik der praktischen Vernunft
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Auf folgende Stelle aus den Ästhetischen Briefen hat Kant im opus postumum Bezug genommen: „Aller Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muss der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine Intelligenz in ihm ewig ist. [...] Nur durch die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur Erscheinung." (Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung, Stuttgart 2000,11. Brief, 44). Vgl. hierzu Schillers 19. Brief (den Kant teilweise in das opus postumum übertragen hat), a. a. O., 76f.: „Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beiden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beide Triebe existiren und wirken zwar in ihm, aber Er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft [...] Der Wille ist es also, der sich gegen beide Triebe als eine Macht (als Grund der Wirklichkeit) verhält [...]."
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gänzlich dem (bloß im philosophischen Nachsinnen so vorkommenden) reinen intellektualen Selbstverständnis entgegengesetzt hatte, erscheint so selbst als die Weise, in der sich - in Entgegensetzung und Anstrengung - die unbedingte moralische Kraft äußert und gestaltet. Weder Sinnlichkeit noch Moralität (oder, wie Schiller es sagt, weder Stofftrieb noch Formtrieb) bestehen für sich, sondern beide sind nur Weisen der als Selbstdarstellung geschehenden unbedingten und unbezüglichen Notwendigkeit. Der späte Kant hebt jede faktische Gültigkeit (sei es die der für sich genommenen Neigungen oder die des als Faktum der Vernunft behaupteten Moralgesetzes) auf, wodurch die sinnliche Welt, ganz im Sinne Schillers, den Charakter des bloßen Scheins gewinnt, sie scheint bloßes Vehikel des Moralischen zu sein. Auf Grund dieser Verbindung und Vereinigung von sinnlichem Sein und moralischer Bedeutung aus dem Ganzen des Menschseins heraus gewinnt das physische Dasein der Welt selbst sittlichen Charakter (Kant hatte in der Vorrede zur Anthropologie darauf hingewiesen, dass sich die Welt totaliter aus dem Menschsein verstehen müsse), wozu dann auch der gegebene bedürftige Leib und die diese Bedürftigkeit befriedigenden Speisen gehören. Das wohlgeartete Menschsein, in dem Tugend und Wohlleben (im bleibenden Kampfe miteinander) übereinkommen, geschieht derart als Geselligkeit und Gespräch: „so muß diese kleine Tischgesellschaft nicht sowohl die leibliche Befriedigung — die ein jeder auch für sich allein haben kann, — sondern das gesellige Vergnügen, wozu jene nur das Vehikel zu sein scheinen muß, zur Absicht haben" (AA VIII, 278). Für das transzendentale Denken des deutschen Idealismus hingegen ist es, in der Nachfolge Kants, insgesamt bezeichnend, dass innerhalb der unbezüglichen Notwendigkeit des Wissens und Erkennens die Welt auf faktische Weise vorkommt. Geselligkeit und Gespräch, ja das wohlgeartete Menschsein als solches, gehen daher im faktischen Weiterfahren unter. Das Wissen selber wird zum Faktum, stellt sich als Wissen faktisch dar. Dies war so bei Kant, selbst in der mittleren Phase, in der sich das philosophische Denken als Prinzipienlehre faktisch realisiert, nicht der Fall, denn das unbezügliche Wesen des Wissens und Erkennens galt als solches und bediente sich der Methoden des faktischen Auffassens von Gegebenheiten, seien es solche sinnlicher oder moralisch-gesetzmäßiger Art, lediglich zu seiner Darstellung. Trotz dieser unangemessenen Selbstdarstellung verbleibt das Wissen im Denken Kants stets in seiner Autonomie. Daher kann beispielsweise die Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft darauf hinweisen, dass es doch gar nicht so sehr die Lehre sei, sondern vielmehr das Gespräch über ethische Probleme und das natürliche Interesse an moralischen Fragestellungen, so wie es ganz unmittelbar bei jungen Menschen vorkommt, was den moralischen Impetus der Vernunft als solcher ausmache. Im deutschen Idealismus hingegen gibt sich das unbedingte moralische Selbstverständnis ganz in das faktische Weltverstehen hinein, in die Einsamkeit und in das Unglück des faktischen Erfahrens. Vor diesem Hintergrund sieht Kant in Fichtes Wissenschaftslehre die Bedrohung, dass sich in ihr das Denken der Kritik auf eine Weise weiterentwickelt, in der es von der Unabhängigkeit und Freiheit des Urteilens abrückt und sich, im Geschehen der Reflexion selber, ganz in ein mit unbedingtem Pathos versehenes begriffliches Erfassen unbedingter Tatsachen bindet, das die unbezügliche Bedeutung des Anschauens, so wie es in der „Transzendentalen Ästhetik" der Lehre der gesamten Kritik der reinen Vernunft zugrunde lag, gänzlich verlieren muss. Das Denken Schillers hingegen wird von Kant ausdrücklich gelobt. So bezieht er sich, in einer Fußnote der zweiten Auflage seiner Religionsschrift, direkt auf Anmut und Würde. Zwar geht auch Schiller vom faktischen Vorhandensein einer im Wissen gegebenen Welt aus - so ist der „sinnliche Trieb" oder der „Stofftrieb" in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen der Ausgangspunkt für das ästhetische Verständnis - , doch die faktisch begriffene Welt ist, insofern sie der Ort des Schönen ist, als das Geschehen bloßen Scheins verstan-
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den. Wirkliches und Scheinhaftes kommen letztlich nicht nebeneinander vor, vielmehr führt, so Schiller, die in sich vollendete ästhetische Kultur auf ein totales Weltverstehen, auf ein Verständnis des Lebendigen selbst, im Sinne des Spieles oder des Scheins hin: [...] dem reinen ästhetischen Gefühl [...] darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen; aber freilich erfordert es noch einen ungleich höheren Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu entbehren, (a .a. O., 111)
Das Faktum gilt dem wahren Verständnis nicht als solches, es wird vielmehr in den Schein überhöht, der auf diese Weise das die ganze Realität umfassende Wesen der Dinge ausmacht. Nur das beschränkte Auffassen von Vorhandenem, auch wenn sich dieses - wie in Fichtes Lehre - als höchste Wissenschaft gerieren sollte, setzt in das faktisch Vorliegende als solches einen Wert: „Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen, und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind" (a. a. 0., 107f). In Kants Philosophie hat sich das Denken, bei aller doktrinalen Verzerrung, doch auch vom Dogmatismus frei erhalten. Dies zeigt zum einen das Verständnis des Gesprächs bereits in der „Methodenlehre" der Kritik der praktischen Vernunft, zum anderen die Weiterentwicklung der Lehre in den Schriften der neunziger Jahre, in denen das bloß verständige Begreifen zwar nicht gänzlich aufgegeben, ihm aber der das natürliche Empfinden verstellende Charakter genommen ist. Ein scheinbar für sich gültiges, bloß verständiges Begreifen der Wirklichkeit prägt noch Kants ethische Doktrin der achtziger Jahre: das faktisch vorkommende Individuum prüft danach seine Maxime dahingehend, ob sie das allgemeine Gesetz ausdrücken könne. Kant selbst hat aber diese Dogmen, so wie sie sich in der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten finden, nur über einen relativ kurzen Zeitraum vertreten (Umso verwunderlicher ist es, dass gerade diese Positionen gemeinhin als Kern der kantischen Tugendlehre angesehen werden). In seinen späteren moralphilosophischen Werken ist er gar nicht mehr auf sie zurückgekommen, denn es geht dem transzendentalen Denken gerade um die Übereinkunft von Sinnlichkeit und Verstand, so wie sie sich im täglichen Leben völlig selbstverständlich vollzieht. Das oben zitierte Beispiel der guten Mahlzeit in guter Gesellschaft belegt, dass die Übereinkunft von Sinnlichkeit und Verstand die gelebte Realität jedes Menschen ist, in der Sinnlichkeit und Verstand auf ästhetische Weise verschmelzen. In der bereits erwähnten Fußnote in der zweiten Auflage der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) bezieht sich Kant daher in dem Sinne auf Schiller, dass er sich dessen ästhetischem Verständnis der moralischen Natur des Menschen vorbehaltlos anschließt: Herr Prof. Schiller mißbilligt in seiner mit Meisterhand verfaßten Abhandlung (Thalia 1793, 3tes Stück) über Anmuth und Würde in der Moral diese Vorstellungsart der Verbindlichkeit, als ob sie eine kartäuserartige Gemüthsstimmung bei sich führe; allein ich kann, da wir in den wichtigsten Principien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit statuiren, wenn wir uns nur unter einander verständlich machen können. (AA VI, 23)
Kant stellt fest, dass Schillers Denken dem natürlichen sittlichen Gefühl des Menschen auf adäquate Weise Rechnung trägt, in dieser Zielsetzung sieht er sich mit Schiller in völliger Einigkeit. Es kommt lediglich noch darauf an, dieses Anliegen dem anderen und sich selbst verständlich zu machen. Kant sieht, dass Schiller zu einem ästhetischen Verstehen des moralischen Bewusstseins gelangt ist, öffnet sich auf diese Weise, was bei ihm sonst kaum der Fall war, dem wenigstens indirekten Dialog mit einem anderen Denker, und unterstreicht, dass die Verständigung über die Prinzipien des menschlichen Selbstverständnisses, die stets dieselben
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sind, das Eigentliche des philosophischen Denkens ausmacht. Kant ist mit der Doktrin der Kritik der praktischen Vernunft nicht zufrieden gewesen, die von einem einzelnen Philosophen vorgetragene Lehre kann dem, was die Vernunft meint, nicht entsprechen. In der solchermaßen in wissenschaftlichen Sätzen vorgetragenen Lehre hatte Kant in der Tat eine kartäuserartige Gemütstimmung beschworen, die sich sehr deutlich vom alltäglichen menschlichen Selbstverständnis entfernt. Am Ende der oben zitierten Fußnote kommt Kant in diesem Sinne darauf zu sprechen, dass das Moralische seine Vollendung notwendig auf ästhetische Weise erfährt. Dem moralischen Selbstverständnis, das sich aus dem kategorischen Imperativ ergibt, konnte es nur um die formale Gesetzmäßigkeit der Maxime gehen. Für den späteren Kant ist es hingegen die Maxime selber, die in ihrer inhaltlichen Beschaffenheit die Liebe zum Guten meint und dies in der fröhlichen Gemütsstimmung anzeigt: Fragt man nun: welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam das Temperament der Tugend, muthig, mithin fröhlich, oder ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen? so ist kaum eine Antwort nöthig. Die letztere sklavische Gemüthsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden, und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung, selbst in der Frömmigkeit, die nicht in der Selbstpeinigung des reuigen Sünders (welche sehr zweideutig ist und gemeiniglich nur innerer Vorwurf ist, wider die Klugheitsregel verstoßen zu haben), sondern im festen Vorsatz es künftig besser zu machen besteht, der, durch den guten Fortgang angefeuert, eine fröhliche Gemüthsstimmung bewirken muß, ohne welche man nie gewiß ist, das Gute auch lieb gewonnen, d. i. es in seine Maxime aufgenommen zu haben. (AA VI, 23f)
Die konsequente Durchführung und abschließende Formulierung dieses Denkens, das sich auf die gemeinhin anerkannten Prinzipien des sittlichen Selbstverständnisses erstreckt, findet sich in der Anthropologie, dem letzten Buch, das Kant selbst veröffentlicht hat. Darin ist die Nähe zu Schillers Gedanken, so wie sie sich vornehmlich in den Briefen über die ästhetische Erziehung finden, unübersehbar. Bereits im zweiten Buch der Anthropologie, das „Vom Gefühl der Lust und Unlust" handelt, geht Kant zur Betrachtung der Schönheit über, auf deren Weise sich das physische Leben, das wir anfänglich stets im Schmerz und im Getriebensein durchleben müssen (hiervon handelt Kant in der ersten Hälfte des zweiten Buchs der Anthropologischen Didaktik), in sich Schau, Ruhe, Verweilen meint. Durch das Erfahren der Schönheit, das auf Grund des Schmerzes möglich wird, gewinnt das Physische auf unmittelbar anschauliche Weise moralische Bedeutung. In der Schönheit, in deren Aufscheinen sich das Äußerliche als das Innere angibt, verliert die Welt auf die Weise des „schönen Scheins" den Charakter des faktisch Vorhandenen, sie wird - als Schein - als das angesehen, was sie der Sache nach ist, als ein bloßes Vehikel des Sittlichen. Auf ästhetische Weise gibt sich die Welt totaliter als das Geschehen sittlicher Bedeutung an, d. h. im reflektierenden Erfahren des Schönen findet, durch das Gefühl der Lust, das auf Gemeinschaft angelegte Menschsein seine Durchführung; Lust und Unlust sind als Gefühle der überindividuelle Vollzug von Urteilen; die Freiheit als solche wird gefühlsmäßig bekannt. Alle Doktrin, ζ. B. die Lehre, dass das moralische Gesetz mir meine Freiheit kenntlich macht, etc., ist aufgegeben, und das gelebte Leben selbst wird als der in Gemeinschaft erfahrene Vollzug der Freiheit als Lust verstanden: „Er ist also ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurtheilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft. - Hier fühlt das Gemüth seine Freiheit im Spiele der Einbildungen (also der Sinnlichkeit); denn die Socialität mit andern Menschen setzt Freiheit voraus, - und dieses Gefühl ist Lust" (AA VIII, 241).
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Sinnlichkeit und Verstand vereinen sich in der Lust zu einem in sich geschlossenen Erleben im wahren Genuss, der - ohne Ekel und Überdruss, wovon Kant ansonsten hinsichtlich des Genusses oft spricht - beliebig häufig in Wohlgefallen fortgesetzt werden kann und soll. Das moralische Bewusstsem, so wie es das dritte Buch, Vom Begehrungsvermögen, präsentiert, baut auf diesem ästhetischen Empfinden auf und zeigt auf, dass das Moralische im Ästhetischen erfahrbar wird. Die Philosophie zielt, so Kant in seinem in der Anthropologie indirekt durchgeführten Dialog mit Schiller, auf Kommunikation und Verständigung der Menschen untereinander. Das Menschsein selbst, in seinem aktualen Vollzuge, ist diese Verständigung, die gesamte sinnliche Welterfahrung meint lediglich diese Verständigung. Dieses Ziel zu ergreifen, zu verstehen und zu befördern, ist Kant in der Doktrin der Kritik der praktischen Vernunft nicht auf eindeutige Weise gelungen; sie spricht in unbeugsamer Strenge vom moralischen Selbstverständnis des isolierten Individuums, das sich in keiner positiven Beziehung zu den Neigungen und Bedürfnissen (die zudem noch häufig als egoistische Anwandlungen des Individuums vorgestellt werden) befindet und diese daher gegebenenfalls auch bezwingen und negieren muss. Allerdings geht Kant dann in der „Methodenlehre" zu der für das moralische Selbstverständnis jedes Menschen zentralen Bedeutung des Gesprächs über. Der berühmte kantische Rigorismus, dessen Bedeutung bereits im weiteren Verlauf der Kritik der praktischen Vernunft relativiert wird, stellt lediglich eine kleine Facette der moralphilosophischen Position Kants dar. In seinen späteren Schriften kommt Kant darauf überhaupt nicht mehr zurück. Bereits in der Metaphysik der Sitten (1797) hatte er gezeigt, dass unser Leben auf die Vereinigung von Liebe und Achtung in der Freundschaft ausgelegt ist. Die Anthropologie unterstreicht, dass im geselligen Beisammensein von Menschen, die im Idealfall auch miteinander befreundet sind, das höchste moralisch-physische Gut während einer guten Mahlzeit in guter Gesellschaft statthat. Unser Leben bleibt stets Unruhe, Schmerz und Kampf. Auch insofern es den ganzen letzten Zweck des Daseins im höchsten moralisch-physischen Gut realisiert, können wir uns daher niemals sicher sein, dem unbedingten Anspruch dieses Guts wirklich gerecht geworden zu sein. In unserem Leben, das sich anfänglich in Unklarheit, Unruhe und Haltlosigkeit vollzieht, ist die Harmonie bzw. Identität von sinnlicher und vernünftiger Natur nicht eindeutig mitgegeben, vielmehr stoßen Tugend und Wohlleben aufeinander; sie zu vereinen bleibt ständige Aufgabe und Aufforderung, hinsichtlich ihrer Realisierung kann es keine schematische Vorschrift, auch keine ethische Anweisung, geben. Das vernünftige Weltwesen muss sich daher ständig bemühen, in der konkreten Situation, je nach Eigenart der versammelten Menschen und ihrer Ansprüche und Bedürfnisse, das Moralische im Sinnlichen zu ergreifen. Der Mensch darf sich niemals mit Vorgaben, die etwa regeln, wie das gesellige Miteinander ablaufen solle, zufrieden geben. Hierbei ist es völlig gleich, ob er sich diese Regeln und Normen selbst zurechtgelegt hat oder ob es sich um gesellschaftliche Konventionen handelt. Diese müssen vielmehr, so Kant, „durch gegenwirkende Mittel (reagentia)" zersetzt werden, damit man in Bezug auf Tugend und Wohlleben ständig neu sehen kann, welches die „Elemente und die Proportion ihrer Verbindung ist, die, mit einander vereinigt, den Genuß einer gesitteten Glückseligkeit verschaffen können." So geht gegen Ende der Anthropologie das sich in der Beobachtung gestaltende Leben als ein bloßes Sichereignen von Schein hervor. Durch die Mahlzeit in Gesellschaft wird das menschliche Leben in das Sichereignen des Wortes als Scheinen gehoben. Insofern es reiner Schein ist, vollzieht es sich im Gespräch, und als Gespräch in Form der Anwesenheit des Wortes. Insofern ist jede in Gemeinschaft verbrachte Mahlzeit heilig, sie bewahrt diese Heiligkeit, die ständig vom Verrat bedroht ist, in der Pflicht der Verschwiegenheit:
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Es versteht sich hiebei von selbst, daß in allen Tischgesellschaften, selbst denen an einer Wirthstafel das, was daselbst von einem indiscreten Tischgenossen zum Nachtheil eines Abwesenden öffentlich gesprochen wird, dennoch nicht zum Gebrauch außer dieser Gesellschaft gehöre und nachgeplaudert werden dürfe. Denn ein jedes Symposium hat auch ohne einen besonderen dazu getroffenen Vertrag eine gewisse Heiligkeit und Pflicht zur Verschwiegenheit bei sich in Ansehung dessen, was dem Mitgenossen der Tischgesellschaft nachher Ungelegenheit außer derselben verursachen könnte: weil ohne dieses Vertrauen das der moralischen Cultur selbst so zuträgliche Vergnügen in Gesellschaft und selbst diese Gesellschaft zu genießen vernichtet werden würde. (AA VIII, 279)
Auf diese Weise, dass nämlich jede Mahlzeit, die als sinnlich-ästhetisches Ereignis im Gespräch der Vollzug moralischer Bedeutung ist, in der Heiligkeit und im Worte geschieht und so das Gedächtnis des Herrn meint, spricht Kant in seiner Anthropologie lediglich vom höchsten physischen und vom höchsten moralisch-physischen Gute. Das moralische Gut alleine, die reine Tugend, gibt es gar nicht, dies kommt allenfalls in der philosophischen Doktrin der Kritik der praktischen Vernunft, die uns den kategorischen Imperativ lehrt, vor. Im Leben des Menschen spielt dies keine Rolle. Deswegen findet der Philosoph in der Beobachtung das Reinmoralische nicht und kann insofern von ihm nicht sprechen. Es sind die Gesetze der verfeinerten, wohlgearteten Menschheit, die das Sinnliche und das Intellektuale zusammenfassen und die so das Menschsein, im geselligen, kommunikativen Umgange mit anderen, erst in seiner umfassenden, sinnlich-vernünftigen Bedeutung hervorgehen lassen: So unbedeutend diese Gesetze der verfeinerten Menschheit auch scheinen mögen, vornehmlich wenn man sie mit dem reinmoralischen vergleicht, so ist doch Alles, was Geselligkeit befördert, wenn es auch nur in gefallenden Maximen oder Manieren bestände, ein die Tugend vortheilhaft kleidendes Gewand, welches der letzteren auch in emsthafter Rücksicht zu empfehlen ist. (AA VIII, 282)
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Die Möglichkeit der Erfahrung bei Maimon und Schulze
Der Streit um das richtige Verständnis der Kritik der reinen Vernunft reicht von der GarveFederschen Rezension dieses Buches im Januar 1782 bis auf den heutigen Tag. Schon im August 1783 spricht Kant in einem Brief an Johann Schultz von der „Kränkung", die es für ihn bedeute, „fast von niemand verstanden worden zu sein" (AA Χ, 3501). Auf die Frage, „welcher unter den Streitern wohl meine Schriften, wenigstens die Hauptpunkte derselben, wirklich versteht, wie ich solche verstanden wissen will" (AA XII, 367), hat denn auch Kant im Mai 1797 geantwortet, es sei eben jener Johann Schultz, der Verfasser der Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft, deren zwei Bände 1789 und 1792 erschienen waren. Seitdem hat dieser Streit nicht aufgehört, und auch heute noch besteht ein großer Teil der unübersehbaren Kant-Literatur aus Auseinandersetzungen darüber, wie die in jenem Buche dargestellte Philosophie dem Buchstaben und dem Geiste nach zu verstehen sei. Die Beschäftigung mit den erhaltenen Zeugnissen der frühen Kant-Rezeption durch die Philosophen seiner Zeit, für die Kant seine Schriften publizierte und deren Urteil ihm keineswegs gleichgültig war, ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Zum einen sehen wir daraus, dass Kant durch die Neuigkeit dessen, was er vortrug, sein Publikum enorm überforderte. Die Wirkungsgeschichte insbesondere der Kritik der reinen Vernunft ist deshalb die Geschichte ihrer Missverständnisse. Andererseits haben die philosophischen Zeitgenossen Kants oft Kritik an seinem Werk geübt, die auf Probleme hinwies, die wirklich in ihm vorhanden sind und die nicht aus der Unfähigkeit seiner Leser resultierten, sich seiner Lehre zu bemächtigen. In vielen Fällen ist aber beides zugleich der Fall, und es ist die Aufgabe der heutigen Interpreten der Texte aus jener Zeit, über die historische Bedeutung der damaligen Kontroversen hinaus die Rezeption und Kritik Kants auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen und damit die eigene Fähigkeit zu einem adäquaten Verständnis der Kantischen Texte unter Beweis zu stellen. Ich will das an einem Thema versuchen, das auch in der heutigen Kant-Literatur vielfach diskutiert wird, nämlich der Frage nach der Bedeutung und der Funktion der „Möglichkeit der Erfahrung" in der ersten Kritik. Dabei gehe ich von den beiden Kant-Kritikern aus, die sich um das Jahr 1790 auf unterschiedliche, ja entgegengesetzte Weise zum Skeptizismus bekannten und Kants Kritizismus für durch diesen widerlegt hielten: Salomon Maimon und Gottlob Ernst Schulze.
Ich zitiere Kant nach der Akademie-Ausgabe, Kant's Gesammelte Schriften, hg. von der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. (AA) unter Angabe vom römischer Band- und arabischer Seitenzahl. Die Kritik der reinen Vernunft zitiere ich nach der Paginierung der ersten bzw. zweiten Auflage (A/B).
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I. Jeder Kant-Leser kennt die vielzitierten Worte aus der Α-Deduktion der Kategorien und dem Kapitel über den ersten Grundsatz aller synthetischen Urteile: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (A 111, cf. A 158/B 197). Dieser Satz ist für Kant eine analytische Trivialität. Denn wenn Gegenstände als Gegenstände der Erfahrung definiert werden, dann müssen die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen derjenigen Gegenstände sein, die nur relativ auf solche Erfahrung gedacht werden, im Übrigen aber unbestimmt bleiben. Gleichwohl hat man oft in diesem Satz den Ausdruck der sogenannten ,kopernikanischen Wende' Kants gesehen. In gewisser Hinsicht ist das richtig. Denn ebenso wie der Begriff der Erscheinung als eines Gegenstandes der Sinne implizit eine Relation auf die Beschaffenheit und Funktionsweise dieser Sinne enthält und insofern den Gegenstand von ihnen abhängig macht, ist ein Erfahrungsgegenstand als solcher von den sinnlichen Bedingungen des Zustandekommens der Erfahrung abhängig. Aber die Behauptung der Abhängigkeit der Gegenstände von Begriffen und Urteilen a priori im Denken und Erkennen der Gegenstände geht weit darüber hinaus. Die empirische Erkenntnis der Gegenstände kann nur dann einen konstitutiven Beitrag zur Möglichkeit dieser Gegenstände leisten, wenn diese Gegenstände in ihrer Gegenständlichkeit vom Denken und Erkennen des Subjekts abhängig sind. Die ,kopernikanische Wende' ist also gleichbedeutend mit einer ontologischen These, nämlich der, dass etwas nur dadurch ein möglicher Gegenstand der Erkenntnis für mich ist, dass es durch gewisse Begriffe des Verstandes gedacht und als Fall eines streng allgemeinen Naturgesetzes erkannt wird. Die Kantischen Kategorien sind demnach insofern transzendentale Bestimmungen der Gegenstände im Sinne der scholastischen Tradition, i. e. Bestimmungen, die einem jeden Gegenstand qua Gegenstand zukommen, als sie es ermöglichen, einen Gegenstand als Gegenstand, und das heißt jetzt als unterschieden von seinen im Subjekt liegenden Vorstellungen, zu denken oder zu erkennen. Da aber eine solche Abhängigkeit von Gegenständen vom menschlichen Verstände nicht für von unserem Erkenntnisvermögen ganz unabhängige Dinge an sich selbst gedacht werden kann, gilt sie nur für Erscheinungen des äußeren und des inneren Sinnes, die zugleich begrifflich bestimmt werden können, i. e. für Gegenstände möglicher Erfahrung. Maimons Interpretation der Kantischen Transzendentalphilosophie lässt sich am einfachsten einer Stelle aus seinem ersten Brief an Reinhold entnehmen: Kant legt in seiner Philosophie die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zum Grunde. Die Prinzipien der Transzendentalphilosophie haben nur als Bedingungen des Erfahrungsgebrauchs ihre Realität. Er setzt also Erfahrung als Faktum voraus. Ein Skeptiker aber, der Erfahrung selbst in Zweifel zieht, wird auch die Realität dieser Prinzipien bezweifeln.
Die hier genannten „Prinzipien" sind die Kantischen Kategorien und Grundsätze, die Maimon in einer für ihn charakteristischen Weise nicht unterscheidet. Da das Problem der objektiven Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze das Problem der Rechtmäßigkeit ihres Gebrauches ist, die bei Kant einer Deduktion bedarf, spricht Maimon in Übereinstimmung mit Kant auch oft von der Beantwortung der Frage „Quid iuris?". Nach Maimon setzt die Beantwortung
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Salomon Maimon, Streitereien im Gebiete der Philosophie, in: ders., Gesammelte Valerio Verra, ND Hildesheim 1970, 213.
Werke, Bd. IV, hg. v.
DIE MÖGLICHKEIT DER ERFAHRUNG BEI MAIMON UND SCHULZE
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dieser Frage die Lösung eines anderen Problems voraus, das er durch die Frage „Quid facti?" ausgedrückt sieht. Das Faktum, von dem Kant nach Meinung Maimons ausgeht, ist die Tatsache, dass wir Kategorien wie die der Kausalität in der Alltagserfahrung und der empirischen Wissenschaft gebrauchen. Gemäß der in den Prolegomena gemachten Unterscheidung der empirischen Urteile in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile enthalten Erfahrungsurteile als objektiv gültige Urteile Allgemeinheit und Notwendigkeit, sie implizieren also über die wiederholte Wahrnehmung ähnlicher Fälle hinaus eine notwendige Verknüpfung des Wahrgenommenen. Maimon sagt über die Verknüpfung der beiden oben genannten Fragen: „Herr Kant setzt das Faktum als unbezweifelt voraus, dass wir nämlich Erfahrungssätze (die Notwendigkeit ausdrücken) haben, und beweiset hernach ihre [der Kategorien, Μ. B.] objektive Gültigkeit daraus, dass er zeigt, dass ohne dieselbe Erfahrung unmöglich wäre; nun ist aber Erfahrung möglich, weil sie nach seiner Voraussetzung wirklich ist, folglich haben diese Begriffe objektive Realität. Ich hingegen bezweifle das Faktum selbst, dass wir nämlich Erfahrungssätze haben, daher kann ich ihre objektive Gültigkeit auf diese Art nicht beweisen." 3 Maimon lässt Kant also wie folgt schließen: Die Möglichkeit der Erfahrung folgt aus ihrer Wirklichkeit. Das bedeutet, dass wir faktisch über eine Menge von Erfahrungssätzen verfügen, die eine notwendige Verknüpfung zwischen den „in Wahrnehmung gegebenen Subjekten und Prädikaten enthalten. Zum Beispiel das Feuer erwärmt den Körper" (Versuch, 5). Da diese wirklichen Erfahrungserkenntnisse zu ihrer Möglichkeit der Kategorien bedürfen, um die in diesen Sätzen enthaltene Notwendigkeit zu begründen, ist die objektive Gültigkeit bzw. Realität der Kategorien durch die faktische Gültigkeit der entsprechenden Erfahrungssätze mitgesetzt. Maimon hält die Frage „Quid facti?" auch deshalb für sehr wichtig für die Deduktion der Kategorien, weil durch die Wirklichkeit der besonderen Erfahrungen nicht nur die objektive Gültigkeit der Kategorien, sondern auch ihre „vollständige Aufzählung" (Versuch, 71) begründet wird. Das würde bedeuten, dass Kant nach Maimon sich der Vollständigkeit seiner Kategorientafel dadurch hätte versichern können, dass er alle im Verstände liegenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung aufgesucht hätte. Was bedeutet nun Maimons Zweifel am Faktum der Erfahrung? Statt der objektive Notwendigkeit ausdrückenden Erfahrungsurteile verfugen wir nach Maimon nur über „bloß subjektive (aus Gewohnheit notwendig gewordene)" Urteile (Versuch, 184), i. e. über Wahrnehmungsurteile im Sinne Kants, die Maimon aber in ihrem Zustandekommen gemäß der Analyse Humes versteht. Diese durch Induktion verallgemeinerten Wahrnehmungsurteile enthalten allerdings weder eine notwendige Verknüpfung von Wahrnehmungen noch setzen sie sie voraus. Da sie aber die einzigen empirischen Urteile sind, über die wir faktisch verfügen, kann Erfahrung im objektiven Sinne Kants keine Faktizität beanspruchen. So ist die Realität des Gebrauchs der Kausalitätskategorie in Wahrheit kein unbezweifelbares Faktum. „Wir sagen z. B. das Feuer erwärmt (macht warm) den Stein, welches nicht bloß die Wahrnehmung der Folge zweier Erscheinungen in der Zeit sondern die Notwendigkeit dieser Folge bedeutet." Das spricht dafür, dass der Gebrauch der Kategorie bei wirklichen Gegenständen ein Faktum ist. „Hierauf aber würde David Hume antworten: Es ist nicht wahr, dass ich hier eine nothwendige Folge wahrnehme; ich bediene mich zwar bei dieser Gelegenheit desselben Ausdrucks, dessen sich andere bedienen, allein ich verstehe darunter bloß die von mir so oft wahr-
Salomon Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie. Mit einem Anhang über die symbolische Erkenntnis und Anmerkungen, Berlin 1790, Darmstadt 1963, 163 (im Folgenden im Text zitiert als Versuch).
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genommene Folge der Erwärmung des Steins auf die Gegenwart des Feuers, nicht aber die Nothwendigkeit dieser Folge. Es ist bloß eine Association der Wahrnehmungen, aber kein Verstandesurteil" (Versuch, 72f.). Gibt es aber solche Erfahrungssätze im Sinne Kants nicht, so entfällt auch die Basis für die Deduktion der Kategorien. Aus dieser Argumentation ist leicht zu ersehen, wie Maimon seine Kant-Interpretation gewinnt: Er nimmt Kants metaphysische Deduktion der Kategorien nicht ernst. Insbesondere glaubt er, dass die Kausalitätskategorie schon deshalb nicht aus der logischen Form des hypothetischen Urteils abgeleitet werden kann, weil diese eigentlich nicht in die formale Logik gehöre, sondern aus dem „Gebrauche bei wirklichen Gegen-ständen abstrahirt, und in die Logik übertragen" (Versuch, 72) worden sei. Ferner beruht Maimons Argumentation auf der Darstellung des Deduktionsproblems in Kants Prolegomena, die nach analytischer Methode verfasst ist und von dem Faktum der reinen Naturwissenschaft und der reinen Mathematik ausgehend regressiv nach deren Möglichkeitsbedingungen fragt. In Anlehnung an die Prolegomena unterscheidet Maimon auch nicht zwischen den völlig verschiedenen Argumentationen in der Deduktion der Kategorien und in den Beweisen der transzendentalen Grundsätze. Schließlich fällt auf, dass der bei Kant zentrale Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption bei Maimon keine Rolle spielt, ja nicht einmal vorkommt. Ich habe mich im Vorstehenden vorwiegend an die ersten beiden Abschnitte des Versuchs über die Transzendentalphilosophie von 1790 gehalten, in dem Maimon seine Interpretation und Kritik der Kantischen transzendentalen Deduktion der Kategorien und Grundsätze zuerst dargelegt hat (die er in seinen späteren Schriften wiederholte und ausarbeitete), weil sie Kant im Manuskript vorlagen und er sich dazu geäußert hat. Bevor ich auf diese Antwort Kants eingehe, wende ich mich dem von Maimon erhobenen Zirkelvorwurf zu, durch den er das vermeintliche Scheitern der Kantischen Lehre von der objektiven Gültigkeit der Kategorien kennzeichnet. Im Philosophischen Wörterbuch von 1791 redet Maimon die Kantianer an: „Letztlich begehen Sie [...] einen Zirkel im Erklären, indem Sie diese Formen [die Kategorien, Μ. B.] als nothwendige Bedingungen der Erfahrung, welche Sie als Faktum voraussetzen, denken, und wiederum die Erfahrung als Faktum voraussetzen, damit Sie die Realität dieser Formen beweisen können."4 Der „Zirkel im Erklären", von dem Maimon hier spricht, besteht also darin, dass die faktische Erfahrung durch die Kategorien als ihrer notwendigen Bedingungen erklärt wird, aber andererseits die objektive Gültigkeit dieser Kategorien durch die faktische Erfahrung begründet wird. Es ist allerdings auch möglich, dass „Realität" an der zitierten Stelle nicht die objektive Gültigkeit der Kategorien bedeutet, sondern ihr Vorhandensein im Gemüt, das sich nach Maimon auch anders, nämlich durch das Gesetz der Ideenassoziation, erklären lässt. Aber auch in diesem Falle hätten wir einen Zirkel: Kategorien erklären Erfahrung, und Erfahrung erklärt die Kategorien. Wäre der Zirkel, der hier den „Kantianern" vorgeworfen wird, in der Kritik der reinen Vernunft wirklich zu finden, so wäre der Kantische Beweisanspruch ad absurdum geführt. In Wahrheit findet sich der Zirkel aber nur in der Maimon'schen Rekonstruktion des Kantischen Gedankenganges. Eine eindeutige Formulierung des Zirkelvorwurfs findet sich in der Schrift Über die Progressen der Philosophie von 1793. Dort heißt es: „Die kritische Philosophie kann also [...] nichts mehr thun, als zeigen, dass zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, in dem Sinne[,] worin sie das Wort Erfahrung nimmt, allgemeine synthetische Grundsätze (ζ. B. Alles hat seine Ursachen u. d. g.) und hinwiederum zur Realität (Beziehung auf ein Objekt) dieser
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Salomon Maimon, Philosophisches Wörterbuch oder Beleuchtung der wichtigsten Gegenstände der Philosophie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. III, hg. v. Valerio Verra, ND Hildesheim 1970,48.
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D I E MÖGLICHKEIT DER ERFAHRUNG BEI M A I M O N UND SCHULZE
Grundsätze, Erfahrung als Factum vorausgesetzt werden müsse. D. h. sie muß sich im beständigen Zirkel herumdrehen." 5 Hier hat Maimon eine entscheidende Veränderung am Zirkelvorwurf vorgenommen. Die Grundsätze sind jetzt notwendige Bedingungen der „Möglichkeit der Erfahrung" in dem gekennzeichneten starken Sinne, in dem sie sich von Wahrnehmung unterscheidet. Umgekehrt ist die Wirklichkeit der Erfahrung notwendige Bedingung der objektiven Realität, d. h. der Wahrheit der Grundsätze. Auch in dieser Beschreibung eines Zirkels in der wechselseitigen Begründung von Erfahrung und transzendentalen Grundsätzen wird von der Herkunft des Kausalbegriffs aus der hypothetischen Urteilsform der reinen Logik völlig abgesehen und andererseits nicht erkennbar, dass Kant nirgends die Möglichkeit der Erfahrung aus ihrer Wirklichkeit gewinnt. Erst wenn er dies täte, entstünde von dieser Seite her der genannte Zirkel. Insbesondere gibt es bei Kant nicht die Erfahrung, dass es Erfahrung gibt. Aus dem Brief Kants vom Mai 1789, der die Antwort auf die im Versuch gestellten Fragen Maimons enthält, geht auch hervor, woher Kants Möglichkeit der Erfahrung ihrerseits ihren Ursprung und ihre Notwendigkeit hat. Auf die Frage Maimons nach der Rechtmäßigkeit der Annahme einer Zusammenstimmung des Mannigfaltigen der (reinen oder empirischen) Anschauungen mit dem Denken und Erkennen des Verstandes, wie sie in der Möglichkeit oder sogar schon im Begriff der Erfahrung gedacht wird, gibt Kant die Antwort, dass die Möglichkeit einer solchen Zusammenstimmung nicht a priori eingesehen werden könne. Gäbe es aber eine solche Übereinstimmung nicht, so würden alle Sinnesdaten „niemals Objekte vorstellen, ja nicht einmal zu derjenigen Einheit des Bewußtseins gelangen, die zur Erkenntnis meiner selbst (als Objekt des inneren Sinnes) erforderlich ist. Ich würde gar nicht einmal wissen können, daß ich sie habe, folglich würden sie für mich, als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts sein" (AA XI, 52). Die a priori unerklärliche Zusammenstimmung ist also eine notwendige Bedingung von empirischer Selbsterkenntnis und empirischem Selbstbewusstsein. Um vermittelst der empirischen Anschauungen der Sinne, also durch Wahrnehmung, ein Objekt vorzustellen, ist das Bewusstsein der Einheit dieser sinnlichen Vorstellungen erforderlich. Eine solche Beziehung des Wahrnehmungsmannigfaltigen „auf die Einheit der Vorstellung ihres Objekts" ist nur „vermittelst der synthetischen Einheit ihrer Apperzeption" möglich (ebd.). Nur dadurch kann ich empirisch etwas Objektives einschließlich meines eigenen Zustandes erkennen. Diese Erkenntnis ist aber die Erfahrung. Die Möglichkeit der Objekterkenntnis vermittelst der Wahrnehmung ist also gleichbedeutend mit der Möglichkeit, mir meiner durch Verbindung meiner bewussten Vorstellungen als desselben Subjekts bewusst zu werden. Die Möglichkeit der äußeren oder inneren Erfahrung wird sogar durch die Möglichkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption notwendig gemacht. Denn „die synthetische Einheit der Apperzeption, durch welche allein das Mannigfaltige der Anschauung f...] in ein vereinigtes Bewußtsein, zur Vorstellung eines Objekts überhaupt" gebracht werden kann (AA XI, 50), ist ihrerseits etwas notwendig Mögliches. Wird aber der der synthetischen Einheit der Apperzeption korrespondierende Begriff eines Objekts überhaupt durch das Mannigfaltige der empirischen und bewussten Anschauung, also der Wahrnehmung, bestimmt, so nennen wir diese Art der empirischen Objekterkenntnis Erfahrung. Die Möglichkeit der Erfahrung ist also ebenso notwendig wie die Möglichkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption und steht deshalb vor aller wirklichen Erfahrung fest. Maimons Versuch, die Möglichkeit der Erfahrung auf ein Faktum zu gründen, steht also im Widerspruch zur Kritik der reinen Vernunft.
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Salomon Maimon, „Über die Progressen der Philosophie", in: ders., Streitereien,
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Π. Die Schrift Aenesidemus von Gottlob Ernst Schulze aus dem Jahre 1792 ist größtenteils eine Kritik an Reinholds Elementarphilosophie, aber sie enthält auch eine Auseinandersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft, die allein uns hier interessieren soll. Als „Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik" scheint sie zunächst dasselbe Resultat zu haben wie Maimons Kritik an Kant. Aber Maimon hat ausdrücklich erklärt, dass er „den Skepticismus des Aenesidemus [...] für vernunftwidrig und ungegründet"6 halte. In der Tat begründet Schulze seinen Skeptizismus auf eine dem Rationalismus Maimons ganz entgegengesetzte Weise, bei der der Empirismus Lockes und vor allem Thomas Reids als Vorbild gedient hat. Beide Kritiker Kants berufen sich allerdings auf den erneuerten Pyrrhonismus David Humes. Nach Schulze kann ein System der Philosophie nur auf „die Erkenntnis des Ursprungs der Vorstellungen a priori und a posteriori" gegründet werden.7 Aus diesem Grunde ist also zunächst die Frage zu beantworten: „Ob eine Erkenntnis des Ursprungs unserer Vorstellungen a priori und a posteriori überall möglich sei" (ebd.). Muss man nun bezweifeln, dass diese Frage schon beantwortet ist, so sind alle Versuche, ein System der Philosophie zu errichten, vorerst sinnlos. Die kritische Philosophie habe nun eine bejahende Antwort auf diese Frage gegeben und zudem behauptet, „dass sowohl in unserer Erkenntnis etwas a priori und durch das Gemüt Bestimmtes vorkomme, als dass auch dieses a priori Bestimmte die Form des a posteriori gegebenen Stoffes unserer Erkenntnis ausmache" (Ae, 95). Bei der Prüfung dieser Behauptung auf ihre Begründetheit sei insbesondere darauf zu achten, ob die kritische Philosophie die Forderungen des Humeschen Skeptizismus erfüllt und seine Fragen „bezüglich der Gewißheit und des Gebrauchs des Satzes vom zureichenden Grunde und der Möglichkeit eines Überganges von den Vorstellungen in uns auf das Dasein und die positiven und negativen Beschaffenheiten der außer uns befindlich sein sollenden Dinge" (ebd.) befriedigend beantwortet seien. Insbesondere sei also zu fragen, ob die Gründe hinreichend sind, aus denen Kant „das Dasein gewisser Formen unserer Erkenntnis a priori zu erweisen sucht" (ebd.). Die Kantische Begründung erfolgt nun nach Aenesidemus in folgenden Schritten: (1) (2)
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η
Es ist eine unabdingbare Tatsache, dass der Mensch Erfahrungserkenntnis besitzt. Diese Erfahrungserkenntnis besteht „aus Anschauungen und Urteilen, oder aus solchen Wahrnehmungen, die in einer notwendig bestimmten, gesetzmäßigen und unabänderlichen Verbindung mit einander stehen". Die notwendigen synthetischen Urteile, die einen der Bestandteile unserer wirklichen Kenntnis ausmachen, können ihren Grund „nicht in der Erfahrung und außer uns" haben, denn die Erfahrung kann uns nicht lehren, „daß etwas notwendig und allgemein immer so sei, als wie es von uns wahrgenommen wird."
Salomon Maimon, Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. Nebst angehängten Briefen des Philaletes an Aenesidemus, Berlin 1794, ND Berlin 1912,268. Gottlob Ernst Schulze, Aenesidemus oder Uber die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie, Berlin 1911, 56. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt nach der Paginierung der Originalausgabe von 1792 (im Folgenden im Text zitiert als Ae).
DIE MÖGLICHKEIT DER ERFAHRUNG BEI MAIMON UND SCHULZE
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Also muss der Grand dieser Urteile „in uns selbst, und in den Grundbestimmungen unseres Gemüts enthalten sein. [...] Die notwendigen und schlechterdings gemeingültigen synthetischen Urteile sind also Urteile a priori, die von aller Erfahrung unabhängig in uns da sind" (Ae, 121-124). Diese Urteile „enthalten die Form der wirklichen Erkenntnis empirischer Gegenstände, die durch unser Gemüt bestimmt ist" (Ae, 125).
Schulze fasst die Ergebnisse dieser Herleitung und damit Kants Theorie der Möglichkeit der Erfahrung so zusammen: „Die Erfahrung wird selbst erst durch die Gesetze der Möglichkeit einer Erfahrung, die in uns enthalten sind, bestimmt" (ebd.). Diese formale Bestimmung einer wirklichen Erfahrung durch die Gesetze ihrer Möglichkeit sieht im Falle der Kategorie der Ursache so aus: Wir haben einen Begriff von einer Verknüpfung der Vorstellungen in unserem Verstände, und zwar in Urteilen überhaupt, und dieser Begriff besagt für uns: „Daß Vorstellungen in einer besonderen Art Urteilen als Grund in Beziehung auf eine Folge gehören, und [wir] sehen nicht allein die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, alle Erscheinungen unter den Begriff der Ursache zu subsumieren, d. i. ihn zum Grundsatz der Möglichkeit der Erfahrung zu gebrauchen, vollkommen ein" (Ae, 128). Indem Schulze die Kategorie der Ursache so zu einem subjektiv notwendigen Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung macht, nimmt er diese Kategorie als etwas faktisch in uns Vorhandenes an, wobei es unklar bleibt, ob dieser Verstandesbegriff nur ein Begriff von einer Urteilsform, nämlich einer bestimmten Verknüpfung von Begriffen in hypothetischen Urteilen, oder ein Begriff von Gegenständen einer gegebenen sinnlichen Anschauung ist. Es ist auch nicht klar, warum Kant nach Schulze behaupten sollte, „wir sehen die Notwendigkeit, alle Erscheinungen unter den Begriff der Ursache zu subsumieren, [...] vollkommen ein". Ferner wird nicht zwischen dem Begriff der Ursache und dem Grundsatz der Kausalität sowie zwischen Deduktion und Beweis beider unterschieden. Schließlich wird nicht gesagt, inwiefern durch die Subsumtion der Erscheinungen unter den Begriff der Ursache die Möglichkeit der Erfahrung begründet werden soll. Trotz dieser eklatanten Mängel in der Wiedergabe der Kantischen Gedankengänge ist das Ergebnis von Schulzes Bestimmung der Funktion des Kausalbegriffs nicht falsch: Der Begriff der Ursache „ist ein zur bloßen Form der Erfahrung, und zur Möglichkeit derselben, als einer synthetischen Vereinigung der Wahrnehmungen notwendig gehörender Begriff" (Ae, 128f.). Aber angesichts der folgenden Erläuterungen der Rolle, die Begriff und Grundsatz der Kausalität bei der Ermöglichung von Erfahrung spielen sollen, ist es sehr zweifelhaft, ob Schulzes Worten eine richtige Einsicht entspricht. Vom Grundsatz der Kausalität heißt es nämlich, er betreffe „die besondere Art der Verknüpfung des Daseins der Wahrnehmungen in einer Erfahrung. Er geht daher auch nicht auf die synthetische Einheit in der Verknüpfung der Dinge an sich selbst, sondern der Wahrnehmungen, und zwar [...] nicht in Ansehung ihres Inhalts, sondern der Zeitbestimmung [...] wenn die empirische Bestimmung der relativen Zeit objektiv giltig, mithin Erfahrung sein soll" (Ae, 130). Sonderbarerweise handelt diese Erläuterung des Kantischen Gedankengangs im Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung von einer Verknüpfung des Daseins der Wahrnehmungen statt des Wahrgenommenen, nämlich einer objektiven Veränderung unter den Erscheinungen. Um diese Ereignisse von den Dingen an sich und ihrer Verknüpfung zu unterscheiden, unterscheidet Schulze sie nicht von der subjektiven Folge der Wahrnehmungen im wahrnehmenden Subjekt. Also wird man annehmen müssen, dass auch die frühere Bestimmung des Begriffes der Ursache als zur Erfahrung als „synthetischer Vereinigung der Wahrnehmungen" notwendig gehörender Begriff so verstanden werden musste: Ursache ist ein Begriff, durch den Wahrnehmungen als in einer Erfahrung vereinigt gedacht werden. Dann aber ist der Begriff
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der Kausalität im Grundsatz der Kausalität in dem Sinne ein Prinzip der Ermöglichung der Erfahrung, dass ohne ihn keine objektiv gültige „empirische Bestimmung der relativen Zeit" im Dasein der Wahrnehmungen möglich ist. Auch hier bleibt zweideutig, ob es sich um eine Folge von Wahrnehmungen im wahrnehmenden Subjekt oder um ein objektives Ereignis, eine wahrgenommene Veränderung handelt, deren Erkenntnis vermittelst einer Wahrnehmungsfolge „Erfahrung" heißen muss. Der Begriff der Ursache ist nach alledem nicht der Begriff eines sinnlich angeschauten Objekts in seiner Verknüpfung mit anderen Objekten, sondern ein in dem Sinne zur Möglichkeit der Erfahrung als notwendige Bedingung gehöriger Begriff, als in ihm eine Wahrnehmungsverknüpfung als objektiv gültige Zeitfolge von Wahrnehmungen gedacht wird, die zusammen eine Erfahrung ausmachen. Es ist bei dieser Schulzeschen Interpretation des Beweisgangs der zweiten Analogie nicht zu übersehen, dass hier nicht die objektive Kausalbestimmtheit von Ereignissen in der Zeit gemeint sein kann; auch wird hier nicht erkennbar, was eine „objektiv gültige" „empirische Bestimmung der relativen Zeit" von Wahrnehmungen heißen soll. Man kann nur vermuten, dass es eine solche Bestimmung der Abfolge von Wahrnehmungen unter dem Gesichtspunkt des ,früher' und .später' bedeutet, die in allen wahrnehmenden Subjekten stattfindet. Diese Unklarheiten beruhen alle auf der Annahme, dass ein von der Wahrnehmung verschiedenes Objekt ein Ding an sich sein müsse, von dem das Kausalprinzip aber nicht gelten soll. Also kann das Kausalprinzip nur das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung als einer geregelten Folge von Wahrnehmungen im wahrnehmenden Subjekt selbst sein. Die Fehlerhaftigkeit dieser Kant-Interpretation steht außer Frage. Werfen wir, um das zu bestätigen, einen kurzen Blick auf das Kantische Original. Es handelt sich um die Stelle A 200f./B 245f. in der Kritik der reinen Vernunft, an der Kant seinen Beweis des Kausalprinzips, d. h. des Satzes vom zureichenden Grunde, in drei Sätzen kurz zusammenfasst: (1)
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„Dass [...] etwas geschieht, ist eine Wahrnehmung, die zu einer möglichen Erfahrung gehört, die dadurch wirklich wird, wenn ich die Erscheinung, ihrer Stelle nach, in der Zeit, als bestimmt, mithin als ein Objekt ansehe, welches nach einer Regel, im Zusammenhange der Wahrnehmungen jederzeit gefunden werden kann." Dieser erste Satz, die Minorprämisse des ganzen Syllogismus, besagt: Ich habe dann eine wirkliche Erfahrung von einem objektiven Ereignis, wenn ich es als etwas ansehen kann, das durch Wahrnehmung als etwas gefunden werden kann, das seiner Stelle in der Zeit nach bestimmt ist und das ich darum nach einer Regel im Zusammenhang meiner Wahrnehmungen von Objekten jederzeit finden kann. Dieses „Finden" eines objektiven Ereignisses nach einer Regel in einer wirklichen Erfahrung ist die Umschreibung für ein Experiment, durch das ich jederzeit beliebig vermittelst des Setzens eines Ereignisses ein darauf folgendes Ereignis herbeiführen könnte, das ich dann als ein von mir gesetztes Objekt wahrnähme. „Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendigerweise) folgt." Diese Majorprämisse enthält die Regel, nach welcher ich in der Wahrnehmung dasjenige Ereignis finde, welches in einer bestimmten Zeitordnung zu anderen Ereignissen steht, nämlich das, was immer das Folgende zu einem vorhergehenden Ereignis ist: die Wirkung einer Ursache. Nur dann sind meine Wahrnehmungen die Erfahrung eines objektiven Ereignisses, wenn dieses Ereignis auf andere Ereignisse notwendig folgt, in denen seine Ursache, die Bedingung seines notwendigen Erfolgens, enthalten ist.
DIE MÖGLICHKEIT DER ERFAHRUNG BEI MAIMON UND SCHULZE
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Conclusio: „Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund möglicher Erfahrung, nämlich der objektiven Erkenntnis der Erscheinungen, in Ansehung des Verhältnisses derselben in der Reihenfolge der Zeit." Damit ist gesagt: die Gültigkeit des Satzes vom Grund ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung als empirischer Erkenntnis von wahrgenommenen objektiven Ereignissen im Zeitverhältnis zu anderen Ereignissen im Unterschied zur bloß subjektiven und deshalb nur faktischen, d. h. zufälligen, Reihenfolge der Wahrnehmungen in mir.
Fasst man den Beweis noch einmal zusammen, so besagt er: Erfahrung von Ereignissen als Objekten der Wahrnehmung ist nur möglich, wenn diese Ereignisse als Wirkungen von vorhergehenden Ursachen angesehen werden können, d. h. wenn das Kausalprinzip von ihnen gilt. Der Beweis für die objektive Gültigkeit des Kausalprinzips besteht also in dem Nachweis, dass es eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist. Wenn Erfahrung von Ereignissen möglich sein soll, so müssen sie Wirkungen vorhergehender Ursachen sein. Hier wird also eine Verknüpfung im Objekt der Erfahrung dadurch bewiesen, dass ohne diese Verknüpfung keine Erfahrung dieses Objekts möglich wäre. Es versteht sich von selbst, dass dieser Beweis nur von Objekten möglicher Erfahrung, sofern Erfahrung von ihnen möglich ist, gelten kann. Dabei wird von dem trivialen Satz Gebrauch gemacht, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von Objekten zugleich die Bedingungen der Möglichkeit dieser Objekte selbst in ihrer Erfahrbarkeit sind. Es ist nahe liegend, hier den Einwand zu erheben, dass dieser ganze Beweis für die Gültigkeit des Kausalprinzips von Objekten von der Prämisse abhängt, dass Erfahrung von Ereignissen möglich ist, nicht aber, dass wir wirklich Erfahrung davon haben. Kann man mit Grund voraussetzen, dass Erfahrung von Ereignissen möglich ist? Wenn man dies nicht, unabhängig von diesem Beweis, mit Grund voraussetzen kann, dann ergibt sich in der Tat ein Zirkel in der Begründung der Gültigkeit des Kausalprinzips und damit auch der Kategorie der Kausalität, dem Schulze nur dadurch entgeht, dass er das Kausalprinzip nur als Bedingung der Umwandlung von subjektiver Wahrnehmung in ebenso subjektive Erfahrung missversteht. Lassen wir das auf sich beruhen und fragen wir uns, ob der Zirkel in der Kantischen Begründung wirklich besteht, wie es Maimon behauptet hatte. Dieser Zirkel hätte jetzt folgende Gestalt: Die objektive Gültigkeit des Kausalprinzips ist Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung (wie soeben gezeigt wurde); aber die Möglichkeit der Erfahrung ist zugleich die Bedingung der objektiven Gültigkeit des Kausalprinzips, denn ohne den Bezug auf die Möglichkeit der Erfahrung lässt sich das Kausalprinzip als von Objekten gültige Erkenntnis gar nicht beweisen. Dieser Bezug ist der einer notwendigen Bedingung. Lässt sich das Kausalprinzip nur als solche notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung beweisen, die ihrerseits von seiner Gültigkeit abhängt, so haben wir nur eine wechselseitige Abhängigkeit. Wer die Gültigkeit der Erfahrung bestreitet, bestreitet zugleich die Gültigkeit des Kausalprinzips (siehe Maimon), und wer die objektive Gültigkeit des Kausalprinzips bestreitet, wie Hume, muss dann auch die objektive Gültigkeit von Erfahrung bestreiten (siehe wiederum Maimon unter Berufung auf Hume). Diesem Zirkel kann man nur dadurch entgehen, dass man die Möglichkeit der Erfahrung ganz unabhängig von der Gültigkeit des Kausalprinzips beweist, so dass man sich beim Beweis des Kausalprinzips darauf berufen kann, dass Erfahrung möglich sein muss. Nur wenn ein solcher Beweis schon vorliegt, kann man beim Beweis des Kausalprinzips von der allgemeinen Möglichkeit der Erfahrung als etwas Notwendigem ausgehen und dann den Beweis dadurch führen, dass man zeigt, dass die Gültigkeit des Kausalprinzips eine notwendige Bedingung für eine spezielle Art von Erfahrungen, nämlich die von Ereignissen, ist. Wenn Erfahrung überhaupt notwendig möglich ist, so ist auch die notwendige Bedingung erfüllt,
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unter der sie (in diesem besonderen Fall) möglich ist. Ist aber die Gültigkeit des Kausalprinzips eine solche notwendige Bedingung, so ist sie damit bewiesen. Kant begeht insofern keinen Zirkel in der Begründung des Kausalprinzips, als er die allgemeine Möglichkeit der Erfahrung in der transzendentalen Deduktion der Kategorien ganz unabhängig vom Kausalprinzip aus Gründen a priori beweist. Er zeigt dort, dass die Kategorien die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Aber diese Möglichkeit der Erfahrung ist durch Kategorien nur insofern begründet, als diese Kategorien diejenige objektive synthetische Einheit der Apperzeption enthalten, die um der analytischen Einheit des Selbstbewusstseins willen notwendig ist. Da aber die analytische Einheit der Apperzeption notwendig möglich ist, ist auch Erfahrung, d. h. empirische Erkenntnis von Objekten einer sinnlichen Anschauung, vermittelst der Kategorien notwendig möglich. Die Einheit des Selbstbewusstseins ist also der letzte Grund der objektiven Gültigkeit der Kategorien, inklusive der Kategorie der Kausalität. Nur weil ohne diese Gültigkeit der Kategorien von Erscheinungen keine objektive synthetische Einheit der Apperzeption eben dieser Erscheinungen möglich ist, gelten diese Kategorien von ihren empirisch gegebenen und als Objekte gedachten Objekten, d. h. von den Objekten einer möglichen Erfahrung und nur von diesen als solchen. Kehren wir zum Schluss zu Schulze zurück. Er will zeigen, dass Humes Skeptizismus durch die Vernunftkritik nicht widerlegt worden ist. Das gilt auch für Kants Erklärung der Möglichkeit der Erfahrung, die Schulze anhand des Begriffs und Grundsatzes der Kausalität analysiert hat. Dabei war eine Unklarheit hinsichtlich der Art und Weise, wie das Kausalprinzip nach Schulzes Verständnis Kants die Erfahrung möglich machen soll, übrig geblieben. Diese Unklarheit findet nun ihrerseits ihre Erklärung in den Ausführungen, die Schulze über Kants angebliche Begründung aller notwendigen synthetischen Urteile macht. Nach Schulze hat Kant die Lösung für das allgemeine Problem, „Wie notwendige synthetische Urteile in uns möglich sind?" nur dadurch gefunden, „daß er den Grundsatz der Kausalität auf gewisse Urteile, die nach der Erfahrung in uns da sind, anwendet; diese Urteile unter den Begriff der Wirkung von Etwas subsumiert; und dieser Subsumtion gemäß das Gemüt für die wirkende Ursache derselben annimmt und ausgibt" (Ae, 137). Demnach haben wir eine innere Erfahrung von in uns vorhandenen notwendigen synthetischen Urteilen, und Kant erklärt deren Existenz als Wirkung einer Ursache namens „Gemüt". Da nun diese notwendigen synthetischen Urteile, wie ζ. B. das Kausalprinzip, „aus dem Gemüte und aus dem inneren Quell des Vorstellens herrühren und sich doch auf Gegenstände beziehen, schließt [Kant], daß diese Urteile nur die Form der Erfahrungserkenntnis ausmachen und erst durch Anwendung auf empirische Wahrnehmung eine Bedeutung erhalten" (Ae, 137f.). Die Erklärung der Existenz und objektiven Gültigkeit des Kausalprinzips und seiner Rolle bei der Ermöglichung der Erfahrung soll also in der Anwendung des Kausalprinzips auf das Gemüt und seine Inhalte bestehen, so dass das Kausalprinzip selber eine Wirkung des Gemüts als seiner Ursache ist. Es versteht sich von selbst, dass Hume sich durch einen solchen unkritischen Gebrauch des von ihm in seiner Gültigkeit gerade bezweifelten Prinzips nicht widerlegt sehen kann. „Hume würde also von dem Verfasser der Vernunftkritik fordern, ihm erst Rede und Antwort darüber zu geben, mit welchem Rechte bei der Grundlegung der kritischen Philosophie eine Anwendung vom Satze der Kausalität gemacht worden sei, und wie diese Philosophie [...] dazu komme, eine Begebenheit, nämlich das Dasein der notwendigen synthetischen Sätze in uns, für die Wirkung von einer davon verschiedenen Ursache [...] zu halten" (Ae, 138). Es ist nach dieser Art der Kant-Kritik mit Hilfe Humes und der darin enthaltenen Verteidigung des Skeptizismus sehr verständlich, dass Maimon urteilte: „Ich halte [...] den Skepticismus des Aenesidemus [...] für vernunftwidrig und ungegründet" (ebd.).
PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
Sprachkritik bei Kant, Hegel und Nietzsche
Üblicherweise wird die traditionelle Philosophie Kants oder Hegels der modernen sprachkritischen Philosophie nach Nietzsche, Frege und Wittgenstein gegenübergestellt. Aus der Sicht dieses linguistic turn der Philosophie wurde das begriffliche Denken zuvor angeblich generell mentalistisch missverstanden. Eine Erinnerung daran, dass die Rolle der Sprache für das Denken schon seit der Aufklärung, ja seit Piaton, im Zentrum philosophischer Reflexion steht, ist daher immer wieder nötig.
1. Kant Es wird in der gegenwärtigen Philosophie die Sprachbezogenheit von Kants transzendentallogischer Deduktion bzw. Begründung der Basiskategorien objektiven Erfahrungswissens in der Kritik der reinen Vernunft generell übersehen. Kant geht nämlich aus von entsprechenden Ausdrucks- und Urteilsformen: der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen („N ist P"), inklusive der Prädikatverneinung(en) („nicht-F'), den implikativen, konjunktiven und disjunktiven Satzverknüpfungen (ausgedrückt durch „wenn p, dann q", „p und q" und „p oder q") und den performativen Modi der Behauptung, Möglichkeitserwägung und begrifflichen Notwendigkeit („es ist so", „es ist möglicherweise so", „es ist notwendigerweise so"). Da eine Analyse der Urteilsformen, Kategorien und Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft hier zu weit führen würde, beschränke ich mich auf allgemeinere Kommentare Kants zur Sprachabhängigkeit des Denkens, und zwar in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Zunächst geht es Kant um die Aufdeckung einer Täuschung, die uns dazu verführt, den Tod zu fürchten: Das Sterben kann kein Mensch an sich selbst erfahren (denn eine Erfahrung zu machen, dazu gehört Leben), sondern nur an andern wahrnehmen. [...] Die allen Menschen [...] natürliche Furcht vor dem Tod ist [...] nicht ein Grauen vor dem Sterben, sondern, wie Montaigne richtig sagt, vor dem Gedanken gestorben (d. i. tot) zu sein; den also der Kandidat des Todes nach dem Sterben noch zu haben vermeint, indem er das Kadaver, was nicht mehr er selbst ist, doch als sich selbst im düstem Grabe, oder irgend sonst wo denkt. - Die Täuschung ist hier nicht zu heben; denn sie liegt in der Natur des Denkens, als eines Sprechens zu und von sich selbst. Der Gedanke: ich bin nicht, kann gar nicht existieren; denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin. Ich kann wohl sagen ich bin nicht gesund, u. d. g. Praedicata von mir selbst
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PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
verneinend denken (wie es bei allen Verbis geschieht); aber in der ersten Person sprechend das Subjekt selbst verneinen ist ein Widerspruch.
Diese Ausführungen erscheinen auf den ersten Blick als widersprüchlich. Kant sagt nämlich, die Furcht vor dem Tod sei natürlich und die Täuschung nicht zu beheben, denn sie liege in der Natur des Denkens. Doch gerade indem er die Furcht vor dem Tod als Fehlschluss aus unserer Art zu sprechen aufweist, hebt er die Täuschung auf und zeigt, wie der Schlussfehler vermeidbar ist, wenn man mit Piaton oder Hobbes2 das Denken sprachkritisch als ein stilles Reden mit sich selbst deutet. Offenbar gibt es eine leise Ironie im Text, die es dem Leser überlässt, durch eigenes Nachdenken Anspielungen auf uns Menschen als Sterbliche oder Argumentskizzen zu ergänzen und dadurch scheinbare Widersprüche selbständig aufzuheben. Allerdings macht Kant selbst auf den zentralen Punkt aufmerksam, nämlich die Zeitdifferenz zwischen dem, was wir je heute denken und sagen, und dem, was dann sein wird. Heute mag ich mir vorstellen, wie ich tot im düsteren Grabe liegen werde. Aber wenn ich wirklich tot bin und mich dann dort oder sonst wo befinde, gibt es mich im relevanten Sinn nicht mehr. Die scheinbar nicht behebbare Täuschung liegt damit an einer Art der doppelten Bedeutung des Wortes „ich" im letzten Satz. Denn wenn ich nicht lebendig begraben werde, was die Ärzte verhüten mögen, liege ich, wie schon Sokrates ironisch bemerkt,3 nur als toter Körper im Grabe, nicht als bewusste Person, die dann noch sagen oder denken könnte „ich liege im Grabe und bin tot". Damit ergänzt Kant die Überlegung Montaignes - der übrigens, obwohl längst tot, bei Kant sein Argument im Präsens vorbringen darf - durch eine etwas verdrehte Überlegung des ebenfalls toten, hier aber sinnigerweise überhaupt nicht erwähnten Descartes, indem er sagt, der Gedanke, ich bin nicht, könne nicht existieren. Kant unterstellt damit, dass „ich bin tot" im Wesentlichen dasselbe sagt wie „ich existiere nicht". Das kann man nur denken bzw. sagen, solange man lebt. Aber dann ist der Gedanke immer falsch. D. h. der Gedanke ,ich bin tot' bzw. ,ich existiere nicht' im Präsens existiert in dem Sinn nicht, als er nie wahr sein kann. Denn er präsupponiert einen Sprecher, ein sprechendes Ich oder Subjekt, das sich seiner selbst bewusst ist und daher (noch) existieren muss. Hieran lässt sich unmittelbar Kants sprachkritische Entdeckung anschließen, dass das Ich kein Begriff und die Existenz kein Prädikat ist. Mit der letzten Einsicht hatte er den ontologischen Gottesbeweis des Descartes und des Anselm von Canterbury widerlegt, nämlich so: Aus dem Gedanken, dass Gott das vollkommenste Wesen sei, folgt die Existenz Gottes deswegen nicht, weil die Existenz keine Eigenschaft in einer Liste von Vollkommenheitseigenschaften ist. Vielmehr wird in jedem Satz der Form „N hat die Eigenschaft E" die Existenz oder das Sein von Ν schon präsupponiert - was im Grunde schon Parmenides sieht, der in seinem Lehrgedicht dem Hörer einschärft, dass das, was es nicht gibt, nicht gesagt oder benannt werden darf, wenn man Fehlschlüsse wegen nicht erfüllter Präsuppositionen vermeiden will. So jedenfalls lässt sich Parmenides lesen.4 Man kann daher zwar aus einem objektbezogenen Satz der Form A(N) die Existenz von Ν schließen, aber eben nur in dem Sinn, als diese mit A(N) schon vorausgesetzt, präsupponiert, unterstellt wird und eben daher nicht durch
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Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (=Anthropologie) A 76/B 68, Werke hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, 465; Akademieausgabe (=Ak) 166 f. Vgl. Piaton, Theaitetos, 189e; Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 4-6. Piaton, Phaidon, 115d, e. Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, "The Way of Truth: Parmenides' Seminal Reflection on Logic, Semantics and Methodology of Science", in: Caroline Fery, Wolfgang Sternefeld, Audiatur Vox Sapientiae. A Festschrift for Arnim von Stechow, Berlin 2001,450-472.
SPRACHKRITIK BEI KANT, HEGEL UND NIETZSCHE
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A(N) beweisbar ist. Kant sieht vor diesem Hintergrund, dass ein Satz der Form „Gott ist das vollkommenste Wesen" ein sprachlich irreführender Ausdruck ist. Entweder wird in ihm die Existenz Gottes vorausgesetzt, dann lässt sich aus ihm die Existenz nicht mehr auf nicht zirkuläre Art beweisen; oder man möchte den Satz als Definition auffassen. Dann aber ist er ein ambiger Ausdruck für „x möge „Gott" heißen, wenn χ vollkommen ist". Daraus folgt nun aber nach Kant nie, dass es etwas oder jemanden gibt, das oder der die Eigenschaft hat, vollkommen zu sein, weil, wie gesagt, das „es gibt" oder „es existiert" keine Eigenschaft (eines x) ist. Aus der Äußerung „es ist mir bewusst, dass p" oder kurz „ich denke (dass p)" folgt nun aber allerdings meine Existenz. Denn welcher Inhalt auch immer durch ρ ausgedrückt ist, es ist in jedem Fall das „ich bin" vorausgesetzt und kann daher mit Recht erschlossen werden. Eben daher ist der konkrete Satz (qua geäußerter Gedanke) „ich bin nicht" formal widersprüchlich: Aus seiner realen Performation, dem Vollzug des Gedankens, folgt nämlich „ich bin". Eine weitere Stelle in Kants Anthropologe zeigt noch deutlicher, wie er sich das Verhältnis zwischen Sprechen und Denken vorstellt. Auch diese enthält schwierige, scheinbar oder wirklich widersprüchliche, zum Teil vielleicht auch ironische Passagen, die einen Kommentar nötig machen: Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören.5
Dies klingt zunächst so, als bräuchte man Sprache nur dazu, Gedanken zu bezeichnen oder auszudrücken, die es irgendwie schon unabhängig vom Ausdruck gibt. Andererseits ist die Sprache nicht nur Mittel, andere zu verstehen, sondern auch, sich selbst zu verstehen. Dabei verhält sich das Denken zum Sprechen wie das stille Lesen zum lauten Lesen. Man muss im Grunde das laute Sprechen und Lesen schon beherrschen (wenigstens passiv), um dann auch noch das leise Denken und Lesen zu lernen. Die Rede von der reproduktiven Einbildungskraft beim innerlichen Hören charakterisiert dabei das folgende Phänomen: Im Prozess des Denkens bzw. einer leisen, aber schon bewusst kontrollierten verbalen Planung ist der Aspekt der Verfertigung der Gedanken beim leisen Reden durch die produktive Einbildungskraft, also die spontane imaginatio, zu unterscheiden von der reproduktiven Verstehenskontrolle. Diese ermöglicht immer schon so etwas wie eine Korrektur der Vorschläge, welche ich im stillen Vollzug der produktiven Imagination mir selbst mache - um zunächst von mir selbst im innerlichen Hören angenommen oder abgelehnt zu werden. Derartige Überlegungen tragen zu einer Überwindung des neuzeitlichen Mentalismus oder Intentionalismus bei, wie er von Descartes bis zur intentionalistischen Semantik der GriceNachfolge führt. Denn ich weiß keineswegs unmittelbar, was ich sagen will. Ich verstehe auch mein eigenes Denken keineswegs unmittelbar. Es besteht also nicht immer nur das Problem, wie ich meine Kommunikationsabsichten durch Gebrauch von sprachlichen Zeichen den Anderen verständlich mache. Gerade die falsche Vorstellung intentionaler Unmittelbarkeit mystifiziert das Denken. Eben das ist Cartesianismus. Man könnte daher fast sagen, dass die Indianer in Tahiti ein besseres Bild von dem haben, was Denken ist, als mancher mentalistische Semantiker. Dabei hatten auch die Griechen und viele andere Völker den Ort der Gedanken in die Magengegend verlegt. Dies mag daran liegen, dass der Luftstrom gesprochener Rede aus der Gegend des Zwerchfells kommt. Eine andere Beobachtung passt geradezu wunderbar zu
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Immanuel Kant, Anthropologie, BA 110, Wilhelm Weischedel Bd. VI, 500, Ak 192f.
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einer derartigen .Theorie'. Denn eine Dauerspannung zwischen dem, was ich laut sage (bzw. sagen darf), und dem, was ich leise denke, pflegt auf den Magen zu schlagen. Jedes .schlechte Gewissen' (,mala conscientia') dokumentiert in der Tat einen Widerspruch zwischen Sagen und Denken, also zwischen einem öffentlichen Mit-Wissen (con-scientia) und meinem bloß privaten Bewusstsein (conscientia).6 Die Differenz zwischen lautem Reden und stillem Denken wird also gerade dann deutlich, wenn man den Widerspruch körperlich im Bauch spürt. Unseren modernen Theorien zufolge ist nun aber der Kopf der Sitz des Denkens. In der Tat ist ein funktionierendes Gehirn in einem anderen Sinn als das Ausbleiben von Bauchschmerzen notwendige Bedingung des richtigen Denkens. Dennoch ist auch dieses keine zureichende Bedingung. In den auf unser Textstück folgenden Passagen umreißt Kant vielmehr die Bedeutung der öffentlichen Lautsprache für das leise Denken. Er tut dies ex negative, indem er das Beispiel von Taubstummen kommentiert. Kant unterstellt, dass ein Taubgeborener seine eigenen Sprech versuche, wie er sagt, ,nur als ein Gefühl des Spiels seiner eigenen Lippen, Zunge und Kinnbacken' erfahren könne. Dem ist zwar faktisch nicht so, da Taubstumme aufgrund der Erlernbarkeit nichtsprachlicher Zeichensysteme auch einen gewissen Grad in der Kompetenz des ,Lippenlesens' erwerben können. Aber es lässt sich auch kontrafaktisch aus Kants Überlegung Wichtiges zum Begriff des Denkens und Sprechens lernen. Kant sagt uns nämlich das Folgende: Gesetzt, es wäre richtig, dass ein Taubgeborener ein rudimentäres Sprechen nur durch Imitation oder Nachahmung der von ihm beobachteten Lippenbewegungen und der Physiognomie von Sprechern erlernen wollte, ohne den Schall zu hören, so kann er die phonomatischen Differenzierungen der Lautsprache kaum in ihrer Form reproduzieren bzw. erkennen. Eben deswegen versteht er nicht, was gesagt wird. Denn dazu sind die entsprechenden Differenzierungen und Erkenntnisse von Lautformen (Phonemen) notwendige Bedingung. Daher ist es in der Tat „kaum möglich, sich vorzustellen, daß er bei seinem Sprechen etwas mehr tue, als ein Spiel mit körperlichen Gefühlen zu treiben, ohne eigentliche Begriffe zu haben und zu denken." 7 Es bleibt an dieser Stelle zwar unerläutert, was es heißt, Begriffe zu haben und zu denken. Aber es scheint zumindest, als verstehe Kant darunter die Kompetenz, lautsprachliche Formen, also Sätze und Wörter, auf richtige Weise im lauten Reden und leisen Denken zu gebrauchen. Allerdings weiß Kant, dass eine bloß syntaktische Richtigkeit, die grammatikalische Wohlgeformtheit der geäußerten Sätze, nicht ausreicht. Daher fährt er so fort: Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder andere, und an dem Mangel des Bezeichnung und Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird.
Kant nennt hier zwar nur einige Grundfehler im Umgang mit Sprache, aber gewiss die wichtigsten Typen. Der erste Fehler ist der, dass Zeichen oder Wörter mit Sachen verwechselt werden. Dabei anerkennt Kant ausdrücklich, dass Zeichen Sachen sind. Es geht hier also darum, dass man die Art des Sachbezugs der Zeichen und Wörter nicht angemessen begreift, etwa weil man meint, dass jedes Wort, das an einer syntaktischen Stelle steht, die sonst für Namen reserviert ist, schon etwas Existierendes bezeichnet. So bezeichnet das Wort „niemand" in dem Satz „Niemand ist Gott" im Unterschied zu „Peter" in „Peter ist groß" keinen (existierenden)
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Vgl. dazu Boris Hennig, Conscientia bei Descartes, Leipzig 2004. Immanuel Kant, Anthropologie, Ak 192f. Ebd.
SPRACHKRITIK BEI KANT, HEGEL UND NIETZSCHE
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Gegenstand, dem eine entsprechende Eigenschaft zukäme. Das weiß man spätestens seit Homer. Es können aber auch fälschlicherweise Sachen für Zeichen genommen werden, etwa wenn man anfängt, die ganze Welt als ein Zeichen zu deuten, das entweder auf einen göttlichen Baumeister verweisen soll oder uns gar etwas über seine Absichten sagen möchte. Und sogar dann, wenn wir in Bezug auf den Wortlaut von Sätzen übereinstimmen, also etwa gemeinsam einem Satz zunicken, kann es geschehen, dass wir in unserem Verständnis weit divergieren, und zwar insbesondere dann, wenn es darum geht, auf Form und Existenzweise des Geistes oder auf das, was Vernunft bzw. vernünftig ist, zu reflektieren. Nach Kants Skizze liegt dies daran, dass mit den Sätzen ganz verschiedene Inhalte und zwar im Sinne von verschiedenen Folgerungen und inferentiellen Erwartungen verbunden sein können, wobei dann jeder nach seinem Verständnis schließt, urteilt und handelt. Die inhaltlichen Unterschiede merkt man oft nur zufälligerweise, am Ende aber immer dann, wenn die Handlungen der Anderen nicht zu dem passen, was wir als konsequentes Handeln mit den betreffenden Sätzen verbinden. So könnte, um ein Beispiel zu nennen, mancher dem Satz verbal zustimmen, der Raum sei die Form der Anschauung, und meinen, es handele sich um eine Form rein subjektiver Imagination, nicht etwa um die gemeinsame Form der Darstellung räumlicher Verhältnisse beobachtbarer Dinge, also um die Form, wie wir aus den je individuellen Perspektiven unseres wahrnehmenden Weltbezugs einen einzigen Raum objektiver Ding-Erfahrung bilden. Oder es könnten Personen, die verbal dem kategorischen Imperativ Kants zustimmen, in ihrem Handeln alles andere tun, als sich an ihm orientieren.
2. Hegel Im § 411 der Enzyklopädie scheint es fast so, als würde Hegel eben diese Überlegungen Kants kommentieren: „Der Mensch wird viel weniger aus seiner äußeren Erscheinung als vielmehr aus seinen Handlungen erkannt. Selbst die Sprache ist dem Schicksal ausgesetzt, so gut zur Verhüllung wie zur Offenbarung der menschlichen Gedanken zu dienen." 9 In der Tat kann ein einzelner Sprechakt, der ja gerade als freie Handlung zu betrachten ist, immer auch eine bewusste Irreführung des Zuhörers sein. Es gehört daher zur Form von Redehandlungen, dass sie meine stillen Gedanken ebenso offenbar machen wie verbergen können. Allerdings sind die Verhältnisse nicht symmetrisch. Denn meine stillen Gedanken hängen in ihren Möglichkeiten längst schon ab von der allgemeinen und öffentlichen Sprache. Hegel scheint an anderer Stelle gerade das Gegenteil zu sagen, nämlich dies: „Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist".10 Demnach scheint die Sprache das Werk des Denkens zu sein und es scheint nichts gesagt werden zu können, was nicht schon denkbar ist. Allerdings ist das Denken qua Vollzug vom Gedanken zu unterscheiden. Außerdem macht das „indem" und „so" in dem zitierten Satz nur Sinn, wenn wir annehmen, dass Gedanken immer schon etwas Allgemeines sind. Gedanken sind dann aber gerade das, was Sätze in einem gewissen Gebrauch ausdrücken bzw. was wir mit den Sätzen ausdrücken können, nicht das, was ich oder du im je einzelnen und besonderen Fall mit ihrer Äußerung .meinen' mögen. Wie Kant erkennt daher auch Hegel in der Sprach-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, mit mündlichen Zusätzen, hg. v. Eva Moldenhauer & Karl M. Michel = Werke, Bde. 8-10, Frankfurt a. M. 970, hier: Dritter Teil, Die Philosophie des Geistes, § 411 Zusätze, Werke Bd. 10, 197. Ders., Enzyklopädie § 2 0 , W e r k e B d . 8, 74.
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kompetenz die Möglichkeitsbedingung des Denkens. Sie besteht in der Teilnahme an einer Differenzierungs- und Kommunikationspraxis. Diese wiederum setzt eine Praxis des Zeichengebrauchs voraus. Damit setzt sich Hegel radikal ab von jeder psychologistischen Semantik: Gewöhnlich wird das Zeichen und die Sprache irgendwo als Anhang in der Psychologie oder auch in der Logik eingeschoben, ohne daß an ihre Notwendigkeit und Zusammenhang in dem Systeme der Tätigkeit der Intelligenz [also einer intelligenten, am Ende sprach und handlungskompetenten Person] gedacht würde. Die wahlhafte Stelle des Zeichens ist die [...], daß die Intelligenz, welche als anschauend die Form der Zeit und des Raums erzeugt [also wir, soweit wir an der gemeinsamen Praxis der Bezugnahme auf objektive Formen räumlicher Verhältnisse und zeitlicher Abläufe etwa auch im Sprechen und Hören teilnehmen], [...] den sinnlichen Inhalt als aufnehmend [wahrnehmend] und aus diesem Stoffe sich Vorstellungen [qua möglichen Repräsentationen] bildend erscheint, nun ihren selbständigen [spontanen] Vorstellungen ein bestimmtes Dasein aus sich gibt, den erfüllten Raum und Zeit, die Anschauung als die ihrige gebraucht, deren unmittelbaren und eigentümlichen Inhalt tilgt und ihr einen anderen Inhalt zur Bedeutung und Seele gibt. [Das heißt, es werden anschauliche Zeichenträger zu Zeichen] - Diese Zeichen erschaffende Tätigkeit kann das produktive Gedächtnis (die zunächst abstrakte Mnemosyne) vornehmlich genannt werden, indem das Gedächtnis, das im gemeinen Leben oft mit Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungskraft verwechselt und gleichbedeutend gebraucht wird, es überhaupt nur mit Zeichen zu tun hat.11
Hegel sieht, dass wir Zeichen als Repräsentationen entsprechend unterschiedenen Anschauungsgegenständen zuordnen. Dabei sind die Zeichen selbst relativ leicht produzierbare und reproduzierbare, zunächst phonematische, dann auch graphematische Schemata, Gestalten oder eben Anschauungsformen. Sie sind in der Anschauung des Hörens bzw. Sehens in ihren Unterschieden und Gleichheiten relativ sicher lernbar. Auch ihre Zuordnung zu dem, was man sonst noch im Hören und Sehen, Fühlen, Riechen und Schmecken unterscheiden und identifizieren kann, ist in der präsentischen Deixis der elementaren Prädikation (etwa der Form: das ist ein X) in einem gewissen Ausmaß gemeinsam wiedererkennbar und kontrollierbar. Dabei ist die Lautsprache gerade deswegen ein so hervorragendes Repräsentationssystem, weil wir spontan, also nach unserer eigenen Willkür und Belieben, die entsprechenden lautlichen Formen in fast jeder Situation laut oder leise produzieren können. Von zentraler Bedeutung ist dabei folgende Tatsache: In unseren verbalen Kommentaren zu dem, was wir gerade wahrnehmen, reagieren wir gerade nicht einfach so, wie ein animalisches Wesen auf einen Stimulus nach einer gewissen Abrichtung zu reagieren lernt. Denn jeder verbale Kommentar ist selbst schon ein freies Handeln. Es mag zwar sein, dass immer auch ein abrichtungsartiges Lernen von quasi automatischen Reaktionen auf Stimuli im Spracherwerb involviert ist. Aber er ist nicht darauf reduzierbar. Stimuli und unbewusste Schemata mögen also eine Rolle dabei spielen, dass uns in gewissen Situationen bestimmte Sätze einfallen. Aber wir kontrollieren diese Einfälle immer auch explizit, und zwar sowohl leise als auch laut. Das, was Kant „reproduktive Einbildungskraft" nennt, ist eben diese Kontrolle oder sollte jedenfalls so verstanden werden. Das urteilende Kommentieren von Wahrnehmung und Anschauung ist daher keine rein dispositionelle Reaktion auf einen kausalen Stimulus, wie man im Behaviorismus meint und wie etwa auch noch Quine glaubt. Eine solche Reaktion nach bloßen Abrichtungen heißt rein metaphorisch „response". Ein Wahrnehmungs- oder Anschauungsurteil ist dagegen grundsätzlich zu begreifen als echte Antwort auf die Frage, was es denn ist, das wahrgenommen oder angeschaut wird. Wir produzieren dabei auf eine gewisse freie, wenigstens halbfreie, 11
Ebd., § 458, Werke Bd. 10, 270f.; die erläuternden Einschübe in eckigen Klammem sind von mir, PSW.
SPRACHKRITIK BEI K A N T , HEGEL U N D NIETZSCHE
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W e i s e m ö g l i c h e Kommentare zu dem, w a s j e gerade w a h r g e n o m m e n wird, und beurteilen in reflektierender Kontrolle, w i e weit und gut diese verbalen Kommentare oder Explikationen der Anschauungssituation im Blick auf g e m e i n s a m e Unterscheidungen und verlässliche Orientierungen a n g e m e s s e n sind. In eben d i e s e m Sinn sind implizite und explizite Wahrnehmungsurteile in der Anschauung zugleich abhängig v o n der Rezeptivität unserer Sinne, spontan und N o r m e n des Richtigen oder A n g e m e s s e n e n unterworfen, also auch zugleich subjektiv, j e meine, und allgemein, nämlich als freie Vorschläge, eben s o zu urteilen, w i e wir urteilen. In den §§ 4 5 8 und 4 5 9 der Enzyklopädie wird dieser Gedanke noch e t w a s klarer: In dieser von der Intelligenz ausgehenden Einheit selbständiger Vorstellung [qua spontaner Repräsentation durch Zeichen, später dann auch im Reden und Denken] und einer Anschauung [qua Rezeption] ist die Materie der letzteren zunächst wohl ein Aufgenommenes, etwas Unmittelbares oder Gegebenes (ζ. B. die Farbe der Kokarde u. dgl.). Die Anschauung gilt aber in dieser Identität nicht als positiv und sich selbst, sondern etwas anderes vorstellend [die Kokarde ist ein Zeichen]. Sie ist ein Bild, das eine selbständige Vorstellung der Intelligenz als Seele in sich empfangen hat [das ist noch eine metaphorische Erläuterung des Inhalts], seine Bedeutung. Diese Anschauung ist das Zeichen. [...] Das Zeichen ist irgendeine unmittelbare Anschauung, die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat. [...] Das Zeichen ist vom Symbol verschieden, einer Anschauung, deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt; beim Zeichen als solchem hingegen geht der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist, einander nichts an [d. h. Symbole entstehen aus natürlichen Anzeichen, Zeichen sind rein konventionell und müssen deswegen explizit gelernt werden]. Als bezeichnend beweist daher die Intelligenz eine freiere Willkür und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung denn als symbolisierend [...]. 12 Die Anschauung, als unmittelbar zunächst ein Gegebenes und Räumliches, erhält, insofern sie zu einem Zeichen gebraucht wird, die wesentliche Bestimmung, nur als aufgehobene zu sein. [D. h. wir interessieren uns nicht für die Zeichen als solche, als raumzeitliche Figuren oder Schemata, sondern gebrauchen sie repräsentativ für Anderes]. [...] so ist die wahrhaftere Ge-stalt der Anschauung, die ein Zeichen ist, ein Dasein in der Zeit, [...] der Ton, die erfüllte Äußerung [...]. [D]ie Rede, und ihr System, die Sprache, gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres als ihr unmittelbares Dasein, überhaupt eine Existenz [...] im Reiche des Vorstellens [d. h. des zeichenartigen Repräsentieren einfacher Bilder oder Abschauungen durch ihrerseits anschaubare Zeichen] [...]. 13 H e g e l geht hier nicht auf k o m p l e x e Repräsentationen in logisch k o m p l e x e n Sätzen ein. Das ist in der Tat ein anderes Thema. Er hatte allerdings schon viel früher im Text die Rolle v o n A u tomatisierungen und Schematisierungen erkannt, w e l c h e ein (zunächst vielleicht symbolisches) Zeichenhandeln partiell w i e d e r in eine Art quasi-dispositionelles Verhalten verwandeln, und zwar so, dass wir eine Art z w e i t e Natur entwickeln und uns damit v o n der Kontrolle des j e Richtigen im Einzelfall entlasten. Zugleich weist H e g e l auf die - später gerade auch bei Wittgenstein diskutierte - umgekehrte Möglichkeit hin, ursprünglich unmittelbare Reaktionen w i e Äußerungen v o n Freude und Schmerz durch explizite Versprachlichung und eine entsprechende Selbstkontrolle s o zu verwandeln, dass sie keine unmittelbaren Expressionen mehr sind: Wie nun die hier besprochenen freiwilligen Verleiblichungen des Geistigen durch Gewohnheit zu etwas Mechanischem, zu etwas keiner besonderen Willensanstrengung Bedürftigem werden, so können auch umgekehrt einige der im § 401 betrachteten unwillkürlichen Verleiblichungen des von der Seele Empfundenen zugleich mit Bewußtsein und Freiheit erfolgen. Dahin gehört vor al-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie § 458; Werke, Bd. 10,270. Ebd. §459, Werke, Bd. 10, 271.
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lern die menschliche Stimme; indem dieselbe zur Sprache wird, hört sie auf, eine unwillkürliche Äußerung der Seele zu sein [...]. 14
3. Nietzsche Während für Descartes, Kant oder H e g e l aus begrifflichen Gründen D e n k e n immer b e w u s s t kontrolliert und damit mehr oder minder explizit und sprachlich oder sonstwie s y m b o l i s c h artikuliert ist - s o eben soll die R e d e v o m D e n k e n verstanden werden - , gibt es für N i e t z s c h e , ähnlich w i e schon für Schopenhauer und später für Freud, so etwas w i e einen unbewussten Denkstrom und einen nicht bewusst kontrollierbaren Willen. D i e s e r ist zunächst w o h l eher ein triebhaftes Streben oder animalisches Begehren, während das vorbewusste Erkennen und Glauben w o h l als Disposition des Urteilens und Erwartens zu verstehen ist. Zunächst bedeutet das alles nur, dass man anders als die Tradition zu reden beliebt. Immerhin ist auch für Nietzsche, w i e übrigens später auch für Mauthner, der i h m in sehr v i e l e m folgt, das b e w u s s t e D e n k e n ein stilles Reden: [...] der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiß es nicht; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Teil - denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewußtseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewußtseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sichbewußt-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, daß nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das Bewußtwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixieren zu können und gleichsam außer uns zu stellen, hat in dem Maße zugenommen, als die Nötigung wuchs, sie andern durch Zeichen zu übermitteln. Der zeichenerfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewußte Mensch; erst als soziales Tier lernt der Mensch seiner selbst bewußt zu werden - er tut es noch, er tut es immer mehr. 15 Offenbar wertet N i e t z s c h e schon hier das Individuelle, Leibliche und damit das A n i m a l i s c h e hoch, das Geistige, A l l g e m e i n e und Soziale wertet er dagegen ab. D e n n er sagt, das explizite und bewusste D e n k e n sei der schlechtere Teil, eben w e i l es allgemein und damit .unwahr' sei. Gerade so, wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Wertordnung entspreche: also wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Fakten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen usw.) - beide Male irrtümlich. 16 N i e t z s c h e diagnostiziert damit einen vermeintlichen .Irrtum' des A l l g e m e i n e n und verteidigt eine vermeintliche .Wahrheit' des ineffablen Einzelfalls. D a g e g e n hatte H e g e l das Einzelne als
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Ebd. § 411, Zusätze, Werke, Bd. 10,193. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, Nr. 354, Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. II, 221; Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli & Massimo Montinari, Berlin, Bd. 3, 1988 (= KSA 3), 592. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2. Bd. Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 11, in: Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechte, Bd. I, 878; KSA 2,546f.
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das Uninteressante und eben daher auch das »Unwahre' angesehen - obgleich er sich nicht w e niger als N i e t z s c h e in die N a c h f o l g e Heraklits stellt. H e g e l sieht, dass Wahrheit mit absoluter Genauigkeit nichts zu tun hat, zumal j e d e R e d e v o n e i n e m Irrtum immer schon einen mehr oder minder allgemeinen Maßstab unterstellt. Daher widerspricht sich N i e t z s c h e selbst gerade auch dort, w o er in seiner Liebe z u m Einzelfall einen neuen Maßstab vorschlägt. Gerade im Kontrast zu dieser Liebe wird die Einsicht H e g e l s deutlich, dass sich das Einzelne sinnvoll nie an und für sich betrachten lässt, sondern immer nur als Besonderung relevanter allgemeiner Gesichtspunkte, eben w e i l verstehbare Gedanken immer schon e t w a s A l l g e m e i n e s und A b s traktes sind. E s ist daher, w i e schon Piaton sieht, das Besondere in der A n w e n d u n g des A l l g e meinen auf das Einzelne vor d e m Hintergrund authentischer Erfahrung und autonomer Urteilskraft zu erkennen. Indem N i e t z s c h e d a g e g e n die »eigentliche Wahrheit' der unmittelbaren und einzelnen P h ä n o m e n e hier und jetzt g e g e n allgemeine ,Wahrheiten' setzt, steht er zumindest in der Gefahr, zu e i n e m sensualistischen Empiristen und radikalen Skeptiker zu werden, also zu einer Art Reinkarnation H u m e s - samt der sich daraus ergebenden pragmatistischen b z w . instrumentalistischen W e n d e . [...] der Mensch [...] begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit, gegen die reine folgenlose Erkenntnis ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt. 17 [...] denn Wahrheit will er, doch nicht nur als kalte folgenlose Erkenntnis, sondern als die ordnende und strafende Richterin, Wahiheit nicht als egoistischen Besitz des einzelnen, sondern als die heilige Berechtigung, alle Grenzsteine egoistischer Besitztümer zu verrücken, Wahiheit mit einem Worte als Weltgericht und durchaus nicht etwa als erhaschte Beute und Lust des einzelnen ... 18 Jagers. Dabei wird die Sprache selbst als Fälscherin verdächtigt: Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungsgruppen glauben. Mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen, ursprünglich durch sie das Wahre desselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Wollens, das heißt der gleichen Fakten und der isolierten Fakten - hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt. 1 9 Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur liegt darin, daß in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andre stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Tier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden zu glauben, daß er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wesen über die Dinge mit den Worten aus; in der Tat ist die Sprache
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Ders., „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn", in: Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, B d . n i . S . 311; KSA 1,878.
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Ders., Unzeitgemäße Betrachtungen, 2. Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. I, 244; KSA 1, 286f. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2. Bd. Zweite Abteilung: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 11, a. a. O., 547.
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PIRMIN STEKELER-WEITHOFER die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich - jetzt erst dämmert es den Menschen auf, daß sie in einem ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als daß es die Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte - . Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen der Gleichheit von Dingen, der Identität derselben Dinge in verschiedenen Punkten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (daß es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiß nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewußt hätte, daß es in der Natur keine exakte gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Größenmaß gebe. 2 0
Die gesamte Argumentation gehört in die Trickkiste der empiristischen Skeptiker, etwa eines Protagoras, Sextus Empiricus oder eben Hume. Sie alle weisen immer wieder darauf hin, dass wir zwischen den generischen bzw. ideellen Gegenständen unserer modellartigen, theoretischen, auch mathematischen Reden und den je einzelnen realen Phänomenen unterscheiden müssen. Das aber hatte gerade auch Piaton gesehen. Wenn Nietzsche Piaton zum Gegner erklärt, übersieht er, wie später auch Heidegger, wie weit Piaton selbst folgender Grundeinsicht zustimmt: Wir beurteilen das als wahr, was wir in unserem Handeln als nicht bloß für den Einzelfall, sondern generell gute Orientierung gebrauchen können. Piaton und Hegel teilen daher mit Nietzsche und dem amerikanischen Pragmatismus die Einsicht, dass alle Wahrheitskriterien abstrakt und formell sind und längst schon im Blick auf die Form und Idee des guten Lebens entworfen und zu begreifen sind. Anders als Piaton und Hegel sieht Nietzsche allerdings weder zu den Zeiten seiner philosophischen Anfänge (in enger Nachfolge Schopenhauers) noch in seiner eigenen Willensmetaphysik, wie bedeutsam die Gemeinschaft im positiven Sinn für die Möglichkeit des freien Wollens und authentischen Handelns der je einzelnen Person ist - wobei das Wort „Gemeinschaft" von der Familie über die Gemeinde zur Gesellschaft und zum Staat reichen mag. Während Hegel dabei gerade auch die Relativität der Wissenschaft erkennt und sieht, dass gemeinsame Lebenserfahrungen und Traditionen als Möglichkeitsbedingungen sowohl des freien Urteilens und Handelns als auch der Wissenschaften anzuerkennen sind, meint Nietzsche - nicht anders als die moderne .wissenschaftliche' Weltanschauung - , es gelte, einen angeblich voraufgeklärten Volksglauben bzw. eine in unseren Sprachformen manifestierte transzendente Metaphysik aufzuheben. Nietzsche ist damit gerade im Unterschied zu Hegel ein idealistischer Konstruktivist: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrtümern und Phantasien, welche in der gesamten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, ineinander verwachsen sind und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Schatz: denn der Wert unseres Menschentums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellungen vermag uns die strenge Wissenschaft tatsächlich nur in geringem Maße zu lösen - wie es auch gar nicht zu wünschen ist - , insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen - und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, daß das Ding an sich eines homerischen Gelächters wert ist: daß es so viel, ja alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist. 21
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Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1. Bd., Nr. 11, Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta Bd. 1,453; KSA 2,31. Ebd., Nr. 16,458 f.; KSA 2,37f.
SPRACHKRITIK BEI K A N T , HEGEL UND NIETZSCHE
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Nietzsche meint als skeptischer Phänomenalist mit Schopenhauer zunächst, dass uns nur das reine theoretische Wissen für Augenblicke über den metaphysischen Irrtum des Anthropomorphismus hinaushebe, dem zufolge wir die Abhängigkeit unseres Wissens von unserem Begehren übersehen: Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt - daß alles, was bewußt wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen HerdenMerkzeichen wird, daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. [...] Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die .Wahrheit': wir .wissen' (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier Nützlichkeit' genannt wird, ist zuletzt nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehen. 22 So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das ,Blatt' wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre 2 3 Selbstverständlich können wir jede Unterscheidung verfeinern. Aber wir unterscheiden mit gutem, ja dem besten Recht immer nur so fein, wie wir es für relevant halten. Wer feiner unterscheidet, als nötig ist, redet bloß daher. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und dessen Deutung von Theorie als reine Kontemplation mag daher rühren, dass er den inneren Widerspruch seiner Position bemerkt hat. Denn wenn es keine Wissenschaft gerade auch über unser Verhalten und Handelns gibt, die nicht getrübt ist durch Traditionen und Interessen, dann macht es auch keinen Sinn, ein solches reines Wissen zu erstreben. Daher ist wohl gegen eigene Thesen aus früherer Zeit folgende Bemerkung gerichtet: Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken [...]. Der Begriff ,Wahrheit' ist widersinnig. Das ganze Reich von ,wahr - falsch' bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das ,An sich' [...] Es gibt kein ,Wesen an sich' (die Relationen konstitutieren erst Wesen ), so wenig es eine .Erkenntnis an sich' geben kann. 24 Als Konsequenz erkennt der spätere Nietzsche ohne jeden verqueren Irrtumsvorwurf an, dass gerade auch in den Wissenschaften das leitende Interesse in der Erweiterung unserer Macht, unserer Kompetenz im Handeln besteht, wobei er allerdings immer einen gewissen Biologismus mitführt: „Der ganze Erkenntnis-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplikations-Apparat - nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge f...]." 25
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25
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, Nr. 354,222; KSA 3,593. Ders., (Jeher Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 313; KSA 1, 880. Ders., Fragment XII, Umwertungsheft Frühjahr 1888, Nr. 122, in: ders., Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechte, Bd. ΙΠ, 751f.; KSA 13,303. Ders., Fragment VIII, Umwertungsheft Sommer-Herbst 1884, Nr. 61, in: ders., Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. III, 442; KSA 11,164.
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PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
[...] wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen - solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich - folglich angenehm und unangenehm). [...] So auch reaperen Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, ζ. B. Ameisen. 6 Nicht .erkennen', sondern schematisieren, - dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut. In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen [...] zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung [...] (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, - derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) [...] Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft [...] mißrät das Leben, - es wird unübersichtlich zu ungleich - . Die Kategorien sind ,Wahrheiten' nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingende .Wahrheit' ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idio27 synkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen [...].
Die Sprach- und Vernunftkritik Nietzsches mag als Kritik an ,platonistischen' Korrespondenztheorien, .mentalistischen' Psychologien und an jeder Atomistik des Denkens und Wollens taugen. Allerdings gießt Nietzsche wie der Szientismus, die Hauptströmung der heutigen Philosophie, an vielen Stellen das Kind mit dem Bad aus, so zum Beispiel gerade auch dort, wo er sagt, jede Rede von einer Freiheit des Willens sei „mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren Fließens unverträglich: es setzt voraus, daß jede einzelne Handlung isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens."28 Es ist zwar richtig, dass wir uns das freie Handeln nicht so vorstellen sollten, als gäbe es für den einzelnen Akt eine Art Wollensimpuls atomistischer Art. Die Rede von der Freiheit des Wollens lässt sich aber auch - mit Hegel - anders deuten, nämlich als die in einer verbalen Formel kurz und zusammenfassend formulierte Einsicht, dass es sowohl möglich als auch wichtig ist, zwischen willensfreien (absichtlichen) Handlungen und unfreien Verhaltungen zu unterscheiden, ohne den Willen, wie Kant, als mystische Entität und eine Kausalität aus Freiheit als metaphorische Ursache des einzelnen Handlungsakts anzunehmen. Die Unterscheidung zwischen dem, was man als verursacht, und dem, was man als handelnd hervorgebracht zu beurteilen hat, muss dabei als eine immanente Unterscheidung innerhalb des realen Kontextes unserer Lebenspraxis verstanden werden. Nietzsche missversteht dagegen die Rede von der Freiheit des Willens, die Intelligenz usf. substanzlogisch, daher metaphysisch, und kritisiert sie eben in diesem und aus diesem metaphysischen Irrtum heraus. Nichts anderes geschieht in der naturalistischen Überhöhung bzw. transzendenten Ausweitung von Einsichten der (Neuro-) Physiologie, wenn man in der vermeintlichen Kritik an mentalistischen bzw. cartesianischen Mythen zu weit geht und die empirisch untersuchten notwendigen Bedingungen geistiger Kompetenz schon als hinreichende Erklärungen ausgibt. Mit Nietzsche übersieht der Szientismus die sozialkulturelle Verfassung von Freiheit und Autonomie und deren Basis in Sprache und Wissen.
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Ders., Fragment X, Umwertungsheft Herbst 1885-Herbst 1886, Nr. 95, in: ders., Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. III, 499; KSA 12,108. Ders., Fragment XII, Umwertungsheft Frühjahr 1888, Nr. 152, in: ders., Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. ΙΠ, 729; KSA 13, 333f. Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 2. Bd., Zweite Abteilung: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 11, 878; KSA 2,546.
4. Einsprüche und Überbietungen
K A R O L Β AL
Hegels Sicht der Aufklärung
Der vorliegende Versuch, Hegels Auffassung der Aufklärung 1 abzuhandeln, wurde durch die Notwendigkeit bedingt, eine Quellenunterstützung für die Auseinandersetzung mit dem Standpunkt zu finden, der gegenwärtig das Wesen dieser geschichtlichen Epoche zu deformieren, bzw. ihren Ideengehalt 2 völlig aufzuheben sucht. Der Streit um die Aufklärung nahm in Bezug auf die Debatte über die Präambel zur Europäischen Verfassung an Kraft zu. Dieser Aspekt des Problems wird in der Hegel-Literatur, die der Aufklärungsproblematik in Hegels Werk überhaupt wenig Aufmerksamkeit schenkt, nicht berücksichtigt. Eine Ausnahme sind hier in der Regel Überlegungen zum berühmten Kapitel VI. ρ. Β. II. (Die Aufklärung) der Phänomenologie des Geistes, wobei Hegels Anschauungen aus seinen übrigen Werken vollständig vernachlässigt werden. Selten analysiert man dabei die Struktur des Begriffes „Aufklärung" wie auch die Genesis und Evolution von Hegels Anschauungen zu dieser Frage. Die Hegelforscher sehen auch keinen engen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Aufklärung und anderen Kategorien seines Systems. Der Rahmen meines Beitrags erlaubt nicht, die Frage von Hegels Beziehung zur Aufklärung komplex darzustellen. Es ist auch nicht meine Absicht, die - von Hegel selbst nicht immer klargemachten - immanenten Zusammenhänge zwischen der Aufklärungsphilosophie und der Philosophie des „absoluten Geistes" zu erforschen, oder die Frage zu beantworten, ob Hegel Fortführer der Aufklärung war, bzw. ob er diese auf eine radikale Weise überwand. Zweifellos sind dies gewichtige Fragen, deren grundsätzliche Untersuchung jedoch eine vorherige Rekonstruktion des Hegeischen Begriffes der Aufklärung erfordert, d. h. dessen, was er unter der „Aufklärung" verstand, was für eine Bedeutung und was für eine - systematische und grundlegende - Stelle im Netz anderer zentralerWenden. Kategorien des eigenen Systems er dieser verliehen hat. Erst nach allen derartigen Maßnahmen wird eine ganzheitliche Auffassung der „Aufklärungsproblematik" möglich, sinnvoll und der Intention Hegels selbst gemäß. Diese „Aufklärungsproblematik" und auch sein Begriff der Aufklärung können meines Erachtens zur Auslegung seiner ganzen Philosophie gebraucht werden. Ich möchte daher an dieser Stelle nochmals meine Überzeugung von der Integrität des Begriffes der Aufklärung mit den Grundkonzeptionen seines Systems und dessen kategorialer. Struktur darlegen. Ich meine hier insbesondere die dialektische Beziehung zwischen „positiven" und „negativen" Begriffen. In Hegels Darstellung des Ringens des Individuums mit der Welt werden die „negativen" Begriffe (Entfremdung, moralisch Böses, Negation,
1 2
Vgl. Karol Bai, Rozum i historia. Historiozofia Hegla wobec Oswiecenia, Wroclaw 1973. Vgl. ders., „Zur Aktualität der Aufklärung. Polnische Notizen", in: Dialektik 2000/1,67-174.
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KAROL BAL
Revolution, Aufhebung, dialektische Widersprüche) bevorzugt; sie sind als kreatives Element in der Geschichte zu behandeln. Die „positiven" Begriffe (Einheit, Versöhnung, Sittlichkeit, Substantialität, Synthese, konkrete allgemeine Einheit) gehören zu dem begrifflichen Arsenal der außersubstantiellen Sphäre des „absoluten Geistes". Da die „endliche Sphäre" der Geschichte durch die des „unendlichen Geistes" aufgehoben wird, drängen somit die „positiven" Begriffe die „negativen" hinaus, bzw. sie gewinnen in dem geschlossenen System Oberhand. Diese eigenartige begriffliche Hierarchisierung ist für die Beurteilung der Aufklärung und ihres Ranges im Rahmen der Hegeischen Geschichtsphilosophie nicht ohne Bedeutung. Da die „negativen" Begriffe im geschichtlichen Prozess ein kreatives Element bilden, nehmen diese Epochen - in denen sich Entfremdung, Negation, „Zerstörungswut" und andere tatkräftige Handlungen besonders stark offenbart haben, die zur Kristallisierung der Gegensätze in der Wirklichkeit führen und deren ideologische Komponente zerreißen - in der Hegeischen geschichtsphilosophischen Axiologie den erstklassigen Platz ein. Diese Epochen gelten als Raritäten in der Geschichte. Zugleich stößt die Philosophie, die die „negativen" Begriffe universalisiert und generalisiert und ihnen einen ontologischen Status erstarrter Kategorien zu verleihen sucht, auf Hegels kritische Replik. Die Aufgabe der Philosophie ist seines Erachtens nicht, zu teilen, sondern zu vereinigen, nicht zu vernichten, sondern zu bilden. Den Versuch, die „negativen" Begriffe jenseits der historischen Zeit zu verorten, bestimmt Hegel als „überhebliche Abstraktion", als plattes Verstande.sdenken, als „unfruchtbare" Spaltung in leerer Unendlichkeit dessen, was schon eine begrenzte Ganzheit „an sich" ist. Diese Bestimmungen beziehen sich auf jede „vernünftige" Philosophie, auch auf die Philosophie der Aufklärung. Die Aufklärung wird wegen der stark manifestierten geschichtlichen „Negativität" von Hegel besonders hoch geschätzt. In Bezug auf die philosophische Petrifikation dieser „Negativität" an den Denkern des 18. Jahrhunderts wird aber die Philosophie der Aufklärung seiner strengen Kritik unterzogen.3 Aus den dargestellten Voraussetzungen seines philosophischen Systems lassen sich für die Beurteilung und Charakteristik des Begriffs der Aufklärung (im Sinne der historischen Epoche) folgende Schlussfolgerungen ziehen: Erstens: Die Epoche der Aufklärung ist nach Hegel nicht nur eine Etappe des geschichtlichen Prozesses, sondern die wichtigste Etappe im Entwicklungsprozess des Weltgeistes, nicht nur deswegen, weil das letzte Kettenglied in der Hegeischen Hierarchie des „geschichtlichen Geistes" zugleich das vollkommenste ist, das alle bisherigen Etappen der Geschichte aufhebt, sondern hauptsächlich dadurch, dass sich in dieser Phase der Weltgeschichte die Kraft der „Negativität" besonders stark gezeigt hat. Diese Feststellung bedeutet, dass die Französische Revolution von Hegel für das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte gehalten wurde. Zweitens: Die Kraft der „Negativität" - die zuvor alle Gegensätze der gesellschaftlichen Wirklichkeit kristallisierte - .führte „auf einen Schlag" (wie sich Hegel in der Phänomenologie ausgedrückt hat) zur Widerlegung der alten gesellschaftlichen Ordnung. Die Aufklärungsepoche war für ihn der Totengräber des feudalen Absolutismus, die erste Entwicklungsphase der „industriellen Gesellschaft", die Sturm- und Drangperiode des Kapitalismus.
Wenn Hegel aber die französische Philosophie der Aufklärung mit der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts konfrontiert, lässt er an der letzteren kein gutes Haar. Die Anschauungen der französischen Denker, die hie und da hoch von ihm geschätzt werden, unterzieht er dabei einer besonders gemilderten Kritik.
H E G E L S S I C H T DER AUFKLÄRUNG
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Diese Entwicklungsrichtung der europäischen Gesellschaft war Hegel besonders nah. Einerseits idealisierte er diese Periode in der Weltgeschichte, andererseits aber scheute er keine Kritik an ihr. Die französischen Systemwandlungen bedeuteten den Sieg des „modernen Freiheitsprinzips", d. h. die Begründung und Objektivierung „individueller Angelegenheiten" (Menschenrechte). Die Aufklärung war also eine Periode, in der sich die „subjektive Freiheit" manifestierte. Die ursprüngliche Einverleibung dieses Prinzips in die bürgerliche Gesellschaft erforderte dann deren politisch-rechtliche Affirmation: Das Prinzip der „subjektiven Freiheit" sollte nach Hegel zum Gegenstand des Rechts und zur Grundlage des politischen Systems gemacht werden. Nicht nur Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, sondern auch die Grundlinien der Philosophie des Rechts sollten unter diesem aufklärererischen Aspekt gelesen werden. Die Geschichte der französischen Nation war mit der Proklamation der modernen Freiheitsidee und deren praktischer Wirkung auf ihre Verwirklichung verflochten. Der französische „Volksgeist" gewann seine geschichtliche Bedeutung, weil er sich nicht darauf beschränkte, die Freiheitsidee „lokal" zu implementieren. Mit ihr betrat er die Bühne der Weltgeschichte. Dank der Kriege Napoleons, des Exekutors der Idee der Französischen Revolution, wurde die Errungenschaft des einen Volkes zur Errungenschaft der ganzen Menschheit. Diese von Hegel hervorgehobenen Erfolge der Aufklärungsepoche bilden den „positiven Teil" ihrer Beurteilung; die anderen Charakteristiken werden mit dem Aspekt der „negativen" Beurteilung verbunden. Drittens: Die Umwandlung des Prinzips der „subjektiven Freiheit" in den Gegenstand „der Freiheit aller" gehörte zur Aufgabe der ganzen Entwicklungsphase der „germanischen Welt". Die Aufklärung bildete den geschichtlich fortgeschrittensten Realisierungsversuch dieses Prinzips. Es gelang aber nicht, eine Institution zu gründen, die fähig wäre, die „Freiheit aller" zu sichern. Statt einen Staat zu gründen, der imstande wäre, partikulare Interessen zu amortisieren und daraus ein Mittel zu bilden, das dem allgemeinen Interesse gedient hätte, verwandelte die Aufklärung den Staat (die ethische Substantialität, das Allgemeine ex definitione) in ein Mittel des Partikularismus. Das heißt, was sie ursprünglich bekämpfen und ändern wollte, hat sie selber zum Systemprinzip erhoben. Es kam zur Entfremdung des Staatswesens selbst als Organismus, der allen Bürgern zu dienen hätte. Zwar wurde dieses Prinzip in Form von „Gesetzen" kodifiziert, in der Tat aber blieb es ein verbaler Anruf, eine Floskel - ein Stichwort, das als praktische Funktion im Staatssystem keine Begründung fand. Die Freiheitsidee blieb formelles Prinzip, dem Geist wurde in der Aufklärung nur formell sein Recht auf Freiheit zugestanden. 4 Viertens: Die Aufklärung war die Epoche der „bürgerlichen Gesellschaft" in ihrer klassischen Form. In der Sphäre sozial-wirtschaftlicher Verhältnisse herrschte der Krieg aller gegen alle. Die sozialen Unterschiede klafften immer weiter auseinander, es entstanden Reichtums- und Armutspole. Die sich entwickelnde berufliche Spezialisierung - als Resultat der permanenten Einteilung der Arbeit - begründete eine Situation, in der das Individuum von der Gesamtheit der „Maschinengesellschaft" tausendfach abhängig wurde. Dies führte zur Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens, zur Robinsonade des individuellen Lebens, zum Utilitarismus und Egoismus, zur Fragmentierung der Persönlichkeit, zur „Poesielosigkeit" und „Eintönigkeit" des Alltags, zum Scheitern individueller Pläne und Wünsche, zum Ende der wahren Kunst.
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Vgl. Joachim Ritter, „Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, 34-81", in: Marxismusstudien, Bd. 12, Tübingen 1962, 2 0 3 , 2 1 1 .
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K a r o l BAL
Die Aufklärung verdeutlichte also Stärke, Notwendigkeit und Vernünftigkeit des Partikularismus der subjektiven Freiheit. Zugleich aber zeigte sie Gefahren uneingeschränkter Manifestation der subjektiven Freiheit für die Ganzheit des gesellschaftlichen Lebens. Versuche einer Synchronisierung des individuellen Interesses mit dem allgemeinen scheiterten und führten die Notwendigkeit anderer Lösungen vor Augen. Für Hegel bildete die im Volksgeist verkörperte geschichtliche Epoche der Aufklärung eine kulturelle Ganzheit: Sie umfasste philosophische, ideologische, künstlerische, religiöse und sittliche Bereiche. Jedoch kann diese geschichtliche Epoche in ihrem geschichtsphilosophischen Schema, das doch einen integralen Teil der ganzen „spekulativen" Philosophie bildet, nicht auf eine reine Ergebniskomponente reduziert werden. Mehr noch, das „äußere" Gewebe einer bestimmten geschichtlichen Epoche kann nicht ohne Bestimmung ihres „inneren" Bewusstseinswesens vollständig erklärt werden. So wird Hegels Beurteilung der geschichtlichen Rolle der Aufklärung sowie seine Festlegung des Ranges des Begriffes „Aufklärung" innerhalb seines philosophischen Systems immer mit der Darstellung seines Verhältnisses zur Aufklärungskultur und -philosophie gekoppelt werden. Die Aufklärung als Bezeichnung für eine konkrete historische Epoche bildet lediglich ein Glied in der vollständigen Typologie von Bedeutungen des Begriffes „Aufklärung". Will man alle Bedeutungen dieses Begriffes synthetisieren, muss man auch einen anderen Aspekt berücksichtigen: die „Aufklärung" als eine Form des kollektiven Selbstbewusstseins im 18. Jahrhundert. Dieser Frage widmete Hegel in der Phänomenologie des Geistes seine größte Aufmerksamkeit. Interessant wäre in diesem Zusammenhang vor allem die Typologie aufklärerischer Einstellungen und die Charakteristik der geistigen Atmosphäre in Frankreich in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts (die „Sprache der Zerrissenheit"). Und nicht zuletzt das letzte Glied des von uns erörterten Begriffes: „Aufklärung" als ein genau bestimmtes System strikter philosophischer Anschauungen. Dieser Frage widmete Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (und teilweise auch in den Vorlesungen über Ästhetik) seine besondere Aufmerksamkeit. Wie bereits angemerkt wurde, wird der Analyse der Phänomenologie des Geistes in der Hegelforschung eine große Aufmerksamkeit gewidmet. In dieser Literatur sucht man aber vergeblich nach den Texten, die sich mit der Analyse der Hegeischen Doxographie der Aufklärungsphilosophie befassen. Hegel konzentriert sich im Prinzip auf die französische Philosophie. Das heißt, dass er die Aufklärungsphilosophie hauptsächlich mit Frankreich identifiziert und dabei die unmodische Aufklärung, aber auch die „schottische Philosophie" etwas abseits stehen lässt. Diese Hegelschen Präferenzen stehen in einem Zusammenhang mit dem von ihm ausgearbeiteten geschichtsphilosophischen Schema, nach dem der konkrete „Volksgeist" in einer bestimmten Entwicklungsetappe der menschlichen Geschichte allgemeingeschichtliche Vorhaben des Weltgeistes artikuliert. Das Land, dessen Volk im allgemeingeschichtlichen Weltgeist den Vorrang hatte, war im 18. Jahrhundert Frankreich. Diese Wahl eines Repräsentanten der Aufklärungsphilosophie stellt zwar eine gewisse Eigenmächtigkeit dar, doch steckt in ihr ein rationaler Kern, denn in Hegels Zeiten (nicht selten presst man noch heute in das französische Modell der Aufklärung die ganze Philosophie des 18. Jahrhunderts hinein) wird der europäische Gedanke allgemein mit dem französischen identifiziert. Die unter den Geschichtsschreibern allerorten herrschende und der Aufklärung gegenüber kritische Romantik hält diese Identifikation aufrecht. Um die Forschungsvorschläge zur Hegeischen Auffassung der Aufklärung zu konkretisieren, versuchen wir ein Verzeichnis von Fragen anzufertigen, derer man sich in diesem Zusammenhang annehmen sollte:
HEGELS SICHT DER AUFKLÄRUNG
1.
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Die Rekonstruktion der Hegeischen Klassifikation der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts: Aufzeichnung ihrer Richtungen und theoretischer Optionen (Deismus, Naturalismus. Materialismus); Aufklärung der Hegeischen Kriterien der Teilung in die „negative" und „positive" Richtung, in die Idee einer „allgemeinen, konkreten Einheit". Die Darstellung der Hegeischen Beurteilung natur-rechtlicher Theorien; Affirmation und Kritik der Aufklärungskonzeption der Freiheit, der Gleichberechtigung, des politischen Systems, des zivilisatorischen Fortschritts (bzw. Niedergangs), des Utilitarismus und Individualismus in der Ethik, des Sensualismus, Empirismus und der Rolle der Vernunft in der Erkenntnis.
Im Rahmen dieses Beitrags kann keine ausführliche Darstellung von Problemen, deren Beleuchtung unser Wissen über den Hegeischen Begriff der Aufklärung bereichern würde, erfolgen. Dennoch lassen die vorgenommenen Erläuterungen uns möglicherweise den Kern des Hegelianismus etwas gründlicher erkennen. Denn eines ist nicht zu bezweifeln: Der Hegeische Gedanke bleibt im engen Zusammenhang mit der philosophischen Kultur der Aufklärung. Diese These kann gerade in den vielseitigen Untersuchungen des Problems „Hegel und Aufklärung", nicht selten gegen eigene Erklärungen des Autors der Phänomenologie des Geistes, bestätigt werden.
WALTER DIETZ
Verzweiflung en masse Kierkegaards Einzelner und die Kritik der Masse ,Der Einzelne' ist die Kategorie, durch die in religiöser Hinsicht die Zeit, die Geschichte, das Geschlecht hindurch muß.
1. Die Kategorie des Einzelnen Kierkegaard beansprucht, im Anschluss an Sokrates die Kategorie des Einzelnen entdeckt oder - in ihrer sokratischen Dialektik - wiederentdeckt zu haben.2 Der Einzelne ist die unabdingbare Existenzform des menschlichen Daseins, die ihm vor allem im Kontext von „Grenzsituationen" (K. Jaspers) in ihrer Unhintergehbarkeit zum Bewusstsein kommt: Der Mensch existiert als Einzelner und ist darin er selbst und Teil des Gesamtunternehmens Menschheit, seiner gesellschaftlichen und geschichtlichen Manifestation. Der Begriff des Einzelnen ist schon im Begriff Angst (1844) an den geschichtlichen Kontext (historiske nexus) gebunden, von wo aus Kierkegaard sowohl die solipsistischen Vereinzelungs- als auch (nur scheinbar im Gegensatz dazu) kollektive Vermassungsstrategien kritisch in den Blick zu nehmen vermag. Zentral jedoch ist für ihn ein Konzept des Einzelnen, das die Bindungszusammenhänge (Gott, Leiblichkeit, Geschichte) zentral in den Blick nimmt und somit ein solipsistisches Verständnis ausschließt.3 Viele haben sich im zwanzigsten Jahrhundert nachhaltig an Kierkegaard vergriffen, ohne jenen Zusammenhang ernst- oder überhaupt wahrzunehmen. Weitläufige Fehlinterpretationen waren die Folge. Die oberste Bedingung zu einem angemessenen Verständnis auch der Sozialphilosophie Kierkegaards wäre es dem-
1
3
S0ren Kierkegaard, Der Einzelne, hg. v. Wilfried Greve, Frankfurt a. M. 1990,29. Kierkegaard betont, dass dieser Zentralbegriff nicht nur eine episodische Bedeutung im Kampf gegen Hegels System hat und auch keine Pseudonyme Fiktion darstellt. „Mit der Kategorie ,der Einzelne' ist meine mögliche ethische Bedeutung unbedingt verknüpft." (ebd., 30) Zu Sokrates: Hier ist schon seine Dissertation über den Ironiebegriff wegweisend: Sokrates gilt ihm als „Erfinder" der Ethik, der mithilfe der Ironie - als Lebenshaltung, nicht Sprachspiel! - das Prinzip einer dialektischen, nur indirekt belehrenden Mitteilung entwickelt hat. Sokrates hat die Kategorie des Einzelnen dabei „dialektisch gebraucht", nämlich „um das Heidentum aufzulösen" (ebd., 35). Darin kommt ihm nach Kierkegaard eine Vorreiterrolle zu, denn auch heute geht es darum, mehr oder weniger gut getarntes Heidentum in Gestalt moderner Massengesellschaft aufzulösen. In der DDR und bei Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse oder Georg Lukäcs dominierte ein ganz spezifisches Verwertungsinteresse, das einen redlichen, gerechten Umgang mit den Kategorien Kierkegaards im Kontext dieser Verwertungslogik a priori ausschloss. Der (neo)marxistische Zugang war hoffnungslos interessegeleitet. Die existenzialistische wie die neomarxistische Kierkegaard-Verwertung waren sich trotz fundamentaler Gegensätze darin einig, den ethisch-religiösen Zentralbegriff, den, wie Kierkegaard sagt, „spermatischen Punkt" (ebd., 30) seines Denkens zu verdunkeln oder zu karikieren, um so seine Philosophie einer willkommenen Amputation - oder besser: Kastration - zu unterziehen.
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WALTER DIETZ
nach, dieser Kategorie in seiner Sicht einer angemessenen Interpretation zuzuführen, d. h. sie aus dem Scheingegensatz zu Geschichte und Gesellschaft (oder theologisch: communio) heraus in den eigentlichen, ihr wesentlichen Gegensatz zur Masse, zur Menge zurückzubefördera. Die Menge ist definiert durch ihre numerische Vielheit unter Vergleichgültigung des individuell Persönlichen; sie ist nicht gemeint als Inbegriff des Plebejischen oder Proletarischen. Wenn es so etwas wie Proletarisierung im Sinne Kierkegaards gibt (verbunden mit massiver ethisch religiöser Abstumpfung), dann nicht als spezifisches Phänomen der Unterschicht, sondern der Gesellschaft insgesamt. Die moderne Massengesellschaft führt zu einer Verrohung und Verdinglichung der Lebensauffassung, in der der Einzelne als solcher „vor die Hunde geht" und auch von dem Bewusstsein geprägt ist, nur numerisch die Menschheit zu „bereichern". Der Einzelne ist die Strukturbestimmung von humanem Dasein überhaupt im Gegensatz zur Masse, in der das Individuum nicht von eigener Bedeutung ist, indem es nur als „ein jemand" zählt. „Der Einzelne ist die Kategorie des Geistes, der geistigen Erweckung [...], die christlich entscheidende Kategorie, und sie wird auch entscheidend sein für die Zukunft des Christentums."4 Die Assimilation des Christentums in die moderne Massengesellschaft stellt eine kollektive Selbsttäuschung dar (die christliche' Gesellschaft, die .christlichen' Werte, der .christliche' Staat usw.), im Blick auf das Gottesverhältnis sogar „Aufruhr", der in einer Art von feindlicher Übernahme besteht: Die Masse übernimmt das herrenlos gewordene Christentum, um es abzuschaffen oder bis zur Unkenntlichkeit zu assimilieren. Das derart verstümmelte, unernst, saft- und kraftlos gemachte Christentum existiert in der Massengesellschaft weiter: als belangloses postmodernes Zitat, als Reminiszenz, als Trivialität.5 Es kostet im wesentlichen nichts, schadet aber auch nicht, ihm rein formell zuzugehören (Nominalchristentum). Man nimmt es mit, es ist billig.
2. Die Masse, das Publikum und der Journalismus: Synergetische Affinität kollektiver Verblödungsinstanzen Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Lebens von S0ren Kierkegaard, dass er im Angriff gegen die als Masse existierende Christenheit zu journalistischen Mitteln greift. Es ist bekannt, wie sehr Kierkegaard dem Journalismus und seinen Massenorganen kritisch gegenüber stand. Wollte er die Masse mit den Mitteln der modernen Massengesellschaft über sich selbst aufklären? Rechtfertigt der Zweck das Mittel, zumal dann, wenn das Mittel in den kritischen Implikationen der Zielsetzung eigentlich ausgeschlossen ist? Ist die Handlungsweise Kierkegaards ein performativer Selbstwiderspruch? Ist dieser Selbstwiderspruch dabei nur Antwort auf den Selbstwiderspruch, in dem die Welt selber sich befindet, da sie sich von der Wahrheit abwendet, deren Bewusstsein sie doch nie ganz loswerden kann? Der Widerspruch zur verweltlichten Form des Christentums und der Widerspruch zum massenweisen Existieren mit kollektiven Selbstverblendungsstrukturen versteht sich als Aufdeckung eines inneren Widerspruchs, an dem der Kritiker (Kierkegaard) und das Objekt der Kritik (die Massengesellschaft) beide partizipieren. Die Nichtdispensierbarkeit aus dem inneren Widerspruch der Gesellschaft im Blick auf das Wesen des Menschseins (nicht nur sein „Ideal") impliziert die Angemessenheit und Unabdingbarkeit der Ironie: In der Ironie
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Seren Kierkegaard, Der Einzelne, 32f. Ebd., 33f.
VERZWEIFLUNG EN MASSE
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wird die Schiefheit der conditio humana in ihrem faktischen Vollzug nicht verobjektiviert, sondern zum Medium ihrer Mitteilung gemacht. In seiner Dissertation zum Ironiebegriff 6 hat Kierkegaard das Ideal der beherrschten Ironie der verflüchtigenden Ironie der Romantiker entgegengesetzt. Deshalb hat seine Ironie nichts Verflüchtigendes, sondern (darin sich Sokrates verwandt wissend; vgl. Diss.-these IX 7 ) etwas Subversives. Subversiv im Blick auf die moderne Massengesellschaft zu wirken, heißt, ihr nicht nur den Spiegel, sondern ihr Wesen und Ideal des Menschen (als des Einzelnen) vorzuhalten. In der Masse (Menge) kommt der Mensch nicht zu sich selbst, sondern wird der eigentlichen Struktur seines Menschseins beraubt. Diese Beraubung hat Motive, die sich als Flucht vor den Anstrengungen des Existierens als Einzelner her erklären lassen. Demgegenüber führt die Vermassung zu einer ethischen und religiösen Nivellierung des menschlichen Daseins. Das Bewusstsein, ein besonderes Selbst in ewiger Bedeutung vor Gott zu haben, wird in der Masse nicht nur abgestumpft, sondern regelrecht destruiert. Die Konstruktion der Masse geht so mit der Destruktion des individuellen Selbstseins einher. Der Mensch hat seine Würde, seine Bedeutung und seine Existenzchance somit gerade nicht in der Masse, sondern nur ohne und gegen sie. Diese Meinung Kierkegaards ist Hintergrund seines gesellschaftskritischen Affronts gegen die seinerzeit (noch halbwegs harmlos) aufkeimende Massengesellschaft. Der Mensch versucht im Kollektiv auf- und unterzugehen, um mit und in ihm das Gefühl der Stärke zu genießen. Der Wahn des Kollektivgeistes hat Faschismus und Nationalsozialismus zutiefst beherrscht. Massenaufmärsche wie ζ. B. bei den Nürnberger Reichstagen verfehlten ihre Wirkung 8 nicht. Das Selbstwertgefühl bezieht der Einzelne in der Masse aus einem kollektiven Programm, das seine Wirksamkeit dort vollendet entfalten kann, wo es an rudimentäre Ängste und Instinkte anknüpft. Der Mensch, der im Grunde seines Wesens nicht haben kann resp. will, dass Gott Gott ist, und daher in geheimer oder offener Revolte selber sein will wie Gott (vgl. Gen 3, 5), dieser Mensch findet seine Heimat in der Masse: dort ist er stark, dort ist das Urtümliche in ihm ziel- und siegessicher entfacht, dort entbirgt sich sein Machtstreben über das vereinzelt Mögliche hinaus. Insofern ist der Mensch dort sich selbst zwar seinem Wesen (als Einzelner, als schuldig, in Ängsten und Grenzsituationen) nach verborgen, zugleich aber entborgen im Blick auf tief liegende Instinkte und Hoffnungen, und nicht zuletzt geborgen im Sicherheit vermittelnden Schoß der Masse, die ihm eine imaginäre Megaidentität und Hyperidentität verleiht.
6
g
Seren A. Kierkegaard, Om Begrebet Ironi med stadigt Hensyn til Socrates (mit 15 auflagengemäß auf lateinisch verfassten Thesen, verteidigt von cand. theol. Severinus Aaby Kierkegaard am 29.9. 1841). Sokrates habe seine Mitmenschen „aus der Substantialität" ihres Scheinwissens „verscheucht", „die Idealität" (vgl. den reifen Plato) „von ferne geschaut [...], aber nicht ergriffen" (GW 31, 1961,3f, 337f = stw 127, Frankfurt a. M. 1976, 9, 325). Sokrates ist somit der Typ, der massenkonformer Wissensvermittlung ironisch Wideretand leistet. Der Kem seiner Ironie ist sein reflektiertes Nichtwissen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß." Dabei kann die interne von der externen Wirkung unterschieden werden: Nach innen erzeugen derartige Massenaufwallungen das Gefühl der Geschlossenheit und Stärke, nach außen hin das Gefühl, dass diese Masse zum Handeln entschlossen ist und dabei nicht zimperlich sein wird.
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3. Die triviale Verzweiflung des Spießbürgers - das Lebenselixier der Masse Doch gerade in der Masse, so Kierkegaard, ist der Mensch nicht er selbst. Dieses Nichteigentlich-man-selbst-Sein, prinzipiell gründend in einem Zwiespalt von Wesensbestimmung und faktischer Selbstbestimmung bzw. Willensakzentuierung, hat Kierkegaard als „Verzweiflung" bezeichnet (Die Krankheit zum Tode9, dän. 1849). So ist es Verzweiflung, das eigene Selbst hinzuwerfen bzw. wegzuwerfen in Richtung auf das Kollektivselbst einer Massenbewegung. Hier in der Masse verkommt der Mensch zur Geistlosigkeit, d. h. er verliert das Bewusstsein, als Geist, als ein Selbst bestimmt zu sein. Eben darin besteht die Verzweiflung: in diesem Nichtwissen bzw. Nichtwissenwollen, in der Nichteinholung des Potentials, das im individuellen Menschsein liegt. Verzweiflung in ihrer universalsten Form ist, dass „der Mensch sich dessen nicht bewusst ist als Geist bestimmt zu sein" (GW 24, 21). Diese implizite Verzweiflung, kein explizites Bewusstsein von der Bestimmung des Menschen, d. h. seines Menschseins zu haben, ist laut Kierkegaard die auf der Welt verbreitetste, „allgemeinste" Form von Verzweiflung (GW 24, 22). „Eine jede menschliche Existenz, die nicht ihrer als Geist sich bewusst ist, eine jede menschliche Existenz, die [...] nicht dergestalt durchsichtig gründet in Gott, sondern trübe ruht und aufgeht in irgendeinem abstrakten Allgemeinen (dem Staat, der Nation u. dgl.), [...] ist [...] Verzweiflung" - ganz ungeachtet ihrer Selbsteinschätzung oder ihrer ästhetischen, militärischen oder virtuellen Selbstentfaltung (GW 24, 43f)· In diesem Sinn kritisiert Kierkegaard auch ein geistlos gewordenes Christentum, das in seiner Gleichschaltung mit dem Zeitgeist diffuse Formen annimmt, indem es nicht nur verweltlichte, sondern im Ansatz verkehrte Kirche darstellt: „Heidentum innerhalb der Christenheit" (GW 24, 44). Dass der Mensch sich zur Massenexistenz entäußert und sich kollektiven Verblödungsmechanismen hingibt, hängt mit der faszinierenden Wirkung der Masse zusammen, aber auch mit der Fluchtbewegung, die mit den Anstrengungen des reflektierten Selbstseins (als Einzelner) zu tun hat: Es ist unbequem, vor Gott ein Einzelner zu sein. Die Flucht liegt dem Menschen näher als die Beständigkeit in sich. Diese Fluchttendenz ist dort besonders stark, wo das Kollektiv Macht und Größe hat, den Einzelnen zu be- und verzaubern. Wichtig ist hierfür nicht nur eine „passive" Form der Verzweiflung aufseiten der Masse, sondern eine ihr synergetisch korrespondierende Führergestalt, die in ihrer Geistlosigkeit zwar Spiegel der Masse sein (analoge Korrespondenz), zugleich aber in hybrider Selbstübersteigerung das unbedingte Selbstseinwollen (Verzweiflung des Trotzes) zum Ausdruck bringen muss (antithetische Korrespondenz: dem Führer entspricht der Wille zum Geführtwerden, zum Gehorsam; in der Unterwerfung gewinnt die Masse ihre neue Identität, wobei der Einzelne sich selber los wird). Dass jener österreichische Gefreite Adolf Hitler in Deutschland 1933 an die Macht kam - und zwar mit weit rei-
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Sygdommen til Dßden, vf. 1848, pseudonym hg. 1849; zitiert wird nach der Hirsch-Ausgabe, 24. Abteilung (= GW 24,1954). - Es ist zwar falsch, hier (KzT) vom .Hauptwerk' Kierkegaards zu sprechen - ein solches gibt es nicht - , aber es handelt sich dabei um seine ausgefeilteste und streckenweise (vor allem zu Beginn) extrem reflektiert durchkomponierte Schrift. Ausgehend von der - m. E. zutreffenden - These, dass die Verzweiflungstypen nicht rein individualpsychologisch zu deuten, sondern auf bestimmte soziale Typen zu beziehen sind („they correspondend to distinct social types", 185) hat der amerikanische Kierkegaard-Forscher Bruce H. Kirmmse eine Sozialtypologie der Verzweiflungsformen (Social Typology) entworfen, vgl. Bruce H. Kirmmse, „Psychology and Society: The Social Falsification of the Self in The Sickness unto Death", in: Joseph H. Smith (Hg.), Kierkegaard's Truth: Disclosure of the Self USA (Yale UP) 1981, 177-186.
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chender H i l f e der M a s s e , nicht g e g e n sie - , ist nach Kierkegaard k e i n Wunder, oder genauer: kein W u n d e r innerhalb der L o g i k der V e r z w e i f l u n g . Hitler m u s s t e s i e g e n i m Verhältnis zur M a s s e : Er war für sie, sie für ihn bestimmt: D a s U n b e h a g e n , die S t i m m u n g , d i e motivierten Ä n g s t e , die übersteigerten S e h n s ü c h t e (mehr sein w o l l e n als man selbst): all das stimmte und machte Hitler z u m M a n n d e s V o l k e s - d i e s e s V o l k e s , das mit ihm, durch ihn und unter i h m zur braunen M a s s e w u r d e . 1 0 In politisch ruhigeren und daher prima vista harmloser wirkenden Zeiten v o l l z i e h t sich die D y n a m i k der M a s s e z w a r anders, führt aber nach Kierkegaard z u m g l e i c h e n Ergebnis d e s Selbstverlustes oder der S e l b s t v e r g e s s e n h e i t in der V e r z w e i f l u n g . D e r Spießbürger 1 1 ist für ihn Paradegestalt der v o n der m e n s c h l i c h e n B e s t i m m u n g entfremdenden V e r z w e i f l u n g : In ihr v e r k o m m t der M e n s c h z u m „Man", z u m unbestimmt A l l g e m e i n e n , zur N u m m e r , z u m R ä d c h e n im Getriebe. Markant ist auch hier wieder Kierkegaards T h e s e einer äußerlichen Unkenntlichkeit des Spießbürgers. Er geht sogar s o w e i t zu behaupten, ein Spießer k ö n n e nicht nur ein erfolgreicher (mithin auch sehr wohlhabender), sondern auch ein „nach außen hin" sehr glücklicher M e n s c h sein. W a s ist G l ü c k ? W a s ist s c h o n G l ü c k , w e n n man in Wahrheit v e r z w e i f e l t ist? Antwort: N i c h t s , nichts als e i n e subjektive Einbildung, mit der sich leben lässt. D i e Nichtobjektivierbarkeit des G l ü c k e s ( w e n n g l e i c h Aristoteles versucht hat, die eudaimonia an äußere und ästhetische B e d i n g u n g e n zu k n ü p f e n ) korrespondiert der Nichtobjektivierbarkeit der V e r z w e i f l u n g . Daher auch Kierkegaards T h e s e einer m ö g l i c h e n Inkongruenz: D e r V e r z w e i f e l t e kann nach außen hin ( a u c h vor sich selbst) glücklich er-
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In filmischer Weise hat auch Charlie Chaplin (1940) die These vom „Mann des Volkes" umgesetzt (vgl. Anm. 16). " Kierkegaards Begriff des Spießbürgers trifft sich zunächst mit der vom jungen Schleiermacher 1799 kritisierten Philisterhaftigkeit der Aufklärung, erst noch orientiert am romantisch-idealistischen Freiheitspathos, vollzieht dann aber eine Ausweitung in der KzT 1849 (doppelt behandelt in der Verzweiflung der Notwendigkeit und der der Endlichkeit) und wird drittens schließlich stärker auf institutionelle und massenartige Selbstnivellierungstendenzen bezogen. Vgl. zum Wandel der Begriffsanwendung auch Anton Bösl, Unfreiheit und Selbstverfehlung, Freiburg/Br. 1997,259. Den Erfolg Ludwig Tiecks und der anderen Romantiker fuhrt Kierkegaard auf die in sich erstarrte, in ihrer Banalität öde gewordene Welt der Aufklärung zurück - eine Welt, in der „die Menschen ganz und gar zu Stein erstarrt waren in den endlichen Verhältnissen". Der Prototyp des modernen Spießers war geboren. An die Stelle des Gottesglaubens trat die bürgerliche Moral; „man enthielt sich der Polygamie" - die Romantik wird hier anders votieren - , „man ging mit spitzköpfigen Hüten. [...] Man lebte nicht, wie Schwärmer tun, leichtsinnig ohne Achtung fur Stunde und Glockenschlag [...] Alles ging seinen geruhsamen, seinen abgezirkelten Gang [...] Alles geschah auf Glockenschlag. Man durchschwärmte die Natur am Johannistag, man war zerknirscht am großen Büß- und Bettag, man verliebte sich, wenn man das zwanzigste Jahr erreicht hatte, man ging Schlag zehn Uhr zu Bett. Man verheiratete sich, man lebte für sein Hauswesen und seine Stellung im Staat; man bekam Kinder [...], stand in freundschaftlichem Umgang mit dem Pfarrer [...] Man verstand sich auf die Welt [...]" In diese stickige, fein durchkomponierte, kleinbürgerliche Massengesellschaft des aufgeklärten Spießers bringt nun die Romantik frischen Wind - „den Spießbürgern läuft es kalt den Rücken hinunter" (GW 31, 309f= stw 127, 1976, 298f). Die Berechtigung der romantischen Bewegung lag darin, dass in jener Welt „die Menschen gleichsam ganz und gar zu Stein erstarrt waren in den endlichen sozialen Verhältnissen. Alles war vollbracht und vollendet in einem göttlichen chinesischen Optimismus...." (309/298). Das Scheitern der in dieser sozialen Situation durchaus berechtigten romantischen Bewegung liegt für Kierkegaard in ihrem mangelhaften Wirklichkeitssinn begründet: „Das ist mit der Romantik das Unglück, sie greift nicht die Wirklichkeit." (310/299) Damit ist das Urteil gesprochen - für Kierkegaard nicht anders als für Hegel: Die Romantik ist ein Versuch, aber sie bleibt - trotz allem - sozialethisch und politisch unbrauchbar.
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scheinen, der Glückliche demnach im Kern verzweifelt sein. Und der Nichtverzweifelte kann nach außen hin unglücklich erscheinen (vgl. Nietzsches Kritik, dass glaubwürdiges Christsein das Erlöstsein ästhetisch zum Ausdruck bringen müsste, um glaubwürdig zu sein), wenngleich er im Kern seines Wesens ein glücklicher Mensch ist. Die Masse vermag demnach den Menschen (mehr oder weniger) glücklich zu machen, verzweifelt bleibt der Mensch dennoch in ihr. Nur so könnte die Masse für Kierkegaard heilsam wirken, dass sie ihn abschreckt und somit aufschreckt zum Ansichtigwerden des eigentlichen Selbstseinkönnens. An sich bleibt die Masse für Kierkegaard ein grundsätzlich zwiespältiges, fragwürdiges und gefährliches Phänomen. Das Unheil der modernen bzw. der romantischpostmodernen Gesellschaft liegt in ihrer Vermassung.
4. Die Affirmation (Idealisierung) des spießbürgerlichen Gleichheitswahns und die Gewissenlosigkeit der Masse Die Vermassung impliziert einerseits das Phänomen der Nivellierung (Gleichschaltung), andererseits das Phänomen der Egalisierung: wesentliche Differenzen zwischen Menschen werden „egalisiert". Der Gleichheitswahn führt geradewegs in die Masse und kommt seinerseits aus der Massenbewegung. Ferner impliziert die Masse (sei es in ihrer proletarischen Basis oder in ihrem Bürgertum) eine ethische Vergleichgültigung. Entscheidend ist hier, dass die Masse nach Kierkegaard unsensibel ist für verbindliche ethische Maßstäbe.12 Sie ist blind für die ethische Forderung, wie sie (nicht nur, aber besonders eklatant) aus dem Christentum kommt. Sie kennt keine Gewissens-Existenz, kein explizites Gewissensverhältnis, wie es eben nur im Einzelnen angelegt ist (und wodurch - nicht zuletzt - der Einzelne auch erst zum Einzelnen wird). Die Masse ist gewissenlos, denn sie agiert blind nach eigenen Maßstäben. In ihr sucht der Einzelne die Durchsichtigkeit seines Gewissensverhältnisses zu verbergen, d. h. loszuwerden. Aber er kann es letztlich nicht. Denn die Existenz in der Masse ist Fiktion, während Gott und das Vor-Gott-Existieren für Kierkegaard letzte, unabweisbare (und übrigens auch unbeweisbare) Realität sind. Vor Gott bleibt der Mensch ein Einzelner, wohin er sich auch flüchtet. Dabei ist für Kierkegaards Konzept des Einzelnen kennzeichnend, dass es nicht im Gegensatz zur Gesellschaft und zum geschichtlich existierenden Menschen, sondern zur Masse entworfen und entwickelt ist.13 Kierkegaards Einzelner ist nicht solipsistisch zu verstehen, auch nicht im Sinn von Max Stirner. Vielmehr ist der Einzelne gerade darin wahrhaft er selbst, dass er im Geschichtszusammenhang (historiske nexus) existiert und Teil einer bestimmten Gesellschaft und Geschichte ist. Der Einzelne ist somit immer zugleich er selbst und „das Geschlecht", wie Kierkegaard sagt. D. h. er ist immer zugleich Ausdruck und Exemplar der Menschheit insgesamt, ohne dass dieses abstrakte Allgemeine in seiner Totalität höher stehen würde als er selbst. Der Einzelne steht auf paradoxe Weise höher als die Masse der Menschheit, deren Teil er jedoch ist. Der Teil ist hier allerdings mehr als das Ganze, sofern die Personalität des Einzelnen die apersonale Gesamtstruktur der Menschheit 12
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Dies liegt daran, dass sie als Kollektiv kein spezifisches Gottesverhältnis entwickeln kann, zudem selber die Macht einer absoluten Instanz usurpiert. Die Masse erhebt sich spielerisch über den Einzelnen und sein ethisches Urteil. Sie partizipiert zudem am Ethischen im Modus der Entrüstung. Indem sie sich entrüstet, erfährt sie sich als ethisch erhabenes Subjekt und verdunkelt zugleich ihre radikale ethische Unzulänglichkeit. Die von Adorno vorgelegte Fehlinterpretation Kierkegaards beruht im wesentlichem auf einem Missverständnis seiner Kategorie des Einzelnen (als „objektloser Innerlichkeit" etc.).
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sofern die Personalität des Einzelnen die apersonale Gesamtstruktur der Menschheit als Kollektiv überragt. Das Menschsein des Einzelnen ist somit nichts, was überboten oder überwunden werden müsste. Es ist eine Auszeichnung (dignitas), die in der Gottesbeziehung des Einzelnen (coram Deo-Relation) ihren Grund hat. Ohne diese Relation wäre die Existenz des Menschen nicht nur grundlos, sondern auch haltlos und ziellos. Nur das Gewissensverhältnis des Menschen gibt darüber Aufschluss, weil in ihm Selbstdurchsichtigkeit möglich wird, wie sie sonst Gott vorbehalten ist. Dass die Masse „gewissenlos" agiert, heißt demnach, dass sie ihrer selbst weder ansichtig werden will noch kann. Sie kann es auch deshalb nicht, weil sie im strengen Sinn über kein Selbst verfügt, sondern nur ein Konglomerat von Selbst 1,2,3 ... η ist, die ihr Selbstsein jedoch an sie (und damit überhaupt) preisgegeben haben. Die Flucht vor dem eigenen Selbst führt in die Masse. In ihr wird der Mensch um sein Selbstseinkönnen betrogen. Sie stellt die Unwahrheit dar, ist unlauter und unberechenbar. 14 Umgekehrt führt die Masse auch zu einer verstärkten Flucht vor dem eigenen Selbst: Selbstflucht und Affinität zur Masse stehen zueinander nach Kierkegaard in einem positiven Korrespondenzverhältnis. Die Existenzaufgabe lautet jedoch, sich diesem Korrespondenzverhältnis zu entziehen. Das ist seiner Meinung nach zwar schwierig, jedoch nicht prinzipiell unmöglich. Prinzipiell unmöglich wäre es nur im Blick auf ein Geworfensein der Existenz ohne Woher und Woraufhin, gleichsam ins Leere. Kernpunkt des Kierkegaardschen Menschenbildes ist jedoch nicht die Gottesferne (der unendliche qualitative Unterschied, die Diastase), sondern die Gottesnähe: Gott ist mir näher als die Welt und mein gesamtes Menschsein (vgl. Augustin, Descartes). Der Einzelne existiert somit in einem Gottesbezug, der die Möglichkeit und Forderung impliziert, durchsichtig in diesem Grund seines und allen Daseins zu „gründen" (freilich nicht „sich" zu gründen, denn dies würde der absoluten Gründungsfunktion des Grundes widersprechen!), oder undurchsichtig verzweifelt (nicht) man selbst zu sein. Gott ist die Bedingung der Möglichkeit nicht nur von Existenz überhaupt, sondern einer menschlichen Existenz, die sich ihrer spezifischen Bestimmung bewusst werden kann. Dieses Bewusstsein zu verdrängen, ist eine Hauptfunktionen der Masse. Der zwischenmenschliche Verbund in der Masse wird so zuletzt zum Surrogat einer Gottesbeziehung. Diese wiederum stellt die entscheidende Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass der Mensch sich positiv vor Gott verwirklichen kann. Die „Selbst"Verwirklichung der Masse tritt in obstruktiver und obskurer Weise an die Stelle der wahrhaften Selbstverwirklichung vor Gott.
5. Signaturen der modernen Massengesellschaft (LA 1846): Nivellierung und „mainstreaming" Eine implizite Kultur- und Gesellschaftskritik enthält Kierkegaards Schrift von 1846 Eine literarische Anzeige.15 Vordergründig handelt es sich hier um eine Rezension von Thomasi-
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So ist es nach Kierkegaard dieselbe Masse, die zunächst Jesus beim Einzug in Jerusalem ein Hosianna zujubelt und die dann entschlossen fordert: „Kreuzige ihn!" Seren Kierkegaard, „En literair Anmeldelse" (= LA, 1846), GW 17, 1954, 1-120, zur Massen-Problematik dort insbes. 63-120. Die Schrift war mit einer zeitgeschichtlichen Wertung ihrer kritischen Implikationen 1914/22 in Auszügen bereits von Theodor Haecker veröffentlicht worden. Ganz im Gegensatz zu Haecker hat Emanuel Hirsch seine Kierkegaard-Rezeption auf merkwürdige Weise persönlich mit einer positiven Affinität zum NS-Staat verbinden können.
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ne Gyllembergs pseudonym veröffentlichter Novelle Zwei Zeitalter (1845). Sie stellt hier das leidenschaftliche Zeitalter der Französischen Revolution der Leidenschaftslosigkeit der Gegenwart gegenüber. Was nach Kierkegaard die Masse leidenschaftslos zusammenhält, ist der Neid, der aus der Gleichheitsparole resultiert. Im Bewusstsein der Gleichheit gelingt es der Masse, sich fiktiv über einzelne Herausragende zu erheben (vgl. Nietzsche). Denn im Grunde findet die Masse nicht nur einen jenseitigen Gottesgedanken unerträglich, sondern auch die Vorstellung, dass sich in ihr geistige „Riesen", d. h. effektiv herausragende Persönlichkeiten finden. Die Masse findet ihren Führer hingegen in und aus ihrer Mitte. Er muss dem Ideal des Durchschnittlichen, Banalen, Spießigen entsprechen. 16 Die Presse als Organ der Öffentlichkeit steht im Dienst der Nivellierung (gedanklichen Gleichschaltung). Sie generiert, d. h. erfindet aus sich heraus das „Phantom" der öffentliEine kurze, aber gelungene Interpretation dieser kleinen Schrift gibt Bruce H. Kirmmse, Kierkegaard in Golden Age Denmark, USA 1990, 265-278 (= § 17). Zum biographischen Kontext vgl. Joakim Garff, Sören Kierkegaard. Biographie (dän. 2000), München/Dannstadt 2004, 543-582; zur Lit. Anzeige insbes. 562-568. Vgl. ferner auch KSYB 1999, dort insbesondere Bruce H. Kirmmse, „Apocalypse Then: Kierkegaard's A Literary Review", in: Nils Jorgen Cappelarn/Hermann Deuser (Hg.): Kierkegaard Studies Yearbook 1999, Berlin u. a. 1999, 182-203, zur Problematik der Masse insbes. 190-198; im gleichen Band Alastair Hannay, „Kierkegaard's Levellings and the Review", in: KSYB 1999, 71-95 (samt einem Vergleich mit Heidegger, Sein und Zeit)·, Hubert L. Dreyfus: „Kierkegaard on the Internet: Anonymity vs. Comitment in the Present Age", in: KSYB 1999, 96-109; Pia Seltoft, „The Ethical and the Social", in: KSYB 1999, 110-129, insbes. 123-129. Soltoft versteht das Massenzeitalter als das per se unethische Zeitalter, bestimmt durch Feigheit und Neid statt echtes Interesse am Menschen. In dieser Weise hat auch Charles Chaplin jenes Phänomen interpretiert: Sein Diktator (The Great Dictator, USA 1940), der als Exponent der Masse die gesamte Welt als - wenngleich nicht unzerstörbaren - Spielball in seiner Hand hat, kommt aus dem Volk, ein homo de plebe - nämlich ein jüdischer Friseur. Er ist dem gewöhnlichen Mann so zum Verwechseln ähnlich, dass die Verwechslung zum Rollentausch avisieren kann. Damit ist von Chaplin in humoristischer (und damit natürlich aus der Sicht der Opfer streitbarer) Form die Dynamik der Massenagitation aufs Korn genommen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Chaplins Thema ist hier weniger die Perspektive des Führers - denn er steht nicht geistig, nur machtmäßig über dem gemeinen Mann - , sondern die Perspektive des kleinen Mannes (vgl. auch ders., The Tramp Forever, 1916), der in der modernen Massengesellschaft unter die Räder kommt. Nicht nur totalitäre Regime stehen fur diesen Mechanismus. Weltgeschichtlich durch militärische Mittel noch kontrollierbare Agitationsmassen wie das schon nach extrem kurzer Zeit von 12 Jahren zusammenbrechende „1000jährige Reich" beschäftigen in lähmender Weise das Bewusstsein Europas auch heute noch - eine „ incurvatio in se " im Kontext unverarbeiteter Geschichte während aus ganz anderer Richtung fanatische Islamisten mithilfe modernster westlicher Technologie und dem ebenso leicht wie reichlich fließenden Kapital der Ölförderung die Masse der Muslime für ihren Dschihad gegen den Westen mobilisieren möchten. Demgegenüber waren Hitler und Stalin vergleichsweise harmlose, weil begrenzte, von ihrer definitiven Eliminierbarkeit her kontrollierbare und fassbare Phänomene. Die Trivialität dieser Führer steht dabei nicht im Gegensatz zu ihrer menschlichen Öde und Leere, wie sie für Spießbürger typisch ist (nur so kann sich die Masse in ihnen wieder erkennen). Chaplins Diktator lebt von der Spannung, dass die Verfuhrung der Massen von trivialen, banalen Gestalten ausgeht - das ist komisch und furchtbar zugleich. Ob sich dieses „zugleich" ästhetisch im Medium des Films angemessen darstellen lässt, war die Frage der Kritik der nach Amerika entkommenen Opfer an jenem Versuch Chaplins, die Banalität und Trivialität des Bösen im Medium des Films darzustellen. Kierkegaard selber geht davon aus, dass die Angst als Basis der spießbürgerlich wirkenden Trivialität der mediale Kern des Führers ist (so hat er bekanntlich schon 1843 in E/O Nero als Typus des angstbesessenen Menschen dargestellt). Nach außen hin tritt diese Angst im Sinne Kierkegaards nur indirekt zutage, sie verrät sich unfreiwillig. Innerlich kann sie sich entwickeln bis hin zur dämonischen Raserei (Caligula, Nero). Die Masse unterwirft sich dem Dämon, den sie in der ihr eigenen Leere und Nichtigkeit als ihr wahrhaftes, eigentliches Ich lieben, verehren und dem sie huldigen muss (und auch will).
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chen Meinung, das public mainstrearning. Dieses Phantom - eigentlich ein „Nichts" - ist sehr wohl wirkmächtig in gesellschaftlicher wie politischer Hinsicht. Dem Diktat der öffentlichen Meinung zu widersprechen, wird vom Publikum mit Vernichtung oder Verachtung bestraft. Das Publikum ist mächtig und weiß um seine Macht. Es gebraucht sie, um selbstherrlich emporzuheben und niederzureißen. Nivellierung 17 bedeutet dabei nicht nur 1. 2. 3.
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Gleichschaltung (vor dem Publikum sind alle gleich - es verwirft und errettet nach blinder Willkür), sondern Drang zur Geistlosigkeit und zum Stumpfsinn, ferner Drang zur „Entselbstung" und zur Anonymität. Die Masse ist amorph und gesichtslos. Diese Gesichtslosigkeit ist zugleich ihre Stärke, sich anzuverwandeln und den Zeitgeist je neu zu definieren, d. h. Moden willkürlich zu etablieren. ist die Masse gekennzeichnet durch „Geschwätzigkeit", d. h. es werden barrierelos Gedanken veröffentlicht, die seicht und banal sind - und in ethischer Hinsicht fragwürdig. ist die Massengesellschaft gekennzeichnet durch Hast, Geschäftigkeits- und Schnelligkeitswahn (so wird das Reisen nicht zum wirklichen Erlebnis der durchreisten Welt, sondern zur hastigen Überbrückung örtlicher Distanzen). Dem korrespondiert negativ eine Tendenz zur Wankelmütigkeit und Unentschlossenheit. Zu wirklichen, tiefgreifenden Entscheidungen ist die Massengesellschaft nicht fähig, weil ihr einerseits der ethische Boden dafür fehlt, andererseits sie in ihrem Tun am Gefallen der Masse ausgerichtet ist. D. h. ihr unausgesprochenes Prinzip ist die Selbstgefälligkeit. Entscheidend hinzu kommt die Skrupellosigkeit der Masse: Sie hat keine konsistente ethische Haltung und agiert gewissenlos. Sie kann es, denn die Masse hat sich auf ihrer Seite und ist daher per se im Recht. Die Skrupellosigkeit zeigt sich auch in ihrer konsequenten Relativierung von Gut und Böse. Sie fühlt sich in ihrer Selbstgefälligkeit über das wahrhaft Ethische erhaben und darum jederzeit zur gewissenlosen Realisierung des Bösen fähig. 18
Die Vermassung und Proletarisierung der Gesellschaft stellt somit einen äußerst zweifelhaften „Fortschritt" der Menschheitsgeschichte dar (auch ein höchst fragwürdiges Gegenmodell zur antiken polis): Das ethische Bewusstsein im Blick auf die Grenzen des Erlaubten und Verbotenen wird verwischt durch die allgegenwärtige Referenzstelle des „Man": Erlaubt ist, was der andere auch macht, verboten nur, was die Ächtung durch die Masse mit sich bringt. Das ist die Logik des Konformismus, der an die Stelle der Ethik tritt. Die Ächtung durch die Masse, durch „das Publikum", stellt nach Kierkegaard in Wahrheit ein Kompliment dar. In der Verachtung durch die Masse erfährt der Einzelne seine
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Pia Seltoft unterscheidet bei Kierkegaard fünf Merkmale der von der Masse ausgehenden Nivellierungsmacht (KSYB 1999, 118f): 1. die Logik des Vergleichs (comparison); 2. Ausfall von Verantwortungsbewusstsein und Gewissen (remorse); 3. Abstraktion vom Individuellen; Orientierung am Allgemeinen, was „man" fur richtig hält; 4. Feigheit statt Zivilcourage; 5. Anonymität und Mangel am individuellen Wahrheitsinteresse. Merkwürdiger Weise wiederholt sich hier ein Argumentationsmuster der Kritik Hegels an Kants Ethik, vgl. Rph § 139f: die Masse entspricht in ihrer eitlen Selbstgewissheit dem subjektiven Gewissen, das Hegel als Anker des sittlichen Bewusstseins in Frage stellt.
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Identität in der Nichtidentität mit dieser. Dieser Prozess ist schmerzhaft und befreiend zugleich. Schmerzhaft, weil der Beifall der Masse der Seele gut tut und ohne Anerkennung keiner leben kann; befreiend, weil die ominöse Masse nun depotenziert und fraglich geworden ist als eine Instanz, die (gleichsam an Gottes Statt) das Recht hätte, über meine Person ein Urteil zu fällen.
6. Die Freiheit der Presse, das Ethische im Interesse des Publikums zu suspendieren (Der Korsar 1846) Kierkegaard hat vor allem die befreiende Seite dieses Lossagungsprozesses erlebt, aber auch das Schmerzhafte. Tiefe Verwundungen hatte die Korsar-Affäre 19 in seinem Selbstbewusstsein hinterlassen. Er wusste jetzt, was es heißt, öffentlich zum „Abschuss" freigegeben zu werden, auf der Straße „totgegrinst" oder jedenfalls zum Gespött aller zu werden in dieser scheinniedlichen, großen Kleinstadt Kopenhagen. Die Korsar-Affäre war eine Lektion von beiden Seiten und für beide Seiten. Kierkegaard wusste: Wer sich in das Medium der Presse begibt, kommt daraus nicht unbeschadet wieder heraus. Dennoch hat er die Konfrontation gewagt - „freiwillig", wie er meinte - und durchgefochten bis zum Ende, an dem es zwei Verlierer gab: die Satirezeitschrift Korsar einerseits, und ihn, Kierkegaard, andererseits. Das Wesen der Presse (hier eines satirischen Organs) kennen zu lernen, ist immer lehrreich auch und gerade für Kierkegaard. Und nur auf der Basis einer Kenntnis der Eigentümlichkeit der Masse (des Publikums) lässt sich nach Kierkegaard gesellschaftlich sinnvoll agieren bzw. eine Theorie der Gesellschaft entwickeln, die von faktischer Relevanz und keine akademische Abstraktion ist. Dabei ist es wichtig, wie von Jan Cattepoel aufgezeigt, auch ein Sensorium für die gesellschaftskritische Seite der Philosophie Kierkegaards zu entwickeln und sich nicht von einseitigen, vorurteilsverhafteten Lesarten Kierkegaards (vgl. Adorno und seine Schule) verblenden zu lassen. Cattepoel wendet sich hier insbesondere gegen das Vorurteil von Kierkegaard als „Darsteller des isolierten, einsamen Individuums".20
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Der Titel jener von dem jüdischen Literaten Meir Aron Goldschmidt herausgegebenen Satirezeitschrift lautete Corsaren (Der Korsar). - Zur Korsar-Affare vgl. Joakim Garff, Kierkegaard, 433-497. Jan Cattepoel, Dämonie und Gesellschaft, Freiburg/München 1992, 15. In dieser ersten Fassung seines Werkes wird der Begriff des Dämonischen zum Ausgangspunkt gemacht. Demgegenüber findet der Begriff des Spießbürgers (Spidsborger) noch keine Berücksichtigung (obwohl ihm für Kierkegaards Sozialkritik und -psychologie zentrale Bedeutung zukommt). In der zweiten, überarbeiteten Fassung seines Werkes Seren Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker (Diss. phil. Mainz 2004 bei HansMartin Gerlach) hat Cattepoel dieses Manko angesprochen (ebd., 9f). Diese ergänzte Version enthält auch eine mit zeitgeschichtlichem Hintergrundwissen (Linkshegelianer, Decadence, Anarchismus) garnierte Interpretation der Literarischen Anzeige (156-170 in der zweiten Auflage, Mainz 2004/05, Ms.). Cattepoel hebt den konkret zeitgeschichtlichen Hintergrund hervor. Ein „exzessiver Gleichheitswahn" (169), wie er aus der Frz. Revolution hervorging, ist Grundlage der Massengesellschaft und ihres wichtigsten Organs im Dienste der Nivellierung, nämlich der Presse. Die Gleichheitsidee führt zur Nivellierung, zum Hass gegen das Bessere oder gar das Herausragende. Wählt die Masse der Menschen nach ihrem Bilde, so nimmt das Spießbürgertum die Regentschaft an sich, wählt ihresgleichen. Indem nun alle Unterschiede nivelliert werden, darf sich jeder zur Herrschaft berechtigt fühlen. Ist also jeder stimmberechtigt und zählt die Summe der Stimmen 1:1:1, [·•·] „unterliegt man da nicht der Menge, den Dösköppen." (GW 30, 125 zit., bei Cattepoel, 165, Anm. 495). Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, auch die Menge führt nach Kierkegaard sich selber ad absurdum, indem man ihr unkritisch ein Herrschaftspotenzial beilegt, das ihr naturgemäß nicht zu-
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7. Der Einzelne und die Idee der Gleichheit Da Kierkegaard gerade nicht vom einsamen, isolierten Subjekt ausgeht, sondern den Einzelnen dialogisch-relational (als offenes Selbstverhältnis) begreift, ist es nicht verwunderlich, dass seine Theorie des Einzelnen eine scharfe Sozialkritik impliziert. Gesellschaftskritisch ist Kierkegaards Massentheorie insofern, als sie der modernen Massengesellschaft ein ihr fehlendes Prinzip positiven Zusammenhalts attestiert. Das, was die Gesellschaft zusammenhält, ohne sie zur Masse zu machen, kann nach Kierkegaard folgerichtig nur das individuelle Bewusstsein ihrer Glieder sein, als Einzelne vor Gott zu existieren (und daher den Sozialverbund niemals mit dem Reich Gottes zu verwechseln). Die Quintessenz der Gesellschaftskritik liegt nicht in einem politischen Programm (denn durch Mittel der Politik lässt sich das Phänomen der Masse nicht wirklich bezwingen - es ist ihr vorgegeben), sondern im Aufruf zu einer dezidiert ethisch-religiösen Existenz. Nur so kann der Mensch jenseits der Masse begreifen lernen, „was es heißt, ein Mensch zu sein" (LA 120). Das Ein- und Abtauchen in der Masse löst diese Frage zwar auch, aber nicht durch eine positive Antwort, sondern durch Liquidierung und Nivellierung ihres Subjekts. Die Selbstauslöschung des Geistes in der Masse ist somit ein markanter, für Kierkegaard jedoch hier schlechthin unvermeidlicher Prozess: Die Geistlosigkeit liegt ebenso in der Logik der Massengesellschaft wie das Prinzip der Nivellierung. Dabei kritisiert Kierkegaard in keiner Weise die Idee einer Gleichheit aller Menschen vor Gott, die auch zu einer eschatologischen Gleichheit aller führt, in der welthafte Differenzsignaturen (Herrschaft und Knechtschaft, Frau- und Mannsein, rassische oder nationale Merkmale) aufgehoben sind. Die Erbaulichen Reden Kierkegaards geben fast durchgängig von dieser Gleichheitsidee Aufschluss: Das Ewige im Menschen kennzeichnet jeden Einzelnen, sein Gewissensverhältnis stellt ihn in seiner Einzigkeit heraus, jedoch nicht über oder unter die anderen. Der Ruf Jesu gilt allen, jedem Menschen. Theologisch gesprochen: Alle sind gleichermaßen unter dem Wort Gottes als Gesetz und Evangelium. Darüber hinaus sind alle gleichermaßen Sünder, sich selbst verstellt in ihrem Sein vor Gott. Und alle, wie Kierkegaard in seiner eindrucksvollen, fiktiven Kasualrede An einem Grabe (1845) ausführt, stehen unter der Macht des Todes: Im Tod und im Todesschicksal sind alle gleich, alle gemeinschaftlich „Symparanekromenoi" (Mitversterbende - in der Masse abstrakt und im Tod negativ vereint). 21 Diese existenzialanthropologische und theologische Dimension der Gleichheit aller Menschen schließt nicht die Idee einer faktischen sozialen Gleichheit und Gleichrangigkeit aller kommt. Ähnlich hatte schon Luther von der Selbstherrlichkeit und den Herrschaftsgelüsten des „Herrn Omnes" gesprochen, auch hier nicht ohne konkreten gesellschaftspolitischen Hintergrund (Bauernkriege, frühbürgerliche Revolutionsversuche). Keine noch so „heilige" oder unheilige Familie von feinsinnigdialektischen Sozialtheoretikern kann mit ihrem Scharfsinn die Eigendynamik der Massengesellschaft unter Kontrolle bringen, wenngleich sich auch der Spießbürger gerne von Ideologien verfuhren lässt, sobald sie ihm die Gelegenheit vermitteln, bedeutender erscheinen zu können als er es in Wahrheit ist. Die Dimension der Gleichheit wird durch den Tod gesetzt: Für jeden gilt sein Gleich-um-gleich, seine Unausweichlichkeit, sein unwiderrufliches „Es ist vorüber!" (1845) In der Masse schafft sich der Mensch eine abstrakt-anonyme Gleichheit, die von dieser letzten Dimension negativer Gleichheit absieht und stattdessen positive Gleichheit im Fanal des faschistischen Massenaufmarsches ebenso wie im trivialen Gleichschaltungsinteresse des Spießbürgertums sucht (das Motto des philiströsen Konformisten lautet: „Wir sind wer!"). Die Masse konfiguriert die Identität in der abstrakten Weise des unbedingten Sich-eins-Wissens mit dem, was der Geist der Zeit nun fordert.
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ein. Hier gibt es Differenzen, deren Nivellierung den Preis kollektiver Borniertheit hat. Unterschiede zu leugnen und naturgemäße Differenzen zu bestreiten, wird auch dort nicht besser, wo es das Freiheitspathos in Anspruch nimmt. Denn das moderne Emanzipationsinteresse, der Kampf für die Freiheit ist in den Augen Kierkegaards nichts als ein durchschaubarer Versuch, faktischen Ungehorsam mit dem edlen Banner der Freiheit zu bemänteln oder den Sumpf des eigenen Neides und Hochmutes mit dem Sahnehäubchen des allzeit berechtigten Emanzipationsinteresses zu krönen. Die Selbstkrönung der Masse, die sich mächtig fühlt durch und aus sich selbst (also keiner Bevollmächtigung bedürftig außer durch sich selber und keine Verantwortung habend außer vor sich selber), ist die Folge einer Nivellierungsstrategie, die konsequent unter dem Vorwand von Antidiskriminierungs- und Emanzipationsinteresse betrieben wird. Dass die Menge die ethischen Maßstäbe über Bord wirft und sich an keinem Absoluten orientiert, ist dabei kein zufälliges Begleitphänomen, sondern logisches Implikat ihrer Selbstetablierung - denn sie selber ist ja das Absolute. Kierkegaard war dabei kein aristokratischer, überheblicher Denker. Er war in der Lage, mit dem einfachen Mann auf der Straße konstruktiv und fruchtbar zu kommunizieren. Seine Verachtung gilt keineswegs dem sozial Niederstehenden, sondern dem Phänomen der Vermassung, das mit geistloser Proletarisierung einhergeht und sozial schichtenübergreifend ist. Das kritisierte Subjekt ist nicht der Einzelne, sondern die Menge, die Masse in ihrer kollektiven Form der übermütigen Agitationseinheit, mit Luther gesprochen: in ihrer Zusammenrottung. Die „Rotten" der frühbürgerlichen Bauernkriegsleute und die aus der Französischen Revolution hervorgehenden Rotten sind durchaus verschieden, aber gleichen sich darin, dass der Herr Jedermann, der „Herr Omnes" nunmehr selbst die Regentschaft beansprucht, wofür ihm kein Preis zu hoch ist. Kierkegaard geht es darum, diesen Preis zu benennen: kollektive Verzweiflung, Vermassung. Der von Kierkegaard gebrandmarkte Gleichheitswahn ist natürlich keine creatio ex nihilo, sondern das Produkt der europäischen Aufklärung, die ihre Wurzeln in England und Frankreich hat. Theodor Haecker sieht den Ursprung des von Kierkegaard pointierten Gleichheitswahns bei J.-J. Rousseau: „Durch Rousseau kam eine maßlose Verwirrung in das europäische Geistesleben, denn er führte zum ersten Mal mit Erfolg den falschen Begriff der natürlichen Gleichheit für den richtigen der religiösen ein."22 Geistesgeschichtlicher Ahnherr des Gleichheitsparadigmas und der von ihm ausgehenden kollektiven Nivellierungstendenz wäre demnach Rousseau. Die europäische Aufklärung französischer Prägung hätte demnach die moderne leidenschaftslose, orientierungslose und handlungsarme Gegenwart (also Kierkegaards „present age") geprägt, unterbrochen von der - Originalton Kierkegaard: „reaktionären" - Zeit der Französischen Revolution, dem Enthusiasmus der 1790er Jahre.
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Vgl. das Nachwort Theodor Haeckers in dem von ihm übersetzten Büchlein, Sören Kierkegaard: Gegenwart (1914), Innsbruck 2 1922,72.
Kritik der
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8. Christsein en masse - Vermassung und Kirche Indem man ζ. B. die Leute unter frommen Gesängen durch den Dnjepr ziehen und kollektiv untertauchen lässt, sie als Getaufte damit - en masse - für gerettet erklärt, kann man das Problem des Christwerdens und -seins nicht lösen. Dieses ist für Kierkegaard nicht primär eine Frage der rechten Gestalt von Kirche (ihrer Reformation usw.). Die Reformation hat vielmehr beim Einzelnen zu beginnen und aufzuhören. Eine Reform von äußeren Strukturen (neue Gesangbücher, Verordnungen, Liturgien, Gewänder) ist religiös betrachtet witzlos. Auch Luther ist nach Kierkegaard trotz seines berechtigten Impetus als Reformator gescheitert, nicht zuletzt an seinen Verbündeten, vor allem jedoch durch seine Wirkungsgeschichte, die das Schriftprinzip formalistisch hat erstarren lassen und das Rechtfertigungsdogma vereinseitigt (Jak als „stroherne Epistel"; vgl. Kierkegaards Werke der Liebe, 1847). Wirkungsgeschichtlich zeigt sich, dass überkommene kirchliche Strukturen das Problem des Christseins zu einfach lösen (D. Bonhoeffer sprach im Sinn Kierkegaards 1937 von „billiger Gnade"). Damit wird im Sinn Kierkegaards verdeckt, dass das Problem des Christseins vor allem ein Problem des Christwerdens ist. Die Frage: wie kann ich heute noch Christ sein? (oder: in dieser Kirche bleiben?, usw.), stellt sich für Kierkegaard so nicht. Die voraus- und zugrundeliegende Frage ist ihm wichtiger: Wie kann ich überhaupt Christ werden? Diese zu beantworten, ist die Funktion der Climacus- und in einem zweiten Schritt auch der AntiC/imacMs-Schriften Kierkegaards. Das Christwerden vollzieht sich nicht en masse, nicht im Kollektiv oder Verbund, sondern indem der Einzelne Christ wird und er es dann (aufgrund seines Glaubens und ersichtlich aus den Taten der Liebe) auch wirklich ist. Kirche als Massenveranstaltung ist für Kierkegaard ebenso eine Form der Gotteslästerung wie eine amtsoder institutionstheologisch überfrachtete Kirche, oder eine, die sich in das feine Gehäuse der Liturgie verzieht.
9. Leiden unter der Masse, nicht in ihr Obwohl Kierkegaard Amt und Ordination, Taufe und Abendmahl sowie schriftgemäße Verkündigung ganz im Sinne der lutherischen Bekenntnisschriften sehr hochschätzt, bleibt für ihn das Leiden das zentrale Kennzeichen wahrhaften Christseins. In den Augen mancher moderner Repräsentanten eines gebildeten Christentums (ζ. Β. E. Troeltsch) hat dies sektiererisch gewirkt. Doch solch ein Urteil wirft ein befremdliches Licht auf den Urteilenden selbst, da man nicht nur im Urchristentum die Sache ganz ähnlich wie Kierkegaard gesehen hat (das Leiden als Signatur der Kirche wird aber auch von Luther herausgestellt, vgl. Über die Konziliis und Kirchen, 1537). Der einzelne Christ leidet natürlich nicht unmittelbar unter der Masse, sondern unter dem Zeitgeist und der Presse als dessen Organ. Die Masse kann mit dem Christentum nichts anfangen, weshalb es ein gutes Zeichen ist, von ihr (in Wort oder Tat) totgeschlagen oder wenigstens verhöhnt zu werden. Das Christentum macht den Einzelnen zum Einzelnen vor Gott, in einem spezifischen, unaufhebbaren Verhältnis. Im Gottes- und Gewissensverhältnis hat das individuelle Subjekt seinen Anker gegen die Masse und die von ihr ausgehende Faszination. Die Masse ist etwas Ungeheures, Abstraktes, „Gasförmiges": Zunächst jubelt sie Jesus am Ölberg zu und grüßt den Einziehenden emphatisch, dann - mit nicht weniger Emphase - schreit dieselbe Menge „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!". Golgatha ist anders als der Einzug nach Jerusalem oder die Via dolorosa kein Massenspektakel mehr, sondern Stätte der Einsamkeit (Mk 15, 34). Hier vollzieht sich das eigentliche
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Gericht an der Masse, um deretwillen Jesus am Kreuz sterben muss.23 Das Leiden um ihretwillen bedeutet für Kierkegaard nicht Rechtfertigung, sondern Gericht über sie - wenngleich der Richter in Personalunion zugleich der Erlöser ist. Das Leiden und Sterben findet unter Pontius Pilatus statt, der sich als Vollstrecker des Urteils der Menge versteht, jedoch sich selbst im persönlichen Urteil zurückhaltend. So ist schon die Geschichte Jesu die Geschichte einer Konfrontation mit der Masse, mit einer Masse, die ihr Gesicht - ihre Fratze in Zukunft sehr wohl noch zu verfinstern vermag. Unschuldig waren die Zeiten Jesu nur insofern, als es noch keine Massenmedien gab, noch keinen Journalismus, keine geistreiche Satire usw. Aber die Masse als solche gab es natürlich auch damals schon. Im Gegenüber zu ihr zeigt sich der kritische Impetus, den das Christentum „von Natur aus" gegen die moderne Massengesellschaft entwickeln muss: Dieser Impetus ist nicht in Seminaren angelernt, sondern ihm in der Wiege (Jerusalem) und in den Kinderschuhen (Märtyrer der Alten Kirche) mitgegeben und gleichsam mit eingepflanzt.
10. Kritik des Hegelianismus: das Absolute (Allgemeine) als Negation des Einzelnen Dies ist auch der genuine Hintergrund der Massen-Kritik Kierkegaards, noch einmal angestachelt durch die Hegeische Idee des Absoluten, das im Allgemeinen (im Begriff) seine konkrete, abgeschlossene Gestalt (System) gewinnen könnte. Hegel ist - das weiß auch Kierkegaard - über die Pöbelhaftigkeit und Trivialität der Massengesellschaft meilenweit erhaben. Seine Philosophie ist nicht trivial. Und doch ist Hegel - nach Kierkegaard - irgendwie mit schuld, nämlich daran, dass der Einzelne nicht mehr in rechter (sokratischer) Weise die individuellen Bedingungen, Gestaltungsformen seiner Existenz in den Blick nimmt bzw. bekommt. Das Hauptmanko der Hegeischen Philosophie, die These eines (abgeschlossenen) Systems,24 seine Zukunftslosigkeit und sein ungenügender Sinn für das Ethische (eine Kritik, in der sich Hegel garantiert nicht wieder gefunden hätte) machen auch seine Hauptdifferenz gegenüber dem Christentum aus. Daher ist es so, dass es im Kampf gegen die Allmacht und Allgegenwart der Presse und die ominöse, abstrakte Macht der Masse, des konformistischen Geistes des Angesagten, dessen, was „man" tut, dass es hier für Kierkegaard letztlich nur Sokrates und das Christentum als echte Bundesgenossen im Kampf gegen sie geben kann. Hegel hat das Allgemeine gelehrt und scheidet damit aus. Schelling ist ins Mythologische abgeglitten und darin versackt - hat somit seiner Philosophie selber den letzten Gnadenstoß gegeben. Die Linkshegelianer wie Br. Bauer, D. Fr. Strauß, M. Stirner und K. Marx haben als Hegelianer die Schwächen des Hegelianismus nachdrücklich ans Licht gebracht, rücklings deutlich gemacht, wie unentbehrlich die Lehre vom Paradox und vom Sprung ist, um das Christentum nicht in ein Abstrakt-Allgemeines (die Gattung des Menschen, das endzeitliche Reich der Freiheit) sich verflüchtigen zu lassen, „aufzuheben". Die moderne Massengesellschaft ist nach Kierkegaard auch das Produkt ihrer Ideologie. Das Souveräne bei ihm ist, dass er hier die Hand nicht umdreht und keinen Unterschied macht: Spätbürgerliche und Revolutionäre gehen Hand in Hand darin, dass sie
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Kierkegaard hält fest, dass Jesus mit der Masse nichts zu tun haben will und sie nie als Bündnispartner sucht. „Deshalb wurde Christus gekreuzigt, weil er, obwohl er sich an alle wandte, nichts mit der Menge zu tun haben wollte [...]" (S0ren Kierkegaard, Der Einzelne, 17). Vgl. Walter Dietz, Sören Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt a. M. 1993,4, Anm.13.
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- teils freiwillig, teils unfreiwillig - die Massengesellschaft fördern, statt ihre dunklen Seiten zu entdecken, wie das vor allem Kierkegaard getan hat. Trotz seiner Vorreiterrolle durch die Entdeckung der Gefahren der Massengesellschaft ist Kierkegaard in dieser Kritik nicht allein geblieben, wie das zwanzigste Jahrhundert durch die Positionen von E. Canetti, K. Jaspers, 25 Ortega y Gasset und P. Sloterdijk gezeigt hat. Die Erfahrung des kollektiven Massenwahns unterscheidet dieses zwanzigste Jahrhundert schmerzhaft vom Goldenen Zeitalter Dänemarks in den 1840er Jahren. Kierkegaard hat aufgrund minimaler Anhaltspunkte, ohne die Schrecken von Massenpsychose und Faschismus vor Augen haben zu können, ähnlich wie Nietzsche die Katastrophe erahnt (so konnte er in der Nachkriegsphilosophie der Zwanziger- und Fünfzigerjahre vorübergehend zum Modephilosophen avancieren - was sein Metier nun weiß Gott nicht ist). Alle Knechte und Protektoren einer kollektiven Wahnidee, sei sie kommunistischer oder faschistischer couleur - haben gut daran getan, in Kierkegaard einen mehr oder weniger gefährlichen Spinner oder einen geisteskranken Psychopathen zu sehen. Von der Masse und ihren intellektuellen Trittbrettfahrern so gesehen zu werden, ist freilich ein außerordentliches Kompliment - und brauchbare Komplimente bekommt der Einzelgänger von der Masse sonst nicht alle Tage.
11. Karl Marx: Symparanekromenos und Wegbereiter eines Hegelianismus für's Volk? Kierkegaards Kritik der Masse ist zugleich eine Kritik des in Behaglichkeit selbstgefällig gewordenen Bürgertums. Der Däne wendet sich „gegen den Gipfel dieses saturierten bürgerlichen Optimismus", 26 gegen dekadente, spießbürgerliche Selbstgefälligkeit im Kontext einer visionsverarmten, immanenzorientierten Welt, die die radikale, unveräußerliche Wahrheit des Existierens an ein Abstrakt-Allgemeines delegiert (zuletzt: die Presse). In diesem Sinn wendet sich Kierkegaard „gegen die persönlichkeitsnivellierenden allgemeinen Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft seiner Zeit". 27 Der Marxismus ist hier offensichtlich nicht die Lösung, sondern Teil des Problems (ungeachtet der partiellen Richtigkeit seiner sozialökonomischen Kritik). Kierkegaard wendet sich gegen die persönlichkeitsdestruierende Macht von Ideologien und ihren medialen Trägern. Hierin liegt auch die Pointe seiner Kritik der Masse. Hätte Kierkegaard das Kommunistische Manifest (1848) gelesen - er tat es nie dann hätte er vielleicht Lust bekommen, ein paar Thesen über K. Marx abzufassen (so wie seinerzeit Marx über Feuerbach): Die Welt zu verändern, ohne das zentrale Problem der Eigendynamik von Massen zu behandeln, schafft eine blinde Revolutionspolitik, die nicht zufällig im Stadium des vorkommunistischen Sozialismus verharrt. Aber vielleicht ist es nicht fair, K. Marx vorzuwerfen, ein Problem nicht behandelt zu haben, für dessen Tragweite er von vornherein weitestgehend blind gewesen ist.
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Vgl. hierzu Hans-Martin Gerlach, Existenzphilosophie - Karl Jaspers, Berlin (Ost) 1987, insbes. 30ff. Hans-Martin Gerlach, „Existenz oder Gott? Kritisches zu einer scheinbaren Alternative im existentialistischen Philosophieren", in: Erhard Lange (Hg.), Philosophie und Religion. Beiträge zur Religionskritik der dt. Klassik (= Collegium philos. Jenense H. 3), Weimar 1981,236. Ebd., 237.
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12. Die aktuelle politische Relevanz des Massenparadigmas und Kierkegaards Staatsverständnis (Exkurs) D i e g e l ä u f i g e Orientierung am Paradigma des M a s s e n g e s c h m a c k s manifestiert sich heutzutage auch politisch: D i e Mitte definiert sich selbst als der mainstream,28 der sich wählend zu sich selbst verhält und darin sich als unstrittig positiv definiert, d. h. die positive Affirmation seiner selbst vollzieht. Kierkegaard betont, dass in der Anpassung an das A l l g e m e i n e (den zeitgeistverhafteten P u b l i k u m s g e s c h m a c k ) der Einzelne u m seine Individualität betrogen, abgeschliffen und verdinglicht wird. D i e s spiegelt sich nun auch in der Strategie v o n Parteien in ihrem Drang zur Mitte: Randständiges und Originelles wird a b g e w o r f e n , denn die Zugehörigkeit zur Mitte verheißt i m Kontext der M a s s e n g e s e l l s c h a f t unbedingte Wählbarkeit. Daher die verbreitete T e n d e n z v o n Deprofilierung v o n Parteiprogrammen und politischer mainstream-Rhetorik. Kierkegaard hätte seine Freude daran gehabt, w e n n g l e i c h seine Kritik am Parteienwesen natürlich viel prinzipieller war. S c h o n der demokratische Grundgedanke, dass jeder gleichermaßen zur Herrschaft berufen sei, schien ihm v o n Grund auf suspekt 2 9 (daher sein V o t u m für die konstitutionelle Monarchie und sein sympathiegeleitetes
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Mainstream ist dabei kein Schimpfwort. Der Sieg der Masse über die Vernunft und das Interesse von Einzelnen manifestiert sich in der Definition dessen, was man denken und sagen darf, wie man sich politisch korrekt zu verhalten hat (political correctness). Zivilcourage und Reflexion auf das Einzelne, Besondere sind eben - massenkonform gedacht - nicht „angesagt", überhaupt nicht ansagbar. Im Blick auf „mainstream" ist auch die Verwendung des Idioms „gender mainstreaming" aufschlussreich: Innerhalb der Masse geht es hier um Differenzbeseitigung - das Eigentümliche und Besondere soll negiert werden. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau stellen eine letzte Bastion dar, die zu nivellieren ist. Geschlechterpolitik wird aber nicht nur durch Quoten betrieben. Unter dem hübschen label „gender mainstreaming" wird heute ministerialbürokratisch (sogar europaweit) der „sexuellen Diskriminierung" (oder was man jedenfalls daiur hält) der Kampf angesagt und eine konformistische Geschlechterpolitik betrieben, wonach Frauen für Frauenbelange zuständig sind und daher (einzelne dafür bestens bezahlte Frauen) darüber bestimmen, was für „die" Frau(en) politisch sinnvoll und durchsetzenswert ist. Ziel ist es, zuletzt alle politischen Entscheidungen durch das Raster der Logik der Geschlechterverhältnisse zu sehen. Markant ist dieser Begriff jedoch nicht wegen seiner unerbittlichen Vorkehrung der Geschlechterdifferenz (in seiner soziokulturellen Ausprägung: gender) als politisches Paradigma, sondern wegen des - dezidiert positiv gebrauchten - Begriffs „mainstreaming": Hier bekennt sich die Massengesellschaft offen zu dem, was weniger sublim in dunkleren Zeiten deutscher Geschichte ebenfalls Leitmotiv der Politik gewesen ist: Die Etablierung eines common sense, der der Masse aufoktroyiert wird. Auch heute hat sich die Masse derartigen Vorgaben zu unterwerfen, will sie nicht Gefahr laufen, nicht mehr up-to-date zu sein oder entsprechende politische bzw. juristische Sanktionen zu gewärtigen Der Begriff „mainstream" (dt. Hauptströmung) stellt hierbei einen Offenbarungseid der modernen Massengesellschaft dar: Nicht auf das Individuelle wird reflektiert, sondern auf das abstrakte Allgemeine („den" Menschen; „die" Frau; usw.) - eine wesentliche Signatur von Kierkegaards Verständnis der Masse. Das positive Bekenntnis zum „mainstreaming" sollte nicht kritisiert werden, sofern es schlicht nur exemplarisch zur Sprache bringt, wie die scheinbar karikierenden Visionen Kierkegaards einer Massengesellschaft sich auf beklemmende Weise erfüllt haben. Kierkegaards Nein zum „mainstream" hatte seinerseits ein doppeltes Gesicht: Erstens als Nein zum Hegelianismus, zweitens als Nein zur modernen Massengesellschaft und ihrem Nivellierungsorgan, der Presse. Beide Konfrontationslinien können natürlich nicht zur Deckung gebracht werden, wenngleich sie einen abstrakten Schnittpunkt haben, nämlich im Begriff des Allgemeinen, das als ein Absolutes gesetzt wird. Die Herrschaft der Masse(n) hat faktisch anarchische Implikationen. Im Einbruch der Menschenschwärze „kollabiert die vernunftromantische Vision vom demokratischen Subjekt, das wissen könnte, was es will" (Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft
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Verhältnis zu König Christian VIII, von Dänemark). Der Faschismus mit seiner Tendenz, den Menschen aufs Äußerste zu nivellieren, d. h. gleichzuschalten mit dem Über-Willen des Duce/Führers, hat jedoch dem demokratischen Staatssystem historisch ein Recht verliehen, das von dauerhafter Qualität ist und so von Kierkegaard nicht absehbar war. Die prinzipielle Kritik Kierkegaards, dass die Mehrheit von Stimmen ungeachtet ihrer Motivation oder ihres bildungsmäßigen Hintergrundes über richtiges Handeln niemals wird angemessen entscheiden können, bleibt dennoch in Kraft, betrifft allerdings eher die plebiszitäre als die repräsentative Demokratie. Diese wiederum hat mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Repräsentanten eine Selbstgefälligkeit und Saturiertheit entwickeln können, durch die sie sich in ihrem politischen Entscheidungen radikal über den Mehrheitswillen erheben und sich klar gegen diesen setzen (vgl. ζ. B. Rechtschreibreform, EU-Erweiterung, Euro-Einführung). Für Kierkegaards Staatskonzept 30 bleibt jedoch wesentlich, dass ein sich zurückhaltender, ideologisch unauffälliger Staat, der dem Einzelnen Freiraum bietet zur ethisch-religiösen Selbstentfaltung, in jeder Hinsicht dem absoluten, totalen oder gar dem tyrannischen Staat vorzuziehen sei. Grundlage dafür ist die klassische Zwei-Reiche-Lehre Luthers, die Kierkegaard so versteht, dass sich die Kirche auf das Künftige (Reich Gottes), der Staat auf das Bestehende (Gesellschaftsordnung) nicht nur zu konzentrieren, sondern je auch zu beschränken habe. Kierkegaard protegiert damit zwar einen ordnungspolitisch starken, ansonsten aber im Blick auf die individuelle Selbstentfaltung sich zurücknehmenden Staat. Hinsichtlich der Verführung durch das Phantom der Masse (und sein wie ein scharfer Hund ihm willig dienendes Hyper- und Mega-Phantom, die Presse) gilt nach Kierkegaard das Ideal der Nonkonformität für beide: Während die Presse naturgemäß dialektisch (d. h. ihn wiederum produzierend und verstärkend) dem Zeitgeist unterliegt, soll für den Einzelnen wie auch für den Staat gelten, dass er sich nicht zum Knecht jenes Phantoms machen soll. Der Staat organisiert das Bestehende, dieses aber kann seine normative Gestalt niemals durch das Diktat des gegenwärtig Angesagten, Modischen, Zeitgeistgemäßen beziehen. Die kollektive Macht (und es handelt sich ja durchaus um eine „Macht", die von diesem Phantom ausgeht!) dessen, was „die anderen" tun oder wollen, darf weder für den Einzelnen noch für den Staat eine normative Funktion haben. Darin liegt die Souveränität des Staates, dass er sich in Selbstbescheidung von der Religion anspruchsweise unterscheidet und sich in seinem Wertgefüge niemals als Produkt „der" öffentlichen Meinung bzw. der Presse oder der Medien zu verstehen hat. Für die Machthaber gilt nach Kierkegaard gut platonisch, dass ausschließlich diejenigen in das Staatsleitungsamt zu berufen sind, die sich keine Vorteile davon versprechen und auch gar nicht (aus persönlichem Interesse oder Eitelkeit heraus) nach diesem Amt streben. 31
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[Akademie-Vortrag/2.Elmauer Vortrag, 1999], Frankfort a. M. 2000,13). Sloterdijk teilt hier Kierkegaards Skepsis gegenüber dem Glauben an die (nicht: Funktionsfähigkeit, sondern) Prinzipien der demokratischen Willensbildung. In der Masse reduziert sich die Selbstdurchsichtigkeit des Einzelnen, und die Masse insgesamt ist sich ohnehin stets opak. Vgl. Klaus-Michael Kodalle, „Der non-konforme Einzelne. Kierkegaards Existenztheologie", in: Jakob Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1, Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München u.a. 1983, 198-226, hier 214ff. Vgl. ebd., 218.
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13. Ist Kierkegaards Masse noch die unsere? Sozialstruktur und Sozialfraktur - ein Ausblick (P. Sloterdijk)32 Sloterdijk zeigt in seinem Referat von 199933 postmoderne Konstellationen (Aggregatzustände) der Masse auf: Die Vermassung ist nicht mehr ein auf reale Aufmärsche, Paraden, Volkswallungen und -erhebungen oder „Rotten" (Luther) angewiesenes Phänomen, sondern sie gibt sich nach außen hin konturlos, imaginär. Die Vereinzelung ist somit kein Gegensatz zur Vermassung, sondern deren soziologische Voraussetzung. Die Masse bedarf keines äußeren Podiums und der Führer keines Podestes mehr. Aus Sozialstruktur wird Sozialfraktur. Sloterdijk spricht von Atomisierung, Gasförmigkeit.34 Dieser Befund ist kaum zu bestreiten. Er verbindet sich mit dem Bewusstsein einer immer schwerer greifbaren Struktur von Masse. Sie ist nichts Äußerliches, Bodenständiges, Umzingelbares mehr. Sie entzieht sich heute dem Begriff klassischer Rottung und Vermassung. Sie ist abstrakt geworden, verflüchtigt. Ebenso der Einzelne: Er ist mit ihr verbunden und bleibt doch einsam: the lonely crowd.35 Hier geht der Befund, den Sloterdijk vor Augen hat, über Kierkegaard hinaus. Aber er stimmt doch mit ihm insofern überein, als beide, Kierkegaard wie Sloterdijk, das Phänomen der medialen Massen„kommunikation" und die in ihr implizierte „Nivellierung" im Blick haben (anders als E. Canetti also nicht die äußerlich sichtbare, aufmarschierende Masse, die konkrete Präsenzmasse, Auflauf- oder Versammlungsmasse). Die äußerlich sichtbare, paradenmäßig aufmarschierende Masse ist noch relativ harmlos, jedenfalls solange man nicht unter ihre Räder gerät. Das Subversive der abstrakten Vermassung im postmodernen Zeitalter liegt in ihrer Abkehr von äußerlichen Gebärden, ihrem Abheben ins Abstrakte, mit Sloterdijk gesprochen: in der Gasförmigkeit ihrer Aggregatform. Demgegenüber steht bei E. Canetti aufgrund seiner eigenen, hautnahen36 Erfahrung in Wien 1927 die Auflaufmasse - „Menschenschwärze"37 - verständlicherweise im Vorder-
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Vgl. Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Dieser Vortrag wurde auch im BR gesendet. Ich habe ihn seinerzeit (Dez. 1999) gehört, mich sogleich an die Lektüre meines allerersten Kierkegaard-Buches erinnert (Kritik der Gegenwart, Innsbruc .19222 hg. v. Th. Haecker; 1976 von mir damals gleich „verschlungen") und daraufhin Hans-Martin Gerlach vorgeschlagen, zu dieser Thematik ein interdisziplinäres Seminar zu veranstalten (was dieser bereitwillig annahm; im SS 2002 fand es an der Mainzer Universität statt), aus dem nun auch der hier vorliegende Aufsatz hervorgegangen ist. Die Gasförmigkeit des Publikums entspricht in der Terminologie Kodalles „seinem strukturellen Identitätsmangel" (Klaus-Michael Kodalle, „Der non-konforme Einzelne", 209). Vgl. David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek 1977; vgl. Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 17. Aufgrund ihrer ,Hautnähe' (d. h. der ästhetischen Vergewisserungsform des Einzelnen in der Masse) kann die äußere, reale Versammlungsmasse nie die abstrakte Masse einer nur virtuell vereinten community ersetzen (man denke an religiöse Phänomene wie ζ. B. Massenkundgebungen auf Kirchentagen, Fußballspiele oder Popkonzerte - hier findet „Entladung" statt, alle „Trennungen" werden - zumindest bis auf weiteres „abgeworfen", ein entgrenzendes, schrankenlos einendes Zusammengehörigkeitsgefühl greift um sich - vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1994,17). Dennoch hat Sloterdijk darin recht, dass die Verschiebung des Massenszenarios aufmerksam wahrgenommen werden muss, ganz ungeachtet der Frage, ob eine virtuelle Masse (ζ. B. Leser einer Zeitung, Zuschauer einer Sendung, Internet-Nutzer usw.) die konkrete, sich selbst unmittelbar erlebende Masse zu ersetzen vermag. Mit dem Aspekt des Nivellierungspotentials von Masse(n) hatte Kierkegaard bereits die virtuelle Masse im Blick, wenngleich aufgrund zeitgeschichtlicher Schranken natürlich noch nicht vor Augen.
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grund, bei S. Kierkegaard die Tendenz zur Urbanisierung (die Großkleinstadt Kopenhagen das Lebensideal der kleinbürgerlichen Großstadt: Geborgenheit und Verlorenheit zugleich) und das Phänomen der Nivellierung durch das Publikum und die Presse als den subversiv wirksamen „Phantomen" der Neuzeit. 38 Die Großstadt als kollektives Lebensgefüge birgt in sich die Möglichkeit des anonymen, strukturell in sich selbst verblendeten Lebens. Sie ist heute die Herberge auch derer, die mit Mitteln des Krieges dieser Gesellschaft (und grundlegend westlichen Lebensformen überhaupt) den Kampf angesagt haben - Terroristen welcher Herkunft und Couleur auch immer. Für Kierkegaard konzentriert sich das Phänomen des Terrors auf die geistige Ebene (darin Nietzsche unbedingt näher als Marx): Nivellierung ist geistiger Terrorismus in seiner unauffälligsten, aber gefährlichsten Form. Hier findet geistige Bemächtigung und Vergewaltigung in einer - scheinbar harmlosen - Weise statt, die nicht Protest fürchten muss, sondern auf Beifall hoffen darf: Das Publikum übernimmt die Macht - und duldet in seiner Selbstgefälligkeit nicht nur keinen Widerspruch, sondern überhaupt niemanden über oder gegen sich.
14. Zehn abschließende und weiterführende Thesen zur Theorie des Einzelnen und der Masse bei S0ren Kierkegaard (1) Der Einzelne ist Kierkegaards zentrale Kategorie für seine Anthropologie, Ethik und Soziallehre. Der Einzelne existiert im Selbstverhältnis zugleich im Bezug zu Gott und zum Nächsten (dialogisches Konzept von Existenz). (2) Die Kritik der Nivellierung des Menschen in der modernen Massengesellschaft ist hermeneutisch die Bedingung der Möglichkeit, Kierkegaards Begriff des Einzelnen angemessen zu verstehen. Die weit verbreiteten Missverständnisse einer „objektlosen Innerlichkeit", souverän in Kierkegaards Begriff des Einzelnen hineingelesen, resultieren aus dem nachhaltigen Verzicht, Kierkegaards non-konformistische 39 Kritik der Masse (des Kollektivismus) als notwendige Folie dieses Begriffs wahrzunehmen. Somit erscheint Kierkegaards Einzelner - verdreht und verquer wahrgenommen - als geschichtslos, gesellschaftslos, abstrakt, rein innerlich, solipsistisch usw. (3) Modellcharakter für eine Hermeneutik des Auf- und Zerbrechens von massenkonformer Selbststabilisierung im common sense hat für Kierkegaard Sokrates. Sokrates ist der Typ der Subversion der Masse mit Hilfe der Ironie und zugleich der „Erfinder" der Ethik, die elementar auf den Einzelnen rekurriert.
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Der Ausdruck findet sich bei Sloterdijk (a. a. O., 15f, zu Canetti). Er verweist auch auf unfreiwillige Konstellationen moderner Ansammlungsmassen, ζ. B. im Stau befindliche Automassen (vgl. auch Warteschlangen). Teil der Masse zu sein, muss sich nicht unbedingt mit einem erhebenden Gefühl verbinden. Wer den Nonkonformismus sucht, um sich abzuheben, muss damit rechnen, demnächst wiederum ein Teil der Masse zu sein. Die Abzüglichkeit dieses Verhaltens ist nur scheinbarer Nonkonformismus, der sich im Handumdrehen als konformistisch entlarvt sieht. Vgl. hierzu die Ausführungen von G. Pattison, „The Present Age. The Age of the City", in: KSYB 1999, 120.
Vgl. hierzu KJaus-Michael Kodalle, „Der non-konforme Einzelne".
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(4) Kierkegaards bekannte Ausgangsthese lautet: „Die Subjektivität ist die Wahrheit." Dieser Satz - dem wohlgemerkt in der Unwissenschaftlichen Nachschrift40 der entgegengesetzte korrespondiert „Die Subjektivität ist die Unwahrheit!"41 - „darf nicht mißverstanden werden als Lobrede auf einen schrankenlosen Individualismus, der zu keiner Gemeinschaft fähig ist. Er ist zu verstehen als eine Warnung vor Publikum, Masse und Menge, wo der einzelne" (besser: der Einzelne) „der Herrschaft des ,Man* unterworfen wird." 42 (5) Die transzendentale Voraussetzung für das Wählen von etwas im Horizont des Guten und Bösen ist nach Kierkegaard (E/O), dass der Einzelne sich selbst gewählt hat bzw. wählt. Er kann dies zwar niemals verzweiflungsfrei tun, aber ohne diese Selbstwahl nicht zum qualifizierten Subjekt ethischen Handelns werden. In der Masse wird sie abstrakt bzw. überflüssig. Die Selbstwahl des Einzelnen ist in ihrer geschichtlich-ethischen Konkretion aufgehoben, wo die Masse „gewählt" hat. Selbstdurchsichtigkeit ist ihr weder Notwendigkeit oder Desiderat noch Möglichkeit, sie ist sich selbst in der abstrakten Einheit der vielen das Maß schlechthin. Sie hat keinen Maßstab außerhalb ihrer selbst, weil sie sich selbst absolut setzt. Die Masse braucht keinen Gott, sowenig sie einen Richter braucht, denn im Vollzug ihrer selbst manifestiert sich ihr eigenes Richten, frei von Maßstäben, die sie nicht selbst gesetzt und gebilligt hätte. (6) Die Masse ist im Gegensatz zum Menschen kein ethisches Subjekt. Der Mensch soll sich jedoch ethisch-religiös, nicht nur ästhetisch zu sich selbst verhalten. Die Masse liebt das Ästhetische in seiner trivialisierten Form. 43 (7) Der Tod entspricht der Masse in seinem „Alle sind mir gleich" (obstruktive Indifferenz). In der Masse sieht der Mensch jedoch gerade davon ab, im Todesschicksal unabweislich vor sich selbst gestellt zu sein. Der Tod ist somit das Ende aller Möglichkeit, in der Masse unterzutauchen. Der Ernst 44 der menschlichen Existenz besteht darin, sich selbst als Einzelnen mit seinem Todesschicksal zusammenzudenken. (8) Kierkegaard hat hellsichtig die problematischen Implikationen der modernen Massengesellschaft „antizipiert" (Th. Haecker 45 ), den Schrecken des Aufstands der Massen und deren
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Bd.l, 1846, GW 16/1,195, cf. 273. U N I , 198. So ganz zu Recht Adolf Köberle, „Genialität und Labilität. Dargestellt an Hamann, Kierkegaard und Dostojewski", in: EZW-Impulse Nr. 25, Stgt. IX/1986; vgl. www.ekd.de/download/ EZWIMPULSE25.pdf. Auch Arne Gran stellt völlig richtig fest, dass Kierkegaard durch die Antithese von Einzelnem und Masse „keinen abstrakten Gegensatz zwischen dem Sozialen und dem Individuellen" aufstellen will; vgl. Arne Gran, Angst bei S. Kierkegaard (dän. 1993), Stuttgart 1999, 184 (zur Climacus-These, die Subjektivität sei die Wahrheit, vgl. 73-78). Zu den Merkmalen einer ästhetischen Gesellschaft zählen die Prinzipien Freiheit (als negative: Ungebundenheit, kombiniert mit Bindungsscheu), Spontaneität und Wahlfreiheit, d. h. Multioptionalität (vgl. dazu aus soziologischer Sicht Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994). Die Selbstentfaltung des Einzelnen wird ästhetisch als vorrangig behandelt gegenüber den Interessen der Gesellschaft, in deren Kontext (und von der) er lebt. Vgl. Michael Theunissen, Der Begriff Emst bei Seren Kierkegaard (1955), Freiburg/München 1958. Theodor Haecker sieht hier eine Antizipation der gesellschaftlichen Verhältnisse vor dem I. Weltkrieg. Die Situation im seinerzeitigen Kopenhagen war nicht gleichermaßen von der nivellierenden Dekadenz der spät-
VERZWEIFLUNG EN MASSE
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Tendenz, die Presse (d. h. die Medien) zum Instrument ihrer Herrschaft zu machen. Die von der Presse ausgehende Macht der „Nivellierung" (Gleichschaltung) hat Kierkegaard 1846 bereits klar in den Blick genommen. Die in der Pressefreiheit liegende Gefahr ist nicht nur die, dass jeder letztlich jedes veröffentlichen darf - ohne Grenzen des Niveaus, des Geschmacks oder der Sitte - , sondern dass somit ein Raum geschaffen wird für die regulativfreie Herrschaft der Masse über und durch sich selbst. (9) Die mit Karl Marx in den 1840ern zeitgleich sich entfaltende Kulturkritik Kierkegaards greift hinter äußere sozial-ökonomische Zusammenhänge und reflektiert dabei auf die Natur des Menschen. Das Gleichheitsparadigma (Rousseau, Marx) wird bei Kierkegaard kritisch reflektiert im Blick auf faktische Ungleichheit und den reflektierten Umgang mit ihr. Der Aufstand der Massen oder die als Emanzipation getarnte Tendenz, Ungleichheit zu verkehren, produziert kein Reich der Freiheit, sondern der Ungerechtigkeit und mitunter der blinden Gewalt. Durch die Einpflanzung des abstrakten Egalitätsprinzips wird die Vernunft zum Podium kollektiver Egalisierung und somit inmitten der dem Anspruch nach doch so vernunftorientierten Aufklärung ein irrational wirkendes Paradigma etabliert. (10) Die längerfristige Bedeutung Kierkegaards besteht nicht in seinem Angriff auf die dänische Staatskirche.46 Zwar geht dieser aus seiner Christologie und Nachfolgekonzeption schlüssig (d. h. bruchlos und mit erkennbarer innerer Konsequenz) hervor, betrifft jedoch nur eine Kirche, die sich mit dem Bestehenden identifiziert. Die dänische Staatskirche des neunzehnten Jahrhunderts hat in keiner Weise repräsentative Bedeutung für den heutigen Protestantismus. Ebenso betrifft Kierkegaards Kritik einer sich für christlich haltenden Gesellschaft nur jene Staatsform, in der dem Christentum eine essentiell vorrangige Position eingeräumt wird (somit nicht etwa eine liberale, postmoderne, multireligiöse Staatsform). Die Tendenz, die religiöse Neutralität des Staates immer mehr als Indifferenz auszulegen und dabei andere Religionen im Gegenzug zum Christentum zu stärken, zeigt eine Entwicklung, auf die Kierkegaard so nicht reflektiert.
bürgerlichen Massengesellschaft geprägt wie dann 1914. So werden sich die Kopenhagener in dem Spiegel, den ihnen St. Seren - „ihr größter Geist" - vorhielt, nicht ohne weiteres wieder erkannt haben. Er war in seiner Kritik der modernen Massengesellschaft sehr hellsichtig - „vieles muß Kierkegaard doch antizipiert haben" (Seren Kierkegaard, Kritik der Gegenwart, hg. v. Th. Haecker, Innsbruck 21922, 75). Von bleibender Bedeutung und Tragweite ist hingegen Kierkegaards Kritik des Ästhetischen (vgl. auch Walter Dietz: [Art.] „Kierkegaard", in: Markus Vinzent (Hg.), Metzler Lexikon christlicher Denker, Stuttgart/Weimar 2000, 405f = ders. (Hg.), Theologen, Stuttgart/Weimar 2004 [Tb.], 160f). Diese von Kierkegaard 1843 in Ε/Ο II vorgelegte Kritik trifft eine Haltung, die an der Glückserfahrung, an Sinnlichkeit und an der „Kunst der Verfuhrung" orientiert ist. Sie betrifft eine Lebenshaltung, in der das Ethische noch gar nicht oder nicht mehr im Blick ist: als Verzweiflung an ihm oder Unberührtheit vom ethischen Bewusstsein, dass es Gut und Böse gibt und der Mensch aufgrund des Ewigen in sich eine Bestimmung hat, die das zeitliche Dasein transzendiert. Die von Kierkegaard vorgelegte Kritik am Ästhetischen ist seine eigene. Jene vom Ethischen her (Gerichtsassessor Vilhelm) kritisierte Lebenshaltung war ihm dabei nie wirklich fremd. „Kierkegaards Kritik an der romantischen Ironie und an der ästhetischen Daseinsweise ist auch Selbstkritik an einem eigenen, überwundenen Stadium." (Gisela Deschner, Es wagen, ein Einzelner zu sein. Versuch über Kierkegaard, Bodenheim 1997,91).
MATTHIAS KOSSLER
„Der Gipfel der Aufklärung" Aufklärung und Besonnenheit beim jungen Schopenhauer
Spätestens mit dem Aufsatz Schopenhauer als Aufklärer von Alfred Schmidt ist die Auffassung derjenigen, die mit Schopenhauers Philosophie „politische Reaktion, Kult des Irrationalen, kurz Gegenaufklärung verbinden",1 als oberflächliches Vorurteil entlarvt worden. Schmidt betrachtet Schopenhauer vor allem hinsichtlich dessen Religionskritik und der mit ihr verbundenen Tendenz zu einer empirisch-materialistischen Philosophie.2 Einen gewissermaßen umgekehrten3 Ansatz - auch wenn das Thema Aufklärung nicht unmittelbar thematisiert wird - verfolgt Rudolf Malter in seinem Aufsatz Erlösung durch Erkenntnis und in der diesen Ansatz fortführenden Monographie über Schopenhauer, indem er gegen die gängige Ansicht die bestimmende Stellung von Erkenntnis und Vernunft in Schopenhauers Philosophie bis in die Soteriologie hinein nachweist.4 Welchen der beiden Wege man einschlägt, um Schopenhauer in der Linie der Aufklärung zu lokalisieren, hängt von dem Vernunftbegriff ab, den man zugrundelegt. Dabei wird hier Aufklärung verstanden als die unter der Voraussetzung der Autonomie und Priorität der Vernunft stehende Überzeugung vom praktischen Fortschritt durch Erkenntnis. Sicherlich ist damit der höchst umstrittene und aspektreiche Begriff der Aufklärung nicht erschöpfend bestimmt, sondern nur das Verständnis angegeben, unter dem das Thema im weiteren angegangen wird.
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Alfred Schmidt, „Schopenhauer als Aufklärer", in: ders., Tugend und Weltlauf. Vortrage und Aufsätze über die Philosophie Schopenhauers (1960-2003), Frankfurt a. M. 2004, 231-256 (zuerst erschienen 1996), hier 231.
Vgl. a. Alfred Schmidt, „Schopenhauer und der Materialismus", in: ders., Tugend und Weltlauf 105-149 3 (zuerst erschienen 1977). Umgekehrt ist der Ansatz Malters nur hinsichtlich des Verhältnisses von immanenter Weltdeutung und Erlösungslehre. Für Schmidt spielt die Soteriologie im Zusammenhang der Aufklärung keine Rolle. Er betrachtet die objektive Erkenntnis, die sich vom Willen losgerissen hat, unter dem Aspekt der Kritik: „Frei geworden, wird der Intellekt der Irrtümer, Vorurteile und Lügen inne, die er als Instrument des Willens in den Menschen erzeugt". Schopenhauer „zerstört die ,große Maskerade' der offiziellen Welt" und durchschaut damit „als einer der Ersten den fassadenhaft-ideologischen Charakter der modernen Kultur" (Alfred Schmidt, „Schopenhauer als Aufklärer", 254ff.). Rudolf Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens, Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, 417: „Schopenhauers Soteriologie gründet auf diesem Sich-selbst-treu-bleiben des Erkennens; sie sieht im Hervortreten des qualitativen Freiseins des Erkennens von allem Wollen den Weg zur Erlösung". Bei diesem Hervortreten stellt Malter eine „Primärfunktion der Vernunft" fest (419). Vgl. ders., „Erlösung durch Erkenntnis. Über die Bedingung der Möglichkeit der Schopenhauerschen Lehre von der Willensvemeinung", in: Zeit der Ernte, hg. v. Wolfgang Schirmacher, Stuttgart/Bad Cannstatt 1982,41-59.
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MATTHIAS KOSSLER
Geht man von dem Vernunftbegriff aus, den Schopenhauer selbst explizit und unmittelbar in Anspruch nimmt, so wird man kaum Anhaltspunkte für die These finden, dass er den dargelegten Kriterien einer Aufklärungsphilosophie gerecht wird. Die Vernunft ist demnach ein sekundäres, ja, „tertiäres" Vermögen,5 das ganz und gar vom Willen abhängig ist. Ihre einzige Funktion besteht darin, im Dienst des Willens zum Leben einzelne anschauliche Vorstellungen in allgemeine Begriffe umzubilden.6 Dass der Mensch Vernunft hat, macht zwar den Unterschied zu den Tieren aus - und damit scheint Schopenhauer in der Tradition der Aufklärung zu stehen - , aber dieser Unterschied ist für ihn kein wesentlicher, sondern nur ein gradueller.7 Die Abwertung der Vernunft, ihre Entlarvung als ein bloßes Instrument des blinden Willens, die auf Nietzsche vorausweist,8 hat Schopenhauer den Ruf eines Gegenaufklärers eingetragen, und in einem oberflächlichen Verständnis kann das durchaus berechtigt erscheinen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Sache jedoch anders dar. Die Aufdeckung eines fundamentalen arationalen Elements in der menschlichen Natur und die Feststellung, dass das Erkennen ursprünglich durch dasselbe bedingt ist, machen eine Philosophie noch nicht zum Irrationalismus. Gerade das Aufdecken und Entlarven stellen ja ein wesentliches Element jeder Aufklärung dar.9 Entscheidend für die Einordnung im Kontext der Aufklärung ist die Rolle, die das entlarvende Erkennen im Verhältnis zur entdeckten Wahrheit (nämlich dass es selbst bedingt durch anderes ist) spielt, und die Bedeutung, die ihm hinsichtlich der Stellung des Menschen in der Welt beigemessen wird. Was die letztere betrifft, so kann zunächst festgehalten werden, dass der Erkenntnis in Schopenhauers Lehre die Fähigkeit zugesprochen wird, zur Erlösung, d. h. zur Befreiung aus der Abhängigkeit vom Willen zu führen. 10 Das steht nun ganz im Widerspruch zu dem angeführten Vernunftbegriff. Schopenhauer versucht, diesen Widerspruch dadurch zu beseitigen, dass er zwischen dem gewöhnlichen Intellekt des „Normalmenschen" und dem „abnormen" Intellekt des Genies unterscheidet.11 Dass die abnorme Steigerung der Erkenntniskraft, durch die der Intellekt
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Ν 45; W II, 222ff. Schopenhauers Werke werden zitiert nach der Ausgabe Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. v. Arthur Hübscher, Wiesbaden 21946-1950. Für die einzelnen Werke werden die im Schopenhauer-Jahrbuch angegebenen Abkürzungen verwendet: G = Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Bd. 1); WI/II = Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 2/3); Ν = Ueber den Willen in der Natur (Bd. 4); Ρ I/II = Parerga und Paralipomena (Bd. 5/6); Gestrichene Stellen = Dissertation, Gestrichenes, Zitate, Register (Bd. 7). G, lOOff.; WI,46. W 1,48,180f. Vgl. Matthias Koßler, „Ästhetik als Aufklärungskritik bei Schopenhauer und Nietzsche", in: Nietzsche Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, hg. v. Renate Reschke, Berlin 2004, 255-262, hier 258; Jörg Salaquarda, „Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vorbereitung durch Schopenhauer", in: Kris is der Metaphysik, hg. v. Günter Abel und Jörg Salaquarda, Berlin/New York 1989, 258-282, hier 281f.; ders., „,Leib bin ich ganz und gar' [ . . . ] - Zum .dritten Weg' bei Schopenhauer und Nietzsche", in: Nietzscheforschung Bd. 1, 1994,37-50, hier 46f. In diesem Sinne kann Alfred Schmidt, „Schopenhauer als Aufklärer", 247ff. gerade die „Entwertung der Vernunft" selbst als Ausdruck des „aufklärerischen Grundzugs der Schopenhauerschen Philosophie" betrachten, insofern sie nämlich „die traditionell-christliche Anschauung, die menschliche Natur sei ein Nachbild der göttlichen", verwirft. W 1,474,477; Ρ II, 317. Vgl. Rudolf Malter, „Erlösung durch Erkenntnis". W II, 442ff.; Ρ II, 103. Zu Schopenhauers Rede vom „doppelten Intellekt" und ihrem Wandel in dem Zusammenhang vgl. a. Matthias Koßler, Substantielles Wissen und subjektives Handelns, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopenhauer, Frankfurt a. M. 1990,200.
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sich vom Willen löst und frei wird, dem künstlerischen Genie zugeordnet wird, verstärkt die Trennung der beiden Formen des Intellekts, denn die Intuition, mit der der Künstler die Idee erfasst und damit aus der Abhängigkeit vom Willen heraustritt, ist der dem Satz vom Grunde unterworfenen Erkenntnis des Verstandes und der Vernunft entgegengesetzt. In Parallelität zur ästhetischen Kontemplation werden dann auch die Durchschauung des principium individuationis in der Ethik und die Weisheit des den Willen verneinenden Asketen als „veränderte Erkenntnißweise" 12 von den normalen Funktionen des Intellekts abgehoben. Auch wenn Schopenhauer auf diese Weise versucht, die Erkenntnisformen voneinander zu separieren 13 und sich mit Erläuterungen zum Verhältnis derselben zueinander weitgehend zurückhält, so bleibt auf der anderen Seite doch klar, dass der menschliche Intellekt damit nicht in zwei Stämme zerlegt werden soll. An wenigen Stellen äußert sich Schopenhauer über den Zusammenhang zwischen dem dienstbaren und dem freien Intellekt. 14 Die entscheidende Rolle spielt dabei der Begriff der Besonnenheit; denn der „Grad an Besonnenheit" ist es, der zum freien Erkennen führt.15 Um Schopenhauers Stellung zur Aufklärung systematisch zu bestimmen, muss dieser Begriff also in den Blick genommen werden. Besonnenheit ist zunächst ganz allgemein die Fähigkeit, die den Menschen als Menschen ausmacht, indem sie die spezifische Differenz zum Tier bezeichnet. 16 In dieser Hinsicht fällt sie mit Vernunft und Reflexion zusammen. Die Vernunft als das „Vermögen der Begriffe" ist für Schopenhauer „Reflexion" in dem Sinne, dass sie einen „Reflex", eine „höhere Potenz" der anschaulichen Erkenntnis darstellt. 17 Mit ihr ist „Besonnenheit da, enthaltend Ueberblick der Zukunft und Vergangenheit, und, in der Folge derselben, Ueberlegung, Sorge, Fähigkeit des prämeditirten, von der Gegenwart unabhängigen Handelns, endlich auch völ-
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W 1,477. Die strikte Trennung ist sicher auch von der im frühen handschriftlichen Nachlass Schopenhauers enthaltenen sogenannten „Lehre" vom empirischen und besseren Bewusstsein beeinflusst, die im Folgenden noch ausführlicher zur Sprache kommen wird. Diese Stellen finden sich erst in der zweiten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung, wenngleich der Sache nach, wie im folgenden gezeigt wird, der Zusammenhang bereits in der ersten Auflage besteht. Aber dort kommt es Schopenhauer mehr darauf an, den Unterschied herauszustellen, während der Übergang, als „plötzlich" und „mit Einem Schlage" (W 1,210) vor sich gehender, unerklärt bleibt. W II, 437. An anderer Stelle spricht er von einer „Erhöhung der Intensität unserer intuitiven Intelligenz" (W II, 426); die weiteren Ausführungen zeigen aber, dass diese Erhöhung der Intensität mit der Besonnenheit als Losreißen vom Selbstbezug zusammenfallt. Physiologisch versucht Schopenhauer den Übergang zu willenlosen Erkennen durch Erhöhung der „Spannung und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems, jedoch ohne Erregung irgendeiner Leidenschaft" (W II, 420), zu beschreiben. Interessant ist, dass Schopenhauer diese Voraussetzungen vor allem in der Kindheit gegeben sieht, in der der Mensch daher mehr als in anderen Lebensaltern zur objektiven Auffassung der Welt fähig ist, so dass „was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht und Kenntniß erwibt, im Ganzen genommen, mehr [ist], als Alles was er nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt" (W II, 452). W 1,43. W 1,43, 180. Die Bezeichnung der Vernunft als „Reflex" und „Widerschein" der anschaulichen Erkenntnis hängt mit Schopenhauers Bestimmung der Begriffe als „Vorstellungen von Vorstellungen" (W I, 48) zusammen. Dabei wird verschwiegen, dass es sich bei den Begriffen um eine von den „anschaulichen Vorstellungen toto genere verschiedene Klasse" handelt (W I 46), dass also bei dem Ausdruck „Vorstellungen von Vorstellungen" die ersteren etwas grundsätzlich anderes bezeichnen als die letzteren. Dass daher die Vernunft durchaus in einem unterschiedlichen Sinne „Reflexion" genannt werden muss, soll im Folgenden unter Hinzuziehung des Begriffs der Besonnenheit gezeigt werden.
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MATTHIAS KOSSLER
lig deutliches Bewußtseyn der eigenen Willensentscheidungen als solcher". 18 Mit Vernunft und Besonnenheit sind die technischen und kulturellen Leistungen des Menschen gegeben, zugleich aber auch die Möglichkeit des Irrtums und ein größerer Leidensdruck. In dieser Hinsicht werden die Begriffe „Vernunft" und „Besonnenheit" von Schopenhauer nahezu synonym verwendet. In anderer Hinsicht aber hat die Besonnenheit einen größeren Wirkungsbereich als die Vernunft und wird, zwar nicht explizit, aber durch die Zusammenhänge, in denen dieser Begriff gebraucht wird, von derselben abgesetzt. Am deutlichsten ist das wohl da der Fall, wo Schopenhauer mit Jean Paul die „geniale Besonnenheit" als die wesentliche Eigenschaft des Künstlers ausmacht. 19 Die auf den ersten Blick überraschende Tatsache, dass die im Anschluss an die Platonische Ideenlehre ganz auf die Anschauung zurückgeführte ästhetische Kontemplation bedingt sein soll durch vernünftige Besonnenheit, wird unter Einbeziehung der bereits erwähnten „Grade" der Besonnenheit begründet. Zwar scheint es zunächst, als beziehe sich die Besonnenheit nur auf die Fähigkeit des Künstlers, die anschaulich erfasste Idee bis zu ihrer Ausführung im sinnlichen Stoff vor Augen zu behalten. Es zeigt sich aber, dass der Grad der Besonnenheit auch konstitutiv ist für die Anschauung der Idee selbst, indem er die Trennung des Erkennens vom Willen ermöglicht: Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit. Bewußtseyn hat es, d. h. es erkennt sich und sein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solches veranlassen. Aber seine Erkenntniß bleibt stets subjektiv, wird nie objektiv [ . . . ] Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter Beschaffenheit ist das Bewußtseyn des gemeinen Menschenschlages, indem auch seine Wahrnehmung der Dinge und der Welt überwiegend subjektiv und vorherrschend immanent bleibt. Es nimmt die Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes Thun und Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in unendlichen Abstufungen, die Deutlichkeit des Bewußtseyns sich steigert, tritt mehr und mehr die Besonnenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, daß bisweilen, wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen Graden der Deutlichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit ,was ist das Alles?' oder auch mit ,wie ist es eigentlich beschaffen?' Die erstere Frage wird, wenn sie große Deutlichkeit und anhaltende Gegenwart erlangt, den Philosophen, und die andere, eben so, den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst aus der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. Der ganze Hergang aber entspringt daraus, daß der Intellekt, durch sein Uebergewicht, sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu Zeiten losmacht. 2 0
Besonnenheit ist also von ausschlaggebender Bedeutung für die Kunst, ohne dass Schopenhauer jemals die Begriffe „Vernunft" oder „Reflexion" in dieser Weise mit der Ästhetik in Verbindung bringt. Vernunft spielt in der Kunst nur hinsichtlich der technischhandwerklichen Seite des Schaffens eine Rolle. 21 In dem Zitat wurde ein zweiter Bereich angesprochen, in dem der exzeptionelle Grad an Besonnenheit wirksam wird, der für die Frage der Aufklärung bedeutsam ist, nämlich die Philosophie. Bereits der erste Satz des Hauptwerks weist darauf hin: „,Die Welt ist meine
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W I , 180. W II, 442. Vgl. ausführlich dazu meinen Aufsatz „Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhetik Arthur Schopenhauers", in: Schopenhauer-Jahrbuch 83,2002, 119-133. W II, 437; vgl. Ρ II, 630ff., wo Schopenhauer die Grade der Besonnenheit mit denen der „Realität des Daseyns" gleichsetzt. W I, 68f.
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Vorstellung' - dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten". 22 Wenn man Schopenhauers Kantkritik und seine Skizzen und Fragmente zur Geschichte der Philosophie durchgeht, stößt man immer wieder auf die Besonnenheit als für das Philosophieren erforderliches Vermögen. Besonnenheit wird in diesem Zusammenhang auch mit „philosophischer Kritik" gleichgesetzt. 23 Die erste Erwähnung des Begriffs „Besonnenheit", die in den frühen Manuskripten Schopenhauers zu finden ist, stammt aus dem Jahr 1816 und lässt bereits die nicht nur für Kunst und Philosophie, sondern auch für die Ethik entscheidende Bedeutung eines außergewöhnlichen Grades an Besonnenheit erkennen. Aus dem Willen selbst also, und zu seinem Dienst geht die Erkenntniß hervor: auch bleibt sie einzig in seinem Dienst bei allen Thieren, bei den Menschen, dem größten Theil nach, auch: allein hier geschieht es, gegen die Absicht des Willens, daß sein stärkstes Mittel ihm entgegen wirkt, indem er hier bei der höchsten Besonnenheit zur Selbsterkenntniß kommt, die theils in Kunst und Philosophie (bei welchen die zum Dienst des Willens entstandene Erkenntniß, sich von diesem losreißend, frei wird) sich offenbart, theils die Aufhebung des Willens in Tugend, Asketik, Weltüberwindung, herbeiführt. 24
Es gibt allerdings noch einen früheren Hinweis in Schopenhauers Vorlesungsnachschriften zu Fichte, die ein Licht auf die Herkunft dieses Gedankens werfen. 1811 notiert er zu Beginn der Vorlesung Über die Tatsachen des Bewußtseins (1811/12): Der Punkt der absoluten Besonnenheit, zu dem F[ichte] sie [die Zuhörer] leiten will, ist, wie es mir scheint, der eines für sich bestehenden von der Wahrnehmung nicht abhängigen und nicht durch sie gegebenen Bewußteyns, aus welchem hervorgeht das Philosophische Befremden über die Welt, d. h. über jenes 2te Bewußtseyn in der Wahrnehmung (das dem gemeinen Sinn das einzige ist). 25
Es ist interessant zu sehen, welche Wendung Schopenhauer hier in seiner Anmerkung Fichtes „absoluter Besonnenheit" gibt. Fichte bezeichnet damit eine Reflexion des Wissens über sich selbst, ein Wahrnehmen oder Bewusstwerden des Wahrnehmens als solchem und im Ganzen. Bei Schopenhauer wird daraus ein ganz unterschiedliches Bewusstsein, das sich nicht reflektierend, sondern bloß negierend zum Wahrnehmen, d. h. zum gewöhnlichen Bewusstsein verhält; es ist ein von diesem „ganz verschiednes" Bewusstsein. 26 Diese Deutung der absoluten Besonnenheit ist in Verbindung zu sehen mit der so genannten „Lehre" vom empirischen und besseren Bewusstsein, die sich zwischen 1812 und 1814 in den frühen Manuskripten Schopenhauers nachweisen lässt. 27 Kennzeichnend für sie ist die absolute
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W I, 3. W 1,598. ΗΝ 1,356f. ΗΝ II, 30f. ΗΝ II, 31.
27
Vgl. Tomas Bohinc, Die Entfesselung des Intellekts. Eine Untersuchung über die Möglichkeit der An-sichErkenntnis in der Philosophie Arthur Schopenhauers unter besonderer Berücksichtigung des Nachlasses und entwicklungsgeschichtlicher Aspekte, Frankfurt a. M. u. a. 1989, 50ff. Der Begriff „bessres Bewußtseyn" taucht zum erstenmal 1812 auf (ΗΝ I, 23; diese Stelle fehlt bei Bohinc), wird als Gegenbegriff zum zeitlichen Bewusstsein aber schon in den frühesten Aufzeichnungen Schopenhauers, die bis ins Jahr 1804
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Trennung zwischen dem gewöhnlichen, zeitlichen empirischen Bewusstsein und dem besseren Bewusstsein, das in Kunst, Moral und Religion wirksam ist. „Das bessre Bewußtseyn ist vom empirischen durch eine Gränze ohne Breite, eine mathematische Linie, getrennt [...] wie wir das eine Gebiet betreten, haben wir auch gleich das andre verlassen und verleugnet: zu vermitteln und zu verbinden ist nichts, nur zu wählen, für jeden Augenblick."28 Das bessere Bewusstsein liegt „hoch über alle Vernunft". 29 In dieser ersten Adaption steht der Begriff der Besonnenheit für das Andere der Vernunft, zu dem keine Reflexion hinüberführen kann. Das ändert sich bald, jedoch bleibt die Verknüpfung der Besonnenheit mit dem besseren Bewusstsein weiterhin prägend für ihre Zuordnung zu Kunst, Ethik und Philosophie. Dass der erste Versuch über die Besonnenheit unbefriedigend war, zeigt sich darin, dass der Begriff im Zusammenhang mit der Lehre vom empirischen und besseren Bewusstsein in der Folge nicht mehr auftaucht. Stattdessen mehren sich in den Manuskripten die Überlegungen, die die Rolle der Vernunft für die „Erkenntniß des Lebens im Ganzen" und damit für die Befreiung des Erkennens vom Willen herausstellen,30 bis hin zu der zitierten Notiz von 1816, bei der die Besonnenheit wieder ins Spiel gebracht und mit der höchsten Steigerung der ursprünglich im Dienst des Willens stehenden Vernunft identifiziert wird. Anfangs ist die Funktion der Vernunft noch darauf beschränkt, dasjenige, „was, der Vernunft fremd, aus dem bessern Bewußtsein stammt", durch Abstraktion als Maxime des Handelns zu fixieren,31 später aber ist die Vernunft selbst „Bedingung der Freiheit", die zur Verneinung des Willens und damit zu dem Zustand führt, der im reifen System an die Stelle des besseren Bewusstseins tritt. Die Konzeption des besseren Bewusstseins widerstreitet dem Grundgedanken philosophischer Aufklärung. Indem das bessere Bewusstsein der Vernunft geradezu entgegengesetzt wird, ist es ein geheimnisvolles, exklusives Vermögen,32 das, paradigmatisch in der ästhetischen Kontemplation gegeben, von Schopenhauer als Genialität bezeichnet wird.33 Die Philosophie hat in dieser Konzeption nicht einmal die Aufgabe, die Genialität begreiflich zu machen; vielmehr ist sie selbst als „Kunst" zu betrachten, und „jeder wird dadurch genau nur soviel verstehen als er selbst werth ist".34 Wenn das Genie nur zum Genie sprechen kann und die Philosophie daher „paucorum hominum" ist,35 dann ist Aufklärung auch im praktisch-politischen Verständnis sinnlos. Theoretisch ist der Gedanke der Aufklärung dadurch
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zurückreichen (ΗΝ I, 1,8, 14, 15) vorbereitet. Der Begriff der absoluten Besonnenheit wird hier also auf eine bereits bestehende Gedankenwelt appliziert. HN 1,111. ΗΝ 1,44. ΗΝ 1,182f., 318, 331. ΗΝ I, 102. Hier wird zwar noch nicht der Terminus „Besonnenheit", aber das Adjektiv „besonnen" mit der Vernunft in Verbindung gebracht. Daraus ist zu ersehen, dass 1814 schon die erste Aufnahme des Begriffs „Besonnenheit" von Fichte vergessen ist und sich die spätere Verwendung einem ganz unterschiedlichen Gedankengang verdankt. Vgl. a. ΗΝ 1,53. Vgl. ΗΝ I, 23: „Das sogenannte Moralgesez hingegen ist nur eine einseitige vom Standpunkt des Instinkts aus genommene Ansicht des bessern Bewußtseyns, welches jenseits aller Erfahrung also aller Vernunft sowohl theoretischer als praktischer (Instinkt) liegt, und mit ihr nichts zu thun hat, als indem es, vermöge seiner geheimnißvollen Verbindung mit ihr in Einem Individuo, auf sie stößt, wo dann dem Individuo die Wahl entsteht ob es Vernunft oder bessres Bewußtseyn seyn will". In ΗΝ I, 150 spricht Schopenhauer von dem „Gegensaz [...], der alle Menschen in 2 Partheien, nämlich die vernünftigen und die genialen, theilt [...]." ΗΝ 1,186; vgl. a. 205, 210,256. ΗΝ I, 186.
,DER G I P F E L DER A U F K L Ä R U N G "
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desavouiert, dass die Vernunft als unfrei bestimmt und als untauglich für Kunst, Religion, Moral und Philosophie befunden wird. Wenngleich Schopenhauer an der elitären Stellung des Philosophen, die er gemeinsam mit dem Künstler und dem Heiligen gegenüber dem „Normalmenschen" 3 6 einnimmt, weiter festhält, so hat er doch bereits vor Fertigstellung der Welt als Wille und Vorstellung den Gedanken von der Philosophie als Kunst aufgegeben. 1817 wird die Philosophie zwar einerseits noch zu den Künsten gezählt, andererseits aber auch zu den Wissenschaften, wobei der Unterschied zu den „anderen Künsten" klar herausgestellt wird: Die Philosophie „stellt die Idee nicht, wie die andern Künste, als Idee, d. h. intuitiv dar, sondern in abstracto. Da nun alles Niederlegen in Begriffen ein Wissen ist, so ist sie in sofern doch eine Wissenschaft: eigentlich ist sie ein Mittleres zwischen Kunst und Wissenschaft, oder vielmehr etwas das beide vereinigt". 37 Im Hauptwerk taucht in der ersten Auflage noch einmal die Bemerkung auf, dass die Philosophie „zwar in gewissem Betracht zu den Wissenschaften gehört, jedoch in einem Hauptpunkt sich von ihnen unterscheidet, in demselben mehr mit den schönen Künsten übereinstimmend", jedoch wird diese Stelle in der zweiten Auflage gestrichen. 38 Hier gibt es dann nur noch eine schwache Reminiszenz an die frühere Konzeption, wenn Schopenhauer schreibt, die Philosophie sei „als der Grundbaß aller Wissenschaften anzusehn, ist aber höherer Art als diese und der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft verwandt". 3 9 Diese Wendung von der Philosophie als Kunst zur Philosophie als Wissenschaft hängt mit einem Wandel in der Auffassung von der Bedeutung der Vernunft zusammen, der aber nicht auf die Weise einer Neufassung des Vernunftbegriffs geschieht, sondern durch eine neue Einführung des Begriffs der Besonnenheit etwa zu der selben Zeit, in der die Philosophie als Kunst fragwürdig wird. Besonnenheit steht nun für den Aspekt der Vernunft, durch den sie die Befreiung des Erkennens aus der Abhängigkeit vom Willen ermöglicht, und wird des öfteren zusammen mit dem Begriff „Reflexion" genannt, der in diesen Zusammenhängen nicht mehr den bloßen „Reflex" anschaulicher Vorstellungen bedeutet, sondern die Distanzierung vom Willen beinhaltet, die jede objektive Betrachtung zur Voraussetzung hat. „Wenn aber mit der Vernunft Besonnenheit eintritt und die Erkenntniß aufhört nothwendig und unmittelbar dem bloßen Willen zu dienen, vielmehr Reflexion, Betrachtung der Welt als Vorstellung im allgemeinen und endlich Ergreifung der Idee möglich wird, da ist dem Strohm der Einwirkung der Motive wenigstens eine Schleuse gesetzt die ihn hemmt für eine Zeit und der Besinnung Raum giebt [,..]." 4 0 In der Besinnung macht sich das Erkennen von der unmittelbaren Wirkung der Motive frei, und der Blick wendet sich von den bloß in Beziehung auf den eigenen Willen aufgefassten einzelnen Dingen weg auf die Welt als das Gefüge der untereinander in Beziehung stehenden Dinge. Die Vorstufe zum ersten Satz der Welt als Wille und Vorstellung lautet: „,Die Welt ist meine Vorstellung': muß jeder zu sich sagen, sobald er ernstlich unternimmt sich zu besinnen". 41 Dies ist jedoch erst der Beginn der Besinnung, das „Eintreten" der philosophischen Besonnenheit. Die weitergehende Besinnung lässt den Philosophen (Schopenhauer) begreifen, dass auch das relationale Gefüge der Welt als Vorstellung noch auf dem Willen beruht, der den
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38
39 40 41
W II, 430 u. ö. HN 1,482. Gestrichene Stellen 98. Zum Wandel des Verhältnisses von Philosophie, Kunst und Wissenschaft vgl. a. Matthias Koßler, Substantielles Wissen und subjektives Handeln, 155ff. W II, 140. HN 1,363. ΗΝ 1,387; vgl. 403.
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Satz vom Grund und mit ihm die Abhängigkeit der Dinge als Instrument seines unaufhaltsamen Strebens hat. Die tiefere Besinnung lässt die Welt als Wille hervortreten und erweist sich in Schopenhauers Formulierung „Meine ganze Philosophie] läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens" 42 als Reflexion, nicht nur im Sinne von Distanzierung, sondern auch als Selbstbezug, als sich-Spiegeln des Wesens der Welt. Die Selbsterkenntnis des Willens ereignet sich im Künstler auf die Weise der Anschauung (als „Spiegeln" 43 ), im Philosophen aber als Reflexion in Begriffen. Für beide ist, wie zu sehen war, die Besonnenheit, die das Ganze des Lebens überblicken lässt, Voraussetzung. Aber der Umstand, dass die Philosophie das erkannte Wesen der Welt in Begriffen, d. h. mittels der Vernunft erfasst, hebt sie in den späteren Schriften über die Kunst hinaus. [Die] Künste reden sämmtlich nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung, nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: Ihre Antwort [auf die Frage „Was ist das Leben?", MK] ist daher ein flüchtiges Bild; nicht die bleibende allgemeine Erkenntniß [...]. Ihre Antwort, so richtig sie auch seyn mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, keine gänzliche und finale Befriedigung gewähren. Denn sie geben immer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur in der Allgemeinheit des Begriffs gegeben werden kann. 4 4
Vernunft und Besonnenheit haben verschiedene Funktionen bei der Erkenntnis des Wesens der Welt, die jedoch innerlich zusammenhängen. In ihrem Zusammenspiel haben sie sowohl theoretische als auch praktische Bedeutung. Dies führt auf die Frage nach der Position Schopenhauers zur Aufklärung zurück. Die Besonnenheit schafft Distanz zum Willen und gibt damit Raum für die Erkenntnis des Wesens. Die Vernunft fasst diese Erkenntnis in Begriffe und macht sie so beständig und mitteilbar. So verschieden diese beiden Funktionen erscheinen, so gehen sie doch beide auf die Grundfunktion der Vernunft zurück, Allgemeinbegriffe zu bilden. Denn „bloß in abstracto können Motive in uns kämpfen" 45 und dadurch Raum für Abwägung, Überlegung und Besinnung schaffen. Zugleich wird durch die abstrakten Motive die unmittelbare Wirkung der anschaulich gegenwärtigen Motive aufgehoben; der Blick wendet sich von der bloßen Gegenwart ab und umfasst Vergangenheit und Zukunft. Daraus wiederum geht die Erfassung des Lebens im Ganzen bzw. der Welt im Ganzen, die als die Gesamtheit aller möglichen Motive gedacht werden kann, 46 hervor. Die Vernunft als Fähigkeit zu Begriffen ist somit (in der Form der Besonnenheit) zwar notwendige Bedingung der Wesenserkenntnis, kann diese aber dennoch nicht selbst liefern. Die Konzeption des besseren Bewusstseins schlägt sich in der Welt als Wille und Vorstellung noch darin nieder, dass die Wesenserkenntnis sowohl in der Kunst als Anschauung der Idee wie auch in der Ethik als Durchschauung des principium individuationis unmittelbar und intuitiv ist. Daher spricht Schopenhauer auch im Hauptwerk nicht nur vom Künstler als Genie, sondern auch - wenngleich viel seltener und vorsichtiger als in den frühen Manuskripten - davon, dass die Werke „selbst der Philosophie" dem Genie entspringen 47 und dass
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47
HN 1,462. Vgl. W 1,210. W II, 463f.; vgl. dazu Heinrich Günther, Über den Begriff der Vernunft bei Schopenhauer, Frankfurt a. M. u. a. 1989, 108ff. HN 1,478. Vgl. dazu Matthias Koßler, „Schopenhauers Philosophie als Erfahrung des Charakters", in: Schopenhauer im Kontext, hg. v. Dieter Bimbacher, Andreas Lorenz und Leon Miodonski, Wüxzburg 2002, 91-110, hier 107ff. W II, 429f.; vgl. 432.
,DER GIPFEL DER AUFKLÄRUNG"
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der Heilige, der zur Resignation gelangt, „ethisch genial" wird. 48 Aber Genialität ist jetzt nicht mehr schlechthin der Vernunft entgegengesetzt: Im Gegenteil verdankt sie sich einem hohen Maß an Besonnenheit, die dem Vermögen der Vernunft angehört. 49 Das Genie besteht darin, „daß ein größeres Maß an Erkenntnißkraft da ist, als der Dienst eines individuellen Willens erfordert". 50 Zwar betont Schopenhauer, daß dieses Maß „abusive" und eine „Abnormität" ist," die selten zu finden ist, doch ändert das nichts daran, dass die Vernunft als ein Vermögen, das jeder Mensch hat, Bedingung dafür ist. Von dem besonderen Maß an Besonnenheit ausgehend bleibt die Philosophie nun im Medium der Vernunft und entwickelt die Erkenntnis, die der Künstler in der Anschauung, der Mitleidende im Gefühl und der Heilige in der Resignation haben, auf die Weise der Reflexion. Dadurch erhält sie das, was Ethik und Religion in sich wandelnden Formeln und Bildern auszudrücken suchen, als gesichertes Wissen. Die fortschreitende Aufklärung vernichtet aber allmählig jede falsche Formel, und soll dann nicht auch ihr ethischer Gehalt für falsch gelten, so muß eine richtigere an ihre Stelle treten: die letzte, von mir ausgesprochene als die der vollendeten philosophischen Erkenntniß, kann nicht falsch befunden werden, setzt aber die höchste Besonnenheit der Menschheit voraus, den 52 Gipfel der Aufklärung und Philosophie].
Dieser Gipfel der Aufklärung ist indessen keine rein theoretische Angelegenheit mehr, denn was in ihm begriffen wird, ist, dass der Wille - und nicht die Vernunft - das Wesen der Welt ausmacht. Philosophie ist, wie gesagt wurde, Selbsterkenntnis des Willens. Als Reflexion kann sie nicht wie die Kunst auf dem Standpunkt des reinen Erkennens und Schauens stehen bleiben, sondern muss den Inhalt der Erkenntnis, die Macht des Willens mit einbeziehen. „Auf dem Gipfel der Besinnung und des Selbstbewußtseyns" findet sich der Wille im Menschen der Freiheit ausgesetzt, sich selbst zu bejahen oder zu verneinen, d. h. dasselbe, was er „blind und sich selbst nicht kennend" wollte, nun mit Bewusstsein und Besonnenheit zu wollen, oder aus seiner Erkenntnis ein „Quietiv" zu gewinnen, „welches alles Wollen beschwichtigt und aufhebt". 53 Im ersten Fall ist an einen Menschen zu denken, der im Leben Befriedigung fände, dem vollkommen wohl darin wäre, und der, bei ruhiger Ueberlegung, seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer Wiederkehr wünschte, und dessen Lebensmuth so groß wäre, daß er, gegen die Genüsse des Lebens, alle Beschwerde und Pein, der es unterworfen ist, willig und gem mit in Kauf nähme; ein solcher stände ,mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde' und hätte nichts zu fürchten. 54
48
49
W 1,468.
Das gilt auch fiir die Erkenntnis des Heiligen, da „vermöge der Vernunft und ihrer Besonnenheit, auch die Möglichkeit zur Verneinung des Willens vorhanden ist" (Ρ II 317). 50 W 1,219; W II, 422f. 51 PII, 102 f. 52 HN 1,479. 53 54 W 1,363. W I, 334f. Diese Stelle hat Nietzsche, wie an häufigen Zitierungen zu sehen ist, stark beeindruckt und seine frühe Schopenhauer-Rezeption bestimmt. Die im Folgenden erwähnte „weitergehende Einsicht" hat er jedoch nicht anerkannt, und diese Ablehnung macht dann den Kem seiner Kritik an Schopenhauer aus.
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Aber eine noch „weitergehende Einsicht"55 führt zur Erkenntnis des dem Leben wesentlichen Leidens und damit zur Verneinung des Willens zum Leben, die in verschiedenen Stufen die Ethik Schopenhauers ausmacht. Bei demjenigen, der, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich frei verneinte [...] zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden. 5 6
Wenn Aufklärung als Ausgang aus der Unmündigkeit verstanden wird, so ist hier mit dieser engen Verknüpfung von vernunftbedingter Wahrheitserkenntnis und ethisch bedeutsamer Lebensführung in der Tat auch ein Gipfel der Aufklärung in Schopenhauers Philosophie enthalten.
55 56
Ebd. W 1,486.
KONSTANTIN BROESE
Schopenhauers Überwindung der Theorie der Selbsterhaltung und der neuzeitlichen Rationalität Schopenhauer als Wegbereiter Nietzsches I. Das Prinzip der Selbsterhaltung ist für die Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Rationalität und weit darüber hinaus von zentraler Bedeutung. Zu verweisen ist an dieser Stelle ζ. B. auf einige zentrale Aspekte aus der Philosophie der frühen Neuzeit. Bei Hobbes ist es insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod, die in den primären Individuen zum Streben nach Selbsterhaltung führt und dieses (für das Leben der einzelnen und des Staates) zum obersten Gebot und Prinzip der Vernunft werden lässt. Newton stellt das gleiche Prinzip mit Blick auf die physikalische Mechanik und die Bestimmung von Kräften auf. Die Materie impliziert eine Widerständigkeit, die dazu führt, dass jeder Körper in seinem jeweiligen Zustand beharrt, sofern keine Kräfte auf ihn einwirken („perseverat in statu sui"; vis inertiae). Für Descartes spielt der Erhaltungsgedanke eine zentrale Rolle, v. a. im Kontext seines Gottesbeweises in der Dritten Meditation, wo er davon ausgeht, dass die physische Existenz von Seiendem und dessen Dauer auch in jedem weiteren Zeitmoment nicht aus dem unmittelbar vorangegangenen Dasein notwendig folgen, vielmehr einer externen Ursache bedürfen, die diese auch in jedem folgenden Zeitpunkt von neuem schöpft und so in ihrem Dasein erhält. Bei dem Descartes-Schüler Spinoza wird das Prinzip der Selbsterhaltung zum Wesensmerkmal alles Seienden im Sinne spekulativer Ontologie und Ethik („Conatus esse conservandi est ipsa rei essentia."). Schopenhauer wird üblicherweise als ein Denker verstanden, dessen Philosophie als „eine metaphysische Erhaltungslehre" 1 betrachtet werden könne, „näherhin als Lehre der Selbst-Erhaltung des Individuums, der über das Individuum hinausgehenden GattungsErhaltung und schließlich einer ästhetischen und asketischen Erlösungs-Erhaltung aus Intellekt", 2 und dergestalt als ein Denker, der ,ganz und gar in den Kontext der neuzeitlichen Rationalität' 3 gehöre. Zugleich wird insbesondere in weiten Teilen der modernen NietzscheForschung davon ausgegangen, dass Nietzsche entscheidend über Schopenhauer hinausgeht und erst durch ihn der ,Erhaltungsgedanke' grundsätzlich in Frage gestellt und entschieden überboten werde. 4 Demgegenüber besteht das Ziel dieses Aufsatzes darin, nachzuweisen, dass bereits Schopenhauer und nicht erst Nietzsche den ,Erhaltungsgedanken' grundsätzlich in Frage stellt
1
Günther Abel, Nietzsche. York 1984, 63.
2
Ebd.
3
Vgl. ebd., 83. Vgl. dazu z . B . ebd., 150.
4
Die Dynamik
der Willen zur Macht und die ewige
Wiederkehr,
Berlin/New
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bzw. die neuzeitliche Rationalität entscheidend überbietet und dergestalt auch im Hinblick auf diese Überwindung ein wichtiger Wegbereiter Nietzsches ist.5 Grundlage hierfür ist die Interpretation der (nicht zuletzt in der Schopenhauer-Forschung wenig beachteten) §§25 bis 29 des ersten Bandes seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung (= W I 6 ), die zum zweiten, die Metaphysik thematisierenden Buch seines Hauptwerkes gehören und in denen er im ausdrücklichen Vorgriff1 auf die Ästhetik bzw. auf das dritte Buch von W I die ,Ideen' thematisiert.
II. Voraussetzung der Ideen-Lehre Schopenhauers im zweiten Buch von W I ist das Ergebnis seiner Darlegungen in den Paragraphen 17 bis 24 dieses Buches. Dieses besteht in seiner (hier nur anzudeutenden) Auffassung, dass das „Ding an sich" im Sinne des Wesens der phänomenalen, raumzeitlichen Welt „Wille" und dieser inhaltlich völlig unbestimmt sei, insofern ihm nur drei negative bzw. auf dem Wege der Abstraktion gewonnene Eigenschaften zukommen, nämlich ,Erkenntnislosigkeit\ .Grundlosigkeit' sowie (der numerischen Vielheit vorgeordneten) ,Einheit' in allen Erscheinungen (vgl. W I, 150). Hauptziel der Ideen-Lehre ist es, vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses seiner Darlegungen in den Paragraphen 18 bis 24 die Aussage bezüglich der Unbestimmtheit und Singularität des „Willens" entscheidend zu modifizieren. Ausgangspunkt der Explikation der Ideen-Lehre im zweiten Buch von W I ist die von Schopenhauer in § 25 vorgenommene Einordnung der „Ideen" zwischen' dem raumzeitlichen Seienden und dem als „Ding an sich" bestimmten „Willen". Dieser „Zwischenstatus" kommt darin zum Ausdruck, dass er sie in diesem Paragraphen (sowie an vielen anderen Stellen) als ,adäquate Objektitäten des Willens' 8 bezeichnet, die mit „Plato's Ideen"9 als den „ewigen Formen" 10 oder „Musterbildern]" 11 der raumzeitlichen Entitäten zusammenfielen. Was damit konkret bzw. im einzelnen gemeint ist, geht v. a. aus seinen am Anfang des dritten Buches von W I stehenden Paragraphen hervor, weshalb im folgenden Schopenhauers Darlegungen in diesen Paragraphen zu analysieren sind. In § 31 von W I macht Schopenhauer zunächst deutlich, dass die Ideen im Gegensatz zu den Entitäten der raumzeitlich-anschaulich gegebenen Welt nur durch die im Paragraphen 1 der Welt als Wille und Vorstellung explizierte „erste und allgemeinste Form [...], [nämlich] die der Vorstellung überhaupt, des Objektseyns für ein Subjekt"12 bestimmt sind,13 jedoch keineswegs durch Raum, Zeit und Kausalität, also keinesfalls durch diejenigen Formen der
5
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13
Hierbei muss die Frage, inwieweit auch die Denker des sog. .Deutschen Idealismus', dabei insbesondere Fichte, Schelling und Hegel, das Selbsterhaltungsdenken überwinden, offen bleiben. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,, Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, Bd. I, Mannheim "1988. Vgl. W I , 154. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. W 1,206. Vgl. zu Schopenhauers Bestimmung der Subjekt-Objekt-Korrelation v. a. § 1 von W I (vgl. W 1 , 3 ) .
SCHOPENHAUER ALS WEGBEREITER NIETZSCHES
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Erscheinung, deren allgemeiner Ausdruck der „Satz vom Grunde" ist. 14 Bedenkt man hierbei, dass nach Schopenhauers Auffassung in der zweiten Auflage seiner Dissertation der „allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde" 15 gerade in der Aussage besteht, dass alles, was als Objekt für das erkennende Subjekt gegeben sei, zugleich in einer durch den Satz vom Grund bestimmten „Verbindung" 16 stehe, 17 erhellt, dass diese Auffassung Schopenhauers durchaus problematisch ist. Weiterhin stellt Schopenhauer in § 31 von W I heraus, dass die Ideen das in der SubjektObjekt-Korrelation gegebene Ding an sich darstellen, also „selbst das [...] Ding an sich [sind], nur unter der Form der Vorstellung". 18 Insofern die Ideen „selbst das [...] Ding an sich [sind], nur unter der Form der Vorstellung", 19 bezeichnet Schopenhauer sie als die „unmittelbare und daher adäquate Objektität des Dinges an sich". 20 Auch diese Auffassung Schopenhauers ist problematisch. Denn sie ist nicht nur aporetisch, sondern sprengt auch eindeutig den (von Schopenhauer im schon genannten § 1 von W I für jede Erkenntnis geforderten) transzendentalistischen Rahmen, wenngleich sie ansatzweise transzendentalistisch ist bzw. impliziert, dass die Ideen das unter der Form der Vorstellung gegebene Ding an sich sind. Man muss entgegen der Auffassung Schopenhauers konstatieren, dass die Ideen nicht das dem (auf außergewöhnliche Weise) erkennenden Subjekt unter der Form der Vorstellung gegebene Ding an sich sein können. Es ist gegenüber Schopenhauers Intention offenkundig, dass dem erkennenden Subjekt die Ideen, wenn überhaupt, nur als dem Satz vom Grund vorgeordnete Erscheinungen, jedoch nicht als Ding an sich gegeben sein können. Als Ding an sich können die Ideen erst
14
Vgl. W 1,321. Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, Bd. 7, Mannheim "1988,158 (= G II). 16 G II, 27. Der „allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde" (G II, 158) besteht nach Schopenhauers Auffassung in der zweiten Auflage seiner Dissertation mit Blick auf Wolff in folgender Aussage: „Nihil est sine ratione cur potius sit quam non siL Nichts ist ohne Grund, warum es sei." (G II, 5) Präziser lässt sich das von Schopenhauer angeführte lateinische Zitat folgendermaßen übersetzen: „Nichts ist ohne Grund, warum es sei und nicht vielmehr nicht sei." D. h.: Schlechthin jedes Vorgestellte oder jedes Objekt, das für ein vorstellendes Subjekt ,ist', kann dann für dieses und somit überhaupt .sein', wenn es bereits vor jeder Erfahrung in ein Geflecht von gesetzlich - d. h. durch eine wie auch immer zu spezifizierende Grund-Folge-Relation - verknüpften Vorstellungen eingewoben ist. Anders gesagt: Jede Vorstellung, jedes Objekt kann nur unter der Voraussetzung für das Subjekt ,sein\ also überhaupt ,sein', insofern es durch ein anderes (selbst haltloses) Objekt ge-halten bzw. be-gründet wird, was nichts anderes heißt, als dass kein Objekt ,sein' kann, das nur für sich selbst wäre; es ist immer zugleich bedingend für und bedingt durch andere Objekte. Deshalb sagt Schopenhauer am Anfang des mit „Die Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund" überschriebenen Paragraphen 16 der zweiten Auflage seiner Dissertation: „[Es] findet sich, daß alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach α priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt ßr uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grund, in seiner Allgemeinheit, ausdrückt" (G II, 27). 1 ft W 1,206. 19 CkJ Ebd. 20 Ebd., 205; vgl. u.a. ebd., 206.
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durch die die g e g e b e n e n Ideen als Ding an sich deutende Vernunft gelten. 2 1 In d i e s e m Zus a m m e n h a n g ist zu betonen, dass Schopenhauer das „ D i n g an sich" keineswegs als den ,aus bloßen B e g r i f f e n ' erschlossenen transzendenten Grund (Schöpfer) der Vorstellung begreift, sondern als das Wesen der Welt. D a s s Schopenhauer den W i l l e n nicht als Grund der Vorstellung, sondern als das ihr e i g e n e Wesen auffasst, ist besonders zu betonen, da er zwar an Kants dualistischer Terminologie festhält, j e d o c h zugleich einen metaphysischen Monismus vertritt, nämlich die A u f f a s s u n g , dass die „Welt als Vorstellung" und die „Welt als W i l l e " z w e i verschiedene Seiten einer W e l t seien. 2 2 D i e Tatsache, dass Schopenhauer trotz seiner dualistischen, v o n Kant herrührenden T e r m i n o l o g i e einen metaphysischen M o n i s m u s vertritt, wird in der Schopenhauer-Rezeption w e i t g e h e n d ignoriert. 2 3
III. A u s g e h e n d v o n der Einordnung der „Ideen" zwischen' d e m raumzeitlichen S e i e n d e n und d e m als „Ding an sich" b z w . als Wesen der W e l t bestimmten „Willen" b z w . ihrer B e s t i m m u n g als ,adäquate Objektitäten des W i l l e n s ' , 2 4 legt Schopenhauer in § 2 5 v o n W I dar, dass
21
Die deutende Vernunft spielt in Schopenhauers Metaphysik (vielfach entgegen seiner expliziten Intention) eine tragende Rolle. Letzteres deutet er selbst an, wenn er feststellt, dass das Ziel seiner Metaphysik in der .Deutung' (vgl. W I, 320) bzw. „Auslegung" (W I, 204) der Welt, genauer gesagt, ihres „Sinnes und Gehaltes" (W 1,204) bestehe. Auf diesen interessanten Punkt kann jedoch im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu die folgende Feststellung Jörg Salaquardas in seinem Aufsatz „Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vorbereitung durch Schopenhauer", in: Jörg Salaquarda und Günter Abel (Hg.), Krisis der Metaphysik, Berlin/New York 1989: „[...] [Es] ist wichtig, daß Schopenhauer [...] indem er Ding an sich oder Wille der Erscheinung oder Vorstellung entgegensetzte [...] zweifellos einen metaphysischen Monismus des Willens zum Ausdruck bringen wollte. Dieser Wille ist, wie er ständig betonte, das HEN KAI PAN. Die ,Welt als Vorstellung' ist keine andere Welt als die ,Welt als Wille', sondern eben dieselbe, wie sie sich als von einem Vorstellungsapparat angeschaut darbietet." (276f.) In diesem Sinne konstatiert Jörg Salaquarda in seinem Aufsatz „Schopenhauers Kritik der Physikotheologie", in: Volker Spierling (Hg.), Schopenhauer im Denken der Gegenwart, München/Zürich 1987 mit Blick auf Nietzsche:,.Nicht erst Nietzsche in dem vielzitierten Abschnitt ,Wie die .wahre Welt' endlich zur Fabel wurde' seiner .Götzendämmerung' hat also die [...] Abhängigkeit der Position .scheinbare Welt' von der einer .wahren Welt' erkannt und kritisiert, sondern schon - Schopenhauer [...]!" (92 bzw. 96, Anm. 23 40). So heißt es ζ. B. in Walter Meyers Arbeit Das Kantbild Schopenhauers, Frankfurt a. M. 1995, dass Schopenhauer „[...] Kants Begriff des Dinges an sich nahezu kritiklos und ganz im Kantischen, das heißt dualistischen Sinn, übernommen" (75) habe. Korrespondierend dazu spricht er, in eklatanter Weise Schopenhauers Argumentation verkennend, vom Willen als dem „[...] subjektunabhängige[n] Grund oder Ursprung des Objekts [...]" (ebd., 67). Auf diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich, wie Meyer zu dem Ergebnis kommen kann, dass Schopenhauer keine dogmatische, sondern eine kritische Metaphysik anstrebe (vgl. ebd., 174). Vgl. zu den Wurzeln der für die Schopenhauer-Rezeption insgesamt bestimmenden Auffassung vom Willen als extramundaner .Instanz' bzw. als Grund der Welt v. a. in der nachhegelisch-spätidealistischen Philosophie von Johann Eduard Erdmann, Immanuel Hermann Fichte, Rudolf Haym, Kuno Fischer, Eduard Zeller und anderen den sehr aufschlussreichen rezeptionsgeschichtlichen Teil der Schopenhauer-Studie von Yasuo Kamata, Der junge Schopenhauer. Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung, Freiburg 1988 (vgl. Teil 1,47-109). 24 Vgl. W I , 154.
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diese konkret „bestimmte u n d feste Stufe[n/"25 einer Hierarchie darstellen, in deren Verlauf, wie er in 3 30 von W I sagt, der Wille „[...] mit gradweise steigender Deutlichkeit und Vollendung [...] in die [adäquate objektive D i m e n s i o n oder] Vorstellung f...]" 2 6 trete. Grundsätzlich besteht diese Hierarchie f ü r Schopenhauer aus drei b z w . vier voneinander abgrenzbaren Ideen o d e r Stufen: Sie beginnt mit der Stufe der unorganischen Natur, auf sie folgt die Stufe , P f l a n z e ' und auf diese w i e d e r u m die Stufe ,Tier', und die höchste Stufe wird durch die Idee , M e n s c h ' gebildet (eine Stufe, die Schopenhauer zuweilen auch zur dritten Stufe rechnet). Jede dieser Stufen oder Ideen zerfällt seiner Sichtweise zufolge bis auf die Idee , M e n s c h ' w i e d e r u m in eine Hierarchie von Ideen. So zerfällt die unterste Idee oder die Idee der unorganischen Natur in eine Hierarchie von vielen Ideen, nämlich in die „untern Stufen der Objektivation des Willens" 2 7 oder die ,,niedrigere[n] [platonischen] Ideen". 2 8 Ihr raumzeitliches Pendant sind die - den äußersten P u n k t der anschaulichen Welt ausmachenden, 2 9 nämlich im Horizont von Zeit u n d R a u m auftauchenden, jedoch „ganz außerhalb der Kette der Ursachen und W i r k u n g e n " 3 0 liegenden - allgemeinen Naturkräfte. Diese Ideen als Innenseiten der allgemeinen Naturkräfte vervielfältigen sich in den zahllosen raumzeitlichen Entitäten der unorganischen Natur. Zu diesen Ideen sagt Schopenhauer in § 2 6 von W I: Jede allgemeine ursprüngliche Naturkraft ist [...] in ihrem innern Wesen nichts Anderes, als die Objektivation des Willens auf einer niedrigen Stufe: wir nennen eine jede solche Stufe eine ewige Idee, in Plato's Sinn. [...] Durch Zeit und Raum vervielfältigt sich die Idee in unzählige [raumzeitliche] Erscheinungen [...].31 Die nächst höhere Stufe, nämlich die Idee , P f l a n z e ' , zerfällt nach Schopenhauer ebenfalls in eine Vielzahl von Ideen, nämlich in die Ideen der Pflanzenarten, die sich in den konkreten Pflanzen der verschiedenen Pflanzenarten vervielfältigen. 3 2 Die auf die Stufe ,Pflanze' folgende Stufe, d. h. die Idee ,Tier', u m f a s s t w i e d e r u m eine Vielzahl von ebenfalls untereinander noch einmal in einer R a n g o r d n u n g stehenden Ideen, nämlich die Ideen der Tiergattungen, die sich in den konkreten Tieren der verschiedenen Tiergattungen vervielfältigen. 3 3 Die auf diese Ideen f o l g e n d e Idee, nämlich die Idee des M e n s c h e n als höchste Idee überhaupt, umfasst so viele Ideen, wie es M e n s c h e n gibt, da laut Schopenhauers Darlegungen in § 2 6 von W I „jeder M e n s c h als eine besonders bestimmte u n d charakterisierte Erscheinung des Willens, sogar gewissermaaßen als eine eigene Idee anzusehn" 3 4 ist. In § 28 von W I stellt Schopenhauer heraus, dass j e d e konkret bestimmte Idee mit d e m intelligiblen Charakter eines Seienden z u s a m m e n f a l l e und im Horizont von Zeit u n d R a u m durch die reflektierende
25 26 27 28 29 30 31 32
34
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 199. Vgl. ebd., 158. Vgl. ebd., 160. Vgl. ebd., 133. Vgl. ebd.; W 1,155. Ebd., 159. Vgl. ebd., 185ff. Die „Gattungen"' bezeichnen „[...] die durch das Band der Zeugung verbundenen, successiven und gleichartigen Individuen [...]" (ebd., 584, Z. 7-9) und demnach „[...] die in der Zeit auseinandergezogene Idee [der Gattung] [...]" (ebd., 584, Z. 9-10). Ebd., 156.
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Vernunft als empirischer Charakter erschließbar sei. 35 Dementsprechend ist ζ. B. im Hinblick auf die unterste Stufe, die Stufe .unorganische Natur', zu differenzieren zwischen der in einer allgemeinen Naturkraft sich offenbarenden Idee bzw. dem in dieser sich offenbarenden „ursprünglichen Willensakt" und der durch die Vernunft erschließbaren Art ihrer raumzeitlichen .Äußerung' oder im Hinblick auf das Tier zwischen dem in der Idee sich offenbarenden .ursprünglichen Willensakt' bzw. der Idee einer Tiergattung und der durch die Vernunft aus einzelnen Taten ableitbaren ,Handlungsweise ,36 eines Tieres einer Tiergattung auf bestimmte Motive. 37 Im Hinblick auf den Menschen ist auch zwischen einem intelligiblen und einem empirischen Charakter zu unterscheiden. Die, wie bereits gesagt, von Mensch zu Mensch unterschiedlich, also individuell charakterisierte Idee fällt mit dem intelligiblen Charakter eines Menschen zusammen. Diese Gleichsetzung kommt in dem zur Willensmetaphysik gehörenden § 28 von W I zum Ausdruck, denn hier heißt es: Der [intelligible] Charakter jedes einzelnen Menschen kann [...] als eine besondere Idee, entsprechend einem eigenthümlichen Objektivationsakt des Willens, angesehn werden. Dieser Akt selbst wäre dann sein intelligibler Charakter [...]. 38
Der empirische Charakter eines Menschen besteht, wie Schopenhauer insbesondere in dem zur Ethik gehörenden § 55 von W I darlegt, vor allem in seiner durch die reflektierende Vernunft aus seinen Handlungen erschlossenen 39 bestimmten bzw. individuellen 40 und konstanten 41 „Handlungsweise" 42 auf bestimmte Motive. 43
IV. Schopenhauer stellt v. a. in § 26 von W I heraus, dass die Hierarchie der Ideen bzw. der intelligiblen Charaktere des Seienden mit ihrer zunehmenden Individuation bzw. Spezifizierung zusammenfalle. Mit den als Ideen aufgefassten Naturkräften ist bereits der Anfang der Individualisierung der Ideen zu erkennen, insofern zwar einige „in jeder Materie ohne Ausnahme erscheinen", 44 jedoch andere „sich unter einander in die überhaupt vorhandene Materie getheilt haben, so daß einige über diese, andere über jene, eben dadurch spezifisch ver-
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38 39 40 41 42
44
Diese Differenzierung übernimmt Schopenhauer von Kant, doch interpretiert er sie anders als Kant. Auf diesen Punkt kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. ebd., 185. Der sich an der .Handlungsweise eines Tieres offenbarende empirische Charakter ist „in der ganzen Species derselbe" (eb d., 185, Z. 16). Letzteres bedeutet, dass die Handlungsweise eines Tieres nur gattungsmäßige, aber keine individuellen Züge trägt. Von Individualität (im eigentlichen Sinne) lässt sich nach Schopenhauer - wie noch zu zeigen sein wird - nur beim Menschen reden. Ebd., 188. Vgl. ebd., 341f. Vgl. ebd., 353f. Vgl. ebd., 340,344f. u. 347f. U. a. ebd., 339 u. 341. Auf Schopenhauers Analyse des Charakters des Menschen in § 55 von W I kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Ebd., 154.
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schiedene Materie herrschen [...]". 45 Der Grad an Individualität bzw. Spezifizierung der Ideen steigert sich über die verschiedenen Ideen und kulminiert nach Schopenhauer beim Menschen, da für ihn jeder einzelne Mensch eine eigene Idee verkörpert. Schopenhauers Auffassung, dass sich die Ideen als die in der Subjekt-Objekt-Korrelation gegebene Hierarchie von gestuften Bestimmtheiten des „Willens" durch einen zunehmenden Grad an Individuation auszeichnen, impliziert, dass die Vielheit bzw. die Individualität nicht allein auf dem Satz vom Grund bzw. dem „principio individuationis " 4 6 basiert, wie in § 2 der Welt als Wille und Vorstellung nahegelegt wird, wo es heißt, dass „durch" den Satz vom Grund, genauer gesagt, durch Raum und Zeit „die Vielheit ist". 47 Darauf geht Schopenhauer besonders deutlich an einer Stelle seines Spätwerkes ein, nämlich in dem zum Kapitel 8 (Zur Ethik) gehörenden Paragraphen 116 von Ρ II, in dem er auf seine Preisschrift über die moralische Freiheit Bezug nimmt. In diesem Paragraphen legt Schopenhauer dar, dass der „Charakter eines Jeden", 4 8 d. h. der eine besondere Idee ausmachende intelligible Charakter eines Menschen (und mit ihm sein, mit seinem intelligiblen Charakter qualitativ identischer, jedoch formal von ihm verschiedener empirischen Charakter, d. h. mit seiner qua Vernunft aus der Gesamtheit seiner Taten zu erschließenden .gesamten Handlungsweise' individuell ist, und fährt fort: Hieraus folgt [...], daß die Individualität nicht allein auf dem principio individuationis beruht und daher nicht durch und durch bloße Erscheinung ist; sondern daß sie im Dinge an sich, im Willen des Einzelnen, wurzelt: denn sein Charakter selbst ist individuell. Wie tief nun aber 49 hier ihre Wurzeln gehn, gehört zu den Fragen, deren Beantwortung ich nicht unternehme.
Der Frage, wie tief die Wurzeln der Individualität reichen, will Schopenhauer hier also nicht nachgehen; allerdings hat er bereits in § 26 von W I gezeigt, dass sie auf der Ebene der »adäquaten Objektität' des Willens im Sinne des Dinges an sich bis zu den als Ideen verstandenen Naturkräften zurückreichen. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis aus Schopenhauers Sicht die Vielheit bzw. Individuation, die auf der Pluralität bzw. Individualität der Ideen basiert (und die Selbstentzweiung des Willens als des Dinges an sich zum Ausdruck bringt), zu derjenigen steht, die auf dem Satz vom Grund als der „[...] Bedingung der Möglichkeit der Vielheit [...]" so bzw. dem principio individuationis beruht. Schopenhauer geht auf dieses Verhältnis nicht explizit ein; gleichwohl lässt sich sagen, dass sich die durch den Satz vom Grund gestiftete Vielheit bzw. Individualität als eine „Vielheit des Gleichartigen, [nämlich als eine] durch die Formen der Erscheinung, Zeit und Raum", 5 1 bedingte quantitative Vielheit auffassen lässt, wie Schopenhauer in dem als Ergänzung zum zweiten Buch von W I ausgewiesenen Kapitel 25 von W II sagt, und dass sich die auf den Ideen beruhende Verschiedenheit bzw. Individualität als eine von Raum und Zeit unabhängige qualitative Verschiedenheit begreifen lässt.
46 47
48
49 50 51
Ebd.,u.a. 134. Ebd., 6. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Mannheim "1988, 242 (= Ρ II). Ρ II, 242. W I , 152, Z. 16f. Ebd., 370.
Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, Bd. 6,
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An dieser Stelle ist der Frage nachzugehen, was diese Ausführungen im Hinblick auf den „Willen" bedeuten. Die für die erste Stufe der Metaphysik des Willens leitende Betrachtung des Satzes vom Grund als alleiniger Basis von Individualität bzw. Spezifizierung bedeutet im Hinblick auf den „Willen", dass er nur als ,blinder Drang', nämlich als das inhaltlichqualitativ unbestimmte, singuläre metaphysische Wesen (Ding an sich) der Welt in den Blick gerät. Durch die auf der zweiten Stufe der Willensmetaphysik erfolgende Thematisierung der mit den ,,bestimmte[n] und feste[n] Stufe[n] der [adäquaten] Objektivation des Willens"52 zusammenfallenden Individuation als dem zweiten Grund von Individualität gerät der „Wille" als ein auf der Ebene seiner .adäquaten Objektität' bzw. in der Sphäre der .eigentlichen Welt als Vorstellung' durch Individualität im Sinne qualitativer Vielheit ausgezeichneter in den Blick. Hiermit kann Schopenhauer das Ergebnis der ersten Stufe seiner Metaphysik des Willens, dass das als „Wille" gedeutete Wesen der Welt als .blinder Drang' das inhaltlich-qualitativ unbestimmte, singuläre Wesen aller Erscheinungen der Welt darstelle, im Hinblick auf seine .adäquate Objektität' entscheidend relativieren.
V. Anknüpfend an seine Bestimmung der Ideen als qualitative Pluralität ist es Schopenhauer im Rahmen seiner Ausführungen zur Ideenlehre im zweiten Buch von W I ein besonderes Anliegen, darzulegen, dass die Ideen Implikate eines Entwicklungsprozesses darstellen, dessen Movens die .überwältigende Assimilation' 53 sei. Schopenhauer kommt bei seiner Analyse des Entwicklungsprozesses der Ideen zunächst auf den Streit ihrer raumzeitlichen Objektivationen zu sprechen. Hierbei verweist er darauf, dass die unüberschaubare Vielzahl an Erscheinungen einer bzw. verschiedener Ideen an die eine Materie gebunden sei und sie sich demnach diese untereinander aufteilen müssten. Außerdem macht er deutlich, dass diese Aufteilung keineswegs willkürlich geschehe, sondern einer bestimmten .Ordnung' folge, einer .Ordnung', die durch das Gesetz der Kausalität (in seinen bereits angeführten drei Gestalten) bestimmt sei. Dazu sagt Schopenhauer in § 26 in Bezug auf die Erscheinungen innerhalb der unorganischen Natur bzw. auf diejenigen raumzeitlichen Erscheinungen, welche die Stufe .unorganische Natur' vervielfältigen: Durch Zeit und Raum vervielfältigt sich die Idee [hier: die Idee der unorganischen Natur, K.B.] in unzählige Erscheinungen: die Ordnung aber, nach welcher diese in jene Formen der Mannigfaltigkeit eintreten, ist fest bestimmt durch das Gesetz der Kausalität: dieses ist gleichsam die Norm der Gränzpunkte jener Erscheinungen verschiedener Ideen [hier: im Unorganischen, K.B.], nach welcher Raum, Zeit und Materie an sich vertheilt sind. Diese Norm bezieht sich daher nothwendig auf die Identität der gesammten vorhandenen Materie, welche das gemeinsame Substrat aller jener verschiedenen Erscheinungen ist.
Das Gesetz der Kausalität bestimmt, so Schopenhauer weiter, „die Gränzen [...], welchen gemäß die Erscheinungen der Naturkräfte sich in den Besitz jener [gemeint ist die Materie] theilen [...]".55 Zudem verweist Schopenhauer auf folgenden Punkt: 52 53
54 55
Ebd., 154. Vgl. ebd., 173. Ebd., 160. Ebd., 161.
SCHOPENHAUER ALS WEGBEREITER NIETZSCHES
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Nur also weil alle jene Erscheinungen der ewigen Ideen an eine und die selbe Materie gewiesen sind, mußte eine Regel ihres Ein- und Austritts seyn: sonst würde keine der andern Platz machen. 56
Bezogen auf den Kampf aller Erscheinungen der Ideen um die Materie (als dem Substrat aller raumzeitlichen Erscheinungen) sagt Schopenhauer folgendes: Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem, am Leitfaden der Kausalität, mechanische, physische, chemische, organische [(raumzeitliche)] Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren will. Durch die gesammte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie selbst besteht eben wieder nur durch ihn: [...] nam si non inesset in rebus contentio, unum omnia essent, ut ait Empedoceles. Arist. Metaph. B., 5 [...].'57
Dieser für die Natur konstitutive Streit zwischen den Erscheinungen verschiedener und gleicher Ideen zeigt sich innerhalb der unorganischen Natur am schwächsten, gleichwohl schon unverkennbar, ζ. B. „[...] in dem Verhältniß zwischen Centraikörper und Planet: dieser, obgleich in entschiedener Abhängigkeit, widersteht [nämlich] noch immer [...]", 58 auch in dem Moment, wo „[...] ζ. B. [zwei] anschießende Krystalle [welche zwei raumzeitliche Erscheinungen einer Idee sind] sich begegnen, kreuzen und gegenseitig so stören, daß sie nicht die rein auskrystallisierte Form zeigen können". 5 9 Entschieden deutlicher noch zeigt sich dieser Streit an dem unerbittlichen Kampf zwischen den einzelnen Pflanzen; dazu führt Schopenhauer das folgende Beispiel an: An den Ufern des Missouri sieht man bisweilen eine mächtige Eiche von einer riesenhaften wilden Weinrebe, am Stamm und an allen Aesten, so umwunden, gefesselt und geschnürt, daß sie, wie erstickt, verwelken muß. 60
Noch einmal entschieden deutlicher als in der Pflanzenwelt zeigt sich dieser für die Natur maßgebliche „allgemeine K a m p f ' 6 1 innerhalb der Natur anhand der Tierwelt. 62 Den mit Abstand schlimmsten Grad erreicht diese Selbstentzweiung der Natur für Schopenhauer keineswegs bei den Tieren, sondern innerhalb der Menschheit, insofern das menschliche Individuum alle anderen Lebewesen „überwältigt" 63 und daher „[...] die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht [,..]" 64 und sich überdies mit den anderen Menschen in der „furchtbarsten" 6 5 Weise bekriegt, so dass „homo homini lupus" 66 ist. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass alle Entitäten der raumzeitlichen Welt ständig bestrebt sind, sich gegenseitig zu übermächtigen bzw. zu .überwältigen', also ein Mehr an Macht und dergestalt ihre St\bsXsteigerung zu erreichen. Die Selbsterhaltung ist in diesem Machtkampf der Entitäten nach mehr Macht zwar impliziert, doch ist sie nicht dessen
56 57 58 59
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64 65
66
Ebd., 160. Ebd., 174 f. Ebd., 176. Ebd. Ebd. Ebd., 175. Vgl. ebd., 175. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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eigentliches Movens. Daraus folgt, dass für Schopenhauer das Prinzip ,Selbsterhaltung' auf der Ebene der konkret-individuellen Wirklichkeit von untergeordneter Bedeutung ist. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass Schopenhauer nicht nur das Streben der konkretraumzeitlichen Entitäten bzw. Individuen nach gegenseitiger .Überwältigung' zum Thema erhebt, sondern auch expressis verbis von der Steigerungstendenz der konkretraumzeitlichen Welt spricht. So sagt er ζ. B. in § 27 von W I, dass jede Entität dieser Welt von vornherein über sich hinaus sei, insofern im Hinblick auf „alle Dinge der Welt" gelte, dass „[...] in jedem Unvollkommeneren sich schon die Spur, Andeutung, Anlage des zunächst liegenden Vollkommeneren [...]" 67 zeige; oder er konstatiert im Kapitel 28 von W II innerhalb der konkret-raumzeitlichen Natur einen ,Drang zum organischen Dasein' 68 bzw. einen Trieb „[...] zur möglichsten Steigerung desselben [...]".69 Von daher lässt sich konstatieren, dass aus Schopenhauers Sicht das Prinzip der Selbsterhaltung nur ein Implikat, aber keineswegs das Ziel des von erbittertem Streit bzw. Kampf geprägten Vollzugs der raumzeitlichen Wirklichkeit ist; sie strebt primär nach Steigerung. Für Schopenhauer steht fest, dass der von erbittertem Streit bzw. Kampf geprägte, primär auf Steigerung ausgerichtete Vollzug der raumzeitlichen Wirklichkeit Ausdruck des für die aus dem Streit der Ideen hervorgehende Genesis immer höherer Ideen ist. Letzteres macht deutlich, dass aus Schopenhauers Sicht gerade auch für die Ideen das Prinzip der Selbsterhaltung von untergeordneter Bedeutung ist. 70 Schopenhauer beschränkt sich in § 27 von W I zunächst auf die Beschreibung der Entstehung der Erscheinung der höheren Idee aus dem Kampfe niedrigerer Ideen, sagt aber doch im gleichen Atemzug, dass die höhere Idee dadurch entstehe, dass sie „die [...] unvollkommeneren [Ideen] alle" 71 .überwältige', 72 und macht diese Feststellung zur Grundlage seiner weiteren Argumentation in § 27. Dabei konkretisiert er diese Überwältigung der niedrigeren Ideen durch die höhere Idee, Darwin vorweg nehmend, als „überwältigende Assimilation",73 indem er herausstellt, dass jede höhere Idee „ein höher potenziertes Analogon" 74 der niedrigeren Ideen darstelle. 75 Hieraus leitet Schopenhauer ab, dass die aus dieser ,überwältigen-
67
Ebd., 171. Vgl. ebd., 399. 69 Ebd. 68
70
Darauf, dass sowohl die raumzeitliche Ebene als auch der Prozess der adäquaten Objektivation des Willens wesentlich mit Steigerung verbunden sei, verweist bereits mit Nachdruck Jörg Salaquarda (vgl. Jörg Salaquarda, „Metaphysikkritik", 279f.). Dieses stellt Friedhelm Decher in seiner Studie Wille zum Leben - Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg/Amsterdam 1984, nur halbherzig heraus, insofern er zwar zunächst auch auf die Bedeutung des Steigerungsprinzips für die raumzeitliche Ebene und die Ideen hinweist (vgl. 58ff.), doch zugleich darauf, dass der Zwist bzw. die Steigerung zwar für die Individuen primär, für die Ideen indessen sekundär sei (vgl. ebd., 36, 96f. und femer 137f.). Dechner überzeichnet in diesem Zusammenhang die (noch darzustellende) für Schopenhauer vorauszusetzende Tatsache, dass die Ideen (vor der Zeit) harmonieren, denn diese Harmonie zwischen den Ideen dämpfe nur, wie Schopenhauer ausführt, den für die Ideen konstitutiven Streit bzw. verhindere, dass er total werde. 71 W 1,173. 72 73 Vgl. ebd. Ebd. 74 CM Ebd. 75 Die Tatsache, dass eine jede höhere Idee auch, gleichwohl nicht primär und schon gar nicht ausschließlich, ein Analogon zu allen von ihr überwältigten Ideen darstellt, impliziert für Schopenhauer, dass es eine „innere Verwandschaft" (ebd., 170, Z. 27-28) zwischen allen Ideen bzw. ihren Pendants
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den Assimilation' der niedrigeren Ideen hervorgehende höhere Idee g e g e n ü b e r den v o n ihr überwältigten Ideen ein qualitativ Neues sei und als dieses qualitativ Neue ein Analogon zu den v o n ihr überwältigten Ideen, w a s aus seiner Sicht w i e d e r u m deutlich zeigt, dass die höhere Idee k e i n e s w e g s g l e i c h b e d e u t e n d ist mit der S u m m e der überwältigten Ideen! D a s w i e d e r u m bedeutet für Schopenhauer, b e z o g e n auf die raumzeitliche E b e n e , dass der Organismus e i n e s Tieres oder d e s M e n s c h e n als raumzeitliches Abbild einer höheren (nämlich die Ideen der unorganischen Natur durch .überwältigende A s s i m i l a t i o n ' überwunden habende) Idee zwar „die Spuren c h e m i s c h e r und physischer Wirkungsarten" a u f z e i g e , aber deshalb k e i n e s w e g s nur die S u m m e der Naturkräfte und s o m i t ein aus d i e s e n vollständig Erklärbares, v i e l m e h r ein g e g e n ü b e r d i e s e n qualitativ Neues ausmache. Für S c h o p e n h a u e r spiegelt die ü b e r w ä l t i g e n d e A s s i m i l a t i o n ' der niedrigeren Ideen durch die höhere Idee als Assimilation die Tatsache wider, dass sich in allen Ideen ein W i l l e (als D i n g an sich) objektiviert und als Überwältigung die Tatsache, dass dieser e i n e W i l l e mittels der Ideen auf ( h ö c h s t m ö g l i c h e ) Steigerung aus ist. D a z u sagt S c h o p e n h a u e r in § 2 7 wörtlich f o l g e n d e s : Wenn von den Erscheinungen des Willens, auf den niedrigeren Stufen seiner Objektitvation, also im Unorganischen, mehrere unter einander in Konflikt gerathen [...]; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer höhern Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus seinem Streben zu immer höherer Objektivation begreiflich ist. [...] Die aus solchem Siege über mehrere niedere Ideen, oder Objektivationen des Willens, hervorgehende vollkommenere [Idee] gewinnt, eben dadurch, daß sie von jeder überwältigten [niederen Idee], ein höher potenziertes Analogon in sich aufnimmt, einen ganz neuen Charakter: der Wille objektivirt sich auf eine neue deutlichere Art [,..]. 76 Schopenhauer fährt fort, vor allem B e z u g n e h m e n d auf den Organismus des M e n s c h e n : Der gegebenen Ansicht gemäß, wird man zwar im Organismus die Spuren chemischer und physischer Wirkungsarten nachweisen, aber nie ihn aus diesen erklären können; weil er keineswegs ein durch das vereinigte Wirken solcher Kräfte [...] hervorgebrachtes Phänomen ist, sondern eine höhere Idee, welche sich jene niedrigeren durch überwältigende Assimilation unterworfen hat; weil der in allen Ideen sich objektivirende eine Wille, indem er zur höchstmöglichen Objektivation strebt, hier die niedern Stufen seiner Erscheinung, nach einem Konflikt derselben, aufgiebt, um auf einer höhern desto mächtiger zu erscheinen. 7 A n dieser Stelle fragt sich, o b die per definitionem d e m R a u m und v o r allem der Zeit vorgeordneten Ideen M o m e n t e e i n e s E n t w i c k l u n g s p r o z e s s e s sein k ö n n e n , anders gesagt, o b e s eine analog zur evolutionären E n t w i c k l u n g a u f z u f a s s e n d e m e t a p h y s i s c h - z e i t l o s e G e n e s i s
76 77
(nämlich den Naturkräften, den Gestalten der Tiere etc.) gibt, was in seinen Augen wiederum der Grund dafür ist, dass es eine „unverkennbare Analogie" (ebd., 171, Z.19) zwischen ,,alle[n] Dingefn] der Welt" (ebd., 171, Z. 17) bzw. raumzeitlichen „[...] Erscheinungen der Natur, vom Magnet[en] und Kiystall bis zum Menschen [...]" (ebd., 171, Z. 14-15) gibt. Als einen „Grundtypus" (ebd., 171, Z. 13) dieser Analogie führt Schopenhauer bemerkenswerterweise gerade auch die Se/fesi-Entzweiung bzw. „die Polarität" (ebd., 171, Z. 9) im allgemeinen Sinne an (also nicht nur verstanden im ursprünglichen Sinn, als „[...] das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten [...]" (ebd., 171, Z. 9-11), welche in China in der „Lehre vom Gegensatz des Yin und Yang" (ebd., 171, Z. 16-17) ihren Niederschlag gefunden hat). Ebd., 172f. Ebd., 173.
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jenseits des Satzes vom Grund geben kann. Auf diese wichtige Frage geht Schopenhauer nicht ein; für ihn steht fest, dass die grundlosen Ideen Momente eines dem Satz vom Grund und damit gerade auch der Zeit vorgeordneten Entwicklungsprozesses' sind, dessen inneres Movens die ,überwältigende Assimilation' sei, was bedeutet, dass für Schopenhauer die Ideen gegeneinander gerichtete, unterschiedlich mächtige Momente bzw. Akteure eines Prozesses überwältigender Assimilation' bzw. eines auf (Macht-)Steigerung ausgerichteten Macht-Prozesses sind 78 und dass jeder neue bzw. mächtigere Akteur primär ein qualitativ Neues gegenüber allen übermächtigten Akteuren darstellt und sekundär ein Analogon zu allen überwältigten Akteuren. Ausgehend von obigem Zitat aus § 27 akzentuiert Schopenhauer, dass die von der höheren Idee qua .überwältigender Assimilation' übermächtigten niedrigeren Ideen keineswegs kampflos ihre Übermächtigung ertragen, sondern als Unterlegene permanent gegen die Über-Macht der höheren Idee ankämpfen und so diese höhere Idee dazu zwingen, ihre ÜberMacht immer wieder zu bezeugen: Kein Sieg ohne Kampf: indem die höhere Idee, oder [adäquate] Willensobjektivation, nur durch Ueberwältigung der niedrigeren hervortreten kann, erleidet sie den Widerstand dieser, welche, wenn gleich zur Dienstbarkeit gebracht, jedoch immer noch streben, zur unabhängigen und wllständigen Äußerung ihres Wesens [im Sinne von Eigentümlichkeit, K.B.] zu gelangen.
Damit bekundet Schopenhauer, dass die Ideen, die die Macht anderer Ideen überwältigt haben, ihre Über-Macht fortdauernd bezeugen müssten, insofern die überwältigten Machtpotenzen fortwährend gegen ihre Übermächtigung ankämpften. Dieser permanente Machtkampf zwischen den höheren bzw. mächtigeren Ideen und den niedrigeren oder weniger mächtigen Ideen objektiviert sich nach Schopenhauer auf der raumzeitlichen Ebene, und zwar am deutlichsten am Organismus, insofern für diesen Organismus als einer raumzeitlichen Objektivation einer höheren Idee ein ständiger Machtkampf mit den die niedrigeren platonischen Ideen zum Ausdruck bringenden Naturkräften konstitutiv ist. Diesen Machtkampf entscheide, so Schopenhauer, der einzelne Organismus als (ein) raumzeitlicher Ausdruck einer höheren Idee zwar für sich, doch durch die ständige Gegenwehr der von ihm überwältigten Naturkräfte sei seine Herrschaft von vornherein entschieden geschwächt (was ζ. B. die .Notwendigkeit des Schlafes' anzeige) und werde v. a. immer mehr geschwächt, bis sie schließlich, nämlich im Moment des Todes, von den unterjochten Naturkräften gebrochen werde. Dementsprechend fährt Schopenhauer in § 27 folgendermaßen fort: Daher sinkt der Arm, den man eine Weile, mit Ueberwältigung der Schwere, gehoben gehalten: daher ist das behagliche Gefühl der Gesundheit [des Leibes], welches den Sieg der Idee des sich seiner selbst bewußten Organismus über die physischen und chemischen Gesetze, welche ursprünglich die Säfte des Lebens beherrschen, [am lebendigen Organismus, also raumzeitlich] ausdrückt, doch so oft unterbrochen, ja eigentlich immer begleitet von einer gewissen, größern oder kleinem Unbehaglichkeit, welche aus dem Widerstand jener Kräfte [bzw. niedrigen platonischen Ideen] hervorgeht, und wodurch schon der vegetative Theil unsers Lebens mit einem leisen Leiden beständig verknüpft ist. [...] Daher also überhaupt die Last des
78
79
In diesem Sinne stellt Jörg Salaquarda heraus: „Schopenhauers These [vom Willen] schließt ein, daß jede .Erscheinung des Willens (zum Leben)' zunächst und zumeist mehr weiden will. Schopenhauer spricht von überwältigende [r] Assimilationdurch die die Erscheinung einer höheren Stufe solche einer niedrigeren unterwirft und sich einverleibt" (Jörg Salaquarda, „Metaphysikkritik", 280). WI, 173.
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physischen Lebens, die Notwendigkeit des Schlafes und zuletzt des Todes, indem endlich, durch Umstände begünstigt, jene unterjochten Naturkräfte dem, selbst durch den steten Sieg ermüdeten, Organismus die ihnen entrissene Materie wieder abgewinnen, und zur ungehinderten Darstellung ihres Wesens gelangen. 80
Bedenkt man, dass jeder Organismus als raumzeitlicher Ausdruck einer höheren Idee durch die permanente Gegenwehr der unterjochten Naturkräfte entschieden geschwächt ist, lässt sich sagen, dass der Organismus die Objektität, die er ist, nur nach Abzug derjenigen Kraft ist, die auf die Übermächtigung der Naturkräfte als Ausdruck niedrigerer Ideen verwendet werden muss: Man kann daher auch sagen, daß jeder Organismus die [höhere] Idee, deren Abbild er ist, nur [raumzeitlich] darstellt nach Abzug des Theiles seiner Kraft, welche verwendet wird auf Ueberwältigung der niedrigeren Ideen [bzw. der Naturkräfte, K.B.], die ihm die Materie streitig machen. Dieses scheint dem Jakob Böhme vorgeschwebt zu haben, wenn er irgendwo sagt, alle Leiber der Menschen und Thiere, j a alle Pflanzen seien eigentlich halb todt.
Im übrigen gelingt jedem Organismus diese Übermächtigung der Naturkräfte „mehr oder weniger" 82 stark, so dass jeder Organismus mehr oder weniger stark der Ausdruck seiner spezifischen
Idee ist. Zu diesem Machtkampf innerhalb des Organismus' zwi-
schen dem Organismus als raumzeitlichem Ausdruck der Idee des Menschen und der die niedrigeren platonischen Ideen ausdrückenden Naturkräfte kommt noch der Machtkampf der im Organismus wirksamen Naturkräfte untereinander. 83 Von daher erhellt, dass für Schopenhauer der Organismus stellvertretend für praktisch alle raumzeitlichen Entitäten eine Entität darstellt, die keineswegs einheitlich ist, sondern aus einer Pluralität, genauer gesagt: aus einer Pluralität von unterschiedlich
gewichtigen
Machtpotenzen
besteht, die sich in einem antagonistischen Verhältnis zueinander befinden und sich ständig gegenseitig zu übermächtigen
streben. 84 Das bedeutet, dass gerade auch für die
raumzeitliche Entität als solche, also unabhängig von ihrem Streit mit anderen Entitäten, ein Machtkampf konstitutiv ist, dessen unterschiedlich mächtige Akteure bestrebt sind, sich ständig gegenseitig zu übermächtigen, also ein Mehr an Macht und dergestalt ihre Selbststeigerung
80 81 82
83
84
zu erreichen. Die Selbsterhaltung ist in diesem Machtkampf der
Ebd, 174. CUJ Ebd. CkJ Ebd. Vgl. ζ. B. ebd., 176. Ergänzend ist hier noch anzumerken, dass Schopenhauer in § 28 von W I herausstellt, dass alle Organismen eine .innere Zweckmäßigkeit' (vgl. ebd., 184ff.) bzw. Teleologie erkennen lassen, insofern jeder Organismus im Gegensatz zu den Erscheinungen der unorganischen Natur seine Idee „[...] durch eine Succession von Entwicklungen nach einander, welche durch eine Mannigfaltigkeit verschiedener Theile neben einander bedingt ist [...]" (ebd., 187, Z. 5-7), darstellt und dabei alle seine Teile und Entwicklungsstadien derart miteinander harmonieren, j a ineinander greifen, dass daraus seine Erhaltung und die der Gattung als der „Zweck jener Anordnung sich darstellt" (ebd., 184, Z. 10-11). D. h.: Die Selbsterhaltung des Organismus ist durch seinen teleologischen Charakter garantiert; gleichwohl ist dieser Gesichtspunkt keineswegs primär, denn der Organismus ist für Schopenhauer in erster Linie eine Entität, die aus Machtpotenzen besteht, die sich gegeneinander übermächtigen wollen, so dass er von vornherein als äußerst instabil bezeichnet weiden muss.
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KONSTANTIN BROESE
verschiedenen Machtpotenzen einer Entität nach mehr Macht zwar impliziert, doch ist sie nicht dessen eigentlicher Beweggrund. Für Schopenhauer steht laut § 27 folgendes fest: Der von erbittertem Streit bzw. Kampf geprägte, primär auf Steigerung ausgerichtete Vollzug der raumzeitlichen Wirklichkeit ist Ausdruck der aus dem Streit der Ideen hervorgehenden Genesis immer höherer Ideen. Weiterhin ist festzuhalten, dass der Streit der Ideen bzw. die Genesis immer höherer Ideen aus diesem Streit auf die „[...] dem Willen [als Ding an sich durchaus] wesentliche Entzweiung mit sich selbst f...]"85 verweist, nämlich auf die »Tatsache', dass sich der numerische singulare „Wille" als ,blinder Drang' gegen sich selbst wenden kann. Außerdem gilt für Schopenhauer, dass die Ideen, gerade weil sie der adäquate Ausdruck des Willens als Ding an sich sind, mit ihrem primär auf (Macht-) Steigerung ausgerichteten Streben die dem Willen wesentliche Tendenz zur Steigerung andeuten. Vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten Zusammenhänge wird deutlich, dass entgegen der eingangs angedeuteten gängigen Meinung - bereits Schopenhauer die Vorrangstellung des Selbsterhaltungstheorems bzw. die neuzeitliche Rationalität (in dem zuvor beschriebenen Sinne) überwindet und dergestalt auch im Hinblick auf diese Überwindung ein wichtiger Wegbereiter Nietzsches ist.
85
Ebd., 174 u. 175.
BEATRIX HIMMELMANN
Radikalisierung und Kritik Kant im Verständnis Friedrich Nietzsches
Wie zu den meisten anderen, die ihn mit ihren intellektuellen oder künstlerischen Leistungen herausfordern, steht Nietzsche auch zu Immanuel Kant in einem tief ambivalenten Verhältnis. Auf der einen Seite finden wir Äußerungen der Bewunderung, die Nietzsche Mut und Konsequenz des Kantischen Denkens zollt. Und zweifellos zehrt sein eigenes Philosophieren in mancher Hinsicht von Kants Anstößen und kann als Unternehmen der Radikalisierung Kantischer Einsichten verstanden werden. Auf der anderen Seite treffen wir auf scharfe Polemik und beißenden Spott, mit denen Nietzsche Kant und dessen Philosophie überzieht. Nietzsches Werk lässt sich auch, und das hat er selbst oft genug betont, als Frucht radikaler Kritik an den Positionen des „Chinesen von Königsberg" 1 begreifen. Im Folgenden möchte ich Nietzsches Stellung zum Erbe Kants in seiner Zwiespältigkeit beleuchten. Angesichts der starken und vielfältigen Rezeption, die Nietzsches Denken erfährt, mag ein solcher Blick auf dessen Stellung zur kritischen Philosophie Kants vielleicht auch interessant sein für die Einschätzung der Gegenwartsphilosophie in ihrer spezifischen Signatur. Weltweit sind sie beide gefeiert worden, Kant anlässlich der zweihundertsten Wiederkehr seines Todestages im vergangenen Jahr und Nietzsche im Jahr 2000, hundert Jahre nach seinem Tod in der Villa Silberblick zu Weimar. Von beiden Philosophen beteuern die Nachfahren, sie seien ihnen wie „Zeitgenossen" gegenwärtig. 2 Weil sich die Spuren Kants und Nietzsches durch die geistige Landschaft der Moderne ziehen, auch deshalb wird eine nähere Betrachtung ihrer Beziehung aufschlussreich sein.
1
2
Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 210; KSA (= Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 198 82), Bd. 5,144. „Ist Immanuel Kant noch unser philosophischer Zeitgenosse?' Diese Frage beantworteten die meisten der acht Philosophen der Gegenwart (u. a. Hilary Putnam, Luc Ferry, Otfried Höffe, Julian Nida-Rümelin, Richard Rorty), denen sie vorgelegt wurde, positiv. Vgl. Neue Zürcher Zeitung Nr. 31, 7./8. Februar 2004, 63-64. Vgl. auch den Titel einer von Volker Gerhardt geleiteten, vom 20. bis 22. August 2004 auf Schloss Elmau durchgefühlten Tagung: „Erinnerung an einen Zeitgenossen. Kant nach 200 Jahren". Im Blick auf die Inanspruchnahme Nietzsches als unseren philosophischen Zeitgenossen vgl. exemplarisch: Why Nietzsche still? Reflections on Drama, Culture, and Politics, hg. v. Alan D. Schrift, Berkeley u. a. 2000. Der Einleitung des Herausgebers ist folgendes Motto vorangestellt: „A nature as Nietzsche's had to suffer our present ills more than a generation in advance. What he had to go through alone and misunderstood, thousands suffer today. Hermann Hesse, preface to Steppenwolf'.
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I. Nietzsche, der als Kritiker der Metaphysik Schule gemacht hat, beginnt seine philosophischen Expeditionen interessanterweise als Vertreter einer „tragischen Metaphysik" und als Bewunderer Kants. Von der „ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant's" ist in der Geburt der Tragödie die Rede. 3 Zusammen mit Schopenhauer, der sich selbst als seinen Nachfolger und Vollender sieht, ist Kant der Einschätzung des frühen Nietzsche nach der „schwerste Sieg" gelungen: der Sieg nämlich über den sokratischen Optimismus. Mit diesem Etikett belegt Nietzsche die Vorstellung von einer im Prinzip bis zum Grund der Dinge vorstoßenden Erkenntnis der Welt. Eine solchermaßen eindringliche Erkenntnis wäre geeignet, die Kluft zwischen Sein und Denken tendenziell zu schließen, so wie es Parmenides vorgeschwebt hatte. Für die menschliche Praxis ergäben sich bemerkenswerte Konsequenzen, auf die Nietzsche in der Tragödienschrift besonders hinweist. Angenommen, unser Blick reichte wirklich „in die tiefsten Abgründe des Seins", so liegt, meint Nietzsche, die Idee nahe, „dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei". 4 Mit diesem „Wahn", der mit Sokrates in die Welt gekommen sein soll, hat Kant in den Augen Nietzsches Schluss gemacht. Es sind bloße Erscheinungen, denen wir uns gegenübersehen. Über die Abgründe des Seins, zu denen wir nicht vordringen, die wir allenfalls schaudernd erahnen, schlagen wir die Brücken unserer eigenen Konstitutionsleistungen. Als Erkennende und Handelnde mögen wir uns über die ,wahren' Verhältnisse der Dinge beständig irren; über diese für uns nicht zu neutralisierende conditio humana können wir uns nun aber absichtsvoll und zu unserem Besten hinwegtäuschen, indem wir Erscheinungen für die Wirklichkeit nehmen. So sind wir im Verständnis Nietzsches schon als Erkennende, die sich als bloße Rezipienten der Welt wähnen, schöpferisch und in diesem Sinne allesamt Künstler. Das gezeigt zu haben, ist für den jungen Nietzsche ein großes Verdienst Kants, das Schopenhauer wach hält. Die „tragische Metaphysik", 5 die der frühe Nietzsche entwirft, versucht dem Menschen in seiner Janusköpfigkeit, in seinem dionysisch-apollinischen Doppelwesen gerecht zu werden. 6 Die - dionysisch präsente - Abgründigkeit der Welt macht ihn leiden und ihre Unergründlichkeit erregt sein Grauen. Der - apollinisch wirksame - Schöpfertrieb lässt ihn im Gegenzug „gleichsam auf fliessendem Wasser", wie es im Essay Ueber Wahrheit und Lüge heißt, 7 einen Kosmos der Formen errichten. Der Mensch ist ein „gewaltiges Baugenie", 8 das sich noch im an sich Bodenlosen zu halten versteht. Dass es sich derart verhält mit dem Menschen, das hat Kant Nietzsche zufolge als erster entdeckt und auszusprechen gewagt. Es ist leicht zu sehen, dass es der Kant seines „Erziehers" Schopenhauer ist, der den jungen Nietzsche beeindruckt. Als ob Kant eine ausdrückliche „Widerlegung des Idealismus", die er seiner Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage hinzufügte, niemals ge3 4 5
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Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 18, KSA 1,118. Ebd., 99. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie; KSA 1, 19ff.; zum Begriff ders., Nachlass 9 [32] (1871), KSA 7,283. Vgl. dazu jetzt Hanns-Peter Neumann, „Nietzsches ästhetische Metaphysik", in: Kant und Nietzsche im Widerstreit, hg. v. Beatrix Himmelmann, Berlin/New York 2005,176-185. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1,882. Ebd.
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schrieben hätte, rückt Nietzsche als gelehriger Schüler Schopenhauers Kant in die Position des dogmatischen Idealisten nach der Art Berkeleys. 9 Die Welt ist danach nichts als ein Traum, dessen feingesponnenes und für Wirklichkeit ausgegebenes Gewebe den Menschen als Künstler höchsten Grades erweist. Ab und zu erwacht er aus diesem Traum - und das Versinken der vertrauten Gestalten gereicht ihm zwar zum Schauder, jedoch ins eins damit zur dionysisch gefärbten ästhetischen Lust.
II. Mit seiner Abwendung von den metaphysischen Versuchen der frühen Jahre wird Nietzsches Haltung zu Kant prekärer und gewinnt an Konfliktträchtigkeit und Polemik. Dabei ist es ein im Anschluss an Kant sich stellendes Problem, mit dem Nietzsche nach wie vor und nahezu lebenslang ringt und für das er die frühe Lösung der ästhetischen Metaphysik nun nicht mehr für tauglich hält: das von ihm in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung so genannte Problem der „Verzweiflung an der Wahrheit". Mit dieser Verzweiflung soll Nietzsche zufolge jeder Denker zu ringen haben, „der von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt" - vorausgesetzt freilich, „dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine". 10 Als Beispiel führt Nietzsche Kleist an, aus dessen Briefen an die Verlobte er einige einschlägige Passagen zitiert: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich."' 1 Das Kleistsche Dilemma ist auch das Nietzsches. Anstatt Philosophie wie Kant konsequent als Selbstauslegung des erkennenden, handelnden, fühlenden Subjekts und seiner Ansprüche zu betreiben und die Welt der Anderen und des Anderen von ihm her in den Blick zu nehmen, ist Nietzsche immer wieder von Versuchen angezogen, die als Umkehrungen der Kantischen Kopernikanischen Wende zu beschreiben sind. Der Gedanke an eine Wahrheit über die Dinge wird ihm wieder interessant, die von den besonderen Bedingungen und Bedürfnissen des erkennenden Menschen ablösbar scheint und ganz unabhängig von ihm bestehen soll. Als ob der Mensch sich außerhalb seiner selbst stellen und gleichsam neben sich treten könnte und aus dieser Position eines „view from nowhere" die Welt und sich selbst so, wie sie an sich sind, vor die Augen bekäme. Im schon erwähnten berühmten Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ist es genau dieser Begriff einer Wahrheit, der die Welt in ihrer von allen subjektspezifischen Bedingungen der Erkenntnis unverfälschten Qualität zeigen würde, welcher als unerfüllbare Sehnsucht im Hintergrund der Überlegungen steht und die Melancholie der Rede von der angeblich bloß metaphorisch präsenten Wirklichkeit erklärt, wenn auch nicht schon plausibel macht.
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Zu Schopenhauers Bild vom Idealisten Kant vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie, in: Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1,559-715, hier 585ff. Friedrich Nietzsche, „Schopenhauer als Erzieher" 3, KSA 1, 355. Ebd., 355f. Vgl. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, München/Wien 1982, Bd. IV, 634.
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Weil die Sehnsucht nach der „nackten", aller Zutaten spezifischer Ausstattung und Konstitution des Erkenntnissubjekts entkleideten Wahrheit absurd ist, deshalb ist der dem Menschen eigene „Trieb" zu ebensolcher Wahrheit12 nach Nietzsche so quälend, weil ewig irreführend und ewig aussichtslos. Und ein Ausweichen in die heute gerade von den Anhängern Nietzsches propagierte Position eines bequemen „Skepticismus und Relativismus" lehnt er entschieden ab. Sie wäre Ergebnis einer von ihm mit Verachtung betrachteten „populäre(n) Wirkung" Kants, der die „thätigsten und edelsten Geiste(r)" wie Kleist und natürlich: wie Nietzsche selbst niemals beipflichten könnten.13 Eine „Bändigung des Erkenntnißtriebes",14 den er in Sokrates beispielhaft und in der Art eines Instinktes groß und wirksam sieht, meinte der von Wagner und Schopenhauer beeindruckte junge Nietzsche mit der Konzeption seiner ästhetischen Metaphysik gefunden zu haben. Sie sollte die unserem „Erkenntnißtrieb" eingeborene Vergeblichkeit, sein Ziel je zu erreichen, kompensieren, indem sie den Spieß umdreht: Schein und Täuschung erhalten metaphysische Dignität und einen einzigartigen Rang. „Nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt", lautet die vielzitierte Formel aus der Geburt der Tragödie.15 Weil Nietzsche freilich an dem Problem, das der Mensch sich selbst in seiner Welt ist, als Denker interessiert bleibt, deshalb geht er nicht den Weg, den er im Vorwort zur Neuauflage der Tragödienschrift 1886 andeutet: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte [,..]!"16 Vorsichtiger und mit Blick auf Nietzsche als Verfasser der ZarathustraDichtung formuliert: Er schlägt fortan nicht diesen Weg als den einzig zu erprobenden ein. Er wagt sich auch auf eine ganz andere Reise, die ihn als widerborstigen und eigensinnigen Weggefährten Kants erweist: Als radikaler Aufklärer versucht Nietzsche, die Schalen jener unbefragten Gewohnheiten, bequemen Vorurteile, tröstlichen Illusionen sichtbar zu machen und abzutragen, die uns die bisweilen bittere Wahrheit über die Dinge und vor allem über uns selbst verhüllen.
III. Zu diesen neuen Ufern bricht Nietzsche spätestens mit seinem ersten Aphorismen-Buch Menschliches, Allzumenschliches auf. Anknüpfen kann er dabei an das Pathos von Entwürfen, wie er sie schon als Schüler zum Beispiel in dem bemerkenswerten Aufsatz über Fatum und Geschichte verfasst hatte. Mit „freiem, unbefangenen Blick" - sagt er dort - möchte er die Dinge und insbesondere „die christliche Lehre und Kirchengeschichte" anschauen und würde wohl „manche den allgemeinen Ideen widerstrebende Ansichten aussprechen müssen". „Aber", so die Klage des jungen Nietzsche, von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unserer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt und in der Bildung unseres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu
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Vgl. Friedrich Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge" 1; KSA 1, 877. Vgl. ders., „Schopenhauer als Erzieher" 3; ebd., 355. Vgl. ders., Nachlass 19[34] (1872/1873); KSA 7, 427. Ders., Die Geburt der Tragödie 5; KSA 1, 47. Ebd., 3; ebd., 15.
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müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können. Ein solcher Versuch [meint der noch nicht achtzehnjährige Nietzsche und erweist sich mit Blick auf das eigene Engagement als erstaunlich hellsichtig - B.H.], ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens. 1 7
Es ist die Frage nach Aufklärung des Menschen, hier vor allem bezogen auf den Umgang mit Religion und Christentum, die Nietzsche aufwirft. Aufklärung, so hatte Kant sie definiert, ist „Befreiung von Vorurtheilen". 18 Den „Hauptpunkt" der Aufklärung sieht Kant, ganz analog zu Nietzsches Überlegungen, „vorzüglich in Religionssachen". Denn auf keinem anderen Gebiet menschlicher Kultur entfalteten „unsere Beherrscher" ein ähnlich großes Interesse, „den Vormund über ihre Unterthanen zu spielen". Überdies müsse die Unmündigkeit in Religionsangelegenheiten als „schädlichste" und „entehrendste unter allen" gelten. 19 Vorurteilen zu folgen, wovon Aufklärung uns befreien soll, aber bedeutet: auf die eigene Beurteilung der Dinge zu verzichten. Darin liegt eine „Heteronomie der Vernunft". 20 Aufgeklärt ist demgemäß, wer selbst denkt und also urteilt. „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Das ist der vielzitierte „Wahlspruch der Aufklärung", wie Kant ihn formuliert. 21 Es ist in Kants Augen nicht so sehr eine Schwäche individueller Vernunft als ein Mangel an Courage ihres Gebrauchs, der Aufklärung nötig macht. In „Faulheit" und „Feigheit" der Menschen erkennt Kant die hauptsächlichen Ursachen für ihren „Hang" zur selbst verschuldeten „Unmündigkeit". 22 Aufklärung oder ihre Verfehlung scheint damit auch eine Frage unserer Haltung, eine Frage des Charakters zu sein. In allen bisher vorgetragenen Einschätzungen wird Nietzsche Kant auf seine Weise folgen. Allenfalls spitzt er die Kantische Diagnose noch zu. Er betont den Mut, ja die „Verwegenheit", derer die Kritik „gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten" bedarf. 23 Genauer spricht er gar nicht von ihrer Kritik, sondern gleich von ihrer „Umkehrung". Und er stilisiert sich selbst als Radikalaufklärer: Er glaube nicht, schreibt Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches, „dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in diese Welt gesehn hat" wie er selbst es gewagt habe - und dies „nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes". Nietzsche wird nicht müde, die Gefahr hervorzuheben, der sich aussetzt, wer sich auf das Abenteuer der Erkenntnis in aller Unerbittlichkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren Folgen einlässt. 24 Einsamkeit scheint ihm ein Preis zu sein, den es kostet, Verlust an Lebenssicherheit ein anderer. Zum ersten Punkt später mehr; im Blick auf den zuletzt genannten stellen sich für Nietzsche unweigerlich und immer wieder Fragen, wie er sie zum Beispiel im Aphorismus 34 von Menschliches, Allzumenschliches zu bedenken gibt: Gesetzt
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„Fatum und Geschichte. Gedanken", in: Friedrich Nietzsche, Jugendschriften 1861-1864, Ausgabe Werke (= BAW), hg. v. Hans Joachim Mette, München 1994, Bd. 2, 54. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA (= Akademie-Ausgabe) V, 294. Ders., „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", AA VIII, 41. Ebd. Ebd., 35. Ebd.
Beck'sche
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Vgl. hier und im folgenden: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 1, KSA 2, 13. Vgl. ζ. B. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 4, ebd., 18.
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den Fall, die Erkenntnis zwingt uns, Abschied zu nehmen von Illusionen, mit Hilfe derer wir aber zu leben verstanden; gesetzt den Fall, sie lässt uns in Abgründe der Ziel- und Sinnlosigkeit menschlichen Tuns und Treibens sehen - so werden wir überlegen: „Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich?" Und so scheint, sagt Nietzsche, ein Problem „uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?" 25 Wir sehen, das Problem der Wahrheit und ihres „Wertes" für das Leben hält Nietzsche weiter in seinem Bann; und Kant wird er schließlich vorwerfen, das Streben nach Wahrheit zuletzt um des Glaubens an die Moral willen verraten zu haben. Auch Kant macht sich seine Gedanken über die „Gefährlichkeit" der Aufklärung, die Nietzsche so betont. Doch bezeichnenderweise tut er dies zunächst in ironischer Absicht. Dass der größte Teil der Menschen den Schritt aus der Unmündigkeit nicht nur für beschwerlich, sondern dazu noch für gefährlich halte - dafür sorgen nach Kant schon „jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben". Zuerst hätten sie ihr „Hausvieh" dumm gemacht und verhütet, dass es ohne „Gängelwagen" einen Schritt habe tun dürfen. Sodann hätten sie die Gefahr vor Augen gestellt, die jedem drohen müsse, der allein zu gehen versuche. 26 „Nun ist diese Gefahr", meint Kant, „zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen". Doch „ein Beispiel" dieser Art mache zweifellos schüchtern und schrecke von weiteren Versuchen ab. 27 Interessant im Vergleich zu Nietzsches Bewertungen ist, dass Kant den selbständigen Gebrauch der Vernunft - metaphorisch gesprochen: das Alleingehen - nicht von vornherein mit den bedenklichsten Konsequenzen für die Lebens- und Überlebenstauglichkeit dessen verknüpft sieht, der auf ihn vertraut. Die Vernunft ist eine Begabung des Menschen, eine Kraft, die ihm zu nichts anderem gegeben ist, als dass sie ihn in seiner Bewegung leitet. Dennoch gibt Kant zu, dass es für jeden einzelnen Menschen „schwer" sei, „sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten". 28 Er hängt an ihr, ja liebt sie sogar; und er ist, so Kant, zunächst „wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ". In Gestalt der gängigen „Satzungen und Formeln", an die er sich mit der Mehrzahl der Anderen gebunden sieht und die den Gebrauch seiner Vernunft mit scheinbar unumstößlicher Notwendigkeit regeln, trägt er in Wahrheit die „Fußschellen" der Unmündigkeit. Kant geht so weit, zu sagen, dass der Mensch solcherart einen „Mißbrauch" seiner Naturgaben betreibt: einen Missbrauch der ihm gegebenen Vernunft. Denn das, wozu sie ihn befähigt, Grund und Movens eigener „freier Bewegung" zu sein, höhlt er durch den beschriebenen Umgang mit ihr zuletzt selbst aus. Trotz der nahezu unüberwindlichen Hemmnisse aber gibt es Kant zufolge immer wieder Einzelne, wenn auch nur wenige, „denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun". Zu beachten ist, dass Kant offenbar davon überzeugt ist, dass der Bewegung eines Individuums im Denken und Handeln Sicherheit aus nichts als dem eigenständigen Gebrauch bloßer Vernunft erwachsen kann.
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Friedrich Nietzsche, Menschliches,
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Immanuel Kant, „Was ist Aufklärung?", 35.
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Ebd., 35f. Vgl. hier und im Folgenden: Ebd., 36.
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Bis auf den zuletzt genannten Punkt, auf den ich später noch genauer eingehe, lassen sich an dieser Stelle wiederum Gemeinsamkeiten zur Argumentation Nietzsches notieren. Eindringlich führt Nietzsche vor Augen, wie der Mensch um seiner Selbsterhaltung und Selbstbehauptung willen zunächst einmal Zuflucht in einer Existenzform sucht, die ihn in seinen Überzeugungen wie in seinem Tun und Lassen an einen festen Kodex von Üblichkeiten bindet. „Heerden-Existenz", so nennt Nietzsche mit dem Abstand des selbst Freigekommenen eine Lebensweise, die sich durch die unbedingte Bindung an das Herkömmliche und immer schon Geltende auszeichnet. Die überkommenen Meinungen zu allen wichtigen Fragen des Lebens und aus ihnen abgeleitete Regeln des Verhaltens erhalten den Status des Sakrosankten; und darin wird ihre Legitimität gesehen. Diese „herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen" bezeichnet Nietzsche - durchaus konsequent und insofern mit terminologischem Anspruch - als „Sitte". 29 Die rechte Einstellung des Einzelnen zu den herrschenden Sitten und ihre fraglose Befolgung nun scheint Nietzsche fast die ganze Geschichte der Menschheit hindurch dessen „Sittlichkeit" bedeutet zu haben. „In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es", aus dieser Perspektive betrachtet, dann auch „keine Sittlichkeit". 30 Verständlich wird diese Verknüpfung von Herkommen und Sittlichkeit vor dem Hintergrund der Besonderheit, die den Menschen gegenüber anderem Lebendigen auszeichnet: Er gilt Nietzsche - und darüber lässt sich wohl gar nicht streiten - als das von der Natur „nicht festgestellte Thier". 31 Es gibt keine Lebensweise, an die er gleichsam von Natur aus unverbrüchlich gebunden wäre. So kann es als eine attraktive Möglichkeit erscheinen, den konstitutiven Mangel an Festlegung dadurch zu kompensieren, die allenfalls schwach wirkenden Naturinstinkte durch einen „Heerden-Instinct" 32 zu ersetzen. Und der besteht genau darin, sich das „Gewohnte" der vertrauten Urteile, Regeln und Satzungen bis zur Einverleibung zu eigen zu machen. Eine „Lust" an der Gewohnheit entsteht: 33 Das Gewohnte schließlich hat sich bewährt, andernfalls hätte es sich nicht etabliert; also muss es nützlich und heilsam sein und somit das Gelingen des solcherart getragenen Lebens verbürgen können. Nachdenken und Selbstdenken werden entbehrlich und schaffen - umgekehrt - höchstens Anlass für die Versuchungen der Unsittlichkeit. Diese sieht Nietzsche entgegen verbreiteten Annahmen keineswegs im rigoros selbstsüchtigen Verhalten wurzeln, das einzudämmen als notwendig begriffen worden wäre und die Menschen bewogen hätte, die Moral zu erfinden. „Nicht das .Egoistische' und das ,Unegoistische' ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon." So lesen wir es in Menschliches, Allzumenschliches.34 Das hieße aber: Aufklärung als Ausgang aus der Unmündigkeit, die ohne die Fähigkeit zum vorurteilsfreien und also Abstand nehmenden, lösenden Denken nicht zu haben ist, wäre aus der Perspektive der Herdenmoral betrachtet geradezu der Inbegriff des Unmoralischen.
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Friedrich Nietzsche, Morgenröthe 9, KSA 3, 22. Vgl. auch ebd., 14, 18, 19. Ebd., 22. Friedrich Nietzsche, Nachlass 2 [13] (1885/1886), KSA 12, 72. Vgl. ders., Genealogie der Moral III 13, KSA 5, 367. Ders., Fröhliche Wissenschaft 116, 117, KSA 3, 474f. Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches 197, KSA 2, 94. Ders., Menschliches, Allzumenschliches I, 96, ebd., 93.
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Nicht zuletzt ist es die Leidenschaft der Erkenntnis, die Lust am Experiment des Denkens und Existierens, 35 die Nietzsche zu einem Verfechter der Aufklärung als Loskommen vom Bedürfnis nach einer Herdenexistenz macht. Die Eigentümlichkeit des Menschen, nämlich als das „nicht festgestellte Thier" dasein zu müssen, begreift er in erster Linie als unerhörte Chance. Ohne Aufklärung als Lösung von den Fesseln jener Vorurteile, wie sie die „passive Vernunft" bedenkenlos und aus Lust an den Wonnen des Gewöhnlichen aufgreift und bekräftigt, aber ist diese Chance nicht wahrzunehmen. Vor allem deshalb erklärt Nietzsche einer - wie beschrieben verstandenen - Moral den Krieg. Träger der Aufklärung sind für ihn zu jeder Zeit die wenigen Individuen, die sich durch den Anspruch auf das eigene Urteil aus der breiten Masse der Mitgeführten herausheben und sich dadurch exponieren. Gilt Aufklärung als Inbegriff des Unmoralischen, so gelten sie als dessen Inkarnation. „Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet ,böse' so viel wie individuell', ,frei', .willkürlich',,ungewohnt', unvorhergesehen', unberechenbar'." Das schreibt Nietzsche in der Morgenröte,36 Zwar spricht er von längst vergangenen Verhältnissen menschlichen Lebens, die sich durch die Verdammung von Eigenständigkeit und Individualität ausgezeichnet hätten. Und den Aphorismus, in dem er das tut, leitet er mit der Bemerkung ein, wir modernen Menschen lebten in einer Zeit, in der die Macht der Sitte deutlich abgeschwächt sei und also im Vergleich zur Lebensweise „ganzer Jahrtausende der Menschheit" in einer „sehr unsittlichen Zeit". 37 Und doch ist angesichts der auch von uns noch mitgeschleppten moralischen Vorurteile, wie sie sich in entsprechenden Gefühlen abgelagert haben, klar: Nietzsche ist ganz und gar nicht der Auffassung, wir modernen Menschen lebten bereits in einem aufgeklärten Zeitalter. Dazu tragen wir nicht zuletzt an unserer Vergangenheit des Empfindens, Schätzens, Urteilens zu schwer - und vielleicht dauerhafter, als wir uns eingestehen mögen. 38
IV. Mit Kant teilt Nietzsche die Einschätzung, wir befänden uns in einem Zeitalter der Aufklärung - nach wie vor. Über dessen Signatur hat er jedoch deutlich andere Vorstellungen als Kant. Zwar hatte Kant - wie Nietzsche - die gewaltigen Schwierigkeiten betont, als Einzelner aus der Unmündigkeit herauszutreten. Allerdings spielt diese Skizze in Kants berühmter Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? nur die Rolle eines Auftakts. Denn der Prozess der Aufklärung bedarf nach Kant des tragenden Bodens der gelehrten Öffentlichkeit. Dass „ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich", als dass der Einzelne sie für sich allein leistet, davon ist Kant überzeugt. Ja, Aufklärung sei, wenn man dem Publikum nur
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Vgl. ders., Morgenröthe 453, 501; vgl. ders., Fröhliche Wissenschaft 7, 51, 110, 324; vgl. ders., Jenseits von Gut und Böse 210. Zum Verständnis dieses Gedankens der „Leidenschaft der Erkenntnis" vgl. die einschlägige Untersuchung von Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung von „Morgenröthe " bis „Also sprach Zarathustra ", Berlin/New York 1997. Ders., Morgenröthe 9, KSA 3, 22. Ebd., 21. Vgl. zu diesem Punkt die sehr interessanten Überlegungen, die Karl Pestalozzi in seinem Aufsatz „Die Bindungen des ,freien Geistes' in ,Menschliches, Allzumenschliches'" (Studi Germanici 39 [2001], 109121) vorträgt.
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Freiheit lasse, „beinahe unausbleiblich", fügt er hinzu. 39 Wir können nämlich sicher sein, dass sich immer „einige Selbstdenkende" inmitten des „großen Haufens" finden werden. Sie aber müssen die Möglichkeit haben, ihre Urteile über die menschlichen Angelegenheiten, über Wissenschaft, Kunst, Religion, Staatswesen und Politik einem Publikum zur Begutachtung und Prüfung vorzulegen. Allein der öffentliche Gebrauch der Vernunft vermag sicherzustellen, dass Einseitigkeiten und Fehlurteile zumindest auf längere Fristen hin einzudämmen sind. Irrtümer zeichnen sich Kant zufolge dadurch aus, dass der Schein der Wahrheit für die Wahrheit selbst genommen wird. 40 Wir halten etwas für wahr: das heißt für eine im Prinzip jedem zugängliche und in diesem Sinn von unserer besonderen Subjektivität unabhängige Wirklichkeit, dass sie sich im Nachhinein als Täuschung oder Unwirklichkeit herausstellt. Der Anschein hat uns getrogen. Er entsteht jedoch nicht ohne Grund. Schließlich waren wir - sofern wir nicht mit Wissen und Bewusstsein täuschen, d. h. lügen wollten - der Überzeugung, ein wahres Urteil zu fällen. Überzeugungen aber entspringen nicht aus dem Nichts, sondern stützen sich stets auf etwas: auf Evidenzen verschiedenster Art, seien es weitere Überzeugungen, sei es der sogenannte Augenschein, seien es die Versicherungen Dritter. Sich zu irren, bedeutet nichts anderes, als dass wir bloß „subjektive Gründe" unseres Urteilens für „objektive Gründe" halten und folglich, so Kant, „den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln". 41 Der einem Irrtum Erlegene meint, bei etwas Wahrem zu sein, bei einer mit Anderen geteilten Wirklichkeit, und ist doch nur bei sich selbst. Dies ist in Träumen und Fehleinschätzungen aller Art der Fall. Beim besten Willen aber lassen sich Irrtümer nicht grundsätzlich vermeiden. Denn unser Verhältnis zur Wirklichkeit ist nun einmal perspektivisch gebrochen: Als Einzelne sind wir zu jedem Zeitpunkt an einen bestimmten Standpunkt gebunden; als Einzelne bilden wir einen jeweils individuellen, unseren Fähigkeiten, Interessen und Zwecken angemessenen „Horizont" der Erkenntnis aus. 42 Die unumgängliche Perspektivität des Erkennens macht uns anfällig für Irrtümer. Verführerisch ist der ihnen anhaftende Schein, weil ihre Falschheit den entsprechenden Urteilen keineswegs anzusehen ist - jedenfalls solange nicht, wie sie formal korrekt sind: und das heißt den Regeln der formalen Logik nicht widerstreiten. In dieser Situation bedürfen wir, gerade um der Verpflichtung zum Selbstdenken nachkommen zu können, der uneingeschränkten Möglichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Sie erlaubt uns, das eigene Urteil zu überprüfen, nämlich im Licht des Standpunkts Anderer zu sehen. Erweist sich unser Urteil in bestimmter Sache als unvereinbar mit dem Anderer, so ist dieses Faktum nach Kant als ein „Wink" anzusehen, über dieses Urteil nachzudenken: „unser Verfahren im Urteilen zu untersuchen". 43 In Gestalt solcher vota consultativa, wenngleich nicht schon decisiva „fremder Vernunft" 44 - denn zuletzt kann jede Vernunft nach Kant nur auf der Basis eigener Gründe etwas für wahr halten - , 4 5 haben wir die Mittel zur Überwindung der konstitutionellen Einschränkung individuellen Denkens, die Mittel zu dessen Erweiterung. Entsprechend wird die Forderung nach dem „Selbstdenken" als Maxime der aufgeklärten Denkart von Kant um das Gebot der erweiterten Denkart 39 40 41 42 43 44 45
Immanuel Kant, „Was ist Aufklärung?", 36. Vgl. ders., Logik, AA IX, 53-57. Ebd., 54. Vgl. ebd., 40-43, bes. 41. Ebd., 57. Vgl. Immanuel Kant, R. 2147, AA XVI, 252. Vgl. ebd,263.
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ergänzt. Es lautet: „sich in der Stelle eines Andern zu denken".46 Mit der „Wisbegierde" sieht Kant den „Trieb sich mitzutheilen" jederzeit verbunden, „weil unser eigen Urtheil durch einen fremden Standpunkt muß rectificirt werden".47 Und genau dies verlangt die Maxime der erweiterten Denkart: „sich über die subjektiven Privatbedingungen des Unheils" hinauszusetzen.48 Dazu aber muss die Möglichkeit des öffentlichen Austausches gegeben sein. Im Prinzip ist es die ganze Welt, an die der Einzelne sich als sein Publikum wendet.49 Wer dem Menschen die Freiheit nimmt, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, nimmt ihm auch die Freiheit zu denken und damit das vorzüglichste Instrument, seine Angelegenheiten zum Besseren zu wenden - so weit, dies zu erklären, geht Kant.50 Bei Nietzsche tritt die Funktion der Öffentlichkeit im Prozess der Aufklärung bezeichnenderweise in den Hintergrund. Im Gegenteil: Nietzsches Polemik gegen die „öffentliche Meinung" ist jedem seiner Leser gegenwärtig. „Öffentliche Meinungen" setzt er mit „privaten Faulheiten" gleich; denn sie scheinen ihm vor allem als Unterschlupf für diejenigen zu dienen, die zu furchtsam und bequem sind, um „nach eignem Maass und Gesetz zu leben".51 Nach dem Motto „Kleider machen Leute" verschaffen sie denen ein Aussehen, die ganz „ohne Kern" sind.52 Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hat sich nach Nietzsche in erster Linie gegen die alles Individuelle egalisierende Öffentlichkeit zu behaupten und durchzusetzen. Ihre Protagonisten sind die Einzelnen, die Vereinzelten: die unverstanden von den „öffentlich meinende(n) Scheinmenschen"53 auf ihrem eigenen Weg bestehen und die den Blick in jene Abgründe des Daseins werfen, vor denen diese zurückscheuen. Versuchen sie, sich mit ihrer Kritik am Bestehenden und ihren Ideen vom Besseren an eine Öffentlichkeit zu wenden, so scheitern sie wie Zarathustra. Heidegger wird Nietzsche auf seine Weise folgen, wenn er die Öffentlichkeit als Sphäre der Verdeckung und Verdunklung beschreibt, die „unempfindlich" sei „gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit".54 Beides ist nach Heidegger nur von denen zu sichern, die sich gegen das „Man" und durch Befreiung von dessen Formen auf die „Eigentlichkeit" des Menschseins besinnen. Nietzsche spricht von „Ausnahme-Menschen",55 die allein das Wagnis eines wirklich der Wahrheitssuche verpflichteten, eines autonomen und selbstverantworteten Lebens eingehen. Sie, die die Aufklärung der Menschheit durch Arbeit an der Entlarvung der für alle Anderen unentbehrlichen Vorurteile und Fehlurteile vorantreiben, tun das meist nicht im Licht einer ohnehin verständnislosen Öffentlichkeit. Sie wirken als „Unterirdische".56 Denn ihre Aufgabe besteht für Nietzsche im „Bohren" und „Graben", im „Untergraben" des Vertrauens in den „Grund" des Lebens, den nicht zuletzt die Philosophen jahrtausendelang und trotz aller
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Immanuel Kant, Logik, A A I X , 57. Vgl. auch: ders., Kritik der Urteilskraft, AA V, 294. Ders., R. 2147, AA XVI, 252. Ders., Kritik der Urteilskraft, AA V, 295. Vgl. ders., „Was ist Aufklärung?", AA V, 38. Ders., „Was heißt: Sich im Denken orientiren?", AA VIII, 144. Friedrich Nietzsche, „Schopenhauer als Erzieher", 338f. Vgl. ders., Menschliches, Allzumenschliches 482, KSA 2, 316: „Und nochmals gesagt. - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten." Vgl. ders., Menschliches, Allzumenschliches II 325, KSA 2, 514 mit: SE 1, KSA 1, 338. Ebd. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 27, Tübingen l s 1979, 127. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 325, KSA 2, 514. Vgl. Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, Vorrede 1, KSA 3, 11.
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partiellen Einbrüche für sicher gehalten hätten. Immer wieder aufs Neue nämlich hätten sie auf ihm zu bauen begonnen - bis zum Einsturz noch jedes ihrer Gebäude. 57 Nietzsche meint das Vertrauen in die tragende Kraft von Religion, Moral und am Ende auch: Vernunft. Die Autorität dieser Grundpfeiler des Daseins sei eben bisher nicht in Frage gestellt worden - aus Furcht vor dem gefährlichen Unterfangen mit unabsehbaren Folgen. Es führt nach Nietzsche, der aus eigener Erfahrung spricht, zum Zweifel an Sinn und Wert menschlichen Lebens und zur Einsamkeit und Isolation des Abenteurers, der sich auf das Unternehmen eingelassen hat. „Glaubt ja nicht, daß ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde!", ruft Nietzsche seinen Lesern zu. „Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die .eignen Wege' mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg für sich - " . 5 8
V. Selbst Kant, der lange genug um die Aufdeckung dogmatischer Verstellungen im Verständnis des Menschen und seines Weltverhältnisses gerungen und den Weg der kritischen Philosophie eigenständig und zunächst ganz allein beschritten hatte, ist für Nietzsche nicht vorgedrungen in die Regionen wahrhafter und schmerzhafter Aufklärung. So konnte er die Einsamkeit und die Kälte nicht kennen, die den umgeben, der diese Gefilde - wie Nietzsche für sich reklamiert - betritt. Auch Kant, der „Alleszermalmer", hat Nietzsche zufolge in einem entscheidenden Punkt vollkommen unkritisch bloß vertraut, statt kritisch zu durchleuchten: im Blick auf die Moral. Er habe unter ihrer „Verführung" gestanden; obwohl Kants Absicht eigentlich auf „Gewissheit, auf .Wahrheit'" ging, so zielte er nach Nietzsches Einschätzung zuletzt - koste es, was es wolle - auf „majestätische sittliche Gebäude". 59 Nietzsche bezieht sich auf eine Stelle in Kants Kritik der reinen Vernunft, auf eine Passage im Kapitel „Von den Ideen überhaupt" aus der Transzendentalen Dialektik,60 Kant unterscheidet dort zwischen praktischen Ideen und theoretischen Ideen der Vernunft. Er betont die konstitutive, wirklichkeitsbildende Kraft der praktischen Ideen, die den theoretischen als bloß regulativen, unsere Erfahrung anhand von Vorstellungen systematischer Einheit leitenden Ideen nicht zukommt. Im Zusammenhang mit einigen Überlegungen zu den praktischen Ideen, die niemals aus der Erfahrung zu gewinnen, sondern nach Kant - umgekehrt - Grund der in die Empirie hineinwirkenden moralischen Praxis sind, schlägt er den Bogen zu der zuvor zu behandelnden Kritik der theoretischen Vernunft zurück: „Statt aller dieser Betrachtungen, deren gehörige Ausführung in der Tat die eigentümliche Würde der Philosophie ausmacht, beschäftigen wir uns jetzt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit, nämlich: den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen". Damit ist zum Beispiel der von Kant in der ersten Kritik vorgetragene Nachweis gemeint, dass die Annahme eines lückenlosen Determinismus der Bewegungen alles Natürlichen den Gedanken der Freiheit dennoch nicht ausschließt. So
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Ebd., 11 f. (Vorrede 1-2). Ebd., 12. Ebd., Vorrede 3, KSA 3, 13f. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 319/B 375f.
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wäre in theoretischer Hinsicht gegen Anfechtungen gesichert, was im Bereich des Praktischen Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen ist - die Idee der Freiheit. Nietzsche nun verdächtigt Kant hier der Halbherzigkeit und des mangelnden Mutes. Kant sei mit „seiner schwärmerischen Absicht", die Moral vor der Aufklärung zu retten, „eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden" dürfe. 61 Gegen alle Vernunft hat Kant in den Augen Nietzsches Raum schaffen wollen für sein „moralisches Reich". Deshalb hat er sich gezwungen gesehen, „eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches Jenseits'". 6 2 Mit dem Stichwort „Jenseits" oder „unbeweisbare Welt" spricht Nietzsche genau jene praktischen Ideen an, von denen oben die Rede war. Und er siedelt sie, die als Begriffe ihren Ursprung in der menschlichen Vernunft haben, umstandslos in einer Art zweiten überempirischen Welt an und gibt dadurch zu verstehen, dass er sie als obsolet erscheinen lassen möchte. Die ersten Ergebnisse, die auf dem Boden der von ihm selbst geleisteten psychologischgenealogischen Analyse unserer moralischen Empfindungen zu verzeichnen seien, wendet er ein, diskreditieren alle Theorien einer metaphysisch begründeten Moral. Diese Ergebnisse scheinen ihm unwiderleglich für das zu sprechen, was er die „gründliche Unmoralität von Natur und Geschichte" nennt. 63 Sie beweisen ihm, dass Moralität bis heute keineswegs als Ausdruck der Humanität und Güte des Menschengeschlechts gelten darf, als die sie allenthalben gefeiert wird. Was Moral genannt wird, diente und dient vielmehr der Selbsterhaltung, dem Eigennutz, der Befriedigung tief eingewurzelter mächtiger Lüste - etwa, wenn in ihrem Namen grausam gestraft wird. Auch Kants Kategorischer Imperativ, den Nietzsche als bleiernes unpersönliches Gesetz missversteht, dem sich das Individuum bedingungslos unterwerfen soll, 64 hat für ihn den Geruch der „Grausamkeit". 65 Kant täuscht sich in Nietzsches Augen also gleich doppelt: indem er an „eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte" 66 glaubt und zugleich den Charakter seiner eigenen Moralprinzipien gründlich verkennt, die er in jener anderen, besseren Welt wurzeln sieht, wo sie doch nach Nietzsche ihre Herkunft aus den Niederungen der unmoralischen Welt unserer Erfahrung deutlich verraten. Und nur um dieses Trugbild eines Jenseits zu errichten, hat Kant es Nietzsche zufolge nötig gehabt, seine Kritik der Vernunft mit ihrer Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, Erfahrung und Idee zu schreiben. Nietzsche formuliert: „Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nöthig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das .moralische Reich' unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen". „Er empfand", sagt Nietzsche, „eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark!" 67 Kant also suspendierte nach Nietzsche am Ende die Vernunft zugunsten des Glaubens an die Moral. Damit habe er die Aufklärung zuletzt verraten. Diese Einschätzung finden wir in einem Aphorismus der Morgenröthe über „Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung" präzisiert und überdies in einen größeren Zusammenhang gestellt. „Der ganze grosse Hang der Deutschen", heißt es dort, „gieng gegen die Aufklärung, und gegen die 61 62
63 64 65 66 67
Friedrich Nietzsche, Morgenröthe,
Vorrede 3, KSA 3, 14.
CUJ
Ebd. Vgl. ebd., 14. Vgl. ζ. B. Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft 335: „Hoch die Physik!", KSA 3, 560-564. Vgl. ders., Genealogie der Moral II, 6, KSA 5, 300. Ders., Fröhliche Wissenschaft 344, KSA 3, 577. Ebd.
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Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft". 68 Daraus sei „keine geringe allgemeine Gefahr" entstanden, „nämlich unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und - um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte - ,dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies'". 6 9 Es entbehrt nicht der Ironie, dass Nietzsche aus Kant einen Dogmatiker und einen Romantiker macht und ihm ausgerechnet jene Position vorwirft, gegen die dieser im sogenannten Spinozismusstreit, einem Streit um die Aufklärung und ihre Folgen für Moral und Religion, mit Entschiedenheit Stellung genommen hatte. 70 Bekanntlich wurde dieser Streit durch Friedrich Heinrich Jacobi ausgelöst. Vom verstorbenen Lessing, einer der zentralen Gestalten der deutschen Aufklärung, berichtet Jacobi, dass er am Ende seines Lebens kein Christ mehr gewesen und an einen persönlichen Gott nicht länger geglaubt habe. Er habe sich als Spinozist oder Pantheist zu erkennen gegeben. 71 Sich in seinem Dasein auf nichts als die eigene Vernunft zu verlassen, so Jacobis Verdacht, führt - wie man am Beispiel Lessings sehe - nur zu Atheismus und Nihilismus. Jacobi will lieber eine „Quelle des Denkens und Handelns" annehmen, die „durchaus unerklärlich bleibt" - nämlich ein gottgegebenes und deshalb zuverlässiges Gefühl. Wo wir nicht wissen, haben wir nach Jacobi zu glauben. 72 Lessing gegenüber spricht er von einem „Salto mortale", einem „Kopf-unter", zu dem er zuletzt seine Zuflucht nehme. 73 Kant äußert sich zum Spinozismusstreit in dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientiren? Er argumentiert dafür, dass wir auch mit dem, was sich unserer Erfahrung entzieht, das in Gedanken zu haben wir aber nicht aufgeben können und wollen, vernünftig umzugehen in der Lage sind. Das sind die Fragen zum Beispiel nach Anfang und Ende der Welt, nach ihrem letzten Sinn und Zweck, nach Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, Gott. Als „Probleme der Vernunft" 74 halten wir sie jederzeit fest. In Form von Ideen der Vernunft artikulieren wir sie. Sie „enthalten" ein Unbedingtes, ein Absolutes, während alles Empirische bedingt und beschränkt ist. Von diesen Fragen werden wir nicht lassen, Antworten unter Rückgriff auf die Erfahrung sind jedoch von vornherein nicht zu erwarten. Hier bewegen wir uns also auf dem Terrain bloßer Vernunft. Und doch sind wir nach Kant auf diesem Gebiet nicht orientierungslos. Im Gegenteil, aus bloßer Vernunft gewinnen wir die Maßstäbe, die uns nicht zuletzt in der Welt der Erfahrung orientieren können. Dabei brauchen wir uns an nichts zu halten als die Gesetze eben dieser
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Friedrich Nietzsche, Morgenröthe 197, KSA 3, 171. Ebd., 172. Zum Verlauf des Spinozismusstreites und zu den Positionen der Protagonisten vgl. Die Hauptschrifien zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. v. Heinrich Scholz, Berlin 1916. Zu Kants Reaktion vgl. Immanuel Kant, „Was heißt: Sich im Denken orientiren?", A A VIII, 131-147. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Brief vom 4. November 1783)", in: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, a. a. O., Iii.
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Ebd., 89f. Ebd., 81 und 91. 74 Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena, 73
A A IV, 353f.
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Vernunft. Wenn wir zum Beispiel in einer Konfliktsituation wissen wollen, was wir tun sollen und nach einer verbindlichen Lösung unseres Problems suchen, haben wir nach Kant die Maxime unseres Handelns daraufhin zu prüfen, ob wir sie zugleich als ein allgemeines, für uns und Andere jederzeit gültiges Gesetz wollen können. Das ist der Inhalt der Idee der Moral oder des uneingeschränkt Guten. Die Vernunft ist für Kant „der letzte Probirstein der Wahrheit" des Denkens und Handelns. 75 Und „Selbstdenken" heißt eben, diesen letzten Probierstein der Wahrheit in sich selbst zu suchen. Darin besteht die Aufklärung. Ihr Kennzeichen liegt nicht in besonderen Kenntnissen. Aufgeklärt ist, wer sich seiner eigenen Vernunft bedient. Das aber „will nichts weiter sagen", erläutert Kant, „als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen". Dies zu tun aber bedeutet nichts anderes, als sich nach der „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft" zu richten. 76 Dieses Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft freilich geriet spätestens mit den Invektiven Adornos in den Verdacht, nicht Garant der Aufklärung zu sein, sondern Instrument der Gegenaufklärung. 77 Selbsterhaltung erschien als Zweck einer Vernunft, die als Instanz bloß kalkulierenden, berechnenden Denkens zu gelten hat und der es um eine entsprechende Zurichtung und Unterwerfung ihres Anderen zu tun ist: um die Repression von Natur, Gefühl, Leben. Vernunft wird zum Inbegriff des blutleeren, abstrakten Systems und der Ausübung von Herrschaft über das Kontingente und Nichtidentische. Der Macht einer so verstandenen Vernunft hätte das Individuum als das Unvergleichliche und gerade nicht auf Allgemeines Reduzierbare sich zu entwinden. Dagegen ist deutlich, dass Kant unbeirrt auf die Vernunft des Menschen setzt. Sie ist für ihn Ursprung und Mittel der Lebensorientierung, und sie ist mehr als nur instrumenteile Vernunft. Zumindest sind wir frei, aus ihr die Maßstäbe zu gewinnen, anhand derer wir Urteile nicht nur fällen, sondern auch vor uns selbst und Anderen begründen können. Woher sonst sollten wir ein Richtmaß unseres Umgangs mit uns selbst und der Welt denn nehmen? Selbst Adorno hält an der Vorstellung einer Vernunft fest, in der die Idee eines „freien Zusammenlebens der Menschen" in der „bewußten Solidarität des Ganzen" lebendig ist.78 Dem Prozess der Aufklärung, der die Vernunft in ihr Recht setzt, haftet deshalb nichts Bedrohliches an. Umgekehrt: Er lässt auf eine besser eingerichtete Welt hoffen. Dennoch registriert Kant die Irritation, die aus der „Freigeisterei" entsteht: einer Tendenz, den halt-, weil gesetzlosen Gebrauch der Vernunft zu propagieren und in Schwärmerei und Selbstzerstörung von Vernunft und Freiheit zu enden. 79 Auch Nietzsche, der sich mit Stolz einen „freien Geist" nennt, zieht das Vertrauen in die konstruktive Kraft der Vernunft in Zweifel. 80 Deshalb muss ihm Kants Idee einer aus nichts als Vernunft begründeten Moral höchst suspekt erscheinen. Für Nietzsche ist Vernunft vor
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Immanuel Kant, „Was heißt: Sich im Denken orientiren?", AA VIII, 146 (Anm.). Vgl. ebd., 146f (Anm.). 77 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemnann, Darmstadt 1998, Bd. 3, bes. lOOff. 78 Vgl. ebd., 102. 79 Vgl. Immanuel Kant, „Was heißt: Sich im Denken orientiren?", AA VIII, 145-147. 80 Vgl. Friedrich Nietzsche, MorgenrÖthe, Vorrede 4, KSA 3, 15. 76
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allem das Instrument der Entlarvung: der Entlarvung jener „Lügenbrücken", 81 jener falschen Ideale, ohne die wir aber möglicherweise gar nicht leben könnten. „Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt", 8 2 diesen Verdacht wird Nietzsche nicht los. Dennoch erfordert es das Ethos der Aufklärung, in dem wir „die letzte Moral" des Men83
sehen zu sehen haben, uns diese „Lügenbrücken" nicht länger zu gestatten. Mit dieser letzten Moral aber ist für Nietzsche eine „neue Leidenschaft" verbunden: die Leidenschaft einer in dieser Radikalität bislang unbekannten Erkenntnis. „Die Erkenntniss", schreibt Nietzsche im bekannten Aphorismus aus der Morgenröthe, hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen. [...] Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! - auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, - wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? Vernunft als leidenschaftliches Organ der Erkenntnis ist für Nietzsche Organ der Enthüllung, Überführung, Demaskierung - und der Sicherung ihrer Potenz ist jeder Tribut zu zollen. Doch mit der Absage an jegliche konstruktive, wenn man will: lebensdienliche Funktion von Vernunft und Philosophie wird Aufklärung, zumindest wie Kant sie verstanden hatte, halbiert, wenn nicht desavouiert. Aus der Verachtung, mit der er eine Philosophie betrachtet, deren aufklärerischer Impetus sie zum Versuch konstruktiver Beiträge inspiriert, macht Nietzsche keinen Hehl. In einem nachgelassenen Text aus dem Jahr 1884 lesen wir: Eine Philosophie, welche nicht verspricht, glücklicher und tugendhafter zu machen, die es vielmehr zu verstehen giebt, daß man in ihrem Dienst wahrscheinlich zu Grunde geht [...]: eine solche Philosophie schmeichelt sich niemandem leicht an: man muß für sie geboren sein - und ich fand noch Keinen, der es war (sonst würde ich keine Gründe haben, dies zu schreiben). Zum Entgelt verspricht sie einige angenehme Schauder; wie sie dem kommen, der von ganz hohen Bergen aus eine Welt neuer Aspekte sieht; und sie macht nicht am Ende blödsinnig, was die Wirkung des Kantschen Philosophirens war (man ist grausam genug gewesen, neuerdings noch das übrig gebliebene Hauptwerk seines Blödsinns festlich herauszugeben 85 - was ist doch unter Deutschen möglich!). 86 Zwei W e g e sind es zuletzt, zwischen denen Nietzsche lebenslang schwankt und die er nicht zusammenzuführen vermag: der Weg der Philosophie, der zur kritischen Zersetzung aller
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Ebd., 16. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 34, KSA 2, 54. Ebd., Von-ede 4, KSA 3, 16. Ebd., 429, 264f. Nietzsche spielt wohl auf das von Rudolf Reicke zwischen 1882 und 1884 in der Altpreußischen Monatsschrift teilweise herausgegebene und von Albrecht Kraus seit 1884 in die Öffentlichkeit gebrachte große Nachlasswerk Kants, das Opus postumum, an. Vgl. Albrecht Krause, Immanuel Kant wider Kuno Fischer zum ersten Male mit Hülfe des verloren gewesenen Kantischen Hauptwerkes: , Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik' vertheidigt, Lahr 1884. Friedrich Nietzsche, Nachlass 26[371 ], KSA 11, 248.
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Lebenssicherheiten führt, und der Weg des Künstlers, der zum konstruktiven, aber falschen Lebensgerüst verhilft.87 Dass Nietzsche das auch für ihn unverzichtbare konstruktive, lebensdienliche Element in seiner Auseinandersetzung mit der Welt und der Stellung des Menschen in ihr schließlich nur als Schein, wenn auch als schönen Schein, begreift, das trennt ihn wohl am schärfsten vom Denken Kants.
87
Vgl. ders., Nachlass 26[373], ebd., 249.
5. Neuansätze und Fortentwicklungen
HANS RAINER SEPP
Dimensionen der Vernunft bei Edmund Husserl
Die knappe Studie sucht Husserls Begriff der Vernunft vor dem Hintergrund der Genese von Husserls Denken systematisch darzulegen. Der erste Abschnitt stellt die grundlegenden sachlichen Koordinaten von Husserls Vernunftbegriff heraus. Während der zweite Abschnitt theoretische und praktische Vernunft in ihrem wechselseitigen Bezug aufzeigt, skizziert der dritte Abschnitt den Aufgabenhorizont der Ethik als Theorie der praktischen Vernunft. Der vierte Abschnitt zeigt, wie in Husserls Spätwerk das im Rahmen der mundanphänomenologischen Ethik entworfene Vernunftkonzept zu einer transzendentalphänomenologischen Teleologie der Vernunft radikalisiert wird.
1. Vernunft: Evidenz - Motivation Vernunft korreliert für Husserl mit Selbstgegebenheit, mit Evidenz: All dem, was evident gegeben ist, kommt ein Vernunftcharakter zu. Es ist originär selbst da und nicht in einem antizipierenden Vorgriff lediglich prätendiert. Da alles, was evident ist, auch als evidentes Sein gesetzt ist, ist der Vernunftcharakter zugleich Vernunftthesis. Der selbstgegebene Gehalt einer Vernunftsetzung ist von seiner intentionalen Vorzeichnung unterschieden und doch zugleich ihr Resultat: Erfüllung ist nur aufgrund von Intention, welche die Vernunftsetzung der Erfüllungsevidenz intentional motiviert. Zugleich stärkt jede neue Vernunftsetzung das intentionale Geflecht, dem sie selbst zugehört, und besitzt die Kraft, ihrerseits weitere Vernunftsetzungen zu motivieren. Sofern bestimmte Selbstgebungen zur Setzung eines einheitlichen, als solchem nicht selbstgegebenen Gegenständlichen motivieren, spricht Husserl von „vernünftiger Motivation" (Hua III, 283; Hua XVII, 168f.).' Husserls Begriff der Vernunft, der somit primär alle originäre Gegebenheit und die von ihr motivierten intentionalen Einheiten umfasst, erlangt durch die enge Verkoppelung mit dem Sachverhalt der Motivation seine gegenüber der philosophischen Tradition denkbar weite Bestimmung. Da Motivation für Husserl die alle Einheitsbildung des Bewusstseins leitende universale Gesetzmäßigkeit (Hua IV, § 56; Hua XXV, 32lf.) darstellt und sich - als das das gesamte Bewusstseinsleben bestimmende Prinzip der Synthesis - auf
Soweit nicht anders gekennzeichnet zitiere ich Husserl unter Angabe des Bandes direkt im Text nach der Husserliana-Ausgabe: Edmund Husserls Gesammelte Werke, auf Grund d. Nachlasses veröffentl. v. Husserl-Archiv (Leuven) i. Verb. m. Rudolf Boehm unter Leitung v. Samuel Ijsseling, Den Haag 1950ff. (= Hua); die Siglen A V, Β, Ε und F beziehen sich auf unveröffentlichte Nachlassmanuskripte.
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alle Aktintentionalität, aber auch auf den Bereich passiver Synthesis, zuunterst auf die Konstitution des Bewusstseinsstroms im inneren Zeitbewusstsein bezieht, bezeichnet dementsprechend ,Vernunft' eine „universale wesensmäßige Strukturform der transzendentalen Subjektivität überhaupt" (Hua 1,92). Aufgrund ihres nicht selbstgegebenen, wenngleich aus originär Gegebenem motivierten Sinnüberschusses ist Vernunftsetzung „Glaubensgewißheit": Gewissheit im Modus des Glaubens, dass die in selbstgegebenen und somit .wirklich seienden' Ansichten sich bildende, ihrerseits nicht selbstgegebene intentionale Einheit ebenso ist (vgl. EU, 87 2 ). Folglich besteht für Husserl der einzelne Gegenstand, aber auch die gesamte objektive Natur, „nur als eine" im Bewusstsein „durch immanente Zusammenhänge motivierte intentionale Einheit" (Hua III, 95). Wie sich in passiver Dingapperzeption in der Mannigfaltigkeit von Dingerscheinungen ein identischer Gegenstand konstituiert, so konstituiert sich im Prozess passiver Selbstapperzeption die Identität des personalen Ich. Diese Identität bezeichnet nicht nur die Einheit der Person als individuelles Motivationssubjekt, sondern ist selbst Identität nur aus ihrem jeweiligen Stil der Motivation - der Motivationsstil wirkt selbst motivierend für die Identität der Person (vgl. Hua IX, 215; Hua I, 101). Die Identität des Ich ist nicht „Identität in der Veränderung, im Wandel von Phasen" wie im Fall der Dingapperzeption, sondern geht „als Einheit schaffende Identität für alle Gehalte diesen vorher" (Hua XIV, 50; vgl. ebd., 48). Obgleich sich die Identität des Ich nicht erst in Bewusstseinsverläufen konstituiert, wird sie doch im Wandel der Ich-Entscheidungen immer neu ,bestätigt'. In diesem Sinn hat das Ich nicht nur seine Pol-Einheit vorweg, sondern bewahrt kontinuierlich seinen „individuellen und herauserkennbaren Stil" (Hua IX, 215), „einen personalen Charakter" (Hua 1,101). Die aktive Synthesis, in der „das Ich als durch spezifische Ichakte, als erzeugendes, konstituierendes" fungiert, umfasst „alle Leistungen der in einem weitesten Sinne praktischen Vernunft" (Hua I, 111). Die gesetzliche Synthesis der Ichakte wird durch die „Vernunftmotivation" (Hua IV, 220) seitens eines Stellung nehmenden Ich geregelt, die ein spezifischer Fall der genannten „vernünftigen Motivation" im weiteren Sinne darstellt. Das Feld der aktiven Synthesis, der „Motivation von Stellungnahmen durch Stellungnahmen" des Ich (ebd., 220; vgl. Hua IX, 213f.), bezeichnet daher für Husserl auch den Bereich, auf den die Grundfragen der Ethik abzielen, „die das vernünftige Subjektverhalten zum Gegenstand hat" (Hua IV, 222).
2. Theoretische und praktische Vernunft und „universale vernünftige Praxis" Schon Husserl erblickte das letzte Umwillen weltlicher Praxis in der Lebenssorge (vgl. A V 22, 19), die die Struktur des Sorgens selbst ausdrückt, sofern Weltleben in das UnbestimmtOffene gehalten, der Gefährdung durch „Nöte des Lebens", „Schicksalsschläge" (HuaDok 11,1, 1953; Hua XV, 600) ausgesetzt ist. Das grundlegende Interesse des Lebens gilt der Abwehr wirklicher und möglicher Krisen und der Herbeiführung von Glück: „Macht über das Schicksal, die Ermöglichung eines glückhaften Daseins" (A V 24, 20). ,Glück' verweist bei Husserl intentionalphänomenologisch auf die Korrelatbegriffe der „Erfüllung" bzw. der „Befriedigung der Intention" (vgl. Hua XXXV, 43). Befriedigung als Komplementärbegriff zur
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3
Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik [EU], redigiert u. hg. v. Ludwig Landgrebe, Hamburg 5 1 9 7 6 (= EU). HuaDok II, 1: Eugen Fink: Sechste Cartesianische Meditation, hg. v. Hans Ebeling, Jann Holl u. Guy van Kerckhoven, Dordrecht 1988.
DIMENSIONEN DER V E R N U N F T BEI E D M U N D H U S S E R L
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Enttäuschung (EU, 93) 4 wird so für Husserl zu einem Titel, der nicht nur zur Bezeichnung von Erfüllungssynthesen partialer Intentionen, sondern des alle Einzelinteressen übergreifenden Lebensinteresses dient. Husserls grundlegende Ansicht ist, dass zwar diese universale Tendenz auf Befriedigung dem Leben inhärent, es in seinem natürlichen Ausleben jedoch nicht in der Lage ist, sie wirklich an ihr Ziel zu bringen, da die Intention vollkommener Befriedigung mit den endlichen Möglichkeiten, die dem in seine Umweltpraxis eingebundenen natürlichen Leben offenstehen, nie erfüllbar ist. Da leiblich-natürliches Leben als „Nullpunkt der Orientierung" egozentrisch verfasst ist, ist es ihm zumeist auch verwehrt, Einsicht in diese Grenze zu erlangen bzw. adäquat auf sie zu reagieren. Die Intentionalität des natürlichen Begehrens verkürzt die Bestände der Glaubensgewissheiten als der sinngenetischen Resultate passiver Urdoxa auf die Dienstbarkeit ihrer praktischen Abzweckung. Dieser im wahrsten Sinn zu kurz greifende Vollzug der Praxis ist für Husserl Motiv für die Installierung der Theorie: Gegen die praktisch angeeignete Doxa erhebt sich die Episteme, und in diesem Sinn intendiert für Husserl die .Interesselosigkeit' aller Theorie, die als eine besondere Weise doxischer Aktivität ebenfalls in der Doxa als dem Gesamt an Vernunftsetzungen gründet, mit dem „Ausschluß alles Begehrens" (Β I 21 III, 29) die Lösung doxischer Vernunftbestände aus ihrer Vereinnahmung durch die außertheoretische Praxis. Da die Doxa das bestimmende Moment auch der Praxis ist, bleibt Theorie zwar als „theoretische Praxis" selbst in die Praxis zurückgebunden, und doch erlauben ihr die doxischen Bestände eine gewisse Radikalisierung, so dass die Differenzierung von doxischer und praktischer Aktivität auf dem einheitlichen Grund der Praxis den Ansatzpunkt für die relative Herauslösung der Theorie aus dem praktischen Zusammenhang des Weltlebens darstellt: „Doxische Aktivität und praktische Aktivität" sind „Grundlage der Scheidung zwischen Theorie und Praxis" und damit zwischen „theoretischer und praktischer Vernunft" (A V 19,9). Sofern Urdoxa, als jede in originär Selbstgegebenem gründende Vernunftsetzung umfassend, die Quelle allen Vernunftbewusstseins ist, zielt die Radikalisierung doxischer Aktivität im Rahmen der Theorie auf eine Rechtsausweisung, die auf die Quellen aller Vernunftsetzung, auf evidentes, .vernünftiges' Sein, zurückfragt. Indem Theorie wegen der gemeinsamen Gründung in doxischer Aktivität auch an Praxis gebunden bleibt, trägt sie auch die Funktion des praktischen Interesses an der Sicherung des Lebens mit: Die größtmögliche Sicherung des Lebens als Vorbedingung für Glück ist für Husserl dann gewährleistet, wenn Rechtsausweisung durch Theorie gültig in Gang gebracht ist, wenn Theorie ein „letztrationales Selbstbewußtsein der Menschheit" (ebd.), die „Vernunftmenschheit" (Hua VIII, 23), verwirklicht. Das Ideal einer Praxis als einer vollkommenen Vernunftpraxis gelangt auf den Weg seiner Realisierung, indem sich Theorie als vernünftiges Sein ausweisende universale Wissenschafi ausbildet, die für Husserl alles mögliche Urteilen, alle möglichen prädikativen Aussagen und damit mögliche Wahrheit und Unwahrheit umschließt (vgl. Hua VII, 13).
„Befriedigung ist Intentionalität der aktuellen Selbsterhaltung. Unbefriedigung ist Hemmung der Selbsterhaltung" (E III 4, 2f.).
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3. Universale Vernunftlehre: Ethik Husserls Vernunftphilosophie ist der umfassende Versuch, auf die Situation, in der die Theorie in ihrer Funktion für die Praxis in die Krise geraten ist, einen Ausweg zu bahnen. Der frühe Husserl beschreitet diesen Weg in zwei parallelen Richtungen: Indem die Logik geprüft wird, soll der Theorie selbst ein neues Fundament verschafft werden; indem die Ethik befragt wird, sollen normgebende Vernunftbestände geklärt und letztlich aufgezeigt werden, wie dem Grundinteresse des Lebens, zuhöchst mittels der Theorie selbst, auf optimale Weise zu entsprechen sei. Hier wird also die Praxisfunktion der Theorie selbst Thema theoretischer Vernunftausweisung. Husserls frühe Untersuchungen zur Ethik gelten daher der Begründung einer formalen Ethik als einer Parallele zur formalen Logik. Eine solche Parallele gründet in „der Parallele der Akt- und Vernunftarten, auf welche diese Disziplinen wesentlich zurückbezogen sind, der urteilenden Vernunft auf der einen Seite, der praktischen Vernunft auf der anderen" (Hua XXVIII, 3). Husserls ethische Untersuchungen sind damit wie die logischen in engem Zusammenhang mit seinem Projekt einer neuen Kritik der theoretischen, praktischen und wertenden Vernunft zu sehen. 5 Die parallelen formalen Ontologien Logik und Ethik als Praktik und Axiologie gründen für Husserl in zugehörigen Phänomenologien, die das jeweilige „System fundamentaler Strukturen des Glaubensbewußtseins" (ebd., 4) analysieren, in dem die Bestände der theoretischen und der praktischen Vernunft konstituiert werden. Husserl fragt aber auch, ob Vernunft trotz ihrer verschiedenen Arten eine und als diese eine logische sei (vgl. ebd., 56ff.). Dass für ihn die Antwort nicht in der Alternative einer monistischen Vernunftkonzeption vs. einer relativistischen Pluralität der Vernunft liegt, zeichnet sich bereits hier ab: Aus der Behauptung einer „Allherrschaft der logischen Vernunft" resultiert für Husserl keineswegs, dass „jede Vernunft selbst logische Vernunft" sei (ebd., 59). Daher kann Husserl in seinen späteren Vorlesungen zur Ethik auch erwägen, auf welche Weise Ethik als reine Ethik die theoretische Vernunft umgreife. Reine Ethik als „apriorische Wissenschaft von der rein praktischen Vernunft" (F I 28, ebd.) ist eine „Grundwissenschaft der Philosophie" (ebd., 46), und wie die reine Logik „alle erdenklichen Wissenschaften als Prinzipienlehre umspannt", so umgreift die reine Ethik „das Universum möglicher Praxis" (ebd.). Husserl fordert eine Wissenschaft, die, wie die Logik hinsichtlich der erkennenden Vernunft das erkennende Leben als wahres und falsches zum Thema hat, das gesamte Vernunftleben hinsichtlich des „Echten" und „Unechten" untersucht (Hua XXXV, 41). Eine solche universale Vernunftlehre müsse sich in zwei Stufen realisieren: zunächst im „universalen Studium der vollen und ganzen Subjektivität, soweit sie irgend unter möglichen Vemunftnormen steht" (ebd., 42f.), sodann „müsste sie das Spezifische der Vernunft selbst und aller Vernunftarten und sowohl nach Seiten der spezifischen Vernunfttätigkeiten wie nach Seiten der Vernunftgebilde [...] zum Thema machen" (ebd., 43). Diese zweite Fragestellung richtet sich auf die genuinen Vernunftprobleme, auf die Probleme von Evidenz und Nichtevidenz, wozu vor allem die Prüfung jeglicher Evidenz und die Auflösung „naiver Selbstverständlichkeiten" gehören (ebd., 42). Wenn jede der Vemunftlehren per se Universalität intendiert, kann von „.totalen und partialen' Vernunftlehren" nicht die Rede sein, „alle Grundarten von Intentionen und demgemäß alle Grundarten der Vernunft durchdringen sich" (ebd., 47). Der Aufbau der Vernunft kann also nicht nach dem Schema von Ganzem und Teilen verstanden werden, das der Alternative
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Vgl. Husserls Tagebuch-Eintragung vom 25. 9. 1906 (Hua XXIV, 442ff., besonders 445-447).
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einer entweder monistisch oder pluralistisch aufzufassenden Vernunft zugrunde liegt. Husserl spricht von „verschiedenen, voneinander untrennbaren Seiten [...] aber nicht Teilen" der Vernunft (ebd., 48). Deshalb kann er von der „einen universalen Vernunft" reden, ohne in einen Vernunftmonismus zu geraten. Die Rede von ,Seiten' und von der ,einen' Vernunft bleibt aber noch metaphorisch. Obgleich Husserl keine konkrete Bestimmung eines daraufhin neu zu fassenden Vernunftbegriffs erarbeitet, 6 wird doch deutlich, dass der traditionelle Vernunftbegriff hier seine Auflösung erfährt. Die Identität der Vernunft ist nicht mehr eine solche der Substanz; konkretes phänomenologisches Datum ist vernünftiges Sein nur als Korrelat mannigfaltiger Erfüllungsintentionen. Das einigende Moment, das Selbe ,der' Vernunft, scheint so eher in einem grundlegenden noetischen Zug der Erfüllungen zu liegen, der in seiner Synthesisfunktion von Husserl transzendentalphänomenologisch in Analysen der passiven und aktiven Synthesis aufgeklärt wurde. 7 Da ,Vernunft' für Husserl ein Problemtitel für Synthesen der Erfüllung aufgrund evidenter Selbstgebung ist und da alle Bewusstseinsintentionen auf Evidenz ausgerichtet sind und sich darin der teleologische Charakter des Bewusstseins zeigt, weist Vernunft selbst eine teleologische Struktur auf. Das wichtigste Mittel, um die das gesamte Bewusstseinsleben durchherrschende Tendenz auf Erfüllung zum Austrag zu bringen, d. h. das Vernunftwerden zu realisieren, erblickt Husserl in der Reflexion. Als Prüfung einer Erfüllung ist sie schon auf der Stufe der natürlichen Reflexion ein besonderer Fall der Synthesis. Die höherstufigen Formen der mundan- und dann der transzendentalphänomenologischen Reflexion machen zunehmend das zuvor verdeckte Geschehen der Vernunft patent. Dieses Patentwerden der Vernunft für sich selbst fällt schließlich mit der Selbstvergewisserung der Subjektivität als transzendentaler zusammen, so dass eine letzte Antwort auf die Frage nach der ,einen' Vernunft im Synthesisstreben des transzendentalen Selbstbewusstseins zu suchen ist. Ethik als universale Vernunftlehre kommt der Forderung nach „Lebensbefriedigung" (A V 22, 21) somit gerade dadurch nach, dass sie das Streben nach Glück in der alles umfassenden Lebenssorge als universales teleologisches Problem, als Vernunftproblem, aufdeckt. Da Praxis in unendliche Horizonte hineinlebt und somit die Möglichkeit und Notwendigkeit, Evidenz zu gewinnen, mit keiner Einzelerfahrung abschließbar ist, können nicht objektive Einsichten und Normen allein drohende Möglichkeiten der Enttäuschung und Entwertung abwehren und eine möglichst gesicherte Gesamtbefriedigung des Lebens garantieren, sondern nur die Tendenz des Strebens selbst: Reflexion als Habitus, die Haltung der Kritik, die als „Verantwortlichkeitsbewusstsein der Vernunft' alles künftige Leben ,im voraus' umgreift (Hua XXVII, 32). Daher soll Ethik als universale Vernunftlehre nicht nur das Ideal der im Unendlichen liegenden Idee eines „absolut vollkommenen, absolut seligen Lebens" aufzeigen. Angesichts der offenen Lebenshorizonte fordert die Orientierung an jenem Ideal zugleich die ebenfalls habituelle Entscheidung, dieses Ideal als ein unendliches „Vemunftwerden" (ebd., 36) mitzukonstituieren. Die Erfahrung des Zunichtewerdens vermeintlich angesetzter Ziele, aber auch die evidente Einsicht in den Gutwert von realisierten Zielen (vgl. ebd., 26) können solches „Vernunftstreben" motivieren, 8 das „dem persönlichen Leben hinsichtlich seiner jeweiligen
6
Vgl. die Kritik Karl Schuhmanns an Husserls Vernunftbegriff (Karl Schuhmann, Husserls
Staatsphiloso-
phie, Freiburg/München 1988, 186ff.). Ζ. B. in Husserls Behandlung der Frage nach der Konstitution der Einheit von Welt als Korrelat der sich mundanisierenden Vernunft in seinen Analysen zur transzendentalen Ästhetik (Hua XI). „Einzelne Unbefriedigung motiviert zur Rückschau auf die Gründe des Meßlingens. Allgemeine Unbefriedigung zur Rückschau über das ganze Leben [...]" (E III 8, 2).
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urteilenden, wertenden und praktischen Stellungnahmen die Form der Einsichtigkeit bzw., in anmessender Beziehung auf sie, die der Rechtmäßigkeit oder Vernünfiigkeif' zu verleihen vermag (ebd.). ,Vernunft' und ,Vernünftigkeit' treten hier nicht als Postulate auf, sondern erweisen sich, da ja für Husserl Vernunft mit Evidenz korreliert, als Resultate eines Gerichtetseins auf Selbstgebung, auf Evidenz. Alles selbstgegebene, in diesem Sinn vernunftmäßige Sein ist von sich selbst her nicht von individuell-subjektiver Willkür determiniert. Und je mehr Lebensvorhaben nicht von subjektiven Dispositionen, sondern von evident Erschautem bestimmt werden, desto gesicherter ist ihre Evidenz und damit die Vorbedingung für eine gewährleistete Gesamtbefriedigung des Lebens.
4. Vernunftteleologie Besagt das Vernunftstreben als das Ideal des ethischen Lebens das Unbedingte aller teleologischen Prozesse, so kamen bereits hier Ethos und Telos in einem ersten Schritt zur Deckung. Eine Radikalisierung des Verhältnisses von Ethik und Teleologie zeichnet sich dort ab, wo Husserl Ethik auf die Totalität von Welt bezieht. 9 Die Fragen einer universalen Ethik sind Fragen der Möglichkeit einer „universalen Teleologie", deren Willensquelle in der universalen Sorge des Menschen liegt, nicht nur ein Leben in standhaltender Befriedigung zu erzielen, sondern korrelativ auch eine Welt, die bejaht werden kann. Um zu wissen, wie Welt faktisch ist und welche Vernunftpotenz sie in sich birgt, muss universale Ethik sämtliche Weltwissenschaften voraussetzen (A V 22, 27). Ist Ethik nicht mehr bloß universale Vernunftlehre, die alle besonderen Vemunftlehren umspannt, sondern umfasst sie als „ethisch-teleologische Weltbetrachtung" und „universale Weltwissenschaft" (ebd., 28) sämtliche Weltwissenschaften, so ist sie in einem zweiten Schritt in Teleologie verwandelt: Sie ist eine Metadisziplin geworden, die in Gestalt einer ontologischen Teleologie alles Weltwissen in praktischer Hinsicht in sich aufnimmt. Indem für Husserl die Verwirklichung des Vemunfttelos von der Verwirklichung einer bestimmten Kulturform, genannt ,Wissenschaft', abhängt, die in einer bestimmten historischen Kultur ihre Sinnesgenesis besitzt, nimmt Husserls ethische Untersuchung der Genesis von Wissenschaft bereits im fünften Kaizo-Artikel (Hua XXVII, 59-94) ein wesentliches historisches Moment in sich auf, das im Spätwerk - in einer Art Selbstaufhebung des mundanethischen Ansatzes - in die transzendentalphänomenologische Ausdeutung der Genealogie von Theorie überleitet, wie sie die Ä'r/.v/.v-Schrift entwirft. Für Husserl fordert die Intention, dass Wissenschaft den teleologischen Prozess des Vernunftwerdens austrägt, in vernunftimmanenter Konsequenz eine Theorieform, die die Vernunftbestände noch der Setzung von ,Theorie' selbst zu enthüllen vermag - den transzendentalphänomenologischen Aufweis teleologischer Zusammenhänge: „Jeder Versuch, zur vollkommenen Evidenz durchzudringen, führt in die transzendentale Phänomenologie" (Hua VIII, 225). In dieser letztlich ins Transzendentale weisenden und - sofern dabei stets auf herzustellende Evidenz abgezielt ist - in sich auf Vernunft angelegten Tendenz wird Vernunft sich selbst immer mehr offenbar. 10
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Vgl. das Ms. „Universale Ethik" (A V 22) vom Januar 1931. „So ist Evidenz eine universale, auf das gesamte Bewußtseinsleben bezogene Weise der Intentionalität, durch sie hat es eine universale teleologische Struktur, ein Angelegtsein auf ,Vernunft' und sogar eine durchgehende Tendenz dahin" (Hua XVII, 168f.).
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Ist Welt jedoch ein Konstitutionsgebilde absoluter Subjektivität und vermag Theorie in ihrer radikalen Form als transzendentale Phänomenologie ihre Funktion im Vernunftstreben am zielgerechtesten zu erfüllen, so genügt selbst eine universale Weltwissenschaft, verstanden als mundanontologische Teleologie, nicht mehr, um das ethische Grundproblem der Bedingungen der Möglichkeit eines vollkommenen Lebens und einer vollkommenen Welt zu lösen. In Texten ab 1931 macht Husserl daher die ethische Problematik des Vernunftstrebens im Rahmen einer Teleologie zum Thema, die als Besinnung auf das absolute Faktum der transzendentalen Subjektivität und aufbauend auf phänomenologische Befunde ontologische und metaphysische Gesichtspunkte miteinander verknüpft. Führte die Frage nach der Möglichkeit ethischen Lebens Husserl zur Anerkennung eines Vernunftstrebens, dessen immanenter teleologischer Sinn auf die Überschreitung der WeltGrenze durch die Phänomenologie zielt, so ist die Welt-Grenze sozusagen der Spiegel, der die Ideale mundaner teleologischer Entwürfe reflektiert. Im Überstieg über diese Grenze, in der Lösung vom Gespiegelten hin zum Aufweis dessen, was in der Tiefe mundanen Entwerfern diese , Bilder' auf die Oberfläche des Spiegeins projiziert, entdeckt die Phänomenologie die Unendlichkeit des teleologischen Strebens der transzendentalen Subjektivität in ihrer permanenten Verendlichung zur mundanen Subjektivität und darin das letzte ,Maß' für das ethische Leben: Das Vollkommenheitsideal ist deswegen ein unerreichbares (dass es unerreichbar war, wusste bereits die mundane teleologische Betrachtung), weil die transzendentale Intersubjektivität in der Konstitution von Welt selbst an kein Ende kommt. Deswegen genügt es nicht, sich auf das Vollkommenheitsideal im Sinn einer mundanen Ethik, im Horizont des Mundanen, zuzubewegen, es muss überstiegen werden - hin auf die Übernahme der Gewissheit, dass die universale Teleologie als „Form aller Formen" (Hua XV, 380) selbst nie als vollendet zu denken ist. Das Vernunftstreben als Korrelat der im Weltleben zunächst verborgenen transzendentalen Subjektivität deckt sich mit der Bewegungsrichtung selbst, die von Intention zu Erfüllung verläuft. Die universale Lebenssorge, veranlasst von der mit der Konstitution von Welt aufgebrochenen Differenz von Intention und Erfüllung und damit verwiesen an den Welthorizont, verbleibt dagegen innerhalb dieses Verweisungsbezugs. Das Vernunftwerden als transzendentales kennt diese Grenze nicht; da seine Voraussetzung nicht jene Differenz, sondern das ,vor' dieser Differenz liegende System von Intention und Erfüllung selbst ist, steckt die Welt für es nicht die Grenze ab. Im Weltbezug ist Vernunftstreben auf Erfüllung primär nicht im Modus der Sorge, sondern im Modus der Schau bezogen und korreliert daher mit doxischer Aktivität; sofern es aber im Weltleben operiert, steht es mehr oder minder auch im Umwillen der Sorge. Sorge wie Vernunftstreben sind auf Vollkommenheit gerichtet: Sorge im Modus eines Sicherungsbestrebens, da sie Vollkommenheit als Abwesenheit erfährt, das Vernunftstreben im Modus der sich intensivierenden Schau, die den Glauben an die Möglichkeit vollkommenen Erfülltwerdenkönnens, der in der Welt an der Grenze des Welthorizonts stets zerschellen muss, durch ,Vernunftgründe' stärkt. Die Schau vermag sich aber nur zu intensivieren, weil es die Sorge ist, die dadurch, dass sie die Sicherung der Praxis nur im Horizont der Welt besorgt, gerade die Grenze zieht, die für die Schau zum Motiv wird, sie zu überschreiten. Das Telos, das dem Vernunftstreben dabei implizit vorgezeichnet ist, liegt dort, wo es zugleich seinen Ursprung hat: in der konstituierenden transzendentalen Subjektivität, doch im ,Modus' ihrer vollen Patenz. Legt die Sorge Vollkommenheit im Welthorizont aus, das heißt, substantialisiert und verendlicht sie mit den Mitteln des auf Binnenweltliches bezogenen Verstehens das eigentlich .Vollkommene', Unendliche: die transzendentale Subjektivität in ihrer unaufhörlichen Selbstkonstitution, so tendiert das Vernunftstreben dahin, diese Unendlichkeit des Transzendentalen patent zu machen.
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Ist nun aber alles Seiende relativ auf die transzendentale Subjektivität und diese allein - als ,Form aller Formen' - „in sich und für sich" (Hua XVII, 279)? Und ist in diesem Sinn auch die Stelle in der Afrä/s-Schrift zu verstehen, wo es heißt, „daß Vernunft keine Unterscheidung in .theoretische', praktische' und ästhetische' und was immer zuläßt" (Hua VI, 275)? Dem transzendentalen Standpunkt entspricht zwar nur die eine Vernunft, aber das bedeutet nicht, dass es nur diese Vernunft gäbe. Auch für den späteren Husserl behält alle Weltwahrheit, mag sie - transzendental betrachtet - auch der einen transzendentalen Vernunft zugehören, als solche ihr Recht (vgl. Hua XVII, 284). Somit ist Husserls Aussage, dass Vernunft eine einheitliche ist, gerade als Ausdruck von Pluralität zu nehmen: Denn diese Aussage ist dann selbst eine Relation." In dieser Relation, bezüglich der transzendentalen Subjektivität, gibt es nur eines: das Vernunftgeschehen der transzendentalen Intersubjektivität selbst. Doch besteht nicht nur diese Relation. Nach der transzendentalphänomenologischen Epoche weiß sich das Weltleben als im Grunde identisch mit der transzendentalen Subjektivität: Es ist transzendentale Subjektivität und ist als mundane doch zugleich das Andere der Transzendentalität. Diese ,Selbstfindung' des Weltlebens bedeutet in eins allererst die Möglichkeit der Anerkennung einer wesenhaften Selbst-Differenz, die, solange es Menschen gibt, die als solche stets Menschen-in-der-Welt sind, unaufhebbar ist. Das Verhältnis von Universalität und Pluralität kann - abgesehen von dem Fall, dass Mannigfaltigkeit Einheitlichkeit generell ausschließt - auf zweifache Weise begriffen werden: einmal derart, dass Einheitlichkeit in sich Mannigfaltigkeit ermöglicht, und zweitens, dass Mannigfaltigkeit einerseits und Einheitlichkeit mit integrierter Mannigfaltigkeit andererseits, wenn auch nicht zugleich in der Einheit desselben subjektiven Bezugs, bestehen, so doch je wechselnden Einstellungen zugänglich werden.12 Letzteres trifft auf das Denkmuster zu, mit dem bei Husserl das Verhältnis von Einheit und Vielheit bestimmt wird: dass eines das andere umgreift oder eines das andere in sich trägt, wie die Praxis die Theorie und vice versa, wie praktische Vernunft die theoretische und vice versa, wie Vernunftlehre die Wissenschaftslehre und vice versa, so auch Transzendentalität die Mundanität und vice versa: Für den transzendentalen Standpunkt ist Mundanität Transzendentalität, im Weltleben ist Transzendentalität nicht nur das im Sinn des Nichtvorgegebenen Verhüllte, sondern - nach der Wiederverweltlichung des Phänomenologen - als Horizont impliziert. Im Verhältnis des Phänomenologen zum Mundanen, zum Transzendentalen und wieder zum Mundanen zeigt sich somit Differenz, letzte Einheit aller Differenz und schließlich wieder Differenz, die diese Einheit noch mit umgreift, ohne sie jedoch aufzulösen. Diese Differenz ist schlechthin unaufhebbar, anders gewendet: Praxis und Doxa bzw. Sorge und Vernunft sind einander nicht restlos aufzurechnen.
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Vorschnelle Deutungen finden hierin einen Beleg für einen Monismus, der Husserls Vernunftkonzeption untergeschoben wird. Vgl. ζ. B. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 3 1991, 264f.: „Die Weite des Vernunftbegriffs [Husserls] war nur ein vorläufiges Zugeständnis, am Ende geht es um unteilbare Einheit." Diese , Dialektik' ist nicht eine solche der „dialektischen Selbstbeziehung des Ganzen, die die Vielheit der Teile impliziert und in Form eines redundanten Prozesses expliziert", welche Gloy und Rudolph als eine Erklärungsmöglichkeit des Verhältnisses von Einheit und Vielheit nennen (Karen Gloy, Enno Rudolph (Hg.), Einheit als Grundfrage der Philosophie, Darmstadt 1985); denn hierbei ist Einheit schon vorausgesetzt, während es in unserem Fall um ein Wechselspiel geht, in dem das Prinzip von Einheit selbst zur Disposition steht.
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Phänomenologie jenseits der Rationalität Patockas Kritik an Husserls Vernunftoptimismus
1. Phänomenologie und Vernunft bei Edmund Husserl Der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, wies immer wieder darauf hin, wie wichtig Philosophie für die Entwicklung und Vervollkommnung der Menschheit und wie wichtig für eine solcherart gelingende Philosophie ein streng methodisch und vor allem rational gehaltenes Vorgehen sei. Schon 1911 betonte er in seinem programmatischen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, dass es gegen die theoretische und praktische, aus der Vielfalt einander bekämpfender philosophischer Ansätze herrührenden Orientierungslosigkeit seiner Zeit „nur ein Heilmittel [gibt]: wissenschaftliche Kritik und dazu eine radikale, von unten anhebende, in sicheren Fundamenten gründende und nach strengster Methode fortschreitende Wissenschaft: die philosophische Wissenschaft" (Hua XXV, 57). 1 In seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie geht Husserl über diesen eher pragmatischen Standpunkt noch hinaus, indem er konstatiert, dass „Philosophie, Wissenschaft [...] demnach die historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchen eingeborenen' Vernunft" (Hua VI, 13f.) sei. Daraus folgert er: So ist Philosophie nichts anderes als Nationalismus', durch und durch, aber nach den verschiedenen Stufen der Bewegung von Intention und Erfüllung in sich unterschiedener Rationalismus, die r a t i o in d e r s t ä n d i g e n B e w e g u n g d e r S e l b s t e r h e l l u n g , angefangen vom ersten Einbruch der Philosophie in die Menschheit, deren eingeborene Vernunft vordem noch ganz im Stande der Verschlossenheit, der nächtlichen Dunkelheit war. (Hua VI, 273)
Die Aufgabe des Philosophierenden, der selbst die Bewegung der Selbsterhellung vollzieht, ist die eines „Funktionärs der Menschheit" (vgl. Hua VI, 15), der sie zu einem von reinen Vernunftnormen geregelten Leben zu führen hat (vgl. Hua XXV, 3). Husserl zeigt sich mit solchen Überzeugungen als Denker der Aufklärung, der dem kantischen sapere aude verpflichtet ist: Mittels vernünftiger Überlegung und rational geleiteter Lebensführung kann sich seiner Ansicht nach die Menschheit vervollkommnen. Alle theoretischen wie praktischen Probleme können durch rationales Denken einer gültigen Lösung zugeführt werden und wo sich solche Lösungen noch nicht ergeben haben, mangelt es an Rationalität und an radikal und vorurteilsfrei durchgeführten Untersuchungen. Husserl versteht die Rationalisierung des menschlichen Daseins als fortlaufenden, linearen Prozess. Die von ihm angeführte
Soweit nicht anders gekennzeichnet zitiere ich Husserl unter Angabe des Bandes direkt im Text nach der Husserliana-Ausgabe: Edmund Husserls Gesammelte Werke, auf Grund d. Nachlasses veröffentl. v. Husserl-Archiv (Leuven) i. Verb. m. Rudolf Boehm unter Leitung v. Samuel Ijsseling, Den Haag 1950ff. (= Hua).
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„ s t ä n d i g e B e w e g u n g d e r S e l b s t e r h e l l u n g " (Hua VI, 273) stellt - mathematisch gesprochen - eine asymptotische Annäherung an den Grenzwert vollkommen verwirklichter Rationalität dar. Allerdings ist Husserls Position scharf von rationalistischen und positivistischen Lehren zu unterscheiden. Sein Begriff von Vernunft war niemals auf den einer (natur) wissenschaftlichen Vernunft eingeschränkt, vielmehr verstand er unter Rationalität eine Art „Wohlbegründetsein unserer Auffassungen" 2 - was ihn in die platonisch-sokratische Tradition des Ideals vom logon didonai stellt. So formuliert Husserl etwa in der Formalen und transzendentalen Logik die Forderung, „kein Wissen gelten zu lassen, für das nicht Rechenschaft gegeben werden kann aus ursprünglich ersten und dabei vollkommen einsichtigen Prinzipien, hinter die zurückzufragen keinen Sinn mehr gibt" (HUA 17, 8). Husserls Idee einer Philosophie als strenger Wissenschaft hatte gerade nichts damit zu tun, die Methoden und Arbeitsweisen der positiven Wissenschaften auf das Gegenstandsgebiet der Philosophie auszudehnen, sondern das Ideal einer letzten Begründung in die Philosophie einzuführen und alle philosophische Erkenntnis mittels letzter Begründung auf eine absolut unerschütterliche Grundlage zu stellen. Daraus ergibt sich auch ein Aspekt der geistesgeschichtlichen Bedeutung seiner Philosophie: Sie stellt einen zwischen Naturalismus und Positivismus einerseits, Lebensphilosophie und Irrationalismus andererseits vermittelnden dritten Weg dar. Auf diesem Weg glaubte Husserl die Krise der Wissenschaften erklären und lösen zu können. Die Krisen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts - Kriege, gesellschaftliche Umbrüche, geistige Orientierungslosigkeit - führte er bekanntlich über eine Krise der Wissenschaften auf eine Krise der Philosophie zurück - dass diese nämlich nicht in einer wissenschaftlichen Verfassung sei: Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität, eine zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäischen Menschentums selbst in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Lebens, in seiner gesamten ,Existenz'. (Hua VI, 10)
Die Wissenschaften hatten aufgrund zunehmender Formalisierung und Mathematisierung ihre anschaulichen Grundlagen in dem von Husserl „Lebenswelt" genannten Sinnfundament der natürlichen Erfahrung verloren und waren zu einem rein technischen Hantieren verkommen. Die Methode der positiven Wissenschaften hatte sich als die wissenschaftliche Methode schlechthin etabliert. Das hatte zu der beispielsweise durch Carnap 3 explizierten Forderung geführt, all die Fragen, die mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode nicht fassbar sind, als Relikte einer metaphysikschwangeren, mit sinnlosen Begriffen operierenden Sprache aus der Philosophie auszuklammern. Eine solche Auffassung von Philosophie bedeutete aber für Husserl eine Enthauptung der Philosophie (vgl. Hua VI, 7). Dieser naturwissenschaftlich orientierten Auffassung setzte Husserl sein Konzept einer Philosophie als transzendentaler Phänomenologie entgegen. In dieser re-etablierte er die Anschaulichkeit der Lebenswelt als Quell allen, also auch des wissenschaftlichen Sinnes:
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Dagfinn Föllesdal, „Rationalitat in Husserls Phänomenologie", in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Vernunft und Kontingenz, Freiburg/München 1986,41. Vgl. Rudolf Carnap, „Uberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache", in: Erkenntnis, Hamburg 2/1931, 219-241.
PATOCKAS KRITIK AN HUSSERLS VERNUNFTOPTIMISMUS
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[M]it einem Worte die Lebenswelt, diese ,bloß' subjektive und relative, in ihrem nie stillhaltenden Fluss der Seinsgeltungen, deren Verwandlungen und Korrekturen ist - so paradox das erscheinen mag - der Boden, auf dem die objektive Wissenschaft ihre Gebilde ,endgültiger', .ewiger' Wahrheiten, der ein für allemal und für jedermann gültigen Urteile .aufbaut'. (Hua VI, 465)
Rationalität bedeutete für Husserl, dieser letzten Quelle der Erkenntnis eingedenk zu sein und die Operationen durchschaut zu haben, die das Anschauliche der Lebenswelt schließlich als Erkenntnis festzuhalten erlauben. Auf Husserls Theorie der Intentionalität, die solche Gegenstandskonstitution ermöglicht, kann hier nicht eingegangen werden, aber das Verständnis dieser Konstitution kommt für Husserl, wie er in den Cartesianischen Meditationen ausführt, vollkommener Rationalität gleich: Echte Erkenntnistheorie ist danach allein sinnvoll als transzendental-phänomenologische, die [...] es ausschließlich zu tun hat mit der systematischen Aufklärung der Erkenntnisleistung, in der sie durch und durch verständlich werden müssen als intentionale Leistung. Eben damit wird jede Art Seiendes selbst, reales und ideales, verständlich als eben in dieser Leistung konstituiertes .Gebilde' der transzendentalen Subjektivität. Diese Art Verständlichkeit ist die höchste erdenkliche Form der Rationalität. (Hua I, 118)
Passagen wie die gerade zitierte machen Föllesdals Einschätzung plausibel, dass es „ganz eindeutig" sei, dass sich Husserl „fast ausschließlich" mit Rationalität im Sinne des „Wohlbegründetsein[s] von Auffassungen" 4 beschäftigt habe. Föllesdal vermisst die Behandlung von Handlungsrationalität, die „eine Sache der Frage [ist], wie man seine Mittel am sinnvollsten einsetzt". 5 Nach Föllesdal fällt es nicht unter die Frage nach Handlungsrationalität, wie man zur Entscheidung für eine bestimmte Handlung kommt; so etwas wie „Entscheidungsrationalität" erwägt auch Föllesdal nicht - allerdings stellt die Nichtberücksichtigung von Entscheidungsrationalität wohl ein ganz wesentliches Defizit der Husserlschen Theorie dar. Dieses ist - wie Föllesdal im Blick auf Husserls Intersubjektivitätstheorie festhält - auf eine Unterbelichtung des Handlungsbegriffs zurückzuführen: Es kommen darin [in der Theorie der Intersubjektivität, C.R.] überhaupt keine Handlungen vor, obwohl die Handlungen eines Menschen für das Verstehen seiner Auffassungen und Werte von großer Bedeutung und darum für die Konstitution der intersubjektiven Welt ein sehr wichtiger Zugang sind. 6
In diesem Sinne muss man unter Rekurs auf Husserls oben zitierte eigene Aussagen in den Cartesianischen Meditationen festhalten, dass ohne Reflexionen auf Handlungen und auf Entscheidungen für Handlungen die letzte Verständlichkeit der Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität nicht möglich ist und damit auch die höchste erdenkliche Form von Rationalität, nämlich transzendental-konstitutive Verständlichkeit, nicht erreicht werden kann.
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Dagfinn Föllesdal, „Rationalität", 41. Ebd., 40. Ebd., 51.
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2. Weiterentwicklung der Phänomenologie durch Jan Patocka Dies hat auch der tschechische Husserlschüler Jan Patocka so gesehen, der zwar den phänomenologischen Ansatz von Husserl übernommen hat, allerdings nicht dessen Vernunftoptimismus. Außerdem folgte Patocka seinem Lehrer nicht in der Überzeugung, dass Philosophie nur in dem Husserl vorschwebenden wissenschaftlichen Sinne möglich und sinnvoll sei. Patocka entwickelte vielmehr Husserls phänomenologisches Programm mit der Praxis als Zielpunkt weiter - was auch mit einer Neudefinition der Rolle der Rationalität verbunden war. In Patockas Philosophie spielt der Begriff der Vernunft als Terminus nur eine untergeordnete Rolle, genauso der Begriff der Vernünftigkeit des Menschen. Die folgenden Überlegungen basieren also im Wesentlichen nicht auf expliziten Äußerungen Patockas über Vernunft und Vernünftigkeit, sondern auf Rekonstruktionen der Bedeutung, die diesen Konzepten im Rahmen seiner Philosophie zugedacht werden müssen. Husserl machte sich bekanntlich sehr viel Mühe damit, die phänomenologische Methode zu perfektionieren. Er unterwarf sie immer wieder Revisionen, die auch wichtige Momente derselben betrafen - man denke etwa an den nach und nach immer bedeutsamer werdenden Aspekt der Teleologie und der Geschichtlichkeit. Aber dass Husserl letztlich hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückgeblieben ist und es gerade nicht schaffte, eine Philosophie zu entwickeln, die ein - wie von ihm als Forderung aufgestellt - „von reinen Vernunftnormen geleitetes Leben ermögliche" (Hua XXV, 3), ist auf sein Unverständnis für ontologische Fragestellungen zurückzuführen. Er sah nicht den Unterschied zwischen der epistemologischen Ebene, auf der die Frage nach der Konstitution des Sinnes von Gegenständlichkeit gestellt werden kann und muss, und der ontologischen Ebene, auf der die Frage nach dem Sein von Gegenständlichkeit bzw. dem Sinn des Seins virulent ist. Nach Patocka ist dies und daraus folgend auch das Scheitern von Husserls Programm in einem methodischen Mangel begründet, nämlich: Husserl fehlt eine Theorie der Reflexion. Eine Theorie der Reflexion setzt eine Theorie der Subjektivität voraus, eine Theorie darüber, was diese Subjektivität ist und welchen Seinscharakter sie hat, wie sie ist - sie setzt eine ontologische Theorie voraus. (EAS, 82)
Die verblüffende These Patockas ist es also, dass Husserl letztlich einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit aufgesessen ist: Er dachte zu wissen, was er macht, wenn er reflektiert. Diese vermeintliche Verständlichkeit verdeckte nach Patocka die Erkenntnis der Notwendigkeit, eine ontologische Theorie zu entwickeln. Folgerichtig unternahm Patocka den Versuch, auf der Grundlage einer ontologischen Theorie Phänomenologie als reflexive Theorie wieder neu zu errichten. Damit setzte er sich methodisch von Husserl ab, der bis in seine letzten Schriften in der eidetischen und der transzendentalen Reduktion die zwei wesentlichen Grundpfeiler der phänomenologischen Methode sah (vgl. Hua I, 106). Die transzendentale Reduktion - konzipiert als Reduktion auf Immanenz (vgl. Hua VI, 248) - sollte durch die Ausschaltung der Generalthesis der natürlichen Einstellung (vgl. Hua III/I, 60) zu einer Haltung universeller Epoche (vgl. ebd., 65) führen, in der die Welt rein als Phänomen sichtbar ist (vgl. Hua VI, 155). Objektive, mundane Geltungen gibt es in dieser Welt nicht mehr, die Phänomene sind
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Jan Patofika, „Vom Erscheinen als solchem", in: ders., Texte aus dem Nachlass, hg. v. Helga BlaschekHahn und Karel Novotny, Freiburg/München 2000 (= EAS).
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PATOCKAS KRITIK AN HUSSERLS VERNUNFTOPTIMISMUS
Korrelate der die Sinnkonstitution leistenden Subjektivität. Daneben dachte Husserl der eidetischen Reduktion die Funktion zu, das Wesen der Dinge vor Augen zu stellen (vgl. Hua III/I, §3); bei dieser Operation wird vom Speziellen eines Gegenständlichen abstrahiert, wodurch das Wesen des Gegenständlichen bzw. das Wesen einer Gegenstandsklasse zutage tritt. Insbesondere die tranzendentale Reduktion und die mit ihr bei Husserl notwendig verbundene Epoche führt also aus der Welt hinaus und öffnet einen Graben zwischen mundaner und transzendentaler Sphäre. Vor allem der transzendentalen Sphäre widmete sich Husserl fortan, die mundane Sphäre als Sphäre der natürlichen Einstellung ist für ihn - abgesehen davon, dass sie hyletisches Material liefert - nicht von philosophischem Interesse. Dieses Desinteresse stößt auf Patockas Kritik: Trotz der großen Betonung der wichtigen Rolle, die der Erfassung der natürlichen Welt bei Husserl zukommt, ist ihre Strukturanalyse niemals durchgeführt worden, drang man nie bis zum Menschen in den konkreten Phänomenen von Arbeit, Herstellen, Handeln, künstlerischem Schaffen vor. (KE, 26) 8
Die mit der transzendentalen Reduktion verbundene Wendung zur Immanenz (vgl. EAS, 121) ist in Patockas Augen der Grund für Husserls verfehlte, aber bei ihm implizierte Ontotogie des Subjekts: Husserl meinte nach der transzendentalen Reduktion nur noch das rein Subjektive vor sich zu haben, er war der Ansicht, dass nur auf diesem Feld eine Aufklärung der Konstitution und damit auch die Verwirklichung des seiner Meinung nach dem Menschen innewohnenden Telos hin zu vollkommener Rationalität zu leisten sei. Dass er aber mit diesem Schritt hin zur Immanenz genau die Phänomene, an denen er eigentlich interessiert war, nämlich die Phänomene des Lebens und Handelns in der alltäglichen Welt, aus der Untersuchung ausschloss, kam ihm nicht in den Sinn - genauso wenig wie die Tatsache, dass er damit das menschliche Sein auf nur eines seiner Momente, nämlich die reflexive Kontemplation, reduzierte. Patocka kritisierte Husserls Konzeption der Phänomenologie, um die Konsequenz des Verlusts der Mundanität, die für ihn wesentlich zum Sein des Menschen hinzugehört, abzuwenden. Kern seiner der Kritik folgenden Revision der Phänomenologie ist die Ablösung der Epoche von der Reduktion - und damit von einer Operation, die - nicht zuletzt wegen ihrer Verwendung in den modernen Wissenschaften - eine rationale Methode par excellence darstellt: Der Gedanke der Epoche ist von der Reduktion auf Immanenz in jedem Sinne unabhängig. Epoche bedeutet die absolute Freiheit der Gedankenreflexion von jedwedem bindenden und verbindenden Inhalt, die absolute Autonomie des Erscheinens als solchem gegenüber dem Erscheinenden und seiner Struktur, aber mit einer Immanenz hat sie nichts zu tun. (EAS, 163)
Patocka betont die Weltverbundenheit der Reflexion und des Reflektierenden und will damit den Graben zwischen Mundanität und Transzendentalität überbrücken. Denn auch in der Haltung der Epoche ist der Mensch ein Teil der Welt - und wenn er dabei auf sich selbst als Teil der Welt, als Konstituens und Moment der Welt reflektiert, vollzieht er eine dialektische Bewegung; Phänomenologie also wird dialektisch. Patockas Kritik bedeutet eine Dialektisierung der Phänomenologie, die ohne einen Rückzug auf Immanenz und dem damit verbundenen Ausstieg aus der Welt auskommt: g Jan Patocka, Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, Ausgewählte Schriften Bd. 2, hg. v. Klaus Nellen u. Jin Nemec, Stuttgart 1988 (= KE).
in:
ders.,
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Die Reflexion ist in ihrem Wesen dialektisch, und dies bedeutet: Um einen Standpunkt über der Natur zu erreichen, darf die Reflexion sich nicht völlig von der Welt abtrennen, darf sie nicht die Position eines reinen In-sich-selbst-Ruhens im Reich vollständiger Immanenz beziehen. Es gibt keine Stellung des Geistes über der Welt, die nicht zugleich eine Stellung in der Welt wäre. Im Geist selbst ist die Welt immer schon enthalten. (NWpP, 195) 9
Die Einführung der Dialektisierung stellt aber auch nichts weniger als die Abkehr von Husserls Vernunftbegriff dar. Es ist bezeichnend für Husserls philosophischen Stil, dass er eine solche Dialektik nicht zugelassen hat - und damit dem kantischen Vernunftideal eines linearen, von den regulativen Ideen geleiteten Denkens treu geblieben ist. Sein Philosophieren ist eines der nicht-dialektischen Vernunft: Jede einmal erlangte Erkenntnis ist von bleibender Dauer, ist ein verfügbarer Besitz - anderenfalls würde es sich nicht um eine echte, philosophisch haltbare Erkenntnis handeln. Ein dialektischer Prozess, der das Erkannte gleich wieder modifiziert, und zwar so, dass nur gleichzeitig mit der Modifikation Erkenntnis oder Einsicht gewonnen werden kann, war für Husserl inakzeptabel. Deshalb war er gezwungen, seine Philosophie so zu konzipieren, dass der Philosophierende als Funktionär der Menschheit außerhalb des Veränderungsprozesses und damit auch außerhalb des untersuchten Systems steht. Allerdings führte dies zu der bereits benannten Konsequenz, dass die Phänomenologie Husserls ihren genuinen Gegenstandsbereich verlor. Diese Konsequenz kann nur dadurch verhindert werden, dass die Selbstbezüglichkeit der Phänomenologie zugelassen wird: Die Phänomenologie wehrt sich vergeblich gegen ihre Dialektisierung, weil gerade ihre tiefsten reflexiven Befunde den Geist in seiner dialektischen Natur zeigen [...]. (NWpP, 195)
Das reflektierende, mundane Ich reflektiert auf sich selbst als reflektierendes, mundanes Ich. Dabei kann es sich selbst niemals in unmittelbarer Originalität erfassen, es kann nie ein allgemeines Wesen von sich festhalten, sondern sich nur im Entschwinden erfassen. Diesem Gedanken der reflexiven Nichterreichbarkeit des Subjekts, der auf die ontologische Differenz hindeutet, hat Patocka schon in der ersten Ausgabe seiner Habilitationsschrift durch die Rede von der „tieferen Subjektivität [...], die im üblichen Wortsinn schon nicht mehr existent, schon nicht mehr ein Seiendes unter anderen ist" (NWpP, 49), Ausdruck verliehen. Bei Patocka findet sich also ein grundsätzlich anderes Verständnis der Subjektivität als bei Husserl - und damit verbunden auch eine grundsätzlich andere Bewertung von Rationalität. Patocka betont das ontologische Faktum, dass das Ich eine „strukturierte Tätigkeit" (BmE, 308), 10 nicht eine primär meditierende und konstituierende, primär rational verfasste Subjektivität sei. Reflexion als Moment des inneren Handelns und Verhaltens und nicht als ein rein rationaler Akt zeigt sich als wesentliche Äußerung des menschlichen Daseins, das sich so seine Welt erschließt: Das ursprüngliche Tor zur natürlichen Welt ist nicht die kontemplative Reflexion, sondern die Reflexion als Bestandteil der Praxis, als Teil des inneren Verhaltens und Handelns. (NWpP, 241)
Patocka schmälert damit die Bedeutung der Rationalität: Bei ihm ist sie nicht das Ziel des menschlichen Daseins, sondern ein Moment im Prozess der menschlichen Entwicklung.
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Jan Patocka, Die natürliche Welt als philosophisches Problem, in: ders., Ausgewählte Schriften Bd. 3. Phänomenologische Schriften I, hg. v. Klaus Nellen u. Jirf Nemec, Stuttgart 1990 (= NWpP). Ders., Die Bewegung der menschlichen Existenz, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Phänomenologische Schriften II, hg. v. Klaus Nellen, Jiri Nemec u. Ilja Srubar, Stuttgart 1991 (=BmE).
PATOCKAS KRITIK AN HUSSERLS VERNUNFTOPTIMISMUS
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Dies bedeutet freilich nicht, dass Patocka Rationalität als lebensfeindlich ansieht. So wie Kant schrieb, dass er die Vernunft in Schranken weisen müsse, um Platz für den Glauben zu schaffen," kann man im Blick auf Patocka sagen, dass er die bei Husserl dominierende Stellung der Rationalität relativiert hat, um für die Handlung, die lebensweltliche Aktivität Platz zu schaffen. Patocka betonte immer wieder - insbesondere mit seiner Bewegungslehre, auf die kurz noch einzugehen sein wird dass die kontemplative Reflexion, die die Verwirklichung der Rationalität des Menschen darstellt, ein wesentliches Moment des menschlichen Daseins ist - aber eben nicht das Wesen des menschlichen Seins allein ausmacht. Patockas ontologische Grundthese, dass der Mensch ein primär handelndes Wesen ist, findet nicht zuletzt darin einen Ausdruck, dass er dem von Husserl im Rahmen seiner Reflexionsphilosophie eingeführten Terminus „Epoche" eine praktische Bedeutung gibt. Ist Epoche im Sinne Husserls, nämlich als Urteilsenthaltung, ein negativer Akt, der von der kontemplativ-meditierenden Subjektivität vollzogen wird, so spricht ihr Patocka eine positive Bedeutung zu, nämlich Zeugnis der menschlichen Freiheit zu sein: Die ε π ο χ ή ist ein evident immer vollziehbarer Akt, der von keinerlei objektiven Bedingungen abhängt wie Thesen, deren Sicherheit und Zweifelhaftigkeit nicht bei uns steht. Diese Freiheit des Epoche-Aktes hängt mit der Absenz jeder These in ihm zusammen, ist eigentlich eins mit ihr: die ε π ο χ ή ist also mit der Freiheit des Gedankens selber eins, mit seiner Unabhängigkeit von jedwedem Inhalt, jeder Gegebenheit, jeder .Voraussetzung'. (EAS, 141)
Einerseits drückt sich in der Epoche also gedankliche Freiheit durch Absehen von der speziellen Seiendheit eines Seienden auch bei evidenter Gegebenheit aus (vgl. EAS, 253), andererseits zeigt sich die Epoche dadurch als Freiheit des Handelns, dass ihr Vollzug nicht äußerlich bedingt ist (vgl. EAS, 141). Phänomenologie in der spezifischen Ausarbeitung Patockas, nämlich als Lehre vom Erscheinen, wird durch diesen revidierten Sinn von Epoche möglich: Denn er erlaubt es, das Phänomen des Erscheinens selbst in den Blick nehmen, wodurch sich die ontologische Differenz auftut - und zwar ohne durch die bei Husserl mit der Epoche notwendig verbundene Reduktion die Welt zu verlieren. Patocka ordnet Husserls epistemologisch und konstitutionstheoretisch orientiertes „Prinzip der Prinzipien" (vgl. HUA 3/1,51) einem neuen „Prinzip der Ursprünglichkeit" unter: ,[D]as Prinzip aller Prinzipien', daß die Anschauung die letzte Quelle der Wahrheit ist, muss vor dem Prinzip der Ursprünglichkeit weichen. Es gibt etwas Ursprünglicheres als die Anschauung, und das ist die Quelle der Epoche selbst, die Freiheit. (EAS, 248)
Damit nehmen bei Patocka philosophische Überlegungen nicht bei einer (kontemplativen) Analyse des anschaulich Gegebenen ihren Ausgang, sondern bei der Bedingung eines jeglichen Handelns par excellence, nämlich der Freiheit. Es ist wichtig festzuhalten, dass Patocka die Bedeutung von Husserls Ergebnissen bezogen auf epistemologische und konstitutionstheoretische Zusammenhänge nicht bestreitet. Mit Husserl ist er der Meinung, dass das Gegenständliche der Erkenntnis von der Subjektivität konstituiert wird und dass es sich dem Subjekt aspekthaft zeigt. Allerdings trennt er diese Ebene strikt von der ontologischen: Hier steht nicht wie bei Husserl das absolute Sein der Subjektivität im Mittelpunkt, sondern das Sein der Welt bzw. des phänomenalen Feldes. Dieses ist zwar nicht autonom, aber doch ein eigenes Sein, nämlich eines, das im Zeigen einem wesentlich a-rationalen und nicht-subjektiven Akt - besteht (vgl. BmE, 303). Die
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Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 2 1787, Β XXX.
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Dualität zwischen demjenigen, das als Erscheinendes erscheint, und demjenigen, dem das Erscheinende erscheint, bezeichnet Patocka als „Grundgesetzlichkeit des Erscheinens": Die Grundgesetzlichkeit des Erscheinens ist natürlich, daß es immer eine Dualität gibt desjenigen, dem und desjenigen, das erscheint, daß das Erscheinen nur Erscheinen in dieser Dualität ist, aber keineswegs, daß dasjenige, dem Erscheinendes erscheint, die Erscheinung schafft, leistet oder gleichwie erzeugt, .konstituiert' usw. (EAS, 98)
Das Erscheinen selbst analysiert Patocka auf eine dreifaltige Struktur hin, in die Husserls Entdeckung des Wie der Gegenbenheit aufgenommen ist: Als zur Struktur des Erscheinens als solchem gehörig betrachten wir diese Allheit des Erscheinenden, das große Ganze, weiter dasjenige, dem es erscheint, die Subjektivität (welche nicht mit einem geschlossenen Einzelsubjekt zu identifizieren ist, sondern eine pronominal-leere Struktur hat) und das Wie des Erscheinens, zu welchem die Polarität Erfüllung-Entleerung gehört (wobei Entleerung nie eine absolute Leere, ein Nichts bedeutet). Zu dieser Struktur rechnen wir die eine ganzheitliche Wirklichkeit, welche diesen Gegensatz von ErfüllungEntleerung überwölbt und das Leere auf Erfüllung und die Erfüllung auf möglichen Übergang ins Leere hinweisen lässt. (EAS, 129)
Die Aneignung der Welt durch das Ich, die sich als eine Art „Subjektivierung", als Phänomenalisierung der Welt ereignet, in der das Subjekt der Welt „vereignet" wird (EAS, 171), geschieht in diesem Zusammenspiel von Zeigen und Zeigenlassen - und nicht im Medium der Rationalität. Als „asubjektiv" qualifiziert sich dieser philosophische Entwurf dadurch, dass er die Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens überhaupt aufzeigt und nicht eine Philosophie des transzendentalen, rationalen Subjektes ist (vgl. EAS, 52).
3. Menschliche Praxis: Die Bewegung der Existenz Patocka bestimmt das Wesen der menschlichen Existenz als Bewegung. Im Medium der Bewegung findet der Kontakt des Menschen mit der als vorgängiges Ganze erlebten Welt statt: Das menschliche Leben ist also durch ein vorgängiges Ganzes charakterisiert [die Welt, C. R.]. Wie soll man aber die Beziehung kennzeichnen, die wir zu demjenigen einnehmen, was im Gesamthorizont auf- und untergeht, was in ihm, auf seinem Hintergrund erscheint? Ich vermute, daß der Leitfaden zu dieser Charakteristik unserer Begegnungen in der Welt die Tatsache ist, daß das Medium dieses Begegnens die Bewegung ist - unsere eigene Bewegung im Rahmen der Welt und alles dessen, was in ihr vorkommen und erscheinen kann. (BmE, 135)
Bewegung versteht Patocka als Seinsweise eines Zwischenseins zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Die leibliche Bewegung leistet die Phänomenalisierung der Phänomene; Patocka nimmt hier Husserls Motiv der Kinästhese auf. Für ihn stellt das Ich einen „Realisator" im Leib dar (vgl. EAS, 87). Die Bewegung der menschlichen Existenz sieht Patocka entsprechend den drei Ekstasen der Zeitlichkeit in dreifaltiger Struktur: Sie ist als Bewegung der Verwurzelung auf Vergangenes gerichtet, als Bewegung der Selbstentfremdung auf Gegenwärtiges und als Bewegung der Wahrheit auf Zukünftiges. Im Zentrum dieser Bewegungen steht der je speziell gestalte-
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te Kontakt mit Anderen. Zusammen konstituieren das Ich und die Anderen Situationen (vgl. BmE, 212), in denen sie einander wie im Spiegel zugänglich sind (vgl. BmE, 211). Die erste Bewegung, die Bewegung der Verwurzelung, führt in die Geborgenheit einer Sphäre der Heimat, in der leibliche und geistige Möglichkeiten erlernt und geübt werden können. Um diese Heimat zu bewahren und zu schützen, ist der Eintritt in Prozesse der Arbeit nötig, was Patocka als Vollzug der zweiten Bewegung beschreibt. Diese Bewegung wird wie keine andere von zweckorientierter Rationalität - der oben in Bezug auf Föllesdal erwähnten Handlungsrationalität - bestimmt. Im Rückgriff auf Hannah Arendt unterscheidet Patocka zwischen Arbeit und gesellschaftlicher Organisation der Arbeit (vgl. KE, 37f., 60f.), wodurch Herstellen und (politisches) Handeln erst möglich werden. Die gesellschaftliche Ordnung der Arbeit bedarf einer Legitimation, was Politik und Philosophie auf den Plan ruft und schon über die zweite Bewegung und damit auch über den Bereich der pragmatischen Rationalität hinausdrängt. Der gleichzeitige Ursprung von Politik und Philosophie (vgl. KE, 65, 103f.) liegt im Raum der Öffentlichkeit, in dem sich Arbeit und Organisation der Arbeit abspielen. Dieser Raum wird vom Polemos bestimmt, 12 der das die gegen- und miteinander arbeitenden Menschen einigende Band darstellt. Der Polemos ist Stifter einer inneren Gemeinsamkeit: „Der Geist der Polis ist der Geist der Einheit im Streit, der Einigkeit im K a m p f (KE, 66). Die Ordnung und Regelung der Gemeinschaft, die Suche nach einem Ausgleich der in ihr vertretenen Interessen, definiert die Aufgabe der Politik, die Begründung dieses Ausgleichs die der Philosophie. 13 Politik als „handelnde Freiheit" (KE, 168) ist nicht ohne die Leitung durch Philosophie möglich. 14 In diesem Kontext wird neben der Rationalität im Sinne Husserls, nämlich dem Wohlbegründetsein von Auffassungen und Grundsätzen, Rationalität im oben erwähnten Sinne einer Entscheidungsrationalität relevant: Die Wahl zwischen unterschiedlichen Handlungsalternativen erfordert zunächst eine rationale Abwägung, die in einem Wohlbegründetsein der Entscheidung resultieren muss. Allerdings zeigen sich in dieser Feld der Interaktion auch die Grenzen rationaler Überlegungen. Die Konfrontation mit Anderen in der Gemeinschaft bedeutet nämlich eine Infragestellung des eigenen Selbst und führt zur Entdeckung der Fraglichkeit jedes vermeintlich gesicherten Sinnes - und führt damit auch zu existenziellen Krisen, die nicht mehr rational gelöst werden können, sondern die einen existenziellen Entschluss erfordern. Es öffnet sich
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Patocka bezieht sich hier explizit auf einen Gedanken Heraklits, der vom Krieg als dem Vater aller Dinge gesprochen hat (vgl. Heraklit, Fragment Β 53, in: Heraklit, Fragmente, griechisch und deutsch, hg. v. Bruno Snell, München 1965). Vgl. Ilja Srubar, „Zur Stellung der Kunst in Patockas Philosophie", in: Jan Patoika, Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften, in: ders., Ausgewählte Schriften Bd. 1, hg. v. Klaus Nellen u. Ilja Srubar, Stuttgart 1987, 31-45 (= KuZ). Dort schreibt Srubar: „Zum ersten Mal erschließt sich hier [in der griechischen Polis, C. R.] die Möglichkeit, das Leben der Gemeinschaft auf Grund rationaler, d. h. argumentativ diskutierbarer, vom Menschen herrührender Gründe zu organisieren - die Politik. Die Frage nach der Begründung der Wahl von Möglichkeiten, die ihr Fundament im menschlichen Wissen hat, ist der Ursprung der Philosophie. Die Verbindung von Politik und Philosophie als Ausdruck der Übernahme der Verantwortung für sein eigenes Tun und des damit verbundenen Risikos, charakterisiert den Übergang zur Geschichte und bleibt für die Welt, die unsere Lebenswelt ist, kennzeichnend" (KuZ, 38). Ilja Srubar weist sehr pointiert auf die starke Verknüpfung von Politik bzw. allgemein der Praxis und Philosophie in Patoikas Konzeption hin: „PatoCkas Philosophie ist eine im starken Sinn praktische: Sie will nicht nur eine Philosophie der Praxis sein, sie will selbst eine Praxis in der Welt sein" (Ilja Srubar, „Asubjektive Phänomenologie, Lebenswelt und Humanismus", in: Mesotes, Wien 1/1991, 9).
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die Möglichkeit des Vollzugs der dritten Bewegung, die die Möglichkeit des Aufschwungs zum wahren Menschsein, zum „Leben in der Wahrheit" (KE, 47; vgl. BmE, 252)15 und dem Beginn eines geistigen Daseins birgt: Leben in der Wahrheit bedeutet nicht, Wahrheit einfach nur zu besitzen, der Wahrheit in Gestalt gültiger Urteile und Thesen, die sich auf die Dinge des Universums beziehen, habhaft zu sein. [...] In der Wahrheit zu sein heißt ursprünglich: sich zu interessieren, für eine meiner wesentlichen Möglichkeiten eingenommen zu sein, d. h. dem gegenüber, was ich bin und wie ich bin, nicht indifferent zu sein. [...] Dieses Interesse für das eigene Sein, für seine wesentlichen Möglichkeiten, ist die conditio sufficiens allen Seins in der Wahrheit. (BmE, 253)
Neben Politik und Philosophie kennt Patocka noch Kunst und Religion als zwei weitere Formen des geistigen Daseins. Alle vier Formen des geistigen Daseins basieren auf einer Erschütterung der eigenen Existenz und stellen unterschiedliche Weisen dar, den Aufschwung zum „Leben in der Wahrheit" zu vollziehen: Wenn das geistige Leben grundsätzlich Erschütterung ist (der unmittelbaren Lebensgewissheit und des Sinnes), dann wird diese Erschütterung in der Religion geahnt, in der Poesie und der Kunst überhaupt geschildert und abgebildet, in der Politik in die Lebenspraxis umgesetzt und in der Philosophie begreifend, durch den Begriff, ergriffen. (KE, 169)
Die Entdeckung der Fraglichkeit des Sinnes des Lebens bedeutet die Entdeckung der eigenen Freiheit und der Verantwortung für den Sinn des Lebens. Das menschliche Sein ist also nicht nur Bewegung, sondern selbstverantwortete Bewegung. Der Mensch muss den Prozess seines Seins gestalten, er muss sich selbst erschaffen (vgl. BmE, 255) - und muss sich dabei geistig auch in Bereich jenseits der Rationalität vorwagen. Patockas Philosophie ist als praktische Philosophie konzipiert, die den Menschen eine Hilfestellung für das Handeln in der Welt liefern soll. Das bedeutet nicht, dass sie einen Kanon von Regeln und Normen bereit stellt, nach denen sich der Mensch richten könnte, sondern sie fördert die Entwicklung einer geistigen Haltung, aus der ein bestimmtes, nicht immer rational begründbares Verhalten und Handeln als Konsequenz hervorgeht. Das Bewusstsein der Freiheit hebt den Menschen aus dem Kreislauf aus Geburt, Arbeit und Tod (vgl. KE, 128f.) heraus und bedeutet die Entdeckung seines eigentlichen Selbst (vgl. KE, 129). Philosophie versteht Patocka als Sorge um dieses, im wesentlichen a-rational verfasste Selbst, wobei er Piatons Gedanken der „Sorge für die Seele" (KE, 262) aufnimmt, aber den Gedanken verwirft, das Heil der Seele in rationalen Überlegungen finden zu können. Vielmehr versteht Patocka unter Philosophie ein fragendes Denken, das nie bei einer Antwort als der letztgültigen stehen bleibt, sondern jede Antwort von Neuem hinterfragt und damit beständig in dialektischer Bewegung bleibt. Patocka ist der Auffassung, dass Philosophie bei theoretisch gefundenen Antworten nicht stehen bleiben darf, sondern in die Praxis drängt, also darin besteht, „zu sagen, was enthüllt ist [...], und zu tun, was dadurch in seinem wesenhaften Charakter verstanden ist" (KE, 67) - in einer so begründeten Handlung und nicht in verwirklichter Rationalität vollendet sich nach Patocka Philosophie und menschliches Dasein.
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Vgl. zur Praxis des „Lebens in der Wahrheit": Vaclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, übersetzt v. Gabriel Laub, Hamburg 1989.
ANDREAS HÜTIG
Von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur Cassirers Transformation der Philosophie
I. Zur epochalen Neuausrichtung der Philosophie durch Kant gehört entscheidend die ,kopernikanische Drehung', der Vorschlag, ,,[m]an versuche [...] einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntniß richten [...]."' Mit dieser Umstellung der Perspektive der Philosophie, der „Revolution der Denkart", 2 ist die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität, wie sie sich exemplarisch in Descartes' Auszeichnung des cogito vollzogen hatte, zu einem neuen Höhepunkt gebracht. Dies gilt sowohl für die theoretische wie auch für die praktische Philosophie: So wie in der Erkenntnistheorie die Konstitutionsleistung des Subjekts als entscheidender Faktor für die kategoriale Ordnung der Mannigfaltigkeit der Anschauung identifiziert wird, so wird in Kants praktischer Philosophie - und beileibe nicht nur in der Ethik im engeren Sinne, auch in der Politischen wie in der Geschichtsphilosophie - die Fähigkeit des vernünftigen Subjekts zur Selbstbestimmung, das sich wie alle anderen Vernunftwesen zu gesetzgebenden Mitgliedern eines Reichs der Zwecke macht, zum Maßstab wie zur Begründung von Menschenwürde. Ebenso bedeutsam wird die handelnde Person in den Feldern, die durch ihren Bezugsgegenstand nur in abgeschwächter Form transzendental rekonstruierbar sind, also in Bezug auf externe interpersonale Relationen das rechtlich geordnete Zusammenleben von Menschen wie in Bezug auf den sich wandelnden und vom Handeln abhängigen Gegenstand der menschlichen Geschichte die Annahme eines geschichtlichen Naturplans. Zu den Momenten dieser Revolution zählt als nicht geringstes die durch den Titel einer Kritik der Vernunft angezeigte Neubestimmung der Vernunft, definiert als „das Vermögen der Prinzipien"3 bzw. „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien". 4 Diese Titelformel ist mit der doppelten Bedeutung eines genitivus obiectivus wie subiectivus zugleich eine SeVosXbegrenzung wie eine Selbstermächtigung, oder besser: eine Selbstinstallation als diejenige Instanz, die die Analyse durchführt und über die Rechtmäßigkeit der durch sie selbst erhobenen Ansprüche entscheidet. Das Buch gleichen Titels leistet damit nicht nur eine Grenzziehung zwischen dem, was die menschliche Vernunft erkennen kann, und dem, dessen Erkenntnis die endliche menschliche Vernunft übersteigt, auch wenn das
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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademieausgabe (=AA) Bd. 3, Berlin 1902ff, Β XVI, 12. Ebd., AA Bd. 3, 9. Ebd., Β 356, AA Bd. 3, 238. Ebd., Β 359, AA Bd. 3, 239.
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Streben danach zu ihrer ureigenen Natur gehört.5 Es setzt zugleich die Vernunft selbst als Instanz der Kritik und deren öffentliche Anerkennung als Ausweis und Maßstab des Entwicklungsgrades einer Gesellschaft. Darin zeigt sich nach Kant die gereifte [...] Urtheilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüche sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst. 6
Es ist dies der Anlass, die eigene Zeit als „Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß",7 anzusehen und einen philosophischen wie gesellschaftlichen Zustand zu fordern, in dem Streitfragen nach anerkannten Regeln und unter Rekurs auf gemeinsame Maßstäbe und nicht gewaltsam und unter Ausnutzung von eigenen Macht-, Wissens- und Standortvorteilen gelöst werden. Unter explizitem Rekurs auf den Hobbes'sehen Friedensschluss, der notwendig einzugehen sei, benennt Kant den „Prozeß" und nicht den „Krieg" als Verfahren der Vernunftkritik, die nicht auf Sieg, sondern auf eine „Sentenz"? einen friedensstiftenden Urteils spruch abzielt. Es liegt schon im „ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wieder die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat",9 dass als vernünftig keine dogmatische oder esoterische Position, sondern diskursive und öffentliche Verfahren zu gelten haben.10 Kant vertraut - vielleicht zu optimistisch - darauf, dass der „oberste Gerichtshof der Vernunft unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten"11 könne, weil die Ideen derselben uns „durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben" 12 sind. Gerät die Vernunft einmal mit sich selbst in Streit - was immer „etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes"13 hat - , indem sie anscheinend widerstreitende, aber gleichermaßen gültige Sätze formuliert, so ist sie selbst es auch, die diesen Streit löst, indem sie zu den von ihr selbst erhobenen Ansprüchen Voraussetzungen und Bedingungen aufsucht und diese kritisch prüft. Die Zurückweisung derartiger Ansprüche oder auch der Nachweis, dass es sich nur um den Anschein von Widersprüchlichkeit gehandelt hat, ist dann der Schiedsspruch der urteilenden, zu Gerichte sitzenden Vernunft über sich selbst, die ihre eigenen Schliche und
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Vgl. die berühmten Eingangsworte der ersten Vorrede: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft" (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA Bd. 4, Berlin 1911, A VII, 7). Vgl. dazu auch Beatrix Himmelmann, „Bedürfnisse der Vernunft. Vom Umgang mit den Grenzen des Vernunftgebrauchs", in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Bonn 2002, 917-926. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A Xlf, AA Bd. 4, 9. Ebd. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 779f, AA Bd. 3, 491f. Vgl. auch Otfried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003, 328f., sowie 34ff. zum Kritikbegriff allgemein. Ebd., Β 780, A A Bd. 3,492. Vgl. hierzu u. a. auch Volker Geihardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002,133f. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 697, AA Bd. 3,442. Ebd. Ebd., Β 768, AA Bd. 3,485.
CASSIRERS TRANSFORMATION DER PHILOSOPHIE
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Kniffe, „ein ganzes System von Täuschungen und Blendwerken", 14 zu durchschauen versucht. Nur durch diese Selbstkritik und Selbstdisziplin bewahrt sich die Vernunft ihre Kraft wie ihre Fortdauer: Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen, Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte: Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können.15 Wenn indes selbst die Existenz der Vernunft auf dieser Voraussetzung und der permanenten Kritikfähigkeit wie Kritikbedürftigkeit beruht, wenn Vernunft nicht ohne sie gedacht und gesichert werden kann, wirft dies ein neues Licht auf den vorgeblichen Optimismus: Die Urteilssprüche der Vernunft sind keine Beweise, sondern Ergebnisse einer Untersuchung des Rechtsanspruches - das berühmte quid iuris der transzendentalen Deduktion 16 - und besitzen als solche nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Status einer nur so und nicht anders denkbaren Grundkonstellation, einer allgemein geteilten Präsupposition, die derjenige, der den Anspruch auf Vernünftigkeit nicht verlieren will, immer schon voraussetzen muss. Die Legitimität der erhobenen Ansprüche erweist sich durch die „freie und öffentliche Prüfung"17 mit Androhung des Verlusts des subjektiven Selbstverständnisses als vernünftiges Wesen im Falle der prinzipiellen NichtZustimmung zu dem, was als Ergebnis der Prüfung und somit als verbindliches Verständnis der Vernunft anzusehen ist.1 Allenfalls die Entwicklung einer alternativen, mindestens ebenso erklärungsmächtigen und umfänglichen eigenen Explikation dessen, was Vernunft heißen und leisten können soll, kann als akzeptabler Einwand angesehen werden, nicht etwa die bloße Bestreitung der Geltung unter Rekurs auf mögliche andere Prinzipien oder Formen menschlicher Weltaneignung.
II. Kant nimmt also nicht ohne weiteres an, dass seine Explikation der Grenzen und Aufgaben der Vernunft durch den Rekurs auf in der Natur der Vernunft liegende Ideen und Strukturen gerechtfertigt sei. Er anerkennt sowohl in Bezug auf die angestrebten, aber vermutlich prinzipiell verschlossenen Gebiete der Erkenntnis wie in Bezug auf Darstellungen der internen Strukturen und konkurrierender Ansprüche den krisenhaften und defizitären Charakter der Vernunft, macht aber zugleich gerade aus dieser Eigenschaft die Stärke und die Vorzugswürdigkeit derselben:
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Ebd., Β 739, AA Bd. 3,468. Vgl. auch Volker Gerhardt, Vernunft und Leben, 130ff. Ebd., Β 766f, AA Bd. 3,484. Ebd., A 84, AA Bd. 4,68; Β 116, AA Bd. 3,99. Ebd., Anmerkung A XI, AA Bd. 4,9. Vgl. hierzu u. a. Rüdiger Bubner, „Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente", in: Wolfgang Kuhlmann, Dietrich Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1982, 304-332.
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Kant [...] stellt die destruktiven Bedingungen einer fortgesetzt gegen sich selbst arbeitenden Vernunft heraus und entdeckt eben darin die Voraussetzungen einer neuen Produktivität. [...] Solange die Vernunft den Widerstreit mit sich selbst durch .Selbstkritik' zu lösen sucht, darf man auf Fortschritt durch vernünftige Einsicht hoffen. [...] Die Vernunftkritik ist kein Projekt, das man nur gut bedenken, klug absprechen und umsichtig verwirklichen muss, um am Ende (durch jedermann überzeugende Leistungen) die Aufklärung auf Dauer zu stellen. Kant geht vielmehr von den im Entwicklungsgang des Menschen gesteigerten Widersprüchen aus: Sie müssen von jedem, der sie als drückend empfindet, ausgetragen und aus eigenem Anspruch entweder überwunden oder ausgehalten werden. Nur dann besteht Hoffnung, die treibenden Gegensätze einem Verfahren zu unterwerfen, in dem man mit ihnen - selbstbestimmt - umgehen kann.19
Die Vernunft bleibt so in einem ständigen Prozess der Interaktion mit sich selbst, getrieben von inneren Konflikten wie von aufs neue erhobenen Ansprüchen. Sie kann nur als auf Dauer gestellte Selbstkritik existieren, weil sie ohne diese entweder in quietistischer Selbstbescheidung ihre ureigenen Impulse gewaltsam still stellen muss oder dogmatisch und damit ebenso gewaltsam Antworten auf drängende Fragen dekretieren und neue Perspektiven und Ansprüche gar nicht erst zulassen kann. Dies gelingt, weil und insofern die intelligiblen Anteile der Vernunft überpersönlich und überempirisch sind und doch an menschliche Vollzüge gebunden bleiben; die Verfahren der Vernunftkritik müssen jeweils selbst durchlaufen, der Prozess der Vernunft gegen und mit sich selbst geführt werden. Obwohl explizit nicht als Anthropologie oder gar als Untersuchung bestehender kultureller Praxen und gesellschaftlicher Normen angelegt, bleibt so auch die Kritik der Vernunft nicht nur am Modell menschlicher Selbstkritik orientiert, sondern geradezu intern an diese gebunden und zudem als Mittel und Maßstab zu einer Selbstbestimmung der Menschen unerlässlich. Gleichwohl muss sie, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, mit den Praxen und kulturellen Formen in Verbindung gebracht werden, die menschliches Leben ausmachen. Ohne dies würde gar kein Anspruch auf Vereinheitlichung menschlicher Perspektiven in der Erkenntnis erhoben werden müssen, kein drängendes Bedürfnis unabweisbarer Fragen in der Metaphysik gegeben sein, erwüchse kein Reflexionsbedarf auf die Verallgemeinerungsfähigkeit von Handlungsmaximen, bestünde keine Notwendigkeit der friedlichen Handlungskoordination zwischen Personen und kein Anlass, darüber zu spekulieren, wohin die menschliche Geschichte wohl führen möge. Aus diesem Grund verfehlen viele der in der Rezeption erhobenen Einwände, Kant überschätze die Leistungskraft der Vernunft, usurpiere für sie einen unangreifbaren Thron oder blende andere zentrale Aspekte der menschlichen Existenz, seien dies Geschichte, Sprache, Mythos, Leiblichkeit, Kunst oder geoffenbarte Transzendenz, systematisch aus, von vorneherein die Position der Vernunftkritik. Zudem zeigt sich schon bei Kant selbst eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes der Transzendentalphilosophie von der ursprünglich angezielten, schon in einem Brief von 1772 genannten Zweiteilung der „Critick der reinen Vernunft", deren erster Teil „die Quellen der Metaphysic, ihre Methode und Grentzen", deren zweiter Teil „die reinen principien der Sittlichkeit" 20 behandeln solle. Über diese
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Volker Geihardt, Vernunft und Leben, 124f. Auch Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der .Kritik der reinen Vernunft', Würzburg 1997, 87ff., weist daraufhin, dass keine endgültige Einstimmigkeit der Vernunft mit sich selbst zu erreichen sein wird und dass eine absolute Selbstvermittlung mit sich selbst von der Vernunft zwar angestrebt wird, für Kant aber nicht ohne Rest vollzogen werden kann. Immanuel Kant, Kant's Briefwechsel Bd. 1:1747-1788, AA Bd. 10, Berlin/Leipzig 2 1922,132.
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Dualität hinaus werden von Kant später prominent die ästhetische Dimension der Vernunft und in weiteren Schriften ebenso Religion, Politik und Recht sowie die Geschichte untersucht - wenn nicht als Teil der eigentlichen Vernunftkritik, so doch mit dieser als Leitfaden. Wie in Bezug auf die Verweigerung einer endgültigen Versöhnung mit sich selbst, zeigt sich auch hier schon bei Kant eine - wenn auch implizite - Anerkennung der Pluralität und Mehrdimensionalität der Vernunft, deren Einheit in objektiver Hinsicht „bloße Idee" ist, „lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß". 21 Somit ist es berechtigt, schon Kant als „Philosoph der Moderne" 22 zu bezeichnen, weil auch er die interne Pluralität und Selbstbezüglichkeit der - wenn man will: postmetaphysischen - neuzeitlichen Kultur anerkennt und implizit voraussetzt. Kant hat jedoch diese interne Pluralisierung nicht als Entzweiung verstanden, die in einer Versöhnung zurück zu nehmen sei. Vielmehr zeigt gerade Kants Betonung des stetigen Widerstreits bei gleichzeitiger prinzipieller Eingelassenheit menschlicher Vernunft in die Welt, 23 dass antagonistische Vielheit nicht versöhnungsbedürftige Zerrissenheit bedeutet, die im Namen und mit Hilfe einer größeren Vernunft oder eines außer- oder übervernünftigen ganz Anderen aufgehoben werden müsste. Dennoch ist sicher richtig, dass die Vernunft bei Kant Begründungs- und Bewertungsfunktion für die anderen kulturellen Formen hat. Der mögliche Einwand, dass das, was als Vernunft gelten kann, womöglich nicht unabhängig von bestimmten historischen und kulturellen Voraussetzungen gedacht wird und somit auch der Prozess der Vernunft mit und gegen sich selbst kein reines Geschehen, sondern infiziert mit kontingenten und impliziten Faktoren aus Geschichte und Kultur der diesen Prozess führenden Person, ist zwar kein prinzipieller Einwand gegen das Ideal einer Kritik der Vernunft. Jede konkrete Durchführung einer solchen muss sich aber diesem Vorwurf potenziell aussetzen.
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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 675, AA Bd. 3, 429. Es bleibt aber praktisches Interesse der Vernunft, die Selbsterkenntnis „bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) [zu] bringen, und alles aus einem Prinzip ableiten zu können; welches das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichen Vernunft ist, die nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet" (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. 5, Berlin 1913, 214f.). Die Einheit der Vemunftformen bleibt aber dabei nur regulatives Apriori. Herbert Schnädelbach, „Kant - der Philosoph der Moderne", in: ders., Philosophie in der modernen Kultur. Vorträge und Abhandlungen 3, Frankfurt a. M. 2000,28-42. Schnädelbach argumentiert mit Rickert und gegen Habermas' Einschätzung, erst Hegel habe die Zerrissenheit und das Bedürfnis nach Versöhnung in der Moderne auf den Begriff gebracht; vgl. Heinrich Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch, Tübingen 1924, sowie Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1988,13 u. passim. Diese wird u. a. in den Passagen der Kritik der Urteilskraft artikuliert, in denen Kant in der Erfahrung der Selbstgesetzgebung der Urteilskraft theoretische und praktische Philosophie „auf gemeinschaftliche und unbekannte Art verbunden" sieht (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA Bd. 5, Berlin 1913, §59, 353) und so die ästhetische Erfahrung das Subjekt der Adäquanz seiner Vermögen für die Welt wie für die Vernunftideen versichert.
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III. In der Einleitung seines Hauptwerkes, der Philosophie der symbolischen Formen, würdigt Ernst Cassirer just jene kantische Revolution der Denkart und sieht sie als grundlegend auch für sein eigenes Projekt an. Auch er verweist dabei auf die „allmähliche Entfaltung des kritisch-idealistischen Begriffs der Wirklichkeit und des kritisch-idealistischen Begriffs des Geistes" 24 durch die Analyse der Reiche der Freiheit, der Kunst und der organischen Naturformen in den beiden späteren Kritiken und sieht darin geradezu die Spezifik des kantischen Denkens. Affirmativ heißt es: Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt werden als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird.25 Cassirer identifiziert als „Grundprinzip des kritischen Denkens" das „Prinzip des .Primats' der Funktion vor dem Gegenstand", 26 also den Ausgang der Analyse von der Weise der Objektivierung, nicht vom Objekt selbst. In einer ingeniösen Ausweitung des kantischen Ansatzes fordert er, dieses Grundprinzip auch auf die ,,andere[n] Gestaltungsweisen" 27 im Ganzen des geistigen Lebens und auf deren Objektivierung anzuwenden. Denn diese sind nicht nur faktisch existierende Weisen, wie der Mensch Kultur hat, sondern zugleich gilt für Kunst wie für Sprache, Mythos und Religion: Auch sie lassen sich als gewisse Weisen der .Objektivierung' bezeichnen: d. h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffes und des logischen Gesetzes. Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte .Bedeutung', einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt.28 Somit wird die bei Kant schon angelegte, aber gewissermaßen der Vernunft externe Orientierung an den tatsächlichen Vollzügen und Praxen der menschlichen Kultur explizit zur Forderung erhoben und der Schritt zu einer „allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften" 29 getan. Materialer Untersuchungsgegenstand ist nunmehr das Gesamt der Kultur, 24
Emst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), ECW Bd. 11, Darmstadt 2001, 8. Schon im Ergänzungsband zur von Cassirer besorgten Kant-Werkausgabe heißt es 1916: ,Aus dieser charakteristischen Differenz des Prinzips [der Gestaltung, Α. H.] folgt, daß für uns die Welt des Sollens und die Welt der künsüerischen Form eine andere, als die des Daseins sein muß. Man sieht: es ist die Mannigfaltigkeit, die sich in der Vernunft selbst, in ihren grundlegenden Richtungen und Fragestellungen findet, was uns die Mannigfaltigkeit der Gegenstände erst vermittelt und deutet" (Emst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Immanuel Kants Werke Bd. XI (Ergänzungsband), Berlin 1916,161).
25 26 27 28 29
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen 1,8. Ebd., 9. Ebd., 6. Ebd., 6f. Ebd., 7.
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weil und insofern auch die anderen .symbolischen Formen', so Cassirers terminus technicus, eigenständige Formen der Weltaneignung und -erzeugung sind und nur die Perspektive auf alle diese Formen das Gesamt des menschlichen Geistes angemessen zu erfassen vermag. Nicht nur, dass dadurch allererst die gesamte Weite des menschlichen Lebens in den Blick gerät, vielmehr kann auch nur so die naiv-realistische Weltsicht nachhaltig erschüttert werden: bei aller transzendentalen Einsicht scheint der Erkenntnis doch noch immer eine Welt gegenüber zu stehen - erst wenn deutlich wird, dass es neben der Welt der erkannten Gegenstände - oder mit dieser verwoben - eine Welt der ästhetisch erfahrenen, der sprachlich bezeichneten, der mythisch aufgeladenen .Gegenstände' gibt, wird das Gesamt dieser Welten als geistiger Ausdruck nachvollziehbar, der allgemeine Weltbegriff durch den Kulturbegriff, der als Inbegriff der symbolischen Formen fungiert, ersetzt. Nicht nur wird also das Spektrum der untersuchten Gegenstände erweitert, sondern die neu analysierten Bereiche und die darin gewonnenen Einsichten verhelfen auch der ursprünglichen Intention der Transzendentalphilosophie in neuer, vertiefter Weise zu Realität. In einer auf die beschriebenen Ausführungen folgenden Formel, die ob ihrer Prägnanz in nahezu jeder Darstellung Cassirerscher Positionen zitiert wird, verdichtet Cassirer diese seine Umstellung und Ausweitung: Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.
In den weiteren, äußerst ausführlichen Analysen synchroner wie diachroner Befunde aus Sprachwissenschaft und -geschichte ebenso wie praktisch des gesamten damals bekannten Bestands von Mythen und religiösen Systemen - Cassirer konnte in Hamburg auf die umfangreiche Bibliothek Warburg zurückgreifen - führt er diese Suche nach einer Art „Grammatik der symbolischen Funktion" 31 und den Prinzipien der Einzelformen durch. Dabei identifiziert er die allgemeine Symbolfunktion als das gemeinsame Prinzip aller kulturellen Konstitutionen, die in den diversen symbolischen Formen je eigen ausgeprägt ist und deren Spezifik prägt. Dass diese Formen dabei zwar eigenständig und voneinander abgegrenzt, aber gleichwohl miteinander verbunden sind und auseinander hervor gehen, sei nur zur Abwehr missverständlicher Auffassungen erwähnt; Cassirer rechnet zudem zwar mit der relativen Stabilität der ausdifferenzierten Formen, schreibt diesen jedoch keine Notwendigkeit oder auch nur endlose Dauerhaftigkeit zu. Der Ausgang vom „allgemeinen Kulturbegriff' ermöglicht es dabei, alle „Grundformen und Grundrichtungen" zu erfassen, die „bei all ihrer inneren Verschiedenheit zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs" 32 werden. Mithin ist Cassirers Kulturbegriff nicht auf etwas bezogen, das man besitzt oder betrachtet, sondern auf etwas, das man betreibt, etwas, das man als Mensch gar nicht nicht betreiben kann, insofern man immer schon in symbolischen, also kulturellen Vollzügen steht. Kultur ist Praxis, 33 nicht Bestand, der formale Allgemeinbegriff der Kultur ist mit dem Vollzug der Fähigkeit zu symbolischer Ideation synonym. Formal ist dieser Allgemeinbegriff, weil in ihm gerade nicht ein bestimmter Bestand oder eine normative Auszeichnung die Charakterisierung bestimmt, sondern weil und insofern die spontan-kreative Grundlage des Zustandekommens
30 31 32
33
Ebd., 9. Ebd., 17. Ebd., 9f. Vgl. zu dieser Formulierung Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirer Philosophie der symbolischen Formen, DZfPh Sonderband. 6, Berlin 2004.
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seiner Extension, also die Form dieses Zustandekommens, die vereinigende Klammer des Subsumptionsprozesses bildet. Dass menschliches Bewusstsein als konstruktives Element in den kulturellen Symbolisierungsprozess konstitutiv eingebaut ist, erweist Cassirer sowohl phänomenologisch, durch den Ausweis der Fundierung semiotischer Relationen in Akten der relationalen Synthetisierung, als auch historisch-genetisch, durch die umfangreichen kulturgeschichtlichen Darlegungen und ihre kulturphilosophische Rekonstruktion. Bei Cassirer gewinnt die Anerkennung der Pluralität menschlicher Welterschließungen und der Heterogenität dieser Versuche so eine neue Qualität, rechnet er doch ganz explizit mit den unterschiedlichsten Varianten und Ausprägungen der zugrunde liegenden Symbolfunktion und von deren kategorialen Strukturierungen. Die materialreichen Vergleiche und Strukturierungen auf die Grundprinzipien, die bei ihm an Schlüsselkonzepten wie Raum und Zeit, Zahl, Subjektivität und Kausalität orientiert sind, zeigen die Bandbreite und rechtfertigen die Annahme einer gemeinsamen Symbolisierungsfunktion ex post. So gibt es ein Gleichgewicht von kulturell zu verstehender Grundoperation und konkreter Manifestation, Kultur selbst ist der Titel für diese Einheit allein in formaler Hinsicht. Sie ist so Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Gegenständlichkeit - und mitnichten nur wissenschaftliche und damit Welt zu haben. Dies zeigt, warum keineswegs nur eine konkrete Manifestation oder Ausprägung in der historisch-genetischen Rekonstruktion als alleinige oder höchste Form, auf die alle Entwicklungen zulaufen, ausgezeichnet wird. 34 Zwar kommt der Mensch in der reflexiven Wendung auf die Grundlage allen kultürlichen Weltverhaltens nach Cassirers Vorstellung in der Tat zu sich selbst, insofern er Einblick in eben diese Grundoperation gewinnt. Aber dieses Zusich-Kommen ist nicht quasi-hegelianisch inhaltlich bestimmt, sondern allein auf die Einsicht in die formale Praxis der Symbolisierung bezogen. Gerade weil und insofern bei der tatsächlichen Praxis unterschiedlichste Konstellationen in materialer Hinsicht produziert werden, kann Cassirer sowohl mit der Vielfalt kultureller Entwürfe rechnen als auch in ihnen die gemeinsame Funktion aufdecken. In gewisser Weise stellt also tatsächlich erst der philosophische Rekonstruktionsversuch die Einheit der Kultur her. Damit ist aber nicht eine Diskreditierung der solcherart verfahrenden Kulturphilosophie verbunden, sondern wird diese im Gegenteil zu einem Teil der Kultur - zu dem nämlich, der sich reflexiv auf die anderen bezieht und eine Interpretation derselben, damit auch ein Selbstverständnis des Menschen entwickelt und vorschlägt. Gemeinsam und im Wechselspiel zum tatsächlichen Bestand der Kultur, repräsentiert durch Kulturwissenschaft und -geschichte, zeigt sich dann, dass die Einheitsstiftung der Kulturphilosophie nur der Weg der Einsicht in die Einheit ist, die ratio cognoscendi, dass aber wegen der Transzendentalität dieser Funktion für jede Welterschließung, wenn nicht bewiesen, so doch nahe gelegt wird, dass sie auch, trotz aller Pluralität, dem Wesen nach bestehen könne. Mit dieser Pluralisierung ist dann aber auch der Kulturbegriff kein rein bewusstseinsimmanenter mehr: Kultur beruht zwar konstitutiv auf der Symbolisierungsfunktion des menschlichen Bewusstseins. Sie schafft sich aber in und durch diese einen materialen Bestand an Artefakten und symbolischen Relationen, die eine Eigendynamik aufweisen und
34
Dieser Vorwurf bei Horst Turk,,.Prise de position oder habit-taking? Zum Kulturbegriff Ernst Cassirers im Gegenlicht praxeologischer Debatten", in: Enno Rudolph, Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Cassirer-Forschungen Bd. 1, Hamburg 1995, 13-36. Vgl. auch ders., „Operative Semantiken. Zum Problem Kultureller Identität im Anschluß an Ernst Cassirer", in: Internationale Zeitschrift ßr Philosophie, Heft 2/1994,239-254.
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miteinander interagieren. Tradition und umgebende Kultur beruhen so zwar immer auf den sinnstiftenden Leistungen anderer Individuen - Cassirer bezeichnet sie als „Brücke, die von einem Ich-Pol zum anderen hinüberführt" 3 5 wirken für das einzelne Individuum in einer konkreten Rezeptionssituation jedoch als dem Bewusstsein externe, Reaktionen herausfordernde Gegen- und Widerstände, als Impulsgeber und Anreger mit potenziell durchaus auch verstörender Wirkung, etwa durch aufrüttelnden Gehalt oder unverständliche Fremdheit. Die materiale, wenn man will: mediale Seite der Kultur ist so immer schon in Cassirers Verständnis integriert. Es zeigt sich, dass die Einheit, die der Kulturbegriff in seiner fundamentalen, praktischen Bedeutung hat, keineswegs zu einer Harmonisierung aller individuellen kulturellen Praxen oder zu einer unbegrenzten Verfügbarkeit sinnstiftender Prozesse seitens des Individuums führen muss. Darin besteht für Cassirer das „Drama der Kultur" 3 6 - das sich aber mitnichten als Tragödie darstellt - , durch das die potenziell opponierenden und in ihrer Fremdheit nicht ohne rezeptive Anstrengung zu erschließenden materialen Ergebnisse der kulturellen Praxis anderer aber immerhin als Herausforderung für eigene Fortentwicklungen zu begreifen sind.
IV. Durch die als Auslagerung zu begreifende Erweiterung nicht nur des Untersuchungsgegenstandes, sondern ineins damit durch den Einbezug des materialen Mediums der kulturellen Symbolproduktion und der Berücksichtigung von dessen zugleich ermöglichender wie restringierender Wirkung vollzieht Cassirer mehr als nur eine Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes. Er bezieht die Formen und Medien, in denen sich menschliche Weltaneignung und -Orientierung vollzieht, konstitutiv in diese ein und unterläuft damit eine gewissermaßen altidealistische Subjekt-Objekt-Spaltung, die erfolglos nach Vermittlungsinstanzen sucht. Für Cassirer entstehen Unterscheidungen wie diejenige von Subjekt und Objekt nur und allererst auf dem Boden und im Rahmen von symbolisch vermittelten, intern strukturierten Formen, auf deren Objektivierungs- und Ordnungsleistung das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt aufruht und sich als späte Frucht ausdifferenzierter Symbolsysteme entwickelt. Ein Vorwurf wie derjenige Karl Otto Apels, Cassirer lasse „die Kantische Voraussetzung eines transzendentalen Bewußtseinsidealismus unverändert stehen", 37 trifft deshalb weit ins Leere. Cassirer baut nicht lediglich die Sprache als Vermittlungsinstanz ein und bleibt ansonsten beim kantischen , Bewusstsein überhaupt' stehen, wie sich beispielhaft an der Erkenntnisfunktion zeigen lässt: diese erfüllt sich bei Cassirer nicht allein durch eine bewusstseinsimmanente transzendentale Synthesis der Apperzeption „qua Einheit des Gegenstandsbewußtseins", 3 8 wie Apel es Kant zuschreibt, mit anschließender ,,nackte[r] Vermittlung durch Begriffe", 3 9 sondern durch eine relationale Synthetisierung anhand funktionaler, systematischer Ordnungen. Somit tritt die Gegenstandsbildung der Erkenntnisfunktion nicht ohne einen materialen Träger der Sinnfokussierung auf, der in ein
35 36
38 39
Emst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. FünfStudien (1942), Darmstadt 1971,120. Ebd., 123, in expliziter Auseinandersetzung mit Georg Simmel. Karl Otto Apel, Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1976,189. Vgl. zum Folgenden auch die a. a. O., 353ff., geäußerte Kritik. Ebd., 354. Ebd., 188.
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relationales Gefüge eigener Logik und Dynamik eingebunden ist. Gerade Cassirers Kulturkonzept erlaubt, ja erzwingt geradezu also einen Einbezug der materialen Zeichenvehikel und von deren Ordnung wie Eigendynamik ebenso wie die konzeptionelle Berücksichtigung der tatsächlichen Interpretation derselben durch einen Interpreten. Der Unterschied zu Apel dürfte vielmehr darin bestehen, dass dieser auf die „transzendentale Synthesis der sprachvermittelten Interpretation qua Einheit der Verständigung über etwas in einer Kommunikationsgemeinschaft'40 orientiert, um damit den Solipsismus der Erkenntnisfunktion durch die regulative Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft aufzubrechen. So soll zugleich der Tatsache der Sprachvermitteltheit und damit der Konstitutionsbedingung der Öffentlichkeit Rechnung getragen werden. Versteht man jedoch wie Cassirer die weltkonstituierende Leistung der symbolischen Formen als Wechselspiel zwischen individueller Interpretation und Artikulation, fremder Reaktion und Eigendynamik der symbolischen Formen, so treten diese letzteren nicht einfach als Vermittelndes der anderen Elemente hinzu. Sie dominieren aber auch nicht oder regulieren durch ihre Struktur abschließend und vor- oder außerhalb aller Anwendung, was Leitbild und idealer Standard der Interaktion ist. Zwar sind sie konstitutiv an der Herausbildung dessen beteiligt, was überhaupt als Maßstab rationaler Geltung, allgemeiner: Erfüllung funktionaler Anforderungen gelten kann und soll. Jedoch bleibt durch die Beteiligung der individuellen Interpretation und Artikulation ein performativer Anteil enthalten, der noch den Diskurs über die Bedingungen und Strukturen der Diskurse prägt. Eine Konsequenz dieses Anteils ist die grundsätzlich offene Struktur des Diskurses: Während dieser bei Apel letztlich aus systemfunktionalen Gründen zur Letztbegründung stillgestellt werden muss, rechnet Cassirer mit einem auf Dauer gestellten, nur in Phasen stabilen offenen Prozessieren und Interagieren, in dem jede Artikulation ein Beitrag zu einer Selbstverständigungsdebatte ist. Ob dies innerhalb des bisherigen Verständnisses geschieht oder den gegebenen kulturellen Rahmen überschreitet, ist dabei kein Kriterium der Relevanz oder der Zulässigkeit einer kulturellen Symbolverwendung, da sich die Kriterien derselben ebenfalls im Fluss befinden und gewissermaßen unintentional ausgehandelt werden. 41 Dass dieser Prozess nicht in Krieg ausartet, kann im Streit der Interpretationen durch den Bezug auf gemeinsam geteilte Grundannahmen gewährleistet werden - und sei es allein die Einsicht in die jeweils unterschiedlich gefüllte, aber stets in Anspruch genommene Sinnkonstitution qua Symbolisierungsleistung. Dies ist gewissermaßen die kulturelle Komponente des Zivilisierungsprozesses, der in der kantischen Revolution der Denkart für die Philosophie in Aussicht gestellt bzw. eingefordert wird. Um noch einmal auf die Ersetzung der Kritik der Vernunft durch die Kritik der Kultur zurück zu kommen: Die oft bemühte Formel bedeutet eben nicht nur wie bei den allermeisten Anführungen, dass die Bandbreite des Untersuchten größer wird. 42 Vielmehr ist bei
40 41
42
Ebd., 355. Ähnlich bestimmt Andreas Wimmer, „Philosophische Implikationen des ethnologischen Kulturbegriffs", in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaft, Würzburg 2002, 215-238, Kultur als das Aushandeln von Bedeutungen. Die vorgeschlagene Lesart Cassirers geht als quasitranszendentale allerdings noch darüber hinaus. Eine Ausnahme von den Bezügen auf diese Formel, von denen die meisten die subjektive Bedeutung des Genitivs nicht thematisieren, bildet Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Cassirer-Forschungen Bd. 8, Hamburg 2002, 235ff.; vgl. auch dies., „Cassirers Idee der Aufklärung", in: Thomas Leinkauf, Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, CassirerForschungen Bd. 10, Hamburg 2003, 109-125, hier bes. 112; allerdings bleiben ihre Überlegungen et-
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einem exzellenten Kant-Kenner wie Cassirer auch die zweite Bedeutung der Titelformel vermutlich präsent und wird durch die beschriebene Umstellung zumindest der Sache nach mit transformiert: Kultur als Inbegriff der symbolischen Formen, darin subjektive Sinngebung wie objektive Ordnungs- und Welterschließungsfunktion vereinend, ist nicht nur Untersuchungsgegenstand, sondern zugleich Medium und Instanz der Untersuchung, sie wird in ihrer philosophisch rekonstruierten Form - in den Rang einer zugleich legitimierenden wir kritischen Grundlegung erhoben. Wie bei Kant die Vernunft sich selbst und ihre eigene Praxis vor den Richterstuhl zitiert, so gibt bei Cassirer die Kultur, verstanden nicht allein als materialer Bestand in Museen und Bibliotheken, sondern als gemeinsame Selbstverständigungsdebatte, sich selbst und all ihren Instantiierungen Regeln der Einheit und Grenzen vor. Allerdings geschieht dies nicht in Form eines selbstlos vor sich hin mäandernden Prozesses, sondern wie bei der kantischen Manifestation der überindividuellen Vernunft in und durch den einzelnen Menschen gerade durch und in all jenen Individuen, die sich in und mit Kultur bewegen und sich darin auf verschiedenen Ebenen mit sich über sich verständigen. Auch die vernunftrichterliche Strafe bei NichtZustimmung, die dem kantischen Opponenten droht, wird in Elemente des Kulturbezugs oder der Kulturteilhabe übersetzt. 43 So wie Kant zu explizieren sucht, was anerkannt werden muss, um überhaupt als vernünftig gelten zu können, so rekonstruiert die Kulturphilosophie diejenigen Grundoperationen und bezüge, die als transzendentale Voraussetzungen der Kulturalität überhaupt gelten müssen; auf konkreteren Ebenen verständigen sich die Mitglieder kultureller Gemeinschaften - die Cassirer nie substanzialistisch denken würde - über diejenigen Traditionen und deren Prinzipien, die sie für sich und untereinander als gültige Interpretationen ihrer Geschichte und Gegenwart anerkennen. Einmal mehr wird insbesondere in Bezug auf letzteres deutlich, dass es keine abschließende Deutung, keine normativ überlegene oder eindeutige Festlegung etwa im Sinne einer , Leitkultur' - geben kann, sondern dass dieser Prozess der Selbstverständigung ein permanenter und offener ist und spannungsreich und dynamisch bleiben wird. Die Umstellung von Vernunft auf Kultur als Instanz wie Gegenstand der Kritik rückt damit von der Vorstellung endgültig zu lösender Konflikte noch weiter ab und detranszendentalisiert die Philosophie, indem der materiale Bestand der Kultur - wenn auch nicht als materialer Bestand, sondern als Ergebnis sinnstiftender Tätigkeit wie Ausgangspunkt und Rahmen neuer Sinnstiftungen - konstitutiv einbezogen wird. Zugleich wird durch die Umstellung aber auch die Beziehung zwischen Philosophie und Kultur konkretisiert und ange-
43
was unausgeführt. In der Sache besteht bei der hier vorgetragenen Cassirer-Lesart eine große Nähe zu Michael Bosch, Das Netz der Kultur. Der Systembegriff in der Kulturphilosophie Emst Cassirers, Würzburg 2004. Tentativ ließe sich gar von einer kulturellen Deduktion' sprechen, zumal Cassirer sich - selten - in recht freier Art und Weise dieser Bezeichnung bedient; vgl. ζ. B. - im Anschluss an die kultursemiotische Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen: „Die bisherigen Erwägungen gingen darauf aus, eine Art erkenntniskritischer .Deduktion', eine Begründung und Rechtfertigung des Begriffs der Repräsentation zu geben, sofern die Repräsentation, die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden sollte" (Emst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen /, 39). Vgl. auch Emst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), ECW Bd. 13, Hamburg 2002, 8f„ 12ff„ wo Cassirer auf die Korrelativität von subjektiver und objektiver Deduktion bei Kant eingeht und diese Erörterung als Sprungbrett für eine erneute Begründung seiner Erweiterung benutzt.
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reichert, weil nicht mehr nur „der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit"44 durch die Adern der beteiligten Subjekte rinnt, sondern die volle Totalität des lebendigen und spannungsreichen geistigen Lebens - der Kultur.
44
Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften Bd. 1, Göttingen 6 1966, ΧΠΙ.
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Aspekte von Karl Jaspers' Vernunftphilosophie Vernunft als Widerpart fundamentalistischer Denkhaltungen
1. Positionen der Jaspers-Deutung: Seinsphilosophie, Existenzphilosophie, Vernunftphilosophie Karl Jaspers ist ein philosophischer Denker, der in seinem Philosophieren sehr breit angelegt ist und Denkmotive aus teilweise gegensätzlichen Traditionen im eigenen Philosophieren vereinigt. Aus diesem Grund gibt es bei der Ausdeutung seines Werkes immer wieder Kontroversen über die Schwerpunkte seines Philosophierens. Manche Interpreten sehen den Schwerpunkt im Denken über das Sein, hat er doch Denkmotive aus der Tradition der spekulativen Seinsmetaphysik, vor allem von Piaton, Plotin, Schelling und Hegel, in seinem Denken rezipiert. Diese Denkmotive werden in seiner Metaphysik in der Annahme eines gänzlich ungegenständlichen, eigentlichen, absoluten Seins (der Transzendenz) ebenso deutlich wie in Überlegungen zu einer Einheit oder Ganzheit des Seins. Sowohl Jaspers' Existenzphilosophie als auch das systematisierende Denken über eine Periechontologie partizipieren an diesen Denkmotiven. Am markantesten kommt diese Dimension von Jaspers' Denken im dritten Band Metaphysik des dreibändigen Hauptwerks Philosophie von 1932 zum Ausdruck sowie in dem umfänglichen Band Von der Wahrheit von 1948. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man die Philosophie von Jaspers als fundamentales Seinsdenken interpretiert 1 und ihn damit trotz aller Unterschiede in die Nähe seines Zeitgenossen Martin Heidegger rückt. Sowohl für Jaspers als auch für Heidegger steht die Seinsfrage im Mittelpunkt, obgleich sich beide Denker mit dieser Frage sehr verschieden beschäftigen. Geht es in Heideggers Philosophie um den Aufweis des Sinns eines Seins, das nicht mit dem kategorialen Seienden verwechselt werden darf, versucht Jaspers die transzendente Dimension eines Seins zu erhellen, das im objektivierenden Denken nicht vergegenständlichbar ist. Während Heidegger eine Fundamentalontologie entwerfen möchte, in der die Existenzialien des menschlichen Daseins (In-der-Welt-Sein, Sorge, Verstehen, Geworfenheit, Vorlaufen zum Tode usw.) expliziert sind, möchte Jaspers bloß die „Räume" in Form von Weisen des Umgreifenden (Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist, Existenz, Welt, Transzendenz) verdeutlichen, in denen sich jegliches Sein überhaupt erst konstituiert. Eine andere Richtung der Jaspers-Interpretation sieht den Schwerpunkt von Jaspers' Philosophieren in der Existenzphilosophie, in der es um die Sinnfrage der menschlichen Existenz und um Möglichkeiten ihrer Selbstverwirklichung geht. Jaspers greift dabei auf
1
Vgl. Leonard H. Ehrlich, „Being and Truth. Heidegger vis-ä-vis Jaspers", in: Richard Wisser/Leonard H. Ehrlich (Hg.), Karl Jaspers - Philosopher among Philosophers, Würzburg/Amsterdam 1993, 121ff.
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Gedanken von Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche zurück, 2 wie dies schon in seinem frühesten philosophischen Werk offensichtlich ist, das er selber noch als Werk einer „verstehenden Psychologie" bezeichnet, nämlich der Psychologie der Weltanschauungen von 1918. Viele Gedanken aus Jaspers' Existenzphilosophie lassen sich in einem philosophisch-anthropologischen und in einem moralphilosophischen Sinne interpretieren. Diese Seite seines Denkens bietet eine Fülle von Einsichten in die conditio humana und in Ideale eines wahren Menschseins („eigentlichen Selbstseins"), wie Jaspers sie als Möglichkeiten der existentiellen Selbstverwirklichung appellativ vor Augen stellt. In Zeiten von Orientierungskrisen und nihilistischen Sinnlosigkeitserfahrungen können solche normativen philosophisch-anthropologischen Ideen immer wieder aktuell sein. Dabei hat Jaspers vor allem zwei Ideale der Verwirklichung der unvertretbaren Existenz als Möglichkeiten der Sinngebung individuellen Lebens hervorgehoben: den Aufschwung zum authentischen, eigentlichen Selbstsein im Standhalten und Durchleben von Grenzsituationen des menschlichen Daseins (Tod, Leiden, Schuld, Kampf) sowie die Verwirklichung der Existenz bzw. des „eigentlichen Selbstseins" in der zwischenmenschlichen existenziellen Kommunikation. In diesen Bereich seines Philosophierens integriert Jaspers zweifellos viele Einsichten und Erfahrungen, die er in den Jugendjahren während der Tätigkeit als Psychiater und Psychologe gewonnen hat. Auf eine dritte Richtung verweisen Jaspersforscher(innen), die den Schwerpunkt von Jaspers' Denken in der Spätphilosophie sehen. 3 In der Denkperiode nach 1945 beschäftigt sich Jaspers nicht nur intensiv mit der Politik und verfasst 1957 als Hauptwerk seiner politischen Philosophie das Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, sondern er verweist auch darauf, dass sich politisches Denken als Resultat eines neuen Denkparadigmas interpretieren lässt, nämlich einer Vernunftphilosophie. Der Begriff der Vernunft spielt im existenzphilosophischen Hauptwerk Philosophie von 1932 noch keine systematisch bedeutsame Rolle. Erst mit der Schrift Vernunft und Existenz (1935) erhält er einen wichtigen systematischen Stellenwert. Dieser Stellenwert wird in Von der Wahrheit noch vertieft, wo Jaspers erklärt, dass das primäre Anliegen dieses Buchs „die Einübung der Vernunft als philosophischer Grundhaltung" sei.4 Ab 1950 will er seine Philosophie, wie aus dem Büchlein Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit hervorgeht, überhaupt nur mehr als „Philosophie der Vernunft" verstanden wissen. 5 Sicherlich ist Jaspers' Vernunftbegriff vieldeutig. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Jaspers damit Komponenten einer Denkhaltung verbindet (er spricht in diesem Sinne öfters von einer bestimmten „Denkungsart"), die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: die Vernunft besitzt ihrer Struktur nach stets sowohl eine aktivierende und dynamisierende als auch eine relativierende und kritisch-differenzierende Komponente. Diese Komponenten korrelieren eng mit einer Denkhaltung, die man als offen, flexibel, kommunikativ, pluralistisch, gradualistisch, differenzierend und dynamisch-kreativ bezeichnen kann, oder - anders und negativ formuliert - als anti-isolationistisch, anti-statisch, antidogmatisch, anti-totalistisch, anti-monistisch und anti-fundamentalistisch. 2
4
Auf diese Einflüsse hat u. a. Hans-Martin Gerlach anschaulich hingewiesen. Vgl. Hans-Martin Gerlach, Existenzphilosophie - Karl Jaspers, Berlin 1987, 30ff. Vgl. etwa Piotr Reputakowski, Das Problem der Vernunftphilosophie bei Karl Jaspers, Halle 1995; Kazuteru Fukui, Wege zur Vernunft bei Karl Jaspers, Basel 1995. Das zuerst genannte Buch ist als Dissertation unter der Anleitung von Hans-Martin Gerlach entstanden. Karl Jaspers, Von der Wahrheit. Philosophische Logik, Erster Band, München 3 1983, 11. Ders., Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, München 2 1952, 50.
VERNUNFT ALS WIDERPART FUNDAMENTALISTISCHER DENKHALTUNGEN
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Ich möchte im Folgenden die von Jaspers entwickelte vernunftgeleitete Denkhaltung mit der in letzter Zeit aus aktuellem Anlass wieder häufig diskutierten Denkweise des Fundamentalismus vergleichen, weil ich der Meinung bin, dass sich in Jaspers' Denken wichtige Komponenten für die Kritik an fundamentalistischen Denkweisen finden lassen. Dabei wird sich zeigen, dass Jaspers' Vernunftverständnis in einem krassen Gegensatz zu fundamentalistischen Weltanschauungen steht. Jaspers war zu seiner Zeit in unmittelbarer Weise mit zwei fundamentalistischen Weltanschauungen konfrontiert, nämlich durch die Begegnung mit zwei totalitären Ideologien, der nationalsozialistischen und der marxistischleninistischen Ideologie. Er hat dazu in seiner Totalitarismus-Kritik eindeutig Stellung bezogen. Es liegt sogar der Verdacht nahe, dass er gerade aufgrund der Konfrontation mit diesen Ideologien und den menschenverachtenden politischen Systemen, die sich auf diese Ideologien berufen haben, seine Vernunftphilosophie entwickelt hat. Bevor jedoch der anti-fundamentalistische Grundzug von Jaspers' Vernunftverständnis hervorgehoben werden kann, gilt es, zuvor den Begriff des Fundamentalismus zu klären.
2. Begriff und Erscheinungsformen des Fundamentalismus Das Wort „Fundamentalismus" taucht in der öffentlichen Diskussion erstmals im angelsächsischen Bereich auf, und zwar in den USA der zwanziger Jahre, im Anschluss an die Veröffentlichung einer Schriftenreihe (12 Bände), die unter dem Titel The Fundamentals. A Testimony to the Truth zwischen 1910 und 1915 erschienen ist. Diese Schriftenreihe wurde in drei Millionen Exemplaren gratis verteilt. Darin sind Beiträge von protestantischen Theologen abgedruckt, die gegen eine Anpassung der Religion an moderne Lebensverhältnisse auftreten und das Abweichen von fundamentalen Glaubenswahrheiten und religiösen Lebensformen auf das subversive Einwirken von Modernismus, Liberalismus und Rationalismus zurückführen. Fragt man nach den Grundüberzeugungen, die diese fundamentalistische Variante des amerikanischen Protestantismus kennzeichnet, so lassen sich vor allem vier Punkte hervorheben: (1.) die Überzeugung, dass es in der Bibel keinen Irrtum geben kann und die in der Heiligen Schrift enthaltenen Aussagen in einem absoluten Sinne wahr und ein für allemal unfehlbar sind; (2.) die Überzeugung, der wahre Bibelglaube dürfe durch die wissenschaftliche Bibelexegese der modernen Theologie und durch Erkenntnisse der modernen Wissenschaften nicht in Frage gestellt werden. Diese Überzeugung führte Mitte der zwanziger Jahre zu einem Ereignis, das das Wort ,Jundamentalism" oder , fundamentalists" in einer breiten Öffentlichkeit in den USA bekannt machen sollte: Im Bundesstaat Tennessee wurde ein Biologielehrer einer öffentlichen Highschool wegen Gotteslästerung angeklagt, weil er im Biologieunterricht ein Lehrbuch verwendet hatte, in dem die Abstammung des Menschen durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin erklärt wurde. Die Jury des Gerichtes verurteilte den Lehrer wegen Blasphemie und erklärte Darwins Abstammungslehre öffentlich für Gotteslästerung. Dieses Ereignis mobilisierte eine breite demokratische Öffentlichkeit und ließ viele liberal gesinnte Demokraten misstrauisch gegenüber den politischen Absichten der Fundamentalisten werden. Diese Absichten zielten vor allem auf die Aufhebung der in der amerikanischen Verfassung festgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat. Die Fundamentalisten waren
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(3.) der Überzeugung, dass die fundamentalen religiösen Glaubensinhalte in den staatlichen, öffentlichen Bildungseinrichtungen für alle Staatsbürger verbindlich verbreitet werden müssten. (4.) Eine vierte Überzeugung des exklusiven Wahrheitsanspruchs drückt sich schließlich in der Formulierung aus, dass nur derjenige ein wahrer Christ sein kann, der den fundamentalistischen Glaubensstandpunkt teilt. Ich kann auf die Weiterentwicklung der fundamentalistischen Bewegung in den USA bis in die Gegenwart nicht näher eingehen, sondern möchte hier nur ein Phänomen in der amerikanischen Öffentlichkeit erwähnen, das von fundamentalistischen Strömungen mit initiiert wurde und heute noch eine erstaunlich große Verbreitung besitzt. Es ist das Phänomen der Fernsehprediger und Fernsehmissionare. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer beschreibt in seinem Buch Fundamentalismus - Aufstand gegen die Moderne dieses Phänomen, das im Laufe der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts massiv auftrat, folgendermaßen: Elektronische Kirchen mit Millionenscharen ebenso glaubensentschiedener wie zahlungsbereiter Anhänger teilten den Äther des Landes unter sich auf. Private fundamentalistische Fernsehund Rundfunkanstalten mit dutzenden Millionen von Anhängern und Milliardenumsätzen nahmen beträchtliche Teile der Unterhaltung und Informationssendungen des Landes, vor allem aber dessen religiöses Leben in ihre Regie. Ein Dutzend televangelists beherrschten als Medienstars das Geschäft der zugleich unterhaltsamen und tröstenden Showgottesdienste, der pauschalen Massenseelsorge und der politischen Stimmungsmache. 6
Nach diesem Hinweis auf die Entstehung des Begriffs des Fundamentalismus im amerikanischen Protestantismus möchte ich noch einige Bemerkungen zur aktuellen Verwendung dieses Wortes machen. Gegenwärtig wird mit dem Wort „Fundamentalismus" immer wieder Bezug auf militante politisch-religiöse Strömungen im Islam genommen. Die Weltanschauungen oder Ideologien der Verfechter dieser radikalen Bewegungen, die man „islamische Fundamentalisten" nennt, unabhängig davon, ob sie Schiiten oder Sunniten sind, haben folgendes gemeinsam: Sie stellen die bestehenden Regierungssysteme, säkularen Gesellschaftsordnungen und modernen Lebensformen in den arabischen Ländern radikal in Frage und behaupten, dass sich die dortigen Gesellschaften in einer Periode der höchsten Unwissenheit, Barbarei und Götzenverehrung befinden. Durch Übernahme westlicher Ideen, Lebensstile und Verhaltensformen sei die Bevölkerung in den arabischen Ländern in einen Zustand der extremen Gottesferne geraten. Diese Gottesferne zeige sich nicht nur am Verfall von althergebrachten Sitten und der traditionellen Moral, sondern auch am sozialen Elend in den arabischen Staaten, an der Degradierung der Araber in der Weltöffentlichkeit, an den Kriegsniederlagen gegen Israel usw. Es gilt daher, einen möglichst radikalen Bruch mit dem Zustand der Gottlosigkeit (der Gahiliyya) zu erreichen, dieser Bruch muss bis in die alltägliche Lebenswelt hineingehen. Das Ziel dieses Bruchs ist die Errichtung einer ganz neuen Gesellschaft, eines islamischen Gottesstaates, in dem das gesamte Leben am göttlichen Gesetz (der Schari'a) ausgerichtet ist und die verderblichen Spuren der Moderne, wie Trennung von Religion und Politik, demokratische Institutionen, in denen gottlose Politiker am Werk sind, Freizügigkeit in alltäglichen Lebensformen wie Schleierlosigkeit der Frauen usw., wieder ein für allemal abgeschafft sind. In einem solchen Staat werden dann mit der Gottesferne und Gottlosigkeit alle anderen bedrückenden Übel ebenfalls verschwunden sein, denn die islamischen Rechts-
6
Thomas Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989, 75f.
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gelehrten, die Imame oder Ulame, werden dafür sorgen, dass ein Abfall von den Gesetzen der Schari'a nicht mehr erfolgen kann. Auf zwei besonders wichtige Spezifika des islamischen Fundamentalismus, die man sich stets vor Augen halten sollte, machte der hervorragende Islam-Kenner und Politikwissenschaftler Bassam Tibi wiederholt aufmerksam: (1) die Tatsache, dass sich der politisch-messianische Anspruch des islamischen Fundamentalismus nicht bloß auf die arabischen Staaten beschränkt, sondern universalistisch ist, d. h. im Weltmaßstab gemeint ist. Die bestehende Weltordnung, die auf der westlich-abendländischen Kultur und Zivilisation gegründet ist, soll letzten Endes durch eine islamische Weltordnung abgelöst werden. „Das fundamentalistische Programm basiert immer auf Zwang. Islamische Fundamentalisten wollen zunächst die nicht-fundamentalistischen Muslime, denen sie Abfall vom Glauben bzw. Rückfall in die Gahiliyya vorwerfen, [...] auf den .richtigen Pfad' zwingen. In einem weiteren, zweiten Schritt wollen sie dann ihre Hall Islami/Islamische Lösung, dem Rest der Menschheit aufzwingen. Genau das ist der Inhalt der fundamentalistischen Herausforderung!" 7 (2) den Umstand, dass Fundamentalisten keine Traditionalisten im strengen Sinne sind. „Fundamentalisten wollen sich durchaus die Errungenschaften des modernen Zeitalters aneignen, wenngleich sie [...] das rationalistische, mensch-orientierte Weltbild der Moderne zurückweisen. In diesem Versuch einer Synthese von vormodernen religiösen Vorschriften und willkürlich ausgewählten Elementen der Moderne, d. h. einer Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, liegt das zentrale Problem der Fundamentalisten; sie wollen sich die materiellen Güter der Moderne, nicht aber ihre Weltsicht und ihren Geist (Pluralismus, religiöse Toleranz, individuelle Menschenrechte, Säkularismus etc.) zu eigen machen. Sie träumen den Traum von einer halben Moderne." 8 Wie bei so vielen wichtigen Begriffen, mit denen wir versuchen, Ereignisse, Phänomene und Tendenzen in unserer gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeit zu beschreiben, gibt es auch für das Wort „Fundamentalismus" keine allgemein akzeptierte Definition. Es wird in der wissenschaftlichen Diskussion in einem sehr weiten Sinne verwendet, wenn neben dem schon genannten protestantischen und islamischen Fundamentalismus auch von einem katholischen und jüdischen Fundamentalismus, einem HinduFundamentalismus oder einem ökologischen Fundamentalismus die Rede ist. Auch von einem „grünen Fundamentalismus" wurde schon gesprochen in Anbetracht der Partei der Grünen in Deutschland, wo sich „Realos" und „Fundis" eine Zeit lang spektakuläre Flügelkämpfe lieferten. Eine derart breite Verwendung dieses Wortes ist nur dann möglich, wenn man darunter gewisse strukturelle Eigenheiten versteht, die an (religiösen, politischen usw.) Weltanschauungen, unabhängig von deren oft so verschiedenen Inhalten, nachweisbar sind. In diese Richtung gehen ζ. B. Auffassungen, die unter „Fundamentalismus" aus erkenntnistheoretischer Perspektive etwas Ähnliches wie „Dogmatismus" verstehen. Folgende Bestimmung von Thomas Meyer weist etwa in diese Richtung: Der Fundamentalismus setzt an die Stelle des Zweifels und der generellen Ungewissheit ein absolutes Wissen, das allem vernünftigen Zweifel enthoben wird. An die Stelle des prinzipiell
7 8
Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 1992,221. Ebd, 36.
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unabschließbaren und für alle Argumente offenen Diskurses, der die Wissensform der Moderne ist, tritt ein zum festen Fundament allen weiteren Fragens und Handelns dogmatisiertes absolutes Wissen, das der wissenschaftlichen Prüfung und der relativierenden öffentlichen Debatte entzogen wird. 9
3. Jaspers' Vernunftverständnis als Gegensatz zu fundamentalistischen Grundüberzeugungen Dass sich Jaspers' Vernunftphilosophie und die damit nahe gelegte vernünftige Denkungsart als Gegenposition zu fundamentalistischen Grundüberzeugungen interpretieren lässt, zeigen folgende drei Gegensätze in den strukturellen Grundelementen der beiden Denkungsarten: (a) Undogmatisches, plurales Wahrheitsverständnis cher Wahrheitsanspruch:
versus absoluter
ausschließli-
Ein erster Gegensatz betrifft die Wahrheitsfrage und die Möglichkeit der Begründung von Wahrheitsansprüchen. Aus fundamentalistischer Sicht gibt es die absolute Wahrheit, sie geht auf eine unhinterfragbare metaphysische Instanz, eine Gottheit, einen gottgesandten Propheten usw. zurück und wird den Menschen in einem einmaligen Offenbarungsakt kundgetan, so dass der Mensch Anteil an dieser Wahrheit haben kann. Sie ist ein für allemal in bestimmten heiligen Texten niedergelegt und diese Texte sind in ihren zentralen Aussagegehalten sakrosankt, über jeden Zweifel erhaben, auf ewige Zeiten unrevidierbar. Versuche einer vernunftmäßigen Prüfung oder Begründung des absoluten Wahrheitsanspruchs erscheinen aus fundamentalistischer Sicht als modernistisch-rationalistisches Sakrileg. Jedes Versuch einer vernünftigen Begründung absoluter Glaubenswahrheiten mindert nur die Glaubensgewissheit. Diese ist eine Gnade, die Gott dem Rechtgläubigen gerade in einer Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit gewährt, und eine solche Zeit ist die Moderne, in der alles in Frage gestellt wird. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem absoluten Wahrheitsanspruch steht in fundamentalistischen Positionen stets auch ein Ausschließlichkeitsanspruch. Aus der durchaus plausiblen Überzeugung heraus, dass es nur eine absolute Wahrheit und nicht mehrere geben kann, wird der Anspruch erhoben, dass ausschließlich in der eigenen Weltanschauung die Manifestation dieser Wahrheit gegeben sei. Nur die eigene Gesinnungsgemeinschaft ist im Besitz der absoluten Wahrheit und keine andere. Aus der Perspektive von Jaspers' Vernunftphilosophie wird die Idee einer unveränderlichen, absoluten Wahrheit, in deren Besitz sich ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen setzen könnte, entschieden abgelehnt. Die absolute Wahrheitsidee wird vielmehr - in Analogie zu Immanuel Kants erkenntnistheoretischer Position - als regulative Idee vorausgesetzt. Eine solche Idee stellt aus Jaspers' Sicht im menschlichen Vernunftvermögen immer nur ein Annäherungsideal dar, das tatsächlich nie erreichbar ist. Es hat im Erkenntnisprozess die Funktion, das Erkenntnisbemühen und die Wahrheitssuche permanent voranzutreiben und niemals erlahmen zu lassen. Am deutlichsten hat Jaspers diesen Standpunkt in dem Buch Von der Wahrheit entwickelt. Dort ist von mehreren „Weisen des Sinnes von
g
Thomas Meyer, Fundamentalismus, 161.
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Wahrsein" 10 die Rede, die sich in den Weisen des umgreifenden Seins in verschiedenen Ausprägungen verwirklichen. Die eine und absolute Wahrheit ist durch keinen Wahrheitsanspruch erreichbar, sie bleibt für alle Weisen des Wahrheitssinnes immer nur Idee, auf die der Mensch zwar zustrebt, bei deren Realisierung er aber notwendig scheitern muss. Im dynamischen und unabschließbaren Prozess der Wahrheitssuche wird immer nur eine partielle, vorläufige und stets überholbare Wahrheit erreicht, die einzelnen Wahrheitsansprüche, die zur Verabsolutierung neigen und vorgeben, die eine Wahrheit zu besitzen, werden durch die Pluralität des Wahrheitssinnes relativiert.
(b) Offen-kommunikatives
Wissensideal versus elitär-autoritäres
Wissensideal:
Ein zweiter Gegensatz zwischen der vernunftgeleiteten Denkungsart im Sinne von Jaspers und einer fundamentalistischen Denkungsart betrifft den Zugang zu jenem Wissen, das als weltanschaulich, politisch und gesellschaftlich relevant gilt. Fundamentalistische Positionen basieren auf einem elitär-autoritären Wissensideal. Sie räumen Einzelpersonen oder elitären Gruppen, von Gott auserwählten Führerpersönlichkeiten oder Priestereliten von vornherein einen privilegierten Zugang zu einem Wissensbestand ein, der als besonders bedeutsam hingestellt, ja oft sogar zu einem Heils- und Überlebenswissen für eine ganze Gruppe, ein ganzes Volk oder gar für die gesamte Menschheit hochstilisiert wird. Von metaphysischen Instanzen angeblich auserwählte Glaubensautoritäten und charismatische Führerpersönlichkeiten erhalten ein Interpretationsprivileg auf ein angeblich höheres Wissen zugesprochen, das allen anderen Menschen prinzipiell nicht zugänglich und in keiner Weise überprüf- und kontrollierbar ist. Mit diesem Erkenntnisprivileg wird stets auch die Kompetenz verbunden, allein darüber entscheiden zu können, welche Personen zu den rechtgläubigen Anhängern der betreffenden fundamentalistischen Weltanschauung zu zählen sind und welche zu den Abtrünnigen und Verrätern. Das Denkmotiv eines nicht kontrollierbaren höheren Wissens und eines privilegierten Zugangs zu diesem Wissen ist ein uraltes Denkmotiv. Es findet sich schon in der Staatslehre Piatons, wo den Philosophen ein von den anderen Ständen gänzlich unkontrollierbares Erkenntnismonopol zuerkannt wird, das sie allein dazu berechtigt, die Staatsgeschäfte zu führen. Denn nur sie sind angeblich dazu in der Lage, in einem von den Angehörigen der anderen Stände nicht nachvollziehbaren intuitiven Erkenntnisakt die Idee des Guten und die Idee der Gerechtigkeit zu schauen. Hans Kelsen und Karl Popper haben den elitären und anti-demokratischen Kern der Argumentation Piatons anschaulich hervorgehoben." Jaspers vertritt in seinem politischen Denken und seiner Vemunftphilosophie im Unterschied zu einem solchen elitär-autoritären Erkenntnisideal ein demokratisches Erkenntnisund Wissensideal. Dies kommt in der Idee des „vernünftigen Staatsmannes" zum Ausdruck, die er als Ideal einer politischen Führungspersönlichkeit vor Augen stellt. In Bezug auf solche Persönlichkeiten hatte Jaspers in einer frühen Denkperiode noch eher romantisierende und elitäre Ansichten. So betont er in der Schrift Die geistige Situation der Zeit von 1931 noch ausdrücklich, dass an „den Wendepunkten der Daseinsordnung, wo die Frage ist, ob Neuschöpfung oder Untergang", der „Mensch entscheidend" sei, „der aus eigenem Ursprung das Steuer ergreifen kann auch gegen die Masse." 12 Legt Jaspers hier noch unter dem
10
Karl Jaspers, Von der Wahrheit, 458. Vgl. Hans Kelsen, „Die platonische Gerechtigkeit", in: ders., Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, 229f.; Karl R. Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, Tübingen 7 1992, 144ff. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 5 1971,51.
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Einfluss von Nietzsches Idealen von „Ausnahme"-Persönlichkeiten („freie Geister", „Übermensch") sowie von Max Webers Idee eines charismatischen Führertums den Typus politischer Führungspersönlichkeiten nahe, die von der Masse abgehoben und mit einem hohen Maß an Entscheidungsfreiheit bzw. Entscheidungswillkür ausgestattet sind, wandelt sich diese Vorstellung nach dem Erlebnis der NS-Ära mit ihrer Führerideologie in Jaspers' Vernunftphilosophie grundsätzlich. Der vernünftige Staatsmann ist eine Persönlichkeit, die sich aus einem uneigennützigen Ethos für die Politik als Repräsentant und Erzieher des Volkes versteht sowie als Vorbild in seiner Lebens- und Denkhaltung. Eine „gemeinschaftliche Öffentlichkeit" im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit ist ihm eine Selbstverständlichkeit. Denn sie verlangt nicht bedingungsloses Vertrauen [ . . . ] sondern fordert selbst die Kritik heraus. [...] Die Kritik soll den Politiker, der Staatsmann werden will, gleichsam beklopfen, beobachten und befragen, ob er berechtigt ist, an diesem Ort ans Steuer zu treten. [ . . . ] Sie darf kein blindes und kein falsch motiviertes Vertrauen dulden. [ . . . ] Der Staatsmann soll sich Vertrauen erwerben, das begründet ist. Er selbst will es im Sturm der Öffentlichkeit gewinnen. Sein Leben liegt offen, weil es alle angeht. Sein Wesen hat einen Zug des Vorbildlichen für ein Volk, das sich in ihm erkennt, während es kritisch bleibt. 13
Daraus wird ersichtlich, dass für Jaspers politische Wissensansprüche, von denen die Schicksale und Lebens-Chancen vieler Menschen abhängig sind, in der Öffentlichkeit zumindest im Rahmen einer „Gemeinschaft der Vernünftigen" 14 diskutierbar sein müssen. Die kritische und vernünftige Diskussion von Problemlösungsvorschlägen in der Öffentlichkeit durch möglichst viele vernünftige Individuen und nicht die autoritäre Entscheidung aufgrund eines unkontrollierbaren Geheim wis sens einzelner oder weniger Menschen ist ein Kernbestandteil von Jaspers' Wissens- und auch Politikverständnis. (c) Individualismus
und Pluralismus
versus Monismus
und
Holismus
Ein dritter Gegensatz zwischen Fundamentalismus und Jaspers' Vernunftphilosophie betrifft die Grundeinstellung zum Verhältnis von Einheit und Vielfalt (Pluralität), bzw. Ganzheit und Einzelnem (Individuellem). In fundamentalistischen Positionen wird eine Einheit, Ganzheit, oft auch eine einheitliche Geschlossenheit beschworen, sei es in Bezug auf den Glauben, das Wissen, die Gesinnungsgemeinschaft, den Zusammenhalt in der eigenen Gruppe, die Gesellschaft usw. Fundamentalistische Weltanschauungen kommen mit solchen Einheits- und Ganzheitsvorstellungen latenten Bedürfnissen und Sehnsüchten entgegen, die tief in der menschlichen Psychostruktur verankert sind. Es sind dies Bedürfnisse und Sehnsüchte nach Sicherheit, nach Unkompliziertheit der Lebensverhältnisse, nach Eindeutigkeit, nach einem Zustand, in dem man sich als Teil eines Ganzen geborgen fühlen kann, eine Einheit mit diesem Ganzen bildet und von diesem Ganzen her in seinen individuellen Lebensentwürfen gestützt wird. Solche Einheits- und Ganzheitsideen sind im Rahmen fundamentalistischer Weltanschauungen wichtige Hilfsmittel, um für einzelne Menschen - mit Sigmund Freud gesprochen - den „Druck der Realität" 15 zu mildern. Diese Ideen können individuelle Leiderfahrungen beträchtlich abschwächen, wenn diese in den Kontext eines
13 14 15
Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 6 1982, 334f. Zu dieser Vorstellung vgl. ebd., 301ff. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1974,210.
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Sinnganzen, etwa eines heilsgeschichtlichen Endziels, gerückt sind und man sich einzureden vermag, das persönliche Leid müsse im Kontext des Ganzen schon irgendeinen Sinn haben, für irgendetwas gut sein. Im äußersten Fall ist man sogar dazu bereit, im Dienste des übergeordneten Sinnganzen sein Leben zu opfem, um damit das verheißene endgültige Heilsziel herbeizuführen. Auch Entscheidungsängste können reduziert werden, wenn man der festen Überzeugung ist, nur als Teil eines Ganzen im Sinne dieses Ganzen zu handeln; die Last der Verantwortung für getroffene Entscheidungen und getätigte Handlungen lässt sich auf die ganzheitliche Wesenheit abschieben, in deren Interesse oder gar in deren Auftrag man gehandelt zu haben meint. Bereits in seinem frühen Buch Psychologie der Weltanschauungen fordert Jaspers, dass jedes ganzheitliche, einheitliche, geschlossene Weltbild immer wieder relativiert und aufgebrochen werden muss, weil es sonst zu einem „Gehäuse der Hörigkeit" wird, in dem die individuelle Freiheit und schöpferische Spontaneität des Menschen verloren gehen. 16 Ganzheitliche Weltbilder beschränken die Freiheitsspielräume, in denen der Mensch in persönlicher Selbstbestimmung sein individuelles und unvertretbares Menschsein verwirklichen kann. In seiner Vernunftphilosophie wendet sich Jaspers entschieden gegen totalistische Denkformen, die ein „Totalwissen" beanspruchen, und die Möglichkeit abgeschlossener „Ganzheiten" von Erkenntnissen vorgaukeln. Derart perfektionistische Wissensansprüche sind für ihn bloß Ausdruck eines „Wissenschaftsaberglaubens". Genauso wie in der Wissenschaft sind in der Politik perfektionistische „Einheits"- „Ganzheits"- und Totalitätsillusionen abzulehnen. So ist auch die Demokratie niemals als „Ganzheit" oder „Totalität"" zu verwirklichen. Die Demokratie ist eine regulative Idee, d. h. ein Annäherungsideal, an dem es zwar politisches Denken und Handeln stets zu orientieren gilt, aber es wäre eine Illusion, zu meinen, dass dieses Ideal jemals ein- für allemal auf perfektionistische Weise in die Wirklichkeit umzusetzen ist. „Die Demokratie ist eine Idee. Das bedeutet, daß sie nirgends vollendet sein kann und daß sie sogar als Ideal sich einer anschaulichen Vorstellung entzieht [...] Der demokratischen Idee entspricht das Bewußtsein der Unvollendbarkeit des Menschen." 17 Sicherlich lassen sich in Jaspers' Vernunftphilosophie noch weitere Gesichtspunkte finden, die für die kritische Analyse von Weltanschauungen bedeutsam sind. Auch dies zeigt die überzeitliche Relevanz seines Philosophierens.
16
Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Ders., Atombombe und Zukunft, 425.
Neuausgabe, München 1985, 304ff.
Giorgio
Penzo
Die Autorität und das Nichts bei Karl Jaspers
Die Thematik der Autorität steht im Mittelpunkt der Jaspersschen Philosophie. In allen seinen Schriften bemüht Jaspers sich, die tiefgehende Beziehung zwischen Autorität und Freiheit hervorzuheben, wobei es genauso wenig eine Autorität ohne Freiheit wie eine Freiheit ohne Autorität geben kann. Solch eine Autorität bezieht sich auf die Realität des „einzelnen" und des „kollektiven" Menschen. In seinem Vortrag Das Kollektiv und der Einzelne1 von 1956 unterscheidet Jaspers zwischen einer Dimension der authentischen und einer der nicht-authentischen Kollektivität. Die erste wird definiert als „substantielle Gemeinschaft", die zweite als „technische Gesellschaft". Die „Gesellschaft" ist an Zeit und Geschichte gebunden, die „Gemeinschaft" dagegen ist überzeitlich und übergeschichtlich. Sie ist demnach mit der Dimension des Ewigen verbunden. Allerdings bevorzugt Jaspers statt des Begriffs der „Ewigkeit" den Ausdruck „quer" zur Zeit und zur Geschichte. Die intrinsische Beziehung zwischen Autorität und Freiheit hängt von der noch fundamentaleren Beziehung zwischen „Macht" und „Gewalt" ab. Dies wird vor allem im Bereich der Autorität hervorgehoben. Wenn man von der authentischen Freiheit des Menschen spricht, denkt man dabei an ein dialektisches Gleichgewicht zwischen Macht und Gewalt. Deshalb folgt aus einer Verschiebung des Gleichgewichts ein Verlust der Autorität unter dem Aspekt der Macht und ein Triumph der Autorität unter dem Aspekt der Gewalt. Jaspers denkt, dass es, sofern dieses Gleichgewicht nicht besteht, angemessen sei, statt von „Autorität" von „Autoritarismus" zu sprechen. Im Bereich des Autoritarismus unterstützt man die „Vergöttlichung" des Menschen, insofern diese zur Quelle seiner Autorität wird. Der Unterschied zwischen Autorität und Autoritarismus zeigt sich daran, ob die Autorität offen zur Transzendenz ist, so dass die Dimension der Macht nicht auf die Dimension der Gewalt absinken kann. Jaspers steht jeder „Vergöttlichung" des Menschen äußerst kritisch gegenüber, sei es in der Gestalt des Einzelnen oder der des Kollektivs, wie es aus seinen Betrachtungen über den Totalitarismus hervorgeht. Die Vergöttlichung des Menschen bringt mit sich, dass die Thematik des Unterschiedes zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen schwindet. Diese Problematik aber gründet in der Thematik der Transzendenz. Jaspers unterstreicht häufig, dass man zwar ohne das Göttliche philosophieren kann, nicht aber ohne die Transzendenz. Eine derartige Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Göttlichen betrifft das
1
Karl Jaspers, „Das Kollektiv und der Einzelne", in: ders., Das Wagnis der Freiheit, München 1996, 173-
180.
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eigene Fundament des Menschen. Die Geschichte der philosophischen Interpretation des Menschen ist im Grunde die Geschichte des Unterschiedes zwischen Menschlichem und Göttlichem. Im Kontext dieser Problematik des Unterschieds und somit auch der Transzendenz unterscheidet Jaspers einen existenziellen vom metaphysischen Unterschied, also zwischen demjenigen, der typisch für den klassischen Gedanken ist und demjenigen, der als ontologischer Unterschied gelten kann, wie er etwa für Heidegger charakteristisch ist. Etwas präziser gesagt, manifestiert sich das „Göttliche" im Denken von Jaspers in der eigenen Existenz des Einzelnen, die als mögliche Existenz berücksichtigt wird. Das „Göttliche" ist genau diese eigene Möglichkeit. Die Existenz, verstanden als Möglichkeit, ist immer eine Existenz, die offen zur Transzendenz ist. Dies bedeutet, dass der Mensch in seiner Authentizität ein „Sich-öffnen-Zu" ist. Die Existenz ist demnach eine kontinuierliche Transzendenz, in anderen Worten: der Mensch ist nie, was er ein- für allemal ist. In der Existenz, gesehen als kontinuierliche Möglichkeit, wird nun die Gefahr der „Vergöttlichung" des Menschen, die eintritt, wenn der Einzelne sich als letzte Quelle der eigenen Autorität präsentiert, überwunden Um diese Problematik weiter zu verdeutlichen, ist das Kapitel über Autorität von besonderer Bedeutung, welches in der umfangreichen Schrift Von der Wahrheit2 zu finden ist. In dem bedeutenden Paragraphen über die Autorität unterstützt Jaspers die These, dass es keine zeitlose, allgemeine Autorität geben kann, weil in ihrer Essenz Autorität „geschichtlich-existentiell" ist. Die Tatsache, dass es keine allgemeine und zeitlose Autorität gibt, repräsentiert für Jaspers die „Grundunstimmigkeit" des weltlichen Lebens. In der Tat ist die Autorität, wenn man sie als geschichtlich-existentielle Realität betrachtet, nie einmal für immer präsent und muss kontinuierlich betrachtet werden. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von einer ursprünglichen Dimension der Autorität, die im Grunde nichts anderes ist, als eben die Transzendenz: „Es kann keine echte Autorität geben ohne Bezug auf Transzendenz als Ursprung". Aber damit die Autorität die Sprache der Transzendenz sein kann, muss ein Gleichgewicht zwischen Macht und Gewalt bestehen. Dies ist keine Dialektik im hegelianischen Sinne, sondern ihre dialektische Dimension besteht in der fortwährenden Öffnung der Existenz zur Transzendenz. Gesetzt den Fall, dass diese Transzendenz schwindet, ergibt sich ein Triumph der Gewalt über die Macht und in der Folge wird die Autorität zu Autoritarismus und Dogmatismus. Jaspers betont ferner, dass man bei der authentischen Dimension der Autorität ein Gleichgewicht vor sich hat, welches nicht von irgendeiner Weltanschauung abhängt, sondern von einer existenziellen Entscheidung des Einzelnen. Demnach ist die Basis dieses Gleichgewichts kein allgemeines Prinzip, sondern nur der Wille des Einzelnen. Dies beleuchtet die Tiefendimension der Autorität, die sich Schritt für Schritt von der Sklaverei der Konzepte befreit. Jaspers ist überzeugt davon, dass die Autorität, die sich auf das Fundament des Menschen bezieht, nicht auf einem allgemeinen Konzept basieren kann. 3 Die Wahrheit und die authentische Autorität basieren nur auf der Entscheidung des Einzelnen, also auf dem formellen Akt der Entscheidung. Aber dies bedeutet, dass die authentische Autorität des Einzelnen nur
2 3
Karl Jaspers, Von der Wahrheit (1947), München "1991. Vgl. dazu insbesondere 745ff. Eine Einstellung, die auf den Einfluss Max Stirners zurückgeführt werden kann.
D I E A U T O R I T Ä T UND DAS NICHTS BEI K A R L JASPERS
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auf einem Nichts basiert. In anderen Worten: die einzige Garantie der Autorität ist das Nichts. Vor diesem Hintergrund wird ein zweiter Plan für einen möglichen Diskurs über das Fundament der Autorität aufgestellt, nämlich unter einem metaphysischen Aspekt, der typisch ist für die Philosophie des Seins und unter dem Aspekt des Verstandes im illuministischen Sinne. Die Öffnung des Nichts, auf einer fundamentalen Ebene, bedeutet nicht nur ein Überwinden oder Transzendieren der Realität des Objektes, sondern impliziert vor allem das kontinuierliche Überwinden und Transzendieren der objektiven Realität. Bei diesem Überwinden kann man von einem „Bewusstsein der Verantwortung" auf einem authentischen Niveau sprechen. Deshalb wird die Realität der Verantwortung genauso wie jene der Autorität im Plan des Fundamentes betrachtet. Es geht also nicht um das Objekt, was auch immer es sein mag, sondern darum, die Grenzen des Objektes zu betrachten. Daher ist die Verantwortung eng an die Autorität gebunden, die ihr Fundament nur in der Realität des Nichts hat. Aufgrund dessen muss jedes Motiv, das versucht, den Akt der Verantwortlichkeit, verbunden mit der Autorität, zu rechtfertigen, vermieden werden. Jeder objektive Inhalt kann das Gleichgewicht zwischen Macht und Gewalt zerstören. Es handelt sich dabei um ein fundamentales Gleichgewicht, vor allem, weil eine Dominanz der Gewalt zu Terror, der extremsten Form der Gewalt, führen kann. In diesem Fall verringert sich die Verantwortung des Einzelnen und wird von der Verantwortung der Masse überlagert, die nach Jaspers eine nihilistische Verantwortung im negativen Sinne des Wortes ist. Es handelt sich dabei um die Verantwortung der Gesellschaft und nicht der Gemeinschaft. Im Bereich der Gesellschaft tritt so das „Phänomen des Totalitarismus" auf, von dem Jaspers auch in seinem Vortrag Im Kampf mit dem Totalitarismus4 spricht. Jaspers betont, dass der Totalitarismus nicht bloß ein Phänomen innerhalb sozialer Formen wie dem Faschismus, Nationalismus und Kommunismus darstellt, sondern ebenfalls in der ontologischen Beziehung der Autorität zwischen Macht und Gewalt präsent ist: Der Totalitarismus existiert auch im demokratischen Staat. An dieser Stelle kann ein Einschnitt gemacht werden. Es wurde ersichtlich, dass die Autorität in einem authentischen Sinne im Gebiet der Transzendenz betrachtet wird, verstanden als ein kontinuierliches Transzendieren jedes objektiven Inhalts. Solch ein Transzendieren bedeutet, fortwährend über die Grenzen des Objektes hinauszugehen. Dank dieser Handlung kann im Bereich der Autorität von einem dialektischen Gleichgewicht zwischen Macht und Gewalt gesprochen werden. Aufgrund dieses Gleichgewichtes lässt sich von authentischer Autorität sprechen - eine Dimension der Autorität, die auf einer fundamentalen Ebene die intrinsische Beziehung zwischen Realität und Kommunikation impliziert. Ohne die Kommunikation wird der Triumph der Ausschließlichkeit aufgehalten, er fördert allerdings den Triumph des Aberglaubens. Der Begriff des Aberglaubens hat in diesem Zusammenhang keine religiöse Bedeutung, er begrenzt sich darauf, jeden Versuch mit der Absicht, die existenzielle Realität der Wahrheit und jene der Autorität in allgemeinen Konzepten festzuhalten, als nicht authentisch zu definieren. Diese Reflexionen über die Autorität in Bezug auf den Menschen als Einzelnen können auch auf den Menschen in seiner Beziehung zu Anderen erweitert werden, also auf den sozialen Menschen. Auch hier ist die Beziehung nur authentisch, wenn sie auf dem Nichts basiert. Es handelt sich dabei um eine Beziehung, die immer geschichtlich-existenziell ist, weil sie im Vergehen der Zeit betrachtet wird. Dies wird im sozialen Bereich des Gesetzes 4
Karl Jaspers, „Im Kampf mit dem Totalitarismus", in: ders., Philosophie 96.
und Welt, München 1958, 76-
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festgehalten. In seiner authentischen Dimension stellt sich das Gesetz in seinem Ausdruck des „Geöffnet-sein-Zu" dar, also in der Transzendenz. Ohne diese Öffnung hin zur Transzendenz würde das Gesetz auf einen dogmatischen Ausdruck zurückfallen. Es überwindet die Gefahr des Dogmatismus dank der Realität der Revolte. Dabei handelt es sich um einen Akt, der verhindert, dass das Gesetz festgelegt und dogmatisiert wird. Die Autorität ist authentisch im Weltlichen durch die Revolte. Allerdings reduziert sich die Beziehung zwischen Autorität und Gesetz nicht auf die zwischenmenschliche Beziehung, sondern lässt sich auch auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Göttlichen beziehen. Im Vortrag Freiheit und Autorität5 ist zu lesen, wie im empirischen Bereich unter den verschiedenen Aspekten wie dem Soziologischen und dem Psychologischen die Autorität unter die Dimension des Verstandes fällt und zum Objekt wissenschaftlicher Forschung wird. Die Grenze dieser Forschung ist die gleiche wie die Grenze des Wissens, da in ihr nicht die Essenz der Autorität erfasst wird. Betrachtet man nun die Autorität unter dem Aspekt der Transzendenz, so eröffnet sich ein neues Problem. Denn Jaspers gibt zu bedenken, dass die Kraft der Autorität von der Art und Weise abhängt, wie das Göttliche konzipiert wird. In Freiheit und Autorität benutzt Jaspers die Begriffe „Gott" und „Göttlichkeit" für den Ausdruck „Transzendenz". Es ist zu lesen, dass die Autorität, die sich nicht auf Gott gründet, Gefahr läuft, zu einem Wissenschaftsaberglauben zu führen. Bezüglich der Thematik der Autorität im Verhältnis zum Göttlichen halte ich eine Aussage aus Von der Wahrheit in dem Kapitel über die Autorität für fundamental. Sie lautet: „Ein Mensch als solcher kann nie für den anderen Menschen Autorität sein." Dies aber ist nur möglich, wenn der Mensch zur Transzendenz geöffnet ist. Es bleibt immer ein Problem, in welcher Form Gott zum Menschen spricht. Spräche er mittels einer übernatürlichen Stimme, in Form einer Offenbarung, so könnte dies Verwirrung stiften, da es verschiedene Offenbarungen gibt. Für gewöhnlich werden solche Ausdrücke von Göttlichkeit abgestritten, weil man annimmt, dass das Göttliche sich im Menschen manifestiert. Für Jaspers muss die wahre Autorität offen bleiben (Freiheit und Autorität). Das Objekt dieser Öffnung aber ist eben das Nichts, auf dem sich auch die Autorität bezüglich der Realität des Göttlichen gründet.
5
Karl Jaspers., „Freiheit und Autorität", in: ders., Wahrheit und Bewährung: xis, München 1983, 26-45.
Philosophieren
für die Pra-
ANDREAS CESANA
Historismus und Existenzphilosophie, Kulturalismus und Weltphilosophie Zur Vernunftphilosophie von Karl Jaspers
Als im Jahr 1784 Immanuel Kant, Moses Mendelssohn und andere in ihren Schriften zur Aufklärung die Frage erörterten, was Aufklärung denn eigentlich bedeute, da neigte sich, wie Hans-Martin Gerlach kürzlich bemerkte, die Aufklärungsepoche bereits ihrem Ende entgegen: „Man hatte also schon über einhundert Jahre Aufklärung betrieben, ohne zu wissen, was das denn eigentlich im Kern theoretisch und praktisch bedeutet, was man da tut." 1 Das Beispiel bezeugt die Schwierigkeit des philosophischen Geschäftes, die gelebten, aber noch weitgehend wortlosen Tendenzen der Zeit begrifflich zu erschließen. Es ließe sich eine ganze Reihe vergleichbarer Beispiele der neueren Philosophiegeschichte anführen, die dasselbe belegen und die zugleich aufzeigen, wie schwer es fällt, sich von Denkgewohnheiten zu trennen, die den Blick auf die neuen Gegebenheiten in der sich verändernden Welt verstellen. Die „Selbstbefreiung des Denkens" aus undurchschauten, sich immer von neuem wieder bildenden Abhängigkeiten bleibt eine vorrangige Aufgabe des Philosophierens, zumal im Zeitalter sich beschleunigender Umgestaltung aller Verhältnisse. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit zwei anderen Hauptphänomenen der neueren und neusten Ideen- und Geistesgeschichte. Beide sind in ihrer Bedeutung mit der Aufklärung vergleichbar, in der sie ihren frühen Ursprung haben: der Historismus, also die geschichtliche Denkweise der Moderne, und der Kulturalismus, das heißt die nachmoderne Denkform in interkulturellen Bezügen. Auf die Herausforderungen des Historismus antwortete Karl Jaspers mit seiner Existenzphilosophie. Sie gewann die als objektiven Besitz verlorene Wahrheit zurück, indem sie diese strikt an die denkende Person band und das Vernunftdenken - in Entgegensetzung zum Verstandesdenken - zur genuin philosophischen Rationalitätsform erklärte. Als Weltphilosophie öffnete sie sich dem Denken anderer Kulturen, getragen von einer Einheitsvorstellung, die sie an der kritischen Einsicht hinderte, wie sehr sie das Fremde in der Optik des Eigenen erblickte.
Der Historismus und sein Problem Über die Prozesse, die zur Ausbildung des Historismus führten, urteilte Friedrich Meinecke, sie hätten die vielleicht „größte Revolution des Denkens" begründet, die das Abendland
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Hans-Martin Gerlach, „Aufklärung und Kultur - ihre Rolle im kulturphilosophischen Diskurs einst und heute", in: Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, hg. von Hans-Martin Gerlach, Andreas Hütig und Oliver Immel, Frankfurt a. M. 2004, 21-27, hier 21.
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erlebt habe. 2 Das „reichere und tiefere Weltbild", das aus dem Historismus hervorgegangen sei, habe einen Bruch mit dem bisher geltenden Geschichtsverständnis bewirkt: Geschichte stelle sich nicht länger flächenhaft, eindimensional und übersehbar dar, sondern „perspektivisch mit unausmessbaren Hintergründen". Sie verlaufe nicht mehr mit ewiger Wiederkehr des Gleichen, sondern „mit ewiger Neugeburt des Eigenartig-Unvergleichlichen." 3 Kaum jemand hat die unverlierbaren Errungenschaften der historistischen Sicht so eindringlich dargestellt wie Wilhelm Dilthey: „Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben [...]." 4 Die Einsicht in die historische Bedingtheit menschlicher und gesellschaftlicher Zustände sei unausweichlich. Die Gewissheit der historischen Relativität jeder Art von Glauben sei „der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen". 5 Im Historismus vollende sich die Aufklärung. Der Historismus weist auf den Säkularisierungsprozess der Aufklärung zurück, aus dem er hervorgegangen ist. Doch die historistische Vorstellung, dass das Geschehen der Geschichte keiner vorgegebenen Verlaufsrichtung folgt, sondern als bloßes Anderswerden zu begreifen ist, lag selbst für das aufgeklärte Denken zunächst noch außerhalb des Denkmöglichen. Es gelangte nicht über eine Umdeutung der Heilsgeschichte in profane Entwicklungsgeschichte hinaus: Bei Turgot, Voltaire und Condorcet wird der Vorsehungsgedanke durch die Fortschrittsidee ersetzt. Erst nach dem Zusammenbruch der klassischen geschichtsphilosophischen Systeme von Kant und Herder bis zu Hegel und Marx wird der Weg frei für das Geschichtsbild des Historismus. Der Begriff des Historismus wurde je nach philosophischem Standpunkt in einem eher positiven oder eher negativen Sinne verwendet; er konnte sowohl zur Legitimierung als auch zur Diffamierung einer Position verwendet werden. Zum einen stellte der Historismus mit geradezu emanzipatorischem Pathos an alles fraglos Geltende die kritische Frage nach seiner historischen Bedingtheit, zum anderen drohte er in seiner historischen Kritik jede Bindung an irgendwelche Systeme von Philosophie oder Glauben unmöglich zu machen. Das daraus folgende sogenannte Historismusproblem besteht im Umschlagen in einen Relativismus, der weder Positionen noch Wertsetzungen von überhistorischer Geltung mehr zulässt. Die Denker des Historismus stimmen weitgehend darin überein, dass sie dem Historismusproblem zutiefst ambivalent gegenüber stehen. So spricht selbst Meinecke von dem „korrosiven Gift", das in dem alles relativierenden Historismus stecke. 6 Und Dilthey verbindet sein Lob auf den Historismus, der die letzten Ketten selbstverschuldeter Unfreiheit beseitige, mit der bangen Frage: „[...] wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen,
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Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hg. v. Walther Hofer, München 3 1963, 425. Vgl. auch die pointierte Aussage in der „Vorbemerkung" zu seinem Werk über Die Entstehung des Historismus (hg. v. Carl Hinrichs, München 1965), 1: „Und das Aufkommen des Historismus war [...] eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat." Ebd., 426. Wilhelm Dilthey, „Rede zum 70. Geburtstag" (1903), in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, 9. Wilhelm Dilthey, „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig/Berlin 1927, 291. Friedrich Meinecke, Geschichte und Gegenwart, hg. v. Eberhard Kessel, in: ders., Werke, Bd. 4, Stuttgart 1959,90-101,95.
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die hereinzubrechen droht, zu überwinden?" 7 Solche Stellen machen deutlich, dass der Historismus wegen seiner relativistischen Konsequenzen selbst seinen Verfechtern irgendwie unheimlich ist. Sie bejahen den Historismus, aber lehnen den historischen Relativismus ab; sie suchen eine historistische Position zu begründen, die es erlaubt, die auflösenden, alles auf bloße Veränderung reduzierenden Folgen zu vermeiden. Im Zusammenhang mit solchen Bemühungen ist auch Diltheys Weltanschauungslehre zu sehen. Sie geht zwar von der Feststellung aus, dass das historische Bewusstsein die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin, die im Verlauf der Zeiten aufgetreten ist, anerkennen müsse. 8 Aber an die Stelle der Begründung eines abschließenden philosophischen Weltbildes tritt jetzt die Möglichkeit des Vergleichs und der Typisierung der verschiedenen Weltanschauungen. Es zeichnet sich dadurch eine „Ordnung der Weltanschauungen" ab, in der jede einen Einzelaspekt des Universums ausdrückt. In diesem Sinne, so resümiert Dilthey, sei jede Weltanschauung wahr, aber partikulär und relativ. Die Ordnung der Weltanschauungen, „welche die Mehrseitigkeit der Wirklichkeit für unseren Verstand in verschiedenen Formen aussprechen", weise wenigstens „auf Eine Wahrheit" hin, doch diese sei unerkennbar. 9
Existenzphilosophie als Antwort auf den Historismus Von Diltheys Ringen um den Wahrheitsgehalt der Weltanschauungen ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Karl Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen und damit zur Existenzphilosophie. Nachdem das Zeitalter der Metaphysik an sein Ende gelangt ist, soll sich nach Jaspers die Philosophie wieder auf ihre genuine Aufgabe besinnen und sich mit jenen Dimensionen befassen, die das Leben unmittelbar tragen und das Handeln sowohl im Persönlichen als auch im Gesellschaftlich-Politischen erhellen und leiten. Das Bewusstsein dieser Aufgabe bestimmt schon Jaspers' frühes Werk Psychologie der Weltanschauungen, das nach seiner eigenen Aussage „die früheste Schrift der später so genannten modernen Existenzphilosophie" 10 darstellt. In diesem Werk aus dem Jahr 1919 geht es Jaspers um eine Vergegenwärtigung möglicher Glaubenshaltungen, Einstellungen und Weltbilder. Eine solche Psychologie will nicht mehr nur empirische Feststellung von Tatbeständen sein, sondern durch den Entwurf von Möglichkeiten des Menschseins Orientierungsmittel für die Selbstbesinnung darbieten. Heinrich Rickert, Jaspers' Heidelberger Fachkollege, fällte über den Historismus ein Urteil, das gerade in seiner Schroffheit geeignet ist, den leitenden Ausgangspunkt und Kern der Existenzphilosophie schärfer in den Blick zu bekommen: „Aller Historismus kommt, wenn er konsequent ist, auf Relativismus, ja Nihilismus hinaus, oder er verdeckt seine Leerheit dadurch, dass er willkürlich diese oder jene Gestalt des geschichtlichen Lebens herausgreift, um aus ihr den Inhalt für eine Weltanschauung zu nehmen [...].""
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Wilhelm Dilthey, „Rede zum 70. Geburtstag", 9. Vgl. Wilhelm Dilthey, „Weltanschauungslehre - Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Leipzig/Berlin 1931, 198.
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Vgl. ebd., 223. Karl Jaspers, Philosophische
Autobiographie,
erw. Neuausg., München 1977, 33.
Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung die historischen Wissenschaften, 3. u. 4., verb. u. erg. Aufl., Tübingen 1921, 7.
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Es ist genau diese von Rickert perhorreszierte moderne Grunderfahrung historischer Bedingtheit, die eine unmittelbare Voraussetzung von Jaspers' Existenzphilosophie bildet. In seinen Groninger Vorlesungen über Vernunft und Existenz legt Jaspers im Jahr 1935 dar, die durch den Historismus veränderte Denksituation der Gegenwart verlange eine Neubestimmung der Möglichkeit von Philosophie. In aller Stille sei etwas Ungeheures geschehen: ein Zerfall aller Autoritäten, die radikale Enttäuschung eines übermütigen Vertrauens zur Vernunft, eine Auflösung der Bindungen, die schlechthin alles möglich zu machen scheine. Das Operieren mit den alten Worten erscheine als ein bloßer Schleier, der das Tatsächliche verdecke und keine andere Funktion habe, als uns noch eine Zeit lang zu täuschen. „Das leidenschaftliche Beschwören dieser Worte und Lehren, wahrhaftig und gut gemeint, scheint [...] ein ohnmächtiger Ruf zu bleiben. Philosophieren, das echt ist, müsste der neuen Wirklichkeit gewachsen sein und selbst in ihr stehen." 12 Die neue Philosophie, die der neuen Wirklichkeit gewachsen sein will, verlangt ein Denken, das seiner eigenen, unvermeidlichen Historizität gerecht zu werden vermag. Jaspers differenziert zwischen zwei Formen der Geschichtlichkeit, die er terminologisch als „historisches Bewusstsein" und als „geschichtliches Bewusstsein" voneinander unterscheidet. Das „historische Bewusstsein" bezeichnet die Kenntnis der historischen Bedingungen der jeweiligen Gegenwart. Der Ausdruck „geschichtliches Bewusstsein" bezeichnet demgegenüber das Wissen um die je eigene geschichtliche Daseinsweise. Beide Formen des Bewusstseins vom Vergangenen verweisen aufeinander: Das historische Bewusstsein bliebe, wenn ihm der Bezug auf das geschichtliche Bewusstsein fehlte, ohne Rechtfertigung und Sinn, und das geschichtliche Bewusstsein bedarf des historischen Wissens als der Voraussetzung möglicher existentieller Orientierung. Der Übergang vom historischen zum geschichtlichen Bewusstsein vollzieht sich dort, wo das Historische „Funktion möglicher Existenz" wird, also dort, wo das von den historischen Wissenschaften Erarbeitete in existentiellem Sinne bedeutsam wird. 13 Im geschichtlichen Bewusstsein wird das Historische zum Medium, in dem ich mir der eigenen Position gewiss werde. Die objektive Kenntnis der Gegenwartsbedingungen zwingt zur Einsicht in die Bedingtheit, Kontingenz und Relativität jeder möglichen Denkposition. Was sich in der Perspektive des historischen Bewusstseins als bedingt, kontingent und relativ darstellt, erscheint in der Perspektive des geschichtlichen Bewusstseins als Chance, aus den vorgegebenen Möglichkeiten eine eigene zu wählen. So gesehen erscheinen historische Bedingtheit, Kontingenz und Relativität als die elementaren Vorbedingungen existentieller Freiheit: Weil nichts mehr absolute Geltung besitzt, bin ich frei, zu wählen und aus mir selbst heraus zu entscheiden.
Philosophie der Vernunft Die Existenzphilosophie hat im Anschluss an Kierkegaard und Nietzsche und unter dem Eindruck des Historismus mit der Einsicht ernst gemacht, dass sich auf die philosophischen Grundfragen keine allgemeingültig begründbaren Antworten geben lassen, und hat philosophische Wahrheit strikt ans Individuum gebunden: An die Stelle allgemeiner Gültigkeit tritt persönliche Gewissheit. Es ist dieser existenzbezogene Ausgangspunkt, der die bleibende Bedeu-
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Karl Jaspers, Vernunft und Existenz (1935), Bremen 3 1949, 10. Ders., Philosophie, Bd.2, Berlin/Göttingen/Heidelberg 3 1956, 120.
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tung der Philosophie von Karl Jaspers ausmacht. Es ist ein Denken, das die Idee philosophischer Wahrheit nicht einfach verabschiedet, sondern sie an die denkende Person zurückbindet. Es vermag dadurch ein Korrektiv zu bilden sowohl gegenüber maßlosen Erkenntnisansprüchen als auch gegenüber resignativen Auflösungserscheinungen der Philosophie. Wenn es nicht mehr länger die Aufgabe der Philosophie sein kann - neben oder über der Wissenschaft - , zu Erkenntnissen von allgemeiner Gültigkeit zu gelangen, wenn vielmehr die neue Aufgabe der Philosophie darin besteht, durch die Eröffnung und Erschließung des Raumes möglicher Orientierung den einzelnen Personen jene Denkmittel an die Hand zu geben, die zu persönlicher Gewissheit führen, dann braucht dieses Denken eine neue Form und Gestalt. Es ist - so Jaspers - das Denken der Vernunft: Es gibt eine genuin philosophische Rationalitätsform, und zwar als ein Denken, das nicht im Sinne der wissenschaftlichen Rationalität intersubjektiv gültig ist und das auch nicht zu objektiven Erkenntnissen gelangt, das aber in einem existenziellen Sinn wahr zu sein beansprucht. Dieses Denken erbringt kein Wissen, weil es der Selbstvergewisserung dient und auf persönliche Gewissheit zielt; aber dieses Denken vermag mehr als Wissen, weil es auf den Denkenden selbst zurückwirkt. Das damit Gemeinte bringt Jaspers in einer Würdigung der philosophischen Bedeutung Nietzsches knapp und prägnant zum Ausdruck: „Die Philosophie, zur Sache des bloßen Verstandes geworden, wurde wieder Sache des ganzen Menschen." 14 Existenzphilosophie im Sinne von Karl Jaspers will wieder „Sache des ganzen Menschen" sein. Dem Denken der Vernunft fehlt der zwingende Charakter der wissenschaftlichen Rationalität, es ist ein Denken, „das nicht mehr zwingt als ein Wissen von Etwas", denn es ist zugleich „ein Tun der Existenz". 15 Weil ihm der zwingende Charakter fehlt, hat dieses Denken die Eigenart, zu keinem Abschluss zu gelangen, in Bewegung zu bleiben und jede Fixierung zu vermeiden. Es bedient sich der Sprache indirekter Mitteilung, die das Gesagte in der „Schwebe" lässt, denn Fixierung ist ein Zeichen von Unwahrhaftigkeit. 16
Kulturalismus Die noch jungen Begriffe „Kulturalismus" und „Kulturalität" werden bereits in einer solchen Fülle variierender Bedeutungen verwendet, dass hier die Gelegenheit nicht versäumt werden darf, dafür einzutreten, die beiden Begriffe in strenger Analogie zum Begriffspaar „Historismus" und „Historizität" zu verwenden. Der Begriff der Kulturalität bezeichnet sowohl das menschliche Angewiesensein auf als auch die Bedingtheit durch die kulturelle Sphäre, in der sich das, was Menschsein über die Identität seiner biologischen Ausstattung hinaus konkret bedeutet, überhaupt erst entscheidet. Alles Kulturelle unterliegt der Dynamik von geschichtlichem Wandel und lokaler Differenzierung. Menschsein, insofern es durch die kulturelle Sphäre bestimmt ist, kann folglich nicht länger als gleichsam invariante Substanz gedacht werden. Invariante und transkulturelle Phänomene sind gerade nicht kulturell, sondern biologisch fundiert.
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Karl Jaspers, „Zu Nietzsches Bedeutung in der Geschichte der Philosophie" (1950), in: ders., Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, hg. v. Hans Saner, München 1968, 389. Ders., Vernunft und Existenz, 104f. Vgl. ders., Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, 195.
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Nun ist die Trennung des Kulturwesens Mensch vom Naturwesen Mensch letztlich unmöglich. Die Kulturanthropologie hat stets betont, dass es kein ursprüngliches Naturwesen Mensch gibt, das sich dann noch die Kultur schafft. Der Mensch ist immer schon Kulturwesen: „Indem er Objektivationen bildet, bildet er mit ihrer Hilfe auch sich. Er gleicht nicht dem Gott der Bibel, der als selbst schon fertig seiender die Welt schafft, sondern dem Gott der Kabbala, der totalschöpferisch zugleich sich selbst miterschafft." 17 Das wachsende Verständnis für die Kulturalität und damit für Kontextbezogenheit und Standortgebundenheit kultureller Erscheinungen sowie für die innere Kohärenz und Autonomie differenter Kulturwelten eröffnete eine Problematik von prinzipieller Bedeutung: Die Kulturalität und die daraus hervorgehende Pluralität autonomer Kulturwelten lassen grundsätzliche Zweifel daran entstehen, ob sich ein Überkulturelles im Sinne eines kulturunabhängigen Universalen überhaupt noch begründen lässt. Der Begriff der Kulturalität bringt die These zum Ausdruck, dass es keine von den jeweiligen kulturellen Kontexten loslösbare menschliche Bezugnahme auf Wirklichkeit geben kann. Darum erübrigt sich die Suche nach kulturunabhängigen Erkenntnisfundamenten. Strenger gefasst besagt der Begriff der Kulturalität, dass eine geistes- oder sozialwissenschaftliche Analyse - nach aller bisherigen Erfahrung - prinzipiell in der Lage wäre, jedes Phänomen der geschichtlich-kulturellen Sphäre in seiner historischen und kulturellen Kontingenz und Bedingtheit darzulegen. Der bewusst vage Begriff der geschichtlich-kulturellen Sphäre lässt es unbestimmt, ob von normativen, religiösen, politischen, sozialen oder anderen Phänomenen die Rede ist.
Weltphilosophie Es ist nach dem Dargelegten zweifelhaft, ob es noch legitim ist, eine Einheit der Philosophie vorauszusetzen, die sowohl westliches wie ostasiatisches, afrikanisches oder indisches Denken umfasst. Jaspers vertraute auf die Möglichkeit einer Philosophie, die das Denken aus unterschiedlichen kulturellen Ursprüngen verbindet. Im Bewusstsein des Endes der europäischen Philosophie suchte er nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer Weltphilosophie. Er stellte sie als sein philosophisches Vermächtnis 18 dar und war überzeugt, damit an der Aufgabe des Zeitalters teilgenommen und die Philosophie der Zukunft vorbereitet zu haben. Karl Jaspers hat sein Projekt einer posteuropäischen Philosophie der Zukunft an keiner Stelle genauer dargestellt. Er hat ferner stets von der kommenden oder künftigen Weltphilosophie gesprochen: Wir verfügen noch nicht über sie. Wir wissen nicht, in welcher Gestalt sie dereinst auftreten wird, doch wir können uns von ihrer Unumgänglichkeit überzeugen. Weltphilosophie erschließt den allen Kulturen gemeinsamen Raum des Denkens - in Gegenwart und Vergangenheit. Jaspers' Idee der Weltphilosophie steht in einem direkten Zusammenhang mit seinem Projekt einer „Weltgeschichte der Philosophie". Es handelt sich um ein die Kulturen übergreifendes Philosophieren, das den gesamten Horizont des Denkbaren und Denkmöglichen umfasst und damit gleichsam das „Denken der Welt" vergegenwärtigt. Woher hat Jaspers den Mut und die Zuversicht genommen für seine Vision einer Weltphilosophie? Es sind im wesentlichen zwei Voraussetzungen, die er anführt, um die Einheit
17
Michael Landmann, Fundamental-Anthropologie,
2., erw. Aufl., Bonn 1984, 124.
18
Vgl. den von Jaspers selbst verfasste Nekrolog, der an der Gedenkfeier am 4. März 1969 vorgelesen wurde, in: Gedenkfeier fiir Karl Jaspers, Basel 1969, 4.
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der Weltphilosophie zu begründen: die erste ist kulturanthropologischer, die zweite geschichtsphilosophischer Art. Die kulturanthropologische Voraussetzung der Idee einer kommenden Weltphilosophie wird in seiner Weltgeschichte der Philosophie besonders deutlich ausgesprochen, auch wenn Jaspers in diesem Buch aus dem Jahr 1951/52 anstelle von „Weltphilosophie" noch den Begriff der philosophia perennis verwendet. Hier findet sich die erstaunliche Aussage, dass Philosophie so alt sei wie der Mensch. Diese völlig ahistorische Prämisse seines Philosophieverständnisses lautet: „Faktisches Philosophieren geschieht jederzeit. Denn der Mensch als Mensch, ob er es weiß oder nicht, vollzieht irgendwelche Gedanken, deren Sinn ein philosophischer ist. [...] Philosophie ist die Weise, wie der Mensch des Seins der Welt und seiner selbst bewusst wird und wie er aus diesem Bewusstsein im Ganzen lebt. Daher ist Philosophie so alt wie der Mensch." 19 Es ist diese Hintergrundvorstellung einer philosophia perennis, die es Jaspers erlaubt, allen Ernstes von der Möglichkeit eines Gesprächs der großen Philosophen durch die Jahrtausende hindurch überzeugt zu sein. Die philosophia perennis schaffe jene Gemeinsamkeit, „in der die Fernsten miteinander verbunden sind, die Chinesen mit den Abendländern, die Denker vor 2500 Jahren mit der Gegenwart". 20 Was an solchen Zitaten frappiert, ist die Selbstsicherheit des Denkers, dass sein Philosophieverständnis wenigstens in den Grundzügen mit der Philosophie aller Zeiten und Orte übereinstimmt. Es fehlt ein adäquates Verständnis der kulturellen Bedingtheit des Denkens, es fehlt die angemessene Achtung vor der irreduziblen Andersheit des Fremden und vor den kaum überwindbaren Schwierigkeiten interkultureller Hermeneutik, es fehlt die Einsicht in die unvermeidlichen Inkommensurabilitäten - kurz: es fehlt die Vorstellung, dass Philosophie unter anderen kulturellen Bedingungen auch eine gänzlich andere als die uns vertraute Gestalt annehmen könnte. Die geschichtsphilosophische Voraussetzung von Jaspers' Idee einer kommenden Weltphilosophie besteht in seiner Konzeption der Achsenzeit als weltgeschichtlichem Wendepunkt. Sie macht es möglich, die Menschheitsgeschichte als Einheit zu begreifen. Jaspers versteht seinen geschichtsphilosophischen Entwurf ausdrücklich als Überwindung einer christo- und eurozentrischen Position. 21 Das geistige Geschehen der Achsenzeit bildet das allen gemeinsame Medium, in dem Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft einander begegnen und verstehen können. Die Achsenzeit verbürgt die Einheit der Menschheitsgeschichte und damit die Möglichkeit universaler Kommunikation. Fehlte diese Einheit, „würde ein Verständnis nicht möglich sein, wäre ein Abgrund zwischen Wesensverschiedenem." 22
Die Begrenztheit kultureller Horizonte Die philosophische Herausforderung der Interkulturalitätsproblematik besteht zunächst darin, dass die Begegnung und Auseinandersetzung mit philosophischen Konzeptionen außereuropäischen Ursprungs eine ganze Reihe unerwarteter Fragen an das Selbstverständ-
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Karl Jaspers, Weltgeschichte der Philosophie - Einleitung, aus dem Nachlass hg. v. Hans Saner, München; Zürich 1982, 20. Ebd., 56. Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, 19, 93. Ebd., 309.
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nis eigenen Philosophierens richtet. Die durch die interkulturelle Erfahrung veränderte Selbstwahrnehmung schärft den Blick für die kulturellen Bedingtheiten der eigenen Position und zeigt auf, dass Verbindlichkeit und Überzeugungskraft unserer Kategorien und Konzepte kulturell begrenzt sind. Dies gilt auch für die Vorstellung einer Einheit in der Vielheit der einzelnen Philosophien. Sollte die bisher kaum je eigens reflektierte Vorstellung der einen Philosophie in der vielfachen Gestalt kulturell differenter Formen des Philosophierens aufgegeben werden müssen, dann sind einschneidende Korrekturen am bisherigen Selbstverständnis unumgänglich. Doch in diesem Punkt gehen die Positionen zur Zeit weit auseinander. Elmar Holenstein beispielsweise zeichnet in seinem kürzlich erschienenen PhilosophieAtlas die Orte und Wege des Denkens der Menschheit auf.23 Das leitende Anliegen besteht ganz klar darin, das Verbindende zwischen den Kulturen aufzuzeigen und den seit jeher stattfindenden gedanklichen Austausch in einem die Welt umspannenden Beziehungsgeflecht nachzuweisen: Philosophische Lehren ließen sich nicht isoliert begreifen, der eurozentrische Blickwinkel verstelle den Blick auf das Ganze. Wer die Menschheitsgeschichte der Philosophie begreifen wolle, müsse einen neutralen Standpunkt beziehen. In dieser Hinsicht pflegt Holenstein eine kompromisslose interkulturelle Korrektheit: Die Erdteile werden gleichrangig behandelt, eurozentrische Namen strikt vermieden und westliche Fremdbezeichnungen durch Eigenbezeichnungen ersetzt. Da Vorderasien nur aus unserer Sicht das vordere Asien ist, heißt es bei Holenstein Südwest-Asien, und anstatt von Korea sollen wir künftig von Hanguk sprechen. So bewunderungswürdig, konsequent und vielleicht auch mutig Holensteins Versuch ist, die Geschichte des Denkens der Menschheit aus einer neutralen Perspektive nachzuzeichnen, so bleiben doch grundsätzliche Zweifel bestehen, ob das dadurch vermittelte Bild zutrifft. Der Autor jedoch meint, die Menschheit sei insgesamt homogener, als man das im frühen 20. Jahrhundert glaubte annehmen zu müssen. Die größten Unterschiede zwischen den philosophischen Positionen bestünden nicht zwischen den Erdteilen, sondern innerhalb der einzelnen Erdteile.24 Beim Denken gehe es wie beim Wetter, es sei ständig unterwegs und halte sich an keine Grenzen. Es kreise in Schlaufen und Spiralen. Die Karten im Philosophie-Atlas wollen genau dies veranschaulichen. Doch der Leser überlegt sich, ob die so visualisierte Einheit des philosophischen Denkens nicht einfach dadurch zustande kommt, dass Holenstein einen zu unbestimmten Begriff der Philosophie verwendet. Demgegenüber soll hier betont werden: Es gibt keinen Standpunkt jenseits der Kulturen. Dies gilt auch für die Philosophie. Als interkulturelle Philosophie hat sie aufzuzeigen und nachzuweisen, dass die kulturelle Reichweite zentraler Konzepte des westlichabendländischen Denkens und Selbstverständnisses auf diesen Kulturraum begrenzt ist. Wie es keinen Standpunkt jenseits der Muttersprache gibt, so auch keinen außerhalb des eigenen kulturellen Horizontes. Und wie der Sprachvergleich von einer bestimmten Sprache ausgehen muss, so hat auch der Vergleich von Kulturen seinen Ausgangspunkt in jener Kultur, der wir selbst angehören. Der Historismus bildete, wie dargelegt, eine unmittelbare Voraussetzung für die Begründung der Existenz- und Vernunftphilosophie im Sinne von Karl Jaspers. Historische Bedingtheit, Kontingenz und Relativität, nicht länger als Bedrohung des Geltungsanspruchs von Philosophie aufgefasst, wurden zum Ermöglichungsgrund für existenzielle Freiheit: An
23 24
Elmar Holenstein, Philosophie-Atlas. Ebd., 21.
Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004.
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die Stelle objektiver Gültigkeit konnte die eigene, subjektive Gewissheit treten. Damit war das Projekt der abendländischen Philosophie in gewissem Sinne gerettet. Der Kulturalismus hingegen lag außerhalb des Horizonts des Denkens von Karl Jaspers. Deswegen vermögen seine beiden Großprojekte einer Weltgeschichte der Philosophie und einer Weltphilosophie trotz aller Faszination, die sie ausstrahlen, nicht mehr zu überzeugen. Ebenso wie der Historismus aufzeigte, dass Philosophie nicht in einem geschichtsfreien Raum stattfindet, so weist der Kulturalismus die kulturelle Standortgebundenheit des Denkens nach. Auch die Einsichten, die sich aus dem Verständnis kultureller Bedingtheit ergeben, dienen der Selbstbefreiung aus undurchschauten Abhängigkeiten. Im interkulturellen Vergleich wird sichtbar, was sonst verborgen bleiben müsste: Die Philosophie des Abendlandes weist eine Reihe von Problemen auf, die uns als Probleme des Menschseins erscheinen, tatsächlich aber ihren Ursprung in bestimmten denkgeschichtlichen Konstellationen unseres Kulturraums haben. Solche Probleme lassen sich lösen, indem ihre kulturelle Genese aufgezeigt wird. Dadurch verlieren sie ihre Relevanz. Wir erkennen, dass sie nur in einer bestimmten Denksituation Geltung besaßen. Um ein paar offensichtliche Beispiele zu nennen: Gottesbeweise haben ihre philosophische Bedeutung verloren, die geschichtsphilosophischen Fragen nach Ziel und Bestimmung der Menschheit bedrängen uns kaum noch, Sinnfragen werden allmählich suspekt und dass die Willensfreiheit kein Anthropinon, sondern ein kulturelles Konstrukt sein könnte, war noch bis vor kurzem unvorstellbar. Durch den Vergleich mit anderen Kulturwelten gelangen die eigenen Abhängigkeiten und Vorurteile in den Blick. Die interkulturelle Philosophie ist in der Lage, einiges beizutragen zur Selbstbefreiung des westlich-abendländischen Menschen aus seiner unverschuldeten, aber zugleich unbemerkten Gefangenschaft im eigenen kulturellen Gehäuse. Ebenso wie ein fremder Mythos nur dann angemessen erzählt werden kann, wenn man an ihn glaubt, so lässt sich auch die Lebens- und Glaubenswirklichkeit fremder Kulturen von außen nur unzureichend erfassen. 25 Es gibt eben keinen Standpunkt außerhalb des eigenen kulturellen Horizontes. Dies gilt für uns und die andern. In der Erkenntnis der Art und Weise der Gebundenheiten durch den begrenzten Horizont der eigenen Kultur liegt die einzige Möglichkeit, ein Stück Unabhängigkeit zu gewinnen. „Ein Mönch stellte Pai-Chang die Frage: ,Was ist das wunderbarste Ereignis auf Erden?' Pai-Chang antwortete: ,Hier sitze ich ganz für mich selbst.' Der Mönch neigte sich vor dem Meister, und dieser schlug ihn." 26
25
Vgl. Raimundo Panikkar, Rückkehr zum Mythos, Frankfurt a. M. 2 1990, 16f. und 4 2 - 5 0 . Daisetz Teitaro Suzuki, Zen und die Kultur Japans, Hamburg 1958, 125.
6. Umwertungen
KARL A N T O N SPRENGARD
Geist - Widersachervorwurf und Geistvertrauen in Lebensphilosophie und Neuer Anthropologie Gedanken zu Ludwig Klages' Misstrauen und Max Schelers Zutrauen Der Geist als Widersacher der Seele (Ludwig Klages, 1929) Die Natur ... was geschieht ihr durch die Technik? Die wachsende ... zu ihrem Ende abrollende Zerstörung (Martin Heidegger, Der Sprung (1936), Beiträge zur Philosophie, WW Bd. 65) Un seul esprit vaut tout un monde ... et s'y gouverne ä la fagon de Dieu (Gottfried Wilhelm Leibniz, Discours de metaphysique, 1686) Der Geist des Menschen ist Spinozas Gott (Immanuel Kant, Op.post., AA. 21, 99)
Misstrauen und Zutrauen Die Philosophie des Geistes feiert seit Anaxagoras, Plato, Aristoteles in der griechischen, christlichen Antike und im Goethezeitalter mit dem Deutschen Idealismus mit der Idee eines geistigen Seins eine Kraft, welche die Welt gestaltet und lenkt. Das Vertrauen in die wohltätige Natur des Geistes gründet in der Vorstellung von einem κόσμος νοητός, mundus intelligibilis, Reich des Geistes, das dem einer sinnlich-materiellen Welt überlegen ist. Dieses in jüngerer Zeit ursprünglich aus Vernunftkritik, transzendentaler Grundlegung einer Vernunftwelt/ Noumena, einer Erfahrung eines sich dialektisch findenden absoluten Ich, intellektueller Anschauung der Ideenreihe, aus der Phänomenologie des Geistes erwachsene, von den auf Sprache und Geschichte gegründeten Geisteswissenschaften beförderte Geistesvertrauen ist erschüttert. Fundamentale Krisendenker vom Format eines E. v. Hartmann, A. Schopenhauer, F. Nietzsche, M. Heidegger und bedeutende Kritiker wie G. LeBon, F. Tönnies, O. Spengler, L. Klages erhärten das Misstrauen. Gibt es eine Logodizee, eine Rechtfertigung angesichts von Klag' und Vermahnung mannigfacher unseliger Umtriebe? - Gedanken zu L. Klages und M. Scheler.
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KARL ANTON SPRENGARD
Wort-1 und Ideengeschichte,2 Geist' Von Urwortstämmen aus der Sinnennähe des Atmens, des Mundes - hauchen, wehen, blasen, rauschend-brausend ausbrechen (altn. Geisa), daherstürmen - bis zu Lebensodem, zu „Geist, der belebt, Buchstabe, der tötet", 3 vom Bild eines Oberteils der Seele, einer Wohnund Werkstatt der Gedanken, von der Vorstellung eingegebener Kraft, die als Hauch Gottes im Gefängnis des Körpers lebt, bis zur Annahme eines Eros, einer höheren Form von Liebe, die trachtet, vom unnatürlichen Ort wegzukommen und in die höheren Sphären immerwährenden Seins zurückzukehren. Für die Philosophie ist nach der altklassischen Nous- und Logoslehre, nach der patristisch-augustinischen Pneumatologie und der bis zu Kants Zeiten durchgehaltenen Dualität von zwei Reichen, eines phänomenalen und eines noumenalen, die neuere klassische Vorstellung verbunden mit dem Pathos der Begeisterung der Goethezeit, des Deutschen Idealismus, der Romantik, der historischen Bewegung.
Leitidee und regierender Fundamentalbegriff Abgesehen von der Verabsolutierung geistiger Erscheinungen durch Hegel bleibt ,Geist' nicht nur Komplementärbegriff zu ,Natur', 4 sondern verwandelt sich im Zuge des Umbaus der Transzendentalphilosophie zum Systemdenken in einen Kerngedanken, der selbst wieder zur Leitidee wird und als regierender Fundamentalbegriff die Gemüter der gelehrten Welt bewegt. 5
Vermögen der Natur, absolutes Sich-selbst-Bestimmen Seit Kant in der dritten Kritik die „reflektierende Urteilskraft" 6 als lebendige Vernunft herausgestellt und als eine im Chaos sinnlicher Mannigfaltigkeit wirkende Tätigkeit beschrieben hat, die das Leben verschönt, indem sie es ordnet und sinnvoll-zweckmäßig gestaltet, seit Fichte vorführte, wie „der produktiven Einbildungskraft" 7 zuzutrauen ist, schöpferisch tätig zu sein, seit - wie es im ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus heißt -
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Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Abt. 1, Leipzig 1897, 2623ff. Vgl. Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Basel 1974,154ff. Johann Gottlieb Fichte, Über Geist und Buchstab in der Philosophie (1845/6), WW Bd. VIII, Berlin 1971. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3 1830, WW (hg. v. Hermann Glockner 1929) 10, §378, Zusatz 12. Vgl. auch Wilhelm von Humboldt, Über den Geist der Menschheit, 1797; Friedrich Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, 1798/99, Salomon Maimon, Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist, 1797; Johann Gottfried Herder, Vom Geist des Christentums. Fichte fordert, „die Wissenschaftslehre soll seyn die Geschichte des menschlichen Geistes" (Wissenschaftslehre, WW I 2, 365), und Schelling versteht „das System der Natur [...] zugleich als das System unseres Geistes" (WW (hg. v. Karl Friedrich August Schelling) 1,51). Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 05, §§49f. Johann Gottlieb Fichte, Eigne Meditation über Elementar Philosophie, WW II/3, 316.
GEIST - WIDERSACHERVORWURF UND GEISTVERTRAUEN
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Moral als Schöpfung aus dem Nichts auch nach Goethes Meinung für menschenmöglich gehalten wird, seitdem erscheint „Geist als freies Schöpfungsvermögen", „Vermögen der Ideale", 8 als „Gemeinsinn des ganzen Geschlechts", 9 als „Tätigkeit und nichts als Tätigkeit". 10 Geist ist „das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit", 11 „das absolute Sich-selbstBestimmen" 12 auf dem Weg der Vermittlung, als „Umweg" 13 zur (dialektischen) Entwicklung. 14 Der Geist der Freiheit als letzte Bestimmung des Menschen versteht sich in Nachfolge des Aristoteles als das „durch sich selbst Tätige", 15 als die Kraft, die sich zu dem macht, was sie ist, und die immer nur das ist, wozu sie sich gemacht hat. 16
Identität mit der Natur Gleich glücksbringendem Erblass aus Humanismus, Naturalismus, Aufklärung wirkt die optimistische Einschätzung dieser Welt als der besten aller möglichen Welten nach. Wie unmündig und zaghaft Geisteskräfte sich auch regen mögen, der Glaube an die Macht des Geistes ahnt, dass die „Potenzenreihe der Natur" und die Ideenreihe des Geistes ineins sind.
Geist und Leben Begegnet nicht in allem, Was da ist, unserem Geist ein freundlicher
verwandeter
Geist17
Tragende Säule des Geistvertrauens ist die Überzeugung von der unverbrüchlichen Eintracht von Geist und Leben. Wo immer Irrungen, Wirrungen Zusammenhalt und Aufstieg stören, die List der Vernunft wird es richten. Weltgeschichte ist Weltgericht. „Geist ist das belebende Prinzip im Menschen"; 18 Geist ist des „Lebens Leben"; 19 „Geist und Leben sind eins", 20 bilden die klassische Dreieinigkeit von Leben, Seele, Geist. 21
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Ders., „Über Geist und Buchstab", 290f. Ebd. 292. Ders., Eigne Meditation, 325. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie, Ebd., §442, Zusatz 301.
§378, Zusatz 12.
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Ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WW 17, Stuttgart 1928,66. Ders., Enzyklopädie, §442. 15 Ebd., §378; vgl. ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 2, WW 18, Stuttgart 1928, §372f. 16 Ebd., §381. 17 Friedrich Hölderlin, Hyperion, WW (Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner) 3, Stuttgart 1957, 191. - Vgl. Dieter Henrich, „Hegel und Hölderlin", in: Hegel im Kontext, Frankfurt a. M. 1971, 68ff; Schellings Naturgedicht: Die Natur „muß sich unter Gesetze schmiegen, ruhig zu meinen Füßen liegen. Steckt aber ein Riesengeist darinnen, ist aber versteinert mit seinen Sinnen." Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, §57, AA 7, 225. Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Diwan, Hamburger Ausgabe Bd. 2, 75. 20 Johann Gottlieb Fichte, Über Geist und Buchstab, WW ΙΙ/3,317. 21 Seele hier nicht verstanden als hypostasierter Gegenstand.
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Zusammenbruch der Geistspekulation Nach 1830 tritt eine Schicksalswende ein. Die Geistspekulation erleidet empfindliche Rückschläge. Misstrauen gegen Metaphysik und transzendentale Bewusstseinsphilosophie, Zutrauen zu den objektbezogenen, mit positiven Vorgaben arbeitenden Naturwissenschaften und zu den deren Vorbild folgenden, empirisch vorgehenden Psycho- und Sozialwissenschaften führen zu restriktiver Behandlung, Geist nur mehr als „intellektuelle Fähigkeit des Menschen",22 beschränkt auf singuläres Bewusstsein.23 Weiter reichende Ansinnen sind als „irrige Spekulation" zu verwerfen.24 Schließlich wird ,Geist' im Zuge der Psychologisierung als , seelisches Phänomen' vereinnahmt und der , Seele' als Oberbegriff zugeordnet.
Dekadenz belastet Von besonderer Tragweite im Streit um ein verändertes Verständnis der geistigen Phänomene sind die geistige Situation der Dekadenz und zwei Ereignisreihen, die der fundamentalen Krisendenker und die der Kritiker. „Elend, Komik, Glanz der Dekadenz" (H. Kurzke), deren ungebrochene Aktualität trübt das Bild. Europa ist müde, ist geprägt von Spätkultur mit geringer Vitalität und Innovationskraft. Geistiger Schwung reicht gerade noch aus, Probleme zu artikulieren - sie anzupacken oder gar zu lösen, kommt nicht zustande.25
Welt als blinder Wille: Arthur Schopenhauer Geist ist Vorstellung der schlechtesten möglicher Welten, ist Wille, sich blinden Mächten hinzugeben. Ergriffen vom Jammer allen Lebens, getrieben von ziel- und planlosen Gewalten findet der Mensch weder Glück noch Ruhe; auf Befriedigung folgt Begehren, auf Schmerz neue Übel. Leid ist die Wirklichkeit, Lust und Glück nur Abwesenheit von Schmerz. Was wir besitzen, schätzen wir nicht; was wir vermissen, wollen wir; wertvoll ist das, was wir verlieren. Not ist der Vielen Geißel; wer davon ausgenommen, verfällt der Langeweile. Am Ende ist jeder allein, Einsamkeit aller unausweichliches Schicksal - was bleibt an geistiger Stärke? - Flucht in den schönen Schein, der ästhetische Trost interesselosen Gefallens - Entsagen, der ethische Ausstieg aus dem Leben.
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Arthur Schopenhauer, Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, WW (hg. v. Max FrischeisenKöhler) 5, Berlin 1913, 249. Ludwig Feuerbach, Philosophische Kritiken und Grundsätze, WW (hg. v. Friedrich Jodl/1904) 2, 264ff. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, WW 1,256.
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„Diejenigen Merkmale, welche [...] um 1900 nur eine schwache Oberschicht kennzeichneten, charakterisieren heute große Bevölkerungsteile Europas: Mangel an Tatkraft, Reflexionsüberhang, Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Luxusanbetung, Vergnügungssucht, Weichlichkeit bei latenter Grausamkeit, Depressivität und Handlungslähmung, Morbidität, Rollenspiel, Egozentrik, Asozialität, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Historismus, Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Zitatverliebtheit statt Eigenschöpfung, Schein statt sein, Dezisionismus und Voluntarismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch austrumpfender Willenskraft." (Hermann Kurzke, Mainzer Allgemeine Zeitung, 12. 08. 2005, 4) - Vgl. Thomas Mann, Die Buddenbrooks; William v. Simpson, Die Barrings·, Hermann Kurzke, Thomas Mann, Das Leben als Kunstwerk, München 1999.
GEIST - WIDERSACHERVORWURF UND GEISTVERTRAUEN
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Primat des Unbewussten: Eduard von Hartmann Das Konzept der „Philosophie des Unbewußten" (1868, 121904), die Annahme eines „absolut Unbewußten" verweist das Geistige in die engen Grenzen eines Attributs, das im Widerstreit mit Materie zwar am Weltprozess beteiligt ist, ihn aber nicht beherrscht. In der „Kategorienlehre", „subtilst" und „gewaltig" (Max Scheler), mit der Unterscheidung von Reflexions· und Spekulationskategorien, von drei Wirklichkeitssphären - phänomenal, objektiv real, metaphysisch - und der Auffassung, dass Kategorien sich aus unbewussten Vorgängen ergeben und nur als deren Ergebnis ins Bewusstsein fallen, erscheint das Bild eines kritischen Realismus des Geistes, der diesem den Vorzug als bändigende, formierende, normierende Kraft nimmt.
Geist in lebensferner und seinsvergessener Befindlichkeit: Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger Die seit Sokrates' und Piatos Zeiten zu beklagende Absonderung des Geistes des ,Appollinischen' vom Leben als einem „Ewig-sich-selber-Schaffen", „Ewig-sich-selber-Zerstören", ,jenseits von Gut und Böse", das an „uneigentliche Modi der Existenz" verfallende Dasein, welches das Seiende zwar sucht, das Sein aber verfehlt, entlarvt fundamentale Schwächen des Geistes. Friedrich Schillers Frage „warum sind wir noch Barbaren?" erhält weitere Antworten.
Massenpsychologie: Gustave LeBon26 Der Einzelne verschwindet in der Masse; diese denkt in extremen Bildern; ihre Gefühle pflanzen sich untereinander fort. Die Masse handelt entsprechend ihrer Massen-, Kultur-, Rassenseele, setzt Antriebe sofort in Tun um, ist leicht zu beeinflussen durch (Ver) Führer, hört auf Schlagworte, Reizbilder, verfallt einfacher, beständiger Wiederholung und raffinierter Propaganda, äußert religiöses Gehabe, reagiert mit Verehrung, Furcht, Hörigkeit; die Massenseele ist unfähig zu eigenem kritischen Denken, geht mit missionarischem Eifer ans Werk, verfolgt feindselig alle, die sich widersetzen. Das Leben wird umgedreht. Persönliches, Ergebnis eigenen Denkens, autonomen Wollens, wird ausgeschaltet. Das so destabilisierte Potenzial der Person wird durch die hereinbrechenden Worte, Bilder, Symbole eines kollektiven Über-Ichs überwältigt und ausgerichtet.
Soziologie von Gemeinschaft und Gesellschaft: Ferdinand Tönnies27 Zusammenleben vollzieht sich in „Gesellschaft", in Formen großstädtischer, nationaler, kosmopolitischer Lebensweise. Das „öffentliche" Leben ist ein Geflecht wechselnder Be-
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Gustave LeBon, Psychologie der Massen, Stuttgart 1961. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1878), 12., erw. Aufl., Berlin 1912 m. d. Untertitel „Grundbegriffe der reinen Soziologie".
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Ziehungen; jeder verfolgt eigene Ziele, wählt und handelt nach Belieben, berechnet, wie er das erreicht, was gerade in den Sinn kommt. Zuwendungen und Verbindlichkeiten werden rationalisiert, Leistung gegen Gegenleistung. Gesellschaftliches Bewusstsein ist frei von natürlichen Bindungen. Für den Kürwillen ist alles beliebig, veränderlich, jederzeit neu aushandelbar. „Wesenswille" verliert im Zuge sozialer Umwälzungen seine natürlichen Grundlagen. „Gemeinschaft", Familie, Dorf, Kleinstadt, als Formen ursprünglicher, ganzheitlicher Zustände verliert an Gewicht. Erfahrungen dieser Art schwächen, Gemeinschaftswille erlahmt, wird dem entwöhnt, was natürlich, wesentlich zusammengehört. Die Schwächung trifft das Familienleben (Mutter-Kind, Vater-Kind, Frau-Mann, Geschwister), in dem einträchtig Lebensunterhalt und -absicherung erstrebt werden; das Dorfleben, das als Gemeinschaft des Geistes in Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft räumlich einander annähert, Arbeit, wirtschaftliche Existenz verwaltet, Denk- und Lebensart, Brauchtum und Sitten festigt, heimatliche Wärme spendet; das Kleinstadtleben, das darauf aufbauend dem Leben in der beständigen Einrichtung von Sprache, Glauben, Bildung, Stadtkultur eine Heimstatt gibt und inneren Frieden, äußere Ordnung bewahrt. In solchen auf natürliche Ordnungen aufgebauten Sozialwesen bezieht der Wille seine Kraft aus den diesen „wesentlichen" Lebenswelten. Da aber Zusammenleben mehr denn je in Form der Gesellschaft abläuft, wandelt sich auch die Geistesart. Kürwille, zudem noch in beschleunigter Zeit, verdrängt den Wesenswillen.
Geschichtsmorphologie und Endzeitgeist: Oswald Spengler28 Die organische Logik des Gestaltwandels der Kulturen beseelt wie bei der „appollinischen" und „magischen" so auch bei der „faustischen Kultur" des alt gewordenen, untergehenden Abendlandes mit Rationalismus, Technizismus Spätformen des Geistes. Verstädterung, Vermassung, Überregulierung des Lebens, neue Glaubens- und Denkweisen, Teleologien und Weltanschauungen bringen Endzeitstimmung.
„Das Problem des geistigen Seins"29 Seit der klassischen Verklärung des Geistes von Plato bis Hegel hat mit Rousseau, Hamann, Herder, Jacobi die Klage über die schädliche Seite der Aufklärung 30 zugenommen, werden Schwachstellen und unselige Machenschaften, krankhafte Auswucherungen und peinliches Versagen, Tod und Verderben bringende Untaten von apokalyptischem Ausmaß als Patho-
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Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde, Wien/München 1918-22; ders., Der Mensch und die Technik, München 1931. Vgl. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, EA Berlin u. a. 1933. Verkennung des Traditionellen, Historischen, Individuellen, Religiösen...
GEIST - WIDERSACHERVORWURF UND GEISTVERTRAUEN
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logie und Phänomenologie von Ungeist verstanden. Geistiges Leben stellt sich selbst in Frage.
Geist - Widersacher von Leben und Seele? Ludwig Klages In „zweiflerischer Unrast", „bohrender Zerrissenheit" spürt er die unberührte Seele auf, beschreibt ihren naturhaft unberührten Zustand. In fünf Bänden fragt er nach dem „Wahnwitz der Zerstörung". Er sucht nach der Ursache und findet als Störenfried den „Geist als Widersacher der Seele". 31 Geist vernichtet Leben. Unter dem Vorwand, Nutzen zu bringen, richtet er Schaden an: Erwerbsgier rodet Wälder, rottet Tiergeschlechter und Primitivvölker aus, verschandelt Landschaft, überzieht Natur mit dem Firnis öder Zivilisation. Unberührtes Seelenleben ist ,,[v]om kosmogonischen Eros" 32 beschwingt, - ist allem zugetan, was lebt, - ist hineingenommen in den kontinuierlichen Fluss von unbewusster Sinnlichkeit, von Herz, Gefühl, Instinkt. Die pathetische Welt einströmender Bilder, Symbole mit ihren „fluidalen Schauern" weckt Ehrfurcht, schafft Vertrauen, gibt Kraft zu lieben, was lebt.
Cerebral gestörter Mensch Mit dem Eindringen des Geistes widerfährt dem Menschen gleich einem kosmischen Unfall die Ankunft einer fremden, andersartigen Gewalt. Seelenleben wird gestört. Geist mischt sich als Eindringling, Fremdling in alles ein. Ein Lebensfeind ist angekommen. Er nistet sich ein, breitet sich aus im elementaren Leben der Natur ebenso wie in der singulären Lebenszelle, bildet zu Leben/Seele einen Gegenpol, benimmt sich wie ein Widersacher. Kopf, Verstand, Intellekt rumoren ohne Unterlass, erzeugen eine bewusste Welt von Gegenständen begrifflicher Art. Bewusstsein ist „intermittierende Tätigkeit", zerhackt - eingreifend in das Lebensband des Ganzen - das Kontinuum der Bilder, löst Materialien heraus, macht daraus in willkürlicher Konstruktion Produkte. Bewusstsein macht aus Stücken vom Ganzen isolierten, abgetöteten Lebens Gedankenprojektionen, die ihrerseits Impulse an den Willen abgeben. Bewusstsein ist besessen von der Macht seiner Begriffe. Hochmütig tritt es überheblich gegenüber allem Leben auf. Der Mensch übernimmt kraft seines Geistes die Herrschaft über die Erde, macht sie sich Untertan. Macht-, Besitzwille verderben die paradiesischen Verhältnisse. Unstillbare Gier nach Immer mehr, Immer größer, Immer besser, nach Profit, Ansehen, Rekord schafft ein wirklichkeitsfernes, illusionäres Reich eigener Zwecke. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft sind die Medien, mit deren Hilfe der Geist schlimmstes Unwesen treibt in einer Zivilisation, in der die Erde am Geist erkrankt und daran zugrunde zu gehen droht.
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Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 1929-1932, WW I u. II, hg. v. Ernst Frau-chinger, Bonn 1969 u. 1966. EA 1922; siehe auch Nachlass, Rhythmen und Runen, 1944, WW (8 Bde, 2 Suppl.), hg. v. Ernst Frauchinger u. a., Bonn 1966f.; Bd. 3: Mensch und Erde, - Hans E. Schröder, L. Klages, Die Geschichte seines Lebens und Werkes, WW, Suppl. Bde 1966-72; H. Kasdorf, Ludwig Klages: Werk und Wirkung. Komm. Bibliographie, I 1969, II 1974; vgl. zum 100. Geburtstag, Stimmen, a. a. Ο. II (1974), 431-450. Gegen Klages Max Bense, Anti Klages oder von der Würde des Menschen, München/Berlin 1938.
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Wissenschaft ist vorzügliches Werkzeug des Geistes, ihre Abgelöstheit, Zukunftsbezogenheit, ihre abstrakten Methoden sind Eigenschaften, die dem Aufbau eines geistigen Ichs mit abgehobener Sonderstellung gegen Leben und Seele zugute kommen. Geist treibt mit diesem willfährigen Gehilfen einen Keil zwischen Leib und Seele, zwischen sich und das Leben, treibt das Spiel weiter bis zum „Mord am Leben".
Bemerkendes Denken Wissenschaftliches Bewusstsein33 als Wegbereiter des Zerstörungswerkes34 ist bemerkendes Denken. Geistreicher Umgang mit dem Leben ist eine Tätigkeit, die etwas bemerkt, ohne verstehen zu wollen/zu können. Cogitare - bemerkendes Denken lässt den Menschen außerhalb des Lebens und seiner Zusammenhänge stehen; rationales Geschäft abstrahiert, indem es bemerkt; es bemerkt, indem es etwas herauslöst, danach greift, als seine Sache begreift; es bleibt teilnahmslos gegenüber der vollen Wirklichkeit, gleichgültig gegenüber dem, was nicht seine Sache ist; das aber, worauf es aufmerksam wird, behandelt es als sein Eigentum. Sich einer Sache bemächtigen, ist immer auch ein defizitärer Modus des Wirklichkeitsbezugs. Sachdenken verweilt im Unwirklichen in dem Maß, wie es eine eigene Welt als Satzung des Denkens aufbaut. Wissenschaften bemerken etwas am Leben, verstehen aber nicht wirklich etwas vom Leben selbst. Martin Heidegger spricht vom „machenschaftlich-technischen Wesen der Wissenschaften", von der „Universität als Stätte, in der nichts zur Entscheidung kommt", von den „Geisteswissenschaften", die zu „Zeitungswissenschaften, von „Naturwissenschaften", die zu „Maschinenwissenschaften" werden.35
Teilnehmendes Erleben Leben und Seele hingegen schauen in einer Bildwelt, die eingebunden ist in das wirkliche, volle Leben. Schauen ist teilnehmendes Erleben, das den Begriffsgespinsten überlegen ist, weil der Bildfluss den Menschen nicht aus seiner Erlebnissituation herausreißt.36
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Ludwig Klages, Vom Wesen des Bewusstseins, Leipzig 1921. Ders., „Mensch und Erde" (Hohe Meißner Rede bei der Freideutschen Jugend 1913), München 1920; dazu: Theodor Lessing, Europa und Asien. Untergang der Erde am Geist, 1916, Hannover 5 1931; ders., Die verfluchte Kultur, München 1921. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (1936/38), 2. Teil: Der Anklang, WW Bd. 65, Frankfurt a. M. 1984. Vgl. auch ders., Der Sprung, a. a. O.: „Die Natur und die Erde. Die herausgesondert aus dem Seienden durch die Naturwissenschaft. Was geschieht ihr durch die Technik? Die wachsende oder besser einfach zu ihrem Ende rollende Zerstörung der ,Natur'. Was war sie einst? Die Stätte der Ankunft und des Aufenthalts der Götter, als sie, noch φύσις (Physis), in der Wesung des Seyns selbst ruhte. Seitdem wurde sie alsbald ein Seiendes und das war das Gegenteil zur ,Gnade' und nach dieser Absetzung vollends herausgesetzt in die Verzweigung der berechnenden Machenschaft und Wissenschaft. Und schließlich blieb noch .Landschaft' und Erholungsangelegenheit und dies jetzt auch noch ins Riesenhafte hochgerechnet und für die Massen zugerichtet. Und dann? Ist dies das Ende? Warum schweigt die Erde bei dieser Zerstörung? [...]." Dazu Hans E. Schröder, Schiller, Nietzsche, Klages, Bonn 1974. - Vgl. auch Bachofens Paläontologie der Seele.
GEIST - WIDERSACHERVORWURF UND GEISTVERTRAUEN
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Wie komplex und ambivalent die biozentrische Metaphysik sich darstellt, zeigt ein Vergleich L. Klages und T. de Chardins. Bei jenem ist Geist ein von außen eindringendes Weltanderes, das divergiert und als Widersacher einen lebensgefährlichen Pol bildet - Pessimismus-Eschatologie. Bei diesem legt sich Geist als Endprodukt der Evolution nach der Entstehung von Kosmo- und Biosphäre als Noosphäre über diese fundamentalen Sphären und lässt im Sinne der Konvergenz die Menschheit auf Omega kulminieren - optimistische Heilslehre. 37 Im Nachleben erheben sich Stimmen der Rechtfertigung, jene, die betonen, Klages habe nicht gegen den Intellekt, sondern gegen Selbstherrlichkeit und absolute Willkür gesprochen; er habe zwar auf die Logik absehbarer Plünderung und Verwüstung des Planeten hingewiesen, sei selbst aber nicht Dithyrambiker des Untergangs, sondern Nothelfer. 38
Geisteskrise und Neuorientierung Das so verdüsterte Bild eines abgeschwächten, alternden, dunklen Gewalten kraftlos ausgesetzten natur-, lebens- und seinsvergessenen Geistes, der mit dem Leben hadert und sich mit der Seele überworfen hat, lässt fürchten, dass die Vorzugsstellung des Geistes ins Wanken gerät - zumal auch die Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren fraglich wird. Das Wissen um deren erstaunliche Fähigkeiten aus „praktischer Intelligenz" macht es schwer, qualitative Unterschiede zu begründen.
Wesensschau und neue Grundlegung: Max Scheler Die phänomenologische Beschreibung spezifischer geistiger Akte, die zur „Wesensschau" führen, 39 zeigt ein Wissen „in unendlicher Allgemeinheit", „unabhängig von Zufallssinnen und Erregbarkeit", „über die Grenzen der Erfahrung", für alle wirklichen und möglichen Welten. 40 Wesenheiten dieser Art sind „Setzung des ewigen Dranges", „Attribut" eines „übersingulären Geistes", Leistung der Vernunft, die „als Anlage und Fähigkeit" zu Wesenseinsichten in den Ergebnissen ihrer Denkweise und ihres Wertfühlens „immer neu Denk- und Anschauungs-, Liebens- und Wertungsformen" hervorbringt. 41 In Reduktion und Sublimation, den Gründungsakten des Geisteslebens, greift Geist in Wirklichkeit ein, entwirklicht er Welt und schreitet fort, Welt zu ideieren. 4 Geist hemmt die vom Gefühlszentrum vorgetragene Wirklichkeit, er reduziert als „Neinsagenkönner", „reiner Wille", als „Protestant". Inaktualisieren heißt nicht Erlebnisfülle aufgeben, bedeutet vielmehr, sie zu
37 38
40 41 42
Ernst Frauchinger, „L. Klages und T. de Chardin", in: Revue de Medicine fonctionelle 1971/2. Roland Müller, Wie aktuell ist die Philosophie von L. Klages?", in: Hestia, Bonn 1971 2/3. Max Scheler, Zur Idee des Menschen, Abhandlungen und Aufsätze, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1915, 19; ders., Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947. - Dazu: Karl Anton Sprengard, „Wesensschau als ideierende Handlung menschlicher Existenz", in: Grundphänomene zum Verständnis des Geistesleben und der Menschen in Deutschland und Japan im 20. Jahrhundert, hg. v. Karl Anton Sprengard u. a„ Wiesbaden 2002,45-55. Max Scheler, Stellung des Menschen, 47. Ebd., 48. Ebd., 49.
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transzendieren. Überschreiten ist ein verfeinertes Wiederaufleben verdrängter Lebensgewalten in sublimierter Form. 43
„Geist ideiert Leben - Leben verwirklicht Sinn." Geist als „ewiger Faust", „nie sich beruhigend in der ihn umringenden Wirklichkeit", versteht seinen intentionalen Eingriff in den dahinflutenden Lebensdrang als „Lenkung". Lenkung ist „Hemmen" und „Enthemmen von Triebimpulsen", ist Leitung dahin, wohin der Geist will. Endziel der Menschwerdung ist „etwas Positives", die Macht und Tätigkeitsgewinnung des Geistes, ein Freier- und Selbstständigerwerden.44 „Vergeistigung des Dranges", „Ermächtigung", „Verlebendigung des Geistes" sind wechselseitig sich bedingende Momente im Vorgang der Selbstschöpfung.45 Geist und Leben mögen wesensverschieden sein; sie sind komplementäre, d. h. sich ergänzende Momente höheren Daseins. Geist macht Sinn; Sinn verwirklichen kann allein das Leben.46
Zustand des Geistes - Sache der Person „Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet",47 „wachsen an sich selbst", in „ihren Manifestationen", in der Lebensgeschichte des Einzelnen, in der „Geschichte des menschlichen Geistes" und der „Evolution des Lebens in der Welt".48 Das Aktzentrum dieser Vorgänge ist die Person als Träger von Ideen und Werten. Die geistige Verfassung der Person, ihr „weltoffenes Verhalten", ihre „nie ruhende Sucht [...] grenzenlos in die Weltsphäre vorzudringen", ohne sich je zu „beruhigen", ist maßgebend für den jeweiligen Geisteszustand. Person ist wesentlich Aktstrom, der sich organisch im Leben stabilisiert und als „geistig aktuales Sein" dank seiner ideellen Natur, d. i. dank Wesensschau und Wertfühlen, handlungsbestimmend eingreift.49
Persönlichkeit und Macht Die Macht der Person liegt in ihrer Möglichkeit, Persönlichkeit zu werden. Der Mensch wird zur Person, indem er sich „aus der Natur herausstellt", zugleich aber die „entdeckte Welt an sich" sich selbst anpasst. Persönlichkeit bildet sich in personalen Handlungen. Bildung ist ein Prozess, ein Anwachsen personaler Akte und zugleich ein Vorgang, in dem Wissen sich ansammelt, verinnerlicht und sich als zuverlässiges Potenzial der Lebensgestaltung verfestigt. Wissen ist die Macht zu handeln, zu gestalten, zu steuern. Wissen ist die Macht zu leben.
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
5 lf. 57f. 64f. 74. 80. 85. 82.
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Bildung und Macht Bildung ist ein Akt der „Selbstvergöttlichung", „Selbstdeificatio", 50 insofern - anders als in einer szientistisch-zweckrational vereinseitigten Kultur - personaler Bildungswille sich von einer integralen Bildungsidee leiten lässt. Eine so gebildete Persönlichkeit bringt das Format auf, metaphysisches „Erlösungs-" oder „Heilswissen", phänomenologisch gesichertes „Wesens·" und damit „Bildungswissen" sowie das den Wissenschaften innewohnende „Herrschafts-" oder Leistungswissen" zu vereinen. 51 Universale Bildung erst versetzt in die Lage, die Macht des Geistes recht zu gebrauchen.
Geist und Ausgleich mit dem Leben Dazu bedarf es mehr als praktischer Intelligenz. Geist kann die instrumentell vitalgebundene Vernünftigkeit überwinden, indem er weiterdenkt. Denken in der höchsten Form des Denkens, der geistig-liebenden Haltung zur Welt, schafft den Ausgleich mit Natur, Seele, Leben. Dennoch - bei aller Bestimmung des Menschen zur wohltätigen Macht des Geistes, die vom Grund seiner (Persönlichkeits-)Bildung abhängt: im Wesen des Geistes liegt Tragik. Geist als „reine Tätigkeit (actus purus)" bestimmt in seiner Freiheit, die er hat und als die er sich versteht, was ist. Geist als tragische Freiheit (F. Schiller) sollte in der Kraft seines vereinten Wissens und der Liebe dem Leben beistehen; sein Sinn für Freude und Schönheit sollte die Übel in Natur und Seelenleben lindern. Sollen ist nicht Sein, Wollen nicht Können.
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Max Scheler, Späte Schriften, WW (Bern/München 1976) Bd. IX, 91. - Dazu: Erwin Hufnagel, „Bemerkungen zur Wissenssoziologie und Bildungsphilosophie von Max Scheler", in: Deutschland und Japan im 20. Jahrhundert, a. a. O., 215-240. Dazu Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, WW Bd. VIII, Bern/München 2 1960.
RICHARD W I S S E R
Also sprach Friedrich Nietzsche Stichworte im Blick auf Martin Heideggers Intention, „denkender" als Verstand und Vernunft zu „denken"
Heideggers Umgang mit Philosophien und mit den sie vertretenden und sie betreibenden Philosophen und sein Versuch, das unmöglich Scheinende zu erreichen, und zwar, dass wir sowohl als Menschen über unseren Schatten springen als auch die Schatten der bisherigen Philosophie und ihre Manifestation in den uns überkommenen Philosophien überspringen, das heißt, frag-würdig machen, was uns und was sie bedingt und zwingt, nur auf das „Seiende" zu starren, statt das „Sein des Seienden" in den Blick zu nehmen, hängt mit einem - wie Heidegger ihn nennt - „einfachen Sachverhalt" zusammen, den er für den Kern und Motor eines zukünftigen und von ihm inaugurierten „Denkens" hält. Von diesem „einfachen Sachverhalt" sagt Heidegger, dass das Denken „denkender" werden müsse als das, was in bisheriger Philosophie unter Denken verstanden worden ist, ja, als das Denken der Philosophie als solcher und überhaupt. Auf diese Weise soll einem „Sachverhalt" ent-sprochen werden, durch den es möglich werde, die uns überkommene und die uns überkommende Grundgestalt der Philosophie, auf die wir uns so ausschließlich eingelassen haben und dementsprechend meinen, so auf sie angewiesen zu sein, dass wir sie be-denkenlos für selbst-verständlich und durch und durch vernünftig halten, auf eine vergleichslos radikale und fundamentale Weise zu durchschauen und dementsprechend uns insbesondere von besagten Schatten zu befreien. Dadurch soll einsichtig werden, dass der Mensch wesentlich und in erster Linie nicht, wie behauptet, ein animal rationale, sei es gemeint als ein Verstandeswesen, sei es ausgelegt als ein vernünftiges Wesen, sondern ursprünglicher ein „seinsverstehendes Wesen" ist. Dies aufzuweisen, bemüht sich Heidegger schon in solchen Kapiteln seiner als erstes Hauptwerk geltenden Untersuchung Sein und Zeit, die konsequenterweise der „Analytik" des menschlichen „Daseins" gewidmet ist. Im Verfolg dessen geht es Heidegger bei dem, was er - zumal später - in Absetzung vom und in Distanz zum gebräuchlichen Terminus „Philosophie" bewusst ,JDenken" nennt und was sich daher auch von dem unterscheidet, was in der bisherigen „Philosophie" sich als Verstand präsentiert und aufführt oder was als Vernunft daherkommt und anvisiert wird, um etwas von beidem Abzuhebendes. Heidegger ist von Mal zu Mal mehr bemüht, hinter die „Philosophie" zurückzugehen und ersichtlich und einsehbar zu machen, dass der Mensch ek-sistentiell als „seinsverstehendes Wesen" wesentlich und ursprünglich nicht auf vorhandenes und zuhandenes Seiendes, welcher Art es auch sein mag, bezogen ist, sondern immer schon dem Sein nahe ist. Es kommt für ihn also nicht nur darauf an, gewissermaßen erpicht darauf aus zu sein, sich mit dem Seienden verständig oder vernünftig zu befassen, sondern nach-denklich und entsprechend der von ihm für „fundamental" erachteten „ontologischen Differenz" zwischen Sein und Seiendem konsequentermaßen dem Sein nahe zu sein. Deshalb intendiert Heideggers „Den-
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RICHARD WISSER
ken", das „denkender" zu werden bemüht ist, mittels „Destruktion" bisheriger V o r g ä n g e in der Geschichte der Philosophie, die es zu analysieren und konsequent zu kritisieren gelte, die Entfernung zum Sein zu tilgen. Anders gesagt: die Ferne z u m Sein, die gerade auch durch Behauptungen der „Philosophie" als solcher bewerkstelligt sei, ist aufzuheben, zu beseitigen, auszuräumen und die ursprüngliche Nähe durch die „ K e h r e des Denkens" zur Erfahrung zu bringen. Solcherart kritisch „ i m Denken unterwegs" zu sein, betreibt Heidegger immerfort und allzumal als seine Aufgabe. Und besagter „einfacher Sachverhalt", der so einfach ist, dass wir, was Heidegger moniert, über ihn hinaus- und hinwegsehen, ihn übersehen, verbürge, dass es unter Berücksichtigung der „Seinsgeschichte", die die Geschichte des Verstandes und der Vernunft „destruiert", um die „fundamentalontologische" Sicht freizulegen, möglich ist, sich der eigenen Voraussetzungen in unserem U m g a n g mit Philosophien und Philosophen und deren Philosophemen bewusst zu werden und solches frag-würdig zu machen, was uns und was sie bedingt und verdingt. W o r a u f also k o m m t es, Heidegger zufolge, an? Nicht darauf, steif und fest zu behaupten, dass alles Fragen sein B e w e n d e n beim Verständigen des Verstandes oder beim Vernünftigen der Vernunft hat, und folglich und dementsprechend den, der nicht auf den Verstand pocht, geradezu als nicht bei Verstand abzuqualifizieren. A u c h nicht darauf, die Verstandes- oder die Vernunftphilosophie für die Richtstätte und für das Gericht zu halten und als das unübertreffliche Band anzuerkennen, das alles, was ist, zusammenhält und verbindet und auf diese Weise die Philosophie als solche mit sog. Verstandeserkenntnis oder sog. VernunftWissenschaft zu identifizieren und die Philosophie dergestalt und derart als das W i s s e n dessen zu definieren, was Gegenstand der Erfahrung oder der begriffene Begriff ist. Das von Heidegger intendierte und geforderte, gegenüber der bisherigen Philosophie „denkender" werdende „andere" Denken geht nun aber, um wenigstens z w e i Namen zu nennen, nicht kritizistisch-statisch oder historizistisch-dynamisch am Faden des geschichtlichen Vorübergangs, gewissermaßen post-modern hantierend und schwadronierend, über Kant und über Hegel, denen Heidegger wichtige seiner Untersuchungen und Vorlesungen widmet, hinaus. Er ist vielmehr konsequent bemüht, hinter die Positionen des „Philosophie" Genannten und als „Philosophie" Betriebenen, w i e Heidegger betont und in A b h e b u n g z u m Verstandes- und Vernunft-Denken sagt, „denkender" auf den apostrophierten „einfachen Sachverhalt" zurück zu gehen, das heißt, eine „ K e h r e " zu vollziehen. Damit nun allerdings ersichtlich wird, dass Heideggers „Destruktion" und Hinterfragung des überkommenen Philosophieverständnisses nicht v o m Himmel fällt, sondern dass und wie Kant und Hegel für ihn gerade auch durch seine B e z u g n a h m e auf Nietzsches verstandesund vernunft-kritische „Philosophie" zu Steinen des Anstoßes werden, sei auf Nietzsche abgehoben. Fraglich gemacht wird somit ein Philosophie-Verständnis, das bewusst der ratio, dem Verstand, und der in ihm gründenden und auf diese seine W e i s e und deshalb fest-stehenden Ver-ständig-keit und der ihr entsprechenden Ver-ständlichkeit den Zuschlag gibt. Fraglich gemacht wird damit aber auch ein Philosophie-Begriff, der in der Selbstbegegnung der Vernunft ansetzt. Anders gesagt: Nicht nur die kritizistische Position, die Philosophie als Kritik, die v o m Verstand ausgeht und die er treibt, zu betreiben, sondern auch die historizistische Bewegung, die Philosophie als den Inbegriff des Begreifens, das als G a n g der Vernunft v o r sich geht und ihn «mtreibt, für unüberbietbar und letzthinnig hält, wird von Nietzsche der Revolte gegenüber derlei ausgesetzt. Und z w a r durch den R ü c k g a n g , durch die Re-volution auf
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einen Ursprung, den er für ur-sprünglicher als den Verstand und als die Vernunft hält und den er daher aufzuweisen und zu erweisen trachtet. Dass hierbei manches zum Vorschein kommt, das sowohl von der fix- und fertigen Verstandes-Erkenntnis und der ihr entsprechenden Philosophie als auch von der gängigen Vernunftphilosophie für unzulänglich gehalten wird, soll jetzt nicht erörtert werden, selbst wenn derartige, bis ins Psychopathologische reichende „Behandlungen" und „Abhandlungen", die der für krankhaft und geradezu ver-rückt gehaltenen nietzscheschen Philosophie gewidmet werden, jeweils vom bedenklich selbstbewussten Triumph des Verstandes oder der Vernunft Zeugnis ablegen. Man wird dem, was Nietzsche meint, gesichtet zu haben, auch nicht gerecht, wenn man ihn, wie dies mitunter geschieht, geradezu als wider-vernünftig abstempelt und dadurch dem, was er zur Sprache bringt und zu sagen hat, das Wort abschneidet. Bei Nietzsche läuft alles auf etwas anderes hinaus und zielt alles auf etwas anderes ab. Bei ihm kommt etwas zum Ausdruck, das die Re-volte gegen Verstand und Vernunft, die Re-volution, das heißt die Abkehr und Umkehr vorantreibt, die sich einer anderen Zukunft zuzuwenden und aufzuschließen vermag, also etwas, das es ermöglicht, das Prinzipielle, sei es des Verstandes, sei es der Vernunft, in Frage zu stellen. Nietzsche trachtet danach, auf dem Grund des Verstandes und im Verlauf der Vernunft etwas nachzuweisen, was weder Verstand noch Vernunft ist, was nicht nur von eigener Art ist, sondern das Eigentliche ist, worauf alles ankommt und von dem aus alles auch in Zukunft in Gang gehalten wird, den Willen. Nietzsche ist bestrebt, den Verstand und die Vernunft nicht als primär an- und hinzunehmen, sondern beide als sekundär zu erweisen, das heißt, die jeweiligen Ansprüche, die Verstand und Vernunft erheben, als abhängig von etwas anderem zu durchschauen und zu entlarven, dem sie in Wahrheit und in Wirklichkeit ihre Entstehung und ihren Ursprung verdanken. Die selbstbewusste, das heißt von sich selbst überzeugte sog. „Aufklärung", der Inbegriff von Verstand und Vernunft, die vermeintlich alles und jedes restlos durchschaut, soll durch die dringend erforderliche, weil von der Sache gebotene, vorurteilslose Aufklärung über die sog. „Aufklärung" tatsächlich und bis auf den Grund durchschaut werden. Dabei soll das zu kurz Greifende der zwar so genannten, aber nur vermeintlichen Aufklärung aufgedeckt und der ideologischen Borniertheit überführt werden. Was sich hier abspielt, ist insofern beachtenswert, als Nietzsche bestrebt ist, den Hinterabsichten des Verstandes auf die Schliche zu kommen und durch Entlarvung der hochgesteckten Spekulationen der Vernunft die obwaltenden Ambitionen ans Licht zu bringen und somit und dadurch den Nachweis zu führen, dass es Verstand und Vernunft eigentlich gar nicht um Verstand und Vernunft, sondern um etwas ganz anderes geht. Nietzsche ist dementsprechend gezielt und mittels der ihm eigenen Mittel, auch der Dichtung, unentwegt darauf aus, sowohl dem Verstand als auch der Vernunft gewissermaßen die Luft abzulassen und beide zu demaskieren. Zwar spielt auch bei Nietzsche das „Denken" eine Rolle, aber weder als das seit Plato überkommene Denken, noch als das „Denken" Kants, das sich über die sog. „Grenzen" des Erkennens kritizistisch durch wohlüberlegte „Kritik" und durch „Kritiken" auf allen Feldern des Erkennens, Handelns und Urteilens klar zu werden trachtet, noch als das sog. „Denken des Denkens" Hegels, das historizistisch am Leitseil der in geschichtlicher Bewegung inErscheinung-tretenden Vernunft entlanghangelnd, sich selbst denkt. Einem Nietzsche dient das Denken vielmehr dazu, als die Sache des Denkens gerade nicht das Denken zu erweisen, sondern als die Sache des Denkens die Einsicht zu befördern, dass das Prinzip von allem gerade nicht der Verstand oder die Vernunft, sondern der Wille ist.
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Der Wille ist es und nicht der Verstand oder die Vernunft, der, wie Nietzsche im Hindurchgang durch die Philosophie Schopenhauers, seines „Erziehers", sagt, nicht irgend etwas, sondern sich will, der also sein eigenes Wollen will, folglich nicht nur ein Mittel in der Zuständigkeit des Verstandes oder nur ein Motor für die zu sich kommende Vernunft ist. Der von solcher Dienstbarkeit befreite, über sich selbst verfügende Wille, der Willeb der sich will, der sein eigenes Wollen will, ist der ur-sprüngliche und der ursprünglich bleibende Wille, der nicht bei diesem oder jenem Ziel stehen bleibt. Beim eigentlichen Willen - und darauf zielt Nietzsche ab - handelt es sich folglich nicht um das, was üblicherweise unter Willen verstanden und, Nietzsche zufolge, missverstanden wird, nicht um ein beliebiges Mittel, das einzig dazu dient, etwas anderes zu erreichen, was er selbst nicht ist. Der ursprüngliche und ursprünglich bleibende, durch kein ihm nicht-eigenes Ziel erfüllte Wille, der Wille, dessen Ziel er selbst ist, der also seiner selbst mächtig ist, ist der „Wille zur Macht". „Wille zur Macht" meint nicht und besagt bei Nietzsche nicht den üblichen und verbreiteten, allerorten sich abspielenden primitiven Machtwillen, nicht den martialischen Willen hektischer Machtergreifung, nicht die hemmungslose Gewalttätigkeit, die über Leichen geht. Derartiges mag eine Auswirkung des missverstandenen „Willens zur Macht" sein, der in solchen Abarten aber nicht aufgeht. Der nur allzu oft missdeutete, weil missverstandene Ausdruck „Wille zur Macht" nennt vielmehr gerade denjenigen Vorgang, durch den der Wille nicht mehr zum Mittel für solches denaturiert und missbraucht wird, was nicht Wille, also nicht er selbst, sondern etwas anderes ist. Gemeint ist vielmehr, wie gesagt, der Wille, der sich will, über den Nietzsche in mehrfachen Wendungen sagt, „eher will er noch das Nichts wollen als nicht wollen", der also in keinem Fall sich, und das heißt das Wollen des Willens, aufgibt.1 In Nietzsches Augen nimmt nun aber der Wille nicht nur die Stelle ein, die nach Auffassung der von ihm entlarvten und „hinterfragten" Philosophen bisher Verstand und Vernunft innegehabt haben. Verstand und Vernunft erweisen sich statt dessen als äußerst be-denklich stimmende Vordergründe, die bei näherer Betrachtung den Blick auf die tatsächlichen Hintergründe freigeben, in dessen Dienst sie stehen - sie, die alles andere als selbst-ständig und selbst-verständlich sind, sie, die sich über ihre wahren Absichten, ihre „moralischen Hinterabsichten"2 im Unklaren sind, unaufgeklärt, wie die sog. Aufklärung, Nietzsche zufolge, tatsächlich und in Wirklichkeit nun einmal ist, sie, die bei vermeintlicher, behaupteter und vorgegebener höchster Klarheit mit Unklarheit über ihren Ursprung geschlagen ist. Gibt, so ist zu fragen, Nietzsche damit das „geistige Band", das die apostrophierte Klarheit des Verstandes-Systems beziehungsweise das behauptete absolute Wissen des VernunftSystems gewährleistete, völlig auf? Ja und nein! Nietzsche gibt den Verstandes-Verbund auf, nicht den Verbund, gibt das geistige Band, d. h. den Geist als Inbegriff des Bandes auf, nicht aber das Band als solches, den Zusammenhang dessen, was der Wille im Werden seiner selbst zum Vorschein bringt. Anders gesagt: Die Qualität des Bandes ändert sich, aber das Band zerreißt nicht. Was heißt das?
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Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta. München o. J., Bd. 2, 839, 900; Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, Abschnitt: „Zur Genealogie der Moral", a. a. O., 1143. - Um wenigstens einen gewissen Überblick über Nietzsche-Editionen zu geben, sei auf verschiedene zurückgegriffen. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, in: ders., Hauptwerke, Stuttgart 1939, Bd. 2, 281, Nr. 413 (= WZM).
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Mag Nietzsche, wie er im Jahre 1881 in der Morgenröte schreibt, der er als „seinem eignen Morgen, seiner eignen Erlösung" entgegensieht, zur Vorsicht vor den Systematikern raten. 3 Mag er, wie er in einer seiner letzten Schriften, in der Götzen-Dämmerung, im Jahre 1888 formuliert, allen Systematikern misstrauend, und ihnen deshalb aus dem Weg gehend, im Willen zum System, sei es das des Verstandes, sei es das der Vernunft, geradezu und schonungslos einen „Mangel an Rechtschaffenheit" aufdecken 4 und nicht nur Leibniz und Kant als die „zwei größten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europas" 5 entlarven, sondern darüber hinaus behaupten: „es gibt in der ganzen Geschichte der Philosophie keine intellektuelle Rechtschaffenheit" 6 und in einem aus dem Jahr 1884 stammenden Aphorismus den Willen zum Verstandes- und Vernunft-System geradezu als typische Charakter-Krankheit beim Philosophen diagnostizieren. 7 Mag Nietzsche von sich selbst sagen, dass er zu einem System nicht borniert genug sei, 8 und die Systembauerei geradezu als „Kinderei" 9 abtun, mag er das Systematische als „Grundvorurteil" gegenüber dem wahren Sein der Dinge schonungslos brandmarken 10 und Systemen lediglich ironisch zubilligen, dass sie Erziehungsmethoden, allerdings fragwürdige, sind, durch die der „Geist" sich Geltung verschafft und seine Herrschaft beweist." Ja, mag Nietzsche geradezu von Betrügerei sprechen, wenn sich noch jetzt, also noch zu seiner eigenen Zeit - und damit Ende des 19. Jahrhunderts - ein Denker unterfängt, ein System hinzustellen, 12 - alle diese Ausfalle, die so eindeutig scheinen, dass an ihnen nichts zu deuteln ist, so dass die Ablehnung des Systems folglich als definitiv bezeichnet werden kann, alle diese Ausfälle sind allerdings nicht gegen die systematische Intention als solche gerichtet. Sie zielen nicht darauf ab, das alles miteinander verschlingende und in sich schlingende Band, das der „Wille zur Macht" darstellt und abgibt, zu leugnen. Sie dienen lediglich dazu, den Verstandes-Verbund und das „geistige Band", also Verstand und Vernunft, und zwar jedes von beiden auf seine Weise, als abhängig vom Band des Willens, der sich selbst will, zu erweisen, des Willens, der sich in sich schlingt, der letztlich „ewige Wiederkehr des Gleichen", also des prinzipiellen „Willens zur Macht" ist. Ja, sie dienen geradezu dazu, diesen genealogisch zu demonstrieren und zugleich zu befördern, in Schwung zu bringen und zu halten. Mit anderen Worten: Nietzsche setzt auf den Willen, auf das unbändige Band, weil durch diesen jedes zu kurz greifende System, das mittels des Verstandes oder der Vernunft aufgestellt und hergerichtet, ausgerichtet und dargestellt wird, überwunden wird. Nietzsche pocht auf den Willen, weil in ihm das, was am System wesentlich dran ist, überhaupt erst zur Geltung kommt, System also zur höchsten und wesentlichsten Form gedeiht. Zu derjenigen Form, auf die einzig und allein bei der Überwindung des von ihm konstatierten „Nihilismus", der auch mit dem eklatanten und nicht zu übersehenden Zusammenbruch der bisheri-
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Friedrich Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, in: ders., Werkausgabe, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 1,1011, Vorrede, Nr. 1. Ders., Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, a. a. O., Bd. 2,946, Nr. 26. Ders., Ecce Homo, a. a. O., Zweiter Band, 1148, Nr. 2. Ders., WZM, 320, Nr. 460. Ders., Die Unschuld des Werdens. Nachlaß, in: Kröners Taschenausgabe, Bd. 82,377. (= KTA). Ebd., 378. Ebd., 423. Ders., KTA, Bd. 83, 88. Ebd., 102. Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß: Studien aus der Umwerthungszeit 1882-1888, in: ders.. Gesammelte Werke, Musarionausgabe, München 1925, Bd. XVI, 68 (= MA).
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gen Systeme des Wissens, des Verstandes, der Vernunft, im Laufe der Zeit und der Zeiten zusammenhängt, Verlass ist. Nietzsches „Philosophie", die ausdrücklich mit dem „Hammer", der das Symbol des Willens ist, philosophiert, ist eine Philosophie, die die erkenntnistheoretischen Verstandes-Systeme ebenso wie das den Logos bemühende logische VernunftSystem, also sowohl alle Selbst-ver-siändlichkeiten wie alle gängige Vernünftelei, zerschlagen möchte. Eben deshalb scheint sie denen, die sich für Ver-ständige und Ver-nünftige halten, als unbändige Entladung eines alles entwurzelnden, die Grundlagen und die Grundlegungen vernichtenden Willens, und ist und bleibt in Heideggers Augen daher „Philosophie" - ihrerseits bemüht, im „Willen zur Macht" den „letzten Grund und Charakter aller Veränderung" 13 aw/zudecken und in ihm die Identität aller Differenz zu enidecken, den Verbund und das Band, das, in sich gespannt, alles umspannt, das heißt alles aufeinander beziehbar macht und somit und dadurch es ermöglicht, „alle ,Ζ wecke',,Ziele',,Sinne'", also alles, was wir konstatieren, statuieren, projektieren, als nichts anderes denn als „Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht" zu fassen. 14 Der „Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunter kommen". 15 Von ihm aus als dem „Prinzip", 16 als der „Essenz" der Welt, 17 als der „absoluten Augenblicklichkeit", 18 oder wie die Umschreibungen alle lauten mögen, durch die Nietzsche die „Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem Willen zur Macht" 19 zum Ausdruck bringen möchte, ist er bemüht, die Verstandes-Systeme und das Vernunft-System als bloße Ausdeutungen durchschaubar zu machen. Denn diese sind gerade nicht eigenständig und eigentlich, sondern gehen auf jeweilige Ausdrucks- und Erscheinungsweisen des „Willens zur Macht" zurück, weshalb sie folglich auf ihn und auf sonst nichts zurückzuführen sind. 20 Solche Erscheinungsweisen sind repräsentiert in den bisher leitenden und gang und gäbe wirksamen Schematismen, als da sind die Relation von Mittel und Zweck, die von Ursache und Wirkung, die von Subjekt und Objekt, die von Tun und Leiden, die von Erscheinung und Ding an sich, von Ver-hältnissen also, durch die das Erkennen versucht, alles, was ist und was wird, auf einen Nenner zu bringen, sei es der der VerstandesErkenntnis, sei es der des Vernunft-Wissens. Was das bedeutet, wird vielleicht am deutlichsten, wenn man ernst nimmt, worauf Nietzsche bei alledem letztlich abzielt. Hatte Kant die Unwirksamkeit und mangelnde Treffsicherheit aller Beweise für die Existenz Gottes betont, weil dem Menschen Erkennen nur im Bereich des durch menschliche Erfahrung Bedingten und entsprechend der kategorialen menschlichen Grundausstattung und obendrein nur in den Anschauungsformen von Raum und Zeit möglich ist, so hat im Unterschied zu ihm Hegel die Entwicklung von allem geradezu für den Selbsterweis Gottes gehalten, weil die absolute Vernunft, die, sich vernehmend, sich selbst darstellt, indem sie, von sich ausgehend, zu sich zurückkehrt. Diese Selbstaufweisung kann als Ziel seiner eigenen spekulativen Philosophie gesehen werden im Sinne nicht mehr des bedingten, erfahrungs-gebundenen Wissens sondern des unbedingten Wissens. Es war ihm darum zu tun Gottes Gedanken vor Erschaffung der Welt prinzipiell
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Friedrich Nietzsche, WZM, in: MA, Bd. XIX, 138. Ebd., 127. Ders., Unschuld des Werdens, in: KTA, Bd. 83,301. Ders., MA, Bd. XIV, 374. Ders., Jenseits von Gut und Böse, Werkausgabe (Schlechte), Bd. 2, 644, Nr. 186. Ders., Unschuld des Werdens, a .a. Ο., 92. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werkausgabe (Schlechte), Bd. 2,586, Nr. 22. Ders., WZM, in: MA, Bd. XIX, 85, Nr. 589.
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als im ursprünglichen Sinn des Wortes logisch nachvollziehbar zu überschlagen, mit seinen eigenen Worten gesagt, hat er ihren „Inhalt" umrissen als „die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist".21 Einem Nietzsche gilt „Gott als eine Epoche - : [als] ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht",22 und den Menschen sieht er als einen Überstieg an, als die Brücke zum „Übermenschen": „Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art". 23 Nach dem bisher Gesagten überrascht es nicht, dass Nietzsche seine Kant-Kritik zwar an der auch von Hegel für kurzschlüssig erachteten Erkenntnis-Theorie des Verstandes festmacht und Nietzsches Hegel-Kritik an dessen, von Kants Position her gesehen hypertroph erscheinenden Vernunft-Theorie ansetzt. Zunächst, pointiert, Kant: Der entscheidende Einwand Nietzsches gegen Kant zielt auf dessen Erkenntnis-Theorie, durch die dieser, wie Kant selbst meinte und, was von Nietzsche genüsslich zitiert wird, auch ausdrücklich behauptete, geleistet zu haben, was von allen seinen Vorgängern in der Philosophie „versäumt" worden sei, und zwar „die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesamten Vernunft". Nietzsche nennt Kants Antwort auf die Frage, weshalb seit Plato und von diesem ab „alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben", und zwar deshalb, weil sie keine kantische Erkenntnistheorie getrieben haben, „verhängnisvoll", insofern durch die den Verstand sichernde Erkenntnistheorie die moderne Philosophie „wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt" worden sei. Statt zu durchschauen, dass Kant, von der „Moral-Tarantel Rousseau gebissen", eigentlich auf das Baufest- und Unangreifbarmachen eines „moralischen Reiches" aus gewesen sei, seine Kritik der reinen Vernunft folglich einer moralischen Absicht ihre eigentliche Entstehung verdanke, habe man, wie Kant es befahl, seine, den Verstand betätigende Erkenntnistheorie für fundamental gehalten. Höchst merkwürdig und sonderbar aber sei, „zu verlangen, daß ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisieren solle." Nietzsche hält ein solches Verfahren, „daß der Intellekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen ,erkennen' solle", geradezu für widersinnig. 24 Und „daß unsre Philosophen verlangen, die Philosophie müsse mit einer Kritik des ErkenntnisVermögens beginnen", das heißt, die Auffassung, „daß das Organ der Erkenntnis sich selber .kritisieren' kann", hält Nietzsche geradezu für „komisch", denn ein „Erkenntnisapparat, der sich selbst erkennen will", gleiche einem „Magen, der sich selbst aufzehrt". 25 Was Kant anstrebe, „die ,Erkenntnis der Erkenntnis'", sei eine „Naivetät" 26 (!), „Philosophie, auf Erkenntnistheorie' reduzirt" (!), sei Mitleid erregende „Philosophie in den letzten Zügen". 27 Tief misstrauisch gegen die bereits erwähnte „Reduction der Philosophie auf den ,Willen zu einer Erkenntnistheorie'", 28 gibt Nietzsche daher auf den „Hintergedanken" acht, aus dem sowohl die erkenntnistheoretische Skepsis als auch die sie steuernde erkenntnistheoretische Dogmatik entstanden seien, und zwar bei Kant aus dem sichtlich bemühten Willen
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Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1936, Bd. 4,46. Friedrich Nietzsche, WZM, in: ΜΑ, XIX, 107, Nr. 639. Ders., Also sprach Zarathustra, Werkausgabe (Schlechte), Bd. 2,301,337. Ders., Morgenröte, Werkausgabe (Schlechte), Bd. 1,1012f., Nr. 3. Ders., Unschuld des Werdens, a.a.O., Band XI, 63f„ Nr. 171-173. Ders., WZM, in: MA, Bd. XIX, 39, Nr. 530. Ders., Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., 665, Nr. 204. Vgl. ders., Studien aus der Umwerthungszeit, in: MA, Bd. XVI, 87.
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und der Absicht, „das .moralische Reich'" 29 unangreifbar zu machen. Nietzsche, der bemüht ist, die Hintergründe aufzudecken und die uneingestandene Intention zu benennen, ist bestrebt zu demonstrieren, dass sich gerade auch bei Kant zeigt, wer die „eigentliche Circe der Philosophen"30 ist, nämlich: die Moral. Sie ist, Nietzsche zufolge, der Hintersinn, der Hintergedanke, der Kant zu einer Erkenntnistheorie zwingt, deren widersinnigen Charakter meint Nietzsche - Kant eigentlich selbst hätte durchschauen müssen, zu dem er sich statt dessen aber ausdrücklich und betont bekennt, insofern und weil ihr eigentlicher Zweck, Nietzsches Auffassung entsprechend, ist, das Wissen aufzuheben, um dem Glauben Platz zu schaffen. Moral, das heißt: nicht das, was ist, sondern das, was sein soll, ist also - Nietzsches bemühter Entlarvung zufolge - die treibende Kraft, ist der Ursprung für eine Theorie der Erkenntnis, die im Dienste der faktischen Sicherung und der ambitionierten Absicherung der Moral steht. Doch was Kant erstrebt hat, und daran lässt Nietzsche keinen Zweifel aufkommen, ist keineswegs die Ausnahme im Felde der Philosophie und ihrer Geschichte. Für Nietzsche steht fest, dass „alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben",31 denn, und auch dies unterstreicht er nachdrücklich, „seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral".32 Und Hegel? Auch ihm sagt Nietzsche nach, dass seine, statt kritizistische nun allerdings historizistisch „historisirende" (!) Haltung das Ergebnis eines „Hintergedankens" und obendrein ebenfalls moralischen Ursprungs" sei.33 „Hegel's gotische Himmelsstürmerei" sei, wenn man sie von Kant her sehe, eigentlich eine nicht mehr gängige und nicht mehr gehbare Nachzügler ei" - der „Versuch, eine Art Vernunft in die Entwicklung zu bringen",34 die in der Folgezeit, da die Hegeische Entwicklungs-Philosophie nichts als „die in Philosophie umgetaufte Historie" sei, auf die „fortschreitende Selbstoffenbarung, Selbstüberbietung der moralischen Ideen"35 hinauslaufe. Nietzsche selbst sieht sich dagegen „am entgegensetzten Punkte", denn er erkenne „in der Logik selber noch eine Art von Unvernunft und Zufall", und er bemühe sich daher, dahinter zu kommen, „wie bei der allergrößten Unvernunft, nämlich ganz ohne Vernunft, die Entwicklung bis herauf zum Menschen vor sich gegangen ist".36 Der Faden, der alles und jedes durchzieht, wohlgemerkt keiner des Erkennens, weder der Verstandes-Erkenntnis noch des Vernunft-Wissens, tritt für Nietzsche zu Tage, wenn es gelingt, alle diese Äußerungen, die ihren Ursprung in moralischen Absichten haben und somit auf Diktatur und Herrschaft des Verstandes oder der Vernunft hinauslaufen, als Ausdrucksweisen des „Willens zur Macht" erfahrbar zu machen. Indem Nietzsche sowohl das vorgegebenermaßen Primäre in Kants geschildertem Um-gang mit dem Verstand als auch das behauptete Primäre in Hegels apostrophiertem Ein-gehen auf die Vernunft bestreitet, möchte er statt dessen aufdecken, was beide versteckterweise zwar betrieben haben, was aber in Wirklichkeit sie treibt. Seiner Diagnose nach sind dies moralische „Hinterabsichten", also weder der Verstand noch die Vernunft. Deshalb packt Nietzsche um so entschiedener seine Aufgabe an, die Aufmerksamkeit auf den „Willen zur Macht" zu lenken. Ironisch bemerkt Nietzsche im Hinblick auf Kant: Er 29 30 31
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Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Werkausgabe (Schlechta), Bd. 1,1014, Nr. 3. Ebd., 1012, Nr. 3. Ebd., 1013, Nr. 3. Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werkausgabe (Schlechta), Bd. 2,903. Ders., WZM, in: MA, Bd. XVIII, 287, Nr. 410. Ders., Studien aus der Umwerthungszeit, in: MA, Bd. XVI, 82. Ders., Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werkausgabe (Schlechta), Bd. 3,903. Ders., Studien aus der Umwerthungszeit, in: MA, Bd. XVI, 82f.
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erfinde mit dem Begriff der ,,praktischen Vernunft'' „eigens eine Vernunft für solche Fälle, in welchen man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich das Bedürfnis des Herzens, wenn die Moral, wenn die .Pflicht' redet". 37 Und gleichfalls ironisch gemeint äußert sich Nietzsche Hegel gegenüber. Hegel versuche, durch die in „Philosophie umgetaufte Historie", 38 das heißt durch den vermeintlichen Aufweis der Vernunft in der Geschichte, „die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen". Beiden gehe es letztlich um nichts anderes als um die Moral, einem Kant um „ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich", einem Hegel um „eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches". 39 Nietzsche setzt dem entgegen: „Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegeische Manier betrügen lassen wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben -folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz". „Nun", fragt Nietzsche, ohne eine Antwort zu geben, also rhetorisch, „welchen hat er denn? - ,"40 Bewusst beantwortet er seine Frage an dieser Stelle nicht selbst, sondern mutet es dem Leser zu, sich zu fragen, wie es um dieses Problem steht. Unübersehbar ist aber, dass er sowohl Hegels besagte historisierende, dem „Historizismus" verfallene, bereits markierte „gotische Himmelsstürmerei" als auch Kants „skeptisch-epochistische Haltung" 41 als Ausdrucksweisen des „Willens zur Macht" und in dieser Absicht als Ausdruck ihres Willens zur Moral interpretiert. Kants Erkenntnistheorie hat für Nietzsche keinen Reiz in dem, was sie selbst zu sein vorgibt: die nach allen bisher vergeblichen Versuchen endlich geglückte Theorie des Verstandes. Und Hegels Vernunft-Philosophie übt auf Nietzsche keinen Reiz aus, obwohl sie sich selbst als die bisher vergeblich gesuchte, nun endlich gefundene Ent-wicklung der Welt-Vernunft als „Wissen des Wissens" geriert. Reizvoll, und dies in einem ironischen Sinn, sind für ihn beide Auffassungen und beider Auffassung einzig und allein insofern, als beide sich absolut setzende Logiken, die Verstandes- und die Vernunft-Logik, eigentlich gar keine Logiken sind, für die sie gehalten und ausgegeben werden. Sie erweisen sich als durchaus abhängige Werkzeuge im Dienst des „Willens zur Macht", anders gesagt: sie sind nicht selbstständigen, sondern „moralischen Ursprungs". 42 Was Nietzsche herauszustellen trachtet, ist: Weder der Verstand noch die Vernunft sind, was sie zu sein vermeinen oder vorgeben, fundamental. Sie sind weder das Α noch das O, sind vielmehr Indizien des Willens, sind Buchstaben, die der „Wille zur Macht" artikuliert. Sie sprechen somit seine Sprache, und es kann weder die behauptete durchgreifende Versiärtdlichkeit des Verstandes noch die apostrophierte bewegte Ver-nünftigkeit der Vernunft als selbstständiges und sich selbst verstehendes Sprechen, sei es als „wissenschaftliche Erkenntnis" (Kant), sei es als „Wissen des Wissens" (Hegel), angesehen und anerkannt werden, denn beide bedeuten etwas anderes, als sie zu sein vermeinen und als sie sagen und behaupten. Hinter beiden sind Absichten wirksam, die sich ihrer als Mittel bedienen. Durch sie hindurch spricht nichts anderes als der Wille, dass es so sei, ohne dass es aber so ist, wie sie vorgeben, oder es sich, wie sie behaupten, ohne den Willen, der sie treibt, verhielte.
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Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtziger jähre, a. a. O. 824. Ebd., 903. Ebd., 479. Ebd., 479. Ebd., 486. E1.J Ebd.
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Auszuführen, was Nietzsches Re-volution und Ab-kehr von Verstand und Vernunft und seine Kritik an der Aufklärung, die er, weil über sich selbst im Unklaren, der Aufklärung für bedürftig hält, und was seine Kritik an der, wie er sagt, „moralischen Ontologie" im Blick auf Heideggers „Seinsdenken" bedeutet, salopp gesagt, die Rolle zu beschreiben, die er für ein auch den Willen hinterfragendes „denkenderes" Denken spielt, ist ein eigenes Thema. 43 Schon gar, wenn es darum geht, zu begründen, was es mit Heideggers, die „Kehre des Denkens" vollziehendem, nietzsche-kritischem „anderen Denken" und - kurz gesagt - mit der „fundamentalontologischen" „Erinnerung in die Geschichte des Seins", die, seinem „denkenderen" Denken nach, „vom Sein selbst ereignet" ist, und ihn berechtige zu sagen: „Nichts geschieht, das Ereignis er-eignet",44auf sich hat...
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Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. Ders., Nietzsche, Bd. 2,481, 485.
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Begriff der Aufklärung als Naturgeschichte
Die Dialektik der Aufklärung ist seit der Stunde ihres Erscheinens ein sehr polemisch rezipiertes Werk. Nach dem anfänglichen Einfluss der marxistischen Rezeption des Buches in den 1960er Jahren dominiert im akademischen Bereich seit den achtziger Jahren bis heute die umstrittene Rezeption seitens der zweiten Generation der Frankfurter Schule letztlich sowohl in Deutschland als auch in Spanien. 2 Habermas zufolge 3 verlasse das Werk die von Horkheimer 1937 in Traditionelle und Kritische Theorie4 als Zusammenarbeit mehrerer Sozialwissenschaften entworfene erste Kritische Theorie. Die in der Dialektik der Aufklärung überprüfte Kritische Theorie verzichte auf den von Horkheimer vorgeschlagenen „interdisziplinären Materialismus" 5 und verwandle sich in eine objektivistische Geschichtsauffassung, die auf eine Kritik des gesamten Aufklärungsprozesses als Entwicklung der instrumentellen Vernunft abziele. Nach dieser Kritik werde beabsichtigt, einen positiven Begriff der Aufklärung vorzuschlagen, „der sie [die Aufklärung] aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst." 6 Dadurch, dass dieser Begriff sowohl die Kritik als auch die Überwindung der verwirklichten Aufklärung bedeute, sei er als umorientierte Kritische Theorie zu erfassen. Habermas' Meinung nach scheint Adorno schon in den dreißiger Jahren, insbesondere in Die Idee der Naturgeschichte, einen philosophischen Entwurf zu unterbreiten, der völlig
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Ich danke Andreas Mauer herzlich für die Korrekturen in deutscher Sprache. Vicente Gomez, „La Teorfa Critica en Espana. Aspectos de una Recepciön", in: Anales del Seminario de Metafisica, 1996, 11-41. Die Rezeption des Werkes von Horkheimer und Adorno wird von Habermas in zwei seiner Bücher artikuliert: Theorie des kommunikativen Handelns, Band I, Frankfurt a. M. 1981, und in Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985. Vor dieser Habermasschen Systematisierung der Rezeption des Werkes der ersten Generation der Kritischen Theorie hatten bereits Albrecht Wellmer und Axel Honneth eine Interpretation des Werkes dieser beiden Autoren durchgeführt, die Habermas aufnimmt und in den erwähnten Werken erweitert. So Albrecht Wellmer, „Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur "sprachanalytischen Wende" der Kritischen Theorie" in: Urs Jaeggi/Axel Honneth, Theorien des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1977; Axel Honneth, „Communication and reconciliation. Habermas' critique of Adorno", in: Telos 39/1979. Honneth baut diese Interpretation in Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer Kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1985 aus. „Traditionelle und kritische Theorie", Zeitschrift für Sozialforschung, Jahr 6, Nr. 2, 1937, 245-294. Jürgen Habermas, Theorie, 516. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Bd 3, Frankfurt a. M. 1997, 16. Im Folgenden zitiert als GS sowie entsprechende Bandnummer.
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anders als die Horkheimersche Konzeption der ersten Kritischen Theorie aufgefasst werde und der die Umorientierung der Kritischen Theorie in der Dialektik der Aufklärung sehr stark beeinflusse. „Freilich hatte Adorno dem Horkheimerschen Programm einer das Erbe der Philosophie antretenden, auf interdisziplinäre Forschung gestützten materialistischen Gesellschaftstheorie von Anfang an mit verhohlener Skepsis gegenübergestanden."7 Absicht dieses Aufsatzes ist es, zu zeigen, inwieweit die frühere Adornosche Konzeption der Philosophie Einfluss auf diesen positiven Begriff der Aufklärung hat, d. h. inwiefern die in der Dialektik der Aufklärung erfolgte Umorientierung der Kritischen Theorie sich in Verbindung mit der Naturgeschichte besser erhellen lässt.8
Umorientierung der Kritischen Theorie in der Dialektik der Aufklärung Die in der Dialektik der Aufklärung entworfene neue Kritische Theorie beschäftige sich nicht mehr mit konkreten gesellschaftlichen Problemen, sondern intendiere eine Kritik am gesamten Zivilisations- oder Aufklärungsprozess.9 Nach dem Misserfolg der Revolution wolle das Buch die Lukäcssche These der Verdinglichung überprüfen. „[Horkheimer und Adorno] radikalisieren Lukäcs' Kritik der Verdinglichung. Sie halten die restlose Rationalisierung der Welt nicht bloß für „scheinbar" und brauchen daher eine Begrifflichkeit, die ihnen gestattet, nichts weniger denn das Ganze als das Unwahre zu denunzieren. Sie können dieses Ziel auf dem Wege einer immanent ansetzenden Wissenschaftskritik nicht erreichen; denn die Begrifflichkeit, die ihr Desiderat erfüllen könnte, liegt immer noch auf dem Anspruchsniveau der großen philosophischen Überlieferung. Diese aber, und das ist der Webersche Stachel noch in der Kritischen Theorie, ist in ihrem systematischen Anspruch nicht einfach zu erneuern".10 Das Werk stelle eine Geschichtsphilosophie dar, welche die Entwicklung der instrumentellen Vernunft zur Verdinglichung mit dem Aufklärungsprozess gleichsetze. Nach der Beschreibung des Geschichtsverlaufs als Entfaltung dieser Vernunft bestehe aber das letzte Ziel der Dialektik der Aufklärung darin, den positiven Begriff der Aufklärung vorzuschlagen, der die Herrschaft als einzige mögliche Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und damit die Verdinglichung überwinde. Der positive Begriff der Aufklärung, in dem Werk als „Eingedenken der Natur im Subjekt"11 bezeichnet, wird Habermas' Meinung nach als Versöhnung der instrumentellen Vernunft mit der unterdrückten Natur verstanden.12 Seiner Sicht nach ist es die in Eingedenken der Natur im Subjekt verwandelte erste Kritische Theorie, die den Status der umorientierten Kritischen Theorie problematisch macht. „Bei diesem Versuch verstricken sich Horkheimer und Adorno ihrerseits in Aporien, aus denen wir lernen und Gründe für einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaftstheorie he-
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Jürgen Habermas, Theorie, 517. Ich werde mich hier aufgrund des begrenzten Umfangs des Aufsatzes auf die Spuren des Adornoschen Denken in der Dialektik der Auflclärung beschränken. Eine intensive Untersuchung des Einflusses von Horkheimer findet man in: Α. Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie: Elemente der Philosophie Max Horkheimers, München 1974. Jürgen Habermas, Theorie, 489. Ebd. 505f. Theodor W. Adorno, GS3, 58. Jürgen Habermas, Theorie, 509f.
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rauslesen können". 1 3 Das Aporetische des Werkes besteht f ü r ihn darin, dass - sobald die ganze Geschichte auf die Entwicklung der instrumentellen Vernunft reduziert werde - diese die einzige Instanz bleibe, um Kritik am Aufklärungsprozess zu üben. Wenn die Aufklärung auf die Entfaltung dieser einzigen Vernunft zurückgeführt und folgerichtig diese Vernunft als Herrschaft über die Natur aufgefasst werde, könne sie sich nicht selbst kritisieren, da sie gefangen in der Herrschaft verharre. Für Habermas gäbe es demnach keine Instanz, die über diese Herrschaft hinaus die Kritik an der Aufklärung ausdrücken kann. 14 Aufgabe der Kritik ist es, bis ins Denken selbst hinein Herrschaft als unversöhnte Natur zu erkennen. Aber selbst wenn das Denken der Idee der Versöhnung mächtig wäre, diese sich nicht von außen geben lassen müsste, wie sollte es diskursiv, in seinem eigenen Element und nicht bloß intuitiv, in stummem ,Eingedenken', die mimetischen Impulse in Einsichten verwandeln, wenn doch Denken stets identifizierendes Denken ist, an Operationen gebunden, die ausserhalb der Grenzen instrumenteller Vernunft keinen angebbaren Sinn haben, zumal heute, wo mit dem Siegeszug der instrumenteilen Vernunft die Verdinglichung des Bewusstseins universal geworden zu sein scheint? 15
Der positive Begriff der Aufklärung als Eingedenken der Natur im Subjekt bleibe somit stumm und die umorientierte Kritische Theorie hilflos. 16
Die Idee der Naturgeschichte Dieser Vortrag aus dem Jahre 1932 beginnt mit einer Auseinandersetzung mit den traditionellen Geschichtsauffassungen. Die Naturgeschichte präsentiert sich als Versuch, die Gegenüberstellung von Natur und Geschichte in den idealistischen Konzeptionen der Historie aufzuheben. Adorno schließt daraus, dass die Geschichtsphilosophie nach dem Untergang der idealistischen Systeme Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr als Darstellung der notwendigen Entwicklung der Vernunft zu begreifen ist. „Die naturgeschichtlichen Fragestellungen sind nicht als generelle Strukturen möglich, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte". 17 Die Naturgeschichte ist keine allgemeine Geschichtsauffassung, sondern sie zielt darauf hin, die traditionelle Gegenüberstellung der Geschichtskonzeptionen zwischen Natur und Geschichte dialektisch zu bearbeiten. Habermas hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Begriff der ,Verdinglichung' in der Dialektik der Aufklärung von Lukäcs geprägt ist. In Die Idee der Naturgeschichte gesteht Adorno den Einfluss ein, den der Lukäcssche Begriff von der .zweiten Natur' auf seinen Begriff der Naturgeschichte geübt hat. Jedoch entlehnt Adorno diese Idee nicht aus
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Es ist interessant zu bemerken, dass für Habermas die Kritik an der instrumenteilen Vernunft prinzipiell nur aus einem umfassenden Begriff der Vernunft heraus zu üben ist. So Jozef Keulartz, Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas, Hamburg 1995,252f. Auch Manfred Frank drückt diese Meinung aus in: Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt a. M. 1998, 15f. Im hier vorliegende Aufsatz wird skizziert, wie die Idee der Kritik in der Dialektik der Aufklärimg ohne normativen Begriff der Rationalität auskommt. Sie wird ganz im Gegenteil als immanente Kritik begriffen. Jürgen Habermas, Theorie, 514. Ebd. 514-518. Theodor W. Adorno, GS 1, 358.
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der Geschichtsphilosophie von Lukäcs,18 da sich die Naturgeschichte gerade als Alternative sowohl zu den idealistischen als auch zu den marxistischen Geschichtsauffassungen präsentieren möchte. Die Konzeption der Naturgeschichte ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sie hat ihren verbindlichen Ausweis im Rahmen der geschichtsphilosophischen Arbeit an bestimmtem Material, vor allem bislang an ästhetischem. [...] Lukäcs hat in der Theorie des Romans einen Begriff verwandt, der hierhin leitet, den der zweiten Natur. Der Rahmen des Begriffs der zweiten Natur ist der: Lukäcs hat eine allgemeine geschichtsphilosophische Vorstellung von sinnerfüllter und sinnentleerter Welt (unmittelbarer Welt und entfremdeter Welt, Welt der Ware) und sucht diese entfremdete Welt darzustellen. 1 9
Adorno übernimmt diese Idee in seiner Naturgeschichte als Darstellung der Umwandlung des geschichtlich Produzierten in sinnentleerte oder starre zweite Natur. 0 Es geht um keine Zivilisationsthese, sondern nur um die Feststellung, dass die von Menschen geschaffene Welt nicht immer sinnvoll erscheint. Das Anliegen der Naturgeschichte besteht nicht in der Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung von der sinnvollen zur sinnentleerten Welt, sondern vielmehr in der Enträtselung eben jener geschichtlich gewordenen sinnlosen Welt mit dem schließlichen Ziel der Aufhebung der konkreten Verdinglichung. Und das ist für Adorno nur möglich, indem die Naturgeschichte die Umwandlung der klassischen Geschichtsphilosophie in Deutung21 verwirklicht. „Von der Geschichtsphilosophie aus gesehen stellt sich das Problem der Naturgeschichte zunächst als die Frage, wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten."22 Die Naturgeschichte verzichtet auf die vernünftige Darstellung des ganzen Verdinglichungsprozesses und versucht, diese sich in bestimmte zweite Natur verwandelnde Geschichte zu interpretieren. Ist die Verdinglichung nicht mehr als allgemeine geschichtliche These, sondern konkret erfahrbar, dann strebt die Naturgeschichte nicht die Überwindung dieser zweiten Natur durch eine Versöhnung mit der ersten am Ende der Geschichte an, sondern ihre konkrete Entzifferung mittels ihrer nicht zwingenderweise zur Versöhnung führenden Deutung.23 Die Deutung historisiert diese scheinhafte starre zweite Natur, was die Möglichkeit der Aufhebung der Verdinglichung eröffnet.
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D.h. aus G. Lukäcs, Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923. Im Gegenteil entnimmt er diesen Begriff der .Zweiten Natur' aus seinen ästhetischen Schriften. Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans, Berlin 1920. Theodor W. Adorno, GS 1, 355. „Gesichtet ist von Lukäcs die Verwandlung des Historischen als des Gewesenen in die Natur, die erstarre Geschichte ist Natur, oder das erstarrt Lebendige der Natur ist bloße geschichtliche Gewordenheit" (Theodor W. Adorno, GS 1,357). Auch in Die Aktualität der Philosophie sieht Adorno die Aufgabe der Philosophie in der Deutung und verweist darauf, dass die „[...] Philosophie stets und stets und mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel der Deutung zu besitzen; daß ihr mehr nicht gegeben sind als flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden und ihren wunderlichen Verschlingungen" (Theodor W. Adorno, GS 1, 334). Theodor W. Adorno, GS 1, 356. Wenn auch an dieser Stelle die These nicht ausreichend entwickelt werden kann, bedeutet doch auch diese Idee der Deutung eine Inversion der Beziehung zwischen Theorie und Praxis in der marxistischen Tradition. „Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage
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D i e o f t d i n g h a f t e W e l t l ä s s t s i c h a b e r n i c h t m e h r a l s g a n z e s S y s t e m erklären. D i e N a t u r g e s c h i c h t e als D e u t u n g v e r z i c h t e t a u f d e n T o t a l i t ä t s a n s p r u c h der s y s t e m a t i s c h e n
Philoso-
p h i e n u n d d a m i t , untrennbar d a v o n , g l e i c h z e i t i g a u f d i e i d e a l i s t i s c h e V o r a u s s e t z u n g d e r V e r n ü n f t i g k e i t der W i r k l i c h k e i t . 2 4 D i e s e d i n g h a f t e W e l t k a n n n i c h t m e h r d u r c h s i c h t i g f ü r d i e V e r n u n f t s e i n , d a s i e n i c h t nur a u s d e r S e l b s t ä n d i g k e i t d e r S u b j e k t e h e r g e s t e l l t w i r d . D i e v e r d i n g l i c h t e W e l t ist l e i d e r h ä u f i g s i n n l o s , a l p t r a u m h a f t und b r ü c h i g . 2 5 D e r V o r s a t z d e r N a t u r g e s c h i c h t e ist d i e „ D e u t u n g d e s I n t e n t i o n s l o s e n d u r c h Z u s a m m e n s t e l l u n g d e r a n a l y t i s c h i s o l i e r t e n E l e m e n t e u n d E r h e l l u n g d e s W i r k l i c h e n kraft s o l c h e r D e u t u n g : d a s ist d a s Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis."26 D a s S y s t e m a l s F o r m f ü r d i e D a r s t e l l u n g d e r v e r n ü n f t i g e n W i r k l i c h k e i t , d a s in d e n m e i s t e n P h i l o s o p h i e a u f f a s s u n g e n v o r h a n d e n ist, w i r d d u r c h d i e K o n s t e l l a t i o n b z w . e i n g e s c h i c h t l i c h e s B i l d 2 7 ersetzt. Es handelt sich nicht u m ein Erklären von Begriffen aus einander, sondern u m Konstellation von Ideen [...] auf diese wird nicht als .Invarianten' rekurriert; sie a u f z u s u c h e n ist nicht die Frageintention, sondern sie v e r s a m m e l n sich u m die konkrete historische Faktizität, die im Z u s a m m e n h a n g jener M o m e n t e in ihrer Einmaligkeit sich erschließt. 2 8 D i e b e s t i m m t e Z u s a m m e n s t e l l u n g d e r B e g r i f f e in d e r K o n s t e l l a t i o n erlaubt, d i e b r ü c h i g e W i r k l i c h k e i t z u e n t z i f f e r n . N i c h t e i n S i n n s o l l g e r e c h t f e r t i g t , s o n d e r n das S i n n l o s e b e s e i t i g t w e r d e n , u m d i e H e i l u n g d e s W i r k l i c h e n z u e r m ö g l i c h e n . D e s w e g e n k a n n m a n ihre A u f g a b e als n e g a t i v b e z e i c h n e n . 2 9
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bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei" (Theodor W. Adomo, GS 1, 338f.). Aufgabe der Naturgeschichte ist es dann, nicht diese zweite Natur als bedeutungsvoll und sinnvoll zu erklären, sondern ihre Sinnlosigkeit verschwinden zu lassen. Dabei bleibt sie in Verbindung mit der Praxis.
„Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten" (Theodor W. Adomo, GS 1, 325). Das bedeutet aber nicht unmittelbar eine reine Umkehrung der Hegeischen These der Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Was die Naturgeschichte verlässt, ist genau der philosophische Versuch, die ganze Wirklichkeit aus der Vernunft heraus systematisch zu erklären, gleichgültig ob als vernünftig oder unvernünftig. In Die Aktualität der Philosophie schreibt Adorno: „Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: dass es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen" (Theodor W. Adomo, GS 1, 325). 26 Theodor W. Adorno, GS 1, 336. 27 Ebd., 338. 28 29 Ebd., 359. Es ist noch einmal zu betonen, dass Entzifferung nicht gleich Bedeutung sein kann. Denn das bedeutete eine positive Aufgabe, da vorausgesetzt wäre, dass ein positiver Sinn in der Welt existiert. Die Konstellationen bilden keine Bedeutung, sondern erlauben, dass die Sinnlosigkeit der Welt verschwindet. Viele Jahre später schreibt Adorno in der Negativen Dialektik über die Konstellationen: „Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, dadurch, daß nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstands, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last. Modell dafür ist das Verhalten der Sprache. Sie bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. W o sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das
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„Begriff der Aufklärung" als Naturgeschichte Der Abschnitt „Begriff der Außclärung" bildet „die theoretische Grundlage"30 des Buches, da in ihm sowohl die Kritik an der verwirklichten Aufklärung geübt als auch der positive Begriff der Aufklärung dargestellt wird. Dieser Begriff ist aber keine theoretische Konstruktion, vielmehr ergibt er sich als Resultat der immanenten Kritik an der aufgeklärten Gegenwart der Autoren. Meines Erachtens zeichnet er ein Sternbild, das sich in Verbindung mit der Naturgeschichte verstehen lässt. Es scheint richtig zu sein, dass diese Kritik an der Aufklärung nur durch die philosophische Umorientierung der Kritischen Theorie vollzogen werden kann. Die Dialektik der Aufklärung verliert ausdrücklich das Vertrauen in alle Wissenschaft ihrer Zeit. Der Verzicht ist aber theoretisch gerechtfertigt, weil die Autoren im Gegensatz zu den damaligen Wissenschaften sowohl den zeitgenössischen Verfahrensweisen als auch der Sprache nicht länger vertrauen.31 Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird, so muss der Versuch, solcher Depravation auf die Spur zu kommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen, ehe deren welthistorische Konsequenzen ihn vollends vereiteln. 3 2
In dem gerade zitierten Kapitel geht es nicht um die totale Beschreibung der notwendigen Entwicklung der instrumentellen Vernunft zur Verdinglichung, sondern darum, die oft als verdinglichte, für die Vernunft nicht mehr durchsichtig wahrgenommene europäische Gegenwart in den vierziger Jahren kritisch zu entziffern. Deswegen schreiben die Autoren in der Vorrede von 1969: „Wir wollten nicht retouchieren, was wir geschrieben hatten, nicht einmal die offenkundig inadäquaten Stellen; den Text voll auf den gegenwärtigen Stand zu bringen, wäre ohnehin auf nichts weniger hinausgelaufen als auf ein neues Buch." 33 Das Kapitel kann außerdem zusammenhängend nicht als Beschreibung einer geschichtlichen Kontinuität verstanden werden. Erstens folgen die im Buch scheinbar geschichtlich dargestellten Perioden keiner Zeitordnung. Mythos, Magie, Religion, Aufklärung werden nicht als echte historische Begriffe, sondern als Sterne der Konstellation benutzt, die durch ihre Kombination die konkrete Deutung ermöglichen, die die europäische Gegenwart erhellt. Zweitens ist die Form des gesamten Buches in keinster Weise systematisch, sie ist offensichtlich fragmentarisch, was bereits im Untertitel des Buches („Philosophische Fragmente") ausdrücklich festgelegt wird. Das Kapitel bildet eine diskontinuierliche Zusammenstellung von Begriffe wie ,Mythos' .Aufklärung', ,Natur' und ,Eingedenken', welche die Konstellation zeichnen, die verwirk-
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Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt" (Theodor W. Adorno, GS 6, 164f.). Wenn auch an dieser Stelle diese These nicht weiter zu entwickeln ist, sei darauf hingewiesen, dass dieser negative Charakter bei Adorno in Verbindung zur Adjektivierung der Dialektik als negativ steht. Theodor W. Adorno GS 3, 16. Es wäre auch interessant zu erforschen, inwieweit der von der zweiten Generation der Frankfurter Schule alternativ zur Kritischen Theorie der Dialektik der Aufklärung vorgestellte Paradigmenwechsel eine noch zu naive Auffassung von Sprache voraussetzt. Jozef Keulartz ist ebenfalls dieser Meinung in Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas, 256f. Die in der Dialektik der Aufklärung vorgeschlagene Kritische Theorie offenbart eine kritischere Haltung zur Sprache. Theodor W. Adorno, GS 3, 1 lf. Ebd., 10.
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lichte Aufklärung zu kritisieren ermöglicht. Diese Aufklärung wird durch die Deutung als Versuch entziffert, aus der bedrohenden und als total fremd erfahrenen inneren und äußeren Natur mittels der Herrschaft herauszukommen. Diese These wird nicht aus der Geschichtsphilosophie übernommen. Sie entsteht aus der konkreten Deutung der Beziehung des Menschen mit der ersten und gleichzeitig mit der zweiten Natur in kapitalistischen Gesellschaften. „Seit mit dem Ende des freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus." 34 Aber die Konstellation dieser Begriffe gestattet, diese Aufklärung als problematisch zu enträtseln, da die von ihr im Allgemeinen versprochene Freiheit 35 und Selbstständigkeit der Menschheit gegenüber der Natur durch die Herrschaft der inneren und äußeren Natur nicht erreicht worden ist. Nach dieser Interpretation der verwirklichten Aufklärung wird der positive Begriff derselben folgendermaßen bezeichnet: Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird. In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft wie in der Vorzeit Natur sich selber an, aber nicht mehr unmittelbar mit ihrem vermeintlichen Namen, der die Allmacht bedeutet, als Mana, sondern als Blindes, Verstümmeltes. Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt. 36
Der positive Begriff der Aufklärung, d. h. die umorientierte Kritische Theorie ermöglicht es zu bemerken, dass die Aufklärung als reine Herrschaft über die Natur, um sie zu überwinden, an sich nur in die Verdinglichung sowohl der Natur als auch der Menschen selbst mündet. Die Naturgeschichte beschreibt auch, wie die von Menschen produzierte Welt sich oft in zweite Natur verwandelt. Aber kraft ihrer Deutung könnte diese Sinnlosigkeit entziffert werden, und das impliziert den ersten Schritt zur Aufhebung dieser Verdinglichung; nicht etwas völlig anderes erlaubt dieser positive Begriff der Aufklärung. Diese Selbsterkenntnis des Geistes „als mit sich entzweiter Natur" lässt die Deutung der verwirklichten Aufklärung als blinde Herrschaft über die Natur und die Menschen zu. Die Naturgeschichte erlaubt einerseits die Verwandlung des geschichtlich Hergestellten in zweite Natur darzustellen, andererseits aber diese Verdinglichung zu enträtseln, indem diese als von der Gesellschaft geschichtlich produziert und selbständig geworden entziffert wird. Aufklärung ist mehr als Aufklärung, indem sie auch die verwirklichte Aufklärung als Herrschaft enträtselt und damit die Möglichkeit ihrer Überwindung eröffnet. [...] die Erfüllung der Perspektive [ist] auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, [...] läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen. Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt. 3 7
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Ebd., 45. Vorbildlich für diese Idee der Aufklärung ist die klassische Auffassung der Aufklärung von Kant als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" in: Kants Gesammelte Schriften, Bd. VIII, AA, Berlin/Leipzig 1923, 35). Theodor W. Adorno, GS 3, 57. Ebd., 57f.
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Diese Selbstbesinnung des Denkens ist als positiver Begriff der Aufklärung zu verstehen und entpuppt sich als sehr nah an der Naturgeschichte. Die so umorientierte Kritische Theorie postuliert keinen umfassenden Begriff von Rationalität, um die Kritik zu üben. Nur muss die einzige bestehende Vernunft immanent kritisch über sich selbst denken. Der positive Begriff der Aufklärung als Selbstbesinnung des Denkens deutet die Sinnlosigkeit und entziffert die verwirklichte Aufklärung als Herrschaft, was ihre potentielle Überwindung beinhaltet. Das Eingedenken der Natur im Subjekt bedeutet nicht - wie Habermas es uns erklären möchte - eine stumme Versöhnung der instrumenteilen Vernunft mit der blinden Natur. Das Eingedenken als Selbstbesinnung des Geistes erkennt seine Herkunft aus der Natur und begreift damit diese von ihm mittels Herrschaft geschaffene zweite Natur als verstümmelte. „In der Gestalt der Maschinen aber bewegt die entfremdete Ratio auf eine Gesellschaft sich zu, die das Denken in seiner Verfestigung als materielle wie intellektuelle Apparatur mit dem befreiten Lebendigen versöhnt und auf die Gesellschaft selbst als sein reales Subjekt bezieht". 38 Indem das Eingedenken sagt, was für die Herrschaft ausübende Vernunft undurchsichtig bleibt, ist bereits eine Kritik an der entfremdeten Wirklichkeit impliziert. Die so umorientierte Kritische Theorie als positiver Begriff der Aufklärung deutet, was die verwirklichte Aufklärung geworden ist, ermöglicht damit aber negativ zu zeigen, was sie noch nicht erreicht hat. Dieser positive Begriff der Aufklärung hinsichtlich der Naturgeschichte impliziert nicht, wie Habermas meint, eine „Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis". 39 Das Eingedenken der Natur im Subjekt ist keineswegs stumm, sondern es entziffert begrifflich sehr wohl die zur Verdinglichung führende instrumentelle Vernunft als sinnlos. Das bedeutet aber keine Aufgabe der Vernunft, vielmehr ihre Verstärkung. Wenn sich der positive Begriff der Aufklärung als Eingedenken der Natur im Subjekt verstehen lässt, sollte man sich fragen, ob dieser Begriff, als Naturgeschichte verstanden, tatsächlich so hilflos bleibt oder vielmehr im Gegenteil kritisches Potential enthält, das die Kritische Theorie von Habermas auf ihrem Weg zur sprachanalytischen Wende zurückgelassen hat. Vielleicht ließe sich dennoch die von Habermas angemahnte Notwendigkeit der Proklamation der „sprachanalytischen Wende" aufgrund der scheinbaren Aporien, in die ihm zufolge die Dialektik der Aufklärung verfalle, durch eben diese als Naturgeschichte umorientierte Kritische Theorie überdenken. Der positive Begriff der Aufklärung kritisiert immanent die bestimmte Gegenwart, die im Unterschied zur von Habermas vorgeschlagenen Kritischen Theorie keines im Kantischen Sinn normativen Begriffs 40 bedarf, um .Kritik an der Aufklärung zu üben.
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Theodor W. Adorno, GS 3, 55. Jürgen Habermas, Theorie, 516. Status der Erkenntnisinteressen" (Verkehrte Jozef Keulartz spricht vom „quasi-transzendentalen 252).
Welt,
BRUNO HILLEBRAND
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung Mit Blick auf Goethe und den epiphanischen Augenblick1
Die Uhren der Weltkultur laufen bekanntlich selten parallel. Selbst in Europa und besonders in der Literatur zeigen sich oft eklatante Zeitdifferenzen. Als Gottfried Benn 1912 den sensationellen Lyrik-Band Morgue veröffentlichte, schrieb Rilke die erste Duineser Elegie. Zehn Jahre später erschienen der Ulysses von James Joyce und The waste Land von T. S. Eliot - seit langem als Welt-Avantgarde anerkannt - und im gleichen Jahr kam das Mysterienspiel von Hofmannsthal auf die literarische Bühne: Das Salzburger Große Welttheater. Wahrhaft ein zeitloses, weil christlich intendiertes Stück 2 - die Uraufführung fand in der Salzburger KollegienKirche statt, ein Ereignis, das seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr stattgefunden hatte. Man könnte die Reihung leicht fortsetzen, etwa mit dem literarischen Blick auf den Philosophen Ernst Bloch. In den Jahren, als Proust seinen epochalen Roman-Zyklus A la recherche du temps perdu wie besessen niederschrieb - ganz nach innen und somit rückwärts gewandt - , arbeitete Ernst Bloch an seinem ersten großen Werk: Geist der Utopie, von 1915 bis 1917. Das Buch erschien im letzten Jahr des Krieges. Von dessen Grauen ist es geprägt, ohne davon zu sprechen. Geschrieben ist es aus dem utopischen Geist des Expressionismus. Auf eine Zukunft gerichtet, in der den Menschen die Möglichkeit gegeben ist, sie selbst zu sein. Über persönliche existentielle Selbstfindung hinaus in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Die Thematik der Selbstbegegnung jedoch steht im Mittelpunkt. Das Buch endet mit dem Kapitel: Karl
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In meinem Buch Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit - von Goethe bis heute, Göttingen 1999, habe ich - neben Goethe, Schiller, Kleist, Hofmannsthal, Proust, Joyce, Benn und Musil - gerade auch Nietzsche, dem exorbitanten Dichter und Denker des epiphanischen Augenblicks, ein eigenes Kapitel gewidmet, Bloch jedoch nur am Rande erwähnt. Ursprünglich hatte ich ein Kapitel über Bloch vorgesehen, geleitet von Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, als ich das Prinzip Hoffnung gelesen hatte, zunächst aus zeitkritischem Interesse, später dann, um manche meiner Studenten besser verstehen zu können (bestimmt nicht die Schlechtesten!). Vermutlich ist mir das auch gelungen - sei es aus good will, sei es aus Lust und Freude an allem GegenbürgerlichExpressivem. Jetzt also, Ende der neunziger Jahre kam mir die Erinnerung an Blochs AugenblicksPassagen - gerade im Zusammenhang mit Goethes Faust. Also las ich große Strecken noch einmal mit zunehmender Anstrengung und Ablehnung - keinesfalls mehr mit Lust, bestenfalls mit Belustigung. Mir wurde bald klar, dass dieses Kapitel nicht in mein Buch gehörte. Aus den Randbemerkungen und Notizen zu dieser Lektüre habe ich meinem geschätzten Kollegen Hans-Martin Gerlach vorliegendes kleine Präsent zum 65. Geburtstag gebastelt. Möge es ihn zumindest erheitern, wie ein Literat den gut meinenden Bloch gelesen hat. Apropos gut gemeint - wie sagte schon der große Gottfried Benn: „Es hat sich allmählich herumgesprochen, dass der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint."
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Wie Das alte Spiel von Jedermann, das schon 1913 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde.
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Marx, der Tod und die Apokalypse. Damit ist für das spätere Hauptwerk der Rahmen vorgegeben. 1959 erschien in deutscher Sprache: Das Prinzip Hoffnung. Obwohl bis dahin noch nicht vollständig publiziert, war es schon ein berühmtes Werk. Geschrieben wurde es wiederum in der Kriegszeit, 1938-1947 in den USA. 1953-1959 hatte der Autor es endgültig fertig gestellt. Es wurde, mehr noch als Marxens Kapital, die Bibel der 68er Generation. Kein Wunder, entsprach es doch in betörender Weise dem Geist der Zeit. Vom Inhalt her und von der Sprache, die vom Pathos expressionistischer Beschwörung immer noch bestimmt war. Ausgerichtet auf Kampfgeist und Aufbruch. Angesiedelt zwischen Magie und Apodiktik. So anspruchsvoll und weit ausgreifend das Buch poetisch angelegt ist, so universal ist sein Thema, letztlich das uralte Menschheitsthema, die Sehnsucht nach dem Paradies. Jetzt allerdings komplettiert mit konkreter Hoffnung, mit jener historischen Zukunft, die der wissenschaftliche Marxismus errechnet hatte. Dass der Marxismus vom Geist der Eschatologie lebte, war jedem klar, der sich auskannte in der Geschichte des Geistes. Gesprochen wurde darüber folglich nur in kleinsten Kreisen. Ohnehin hatte kaum jemand das Kapital gelesen, schon gar nicht die frühen Schriften von Marx. Von Hegel hatte man gehört. Und nun kam jemand und bot diese wahrhaft universale Speise in halb philosophischer, halb literarischer Form an. Ein Viertel prophetisch, ein Viertel poetisch, die andere Hälfte geteilt in Diskurs und Behauptung. Irgendwie verständlich für jedermann, wenn auch in Passagen derart verdunkelt, dass hier, in den Weisheitsgewölben der Menschheit, das Geheimnis stecken musste. Es ging zu wie seinerzeit in den Katakomben - der große Feind waren die Herrschenden des Imperiums, seit gestern Kapitalisten genannt, geschlossen dagegen erklang der studentische Schlachtruf: Expropriation der Expropriateure? Salopp übersetzt: Enteignung der Bourgeosie, also Enteignung der Ausbeuterklasse. Einigermaßen verständlich wurde das Buch in Form von eingelegten Lebenshappen. Was jeder einmal erlebt hat in der Jugend oder erleben wird in späteren Jahren, die unendlichen Facetten, in denen die Hoffnung aufscheint, im Alltag, in der Religion, in der Geschichte, das Wirkliche und das Mögliche werden zum Thema. Wobei der Marxismus weitgehend nur unterlegt ist und nicht penetrant vorscheint. Also vom Stil her, wie schon das erste Buch, mehr literarisch als philosophisch konzipiert. Georg Lukäcs, der Jugendfreund, hielt Bloch für den geistvollsten Schriftsteller, der ihm bekannt sei. Freund Adorno sah in ihm den gedankentiefen expressionistischen Schriftsteller. Letzterem ist zuzustimmen. In dieser Richtung, kann man annehmen, ist das dreibändige Werk dann auch rezipiert worden. Es ließ und lässt sich durchaus auch in einzelnen Partien lesen. Das sage ich darum, weil das Buch als ganzes einen Grundwiderspruch hat, der offenbar überlesen wurde in der linken Szene. Ich will ihn kurz erklären, um zum Thema zu kommen. Zum erfüllten Augenblick. Es geht um das uralte Menschheitsthema, wie gesagt, um die unverlöschbare Sehnsucht des Menschen nach dem Paradies. Das Prinzip Hoffnung, so kann man mit Blick in die Geschichte sagen, ist der radikale Rückstand, der nach der Vertreibung blieb, gemischt aus Erinnerung und Zukunftsbesessenheit. So war es, so soll es aber nicht sein in marxistischer Sicht. Das rückwärtige Paradies ist zu streichen. Gleichsam als mythischer Schwindel. Das einzige Paradies liegt vor uns, als geschichtliche Utopie mit empirischer Berechnungsbasis. Wenn es nun um den erfüllten Augenblick geht, und um den geht es ganz zentral im Prinzip Hoffnung, dann ist diesem Augenblick zeitlich die Vergangenheit abgeschnitten. Der epiphanische Augenblick, will man ihn marxistisch integrieren, wird um die Dimension verkürzt, die ihn, immer schon und immer noch, essentiell ausmacht: die Verbindung mit der Ewigkeit. Wohlverstan-
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Natürlich konnte dieser Zungenbrecher nie einem Arbeiter über die Lippen kommen.
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den mit dem Mythos Ewigkeit. Mit der aufgehobenen, der zeitlosen Zeit. Mit dem Glauben daran. Das Christentum versprach das Glück im Himmel, der Marxismus den Himmel auf Erden. Zwischen beiden Versprechen liegt die scharfe Trennungslinie, die zwischen Transzendenz und Immanenz unaufhebbar verläuft. Der Tod ist ja nicht nur das Ende des Lebens, er ist auch der Grenzwächter, der darauf achtet, dass keine Kunde von drüben zu uns kommt. Nur der Glaube kann ihn überlisten oder glaubt, ihn überlisten zu können. Kurz und gut, der erleuchtete Augenblick, das lässt sich nicht leugnen, hat immer sein Licht von jenseits der Grenze empfangen, so diesseitig er sich geben mochte. Was blitzartig in Erscheinung trat, zeugte von einer Energie, die irdisch nicht erklärbar ist. Phänomenal am großen Augenblick der Neuzeit ist die Tatsache, dass man an ihn nicht glauben muss. Der Blitz schlägt ein, oder er schlägt nicht ein. Alles nur eine Frage der Energie, und die ist nun einmal ein physikalischer Faktor, oder sagen wir es anthropologisch, ein physiologisches Phänomen. Metaphysisch daran ist die Unerklärbarkeit. Und damit sind wir beim Generalproblem einer philosophischen Erklärung des mystischen Augenblicks auf materieller Basis. Bloch jedenfalls hat das Problem nicht reflektiert, ob er es gesehen hat, sei dahingestellt. Irgendwie kriegt er das Kunststück hin, metaphysisch und materialistisch zu denken. Vermutlich hat ihm gerade das die begeisterte Leserschaft eingebracht, dieses Barock-Visionäre und Theatralische, das den Himmel auf die Erde holt wie in spätbarocken Kirchen die Decken-Dekoration es tat. Dem grundmenschlichen Prinzip wird dadurch allerdings viel von seiner Individualnote genommen. Das entspricht der Barockzeit und dem Expressionismus. Es geht um Ausdruck von Bewegtheit, um dynamischen Aufstieg, um Himmelfahrten im Diesseits, das Sursum corda der Expressionisten hieß: Ο Mensch! Dass den Marxisten alles Individuelle Feind war und ist, hat einen anderen Zusammenhang, den ideologisch-kollektiven. Schlechte Zeiten für Nietzsche, wenn historisch dialektisch und dazu noch materialistisch gedacht wurde. Das ist klar. Dennoch ist immer wieder erstaunlich, was Ignoranz vermag. Bloch, der von der Sache her in seinem Buch sich sehr ausführlich mit dem Augenblick beschäftigt, erwähnt Nietzsches Philosophie des großen Augenblicks mit keinem Wort. 4 Nur indirekt, indem er seine allgemeinen Invektiven gegen den schöpferischen Augenblick gezielt gegen Nietzsches Darstellung der Inspirations-Erfahrung richtet, wie dieser sie im Zarathustra-Kapitel des Ecce homo beschreibt. Nietzsche spricht dort vom Mundstück übermächtiger Gewalten. Bloch greift das Wort heraus, verfälscht es zum Mundstück höherer Gewalten und stellt die Sache dann so hin, als habe Nietzsche hier transzendente Mächte beschworen. „Diese transzendente Mythisierung der Inspiration, als ob sie von oben herabfahre, ist erst recht gegenstandslos." 5 Nein, das ist sie ganz und gar nicht, wenn man die betreffende Stelle - die immerhin die Überwältigung durch den Zarathustra-Stoff beschreibt, und zwar voll und ganz physiologisch begründet - in dem Sinne genau liest, dass es auch hier um die Generalthematik des Zarathustra geht, nämlich um die Umdeutung gerade der höchsten Werte. Das ist ja der Generalbass, der dem Werk zu Grunde liegt: Brüder, bleibt der Erde treu, verabschiedet euch von allen Transzendenzen, holt die spirituell entschwebten Ideale zurück in eine brauchbare Immanenz - möglichst ohne Energieverlust. Es geht nicht um die Ewigkeit, es geht um den erfüllten Augenblick, um die immanenten Steigerungsformen des Lebens. Es ist der kürzeste 4
Für Bloch war Nietzsche ein „Meskalin-Dionysos", mitverantwortlich am „Blutsee des Faschismus", für ihn steht er in der Unheilslinie von Schopenhauer zum Hitlerismus. Die Heilslinie, wie könnte es anders sein, führt von Hegel über Feuerbach zu Marx. (Emst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde. Frankfurt a. M. 1969, vgl. 6 5 , 4 6 2 , 3 1 8 . Das Werk ist durchgehend paginiert.) Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 139.
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Augen-Blick, so lehrt es Zarathustra, in dem der Sinn des Lebens aufscheint. So jäh und plötzlich wie die großen Augenblicke eintreten, so kurz aufleuchtend ist die Erkenntnis von einem Sinn. Von Ontologie kann schon lange keine Rede mehr sein. Der Energiesturz der Metaphysik hatte die Begriffe Sinn und Sein auch poetisch in den geistigen Kernschmelzungsprozess einbezogen. Der Seinsbegriff verdichtete sich produktionsästhetisch zu purer Potentialität. Damit zu einem letzten erfahrbaren Sinn. Im schöpferischen Rausch, in der produktiven Ekstase wird die verlorene Totalität kosmischer Erfahrung noch einmal gebannt. Es geht um den Augenblick äußerster Entgrenzung und zugleich höchster Verdichtung, den Nietzsche anspricht. Emphatisch bestätigt er aus eigener Erfahrung, was die großen Dichter früherer Zeiten Inspiration nannten. Wer denn habe davon noch eine Vorstellung? Er, Nietzsche, könne davon Kunde geben er, der Dichter als Mundstück übermächtiger Gewalten: „Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, - ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst ... ein vollkommnes Aussersich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt - die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration [...] Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit [...] Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck." 6 Die übermächtigen Gewalten wie auch die Offenbarung sind oft missdeutet worden manchmal mit Absicht. Die einen wie die anderen sagten: seht her, da leuchtet doch Religiöses auf - nur sagten sie es aus zwei gegenteiligen Richtungen. Aber auch das ist vorbei. Für den angesprochenen, sensiblen Leser bestätigt sich noch einmal - eben ganz zum Schluss von Nietzsches Schaffen und um so dringlicher hier spricht ein Künstler aus physiologischer Erfahrung, aus leibhaftigem Betroffensein, nicht aus schwärmerischer Spekulation, hier wurde der poetische Untergrund aus der Transzendenz in die Immanenz zurückgeholt. Wurde spekulative Spiritualität heimgeholt ins Naturhafte, Terrestrische - ganz im Sinne Goethes. Bloch also verkürzt das Inspirationsphänomen nicht um dessen transzendente Mythisierung, wie er meint, davon kann bei Nietzsche ohnehin nicht die Rede sein, er verkürzt die Inspiration um den persönlichen Erlebnisfaktor, und der resultiert hier, wie bei Kleist und anderen Künstlern, aus der Totalität körperlicher wie seelischer Erschütterung. Wer Nietzsche einer irgendwie gearteten Transzendenz beschuldigt, schon gar zu dieser Zeit seines Schaffens, der hat ihn falsch gelesen. Ohnehin ging es im linken Affront um etwas anderes, die Aura sollte zerstört werden, um neuen Erklärungen Platz zu schaffen. Bloch arbeitete mit dem alten Vokabular zum Zweck der Dekonstruktion und damit der Destruktion. Inspiration, sagt er, bedürfe der Inkubation. Dagegen ist nichts einzuwenden. „Dieser Inkubation nun folgt weiter meist jähe Klärung, blitzhafte; sie kommt wie von außen oder, in der falschen Auslegung, wie von oben herab. Deshalb kam der Ausdruck Inspiration dafür in Gebrauch; er machte das Jähe kennt-
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Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, Kritische Studienausgabe (KSA), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1988, 339f.
DAS PRINZIP HOFFNUNG UND GOETHE lieh, das erhellend und begeisternd Einschlagende, den plötzlichen Durchblick." Man sieht, wie hier zwar richtig zitiert, aber falsch gedeutet wird. Die falsche Auslegung stammt von Bloch, nicht von den Künstlern, wie wir wissen. Die Künstler verwenden Bilder, den Blitz etwa, und der k o m m t nun einmal von oben. Im übrigen ist die Blitzmetapher etwas sehr Heidnisches, Naturimmanentes. Inspiration, seit Goethes Werther, hat den berühmten göttlichen Funken ganz in den Bereich des Irdischen, des Terrestrischen hinein genommen. W e d e r bei ihm noch bei späteren Kronzeugen finden wir das muffig Geweihte, von d e m Bloch spricht. Zwar bestätigt er historisch, aber dialektisch mit Gegenschlag, mit eben d e m materialistischen Kahlschlag, der seinerzeit jede erweiterte Erlebnisebene leer fegte: „daß die Inspiration, neben d e m Glücksgefühl der Befreiung, leicht eben das W u n d e r g e f ü h l eines magischen Geschenks mit sich führt, vielmehr mit sich geführt hat. Die mit ihr gegebene Vision ist aber in j e d e m Fall mit Glücksrausch verbunden, mit höchster Leichtigkeit dazu, obzwar davon sowohl die magisch archaischen wie die transzendenten Auslegungen gestrichen werden müssen, als all dies m u f f i g Geweihte." 7 Als Beleg führt er Descartes' Urerlebnis an, als dieser am 10. November 1619 von d e m Gedankenblitz des Cogito ergo sum getroffen wurde. Der Zündungspunkt dieser Eingebung, so Bloch, lag nun gar nicht so sehr an der Genialität des Philosophen als an der Z u s a m m e n k u n f t seiner schöpferischen Begabung mit den ökonomisch-sozialen Bedingungen seiner Zeit. Diese nämlich haben den spezifischen Inhalt zu liefern. Und diese Bedingungen sind allemal ökonomisch-soziale progressiver Art: ohne kapitalistischen Auftrag hätte der subjektive Auftrag zum Cogito ergo sum nie seine Inspiration gefunden; ohne beginnend proletarischen Auftrag wäre die Erkenntnis der materialistischen Dialektik unfmdbar gewesen oder ein bloßes brütendes Aperfu geblieben und auch nicht als Blitz in den nicht mehr naiven Volksboden eingeschlagen. Item, der Durchbruch, der oft plötzliche gewaltige Lichtschlag im genialen Individuum gewinnt sowohl das Material, an dem er sich entzündet, wie das Material, das er beleuchtet, einzig aus dem zum Gedanken drängenden Novum des Zeitinhalts selbst Das sei, wohlgemerkt, auch dann der Fall, wenn sich die allgemeine Rezeptivität einer Zeit nicht auf der H ö h e dieser Zeit befinde. Inspiration, das ist die Quintessenz, k o m m t immer aus d e m Auftrag der Zeit, der im genialen Individuum sich vernimmt. W a s sich heute wie ein Witz liest, war ehemals sehr emst gemeint, es ging u m den letzten Vemichtungskampf des Geistes gegen sich selbst. W a s der Zeitgeist hier in Auftrag gab, nachdem Marx ja d e m Hegeischen Weltgeist schon das Licht ausgeblasen hatte, war demnach eine Art von Selbstliquidierung. Interessant, meine ich, ist dennoch, wie Bloch mit d e m Augenblick umgeht, schon die Tatsache, dass er ihn nicht ganz umgeht. Der erfüllte Augenblick - als epiphanisches Erlebnis des Einzelnen - kann nicht seine Sache sein, das also sollten wir nicht erwarten. Obwohl an der Grenze zu ihm oftmals reflektiert wird, etwa mit Blick auf die Mystik, auf das Phänomen des Wunders und vor allem mit Blick auf Faust. Als ein Hauptmotiv bewegt dieser sich quer durch das monströse Werk Das Prinzip Hoffnung. Genauer, dessen bannendes Wort: Verweile doch, du bist so schönl W i e also steht es mit d e m Sprung in diesen fundamentalutopischen W u n s c h ? Mit der Frage aller Fragen? Letztlich mit d e m Wunsch, heimzukehren ins Paradies. Bloch nennt es Ithaka. Doch zunächst zur Grundlegung des Gedankens. Bloch definiert im Prinzip Hoffnung das Erlebnis des jeweiligen Jetzt als „Dunkel des gelebten Augenblicks". 8 W a s ist gemeint? Der jeweils gelebte Augenblick ist gleichsam der tote Winkel des Lebensspiegels.
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Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 138f. Weiterhin: 139f. Vgl. Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, 334ff. Diese Formulierung hatte schon tragende Funktion in Blochs Geist der Utopie.
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Der gelebte Augenblick des Hier und Jetzt ist ein blinder Fleck, wie Bloch sagt, von seinem Inhalt her gar nicht wahrnehmbar, weil immer schon vergangen. Erst später, mit gehöriger zeitlicher Verschiebung, offenbart sich dem Menschen, was in ihm je und je geschah, was das Auge, gleichsam blind, erblickte, ohne sich von der Bedeutung der Zusammenhänge Klarheit zu verschaffen. „Wegen seiner unüberbietbaren, völlig unmittelbaren Nähe ist der gerade gelebte Augenblick oder das Jetzt, das dieses Daß ist, eben- so noch völlig unsichtig, dunkel, nirgends gestellt und objektiviert." Blochs Denken zielt letztlich auf die zentrale Frage nach der Beziehung des Todes zum Dunkel des gelebten Augenblicks.9 Mysteriös sind die Formulierungen, dunkel ist auch die Sprache, die vom Dunkel innerer Erfahrung spricht, immer noch schwingt der Vorgang in einer erweiterten, eben doch metaphysisch-expressiven Dimension. Nämlich Zeitliches zu denken oder zu beschwören über die empirischen Ränder hinaus, letztlich als geschichtsphilosophische Teleologie. Der Kommunismus steht lockend als große Utopie irgendwo hinter dem Horizont. Ein immenses Wunschdenken tut sich hier auf. Offenbar gehört zu seiner Verkündung prophetisches Raunen, eigentlich eine Spezialität des Jahrhundertanfangs, denken wir nur an die Kosmiker des GeorgeKreises - ein pseudopriesterliches Gehabe, das Bloch im Prinzip vehement und nachhaltig abgelehnt hat. Jene mystifizierende Dunkelheit der Sprache, die wir auch von Blochs Antipoden Heidegger kennen, bei ihm aus dem Geiste der Ontologie. Das Raunen der Schamanen eigenartig, einmal hat es mit dem Hitlerreich zu tun, zum anderen kommt es messianisch aus der Tiefe des Marxismus. Adorno, der entschiedene Feind Heideggers, persifliert die Tonlage seines Freundes Bloch mit Blick auf die Hegeische Herkunft. „Von der Totale des deutschen Idealismus ist eine Art von Lärm übriggeblieben, an dem Bloch, der Musikalische und Wagnerianer, sich berauscht." 10 Bei aller pathetischen Musikalität lässt Bloch doch keinen Zweifel daran, worum es faktisch geht. Schon im Vorwort steht unmissverständlich, marxistische Philosophie arbeite an der Front des Klassenkampfes, der letztlich den Menschen in seine bis dato nicht erreichte Heimat bringt.11 Also ins Paradies. Marxistisch gesehen hat es das Paradies nie gegeben. Die wirkliche Genesis, so endet das Prinzip Hoffung, steht nicht am Anfang der Weltgeschichte, der Mensch lebt immer noch in seiner Vorgeschichte, die wirkliche Genesis steht noch aus als Utopie, als Kommunismus, als Heimat. Das ist das letzte Wort. In diesen Tiefenraum eingebettet ist auch der bis zur Unkenntlichkeit mystifizierte Augenblick. So weit, so tief also reicht das Wurzeldunkel des gelebten Augenblicks; so genau ist es dem Novum in beiden zugeordnet, dem Ultimum des Inhalts. Und es ist ebenso die gleiche Zukunft: das in der Zeiten Schoß Enthaltene, welches das im Augenblick Enthaltene zu erschließen berufen ist. Einzig das Seinkönnen, das leitungsmächtig beförderte und aufgeschlossene, bringt das unmittel-
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Vgl. Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 1385ff. „Der Augenblick als Nicht-Da-Sein; Exterritorialität zum Tod" ist das Kapitel überschrieben. Dieser fünfte und letzte Teil des Werkes trägt die Generalüberschrift: „Wunschbilder des erfüllten Augenblicks" (1089-1628). Theodor W.Adorno, Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961,136. „Marxistische Philosophie ist die der Zukunft, also auch der Zukunft in die Vergangenheit; so ist sie, in diesem versammelten Frontbewußtsein, lebendige, dem Geschehen vertraute, dem Novum verschworene Theorie-Praxis der begriffenen Tendenz. Und entscheidend bleibt: das Licht, in dessen Schein das prozeßhaft-unabgeschlossene Totum abgebildet und befördert wird, heißt docta spes, dialektisch-materialistisch begriffene Hoffnung. Grundthema der Philosophie, die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene, noch ungelungene Heimat, wie sie im dialektischmaterialistischen Kampf des Neuen mit dem Alten sich herausbildet"(Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, 8).
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bare Sein des treibend-verborgenen Augenblicks zu sich und herauf; einzig dieses aufgeschlossene Transzendere ins Novum schließt das immanente Existieren inhaltlich auf [...] Das eigentliche, metaphysische Dunkel des gelebten Augenblicks erhellt sich mittels solch geschichtlicher Subjekterfassung noch nicht oder erst in Anfängen, doch das Vordergrundproblem, mit dem Riß des Jetzt und Hier in den Abbildungen des Weltzusammenhangs, wird endlich in Griff gebracht Das ist wohl die kühnste Utopie. Sie ist gescheitert, nicht nur sprachlich, sondern inzwischen auch real. Bloch stellt eine Hypothese auf, wie er sagt, die Vermutung nämlich, „daß der Tod im Dunkel des gelebten Augenblicks eine philosophische Wurzel hat, ja, daß beide die gleiche Wurzel haben." Das mag noch verständlich sein, die Folgesätze kaum. Das unobjektivierte Daß, das Daß-Sein, aber noch nicht Da-Sein des Existenzgrunds ist zweifellos in der Zukunftsreihe der Treiber des Werdens, also der versuchten Herausobjektivierung des DaßSeins zum vermittelten Da-Sein; insofern aber ist der in den Prozeß eingehende Existenzgrund als Werdegrund auch der Grund der Vergänglichkeit. Und zwar so lange und so weit, als der Augenblick sich nicht haltbar objektiviert, als sich das Daß des Existierens nicht selbst realisiert hat. Weil aber der zentrale Augenblick unseres Existierens sich überhaupt noch nicht in den Prozeß seiner Objektivierung und, schließlich, Realisierung begeben hat, deshalb kann er selber freilich nicht der Vergänglichkeit unterliegen. Ganz unabhängig von der weitergehenden, vorerst unentscheidbaren Frage, ob Dunkel des gelebten Augenblicks und Tod die gleiche Wurzel haben, nämlich noch involviertes Daß-Sein ohne Da-Sein; unabhängig davon hat zweifellos die prozessuale Ausbreitung dieses Dunkels als Vergänglichkeit denselben Inhalt. Der genervte Leser mag sich fragen, wenn er noch fragt und sich nicht verschaukelt fühlt, was denn hier eigentlich verhandelt wird. Was ist der Sinn der Sache? Kabarett, Sprachschändung, provozierte Unverständlichkeit oder ein Sängerwettstreit zwischen Bloch und Heidegger? 13 A m Ende ein Preisausschreiben für kryptische Dunkelheit? Was auch immer, bedauerlich ist es schon, dass als Prinzip Hoffnung der Augenblick so abgründlich (sie) verspielt wird. Dennoch, um einiger Gedanken willen möchte ich versuchen, zu vermitteln. Immerhin hat mehr als eine Generation aus dem Prinzip Hoffnung Honig gesaugt. Natürlich nicht nur der marxistischen Maximen wegen, die im dunkelvioletten Weltgewand daherkamen, aber musste man deshalb gleich alles entgegennehmen, was als Orakel sich anpries? Nun gut, fast schon vergessen. Nur, Geschichte sollte man nicht vergessen. Diese nicht und jene nicht, das ist klar. We-
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Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 347f. Weiterhin: 1387. Anhaltspunkte dafür gibt es zur Genüge. Für Blochs marxistischen Ansatz war Heideggers Philosophie Inbegriff kleinbürgerlichen Denkens. Das betrifft - im Zusammenhang des Prinzips Hoffnung gerade auch Sein und Zeit. „Doch ist Heidegger eben über das Dumpfe, deprimiert Stockende, zugleich Flache dieser seiner Aufdeckung nicht hinausgekommen" (118). „Und nicht der ganzen Menschheit Jammer, sondern einzig der des unerhellt-hoffnungslosen Kleinbürgertums faßt einen an, kommt es bei Heidegger [...]" (119). Interessant: wenn er so spricht, nämlich polemisch, ist Blochs Sprache durchaus verständlich. Das alles mag Geschichte geworden sein, spätestens seit 1989, aber pikant für humorvolle Leser bleibt allemal die auf Stil und Sprache Heideggers abzielende Polemik, die den Urheber selbst trifft. „Heidegger, mit viel absichtlicher Erlebnisunmittelbarkeit (Erlebnisserei), aber auch mit, man kann sagen: viel Affekthascherei, dazu mit einem Unmaß bloßer Wortbedeutungsinterpretation, deren die Philosophie vor der Philologie sich schämt und selber nichts dabei gewinnt, außer metaphysischem Dilettantismus - Heidegger also reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die ,Grundbefindlichkeit' einer untergehenden Gesellschaft" (124). Alles das bezogen auf Sein und Zeit. „Dergleichen klingt, auf unreifes Antizipieren schlechthin angewandt, zweifellos so, als ob ein Eunuche dem kindlichen Herkules Impotenz vorwürfe" (165). Kurz gesagt, über Wunsch und Zukunft läßt sich berufen nur marxistisch-utopistisch sprechen, nicht aber aus der „Froschperspektive" der Existentialontologie. So Bloch. Der Leser mag entscheiden.
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der den Hitlerismus noch den Stalinismus. Beide lebten von simulierten Paradiesen. Darum ist es aufschlussreich, den Zusammenhängen, den strukturimmanenten Vernetzungen zu folgen. Hier geht es um die Geschichte des Augenblicks. Die Geschichte seiner epiphanischen Bedeutung. Und die durfte für einen Marxisten nun einmal keine Individualgeschichte sein, also nicht die Geschichte eines einzelnen exorbitanten Augenblicks, der immer einem Einzelnen nur geschehen kann. Die Wahrheit aber ist, der epiphanische Augenblick und kollektives Erleben schließen sich aus. Massenhysterie ist das Gegenteil von erfüllter Zeit. Und noch eines, den epiphanischen Augenblick kann man nicht anpreisen für jedermann, schon gar nicht auf dem Markt. Auch der Geist der Utopie konnte den Augenblick nicht herbeizitieren. „Er wetteifert mit dem Schreier des unvergessenen Jahrmarkts, dröhnt wie ein Orchestrion aus der noch leeren Gaststätte, die auf Gäste wartet." 14 So Adorno über Bloch! Dabei wusste Bloch durchaus, worum es geht. Das zeigt sich, wenn er auf literarische Beispiele verweist. Etwa auf Krieg und Frieden von Tolstoi. Bei Tolstoi sind es fast ausschließlich die großen Augenblicke des phänomenologisch erscheinenden Sinns und des Alles, des Alles wird gut, das er zu enthalten angibt. Hierher gehört immer wieder das Erlebnis des schwerverwundeten Andrej Bolkonskij auf dem Schlachtfeld von Austerlitz. 15
Zu Recht verweist Bloch mit diesem Beispiel auf einen der großen erlebten Augenblicke der Literatur. Und es ist durchaus plausibel, hier die Beziehung des Todes zum gelebten Augenblick exemplifiziert zu sehen. Eben am Beispiel Bolkonskij, an diesem einen, individuellen Fall. Bloch spricht vom zentralen Augenblick unseres Existierens, der immer schon aussteht, nicht nur als Tod, vielmehr noch als Hoffnung. Keim des Noch-Nicht-Gelungenen; dieser füllt den menschlichen Augenblick, den unbekannten, sich zuweilen nur annähernden Augenblick des Menschen. Das .Verweile doch, du bist so schön' zeigt unter den mancherlei so leisen wie gewichtigen Leuchtzeichen, worunter es siegen könnte, nun auch sein ernstestes: Index des Non omnis confundar zu sein.
Die Literatur des 19. Jahrhunderts hat den realen Himmel entdeckt. Die Realität des Unendlichen. Baudelaires Azur setzte neue Hoffnungszeichen in der Lyrik. Tolstois episch verklärter Himmel, auf den Bloch verweist, existiert aus derselben Hoffnungstiefe, die ehemals entschwebte ins Transzendente. Von der Art war noch die Hoffnung des alten Goethe, die Fausts Erlösung, Himmelfahrt und Verklärung inszenierte. Der Unterschied zu religiösen Zeiten liegt in der Präsenz des Metaphorischen. Man muss nicht glauben an etwas, es ist da. Vermutlich hat Bloch das gemeint. Die Umfirmierung von Transzendenz. Nur, so offen wollte er es nicht sagen. In Goethe sieht Bloch die Kulmination des erfüllten Augenblicks, in ihm selbst und in seinem Werk. Aber wie auch könnte man beides trennen? Im Prometheischen des Sturm und Drang, so Bloch, kündigt sich die Revolution an, in dieser deutschen Zeitwende, die in Goethe kulminiert. 16 „Er vor allem ist der eingesperrte Gott im Menschen; als solcher machte er die Mythologie des Sturm und Drang, erfüllte er dessen liebsten Sohn: den Doktor Faust." 17 War schon Werther Inbegriff der Sehnsucht, so ist es um so mehr noch Faust. Auf Lynkeus, den Türmer, wird verwiesen, (den im übrigen Faust der Helena vorstellt als den „Mann mit seltenem Augenblitz"), 18 auf seine Strophen, die die Heimkehr der Schiffe besingen, und die enden
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Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur II, 136. Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 1389 f. Die Goethe-Interpretation ist ein Kernstück des Buches (vgl. ebd. 1143-1201). Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, 1150. Johann Wolfgang v. Goethe, Faust, Vers 9199.
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mit dem Vers: „Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit." In diesem Zusammenhang spricht Bloch ohne Einschränkung von Goethes Werk in Tönen äußerster Affirmation. Gleichsam im Überblick sich steigernd. Die höchste Zeit ist die des erfüllten Augenblicks, und um diesen, um die Aufschlagung seines Zeichens, Ausladung seines Inhalts, waren alle diese Schöpfungsgesichten bewegt oder gelagert, um die Utopie des voll ausgesagten Jetzt und Hier. Jede Produktion meint ein Stück siebenten Schöpfungstag, als Aussage eines vorher Ungesagten, menschliche Erhörung eines vorher Unerhörten.19 Das Phänomen Sehnsucht in Goethes Werk ist in der Tat schwer zu greifen, Bloch gelingt es, 20
gerade auch Mignon betreffend, als dessen innigste Verkörperung. Mignon sei Sehnsucht par excellence. „Mignon, das pure Subjekt der Sehnsucht, kann dem Dichter nicht ein Objekt der Sehnsucht werden, doch das Marianische in ihr tritt durchaus auch im ,Meister' mit jener Grazie heraus, die von Gnaden kommt." Und auch hier verweist Bloch mit Treffsicherheit auf die Stelle des großen epischen Augenblicks. Als nämlich dem verwundeten Wilhelm die später erreichte Geliebte noch unerreichbar als Epiphanie, realiter als Amazone zu Pferde erscheint. Im Delirium seiner Angeschlagenheit erscheint sie ihm wie eine Heilige. „In diesem Augenblick [...] wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreitete sich nach und nach ein glänzendes Licht." 21 Bezeichnend für diesen Roman sind die Augenblicke der Liebe, jene zündenden Momente des Augenaufschlags, also die wahren Augen-Blicke. Nicht immer so dramatisch inszeniert wie hier in der Räuberszene, wo sich Madonna und Hure in geradezu klassischer Form begegnen. Philine hatte sich gerade noch, hinter der Hecke, mit dem Räuberhauptmann eingelassen, um ihren Koffer zu retten, jetzt liegt der von Schuss und Hieb getroffene Wilhelm in ihrem Schoß, die Gräfin zu Pferde hoch über ihm, sie fragt Philine, ob er ihr Mann sei. Angesichts dieser höchst peinlichen Lage hilft gleichsam nur der Sprung in die Verklärung. Mit einem Augenaufschlag der Entrückung. Wie nirgends sonst verkörpert sich das Prinzip Hoffnung für Bloch in Goethes Faust. Verständlicherweise nicht in der Fausttradition, also in der zwielichtigen Figur der Volkssage des 16. Jahrhunderts, auch nicht in Marlows Faust von 1604. Goethes Faustfigur ist für Bloch „das höchste Exempel des utopischen Menschen", immer auf der Suche nach dem erfüllten Augenblick, der Mensch mit dem „dichtesten wie weitesten Augenblickswillen". 22 Als Exemplum hat Faust seine Subjektivität abgeworfen, als stünde er im Auftrag höherer Mächte - und er tut es ja auch - der teuflischen Wette auf Erden geht immerhin ein Pakt im Himmel voraus. Wer gewinnt hier eigentlich, Gott oder der Teufel? Aber hier wie dort, im Himmel wie auf Erden, bewegen wir uns in einem metaphorischen Raum, der zugleich ein metaphysischer ist. Der weiteste und offenste der Weltliteratur. Durch und durch symbolisch strukturiert. Der Dichter hat seinem Helden eine kosmische Bühne zur Verfügung gestellt. Dem höchsten Anspruch von Selbsterfiillung gebührt ein unbegrenzter Raum. Der Weg zum höchsten und erfüllten Augenblick ist ansteigend, spiralförmig, wie Goethe es modellhaft sich vorgestellt hat. Die fehlende Erfüllung zieht den Menschen empor, der immer erneut ausstehende schöne Augenblick arbeitet wie ein Weltmagnet. Das sind die Tatsächlichkeiten des Textes, keine herbeigeholten Interpretationen. Und erstaunlich ist, wie uneingeschränkt Bloch sie anerkennt, als sei 19 20 21 22
Emst Bloch, Prinzip Hoffnung, 1154. Vgl. ebd., 1167ff. Ebd. 1171. Vgl. Johann Wolfgang v. Goethe: HA 7,228. Ebd., 1189-1191. Weiterhin: 1192; 1194; 1200f.; 1534ff.
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das große Weltgleichnis eine Insel im bewegten Meer des historisch dialektischen Materialismus. Ob nun die Wette juristisch genau ist oder überhaupt justitiabel, darum geht es jetzt nicht, es geht um den Geist der Utopie, der offenbar in Faust sich erfüllt. „Goethe gab der Wette eine genaue juristische und die tiefste utopische Formulierung: Das , Verweile doch, du bist so schönzum Augenblick gesagt, bezeichnet die Da-Seins-Utopie katexochen." Erstaunlich auch, wie tolerant Bloch in diesem Zusammenhang mit der metaphysischen Problematik in toto umgeht. Indem dem Faust-Augenblick der übernatürliche Hintergrund fehlt, tritt der utopisch-humane Nähecharakter besonders unverwechselbar hervor. Unbeschadet des himmlischen Fortspiels oder der höheren Sphären oder der höheren Unruhe: denn auch im transzendenten Hochgebirge des FaustHimmels trägt Gretchen mit sich den Augenblick.
Sie ist es, die das Unsterbliche des Geliebten empor trägt, dessen Entelechie, die unbesiegbare Hoffnung und den erfüllten Augenblick. In der Tat geht ja diese wahrhaft himmlische Reise nicht in irgendwelche Hinterwelten - möglicherweise aber in ein Paradies, das zwischen den Galaxien versteckt ist. Wogegen ja nichts einzuwenden wäre. Solchen Gedankenspielen allerdings gibt ein Marxist sich nicht hin. Im Hier und Jetzt soll die Rechnung aufgehen. Da allerdings tut sich Bloch schwer mit seinem utopischen Leitbild. Und ganz konsequent verfällt er in schwer verständliches Argumentieren, wenn er mit Hilfe von Hegels Phänomenologie Faust freisprechen will vom Vorwurf selbstgenügsamen Strebens. Nein, Faust strebe ja gar nicht für sich. Behauptet Bloch. Denn woran denkt er im letzten, erfüllten Augenblick? An die große Landgewinnung, an sein Volk, also an das Paradies. Das ist richtig. Nur, wie ist dieses Paradies beschaffen? Es wird vom Teufel beherrscht. Faust weiß davon. Also doch ein arg getrübtes Paradies, das der skrupellose Herrscher sich da Untertan gemacht hat. Denken wir nur an den grausamen Tod der beiden Alten: Philemon und Baucis, die Liebenswerten, die Unschuldigen. Im Grunde ist doch alles Teufelswerk, auch die Täuschung des blinden uralten Faust. Der glaubt, Drainagegräben zur Landgewinnung würden geschaffen, als er das Schaufeln hört - in Wirklichkeit lässt Mephisto sein Grab ausheben. Infamer geht es wirklich nicht. Zugegeben, das alles sind gekonnte poetische Tricks, aber nehmen wir einmal unvoreingenommen das Thema Landgewinnung. Daran geknüpft die utopische Folgerung: Faust stirbt nicht als Egoist, sondern als Altruist. Wirklich? Ist nicht Machtgenuss, in diesem Falle rauschhafter Machtgenuss, der Höhepunkt von Egozentrik? Die Eroberer aller Zeiten haben in erster Linie immer nur an sich gedacht. Warum sieht Bloch so willentlich an den Tatsachen der Geschichte vorbei? Mit den Exponenten Land gewinnender Verbrecher vor Augen: Hitler und Stalin. Gab es denn je einen altruistischen Landgewinner? Auch die glorifizierten sind nicht auszunehmen - von Alexander dem Großen bis Napoleon. Das einerseits; andererseits sieht Bloch ja nicht fundamental an Faustens Intentionen vorbei, zweifellos mischen sich bei ihm in genialer Weise vita activa und vita contemplativa. Das Goethegedicht [...] bezeichnet die Stationen der Weltreise nach dem erfüllten Augenblick [...] Ebenso ist im Inhalt der Faustwette und nur in ihr die genau einschlagende Metaphysik der Nähe bezeichnet, auf die gerade Grenzüberschreitungen gehen. Eine Metaphysik, welche nicht mehr von lauter entfernten Hinterwelten oder Überwelten genarrt wird; je femer, so scheinbar desto besser, je höher, so scheinbar desto erhabener. Echt utopische Metaphysik ist gerade in Fausts immanentem Stichwort latent, als eine, welche sich auf des Pudels, aber auch auf des Himmels Kem versteht. Sie führt sowohl vom Jenseits ins tiefste, nämlich diesseitigste Diesseits, als sie auch den ganzen langen Tubus der Unruhe, der Weltweite und Weltutopie verwendet, um das wirklich Nächste - den Augenblick zu eiblicken. Um am Augenblick sich des wirklichen Weltknotens zu vergewissern, also auch der großen Freude, die dessen Auflösung möglicherweise besiegelt. Und noch etwas, fast das
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Wichtigste: Goethes Faust ahnt und berührt das Fürsichsein des erfüllten Augenblicks keineswegs, wie Hegels Phänomenologie zuletzt, als Verlust der Gegenständlichkeit selber, als Aufhebung jeder Objekthaftigkeit, also nicht nur der entfremdeten, ins Subjekt, in ein schließlich weltlos gewordenes. Konträr, gerade Fausts Berührung des erfüllten Augenblicks ist eine solche, weil sie zugleich die diesem Augenblick nicht mehr entfremdete Sphäre einer endlich adäquat berührten Objekthaftigkeit (Landgewinn, ewige Reiche) um sich hat Der Augenblick dieses Fürsichseins ist also gewiß keine Zurückgezogenheit, freilich siedelt er im Grenzzustand und Grenzideal einer Lebens- und Weltsituation, die keine Situation mehr hat. Faust als eine der äußersten Leitfiguren der Grenzüberschreitung intendiert rein im menschlichen Augenblick und seiner Welt gegen den Status bloßer Situationshaftigkeiten hin zum Ruf: Land. Verweile doch, zum Augenblick gesagt, wird derart Sinnbild der richtigen, ganz immanenten Heimkehr, des wirklichen Ithaka.
Kein Kommentar zum Verständnis des Unverständlichen. Ein Wort nur zum Schluss der Passage. Unvergleichbares zu vergleichen, heißt immer schon mit gezinkten Karten spielen. Die Fundamentalproblematik der Neuzeit - zu erforschen, was die Welt im Innersten zusammenhält - lässt sich nun einmal nicht vergleichen mit dem Mythos der Achaier, hier der Sehnsucht des großen Dulders Odysseus, endlich heimzukehren an den häuslichen Herd, zu Weib und Sohn und Königreich. Für ihn galt es, Rache zu nehmen. Und die hat er genommen, nicht nur die Freier wurden erledigt, sondern auch die Mägde, die sich mit ihnen eingelassen hatten. Schicksal der Kollaborateure. Sie wurden aufgehängt wie die Gänse auf der Wäscheleine. Das alles hat aber doch mit Faust so wenig zu tun wie irgendeine Operette vor hundert Jahren, die schließlich auch das Lied vom Prinzip Hoffnung aufspielt. Faust hat kein Ziel auf dieser Erde, sonst hätte er es erreicht. Er muss ewig streben, das gerade ist sein Verhängnis. Und seine Erlösung. Das steht alles im Text, man kann das nicht willkürlich umbiegen. Offenbar ist dieser Trieb, ewig zu streben nach Höherem, die conditio sine qua non einer bestimmten Menschengattung. Von dieser ist Faust ein Exemplum ersten Ranges. Das ist die Botschaft des Textes auf dieser Ebene. Deshalb ist Faust weder ein Platoniker noch ein Christ noch ein Marxist, auch kein hypochondrischer Einzelgänger, er ist ganz einfach ein Mensch. Gut, ein Idealist, wie man früher sagte, ein Wahrheitssucher, darum sagt er ja auch, was die Wette beinhaltet. Nicht mehr und nicht weniger. Die Suche nach der Wahrheit hört nicht auf. Der neuzeitliche Mensch weiß das. Der erfüllte Augenblick, das wäre für ihn die Fülle der Wahrheit, die volle Erkenntnis, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das war ja der Ausgangspunkt bei Adam und Eva, ihr Augenaufschlag, ihr Augen-Blick der Begehrlichkeit, ihre Neugierde, ihr Apfelbiss, ihre Motivation, das Paradies zu verlassen. Faust weiß, dass er auf Erden den Eingang ins Paradies nicht finden wird. Darum kann er die Wette abschließen. Und danach? Darüber spricht er nicht. Was ist möglich in der Spanne zwischen Geburt und Tod, um die Ewigkeit zu kontaktieren? Das ist die Frage: wie banne ich den erfüllten Augenblick? Immer schon haben die Menschen den großen Sprung versucht, den Sprung in das Einssein, denken wir an die Unio mystica von den Mysterienkulten der Antike bis ins hohe Mittelalter; heute haben sich weltweit und vorrangig asiatische Religionen in diesem Fach etabliert Immer geht es um Erleuchtung bei abgedunkeltem Bewusstsein. Auch heute noch. Musil hat das ja eindrücklich behandelt in seinem großen Roman. Für Bloch ist Mystik ebenso ein zeitloser Erlebnisfaktor, also nicht gebunden an religiös bestimmte Zeitalter. Natürlich gehört Mystik zum Thema Hoffnung, wie der Augenblick dazugehört in einer Art Dreieinigkeit. Wir haben es hier mit einer Trias zu tun, die weit zurückreicht in die Geschichte, hinter die monotheistischen Religionen in den Mythos hinein. Wie nicht anders zu erwarten, verbindet Bloch die Mystik mit seinem Leitmotiv. Das Kapitel ist überschrieben: „Verweile-doch in religiöser Schicht: Die Einheit des Nu in der Mystik." Hier zeigt Bloch, wie an so vielen Stellen seines Buches, dass er
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ein Homo metaphysicus sehr viel mehr ist als ein Materialist.23 Das soll seine Überzeugung, seine Positionen nicht aufweichen. Er hat nun einmal daran geglaubt. Er wollte zusammen zwingen, was nicht vereinbar ist. Es geht ihm um Intensivierung innerer Erfahrung einerseits, also letztlich doch um existentielle Prozesse, andererseits will er dieses Fürsichsein öffnen, reif machen zum Umschlag auf Praxis hin. Der Egoismus soll ja aufgehen im Kommunismus. Jede einzelne Engfühmng um den Hoffnungsinhalt eines Fürsichseins geht an den Augenblick heran, mit immer intensiverem Versuch, dieses Grund-Intensive zu bestimmen. Der eindringlichste ist religiös, im Sinn der Selbsteinsetzung des Menschen ins Geheimnis: das letzte Jenseits ist unser nächstes Diesseits, unsere immanente Nähe. Diese aber ist nichts anderes als das im jeweils gelebten Augenblick Treibende und noch nicht zum Glück Angehaltene, noch nicht als Gold A n g e forderte. .Verweile doch, du bist so schön': die Erfüllung dieser Hoffnung also wird religiös letzthin das gleiche wie Mystik, genauer: wie das Nu oder Nunc aetemum in der Mystik. 24
Erstaunlich, was Bloch dem Augenblick hier zugesteht, nämlich ein Äußerstes an religiöser Repräsentanz. Darin Nietzsche ganz nahe, der im übrigen von Mystik sehr viel verstand, gerade auch historisch im Raum der Vorantike und der Antike. Das zeigte schon das erste Buch, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, das der abendländischen Spaltung eine Welt ganzheitlicher Erfahrung entgegensetzte. Vom Kern her schon bedingungslos immanent gedacht. Blochs Nietzsche-Aversion hin oder her, interessant ist in jedem Falle, was er zur Mystik zu sagen hat. Der Keil, der die Welt in Subjekt und Objekt spaltet, so Bloch, werde vom Mystiker psychisch herausgezogen. So geschieht Einkehr in die Unmittelbarkeit des Augenblicks, als eine ebenso ungeteilte wie vollkommen esoterische; es geschieht Einkehr in einen Augenblick, der sich für die mystische Erfahrung nicht mehr in der Zeit befindet. Zeit und Augenblick waren sich nie so nahe, gar so ineinander wie Ewigkeit und dieser Augenblick. Nunc stans oder Nunc aeternum wird also sein Name, ein Name, worin die scheinbar gespanntesten Gegensätze: Augenblick und Ewigkeit wiederum sich vertauschen, in vollkommener dialektischer Einheit. Der Gott der Mystik war der Gott dieses Nunc aeternum, folglich der höchste Augenblickgott; Jetzt ist darin Immer, Hier ist darin Überall.
Dadurch allerdings heben sich die Gegensätze Gott und Nicht-Gott auf, eine Grenzerfahrung, die Meister Eckart schon überwältigte. Im Phänomen der Mystik ist angesprochen, was an Erlebnismasse im erfüllten Augenblick sich verdichtet. Die Mystikerinnen und die Mystiker des Mittelalters berichten von Verzückungen, die gleichsam dem Himmel anzugehören scheinen, dem wiedererreichten Paradies. Dass es damit lange schon vorbei ist, gehörte am Ende noch zur Betrübnis der Musilschen Geschwister bei ihrer Reise ins Paradies. Selbst Bloch trifft diese Feststellung fast mit Wehmut. „Unzweifelhaft, die Unionen der Mystik werden in der alten Form nicht wiederkommen, und der Blitz, worin das Unbeschreibliche getan, wird keinen Himmel mehr öffnen, aus dem übertragene Glorien abstürzen." Das poetische Urthema Augenblick, das im letzten Jahrhundert - pünktlich fast zum Ende des Jahrtausends - abstürzte und am Ende ganz verschwand, bestätigt das. Und zuzustimmen ist Bloch allemal, wenn er, immer erneut, in Goethe den Höhepunkt dieses metaphysischen Generalthemas sieht. Dieses Nunc stans ist, als auf dem Jetzt und Hier selber hervortretend, so wenig jenseits, daß es das allernächste Diesseits ist; so bedeutet das Nunc stans der Mystiker in wörtlichem wie in zentralem
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Das zeigt sehr deutlich das umfängliche Kapitel, in das die Mystik-Gedanken eingelagert sind: „Wachsender Menscheneinsatz ins religiöse Geheimnis, in Astralmythos, Exodus, Reich, Atheismus und die Utopie des Reichs" (ebd., 1392-1550). Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, 1534. Weiterhin: Ebd., 1537; 1540.
DAS PRINZIP HOFFNUNG UND GOETHE
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Sinn dasselbe wie das , Verweile doch, du bist so schön; - erst im Problem des Nunc stans hat dies Faust-Ziel Form und Inhalt der in ihm ausgesteckten Identität. Die vollkommene Utopie oder Utopie der Vollkommenheit, die die Religion in den Himmel gesetzt hat, schlägt hier in den Kern der Menschen wie ins Problem-Subjekt der Natur zurück. Nunc stans ist derart die Präzisionsformel für immanenteste Immanenz, das ist für die zeitlich so feme und noch schlechthin unausgemachte Welt ohne jede mögliche Entfremdung.
Eine wahrhaft urpoetische Hoffnung. Beschworen - immerhin noch - in einer Zeit, die literarisch lange schon solcher Hoffnung abgeschworen hatte - von Kafka bis Beckett. Interessant, dass Bloch mit keinem Wort die vielfältigen literarischen Gegenpositionen erwähnt. Jene poetischen Wirklichkeiten, in denen jede Hoffnung zuschanden wird. Wo der barocke Orgelton des Visionären sich bricht an den nackten Mauern bildhafter Faktizität. So bei Kafka, von dem das Zitat stammt: „Stummheit gehört zu den Attributen der Vollkommenheit." So bei Beckett, von dem es stammen könnte. Becketts wichtigste Werke erschienen in den fünfziger Jahren. (Eben zu der Zeit, als Bloch sein Prinzip Hoffnung fertig stellte.) Unter anderem die Roman-Trilogie: Molloy (1951), Malone meurt (1952), L'Innommable (1953). Werke, von denen man weiß, dass sie kaum gelesen wurden. 25 Das Bühnenstück En attendant Godot wurde 1952 zum Welterfolg. Aber gerade in den Romanen zeigt sich die Hoffnungslosigkeit par excellence, die totalste Trostlosigkeit, die es je gab, die brutalste stilistische Reduktion menschlicher Würde. Die kulturellen Zeitverschiebungen, von denen ich zu Anfang sprach, hatten sich jetzt grundsätzlich verändert, fast sieht es so aus, als habe Bloch das Mysterienspiel der Jahrhundertmitte zur Uraufführung gebracht, die mystische Marxisten-Bibel. Eben das Große Welttheater des Materialismus. Sehen wir die Szene von heute her und würden wir vergleichen, etwa thematisieren: Kafka und die Hoffnung - also Kafka, der lange schon zu einem literarischen Mythos geworden war wie nackt stünde er da, wie entblößt in diesem wuchernden Dschungel kosmischer Metaphern. Und doch hat auch er die Wucht der eingestürzten Zeit erfahren, allerdings als graue Trostlosigkeit, als leere Zeit, als Stillstand. Der Augenblick erstarrt in Unbeweglichkeit Immer gehen die Uhren falsch bei Kafka. Immer verpassen die Helden die hohe Stunde des Mittags, wie Nietzsche sie gefeiert hatte, ja, nicht einmal ein Nachschimmer des Abendlichts wird ihnen zuteil in dieser farblosen Welt. Die menschliche Lebenswelt unterhalb des Schlosses ist grau und trostlos, um so grauer, je weißer der Schnee ist. Die Beleuchtung im Labyrinth des Prozesses ist fahl und endet mit einer gnadenlosen Hinrichtung. Man müsse das Leben wegwerfen, um es zu gewinnen, hat Kafka einmal gesagt. Proust holte es zurück, zutiefst poetisch mit der memoire involontaire. Er konnte es nur zurückholen, wenn er die Zeit zurückholte. Die Erinnerung holt die Zeit zurück, konstituiert sie überhaupt erst im Augenblick des Erinnerns. Der Strom des Bewusstseins oder Unterbewusstseins transportiert Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Bei Kafka steht die Zeit still. Sie dreht sich im Kreis. Warten vor dem Gesetz. Lebenslänglich. Alle seine Protagonisten haben keine Vergangenheit und keine Zukunft, und vor allem, sie haben keine Chance. Ihre Welt ist in der Tat alles, was der Fall ist, nicht mehr und nicht weniger. 26
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Vgl. Bruno Hillebrand, Was denn ist Kunst? Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus, Göttingen 2001, Kap. Beckett und die Konsequenzen (276ff.). Darum auch ist jede metaphysische Auslegung der Texte ein Missgriff. Es gibt keine Deutung in dieser Welt. Explizit gibt es in der erzählten Welt Kafkas keine metaphysische Problematik und keine existentielle Thematik. Die radikale Bildwelt ist alles, was der Fall ist. Man darf deuten, aber man sollte es tun, ohne Spuren zu hinterlassen, also nach Möglichkeit nicht öffentlich und schon gar nicht schriftlich. Walter Benjamin hatte 1934 schon auf zwei Möglichkeiten verwiesen, das Werk Kafkas grundsätzlich zu verfehlen, einmal psychoanalytisch, zum anderen theologisch (Angelus Novus,
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Der tiefe Brunnen. Jahre braucht der Eimer, um heraufzukommen, und im Augenblick stürzt er hinab, schneller als du dich hinabbeugen kannst; noch glaubst du, ihn in den Händen zu halten, und schon hörst du den Aufschlag in der Tiefe, hörst nicht einmal ihn. 2 7 Kafkas Werk ist ein einziges großes E x e m p l u m der Hoffnungslosigkeit. S o beginnt der Prozess, e b e n als unvorhersehbare Verhaftung, so beginnen v i e l e der Erzählungen, sie berichten v o n M e n s c h e n ohne Biographie, existierend im gegenwärtigen Augenblick, ruhelos, unsicher, aus der B a l a n c e gestürzt. V o n e i n e m Augenblick z u m andern k o m m t das Unheil, die Verwandlung, das Urteil über sie. Es ist w i e der b ö s e Zauber im Märchen. D i e N a c h t g l o c k e i m Landarzt ist symptomatisch. Immer ist es ein nichtiger Anlass, der die L a w i n e in B e w e g u n g setzt. Ein Schlag ans Hoftor, und die F o l g e n sind unabsehbar. N o r m a l e s Leben gehorcht der Normalität der Zeit. B e i K a f k a ist es w i e i m Traum, der falsche Zeitpunkt, der falsche Ort, der rätselhafte W e g , verschlossene Türen. U n d d o c h ist alles Realität. V o n Epiphanien keine Spur, v o m Paradies wird nicht gesprochen. Sollte es ein Paradies g e b e n , dann liegt es hinter der Hölle. A b e r auch das ist schon Spekulation. D a s Prinzip H o f f n u n g s l o s i g k e i t als literarischer G e s t u s - war es auch das, w o g e g e n B l o c h angeschrieben hat? K a f k a s kleine ( w e n i g e r bekannte) Erzählung Gibs auf! könnte eine Antwort auf diese Frage geben. Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. E r lächelte und sagte: ,Von mir willst du den Weg erfahren?' ,Ja', sagte ich, ,da ich ihn selbst nicht finden kann.' ,Gibs auf, gibs a u f ' , sagte er und wandte sich mit einem großen Schwünge ab, so wie Leute, die mit ihrem Leben allein sein wollen. 2 8
Frankfurt a. M. 1966, 256). Verständlich, dass die frühe Kafka-Deutung die tiefgründigste war. Es herrschte ja in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ganz allgemein ein Trieb zu Tragik und Tiefe. Ich meine, dass spätestens unsere heutige Distanz es ermöglicht, Kafka geradezu leicht und mit beschwingter Phantasie zu lesen, vor allem, wenn man Sensus hat für den spezifisch kafkaschen Humor. Man darf lachen. Man sollte umherwandern im Text, geleitet von der Suggestion der Bilder, diese verführen ja geradezu magisch, ihnen ganz einfach zu folgen. Insofern ist in der Tat alles ganz einfach und für jedermann zugänglich wie ein Museum. Der Leser tritt ein in die ästhetische Bildwelt und diese schließt sich hinter ihm, wenn er sie wieder verlässt. Jeder Mythos ist eine in sich abgeschlossene Welt, sie existiert in der Totalität ihrer Souveränität, in der Zeit enthobenen Spiegelung universaler Lebenswirklichkeit. In dieser Welt herrschen Schicksalsmächte, die sich aller rationalen Deutung entziehen, damit jedem willentlichen Zugriff, es herrschen Gesetze, denen mit Erkenntnis nicht beizukommen ist, schon gar nicht mit der Aussage, dass sie widersinnig seien. Man hat gesagt, Kafkas Mythos sei ein negativer Mythos. Auch das geht zu weit. Jede Deutung geht zu weit. W o es keinen Sinn gibt, haben Wertungen ihre Funktion verloren. In Kafkas Welt gibt es keine Epiphanien und keine Erlösung. In Kafkas Welt gelten die Gesetze von Kafkas Welt. 27
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Franz Kafka, Gesammelte vorausgehende Zitat. Ebd., 87.
Werke, hg. v. Max Brod, Frankfurt a. M. 1976, Bd. 5, 252. Hier auch das
7. Aktuelle Entwicklungen und Einschätzungen
CHRISTIAN SCHÄRF
Schellings Lichtbild Die Philosophen und die Fotografie
Das Bild des Philosophen taucht aus dem Dunkel der Vorzeit auf wie die Fata Morgana eines Albtraums. Wahrscheinlich war Schelling nicht der erste Philosoph, der fotografiert wurde. Aber sein Lichtbild, das ihn wenige Jahre vor seinem Tod zeigt, wirkt wie die Erleuchtung des ersten Mals. In dem Ausdruck ,Lichtbild' liegt die Erleuchtung sprachlich beschlossen; der Philosoph wird belichtet, als die Imago seiner selbst auf eine beschichtete Platte gebannt. Seine notorische Abwesenheit, die er mittels der Schrift geschaffen hatte, wird mit einem Schlag aufgehoben. Schelling reicht von allen Protagonisten des Dichtens und Denkens am weitesten in die Zeit zurück, als noch keine Daguerrotypie die Köpfe der Kulturträger festhielt, als ihre Gesichter im Dunkel der Zeit verschwanden, mühsam in Annäherungen zurückbehalten nur in Zeichnungen, Ölbildern, Scherenschnitten. Was wir sehen, ist das Foto eines Eingeborenen einer hoch entwickelten Kultur, der eben in diesem Augenblick neue Herrscher an Land gehen sieht, Konquistadoren, und in dessen Blick das ganze Dunkel einer unbelichteten Vorzeit liegt. Dieser Blick trägt mehr als eine Frage. Es antizipiert den Untergang und eine Zeitenwende. Für die Wahrnehmung und für das Verhältnis der Zeitebenen zueinander eröffnet die Fotografie eine vollkommen neue Dimension. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen ist jetzt in einem Augenblick möglich. Dadurch wird das Vergangene aus seiner totalen Abwesenheit zumindest teilweise befreit, man könnte auch sagen: erlöst. Während ausnahmslos alles vergeht und ins Vergessen sinkt, bleiben im Foto Partikel des Wirklichen und in seinem Wirklichkeitsstatus Gegenwärtigen in einer technisch erzeugten Form von Vergegenwärtigung bestehen. Dass diese Vergegenwärtigung technisch erzeugt ist, spielt bei der Beurteilung der Konsequenzen der Wahrnehmung zunächst keine Rolle. Die Interpretation des Vorgangs ist weiterhin eine metaphysisch-hermeneutische. Erst spät wird dieser Blickwinkel von einer genuin medialen Perspektive verdrängt. Das Medium Schrift wird in Frage gestellt, und zwar vermittels des durch die Fotografie erzeugten Ausfalls totaler Abwesenheit. Jetzt kann man den Spezialisten der Abwesenheit ins Gesicht sehen, nichts an ihnen kann mehr geschönt oder überzeichnet werden. Zumindest gilt das für die absolute Frühphase der Fotografie, als die Belichtungszeiten so lang waren, dass man seine Eitelkeit ganz dem Vorgang des Aufgenommenwerdens zuwandte und an Retouche noch nicht dachte. Ist nicht dies der historische Moment, da die hegemoniale Autorität der Schrift zu schwinden beginnt? Da ihre Prätentionen durchbrochen oder zumindest schwach werden? Schellings Augen scheinen aus einem lichtlosen Aon ins Zeitalter der Belichtung hinüberzusehen, ungläubig durchdrungen von der Unsicherheit eines Menschen, dessen uraltes Geheimnis gerade gelüftet wurde und der diesen Umstand als Ahnung in sich aufsteigen fühlt. Schellings Welt war eine Wahrnehmungs- und Interpretationssphäre gewesen, in der sich
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gerade nicht alles sofort in ein technisch erzeugtes Bild verwandelt hat. Eine Welt, in der die Namen noch anders klangen, weiter entfernt und verheißungsvoller, weil mit ihnen nicht unmittelbar ein Bild korrespondierte. Die Abwesenheit war vollkommener, die Texte tönten von weit her, an den Namen haftete etwas von der Unsichtbarkeit der Götter und der Macht Gottes. Die Wirkung der Wörter, die via Schrift Zeiten und Räume überwinden, war nicht beendet, aber relativiert. Jetzt tritt das Bild in den Vordergrund, das Bild dessen, der die Wörter erzeugt. Dieses Bild aber ist - stumm. Ob er sich diese Tatsache schon eingestehen kann? Sein Mund ist so fest verschlossen wie nur möglich, und dennoch scheint er etwas sagen zu wollen, das ihm einfach nicht über die schmalen Lippen kommen will. Der Blick in die Kamera verschlägt ihm die Sprache. Die tiefliegenden Augen scheinen, indem sie ins Objektiv starren, zurückzublicken, in die Vorzeit der Jetztzeit, zurück bis in die Phase der beginnenden Romantik, in der man beseelt war vom Sendungsbewusstsein des Schreibenden. Als die Geschichtsphilosophie buchstäblich aus dem magischen Hut der Poesie gezaubert wurde, von phantastischen Autodidakten, Bergbaustudenten und anderen Fremdlingen im aufkommenden bürgerlichen Kapitalismus, der noch unter aristokratischer Regierung stand. Magisch ging es zu und poetisch, transzendentaler Idealismus, Transzendentalpoesie, symphilosophierende Wortschöpfungseuphorie und das berauschende Gefühl von Anfang und Aufbruch in eine neue Zeit. Im Windschatten des Basler Friedens hatten die Protagonisten der ästhetischen Protomoderne im liberalen Jena zueinander gefunden, das Universitätsstädtchen wurde für ein paar Jahre zu einer Enklave außerhalb von Echtzeit und Realraum. Schelling eroberte als blutjunges Genie die noch von Fichte besetzte Bühne des Denkens und wie nebenher die Sympathie und Zuneigung der Caroline Schlegel. Sie war zu Zeiten Ehefrau des Jenaer Professors August Wilhelm Schlegel, in dessen Haus das Romantikertreffen vom November 1799 stattfand. Als erster Philosoph überhaupt versuchte Schelling die Philosophie auf die Kunst zu gründen, auf Ästhetik, eine Disziplin, die zuvor eine philosophische Randexistenz geführt und als die Sphäre eines , unteren Erkenntnisvermögens' höchstens peripher mitbehandelt wurde. Es waren die Aufbruchsjahre des Geistes, damals in Jena 1799, wo Schelling mit 24 Jahren Professor für Philosophie wurde, ein akademischer Frühstart, dessen atemberaubendes Tempo nicht einmal Nietzsche einholen sollte. Die Jenaer Gruppe zerfiel in Windeseile, ihre Entwürfe konnten sich in der dünnen Luft des Epochenumbruchs nicht halten. Schelling heiratete Caroline Schlegel, die Zentralmuse des romantischen Kreises. Er setzte seine akademische Laufbahn fort und arbeitete in all den unterschiedlichen Phasen, die sein Denken aufweist, immer an einer Begründung der Philosophie als der „Wissenschaft des Wissens". Was könnte das sein? Wo ist der Punkt, von dem aus Wissen sich selbst übersieht, sich selbst weiß? Deutscher Idealismus auf dem Höhepunkt, die Theologie feiert ihre säkularen Triumphe an deutschen Universitäten, die Kunst kommt ins Spiel, das Schweben der Einbildungskraft (Fichte), produktive Einbildungskraft (Schelling), schöpferische Phantasie. So viel Anfang war nie. Was wurde daraus? In Schellings nachromantischer Laufbahn ist konstant eine Geste des Abdankens erkennbar, unausgesprochen, aber in seinem Blick in die Kamera ist sie erahnbar: der Philosoph als Mumie seiner Zunft. Hegel hatte das Gelände vermint und praktisch alle Köpfe der Ära nach dem Wiener Kongress dialektisch kontaminiert. Trauer der Vollendung betitelte Beat Wyss sein Buch über den Deutschen Idealismus und dessen Folgen.1 Die Dichter sahen sich als
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Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Moderne, München 1985.
Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus
zur Kulturkritik an der
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Epigonen der klassischen Epoche, nach dem Aufbruch kam die Lähmung. Das Denken in scholastischen und transzendentalen Systemen hatte sich erschöpft. Von den Schauern der Erkenntnis blieben gymnastische Übungen des Geistes, ideal für die frühvergreisende Jugend des Akademismus und des Historismus. Eine Zeit war alt geworden, aber die Eule der Minerva verschlief ihren Einsatz. Jetzt brach eine wirklich neue Epoche an, das Zeitalter der technologischen Metamorphosen der Wahrnehmung. Etwas Einbalsamiertes geht von Schellings belichtetem Gesicht aus, ein beunruhigender Zug ins Antivitale, das das Abgelebte dessen, was Schelling dann Mitte der fünfziger Jahre vertreten sollte, auf seinem Lichtbild zur Ahnung werden lässt. Der Fatalismus der Fotografie, von dem Roland Barthes in seinem Buch La chambre claire spricht, sagt immer nur und immer wieder: das ist der Philosoph Schelling, das ist der Philosoph Schelling und so weiter. Schelling, der aus diesem Foto herausschaut, sagt gleichzeitig in der derselben Notorik zum Betrachter: Das bin ich, das bin ich. Es ist, als würde die aufwändige und weit ausschwingende Bewegung des europäischen Denkens zu einem plötzlichen Stillstand kommen, als würde sie technisch paralysiert, als würde im Fatalismus des Deiktischen, den jede Fotografie aufweist - aufzuweisen scheint, suggeriert - , der Philosoph seiner Philosophie beraubt, ohne dass er das Geringste dagegen tun kann. Beraubt werden der Magie des flüchtigen Gedankens, der in Gestalt seines realen Subjekts hier und jetzt entzaubert wird. So ist die Verbitterung, die aus Schellings Blick spricht, zu begreifen. Das Ich bin Ich, jener von Fichte ins Zentrum der idealistischen Philosophie gehobene Satz der Identität und logischer Ausgangspunkt aller Philosophie als Wissenschaft, verkommt auf dem Lichtbild zur reinen Banalität. Seht her, das bin ich! - Schaut nur, das ist er! Hinter der Fotografie des Philosophen bricht seine Philosophie lautlos zusammen. Das Abwesende, das dieses einstürzende Gebäude getragen hat, wird ans Licht und in die Anwesenheit gezerrt. Der Körper des Denkers, der zuvor in der Abwesenheit der Schrift lag und wie ein Phantom durch die Zeilen zog, tritt ins Medium der technischen Reproduktion und wird da zu ihrem Knecht. Das ist mehr als nur der Verlust der Aura, von dem Benjamin in Bezug auf die Kunst gesprochen hat. Die Aura der Philosophie oder des Philosophen, die in der Schrift ihr Residuum hat, wäre ein durchaus vorstellbares Analogon dazu. Eher vollzieht sich dabei eine Verschiebung der Wertungskriterien im Verhältnis zwischen Texten, Namen und Bildern. Was hat Vorrang gegenüber wem, in welchen Konstellationen und Kontrasten stehen Texte, Namen und Bilder jetzt neu? Über die Namen zu reden, heißt jetzt auch über die Bilder zu reden, die von diesen Namen im Umlauf sind. Der Aggregatzustand der Philosophie verändert sich in einem ebenso schleichenden wie manifesten Prozess. Philosophie wird zu einem integralen Produkt, das aus dem Namen, den Schriften und den technisch erzeugten Bildern, die die Denker zeigen, gleichermaßen besteht und so in Umlauf gebracht wird. Das metaphysische Tier sitzt plötzlich im Käfig der technischen Bannung seiner Anwesenheit. Damit ist die magische Strahlkraft der Schrift entscheidend geschwächt. Mit dem Einsatz der neuen Medien technischer Bilder, die - Schellings Lichtbild legt das fast nahe - gegen die Spezies der schreibenden Denker eingesetzt werden, beginnt eine mediale Revolution innerhalb der europäischen Kultur, kündigt sich jener medial turn an, der mit dem Zusammenbruch der Schrifthegemonie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen sein wird. Wiederkehr der Bilder - das ist der Inbegriff des Grauens für eine Spezies, die seit ihren Anfängen gegen den Mythos und seine Bilderwut angetreten ist. Schellings Foto zeigt einen der ersten Denker, auf dessen Kopf die Strahlen einer neuen technischen Belichtung fallen. Es befördert den abendländischen Philosophen aus dem Dunkel des Geschichtskorridors in die Beleuchtungsszene immerwährender Präsenz und der undurchdringlichen Tautologie des Ich bin Ich. Damit wird der Schleier der Maja gelüftet, der
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mehr als zweitausend Jahre lang über der Philosophie lag, hinter dem sich Philosophie im abendländischen Sinne überhaupt nur kristallisieren konnte. Das platonisch-sokratische Kippspiel zerbricht. Die Unentscheidbarkeit des Ursprungs weicht dem deiktischen Dauerverweis des ,Dort, dieser da', ohne damit einen Ursprung von irgendetwas zu benennen. Das ist das neue Geheimnis, das mit dem Aufkommen der technischen Bilder entstanden ist. Die komplexe Gedankenakrobatik des Deutschen Idealismus wird abgelöst von der Konfrontation mit dem naturalistischen Bildnis seiner Urheber. Am Ende des 20. Jahrhunderts werden weniger die Systeme der Philosophen als ihre Biographien interessieren. Die Frage, wie einer dazu kommen konnte oder musste, einen bestimmten Gedanken zu denken, ist eine Frage der gewünschten Präsenz, des realen Bildes eines Menschen vor der Philosophie. Die Technik hat in ihren medialen Auswirkungen unser Erkenntnisinteresse grundlegend verändert. Sie hat bewirkt, dass wir nach und nach von den alten heilsutopischen Wegen abgekommen sind und das Bild des Menschen aus den unterschiedlichen Bahnen einer anthropologischen Logik in die Tautologie der Deixis überführt haben, in der die Macht der Bilder ein Übergewicht gegenüber jeder Art von Schrifttext erhält. Die Konfrontation der Philosophie mit den neuen technischen Medien ereignet sich zuerst in der Fotografie, dort aber durchschlagend. Bis in die Spätmoderne behauptet der Philosoph den Gestus, denkend über der Technik zu stehen, sei es in der Heideggerschen Metaphysik des Gestells, sei es im avantgardistisch auftretenden Versuch einer .Philosophie der Fotografie', wie sie noch Vilem Flusser forderte, sei es diskursanalytisch mit Bezug auf Technikgeschichte. Einer Philosophie der Fotografie steht in ironischem Widerstreit die Fotografie des Philosophen gegenüber. Deren semiologische Entschlüsselung könnte erste Einblicke in die Modifikation des philosophischen Selbstverstehens durch moderne technische Medien ergeben. Die archaische Haltung des Denkenden vor der Schrift, die sich nur über die Schrift vermittelt, wird angesichts des Lichtbilds des Denkenden zu einer reinen Pose. Was Schrift werden sollte, will ins Bild zurück. Denken büßt seinen Logenplatz ein, den es in der Behauptung dieser Haltung besetzt gehalten hatte. Deren Psychologie bestand in der Inszenierung der Abwesenheit, und eben diese Inszenierung wird durch die Fotografie durchbrochen. Die Aura der Abwesenheit zerfällt, die technische Reproduzierbarkeit des Bildes sorgt für die Allgegenwärtigkeit des Abwesenden. Damit verliert die Philosophie ihre alte Heimstatt, die die Autorität der Denker erschuf: das Abwesenheitspostulat der Schrift. Denken wird nun mehr als zuvor über die Gestalt des Denkers erschossen, der ins Licht tritt. Der Denker wird zu einer performativen Gestalt auf der Bühne technischer Medialität. Sein Bild wird selbst zu einem Gegenstand der Interpretation und beeinflusst die Interpretation seiner Texte grundlegend. Schellings Lichtbild macht den Anfang, die Fotografien Schopenhauers flankieren sie als Kuriosität, indem sie einen kauzigen Sonderling zeigen, die unglückliche Einsamkeit dessen, der zu tief gedacht hat, die Todesnähe eines alten Mannes. Das eigentliche Fanal der Konfrontation von Philosophie und Fotografie aber repräsentieren die Ablichtungen des kranken Nietzsche in der Weimarer Villa Silberblick zwischen 1897 und 1900. Erst diese Fotos haben Nietzsche zu dem gemacht, was er werden sollte: der Philosoph als tragisches Opfer der Zivilisation, die er stürzen wollte. Was diese Bilder zeigen, ist kein Mensch mehr, sondern ein Modell für den Helden der Modernität. Ins Außermenschliche getreten ist, der von sich behauptet hat, er sei kein Mensch, sondern Dynamit. Erst die Modernität der Technik in Form der Fotografie ermöglichte diese Stilisierung. Erst die deiktische Präsenz des Fotos lässt aus dem Philosophen den modernen Märtyrer entspringen. Die Betrachtung und Deutung der Philosophie aus der Fotografie des Philosophen steht erst am Anfang. Noch immer sieht man Fotografien, gerade wenn sie historische Autoren zeigen, zuvorderst als Dokumente der Zeit und der Geschichte an. Dabei repräsentiert gerade die
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Fotografie ein hohes Potenzial an perspektivistischer Gestaltungsbreite. Als moderne Technik ist sie Abbildungsträger, als hypermodernes Medium semiologisches Manipulationsinstrument. Fotografie schafft Bildräume, indem sie vorhandene Perspektiven nachbaut und umwertet. Mit Flusser könnte man dahingehend argumentieren, dass technische Medien wie Fotografie und Film sich fundamental auf die Basis und die Substanz der Textmedien stützen, die den kulturellen Raum Europas seit über dreitausend Jahren geprägt haben. 2 Sie nehmen diverse Gesten und Haltungen aus der Geschichte auf, die sich in Textbildern tradiert haben, und überführen sie als semiologische Konstruktion ins technische Bild. Wie das funktioniert und was konkret damit gemeint ist, hat Wolfgang Ullrich in einem Aufsatz mit dem Titel Heidegger im Bild gezeigt. 3 Darin werden unterschiedliche Fotografien, vor allem des späten Heidegger, basierend auf der Fotoserie, die Digne Meller-Marcovicz am 16. Juni 1968 in und um Heideggers Hütte in Todtnauberg gemacht hat, philosophiegeschichtlich decodiert. Die Fotografien stilisieren Heidegger in bestimmten zunächst spontan erscheinenden Situationen und Haltungen, die wiederum bestimmte ganz konkrete philosophische Deutungsansätze enthalten, ohne sie direkt zu benennen. Vor allem die Identifikationsgestalt Heraklit spielt hierbei eine stilbildende Rolle, einerseits die Darstellung des Vorsokratikers auf dem Monumentalgemälde von Raffaels Die Schule von Athen, andererseits eine fotografische Paraphrase auf Heraklit. Diese konzentriere sich, so Ullrich, vornehmlich in einer Szene, die Heidegger auf der Ofenbank in der Küche zeigt: „Überliefert ist nämlich eine Anekdote, derzufolge dieser [Heraklit, C.S.] sich an einem Ofen wärmte und Fremden, die offenbar erstaunt über den Aufenthaltsort des großen Denkers waren, zurief, auch hier seien Götter." 4 Im Kontext mit bestimmten Äußerungen Heideggers zu Heraklit werden solche spekulativen Deutungen des Fotos am Ofen zumindest plausibel. Noch mehr, wenn man Ausführungen Heideggers zur Zeichenhaftigkeit des Bildes heranzieht, die er in seinen Heraklit-Vorlesungen getätigt hat. Ullrich kommentiert: Während den meisten eine A n e k d o t e auch nur eine Art v o n A u g e n r e i z ist, geht es darum, das Unanschauliche und W e s e n t l i c h e .hinter' d e m Bild zu entdecken. [...] D e r O f e n ist nicht nur ein O f e n , sondern ein bedeutsamer Ort. D e r O f e n ist ein Ort d e s Ursprungs, der .aufgehen läßt in das Erscheinen, w a s in der Kälte sonst der Starre d e s Nichtseins z u m Opfer fällt'. 5
Solche Auslegungen behalten bei aller Motivierung in Heideggers Textwelt natürlich etwas grundlegend Spekulatives, das aber ursächlich zum Wesen des fotografischen Bildes dazu gehört. Das Handwerk der Fotografie, das zu einer Kunst ausgebaut werden kann, besteht darin, intuitiv bestimmte Konstellationen zeichenhaft zu codieren und für den Augenblick zu fixieren. Was alles in einer Fotografie liegt, ist vor allem deshalb nicht abschließend zu sagen, da sie ständigen Perspektivenwechseln von Betrachter zu Betrachter unterliegt und weil nie anzugeben ist, in welchem Maße ein Betrachter die Zeichennetze eines Fotos für sich zu entschlüsseln vermag. Da zudem niemand die ganze Zeichenträchtigkeit eines zu fixierenden Augenblicks gestalterisch kalkulierend sich vergegenwärtigen kann, fließt in die Fotografie per se etwas Unbewusstes ein, das nicht von der Erkenntnis einzuholen ist. Die gestalterische Potenz des Fotos dürfte zu einem hohen Grade intuitiven und unbewussten Prozessen unterliegen. Diese prinzipielle Überforderung der bewussten Wahrnehmung durch das Foto, die im 2
Vgl. die Argumentation Vilem Flussers in seinem Buch Kommunikologie, Frankfurt a. M. 1998. Wolfgang Ullrich, „Heidegger im Bild", in: ders., Verwindungen. Arbeit an Heidegger, Frankfurt a. M. 2003,9-44.
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CHRISTIAN SCHÄRF
Film auf die Spitze getrieben wird, ist das Hauptmerkmal einer gegenüber der Schrift neuartigen Codierungsform, die eine wiederum neue, spekulative und intuitiv gelagerte Decodierungs- bzw. Interpretationshandlung nach sich zieht. In den Beziehungsgeflechten zwischen Text, Person und Fotografie geht es keineswegs um die Illustration eines Denkens oder die Verwandlung des Denkens in reine Gestik und auch nicht um die Überinterpretation des Denkers in die mystische Verklärung seiner Gestalt. Vielmehr geht es um eine integrative Dynamik all dieser Elemente, welche erst mit dem Hinzutreten der Fotografie in Gang kommt. Erst die Fotografie überformt das Verhältnis von Philosoph, Text und Geschichte zu einem singulären Zeichenkomplex eigener Art. Jetzt übernimmt das technische Bild die perspektivische Gestaltungsarbeit, mit dem Versuch, in einem Bild ganze Text-Kontext-Hybride aus der Geschichte momenthaft und im Lichte einer buchstäblichen Realität des Augenblicks zu bannen. Heraklits Ofen-Anekdote kommt bei Heidegger an, dieser bezieht sie auf seine Bild-Gestalt, die sich fotografisch einer Allgemeinheit von möglichen Betrachtern präsentiert und damit die Sphäre des Denkens in eine technoimaginäre Performanz überführt. Diese technoimaginäre Performanz erfordert ein Denken, das ganz anders geartet ist als das den Vorratskammern der metaphysischen Diskursen entnommene Textgeschehen der Philosophie. Es muss ständig zwischen verschiedenen im Foto zusammengeschlossenen Zeichensystemen hin und her springen und eine Zielgerichtetheit des Denkprozesses, muss zwischen den Ebenen wechselseitige Interpretationen vornehmen, die ein Labyrinth entstehen lassen, und einen Ausweg, etwa im Sinne der Wahrheit, immer unwahrscheinlicher machen. Das Technobild hat zwar einen schriftbasierten Hintergrund, sozusagen eine Gebrauchs- und Gestaltungsanweisung im Kontinuum der Texte, es ist aber so gemacht, dass es nicht mehr über sich in neue Texte hinausführen würde. Das Technobild führt vielmehr die Texte zu einem Nullpunkt, an dem sie im Augenblick der Bannung erstarren. Flussers Bonmot, das Ziel der Geschichte sei es gewesen, ein Fernsehprogramm zu werden, hat seinen Gehalt in der Anwendung der Fotografie auf historische Codes schon vorgeprägt. Das unbewusste, geheime Ziel der Schellingschen Philosophie war es dann, zu diesem Foto zu werden, das man ansieht und sagt: Dieser da, der. Auch Heidegger wird als Phänomen der Philosophiegeschichte nie mehr so betrachtet werden wie ein Philosoph, von dem es keine Fotos gibt. Die Fotografie erschließt allein durch ihre technische und perspektivische Gestaltungskompetenz der Philosophie eine Medialzone, in der die Dezentrierung des Schriftmonopols die Enthistorisierung der Texte und die Verwandlung ihrer Autoren in deiktische Tautologien bewirkt Das Selbstrepräsentationsverhalten der Philosophie und der Philosophen verändert sich dabei zwangsläufig. Der durch die Fotos erweiterte Wahrnehmungsfokus Fotografie schlägt zurück auf die Philosophie als abendländischer Organisationsagentur der Schriftlichkeit. Technische Bilder verändern die Texte, von denen sie ausgegangen sind. Sie tun dies über die Vermittlung figürlicher Abbildungen in codierter Gestik. Diese Codierung scheint bei Schellings Lichtbild eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen. Der Philosoph blickt in die Kamera mit ungläubigem, fast leerem Blick, der auch Angst und Müdigkeit ausdrückt. Ein gemischter Eindruck entsteht, beunruhigend in seiner Unbestimmtheit. Schelling nimmt keine Pose oder Geste ein. Es ist, als fände er keinen eigenen Ausdruck gegenüber dem neuen Medium, das ihn für die Nachwelt fixieren will. Im historischen Augenblick seines Entstehens präsentiert dieses Foto den reinen Texttypus, dessen Selbstgefühl noch von keinem technischen Bild berührt worden ist. Zugleich vollzieht der Fotograf - einmal und vielleicht nie wieder - den reinen Bann ohne medienstrategische Codierung der Figur. In dieser überraschenden Direktheit des Blicks, die bis heute auf den Betrachter übergeht, markiert Schellings Lichtbild die Grenze zwischen zwei Medienepochen und zwei Auslegungsmodellen des Textphänomens Philosophie.
VOLKER C A Y S A
Über die Maßstäbe der Kritik moderner Körperverhältnisse Das Versklavungstheorem und der körpertechnologische Imperativ I. Die Säkularisierung und Entnatürlichung des Leibes in der Körperkultur der Gegenwart entspricht der modernen Grundhaltung, wonach das Individuum ein unveräußerliches Recht auf seinen Körper hat, das keiner Beschränkung durch Staat, Kirche oder Sportverbände unterliegen darf. Gerade dadurch, dass ζ. B. moderner Sport von seinen Anfängen an immer auch von der Idee des selbstbestimmten Experimentierens mit dem eigenen Körper getragen wurde, stand und steht er für ein modernes Körperethos überhaupt, das heute bspw. unser gesamtes Verhältnis zur Sexualität dominiert. Wenn die Kultur der Moderne wesentlich durch Autonomie gekennzeichnet ist, die zur Kernbestimmung hat, dass jede Person über sich selbst verfügen kann, so bedeutet das für das diese Kultur tragende Körperethos, dass jede Person über ihren Leib verfügen kann und der Leib einer Person niemandes Anderen Eigentum ist. Der damit verbundene selbstbestimmte Körperumgang bewegt sich im Spannungsfeld von geworfenem Leib und entworfenen Körpern, von Entdecken und Erfinden. Der Körper wurde in diesem Spannungsfeld nicht nur einfach entdeckt, sondern er wurde erfunden, indem körpertechnologische Verfahren entwickelt wurden, mit denen der Körper erst ent-deckt, mit denen der Leib entblößt, aufgeklärt werden konnte und das Entdeckte, Bloßgelegte nun auch selbst gemacht werden konnte. Wobei sich dabei immer die Frage stellte und stellt, wieweit dieses entdeckende Körperentwerfen gehen darf, wenn nicht die Würde des Menschen infragegestellt werden soll. Der Athlet gehört in diesem Kontext neben den Onanisten, den Homo- und Transsexuellen, den Prostituierten, den Pornographiedarstellern, den Proleten und den Künstlern zu den Grundtypen der Körperavantgarde der Moderne, der es übergreifend darum ging, einen selbstbestimmten Gebrauch des eigenen Körpers in der Gesellschaft legitim zu praktizieren. Diese selbstbestimmte Arbeit mit und am Körper, dieses selbstbewusste Verfügen über den eigenen Körper ist der Kern der Körpernormalisierungskultur der Moderne, in der zunächst als ,Rand', als ,Außen', als ,extrem', als ,abnorm' erscheint, was später dann für alle normal und normativ gilt, wobei die Norm eben nicht nur als repressive Bewertung, sondern auch als produktive Korrektur aufzufassen ist. Der Körpernormalisierungskultur der Moderne ist eigen, dass sie sich von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung, von der erzwungenen zur freiwilligen Arbeit mit dem und am eigenen Körper, von der Gattungsnorm zur individualisierten Normalisierung, von der Sorge um den anderen zur Sorge um sich, von der staatlichen, gemeinschaftlichen Fürsorge zur individuellen, privatisierten Vorsorge, von der Gemeinschaftsreproduktion zur Individualreproduktion bewegt.
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VOLKER CAYSA
In einer modernen Körpernormalisierungskultur wird der Normalkörper immer weniger als Geworfenes, als gewöhnlicher Naturkörper, und immer mehr als Entwurf, als technologisch machbarer Kunstkörper, wahrgenommen, so dass man sagen kann, dass für uns Moderne ein gewöhnlicher Naturkörper der Körper ist, den wir für normal halten. Mit der Selbstverfügungsgewalt über den eigenen Körper ist in einer modernen Körpernormalisierungskultur immer auch die Idee der selbstbestimmten Verfügung über das eigene Leben verbunden. Wesentliche Voraussetzung der Selbstbemächtigung des eigenen Lebens ist aber, dass der Mensch keine Ware, sondern ,nur' seine Arbeitskraft eine Ware ist. Jeder Mensch kann Waren erwerben in modernen Gesellschaften, aber er selbst kann nicht als Ware erworben werden. Wir können sagen, diese Ware ist mein, aber wir können strenggenommen nicht sagen „Du bist mein." Das hat in Bezug auf die damit verbundenen Körperverhältnisse zur Konsequenz, dass nicht der Körper als Ware verkauft wird, sondern immer nur bestimmte körperliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dadurch bildet sich in der modernen Körperkultur ein Körperproletariat, das eben nicht auf das klassische Industrieproletariat zu beschränken ist, sondern auch in künstlerischen und wissenschaftlichen Lebensformen anzutreffen ist, aber dort eben nicht als solches wahrgenommen wird. Dieses Körperproletariat verkauft aber nicht seinen Körper, sondern räumlich und zeitlich begrenzt bestimmte Körperfertigkeiten bzw. bestimmte Körpermaterialien, die, wie die Körperfertigkeiten, körpertechnologisch von der Person abgetrennt werden, wodurch man über sie frei verfügen und sie veräußern kann, ohne sich als Mensch zu veräußern. Es wird also nicht der ,ganze Körper', der personale Leib, verkauft, sondern nur bestimmte Teile und Funktionen von ihm. Und durch diesen arbeitsteiligen und marktfunktionalen Umgang mit dem Körper ist es möglich, dass der , Verkauf des Körpers' durchaus von der Identität und Integrität der seine Körperfertigkeiten verkaufenden Person wenn auch nicht gänzlich zu trennen, so doch zu unterscheiden ist und die ,ganze Person' nicht betrifft. In diesem Kontext stellt sich als Problem, ob es im Sinne der Rede von Rechten des Körpers biologische Substanzen und Körpermaterialien, ja Körperfertigkeiten des Menschen gibt (dies ist nicht nur für die zukünftige Fortpflanzungs- und Bioindustrie, sondern schon jetzt für den Sport und die Sexindustrie relevant), die als Naturerbe der Menschheit zu betrachten sind, die möglicherweise nicht industrialisiert werden sollten, um die Biodiversität (hier verstanden als Körperdiversität) der Menschheit zu erhalten, oder die gerade industrialisiert werden sollten, um allen Menschen eine bisher nur Einzelnen durch angeborenen ,Naturadel' mögliche außerordentliche physische Leistungsfähigkeit zugänglich machen zu können. Die Industrialisierung des menschlichen Körper wäre demzufolge nicht nur als Gefährdungspotential, sondern auch im ihrem Fortschritts- und Demokratiepotential wahrzunehmen, insofern sie immer mehr Menschen eine physische Leistungsfähigkeit ermöglichen könnte, die bisher nur Einzelnen und willkürlich von der Natur Auserwählten vorbehalten war. Insofern wäre der Schutz, die Erforschung und Biotechnologisierung des ,Laufgens' der kenianischen ,Wunderläufer' nicht nur ein Beitrag zur Arterhaltung, sondern zur demokratischen Höherzüchtung der menschlichen Gattung. Aber wem gehört dieses Körpererbe? Dem Individuum, seiner Familie oder gar der Menschheit? Wäre es Erbe der Menschheit und in diesem Sinne Allgemeingut nach internationalem Recht, dann darf es „von niemandem angeignet werden, es muß gemeinsam verwaltet sowie seine Erträge gleichmäßig verteilt werden. Auch ein friedvoller Gebrauch sowie der
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Schutz und der Erhalt des Allgemeingutes für zukünftige Generationen müssen garantiert sein."1 Das hier allgemein gefasste Körperproletariat ist nun aber nicht nur durch unmittelbare körperliche Arbeit bestimmt, sondern durch Arbeit mit dem und am eigenen Körper. Die Selbstbemächtigung des eigenen Lebens beginnt da mit der Selbstaneignung, der Selbstverfügung, der Selbstmacht über den eigenen Körper durch Arbeit mit dem und am eigenen Körper, die den Selbstbesitz des eigenen Körpers begründet, der aber nur dann wirklich Selbsteigentum darstellt, wenn der Selbstbesitz des eigenen Körpers öffentlich anerkannt ist. Das Individuum besitzt sich aber nur selbst, wenn es seinen Leib selbst besitzt. Individuelle Autonomie ist nicht möglich ohne individuelle Körperverfügung. Wie die körperliche Arbeitsleistung des einzelnen nicht nur unveräußerlicher Bestandteil seiner Freiheit ist, sondern seine Freiheit konstituiert, so ist auch der Besitz am eigenen Körper konstitutiv für die Freiheit des einzelnen. Vermittels der Arbeit mit dem und am eigenen Körper sichert sich das Individuum legitim die Macht über andere Güter und über sich selbst. Die individuelle, freiheitliche, gekonnte Körperverfügungs- und -regierungsgewalt dient somit der Sicherung von Autonomie und Selbstmacht der Individuen und begründet zugleich das Recht, als Person zu gelten. Moderne Selbstmacht, Selbstermächtigung und -bemächtigung, Selbstaneignung, Selbstbesitz, Selbsteigentum des eigenen Körpers werden wesentlich durch Körpertechniken und Körpertechnologisierung möglich und sind zweifelsohne von Körpervermarktung und Körperkapitalisierung begleitet oder sogar darin eingebunden, aber auch davon zu unterscheiden. Wie nicht jede Leibverdinglichung mit Körperversachlichung oder Körperfetischismus identisch ist, so ist auch nicht jede Körperinstrumentalisierung schon eine Körpervermarktung oder Körperausbeutung, und nicht jede Körpertechnologisierung ist schon eine Körperindustrialisierung. Wenn ich meinen Körper als Mittel zu einem Zweck gebrauche, dann ist er noch keine Ware, denn dazu müsste er nicht nur einen Gebrauchswert für mich, sondern auch für andere und einen Tauschwert haben. Auch wenn ich am und mit dem Körper arbeite, dann ist dieser Arbeitsprozess noch nicht gleichzusetzen mit einem Verwertungsprozess, wie übrigens auch die Selbstbeherrschung der körperlichen Lust nicht einfach als Unterdrückung der körperlichen Begierden zu deuten ist. Auch und gerade in Bezug auf den Körper gilt es, den Körper als Gebrauchswert für mich und als Gebrauchswert für andere, als individuellen und gesellschaftlichen Gebrauchswert, als für mich und durch mich benutztes Ding und als von anderen und für andere benutztes Ding zu unterscheiden. Wie nicht jede Vergegenständlichung eine Versachlichung ist, so ist nicht jede Körperinstrumentalisierung und Körperbenutzung schon an sich als Entfremdung und Entäußerung des Menschen zu verstehen. 2 Gerade im Sport und Sex kann man erfahren, dass
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Dörte Bemme, Cordula Mock, ,„Körperware' - sozial-kulturelle Perspektiven auf Konzepte des Eigentums am menschlichen Körper", in: Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Heft 29, 3, 2003. In diesem Sinne spricht Martha Nussbaum von „Verdinglichung" (vgl. Martha Nussbaum, Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, Stuttgart, 2002, 101 ff.), wobei auch sie, wie Marx und Lukäcs, nicht „Ding" und „Sache" klar unterscheidet und oft (entfremdende) Versachlichung meint, wo sie von Verdinglichung spricht; vgl. zur Kritik dieser falschen Verdinglichungstheorie: Udo Tietz, Volker Caysa, „Falsche Verdinglichungsphilosophie und verkehrte Leiberinnerung. Zum Verhältnis von Verdinglichungstheorie in ,Geschichte und Klassenbewusstsein' und Leibphilosophie in der .Dialektik der Aufklärung'", in: Frank Benseier, Werner Jung, Lukdcs 2005. Jahrbuch der internationalen GeorgLukdcs-Gesellschaft, 9. Jg., Bielefeld 2005.
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es durchaus nicht bloß von Übel sein muss, von jemandem für etwas als etwas benutzt zu werden und dass dies unter bestimmten Umständen sogar wundervoll sein kann. 3 Sowohl im Sport wie in der Ehe fungieren Körperteile und -funktionen meiner selbst wie auch des anderen als nützliche Werkzeuge zu einem Zweck, die vom Anderen benutzt werden, und dies muss den Anderen in seiner Würde überhaupt nicht beschädigen, sondern allzu oft bestätigt dieses Benutztwerden den anderen in seiner Selbstachtung. Die geliebte Frau muss den liebenden Mann nicht wiederlieben und trotzdem können beide glücklich sein. Nicht jede Hingabe ist schon eine Preisgabe und nicht jede Benutzung des Anderen bedeutet seine Vernutzung. Selbst wenn der Körper durch seinen marktförmigen Gebrauch den Prinzipien der Warenproduktion unterworfen wird, dann ist diese Vermarktung des Körpers noch nicht identisch mit entgrenzter, hemmungsloser und in der Konsequenz mit selbstzerstörerischer Kapitalisierung des Körpers. Die Vermarktung und Ökonomisierung des Körpers ist nicht einfach als kapitalistische Rebarbarisierung unserer Körperverhältnisse zu betrachten, sondern mit ihr ist auch ein zivilisatorischer Fortschritt in der Körperbeherrschung verbunden, der gerade gegen einen hemmungslosen Hedonismus, durch den eine wirklich ,freie Marktwirtschaft' am effektivsten (und brutalsten) funktioniert, gerichtet ist. Nicht schon der marktund warenförmige Gebrauch des Körpers ist der Kern des Problems der Verdinglichung des Leibes, sondern die entgrenzte Instrumentalisierung des Körpers für Verwertungsinteressen, in dem dieser nur noch bloßes Mittel zum Zweck seiner Kapitalisierung geworden ist und sein Selbst- und Eigenwertcharakter in der Verwertung völlig vernutzt wird. Deshalb sollte nach unserer Auffassung die Grenze der Körperinstrumentalisierung nicht als Verdinglichung, sondern als entgrenzte Kapitalisierung, als versklavende Verwertung bestimmt werden, und das Verdinglichungstheorem als theoretischer Maßstab der Kritik solch enthemmter Kapitalisierung des Körpers sollte besser als Versklavungstheorem bezeichnet werden. Kritischer Kern des Versklavungstheorems ist die Vermeidung der Entwertung und Zerstörung des Selbstwertes des Mittels und die damit verknüpfte Negation der Achtung und Anerkennung der Würde des Menschen und seines Körpers. Damit wäre sowohl der kapitalismuskritische Kern der Verdinglichungstheorems gewahrt, und zugleich wären seine theoretischen Unzulänglichkeiten, wie die unkritische und totalisierende Verwendung der Warenform zur Erklärung moderner Körperverhältnisse oder die Gleichsetzung von Körperinstrumentalisierung und Körperkapitalisierung, von Körpertechnologisierung und Körperfetischismus, vermeidbar und in ihrem rationellen Kern aufhebbar. Das aber hat zur Voraussetzung, die Reformulierung des Verdinglichungstheorems von dem abstrakten und bei Lukäcs falsch zentrierten Bezug auf die Warenform zu lösen, den eindeutig ontologischen Status der Grundelemente der Warenproduktion für eine funktionierende moderne Gesellschaft im Marxschen Sinne anzuerkennen und mit Entfremdung im strengen Sinne die entgrenzte Verwertungslogik des Kapitals, die alles Menschliche zerstört, zu charakterisieren. 4 Das hier formulierte Versklavungstheorem versucht also, im Gegensatz zu Lukäcs' Verdinglichungstheorem, nicht schon die Warenformdominanz und die damit verbundene Kapitalverwertungsdominanz als Ursache aller entfremdeten Körperverhältnisse zu begreifen, die demzufolge zu beseitigen wäre, will man humane Körperselbstverhältnisse. Vielmehr geht es
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Vgl. Martha Nussbaum, Konstruktionen, 92ff. Ich setze mich hier mit Positionen in einem Gespräch zwischen Axel Honneth und Rüdiger Dannemann auseinander. Vgl. Rüdiger Dannemann, Axel Honneth, „Reflexionen über den Klassiker des philosophischen Marxismus und das Schattenreich der philosophischen Kultur", in: Lukäcs 1998/99. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukäcs-Gesellschaft, Paderborn 1999, 75-79.
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davon aus, dass Körperselbstverhältnisse erst dann inhuman und damit zu beseitigen sind, wenn die Körperkapitalisierung grenzenlos wird und das Personsein des Menschen verschlingt, indem sein Körper nur noch bloßes Mittel in einer Bioindustrie wird, die den Eigenwertwertcharakter und damit die Würde des sich verwertenden Menschen und seines Körpers nicht mehr achtet. Das Versklavungstheorem benennt also die Grenze der Körperinstrumentalisierung und -Industrialisierung, die darin besteht, dass der Körper nicht mehr in seinem Eigenwert geachtet wird, indem er nicht nur unterdrückt, sondern regelrecht als bloßer Rohstoff in einem Verwertungsprozess verschlungen wird. Das Versklavungstheorem wendet sich damit gegen den potentiellen Körperkannibalismus der modernen Bioindustrie. Erst also wenn die Körperverwertung in eine totale Körperentwertung umschlägt, indem der Körper zum bloßen Mittel als Rohstoff wird, sollte man strenggenommen von Körperentfremdung sprechen, was natürlich nicht ausschließt, dass Abstufungen und Vorformen dieser Entfremdung schon auf der Ebene der Körpertechnologisierung und Körperkapitalisierung auftreten und einzudämmen oder möglichst zu beseitigen sind.
II. Die Zentralfrage für die Zukunft des Körpers in diesem Kontext ist, wie weit das Verfügungsrecht des Menschen über seinen Körper reicht. Wie weit darf und muss dieses Verfügungsrecht eingeschränkt werden, um die Bedingungen der Möglichkeit einer freien, mündigen Existenz dauerhaft zu garantieren und nicht zu beseitigen? Auch in Zukunft sollte sicher sein, dass der Athlet nicht bloßes Objekt des ,körpertechnologischen' Könnens seines Arztes werden kann. Dazu reicht allein die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit, die Wahrung des Rechtes der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und die Erträge seiner Leistungsfähigkeit nicht mehr aus, sondern auch die Eigenrechte des Körpers müssen bewahrt werden. Wie bisher in modernen Gesellschaften galt, dass der Mensch weder vererbt noch verkauft, noch verschenkt werden darf, dass er niemandes Eigentum, sondern sein eigenes Eigentum ist, so galt auch, dass niemand das Recht auf eines anderen Leib hat und auch niemand das willkürliche Recht hat, seinen eigenen Leib in rücksichtsloser Selbsttechnologisierung zu zerstören, da er hierdurch seine Freiheit dazu nutzt, die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit überhaupt aufzuheben. Wie aber die Einschränkung der Ausübung bestimmter Grundrechte möglich ist, um die durch eine uneingeschränkte Ausübung der Grundrechte mögliche Zerstörung der Rahmenbedingungen der Grundrechte zu verhindern, so kann auch die Einschränkung der Ausübung der Freiheit des einzelnen in Kauf genommen werden, um die Basis der Freiheit aller nicht zu gefährden. Dies bedeutet für einen gelungenen und fairen Körperumgang, dass das freie Körperverhältnis des einzelnen selbst durch übergreifende Werte beschränkt und gemäßigt werden kann, um die Kultur der freien Körperverhältnisse für alle nachhaltig zu garantieren. Die Freiheit in Bezug auf das Verhältnis zum eigenen Körper hört folglich dort auf, wo die Basis, die dem einzelnen dieses freie Körperverhältnis erst ermöglicht, durch den unmäßigen Gebrauch der Freiheit in Frage gestellt wird. Eine wesentliche Bedingung des freien und fairen Körperverhältnisses ist aber die Wahrung der Menschenrechte und, damit verbunden, die Wahrung der Würde des leiblichen Personseins. Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, dann ist es auch die Würde des Leibes, denn die ist Bedingung der Möglichkeit des Personseins. Die Anerkennung des Menschen als Person impliziert also die Anerkennung leiblicher Minimalbedingungen, ohne die die Person nicht existieren kann. Das aber bedeutet in unserem
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Kontext der Idee der Rechte des Körpers die Erweiterung der Anerkennung der körperlichen Integrität und Unverletzbarkeit. Denn zur Würde des Menschen gehört die Wahrung seiner Unverfügbarkeit. Das aber hat zur Konsequenz, dass die Leibhaftigkeit, die körperliche Unverfügbarkeit des Menschen, in gewissem Maße anerkannt werden muss. Und gerade darum geht es in der Idee der „Rechte des Körpers" wohl auch, aber eben nicht nur um die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit, sondern diese wird erweitert im Sinne der Wahrung der körperlichen Unverfügbarkeit. Mit der Anerkennung der prinzipiellen Unverfügbarkeit (und der daraus folgenden Unausdeutbarkeit) menschlicher Körperlichkeit haben wir einen Maßstab der Kritik biotechnologischer Machbarkeit in der Hand, der natürlich kulturalistisch und nicht dogmatisch-realistisch verstanden werden muss. Wie durch die Fortschritte der Medizin und der Biotechnologie die Gefahr der totalen Verfügungsgewalt über das Leben einzelner entstanden ist, so dass der Schutz des Einzelnen ein praktisches Problem erster Ordnung geworden ist, so haben diese Fortschritte auch einen neuen Machbarkeitswahn in Bezug auf den menschlichen Körper zur Folge. Dadurch ist der Schutz des Körpers des einzelnen vor selbstzerstörerischer Instrumentalisierung zum Zentralproblem unserer Körperkultur geworden. Doch darf deswegen nicht in paternalistischer Manier jeder risikovolle, experimentelle Körperumgang verboten werden, da man dann, strenggenommen, jedes Handeln untersagen müsste. Vielmehr muss man diejenigen Körperinstrumentalisierungen beschränken, die höchstwahrscheinlich katastrophale Folgen haben werden und bei denen die mögliche Selbststeigerung den Preis der Selbstvernichtung hat. Ein fairer und in diesem Sinne elementar vernünftiger Körperumgang hat daher das Maßverhältnis von Selbststeigerung und Selbsterhaltung, von Erlebnisintensivierung und reguliertem Körpererleben, das die Selbstmacht des Indivuduums auch in Bezug auf den eigenen Körper garantieren könnte, zum Gegenstand. Ein fairer Körperumgang meint also Körperselbstverhältnisse, die sowohl die Selbsterhaltung wie auch Selbstüberbietung nicht einfach (quantitativ) maximieren, sondern (qualitativ) optimieren und die Selbstbestimmung im Körperverhalten garantieren. Im Sinne der Wahrung der Selbstmacht, der Autonomie und der Souveränität kann das Individuum in diesem Spannungsfeld von Selbsterhaltung und Selbstüberbietung durchaus ein Interesse daran haben, durch ein es übergreifendes Recht bzw. durch es umgreifende Regeln in Bezug auf den eigenen Körper nicht nur vor der Gewalt anderer, sondern auch vor der eigenen Gewalt gegenüber seinem Körper geschützt zu werden. Die Freiheit des Körpergebrauchs schließt demzufolge Grenzen dieser Freiheit ein. Ein freier Körpergebrauch muss auch ein fairer Körperumgang sein. Wie die Fairness sich grundlegend an der Achtung der Würde des Anderen orientiert, so hat eine leibökologische Körperethik sich an der Achtung der Würde des Körpers zu orientieren. Ein .Greenpeace' der Körpertechnologisierung hätte daher die Wahrung der Rechte, des Eigenwertes des Körpers zu seiner obersten Handlungsnorm, die sehr wohl gewisser Kontrollrechte und Kontrollinstanzen bedürfen. Kriterium für einen leibökologischen, fairen Körperumgang könnte in diesem Kontext ein körpertechnologischer Imperativ sein: Handle so, dass du die verwendete Körperpraktik immer wieder wollen kannst und du den anderen und dir selbst niemals bloß Mittel, sondern immer auch Zweck bist. Die Idee eines fairen Körperumgangs wird hier durch die Verknüpfung des kategorischen Imperativs Kants und des hypothetischen Iterativs Nietzsches in einem starken Sinne als regulative ethische Idee gedeutet, die einer das Leben steigernden und das Leben erhaltenden, einer gemäßigten, Lebensdauer und Lebensqualität garantierenden Umgangsweise mit dem eigenen Körper entspricht. Wobei nur angemerkt sei, dass diese regulative Idee nicht bloß altruistisch im Sinne der Rücksichtnahme auf die Garantie generationenübergreifender Körperverhältnisse begründet ist, sondern wesentlich egoistisch im Sinne der Rücksichtnahme
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auf eigene Lebensinteressen, die allerdings nicht auf bloß quantitativ gefasste Überlebensinteressen reduziert werden dürfen. Vielmehr bezieht sich die Normativität des körpertechnologischen Imperativs auf die gemäßigten Selbstmachtsansprüche der Individuen und macht grundlegend geltend, dass ein Mensch (und sein Körper) niemals bloß als Mittel behandelt werden sollte, sondern immer auch als ein Wesen, das an sich selbst Zweck ist. Ein Körper sollte demzufolge nicht nur als ein instrumentalisierbares Ding für etwas behandelt werden, sondern auch als ein Anderes, das ein Eigensein ist und aus wohlverstandenem Interesse von uns durch uns respektiert werden sollte. Der Körper ist nicht nur ein Mittel für bestimmte Zwecke, sondern als Leib Selbstzweck; der Körper ist nicht nur ein benutzbares Werkzeug, das man arbeiten lässt und bearbeitet, sondern Leben, das leibt; der Körper ist nicht nur vernutzbarer Besitz, sondern Sein, das zu uns spricht, auch wenn wir seine Sprache nicht (oder immer noch ungenügend) verstehen, auf das man versuchen sollte zu hören. Auch für den Körper gilt also, dass Herrschaft nur dann dauerhaft gelingen kann, wenn man den Knecht in gewissen Maßen schont und ihn nicht tötet. Herrschaft kann nur dauerhaft erhalten und gesteigert werden, wenn auch die Möglichkeiten des Knechts erweitert werden, man ihm auch Freiheit, Selbständigkeit gewährt und darauf Rücksicht nimmt. Ebenfalls beachtet der körpertechnologische Imperativ die Einsicht, dass nicht jede Körperinstrumentalisierung schon an sich fragwürdig und negativ zu bewerten ist und dass demzufolge die Formen und Grade der Körperinstrumentalisierung zu problematisieren sind, will man ein menschliches Maß in den immer schon notwendig instrumenteilen Körperverhältnissen bewahren. Dazu gehört aber auch, entgegen dem alten Verdinglichungstheorem und der damit verbundenen Leibromantik, die Körperinstrumentalisierung nicht an sich paternalistisch zu entwerten, wie dies allzu oft im jetzigen Dopingdiskurs anzutreffen ist, was zu einer Diktatur über körperliche Bedürfnisse, Sehnsüchte und Praktiken führt, sondern auch den Eigenwert selbst , unnormaler' Körperpraktiken für das Individuum anzuerkennen und demzufolge den Körpergebrauch bis zu einer gewissen Grenze den Individuen selbst zu überlassen. Es den Individuen bis zu einer bestimmten Grenze selbst zu überlassen, welche Körpertechniken sie praktizieren wollen und welche nicht, sich auf ihre Urteilskraft und Wahlfähigkeit zu verlassen, schließt aber nicht aus, dass die erzwungene Verletzung der Würde des Menschen und seines Körpers trotzdem geächtet werden kann. Der hier formulierte körpertechnologische Imperativ ermöglicht auf der einen Seite einen Bioliberalismus und Biopluralismus in Bezug auf unsere Körperselbstverhältnisse, andererseits begrenzt er die mögliche Entgrenzung der Verwertung des Körpers des Individuums gegen das Individuum, in dem er eine selbstbestimmte Idee der ethischen Begrenzung der Körperverwertung enthält. Durch diese ethische Selbstbegrenzung der Körperverwertung sollen ein neues Solidaritätsverhältnis und eine neue Verantwortungsethik für die Natur, die wir selbst sind, den Leib, vom Individuum her möglich werden, durch die zugleich die Würde und Freiheit des Menschen gewahrt wird. Grundfrage eines derart selbstgewählten Körpergebrauchs ist, ob er Heteronomie oder Autonomie ermöglicht. Wenn die Selbstverwertung eine nachhaltige Selbstregierung ermöglicht, ist sie nach dieser Auffassung legitim, führt sie aber strategisch gesehen zur Selbstentwertung im Sinne von Selbstzerstörung, ist sie illegitim. Der körpertechnologische Imperativ - in Verbindung mit der Idee der Rechte des Körpers und der des common body5 - fungiert
Der Begriff des common body wurde m. W. von Gunter Gebauer in die Sportphilosophie und in die philosophische Anthropologie des Körpers eingeführt (vgl. Gunter Gebauer, Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002, 243ff., und ders., „Plädoyer für den Common Body", in: Barbara Ränsch-
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zusammengefasst im Versklavungstheorem als Maßstab einer Kritik der entgrenzten politischen Ökonomie der Körper und der damit verbundenen hemmungslosen Kapitalisierung des Leibes. Durch die Verknüpfung von Rechten des Körpers und körpertechnologischem Imperativ in der Idee eines fairen Körperumgangs könnte der Transkörper des Übermenschen, der höhere Leib bioökotechnologisch wirklich werden und zugleich wird die mögliche hemmungslose Kapitalisierung und Ausbeutung der Natur, die wir selbst sind, des Leibes, und die die Hauptressource der neuen biotechnologischen Moderne ist, korrigiert, gemäßigt, humanisiert. Zugleich scheint eine positive Umwendung der negativen Leibphilosophie (der Dialektik der Aufklärung) möglich, indem eine Körperethik begründet wird, die die technologische Umwertung der Leibes nicht nur negativistisch als Naturzerstörung, sondern positiv als Neuschaffung und Vollendung der Physis in ihrer Entwertung und Umwertung begreift. Der hier formulierte körpertechnologische Imperativ stellt eine alternative, individualistische, pragmatische und humane Utopie zur vorherrschenden Tendenz der Körperindustrialisierung, die sich bspw. im Doping zeigt, dar. Diese Utopie bezieht sich aber als pragmatische auf den Menschen als frei handelndes Wesen, das sich selbst bestimmt, das aus sich das macht, was es kann und soll. Dieser Pragmatismus schließt ein reflexives, autonomes Verhältnis zum eigenen Körperumgang ein. Ein solches autonomes und reflexives Körperverhältnis realisiert eine kritische Außenansicht auf das eigene Körperverhältnis. Es bedeutet sich zu fragen, ob ich das, was ich mit meinem Körper mache oder gemacht habe, immer wieder machen könnte, es bedeutet das gegenwärtige Körperverhalten, „das präsentische Tun aus der vollendeten Zukunft" zu betrachten und folglich zu prüfen, ob ich das, was ich jetzt tue, immer wieder tun kann und sollte, und sich zu fragen, was ich eigentlich und wirklich will.6 Solch ein körpertechnologischer Imperativ ist auf Grund seines pragmatischindividualistischen Ansatzes nur sehr eingeschränkt paternalistisch und institutionell zu verordnen, da er auf der Wahl des autonomen Individuums beruht, die allerdings selbst durch rechtliche und ethische Regulative befördert wird. Er berücksichtigt die Freiheit des Individuums in Bezug auf die Wahl der Körperselbstverhältnisse und zugleich berücksichtigt er die Erkenntnis, dass eine zwar positiv gemeinte paternalistische Körperpolitik, wie ζ. B. die gegenwärtige Dopingpolitik der Sportverbände, bloß repressiv erscheint und dadurch das mitproduziert, was sie vermeiden will, weil die Individuen nicht von sich aus das Gesollte realisieren und es folglich zwischen Dopern und Dopingpolizisten zu einem Wettlauf zwischen Hase und Igel kommt, der die Dopingspirale immer weiter nach oben schraubt.
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Trill, Manfred Lämmer (Hg.), Der „künstliche Mensch" - eine sportwissenschaftliche Perspektive, St. Augustin 2003). Ich nehme diese Idee von Gebauer auf, bin mir aber klar darüber, dass ich ihn entsprechend meinem Ansatz der „Rechte des Körpers" mit Inhalten auflade, die Gebauer möglicherweise als problematisch betrachten könnte. Mir geht es aber bei diesem Verfahren darum, diese zweifelsohne innovative Idee Gebauers weiterzuentwickeln und auszubauen, und das geht m. E. nur, wenn man sich, freilich kritisch, auf sie einlässt. Zu diesem Versuch siehe: Volker Caysa, Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt a. M./New York 2003, 63ff., und ders., „Die Grenzen der Körpertechnologisierung. Zur Weiterentwicklung der Idee des common body", in: Dialektik, 1, 2004. Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, „Selbstbildung, Selbstdisziplinierung, Selbstunterdrückung. Wer bin ich, wenn ich meinen Körper unterdrücke?" (unveröff. Manuskript, 2004, 21).
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Vom vernünftigen Ich Überlegungen zur identitätsstiftenden Rolle der Rationalität im Anschluss an Jean-Paul Sartre
„Sapere aude!" so hieß es vor etwas mehr als 220 Jahren mit kraftvollem Ton in Kants programmatischem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1 Wer kennt ihn nicht, den Schlachtruf der Aufklärung gegen die Bollwerke der menschlichen Beschränktheiten? „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" 2 Und während die Botschaft dieses Aufrufs nichts an Eindeutigkeit vermissen lässt, bleibt doch merkwürdig ungeklärt, an welche Form der Autonomiemotivation dieser Aufruf überhaupt appelliert - ein Aspekt, der indes für den Erfolg oder Misserfolg der Aufklärung von entscheidender Bedeutung ist und der im telos derselben, dem vernunftgeleiteten Leben, offenbar keine der Popularität fähige Letztbegründung gefunden hat. Mag man nun im historischen Rückblick und nicht ganz ohne Berechtigung urteilen, die Bemühungen der Aufklärung seien im Sande verlaufen, wir verharrten trotz hartnäckiger Versuche immer noch - optimistisch gesprochen - in einem „Zeitalter der Aufklärung", fernab jedenfalls eines „aufgeklärten Zeitalters", so hat sich zumindest im philosophischen Diskurs trotz allem die Entelechie hartnäckig gehalten, die spätestens seit Aristoteles' Kennzeichnung des Menschen als „zoon logon echon" durchs Abendland geistert: Der Gedanke, dass das Hauptcharakteristikum des Menschen im Besitz des Vernunftvermögens liege und dass in diesem bereits ein Auftrag, ja das telos eines vernünftigen, mindestens aber eines vernunftgemäßen Lebens stecke. Im Seinsverständnis des alltäglichen Menschenverstandes manifestiert sich dieses telos darin, dass die wesentliche Qualität menschlichen Seins nach wie vor in dessen Vernünftigkeit gesehen wird. So ist es ein beliebtes Verfahren der Selbsterhöhung, sich ausgiebig über die Dummheit anderer zu ereifern, während doch zumindest eine Person stets von diesem vernichtenden Urteil verschont bleibt, die das Signum des Menschseins aufrecht zu erhalten verspricht: das vernünftige Ich. Während also der Rest der Menschheit in den Sümpfen der Dummheit dümpelt, nimmt sich doch ein nicht geringer Anteil eben derselben gerne das Recht, sich vernünftiger als diese zu heißen, indem man die geistigen Beschränktheiten der Anderen erkannt zu haben glaubt und sich der vermeintlichen Originalität dieser Einschätzung in frivoler Hypertrophie des eigenen Urteilsvermögens erfreut. Berücksichtigt man das Faktum dieser beliebten Selbstzuschreibung, so müsste zumindest dem Selbstbild der Summe aller Subjekte nach die Menschheit als stolzes Gemälde der Vernunft, das Zeitalter der Aufklärung als nicht anders
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Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", in: ders., Ausgewählte kleine Hamburg 1965, 1. Ebd.
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zu denkender Alltag erscheinen - gäbe es nicht die offensichtliche Einschränkung, dass Selbstzuschreibungen in ihrem Objektivitätsanspruch nur bedingt zulässige, weil beliebig und willkürlich vom Betroffenen herstellbare Urteile darstellen. Nun stellt sich vor dem Hintergrund der obigen Einschätzungen der alltäglichen, freilich nicht gerade tief greifenden Reflexion über sich selbst und die Anderen eine ganze Reihe von Fragen, nämlich: Wie konstituiert sich überhaupt ein Ich?, wie konstruiert es sich als vernünftiges Ich?, warum konstruiert es sich als vernünftiges Ich? welche Rolle nimmt die soziale Bindung in der Konstituierung einer vernunfthaften Identität ein?, und schließlich die umgreifende Frage: kann aus der Beschäftigung mit diesen anthropo-ontologischen Themengebieten eine Antwort auf motivatorische Hintergründe des Projekts der Aufklärung entwickelt werden, die dem Ziel des vernunftgeleiteten Lebens vorgelagert sind oder mit diesem notwendigerweise korrespondieren? Ich möchte in meinen Beitrag den Versuch unternehmen, eine strukturhermeneutische, weil die anthropo-ontologischen Grundstrukturen menschlichen Seins funktional auslegende, Antwort auf die erwähnten Fragen zu entwickeln, indem ich eine Analyse der Selbstkonstruktion des vernünftigen Ichs vornehme und diese auf die Frage nach der Rolle der Rationalität für die Herausbildung kultureller Identität zuspitze. Dabei gehe ich vor allem von Gedanken aus, die Jean-Paul Sartre in Die Transzendenz des Ego [La transcendence de l'ego]3 und Das Sein und das Nichts [L'etre et le neant]4 dargelegt hat und erweitere diese um eigene Überlegungen.
Die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins Bevor ich aber mit meinen Überlegungen zum Ego beginne, bedarf es einer ebenfalls an Sartre angelehnten, aber erweiterten Differenzierung verschiedener Bewusstseinsebenen, vor deren Hintergrund die strukturellen Mechanismen der Identitätsbildung deutlich werden können. Das Verständnis von Bewusstsein ist dabei stark an dem Husserlschen orientiert, insofern auch nach Sartre Bewusstsein stets Bewusstsein von etwas, also intentional und synthetisch ist. Ein Bewusstsein als Leerform, dem dann und wann etwas begegnet, gibt es diesem phänomenologischen Grundgedanken zufolge nicht, sondern Bewusstsein ist stets als Vereinigung von Mensch und Begegnendem im Erlebnis, d. h. Phänomen, zu verstehen. Die klassische Subjekt-Objekt-Spaltung ist demnach nichts als eine illegitime Trennung von faktisch stets phänomenal Verbundenem, die erst durch das reflektierende Bewusstsein im Erkenntnisakt vollzogen wird. So ist für Sartre der Mensch zunächst der Ort, an dem die Dinge sich zeigen, und sie zeigen sich dem Bewusstsein zunächst im Modus des „präreflexiven", bzw. „unreflektierten" Bewusstseins, 5 also auf einer Bewusstseinsebene, auf der noch kein Sichzusichselbstverhalten des Bewusstseins stattfindet, sondern der Mensch rein das ist, was sich an ihm manifestiert, bspw. Schmerz, Lust, Freude, kurz: die phänomenale Manifestation des Zusammenspiels eines jeweiligen Begegnungsgeschehens, das sich aus
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Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego: Philosophische Essays 1931-1939, übersetzt von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener, Reinbek 4 1997,39-96. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontotogie, hg. v. Traugott König, übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek 1993. Sartre verwendet in La transcendence de l'ego noch den Begriff des „unreflektierten Bewusstseins" [conscience irreflechie], während in L'etre et le neant vom „präreflexiven cogito" [cogito prereßexif] die Rede ist.
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einer Vielzahl von miteinander korrespondierenden Wahrnehmungen, Erinnerungen und Entwürfen zusammensetzt und sich in Bildern und Stimmungen manifestiert. So ist der Mensch im reinen Modus des präreflexiven Bewusstseins das Seinsphänomen [phenomene d'etre]. Er ist der Schmerz, das diffuse Gefühl, die Erfülltheit, die Schönheit des Erblickten. Er steht also durch die Natur seines Seins bewusstseinsmäßig gerade nicht außerhalb des Beobachteten, sondern er ist das Beobachtete. So lässt sich das Bewusstsein niemals jenseits seiner Inhalte bestimmen, da es seine Inhalte ist. Während das Bewusstsein auf der Ebene des präreflexiven Bewusstseins mit dem Seinsphänomen identisch ist, nimmt das reflektierende Bewusstsein sich selbst gegenüber in der Retention 6 eine exzentrische Position ein. Unabhängig davon, ob wir uns in Reflexionen über uns ,Äußerliches' oder in der Selbstreflexion bewegen, kann sich das reflektierende, vergegenständlichende Bewusstsein nur auf das beziehen, was es als Phänomen an sich selbst vorfindet. Die Gegenstände und auch die „absoluten Gegebenheiten" 7 eines jeden Bewusstseinsakts sind folglich nicht die Dinge an sich, sondern die Inhalte, bzw. Phänomene des präreflexiven Bewusstseins. 8 Deshalb ist es nach Sartre „der Existenztyp des Bewußtseins [...], Bewußtsein von sich [conscience de SOJ] zu sein." 9 Aus diesem Zusammenspiel haben wir bereits zwei Ebenen des Bewusstseins gewonnen. Zum einen die des präreflexiven Bewusstseins, das kein Bewusstsein von sich hat, sondern lediglich die phänomenale Manifestation des Begegnungsgeschehens ist, und zum anderen eine reflektierende, die das präreflexive Bewusstsein im Reflexionsakt zum Gegenstand seiner Erkenntnisse und Einsichten machen kann. 10 Da in dieser Unterscheidung jedoch eine insbesondere kulturphilosophisch relevante Ebene fehlt, nämlich die Ebene eines „unreflektierten Reflexionsakts ohne Ich", 11 der sich ohne einen kognitiv-reflektierenden Akt auf das an sich vorgefundene Phänomen richtet, möchte ich diese angedeutete, aber von Sartre nicht eigens benannte Bewusstseinsebene die Ebene des ,,reflexiven Bewusstseins' nennen. 12 Als
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Jedes Jetzt der Retention ist für Husserl Retention von einem Nicht-Jetzt, von einem Eben-Gewesenen. Und diesem unmittelbar vergangenen Erlebnis, das aber in der Retention dennoch als voll anwesendes, unzweifelhaftes Erlebnis erfasst wird, muss den Rang der absoluten Gegebenheit zugestanden werden. Die Anwesenheit des unmittelbar Vergangenen in der Retention ist für Husserl diejenige Transzendenz, die wir nicht umgehen können, da das Jetzt der phänomenologischen Erschauung der ewig fliehende, niemals fixierbare Grenzpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist (vgl. Edmund Husserl, Grundprobleme der Phänomenologie: 1910111, Hamburg 2 1992, 64). 7 Vgl. ebd., 63. g In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was als Gegebenheit der phänomenologischen Betrachtung gelten kann. Denn wenn präreflexives, reflexives und reflektierendes Bewusstsein lediglich verschiedene Modi ein- und desselben Bewusstseins sind, so muss die „Retention" als Quelle der „absoluten Gegebenheiten" anerkannt werden, wie Husserl betont (Edmund Husserl, Grundprobleme der Phänomenologie, 66) Das reflektierende Bewusstsein ist somit berechnend-rationales Verhalten zu dem, was es selbst im Modus des präreflexiven Bewusstseins war und was in der Retention als Gewesenes noch so stark präsent ist, dass es als absolute, d. h. zweifelsfreie Gegebenheit gelten kann. Jean-Paul Sartre, Transzendenz, 45.
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Für Husserl wäre dieser Selbstbezug des Bewusstseins zu seinen Erscheinungen allerdings nicht die Erfahrung, also das „Haben der Erscheinung", sondern die Erscheinung selbst, da die Erfahrung einen Selbstbezug voraussetzt, der erst auf der Ebene dessen stattfindet, was ich das .reflexive Bewusstsein' nenne. Vgl. dazu: Edmund Husserl, Grundprobleme, 27. Vgl. Jean-Paul Sartre, Transzendenz, 54. Sartre selbst verwendet die Begriffe „reflexives" und „reflektierendes Bewusstsein" synonym. Da auch im „unreflektierten Reflexionsakt" ein verstehend-entwerfendes Sichzusichselbstverhalten stattfindet, halte ich
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Mittleres zwischen präreflexivem und reflektierendem Bewusstsein stellt das reflexive Bewusstsein eine sich in Bezug zum präreflexiven Bewusstsein setzende, verstehende und Entwürfe 13 bildende Instanz dar, die unsere Erfahrungen und unwillkürlichen Entwürfe in einem reflexiven, aber nicht reflektierenden, Selbstbezug hervorbringt. Verstehen und Entwurf sind im reflexiven Bewusstsein gleichursprünglich, denn das primäre Entwerfen besteht nicht darin, dass sich das reflektierende Bewusstsein eine Verhaltensweise oder einen Entwurf als Antwort auf das an sich verwiesene Seinsphänomen berechnend ,überlegt', sondern das reflexive Bewusstsein hat je schon verstehend eine Seinsmöglichkeit in Form eines Entwurfs erschlossen, die sich an eigenen und mitgeteilten Erfahrungen oder an sozialisatorisch erworbenem Wissen orientiert. Demgegenüber lässt sich das reflektierende Bewusstsein verstehen als das sich in Subjekt-Objekt-Spaltung vollziehende Denken, das ich von einer exzentrischen Position14 mir und Anderem gegenüber leiste. Wir haben es also mit drei Modi des Bewusstseins zu tun: dem präreflexiven Bewusstsein, in welchem sich das Zusammenspiel eines Begegnungsgeschehens phänomenal manifestiert, dem reflexiven Bewusstsein, das diese Phänomene in der Herausbildung von Erfahrungen interpretiert und unwillkürliche Entwürfe als Reaktionen darauf ausbildet, und schließlich dem reflektierenden Bewusstsein, das ebenfalls verstehendentwerfend ist, aber auf eine berechnende, gleichsam exzentrische Weise einer rational operierenden Außenperspektive, die sich und Anderes von einem exzentrischen Standpunkt aus verobjektivieren und berechnend Entwürfe vollziehen kann. Allerdings darf diese Unterscheidung der Bewusstseinsebenen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die hier beschriebenen Ebenen nur verschiedene Modi des Bewusstseins als Modi intentionaler Beziehungen darstellen. Die Unterschiede ergeben sich durch die Verschiedenartigkeit der Bezogenheit des Menschen auf das Begegnende.
Die Konstituierung des Ichs Wie kommt es nun zur Herausbildung eines Ichs, das als Kohärenz und Permanenz einer Person, als Ich oder gar als vernünftiges Ich vorgestellt wird? Eine denkbare Antwort bestünde darin, zu behaupten, dass das Ich aus ,Selbsterfahrungen' bestehe, die im Verknüpfungsakt von individueller Gewesenheit und ebensolcher Zukünftigkeit in der Kontinuität herstellenden Wahl von Handlungsoptionen vollzogen werden. Aber sofort kommen berechtigte Zweifel auf, denn die angesprochene Erfahrung des Selbst im denkenden Handeln, die wir mit dem Ich in Verbindung bringen möchten, kann als Erlebnis nur augenblickshaft sein. Offenbar lässt sich das Ich nicht auf der Basis des reflexiven Bewusstseins als verste-
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den Begriff des reflexiven Bewusstseins für geeignet, terminologisch eine Zwischenebene zwischen präreflexivem und reflektierendem Bewusstsein einzuziehen. „Verstehen" und „Entwurf' sind dabei so zu verstehen, dass das Verstehen nicht als kognitiver, sondern vielmehr als intuitiver Akt des Erschließens der Bedeutung des Begegnenden vollzogen wird. Mit „Entwurf" ist femer nicht ein fernes Ziel gemeint, das der Mensch sich berechnend setzt, sondern eine in Situation sich zeigende oder vom Bewusstsein in diese Situation gebrachte Seinsmöglichkeit. .Exzentrisch' ist diese Positionalität, da sie sich nicht auf sich als Körpereinheit bezieht wie die „zentrische Positionalität", sondern gleichsam eine Außenperspektive ist, von der aus sich auch die eigenen psychischen Phänomene fokussieren lassen. Die Begriffe von „zentrischer" und „exzentrischer" Positionalität wurden v. a. von Helmuth Plessner zu großer begrifflicher und operativer Klarheit gebracht (vgl. Helmuth Plessner, Mit Anderen Augen: Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 2000,13ff.).
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hend-entwerfendes, selbsthaftes Verknüpfungsphänomen von früherer Erfahrung, gesetztem Entwurf und Begegnungsgeschehen erklären, denn dieses synthetisierende Selbst ist nur als und im Verknüpfungsakt, es erscheint in seinen Akten trotz des Erlebnisses eines .Selbst' keine objekthafte Gestalt als Einheit und Kontinuität einer Person. Die Schwierigkeit einer Verortung des Ichs im Bewusstsein weitet sich aus, wenn wir Bewusstsein als stets inhaltlich bestimmten synthetisierenden Akt verstehen, was nichts anderes heißt, als dass es in keinem seiner Modi die Permanenz eines Ichs aufweist, da es nur als in etwas engagiertes Bewusstsein existiert und daher kein vom Begegnungsgeschehen unabhängiges Sein besitzt. Vielmehr müssen wir annehmen, dass das Ich als Person komplett vom Bewusstsein unterschieden werden muss - eine These, die Sartre durch die Unterscheidung von „Für-sich-sein" [etre pour soi] und An-sich-sein [etre en so/] zu verdeutlichen sucht, denn das An-sich-sein ist für Sartre ein Seiendes, das nichts anderes ist als das, was es ist, das also keine Selbstbezüglichkeit, kein Bewusstsein, keine Transzendenz besitzt. Letzteres gilt auch für das Ich: Seine Permanenz spricht dagegen, ihm die Spontaneität des Bewusstseins zuzuschreiben, es gehört in den Bereich des An-sich-seienden. Folglich kann das Ich selbst als diffus bleibende Einheit nicht als der Eigentümer des Bewusstseins verstanden werden, sondern im Gegenteil: es ist das Objekt des Bewusstseins. 15 Und genau dies behauptet Sartre, wenn er schreibt: [...] das Ego ist ein durch das reflexive [hier: reflektierende - Ο. I.] Bewußtsein aufgefaßtes, aber auch konstituiertes Objekt. Es ist ein virtueller Einheitskern, und das Bewußtsein konstituiert es in umgekehrter Richtung zu dem, was der realen Produktion folgt: was realiter primär ist, das sind die Bewußtseine, über die sich die Zustände konstituieren und dann, über diese, das Ego. Da aber die Reihenfolge durch ein Bewußtsein umgekehrt wird [...], sind die Bewußtseine als etwas gegeben, was aus den Zuständen hervorgeht [emanant], und die Zustände als etwas, was durch das Ego produziert wird. Daraus folgt, daß das Bewußtsein seine eigene Spontaneität in das Ego-Objekt projiziert, um ihm die schöpferische Macht zu verleihen, die für es absolut notwendig ist.
Somit ist klar, dass Sartre das Ich bzw. Ego 17 als Objekt ansieht, in das das Bewusstsein seine eigene Spontaneität projiziert, um sich als einen auf Dauer gestellten, raum-zeitlich gesehen transzendenten Bezugspunkt des Seienden zu konstituieren. Das Ego ist folglich ein virtueller, kein realer Einheitskern. Primär an unserem Weltbezug ist also nicht ein urteilendes Subjekt, dem ein Objekt begegnet, sondern primär ist ein Begegnungsgeschehen (Sein), das sich im menschlichen präreflexiven Bewusstsein manifestiert (Seinsphänomen) und auf diese Weise Eingang in unser Selbstverhältnis findet (Erfahrung). Ich bin also nicht zuerst ein Ich, dem dann irgend etwas begegnet, sondern ich bin zunächst ein Ort ohne Ichbewusstsein, an dem sich etwas zeigt. Auch das reflexive Bewusstsein in unserem Verständnis besitzt noch kein Ich, obwohl es sich zu Vergangenheiten seiner selbst verhält 18 und somit
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Vgl. Jean-Paul Sartre, Transzendenz, 85. Ebd., 74. Die verschiedenen Bedeutungen und Tragweiten des Begriffs des ,Ich' können und sollen in diesem Beitrag nicht ausführlich erörtert werden. Von Ich als Person und Ego im Sartreschen Sinne wird - obwohl diese nicht in jeder Beziehung übereinstimmen - insofern und deshalb in engem Zusammenhang gesprochen, als beides transzendente Objekte sind und sich das Objekt des personalen Ichs strukturell auf das Sartresche Ego zurückführen lässt. Zudem verwendet Sartre selbst den Begriff des Ego teilweise in personalem Sinne insofern, als er es gerade nicht nur als Konglomerat gewesener Zustände und Handlungen, sondern auch als „virtuellen Einheitskern" auslegt. 18 „Vergangenheit seiner selbst" wird hier verstanden im Sinne eines reinen Bewusstseinsstroms ohne 16
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bereits unwillkürlich und ohne Begriff ein transzendentes Objekt setzt. Erst auf der Ebene des reflektierenden Bewusstseins erscheint das Ich als Einheitskern meines Seins. Nun ist allerdings das Ego, von dem Sartre spricht, kein Konstrukt im Sinne eines überlegten Modells, sondern es ist, sofern es nicht als Projektion herhalten muss, in seinem Kern die „transzendente Einheit der Zustände und der Handlungen", 19 die die Gewesenheit des Menschen als An-sich-Sein ausmachen. Auch wenn Sartre zwischen aktivem [Je] und passivem [Moi] Ich unterscheidet, 20 so lässt sich doch in Bezug auf die eingangs erwähnten Überlegungen davon sprechen, dass das Subjekt der Vernünftigkeit kein Konglomerat von vergangenen Zuständen und Handlungen darstellt, sondern dass dieses Subjekt vielmehr bezogen auf die Bewusstseinsakte Projektion und bezogen auf die Person Konstruktion ist. 21 Vernünftigkeit ist kein Zustand, sondern eine Qualität, die das reflektierende Bewusstsein seinen eigenen Akten von einer exzentrischen Position aus zuschreibt und auf sein Ich als vermeintlich sich durchhaltende Subjektivität projiziert. Das vernünftige Ich, das sich durch eine Selbstzuschreibung so prädiziert, ist also nicht das transzendente Ego, von dem Sartre im Sinne von faktischen Gewesenheiten spricht - es wird lediglich analog zu ihm als virtueller Einheitskern der Person gesetzt.
Ego und Selbstbild Wir wollen an dieser Stelle nicht allen Nuancen der Sartreschen Argumentation folgen. Statt dessen möchte ich einige Gedanken Sartres zum Ego aufgreifen und sie insbesondere im Hinblick auf die Frage nach den Bedingungen personaler und kultureller Identität weiterentwickeln, bzw. wo nötig, überwinden. Wichtig in Bezug auf Sartres Ausführungen ist zunächst, darauf hinzuweisen, dass wir zwischen dem Ego als Konglomerat menschlicher Gewesenheiten, also vergangener Handlungen und Zustände, und einem Ich als Konstrukt des reflektierenden Bewusstseins unterscheiden müssen. Das Ego ist das transzendente Objekt, das als Bezugspunkt des reflexiven, aber auch des reflektierenden Bewusstseins dient. Allerdings bleibt es Sartre zufolge der Selbstreflexion opak, ist es zu intim, als dass wir ihm gegenüber einen äußeren Standpunkt einnehmen könnten, der es zu einer Einheit der Person verschweißen würde. Das Bestreben, aus sich eine Person zu machen, sich also nach dem Modell dessen zu verstehen, wie wir selbst Andere deuten, bleibt trotz der Undurchsichtigkeit des Ego bestehen, da der Andere stets als Einheit einer Person verstanden und diese Einheit auf das eigene Ich projiziert wird. So zeigt sich im Versuch der Selbsterkenntnis die Angewiesenheit auf eine als repräsentativ urteilend eingeschätzte Außenperspektive, die selbst dann bestehen bleibt, wenn ich den Versuch unternehme, mein Sein durch die Rekonstruktion von Grundentwürfen in einen strukturellen Zusammenhang zu bringen. 22 Womit wir allerdings viel häufiger operieren als
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personale Qualifizierung. Jean-Paul Sartre, Transzendenz, 66. Vgl. ebd., 39. In L'etre et le neant spricht Sartre in Bezug auf „Je" und „Moi" von einer „zweifachen grammatischen Form des Ich", die unsere Person als transzendente psychische Einheit darstelle (vgl. Jean-Paul Sartre, Sein und Nichts, 307). Sartre spricht von „Grundentwürfen" in dem Sinne, dass es Entwürfe in meinem Sein gibt, die alle anderen Entwürfe fundieren, die aber selbst keine konkrete, sich im Lebensvollzug situativ zeigende Wirklichkeit besitzen. Diese Grundentwürfe sind es, die ihm zufolge den Sinn unseres Seins wesentlich bestimmen und die
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mit unseren tatsächlichen Gewesenheiten, das ist das, was wir von einer projizierten Fremdperspektive aus als objekthafte Gestalt unseres Seins konstruieren, unser Selbstbild. Ein Selbstbild kann als Konstrukt des reflektierenden Bewusstseins sogar recht unabhängig von unseren tatsächlichen Gewesenheiten gebildet werden. So kann ich mich für einen begabten Musiker halten, während der Rest der Welt sich nur aus Höflichkeit eines vernichtenden Urteils über meine Fähigkeiten enthält. Zweifellos haben wir es also im Hinblick auf die eingangs erwähnte Selbstzuschreibung als „vernünftiges Ich" mit einer Konstruktion zu tun, die mein gewolltes Selbstbild mit einer Qualität versieht, nicht aber mit einem Ego, das sich dem Menschen für gewöhnlich in seinen strukturellen Zusammenhängen nicht als Gesamtgestalt erschließt. Auch wenn das Selbstbild insofern willkürlich erscheint, ist ohne ein solches eine qualitative Zuschreibung, die ja die Person in ihrem Wesen charakterisieren soll, gar nicht möglich. Denn um mich selbst mit dem umfassenden Charakteristikum der Vernünftigkeit betiteln und schmücken zu können, muss mir zuvor eine Entscheidungs- und Handlungsgestalt meiner selbst vorstellig sein - ich muss also bereits ein relativ kohärentes Selbstbild konstruiert haben, um mir Qualitäten zuschreiben zu können. Nun stellt sich freilich die zu Anfang des Beitrags erwähnte Frage, woher denn, so der Mensch ein aufgeklärter sein soll, die Motivation für die Konstitution des vernünftigen Ich kommen mag. Denn der Satz „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" ist zweifelsohne ein Appell, den Verstand zum Bezugszentrum allen Denkens und Handelns zu erheben, was die Konstituierung eines Bildes vom vernünftigen, weil verstandesgebrauchenden 23 Ich unerlässlich erscheinen lässt. Der Aufruf Kants 24 hat aber darüber hinaus noch ein deutlich vergemeinschaftendes Element: er ruft, wenngleich nur implizit, zur Konstituierung einer Gemeinschaft der Vernünftigen, mindestens jedenfalls der Verstandesgebrauchenden auf, da das als Wert Gesetzte, die Autonomie des Verstandesgebrauchs, einer kulturellen Affirmation bedarf, um als solcher gelten zu dürfen. 25
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sich mittels einer „existentiellen Psychoanalyse" aufweisen lassen sollen. Vgl. dazu Jean-Paul Sartre, Sein und Nichts, 956ff. Da in der Selbstzuschreibung die qualitative Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft eine äußerst geringe Trennschärfe aufweist und selbst Kant in seinem Appell nicht von Vernunft, sondern von Verstand spricht, werden die beiden Begriffe hier nicht streng unterschieden, sondern als im gesetzten Kontext qualitativ gleichrangig verstanden. Streng genommen handelt es sich dabei nicht um Kants eigenen Aufruf, sondern um einen, den er für die Aufklärung als repräsentativ ansieht. Da er sich allerdings zweifellos selbst als Aufklärer verstanden hat, bezieht dies ihn wieder ein, so dass er als diesen Aufruf vertretend selten kann und muss. Kants Appell lässt sich motivatorisch analog zu dem zunächst paradox anmutenden Ausspruch lesen, den Friedrich Nietzsche den Zarathustra vorbringen lässt: „Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige, - nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen - und dorthin, wo ich will. [...] Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!" Kants Aufruf läuft - wie das Selbstgespräch Zarathustras - auf eine .Gemeinschaft der autonomen, bzw. der „freien Geister" hinaus, die freilich keineswegs ohne die identitäts- und sinngenerierenden Kräfte menschlicher Kultur auskommt. (Vgl. dazu: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch fiir Alle und Keinen, in: ders. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 7 2000, 25; Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fiir freie Geister, in: ders., Sämtliche Werke, KSA 2, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, 15ff.).
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Die Motivation zur Vergemeinschaftung Ich möchte in Berücksichtigung des oben Gesagten im Folgenden den Blick darauf wenden, welchen kulturellen Stellenwert der alltägliche, durchschnittliche Verstandesgebrauch einnimmt und woher das Ideal des vernünftigen Ich 26 überhaupt seinen Anlass nimmt. Für diese Analyse liefert uns Sartre eine dezidiert phänomenologische Perspektive auf die Grundlagen der Sozialität, die im Folgenden aufgegriffen und weiterentwickelt werden soll. Grundsätzlich - und dies spielt eine große Rolle in der strukturellen Erklärung der Bedeutung des Anderen für die Herausbildung von Identität - , unterscheidet Sartre zwischen einem „Für-sich-sein", das die Form ist, wie das Bewusstsein sich aktiv zu sich selbst und Anderem verhält, und einem „Für-Andere-sein", das die Weise darstellt, wie der Mensch von Anderen verobjektiviert wird. Dabei zeigt sich eine Analogie in dem Verhältnis, das ich in der Selbstreflexion mir selbst gegenüber einnehme und dem Verhältnis, das der Andere mir gegenüber einnimmt: beide vollziehen eine Vergegenständlichung meines Seins, beide fixieren es als ein An-sich-sein, nicht als inneres Erlebnis. Dadurch aber, dass wir uns selbst gegenüber lediglich eine projizierte, keine reale Außenperspektive einnehmen können, wird unsere Selbstzuschreibung intuitiv gegenüber dem Urteil eines als repräsentative Urteilsinstanz anerkannten Anderen in der Regel als schwächer, mindestens als fraglich, erschlossen. Der Andere besitzt eine Perspektive mir gegenüber, die ich selbst nicht einzunehmen vermag, und kann dadurch Aspekte meines Seins in Besitz nehmen, die ich als zu mir gehörig ansehen muss, ohne über sie verfügen zu können. Da aber die projizierte Außenperspektive, die das reflektierende Bewusstsein in der Selbstreflexion einnimmt, kein bewussstseinsmäßiges Erlebnis eines Ichs spiegelt, sondern dessen Vergegenständlichung darstellt, heißt jedes erkenntnismäßige Sich-in-Bezug-zu-sichselbst-Setzen zwangsläufig, „sich selbst gegenüber den Standpunkt Anderer [einzunehmen Ο. I.], das heißt einen zwangsläufig falschen Standpunkt." 27 Weiter bedeutet dies aber, dass, so der projizierten Außenperspektive des reflektierenden Bewusstseins mehr Gewicht eingeräumt wird als einem intuitiven, nicht explizierbaren Zugang, die Perspektive des Anderen maßgeblich über meine objektive Gestalt, mein An-sich-sein, also auch meinen Status als Vernunftmensch, entscheidet - sei diese eine projizierte oder reale Außenperspektive. Wir können also festhalten, dass das auf Strukturzusammenhänge des Bewusstseins rückführbare Primat des reflektierenden Bewusstseins dazu fiihrt, dass ich selbst die Wahrheit meines Seins auf eine inter subjektive, d. h. objektive Ebene verlagere, über die ich nicht mehr allein bestimmen kann und durch die ich mich bewusstseinsstrukturell unausweichlich in eine Abhängigkeit von als repräsentativ verstandenen Anderen setze. Dadurch, dass ich mich selbst nur von einer projizierten Außenperspektive aus in den Blick nehmen kann, diese jedoch intuitiv als ungenügend erschlossen wird, habe ich implizit die Urteile über mein Sein von einer realen Außenperspektive abhängig gemacht. Denn ich nehme an mir
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Die Verwendung des Begriffs des vernünftigen Ichs' ist hier keineswegs an einer Vernünftigkeit orientiert, wie Kant sie begreift. Vielmehr soll der Titel vernünftiges Ich' den alltäglichen Gebrauch dieser Zuschreibung spiegeln, der eine Anerkennung des Anderen über seine Fähigkeiten als rationaler Apparat hinaus markiert. Das ,vemünftige Ich' betrifft als Zuschreibung die ganze Person, ein ,Verstandes-Ich' aber würde nur eine Funktion betreffen, die das Phänomen der sozialen Anerkennung, in der Menschen über Funktionen als Personen anerkannt werden, nicht angemessen, weil reduktiv, zum Ausdruck bringen könnte. Jean-Paul Sartre, Transzendenz, 78.
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dasjenige in den Blick, was auch der Andere in den Blick nehmen kann und erschließe dabei doch intuitiv, dass die Perspektive, die ich in der Selbstreflexion mir selbst gegenüber einnehme, eine bewusstseinsimmanente, also nur eine projizierte und deshalb defizitäre Außenperspektive ist, so dass die wirklich valide Urteilsinstanz, die ,ideale', weil angestrebte Urteilsinstanz über mein Wesen der alle momentan validen Urteile über mich verkörpernde, anerkannte Andere ist. 28 Da erst eine solcherart festgestellte Objektheit mein Wesen als Ansich erfassbar macht, besitzt der Andere Sartre zufolge ein Geheimnis: „das Geheimnis dessen, was ich bin. Er macht mich sein, und eben dadurch besitzt er mich, und dieses Besitzen ist nichts Anderes als das Bewusstsein, mich zu besitzen." 29 Vor diesem Hintergrund deutet Sartre nun jegliche soziale Interaktion: „Das ist der Ursprung meiner konkreten Bezüge zu Anderen: sie werden völlig von meinen Haltungen gegenüber dem Objekt beherrscht, das ich für Andere bin." 30 Dabei skizziert Sartre zwei entgegengesetzte Haltungen: einmal ist es möglich, das Besessenwerden durch den Anderen dadurch aufzulösen, dass ich ihn selbst anblicke und dadurch ihn ebenfalls zum Objekt erstarren lasse, wodurch „die Objektheit des Andern meine Objektivität für den Andern zerstört." 31 Oder aber es wird der Versuch unternommen, den Anderen, insofern seine Freiheit Grund meines An-sichs ist, zu assimilieren, mich ihrer zu bemächtigen, ohne ihr ihren Freiheitscharakter zu nehmen. Letzteres stellt den Versuch dar, mir mein Für-Andere-Sein durch den Anderen in Kommunikation zuspielen zu lassen und auf diese Weise das Für-AndereSein, das im Besitz des Anderen ist, in meinen Besitz, d. h. meinen Verfügungsbereich, zu bringen.
Kultur, Sinn und Identität Das Bestreben, den als Urteilsinstanz anerkannten Anderen als alle validen Urteilsinstanzen über mein Sein verkörpernden Menschen zum Konstituens meines objektiven Wesens zu machen, bildet diesem Gedanken zufolge nun die anthropo-ontologische Grundlage jeder kulturellen Vergemeinschaftung. Vor dem Hintergrund der oben genannten Strukturen lässt sich dabei die kulturelle Vergemeinschaftung als Versuch deuten, der Abhängigkeit unserer Wesensbestimmung vom Anderen durch die Institutionalisierung kultureller Anerkennungsmechanismen zu begegnen, um eine relative Berechenbarkeit dessen, was ich objektiv werden kann, zu gewährleisten. Der Begriff der ,Kultur' wird dementsprechend hier auch nicht im traditionellen, Herder'schen Sinne einer „Volkskultur" 32 verstanden, der eine falsche Homogenität und Kontinuität von Kultur suggeriert. Vielmehr verstehe ich Kultur als geistiges, vergemeinschaftendes Partizipationsgefüge, das soziale Bindungs- und Anerkennungsmechanismen sowie
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In der Regel gibt es für uns nicht einen anerkannten Anderen, dem alle repräsentativen Urteile über uns zugetraut werden, sondern eine ganze Reihe signifikanter Anderer, die jeweils für bestimmte Aspekte unseres Seins als repräsentative Urteilsinstanz angesehen werden. Ders., Sein und Nichts, 638. Ebd., 635f. Ebd., 636. Johann Gottfried Herder hat seinen Kulturbegriff in den 1784-91 erschienenen Ideen zur Philosophie Geschichte der Menschheit, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989, entwickelt.
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kollektive Weltbilder generiert. 33 Während Sartre die menschliche Identität aufgrund eines verkürzten Verständnisses derselben als Unmöglichkeit ansieht, 34 möchte ich im Folgenden versuchen, von den Sartreschen Gedanken ausgehend über diese hinauszugehen. Identität wird dabei als Form verstanden, wie sich die Sinnhaftigkeit menschlichen Tuns als objektive, d. h. intersubjektive Wirklichkeit von relativer Permanenz durch die Korrespondenz zwischen eigenem und fremdem Urteil manifestiert. Als ,Sinn' verstehe ich dabei primär das Smnerlebnis, nicht einen sich im Hinblick auf ein Ziel ergebenden hypothetischen Imperativ, der etwa eine Situation bedeutungsmäßig erschließt. Sinn wird verstanden als die Weise, wie im Handeln ein Zur-WirklichkeitBringen meines entworfenen Seins vollzogen und erlebt wird. Eine Identität stellt sich her, indem das Sinnerlebnis vom reflektierenden Bewusstsein vergegenständlicht und als zu meinem Selbst gehöriges Sinnerlebnis ausgewiesen wird. Damit ist mein Entwurf in eine manifeste Wirklichkeit überführt, die von Anderen bezeugt werden kann und die für mich die objektive Manifestation meines Sinnerlebnisses darstellt. Auf diese Weise wird die Identität für mich zum Träger und Manifestationszentrum von Sinnerlebnissen.
Die Herstellung von Identität Der erste Zusammenhang zwischen Sinn und Identität besteht nun darin, dass menschliches Sein eine Identität mit sich in der handelnden Ergreifung und urteilenden Inbesitznahme des sowohl durch das reflexive als auch das reflektierende Bewusstsein affirmierten, d. h. von beiden Bewusstseinsebenen gewollten entworfenen Seins herstellt. Die im Urteil des reflektierenden Bewusstseins festgestellte Identität mit sich („ich war es, der sich selbst handelnd mit seinem Entwurf in Entsprechung gebracht hat") rekurriert auf Sinnerfahrungen, die zum Bestandteil meines Egos als transzendentem, d. h. überzeitlichem Bezugspunkt meines Bewusstseins werden. Ich kann den im Sinnerlebnis stattfindenden augenblickshaften Sinnmeines-Seins-für-Mich aber nur festhalten, indem ich die Sinnerlebnisse auf irgendeine Weise für das reflektierende Bewusstsein gegenständlich werden lasse, ihnen damit eine relative Dauerhaftigkeit verleihe und über diesen Weg in meinen Besitz zu nehmen versuche. Nun ist allerdings diese Identität, die ich durch Entscheiden und Handeln, als ZurWirklichkeit-Bringen meines Entwurfs vollziehe und die ich deshalb ,Handlungsidentität'
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Der Kulturbegriff Herders ist vor allem in der jüngeren Diskussion um die Grundprobleme der Interkulturellen Philosophie zu Recht scharf angegriffen worden. Einige Konzepte versuchen, den deskriptiv zweifelhaften und ethisch problematischen Begriff der „Volkskultur" durch flexiblere zu ersetzen wie etwa den der „Transkulturalität" (vgl. Wolfgang Welsch, „Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung", in: Andreas Cesana (Hg.), Interkulturalität - Grundprobleme der Kulturbegegnung, Mainzer Universitätsgespräche, Mainz 1999, 45-72), oder ihn in den lebendigen Diskurs zu verlegen, indem Kultur als „Aushandeln von Bedeutungen" verstanden wird (vgl. Andreas Wimmer, „Philosophische Implikationen des ethnologischen Kulturbegriffs", in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaft, Würzburg 2002,215-238). Sartre versteht Identität als Identischwerden von An-sich-seiendem, das für den Menschen, der Für-sich ist, erst im Tode vollzogen ist, weshalb das Identitätsstreben für Sartre ein uneinlösbares Desiderat darstellt. Ist von der personalen Einheit der Person die Rede, so spricht Sartre davon, dass „diese Einheit, die das Sein des betreffenden Menschen ist, [...] freie Vereinigung [ist - Ο. I.]", und zwar als freie Vereinigung eines „ursprünglichen Entwurfs" im Sinne einer frei gewählten, individuellen Entwurfsstruktur (Jean-Paul Sartre, Sein und Nichts, 963).
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nennen möchte, in einem wesentlichen Punkt defizitär: Sie spiegelt zwar mein Sinnerlebnis, aber die Identität als objektive Gestalt meines sinnhaften Seins fordert auch reflektierende Urteile über meine Sinnerlebnisse, die von einer realen Außenperspektive aus gefällt werden. Wo objektiver Sinn generiert werden soll, bedarf es der intersubjektiven, diskursiven Ebene, auf die ich nicht allein durch Akte meines Außenperspektiven projizierenden Bewusstseins kommen kann. 35 Zusätzlich zu meinem eigenen Urteilsvermögen benötige ich folglich die Unterstützung eines als repräsentative Urteilsinstanz 36 verstandenen Anderen, um das Sinnerlebnis zu einem objektiven Faktum werden zu lassen, das als signifikanter Aspekt meines Seins zu einem Bestandteil meines objektiven Wesens wird. 37 Die Augenblickshaftigkeit der Sinnerfahrung wird dabei insofern überschritten, als der Andere sie in ein Gesamtbild meiner Person integriert, mich also zu einer Gestalt formt, die ich als mein Ich repräsentierend auslegen kann und die als intersubjektiv zumindest nur geringfügig variierende erzählt, d. h. überliefert werden kann.
Die Vernünftigkeit des Ichs und die kulturelle Rationalität Nun kann die Repräsentativität, die der Andere als Urteilsinstanz für mich hat, nur dann gewährleistet sein, wenn ich ihm diese zugestehe, ihn also als repräsentative, alle momentan validen Urteile über mich vertretende Urteilsinstanz über mein Sein anerkenne. Folglich muss der Andere also für mich mehr sein als nur seine ,eigene' Perspektive, 38 und dieses ,Mehr' kann er nur sein, wenn sein Urteil sich an kollektiven Entwürfen und Seinsauslegungen orientiert, die auch mir als geistige Bezugspunkte dienen, er also einen objektiven Maßstab zur Bedeutungserschließung meiner Handlungen und Erlebnisse besitzt. Die Sinnhaftigkeit eines Tuns kann also nur dann von einem äußeren Standpunkt aus überhaupt bestimmt werden, wenn gemeinsame Entwürfe den Horizont für die Beurteilung meiner Sinnerlebnisse abgeben, der subjektive und individuelle Sinn meines Handelns also mit einem objektiv bestimmbaren allgemeinen Sinn in Übereinstimmung gebracht werden kann, den es nur aufgrund der Existenz kollektiver Entwürfe geben kann. So geht es uns in der sozialen Bindung nicht mehr primär um die durch uns selbst herbeigeführte Handlungsidentität, sondern um den Versuch, unsere subjektiven' Identitätserlebnisse mit Hilfe des Anderen in die Permanenz einer objekthaften und objektiven personalen Gestalt zu transformieren, um schließlich diese Identität als Ich auf unser Bewusstsein projizieren zu können. Freilich ist dies nur eine grobe strukturelle Beschreibung eines faktisch äußerst komplexen und häufig genug sehr undurchsichtigen Zusammenspiels. Auch lassen
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Im selben Sinne spricht auch Plessner davon, dass „ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur im Umweg über Andere und Anderes als ein Jemand hat [...]", woraus die soziale Existenz ihren „institutionellen Charakter" gewinne (Helmuth Plessner, „Elemente menschlichen Verhaltens: Exzentrische Position, Verdinglichung und Verdrängung", in: ders., Mit Anderen Augen, 63-93, hier: 67). Dies ist nötig, um alle denkmöglichen validen Urteile in die Objektivität meines Seins einfließen zu lassen. Dies heißt freilich nicht, dass die von meinem reflektierenden Bewusstsein selbst hergestellte Manifestation eines Sinnerlebnisses für mein Bewusstsein belanglos wäre. Sie bleibt lediglich eine Wirklichkeit auf subjektiver Ebene, deren objektive Qualität unbestimmt bleibt. Eine wichtige Ausnahme stellt der geliebte Andere dar, der auch als ,nur' er selbst über eine hinreichende Anerkennung als Urteilsinstanz verfügt.
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sich verschiedene Identitätsformen unterscheiden, die mal stärker, mal weniger stark individuelle, singuläre Sinnerlebnisse zur Objektivität bringen, sowie verschiedene Kommunikationsformen, deren Strukturen Bedingung für die intersubjektive Generierung personaler Identität sind. 39 Eine wesentliche Grundbedingung für Identität stellt allerdings in allen denkbaren Formen der durch den Anderen bedingten Identität die gegenseitige Anerkennung dar. Sie ist der Schlüssel für die Validität der Urteile der Außenperspektive und das Medium, innerhalb dessen sich die kommunikative Zuspielung des Für-Andere-Seins zu mir vollzieht.
Der Mechanismus der sozialen Anerkennung Nun mag man sich fragen, ob, und wenn ja: wie die durch soziale Anerkennung hergestellte Identität als Inbesitznahme unseres Für-Andere-Seins mit unseren Sinnerfahrungen korrespondiert. Denn erst unter dieser Bedingung kann uns ja eine soziale Anerkennung als ZurObjektivität-Bringen der Sinnhaftigkeit unseres Seins erscheinen, so dass die kulturelle Identität eine existentielle, den Sinn unseres Seins tangierende Qualität gewinnt. Die bindende Kraft, die zum Gefühl einer existentiellen Abhängigkeit von meinem Für-AndereSein und über diese zur Abhängigkeit von kulturellen Gemeinschaften führt, erwächst zum einen dadurch, dass nicht nur ich ständig durch den Blick der Anderen verobjektiviert werde, sondern auch selbst ständig den Anderen zum Objekt für mich mache. Zum anderen besitzt mein Für-Andere-Sein eine existentielle Relevanz, weil es eine die Lebenswelt maßgeblich prägende Realität hat, ich also als Für-Andere-Sein in einer sozialen Gemeinschaft lebe und sich dieses in Verhaltensweisen der Anderen mir gegenüber objektiv zeigt. 40
Der Rang der Vernünftigkeit im Kontext des kulturellen , gesunden Menschenverstandes' oder ,common sense' Wir sprachen bereits von der Kenntnis von und Orientierung an kulturellen Entwürfen, die es ermöglichen, in deren Rahmung aufgekommene Sinnerfahrungen objektiv, d. h. intersubjektiv mit Urteilen zu versehen. Eine zweite, auf die soziale Gemeinschaft zielende Notwendigkeit für die erfolgreiche Identitätsgenerierung fanden wir in der Anerkennung. Beide Faktoren können nun allerdings nur dann identitätsgenerierend zusammenwirken, also hermeneutisch die Sinnerlebnisse auslegen und mit validen Urteilen versehen, wenn ein rational operierender Verstand kulturelle Entwürfe und subjektive Erlebnisse in einen sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Aus diesem Grunde sind, wie Karl Jaspers schreibt, 41 alle
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In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf den Versuch von Karl Jaspers verwiesen, durch die „existentielle Kommunikation" das Aufscheinen der Existenz und die Erfahrung des Sich-geschenkt-Werdens durch 40 Transzendenz herbeizuführen, das eine bedingungslose gegenseitige Anerkennung und Steigerung fordert. Es können an dieser Stelle nicht die verschiedenen Gestalten sozialer Identität entfaltet werden. Auch darf der Hinweis darauf, dass die Sinnhaftigkeit unseres Seins erst durch die Objektivwerdung im Urteil des als repräsentativ verstandenen Anderen zu einem An-sich-Sein gerinnt, auf das wir selbst dauerhaft in Scham oder Stolz Bezug nehmen, von dem wir als .Selbst' sprechen können, nicht so verstanden werden, als tangiere jede Form der sozialen Anerkennung gleich das, was wir als unser individuelles Wesen verstehen. 41 Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, München 2 1994,305.
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kulturellen Gehäuse (d. h. konsensuell verfestigte Konglomerate kultureller Weltdeutungen und Entwürfe) durch Rationalität geprägt. Transparent wird die Rolle der Rationalität für die soziale Gemeinschaft, wenn wir dem Kulturanthropologen Clifford Geertz ein Stück weit in dessen Analyse des „common sense" folgen. In seinem Aufsatz Common sense als kulturelles System42 stellt Geertz fest, dass selbst kulturelle Gemeinschaften, die sich mythischer Traditionen und Bilder bedienen und in denen sich offenbar eine „Geringschätzung der natürlichen Kausalität" 43 zeigt, keineswegs durch ,irrationales Denken und Verhalten' geprägt sind, sondern im Gegenteil als innere Absicherungsmechanismen und zur Handlungsorientierung nach streng rationalen Kriterien funktionieren, auch wenn diese sich nicht in den Prämissen der kulturellen Weltbilder selbst niederschlagen. Bezogen auf das von Geertz aufgegriffene und von Evans-Pritchard dokumentierte Beispiel der Hexerei bei den Zande heißt dies etwa, dass erst dann, „wenn sich die gewöhnlichen Erwartungen nicht erfüllen, wenn sich der Zande Anomalien oder Widersprüchen gegenübersieht [...], 1,44 der Gedanke an „Hexerei" aufkommt, nämlich etwa dann, wenn einem Zande-Töpfer trotz sexueller Enthaltsamkeit und großer handwerklicher Sorgfalt der Topf beim Brennen zerspringt und er „Hexerei!" schreit. So „formuliert" und „verteidigt" der Glaube an Hexerei „die Wahrheitsansprüche der alltäglichen Vernunft," 45 die das repräsentiert, „was jeder mit gesundem Menschenverstand weiß." 46 Auf diese Weise ist der common sense nicht nur als etwas verstanden, das sich vermeintlich als rationaler Schluss unmittelbar aus der Erfahrung ergibt und daher als .natürliche Vernunft' ausgelegt wird, sondern die Behauptungen des common sense werden aus diesem Grunde, wie auch Helmuth Plessner aus ähnlichen Überlegungen schließt, 47 gar als selbst nicht mehr begründungsbedürftig verstanden, da sie auf kulturellen Prämissen fußen, deren Hergestelltheit bzw. Künstlichkeit
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Gifford Geertz, „Common sense als kulturelles System", in: ders., Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. 1987, 261-
288. 43 44 45 46
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Vgl. ebd., 267. Ebd., 268f. Ebd., 268. Ebd., 266. Vgl. Helmuth Plessner, „Der Mensch als Lebewesen", in: ders: Mit Anderen Augen, 9-62; Plessner spricht auch davon, dass der Mensch aufgrund der Exzentrizität seines Bewusstseins in keiner unmittelbaren Beziehung zum Begegnenden stehe, ja ihm mit dem Wissen die Direktheit verlorengegangen sei (17) und er deshalb eine „Unmittelbarkeit der Verbindung", d. h. eine selbstverständliche, alltägliche und allgemeine, ja kulturelle Deutungsebene des Begegnenden erst herstellen müsse, um sich in die Geborgenheit eines natürlichen Umgangs mit den Dingen begeben zu können. Plessner nennt dieses aus der exzentrischen Positionalität erwachsende Gesetz auch das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit" (31). Aus diesem Grund sei der Mensch dazu gezwungen, „das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist" (17). Er braucht ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art, um die Direktheit seiner Begegnungen, die ihm durch das Wissen verlorengegangen ist, wiederherzustellen. Dieses Hergestellte, Kulturelle, muss allerdings, um als .natürlich' und .selbstverständlich' gelten zu dürfen, von seinem Herstellungsprozess entkoppelt werden, da dieser der Natürlichkeit des aus sich Gewachsenen widerspricht: „Und er schafft es [ein Gleichgewicht - Ο. I.] nur mit Hilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen. [...] Erhalten die Ergebnisse menschlichen Tuns nicht das Eigengewicht und die Ablösbarkeit vom Prozeß ihrer Entstehung, so ist der letzte Sinn, die Herstellung des Gleichgewichts: die Existenz gleichsam in einer zweiten Natur, die Ruhelage in einer zweiten Naivität nicht erreicht" (17f.).
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verdeckt bleiben muss, um die Selbstverständlichkeit und .Natürlichkeit' als Routine der alltäglichen Weltdeutungen aufrecht erhalten zu können. 48 Woher rührt nun aber diese auffällige Korrespondenz zwischen dem Hang zu einem vernunftorientierten Ich und den nach rationalen Kriterien funktionierenden kulturellen Systemen? Wenn das Handeln als vernünftig gilt, insofern es an allgemeinen Entwürfen ausgerichtet ist, also in Perspektivübernahme auch mein Handeln ,wäre', nämlich dasjenige Handeln, das man , vernünftigerweise' angesichts bestimmter Entwürfe vollzieht, so erhält es das Prädikat ,vernünftig'. Mit dem Prädikat ,vernünftig' versehenes Handeln ist deshalb Handeln nach „hypothetischen Imperativen", die sich allgemein-rational aus kollektiven Entwürfen ableiten lassen. Nun gibt es allerdings längst nicht für jede Handlungsweise eine standardisierte kulturelle Vorgabe. Deshalb ist vom als vernünftig Auszuweisenden nicht nur das kulturellen Normen, Werten und folglich Entwürfen gemäße Handeln gefordert, sondern eine rationale Kompetenz, kulturelle Entwürfe zu interpretieren und diejenige Handlungslösung zu finden, die zu einer Anerkennung führen kann, weil sie Anderen als sinnvoll plausibel zu machen ist. Vor dem Hintergrund der oben grob dargestellten Mechanismen der Identitätsgenerierung lässt sich sagen, dass die Vernünftigkeit in Gestalt des ,gemeinen Menschenverstandes' die Kernkompetenz des Menschen darstellt, sich in kulturellen Systemen zu orientieren und ihre Anerkennungsmechanismen für die Herausbildung einer relativ permanenten Identität seines Seins nutzen zu können. Wer nicht über den common sense, also den alltäglichen Verstand der funktionalen Auslegung kultureller Systeme verfügt, bleibt ohne Möglichkeit, weite Bereiche seiner handlungsmäßigen Sinnerfahrungen objektiv werden zu lassen, und so auch dem Anderen zu einer dauerhaften Identität zu verhelfen. Größe, Gestalt und Struktur der kulturellen Systeme sind in dieser Hinsicht nur sehr relative Faktoren der Qualität und Bedeutung kollektiver Zuschreibungen. So kann ich mich etwa jenseits .gesellschaftlicher' Anerkennungsmechanismen stellen und dennoch eine Identität erfahren, etwa wenn ich mich als Mitglied einer sogenannten , Subkultur' definiere oder über die Kultur der Bäcker, Schriftsteller, Bergbauern oder Jogger. Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich also sagen, dass kulturelle Systeme Anerkennungsmechanismen bereit stellen, die eben gerade auf die Initialisierung und Objektivwerdung sinnhaften Handelns, also die Herstellung von Identität, ausgerichtet sind. Eine rollenhafte, gesellschaftliche Identität etwa funktioniert darüber, dass aus einem an kollektiven Entwürfen orientierten Erwartungshorizont das Handeln eines Bäckers, Fußgängers, Geschäftskunden beurteilt und sein Handeln als objektiv sinnvoll oder tollpatschig prädiziert werden kann. Es gibt keinen Taxifahrer, keinen Fliesenleger, keinen Schüler, der ohne eine Orientierung und Kenntnis dieser Entwürfe handeln würde. Und auch wenn das Sinnerlebnis, das der Taxifahrer hat, wenn er seinen Kunden schnell, sicher und womöglich auch noch mit freundlichem Plausch an ein Ziel gebracht hat, eine auf den ersten Blick banale objektive Manifestation als Identität erfährt, indem der Fahrgast dessen Leistung explikativ anerkennt und die Korrespondenz der reflektierenden Bewusstseine eine objektive Wirklichkeit seines Taxifahrerseins entstehen lässt, so erwächst doch daraus für den Taxifahrer die Gestalt eines Ichs, die eine intersubjektive, d. h. objektive Qualität besitzt.
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Vgl. Clifford Geertz, „Common sense", 263f.
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Vernunft in Aufklärung und Kultur Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass ich in der Wahl des Vernünftigseinsollens meines Ichs einen kulturellen Entwurf assimiliere, der eine stärkere und umfassendere Charakterisierung meines Ichs bedeutet als etwa die Ausübung beruflicher Rollen oder die bloße Partizipation an einer kollektiven Normen- und Wertewelt. Die Zuschreibung der Vernünftigkeit ist ein Urteil über mein fundamentales Urteilsvermögen. Ist der Mensch tatsächlich als zoon logon echon gedacht, so bestimmt sich in gewisser Weise der qualitative Grad seines Menschseins durch das Maß der ihm zugeschriebenen Vernünftigkeit, ist die , vernunfthafte Identität' eine die gesamte Gestalt meines Wesens betreffende, die aufgrund der allgemeinen Nützlichkeit dieser Kompetenz höchste Anerkennung auf sich zieht. Nun hat freilich der ,gemeine Menschenverstand' oder „common sense" nur wenig gemein mit der von der Aufklärung geforderten Autonomie des menschlichen Geistes. Denn für den common sense ist keine Autonomie gefordert, sondern die Kenntnis kollektiver Entwürfe, deren Affirmation und der geschickte berechnende Umgang mit diesen Kenntnissen, mit anderen Worten: die gelingende Partizipation an einer kulturell definierten Rationalität. Das Ich, das sich als intersubjektiv konstituiertes vernünftiges' verstehen darf, ist also keineswegs gleich auch im Sinne der Aufklärung vernünftig - ja es ist sogar möglich, dass die kulturelle Vernunft der autonomen zuwiderläuft. Auf diese Weise kann derjenige, der sich vielleicht im Hinblick auf seine kulturell-kollektiven Zuschreibungen als ,vernünftig' verstehen darf, diese Qualität am Ende vielleicht am wenigsten im Sinne des aufklärerischen Vernunftbegriffs für sich beanspruchen, ist das ,vernünftige Ich' vielleicht primär eine kollektive Zuschreibung, die aus Gesichtspunkten der allgemeinen Nützlichkeit verliehen wird, ohne dass der autonome Gebrauch der Vernunft, bzw. dessen rationaler Apparat, der Verstand, wesentlicher oder auch nur zwingend erforderlicher Bestandteil dieser Prädikation wäre.
Schlussfolgerungen Schlagen wir den Bogen zu den Ausgangspunkten meines Beitrages, so scheinen wir nunmehr vor drei Gestalten des vernünftigen Ichs zu stehen: Dem selbstgefälligen vernünftigen Ich, das sich das Prädikat der Vernünftigkeit selbst verleiht, dem autonomen vernünftigen Ich der Aufklärung, das an einer anthropologisch universalen Fähigkeit partizipiert und dadurch ein intelligibles Reich konstituiert, und schließlich dem vernünftigen Ich, dem das Prädikat der Vernünftigkeit aufgrund des geschickten rationalen Umgangs mit kulturellen Anerkennungsmechanismen zugewiesen wird. Trägt nun vor dem Hintergrund der oben angeführten Überlegungen, die eine Rechtmäßigkeit und Validität der Selbstschmückung mit den Federn der Vernünftigkeit bestreiten, das über kollektive Zuschreibungen definierte ,vernünftige Ich' gegenüber dem ,wahrlich autonomen' vernünftigen Ich, das die Aufklärung vor Augen hatte, den Sieg davon? Bleibt statt einem stolzen Repräsentanten des höchsten irdischen Vermögens nach der Entkleidung des menschlichen Geistes von den Gewändern der Kultur nur ein im Winde des Zweifels an der menschlichen Größe fröstelndes, sich in allem an Andere und Anderes klammerndes Menschenwurm übrig, das kaum zum stolzen Abbild der Vernunft als menschlichem Kardinalvermögen taugt?
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Dies mag - vielleicht glücklicherweise - nicht abschließend beurteilt werden können. Fest steht indes, dass die Zuschreibung der Vernünftigkeit und deren Validität aufgrund der Struktur des reflektierenden Bewussteins nicht ohne soziokulturelle Anerkennungsmechanismen auskommen kann und sich folglich auch der Rang der Vernunft als höchstem menschlichen Vermögen erst aus der Kulturalität des Menschen, bzw. der Angewiesenheit des Einzelnen auf repräsentative Urteile der Anderen, erklärt. Dies ist nicht nur daraus ersichtlich, dass die umfassende Prädikation der Vernünftigkeit in auffälliger Weise mit kulturellen Anerkennungsmechanismen korreliert, sondern lässt sich bereits aus den strukturellen Zusammenhängen ableiten, die eine Manifestation des flüchtigen, nur im Erlebnis aufscheinenden Sinns unseres Seins nur im intersubjektiven Raum der reflektierenden Bewusstseine erlauben und dabei Kultur und Identität als wechselseitig aufeinander angewiesene geistige Gefüge erscheinen lassen. Bezogen auf den eingangs angeführten Aufruf „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" heißt dies - etwas pointiert formuliert, dass sich der Schlachtruf der Aufklärung motivatorisch primär aus einem rational fest gefügten und Berechenbarkeit in allen Lebensbereichen versprechenden Weltbild heraus verstehen lässt, vor dessen Hintergrund zur Formierung einer neuen kulturellen, d. h. identitätsstiftenden Gemeinschaft, nämlich einer Gemeinschaft der Vernünftigen, aufgerufen wird. Mit Sartre gesprochen: Nicht dem Willen zur Inbesitznahme meines Für-Andere-Seins, der die Grundlage jeder sozialen Interaktion bildet, wird zugunsten der Beförderung des telos der Vernünftigkeit gekündigt, sondern die Möglichkeit der Inbesitznahme wird innerhalb einer neuen kulturellen Gruppe mit anderen Werten und Entwürfen gesucht, so dass der vermeintlich höchste Zweck, die Vernunft, bzw. das vernunftgeleitete Leben, selbst vielleicht nicht vordergründig Zweck, sondern Mittel ist, um in dem Urteil der Vernünftigkeit des Ichs höchste soziale Anerkennung auszulösen. Auch das vermeintlich autonome Ich, das sich aus dem Selbstverständlichen herauslöst und selbstständig seinen Verstand gebraucht, kann die Motivation für die Abkehr von der selbstverschuldeten Unmündigkeit nur daraus beziehen, dass es sich einen neuen kulturellen Bezugspunkt sucht, also einen Partizipationszusammenhang, innerhalb dessen es sich geistig verorten und für ihn repräsentativ erscheinende Urteilsinstanzen über sein Sein in Form ähnlich gesinnter Subjekte finden kann. Das Kind der Aufklärung, so lässt sich schließen, ist daher in erster Linie gerade nicht das Kind eines Kardinalvermögens des menschlichen Bewusstseins, das sich aus Einsicht in den Dienst eines obersten intelligiblen Zweckes stellt. Es ist das Kind eines spezifischen kulturellen Partizipationszusammenhangs, der durch ein festes Gefüge interpersonal ratifizierter Entwürfe die Möglichkeit bietet, der Sinnhaftigkeit seines Seins eine objektive Gestalt zu verleihen.
STEPHAN GRÄTZEL
Kollektive Schuld - individuelle Freiheit Probleme des neuzeitlichen und modernen Menschen1
Beobachtung eines neuen Schuldkomplexes In den letzen Jahren geschehen im Zusammenhang mit deutschen Gedenktagen eigenartige Entgleisungen oder auch nur Missverständnisse bei öffentlichen Zeremonien oder bei deren politischer Behandlung und Auseinandersetzung. Die Gedenktage sind schwierige Tage geworden, an denen meistens irgendetwas Unerwartetes oder Unschönes passiert, soweit es darum geht, dass deutsche Geschichte erinnert und bewertet wird. Seit der Rede des Bundestagspräsidenten Jenninger am 9. 11. 1988, die fast als gewolltes Missverstehen gesehen werden kann, reihen sich Vorfälle solcher Art gerade an diesem, aber auch an anderen Gedenktagen. Weiterhin häufen sich in den letzen Jahren sogenannte „politische Bußrituale", 2 bei denen Vertreter von Staaten, Gemeinschaften und Kirchen anfangen, sich für etwas zu entschuldigen, was lange zurückliegt; ζ. B. entschuldigte sich Clinton für die Sklavendeportation, der Papst für Ketzerverbrennungen etc. Die Häufung dieser Entschuldigungen zeigt einen Schuldkomplex, bei dem Schuld nicht im Sinne des modernen Begriffes der juristischen oder moralischen Schuld für eine strafbare oder eine unmoralische Handlung, sondern wieder in einem archaischen Sinn gefühlt und verstanden wird. Hier ist Schuld über die einzelne Tat und sogar über die einzelne Generation hinaus entgrenzt. 3 In der Philosophie ist sehr wenig über diese Frage nachgedacht worden, obwohl die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage den Kern der Reformation ausmacht und die Reformation ja grundlegend für die Philosophie der Neuzeit ist. Es muss zunächst also die Frage neu gestellt werden: Welche Bedeutung hat eigentlich die Schuldfrage in der Reformation? Wie ist das reformatorische Denken mit der Schuld umgegangen bzw. welchen Begriff von Freiheit - denn Freiheit steht grundsätzlich in Verbindung mit der Schuldfrage - haben wir den Reformatoren zu verdanken? Die letzte Frage kann man noch konkretisieren: Welche, vielleicht neue, Form von Freiheit ist mit dem reformatorischen Denken aufgekommen und wie hat sich dann die „Freiheit eines Christenmenschen", wie Luther sie genannt hat, von ihrer religiösen Wurzel entfernt und verselbstständigt? Wir haben heute einen Freiheitsbegriff, der eine religiöse Wurzel hatte, der sich aber von dieser religiösen Wurzel abgelöst hat.
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Überarbeitung eines mitgeschnittenen Vortrages anlässlich der 2. sächsischen Landesausstellung in Torgau. Der Stil der freien Rede wurde weitgehend beibehalten. Hermann Lübbe, Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual, Berlin 2001. Stephan Grätzel, Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive·, Göttingen 2004, 19-30
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STEPHAN GRÄTZEL
Reformatorische Freiheit und ihre Folgen Freiheit heißt heute, im Rahmen der Gesetze und der Moral über sich selbst bestimmen zu können, sein eigenes Leben gestalten zu können, sittlich autonom zu sein. Dieses heutige Verständnis möchte ich einmal zurückverfolgen auf das schon genannte Werk von Luther, nämlich Die Freiheit eines Christenmenschen von 1520. Der wichtige Gedanke von Luther war ja der, dass es für das Heil, für das Heilwerden des Menschen, keiner besonderen Werke bedarf. Die Freiheit eines Christen besteht darin, dass er im Glauben ist und durch diesen Glauben gerechtfertigt wird: Nicht durch gute Werke, sondern durch den Glauben ist der Mensch gerechtfertigt. Luther sagt dazu: Hieraus ist leicht zu erkennen, warum der Glaube soviel vermag und dass keine guten Werke mit ihm vergleichbar sind. Denn kein gutes Werk hängt so wie der Glaube an dem göttlichen Wort. Es kann auch keines in der Seele sein, sondern nur das Wort und der Glauben regieren in ihr, in der Seele. D i e Art, die das Wort hat, nimmt auch die Seelen von ihm an, gleichwie das Eisen w i e Feuer glutrot wird, wenn man es mit Feuer in Verbindung bringt. So sehen wir nun, dass ein Christ am Glauben genug hat, es bedarf keines Werkes, um gerecht zu sein. Bedarf es keiner guten Werke mehr, so ist er gewiss von allen Geboten und Gesetzen entbunden. Er ist entbunden, so ist er gewiss frei. Das ist die christliche Freiheit, der wahre Glaube. Er bewirkt nicht, daß wir die Hände in den Schoß legen oder B ö s e s tun können, wohl aber, daß wir kein Werk brauchen, um Gerechtigkeit und Heil zu erlangen. 4
Das ist eine zentrale Stelle in der genannten Schrift, an der deutlich wird, wie schon das Wort die Seele bildet: Der Glaube - wir würden heute sagen die Haltung - macht den Menschen, für die Rechtfertigung ist es natürlich die gläubige Haltung, die keiner weiteren Anstrengung bedarf, um diese Haltung auch zu belegen und zu beweisen. Dies heißt nicht, dass wir böse Handlungen tun können. Die gute Haltung bringt auch die guten Werke mit sich, aber nicht umgekehrt. Damit zusammen hängt ein weiterer Hinweis Luthers, unsere Werke eben nicht mit dem Zweck zu tun, dass wir uns damit rechtfertigen, sondern dass wir Werke umsonst tun. Er sagt: Dennoch sind Werke nicht das rechte Gut, durch das er vor Gott rechtschaffen und gerecht ist, der Mensch, sondern jeder tue sie umsonst, aus freier Liebe. Keiner soll etwas anderes dabei beabsichtigen als nur, Gott zu gefallen, dessen Wille er aufs Beste erfüllen möchte. 5
Wir haben also nicht nur hier bei Luther den Verzicht auf die Rechtfertigung durch die guten Werke, wir haben auch noch eine Verschärfung in der Aussage, dass die Werke, soweit wir sie dann tun müssen (denn wir können ja nicht die Hände in den Schoß legen), selbstlos sein sollen, umsonst zu sein haben und aus Liebe geschehen sollen. Also auch hier ist es der ganze Mensch und seine Haltung, aus der heraus die Werke geschehen und nicht irgendein Kalkül. Vielleicht noch eine weitere Stelle, die das ganz deutlich machen könnte. Luther sagt: Wenn die falsche Auslegung und die verkehrte Meinung vertreten wird, daß wir durch die Werke gerecht und selig werden, sind sie schon nicht gut und ganz zu verdammen. Denn sie
4
5
Martin Luther, Von der Freiheit des Christen. Freiheit und Bindung, übertr. u. hg. ν Günter Bezzenberger, Neukirchen-Vluyn 1996,45. Ebd., 58.
Vier Schriften Martin
Luthers,
KOLLEKTIVE SCHULD - INDIVIDUELLE FREIHEIT
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sind dann nicht frei und lästern die Gnade Gottes, die allein durch den Glauben rechtfertigt und rettet [...].
Das heißt, wenn wir versuchen, uns über die guten Werke bei Gott einzuschmeicheln, dann ist das auch eine Sünde. Also lästern wir der Gnade, die aus dem Glauben heraus gewährleistet wird, wenn wir uns durch unsere eigenen Werke rechtfertigen wollen. Das Zitat geht weiter: [...] die allein durch den Glauben rechtfertigt und rettet, das aber allein vermögen die Werke nicht. Und dennoch tun sie so, als könnten sie es und greifen damit die Gnade und ihr Werk und die Ehre an. 7
Diese Zitate aus der Freiheit eines Christenmenschen von Luther stellen ganz deutlich heraus, dass nur der Glaube allein rechtfertigen kann, nicht die Werke. Auch unsere guten Taten bedeuten die Lästerung und Sünde, wenn sie nur zur Rechtfertigung begangen werden. Man könnte sich natürlich fragen: Warum können wir uns durch gute Taten nicht rechtfertigen? Das hängt damit zusammen, dass für Luther die Schuld so groß ist, dass sie von uns selbst durch unsere Werke nicht gesühnt werden kann. So wie wir auch die Schuld anderer Menschen nicht auf uns nehmen und rechtfertigen können, so können wir auch nicht unsere eigene Schuld durch unsere Taten rechtfertigen. Es geht hier also bei Luther noch um eine Schuld, die unverzeihlich und unsühnbar ist. Es geht um eine Schuld, die mehr bedeutet als das, was wir uns vielleicht haben zuschulden kommen lassen, denn ein solches Verschulden könnte man ohne weiteres durch Taten oder auch durch Strafe verbüßen. Es geht um eine unverzeihliche Schuld, eigentlich um eine unsühnbare Schuld, die dann aber doch durch die Gnade verziehen und vergeben wird. Es ist nun für Philosophen interessant, dass sich diese Unterscheidung von einer Tatgerechtigkeit und einer Gesinnungsgerechtigkeit bei Kant wieder findet, nämlich in seinem Freiheitsbegriff, der, ich möchte es nur andeuten, bei ihm im Zusammenhang mit der Pflicht steht. Kant sagt, wir sollten so handeln, dass es vorstellbar wäre, dass die Maxime unserer Handlungen, d. h. das, was wir uns grundsätzlich vornehmen, als allgemeines Gesetz gelten könne. Wir sollen also nicht so handeln, dass wir versuchen, in irgendeiner Weise Gutes zu tun oder vielleicht innerhalb der Gesetze gerecht zu leben. Das wäre nicht moralisch. Dagegen wäre es moralisch, wenn wir ganz aus Pflicht gegenüber den moralischen Gesetzen, selbstlos und ohne dafür einen Lohn zu erwarten oder uns um irgendwelche Erträge unserer Handlungen zu kümmern, handelten. Kant unterscheidet hier zwischen pflichtgemäß und Handeln aus Pflicht. Dass wir getreu den Gesetzen leben sollen, dass wir gesittet leben sollen, dass wir uns an Regeln, an Normen halten, ist legitim, aber noch nicht moralisch. Moralisch ist erst das Handeln aus Pflicht. Hier haben wir eine Gesinnungsethik, wie sie schon bei Luther in der Freiheit eines Christenmenschen vorbereitet ist. Nun ist es ja eigenartig, dass gerade durch die Reformation und in ihrem Gefolge auch durch die Moralphilosophie Kants, die ja von großer Bedeutung und Wirkkraft war und ist, der Schuldbegriff trotz dieser anfänglichen Bedeutung für die Moral verschwunden zu sein scheint. Die Schuld hat sich mehr oder weniger auf die Tatschuld, auf das, was man als strafgesetzliche Schuld verstehen kann, reduziert, und diese Reduktion hat offenbar etwas zu tun mit dieser reformatorischen Lehre, den Menschen von der Werkgerechtigkeit zu
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Ebd., 63f. Ebd.
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befreien. Diese Befreiung des Menschen von seiner Werkgerechtigkeit hat dem Menschen eine Freiheit verschafft, wie es sie vorher, zumindest in unserer abendländischen Kultur, nicht gegeben hat. Das ist etwas ganz Neues, und das Eigenartige und - man kann schon sagen - Widersprüchliche ist, dass gerade durch diese Art der Rechtfertigung durch Gnade und Gesinnung der Schuldbegriff verschwunden zu sein scheint. Die Rechtfertigungsfrage ist ja nach wie vor das Problem und die Ursache für den Streit zwischen den Konfessionen. Die Rechtfertigung, wie sie in der Freiheit eines Christenmenschen von Luther gefordert wird, ist einerseits an eine ganz bestimmte Bedingung gebunden, nämlich an diesen Glauben. Auf der anderen Seite, wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist sie unendlich. Wenn man einmal in die biblische Geschichte hineinschaut, dann geht es bei der Rechtfertigung von Schuld um die Rechtfertigung des Gottlosen, des Erzverbrechers. Als erstes einmal ist das natürlich die Schuld von Adam, welche eine Schuld ist, die unsühnbar ist, obwohl sie - ich komme darauf noch zu sprechen - eine Art Täterschuld zu sein scheint. Weiterhin finden wir zu Beginn der biblischen Geschichte auch die Schuld des Kain. Kain ist im Alten Testament die Figur des Erzverbrechers, der seinen Bruder tötet und damit unsühnbare Schuld auf sich lädt. Er erkennt dies auch selbst in Genesis 4: „Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge." Kain wird dafür aber nicht bestraft, sondern, weil diese Tat nicht zu rechtfertigen und unverzeihlich ist, sogar unter den Schutz Gottes gestellt. Diese Konsequenz erscheint heutigem Denken, das die Mythen nicht mehr versteht, widersprüchlich und anstößig. Ich bin im Rahmen meiner Arbeit auf eine Bemerkung des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel gestoßen, der sich mit der Rechtfertigungsfrage befasst hat. Er sagt dazu: Wegen dieses ihres eminent kritischen Charakters hat die Wahrheit des Evangeliums von der Rechtfertigung des Gottlosen von Anfang an Anstoß erregt. Und sie tut das bis heute. [...] Insofern galt von den ersten Anfängen des Christentums an und gilt noch immer: am Bekenntnis zum den Sünder rechtfertigenden Gott scheiden sich die Geister.8
Sie wissen ja, Kain wird trotz seines Verbrechens, seinen Bruder getötet zu haben, von Gott geschützt, er wird von Gott gerechtfertigt. Gott stellt ihn unter den Schutz des Kainszeichens und schützt damit ihn und seine Nachkommen. Die Rechtfertigung in dem Sinne, wie sie hier gedacht wird, im evangelischen, im reformatorischen Denken, ist eine Rechtfertigung, die sich auch von dieser Geschichte her versteht und dem Erzverbrecher Kain die Erlösung verheißt. Das ist der Kern des theologischen Streits, auf den ich jetzt aber nicht eingehen möchte. Mir geht es vielmehr darum, dass dieser Freiheitsbegriff, der eine solche Verheißung hat, zu einer Kultur des Individualismus geführt hat, gerade durch die Aufbrüche in den Künsten und Wissenschaften im Zuge der Renaissance und Reformation. Er hat dazu geführt, die verheißene Freiheit, die ursprünglich eine religiöse Freiheit ist, von ihrer Wurzel zu trennen, zu „säkularisieren". Der Theologe Friedrich Gogarten schreibt dazu: Es gibt aber zweierlei sehr verschiedene Säkularisationen. Beide haben ihren Grund in jener Herauslösung des Menschen aus der Umschlossenheit von Welt, die sich mit dem christlichen
g Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1999,12.
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Glauben ereignet. Mit der einen aber löst sich der neuzeitliche Mensch auch v o m christlichen Glauben. 9
Gogarten sieht hier eine doppelte Säkularisation: einerseits die durch die Moderne. Wie wir ja alle nachvollziehen können, hat die christliche Kultur als die beherbergende, die behausende Kultur nicht mehr die Funktion der Leitkultur, die moderne Kultur hat sich von ihrer christlichen Orientierung gelöst. Das ist das Eine, die „Herauslösung des Menschen aus der Umschlossenheit von Welt", dass der Mensch sich nicht mehr geborgen fühlt in dieser Welt, die von Gott für den Menschen bereit gestellt ist. Aber dann ist da eben das Weitere, dass sich auch der Mensch vom christlichen Glauben selbst ablöst. Mit der reformatorischen Rechtfertigung des Gottlosen, die am Anfang dieser Freiheit steht, mit dieser Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade verbindet Luther noch die Voraussetzung des Bekenntnisses unausweichlicher Schuld. Der reuige Sünder muss seine Schuld im Glauben eingestehen, sonst ist er nicht gerechtfertigt. Die Reue ist dabei kein Werk, sondern eine Haltung. Doch diese Voraussetzung tritt immer stärker in den Hintergrund vor dieser Verheißung von Freiheit, die hier in Aussicht gestellt wird. Von dieser Verheißung, die, wie gesagt, im reformatorischen Denken angelegt ist, geht nicht nur die Faszination einer grenzenlosen Freiheit aus, sie ist scheinbar auch billig zu haben. Diese Verheißung wirkt so stark, dass sich die Bedingung, die Luther voraussetzt, immer mehr verliert. So kommt es meines Erachtens zu einer ganz entscheidenden kulturellen Wende im Denken der Neuzeit: die Freiheit, die verheißene Freiheit, die Freiheit aus Gnade, löst sich von der religiösen Voraussetzung und Bedingung und wird zu einer fast anthropologischen Wirklichkeit einer bedingungslosen Freiheit. Wir haben deshalb in der Neuzeit eine Freiheit, die nicht mehr mit Schuld verbunden ist wie noch im reformatorischen Denken. Hier war es noch die Freiheit, die uns von der Schuld befreit, von der Schuld des Erzvaters, des Menschen überhaupt also, die auch in der Lehre von der „Erbsünde" ursprünglich gemeint ist. Freiheit ist immer Freiheit von der Schuld. Auch die Erbsünde greift auf einen Schuldbegriff zurück, der zweierlei Konzepte miteinander vermischt. Einerseits ist es die Schuld, die der Täter durch seine Straftat auf sich gezogen hat und die man ihm vorwerfen kann, also der Ungehorsam Adams oder die Mordtat des Kain. Auf der anderen Seite gibt es eine Schuld, die so furchtbar ist, dass sie durch die Strafe des Täters nicht gesühnt erscheint. Diese ist am Beispiel von Adam und Kain die mythische Schuld, die das ganze Geschlecht betrifft. Der Kirchenvater Augustin hat aus der mythischen Schuld des Geschlechts eine biologische gemacht, die als Schuld des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit durch den Geschlechtstrieb, man könnte fast sagen: wie eine Erbkrankheit weitergegeben wird. Darin ist der problematische Begriff der „Erbschuld" als „Erbsünde" zu sehen. Sie vermischt Täterschuld mit Daseinsschuld. Adam hat kein kriminelles und justiziables Vergehen begangen, das als eine kriminelle Tat des Urvaters über die Generationen hinweg vererbt wird. Eine solche Vorstellung ist unvorstellbar und unsinnig. Unter Erbschuld ist etwas anderes zu verstehen. Sie ist eine mythische oder metaphysische Schuld. Wie aber kann sie von der strafbaren und sühnbaren Schuld unterschieden werden?
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Friedrich Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, Stuttgart 1956, 107.
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Differenzierungen des Schuldbegriffes Im Jahr 1946 schrieb Jaspers eine bis heute wenig bekannte kleine Schrift über Die Schuldfrage, in der er dem „Schuldgerede", das nach dem Krieg losgebrochen war, eine differenzierte Auseinandersetzung gegenüberstellen wollte. 10 Er fand vier Schuldbegriffe, die völlig unterschiedlicher Art sind. Einerseits die kriminelle Schuld, die vor Gericht verhandelt wird, die Täterschuld, die persönlich vorwerfbare Schuld. Die anderen drei Schuldformen sind nicht mehr vorwerfbar, sie gehen über das Sanktionierbare hinaus: so die politische Schuld (die Schuld der Staatsmänner und der ihr unterstellten Bürger), weiterhin die moralische Schuld (die Schuld vor dem Gewissen) und als vierte Schuldart die metaphysische Schuld, eine Schuld, die auf die Solidarität abzielt, die wir als Gemeinschaft miteinander haben. Metaphysische Schuld betrifft bei Jaspers alles Vorwerfbare, das im Zusammenhang mit einem Verbrechen auftreten kann. Wie wird die Schuld nun im Strafrecht gesehen? Strafrechtlich ist Schuld zunächst einmal eine spezielle Form des Unrechtes. Unrecht ist ein generelles Unwert-Urteil über die Tat, und davon jetzt wieder ist die Schuld das individuelle Unwert-Urteil über die Handlung des Täters. Eine Handlung des Täters wird individuell im Sinne des Unwertes beurteilt. In diesem Sinne ist die Definition des Unrechts hier, die sie überall in Handwörterbüchern nachlesen können, „die Vorwerfbarkeit des mit Strafe bedrohten vorsätzlichen Handelns oder fahrlässigen Handelns." „Vorsätzlich" oder „fahrlässig", das sind die beiden Unterschiede, die man vorwerfen kann, also wohlgemerkt: des mit Strafe bedrohten, nicht irgendeines Handelns. Wie jetzt ζ. B. bei der Strafrechtsreform in der Türkei diskutiert wurde, ob Ehebruch noch mit Strafe bedroht sein sollte: Wenn dieser Paragraph besteht, dann würde jemand vor dem Strafgesetz schuldig werden, der Ehebruch begeht. Ist das Handeln vorsätzlich, dann wird unterschieden zwischen „unmittelbarem Vorsatz" - wenn also jemand einen Mord begehen will und das auch durchführt, also nicht nur die Absicht hat, sondern noch Erfolg - und dem bedingten Vorsatz - wenn also ein Bankräuber flieht und auf der Flucht einen Polizisten tötet, denn er hatte eigentlich nicht die Absicht, einen Menschen zu töten. Der bedingte Vorsatz ist bei diesem Beispiel ein Vorsatz der Tötung, der aber bedingt ist durch die Umstände der Flucht. Fahrlässigkeit wird selbst noch einmal unterschieden. So gibt es also die bewusste Fahrlässigkeit - auf der Autobahn hat man das immer wieder, wenn jemand schnell fahren will, drängelt und dicht auffährt, dann ist das eine bewusste Fahrlässigkeit, denn es kann dadurch leicht ein Unglück geschehen. Man vertraut darauf, dass nichts passiert, aber man nimmt in Kauf, dass jemand zu Tode kommt. Der bedingte Vorsatz und die unbewusste Fahrlässigkeit sind für eine Urteilsfindung schwer zu unterscheiden. Dann gibt es noch den unbewussten Vorsatz, dass man keine strafbare Handlung begehen wollte und auch keine bewusste Fahrlässigkeit zu erkennen ist, etwa wenn man im Straßenverkehr die Höchstgeschwindigkeit geringfügig überschreitet. Bei dieser Differenzierung des strafrechtlichen Schuldbegriffes - den zivilrechtlichen lassen wir jetzt einmal weg - , zeigt sich, dass er, und zwar noch differenziert in seiner Begrenzung nach Vorsatz und Fahrlässigkeit, verhältnismäßig klar begrenzt ist. Das ist auch wichtig, damit man entsprechend das Strafmaß feststellen kann. Strafe sollte ja gerecht sein. Was hier überhaupt nicht zur Sprache kommt, ist die Schuld, die über die Handlung des Täters hinausgeht. Dies ist aber gerade die Schuld, mit der wir uns normalerweise herum-
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Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946.
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schlagen; wenn wir uns an die Gesetze halten und nicht sittenwidrig leben, haben wir ja trotzdem Schuldprobleme. Jeder Mensch hat täglich mit Schuld zu tun. Diese Schuld, die nicht strafbar ist und die man trotzdem erfährt, habe ich „Daseinsschuld" genannt, weil es eine Schuld ist, die aus einer ganz ursprünglichen Wurzel herkommt, aus der Tatsache zu existieren.' 1 Daseinsschuld ist im Unterschied zur Täterschuld eine persönlich nicht vorwerfbare Schuld, die aber trotzdem da ist. Wir sind nämlich, wenn wir leben, um einmal eine Formel von Albert Schweitzer hier aufzugreifen, wir sind „Leben, das leben will, innerhalb von Leben, das leben will." So hat Albert Schweitzer die Erfurcht vor dem Leben begründet. 12 Damit wird aber auch deutlich, dass trotz der Ehrfurcht oder gerade in der Ehrfurcht getötet werden muss, um leben zu wollen und zu müssen. Allein durch diese Tatsache wird ein Verschulden bewusst. Und das ist, wie gesagt, nicht etwas, das nur psychologisch hergeleitet wäre, vielmehr findet man in alten Kulturen und Kulten dieses Phänomen der Schuld in den Jagd- und Schlachtriten wieder. Der Jäger tötet immer mit einer gewissen Schuld. Das Schlachten von Tieren ist ebenfalls schuldbeladen und war den Priestern, den sakralen Menschen, vorbehalten. Der Umgang mit der Natur hat hier etwas Ehrfurchtsvolles, etwas Heiliges, jeder Eingriff in die Natur führt Schuld mit sich. Dieser Zusammenhang von Leben-wollen und Töten-müssen unter dem Zeichen der Ehrfurcht ist im heutigen modernen Leben vollständig verloren gegangen. Das ist also die Schuld gegenüber dem Leben, man könnte auch sagen: gegenüber der Natur. Es gibt auch eine Schuld gegenüber dem Ursprung, diese Schuld ist auch mythisch. Die Mythen handeln von den Ursprüngen, von dem Entstehen der Welt und der Menschen, und meistens, ja eigentlich immer ist dieser Ursprung ein Verbrechen. Die Schuld gegenüber dem Ursprung und gegenüber den Ahnen bedeutet ein Verschuldetsein und Verpflichtetsein, nicht nur in dem Sinn, etwas Übles getan zu haben, sondern ihr Lebenswerk, die Tradition weiter zu tragen. Die Ahnen haben etwas hinterlassen, das fortgeführt werden sollte. Diese Haltung, das eigene Lebenswerk, die eigene Geschichte fortzusetzen, wird auch gegenüber den eigenen Nachkommen entwickelt. Der Schuldbegriff betrifft hier nur entfernt die rechtlichen und moralischen Zusammenhänge, er betrifft dagegen zentral die Geschichtlichkeit des Menschen. Der Mensch lebt in Geschichte, in Geschichten, und er führt die Geschichte seiner Väter, seiner Mütter fort. Diese Schuld ist etwas ganz anderes als die Täterschuld, und das Problem ist, dass diese beiden Schuldarten miteinander vermischt werden, nicht nur in der Erbsündenlehre, sondern heute vor allem bei dem unsinnigen Vorwurf der „Kollektivschuld". Kollektivschuld ist - ebenso wie „Tätervolk" - eine ideologische Wortbildung, ein Un-Wort sozusagen. Strafrechtliche Schuld ist immer an Täter gebunden. Ein ganzes Volk kann nicht Täter sein, höchstens ein Bienenvolk, wenn alle zustechen. So kann es zwar ein Volk von Tätern geben, eine Bande sozusagen, aber kein Tätervolk. Wo solche Begriffe wie „Kollektivschuld" oder „Tätervolk" verwendet werden, wird Daseinsschuld mit der Täterschuld vermischt. Das geschieht aber immer mit einer Absicht, einem ideologisches Ziel: Eine Gruppe soll für strafrechtlich nicht justiziable Schuld strafrechtlich verurteilt werden.
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Stephan Grätzel, Dasein ohne Schuld, 31. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1923.
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Entsühnung und Freiheit Wichtig für den Schuldbegriff ist nun, wie Schuld durch die unterschiedlichen Formen der Strafe und Sühne gesühnt wird. Die Strafe soll ein Schuldausgleich sein, sie soll auch gerecht sein. Deswegen braucht man diese Unterscheidungen zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz. Die Durchführung der Strafe ist die Verbüßung der Strafe, vom Bußzettel bis zur Haft. Die Verbüßung hat den Rechtszweck, dass sie Vergeltung sein soll, das war früher der wichtigste Strafzweck. Deswegen nennt man die Strafe hier quia peccatum, sie bezieht sich auf die Fehlhandlung in der Vergangenheit. Bei den Novellierungen des Strafrechtes wurde der Vorbeugung - ne peccetur - eine größere Bedeutung eingeräumt. Dabei wurde die Generalprävention, die der Abschreckung dienen soll, um verschiedene Spezialpräventionen ergänzt, durch die ζ. B. eine Besserung des Täters angestrebt wird. Auch das können Maßnahmen oder Vorbeugungen sein. Wenn wir das einmal vergleichen mit der Entsühnung von Daseinsschuld, dann ist das etwas ganz anderes. Hier gibt es keine Strafe, hier ist Sühne das alleinige Mittel. Sühne kann aber, in Anbetracht der Unverzeihlichkeit der Tat, der Einzelne alleine nicht leisten, weder für sich noch für die anderen. Sühne braucht Vergebung und Gnade. Das war es, was Luther mit seinem Rechtfertigungsgedanken unterstreichen wollte: wir sind abhängig von der Gnade Gottes. Die entscheidende Voraussetzung für Vergebung und Gnade ist aber das Bewusstsein oder die Haltung, die um die ursprüngliche Schuld, dass wir leben auf Kosten anderer Leben, um die Daseinsschuld weiß. Das versteht man normalerweise unter Buße, die Erkenntnis und Annahme untilgbarer Schuld, die übernommen wird, man könnte sagen: ob man will oder nicht. Sie wird auch übertragen in die Zukunft, und zwar in der Weise, dass wir das, was wir tun, ob wir wollen oder nicht, Auswirkungen hat auf das, was zukünftige Generationen zu tragen und zu ertragen haben. Hier wird also Schuld vererbt und zwar dadurch, dass die Sühne über die Generationen hinweg geht. Meines Erachtens ist diese metaphysische oder Daseinsschuld eine Erbschuld, weil sie über Generationen hinweg gebüßt wird. Sie findet sich auch im Alten Testament, wie ich schon sagte, in der KainsGeschichte in Genesis 4, 13: „Kain aber sprach zu dem Herrn: meine Sünde [Schuld, S. G.] ist größer denn dass sie mir vergeben werden möge." Kains Schuld ist unermesslich, und entsprechend unermesslich muss dann auch die Vergebung sein. Die Frage der christlichen Übernahme von Schuld oder die Stellvertretung von Schuld sehe ich auch im Sinne von Daseinsschuld und nicht von Täterschuld. Christus ist nicht für menschliche Schurkereien gestorben, sondern für diese Vergebung oder Entsühnung von Schuld. Und auch hier lehrt das christliche Vorbild, Schuld nicht abzutreten, sondern zu übernehmen. Die Formen der Abtretung von Schuld haben wir vor allem im falschen Verständnis des Sündenbocks. Der Sündenbock soll alle Schuld auf sich nehmen. Diese in meinen Augen falsche Sündenbock-Theorie plädiert nur für eine Abwälzung der eigenen Mitschuld und ist damit geradezu das Gegenteil des Stellvertretungsgedankens, der ein gemeinsames Tragen der Schuld in Aussicht stellt und auch fordert. Stellvertretung von Schuld ist im Unterschied zu Abtretung von Schuld das Bewusstwerden und Übernehmen von Daseinsschuld, der Schuld also, zu leben inmitten und auf Kosten von anderem Leben. Diese Schuld betrifft alle, das Kollektiv. Aber gerade deswegen ist diese Schuld keine kollektive Täterschuld. Es gibt kein Kollektiv von Tätern. Begriffe wie „Tätervolk" oder „Kollektivschuld", aber auch „Erbsünde" sind eine konfuse Vermischung
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von Daseinsschuld mit dem modernen strafrechtlichen Schuldbegriff. Unrecht wird durch Strafe gesühnt, Daseinsschuld kann nur durch Stellvertretung gesühnt werden. Hier steht der Einzelne in einem kollektiven und überzeitlichen Schuldzusammenhang, weil er nicht als Einzelner, sondern immer in Gemeinschaften mit der Natur und mit dem Mitmenschen lebt. In der Gemeinschaft und mit ihr ist auch Sühne möglich. So wird auch das politisch und moralisch Unverzeihliche verzeihlich, weil es eine Sühne für das Unverzeihliche schlechthin, die Daseinsschuld, gibt. Die Verzeihung des Unverzeihlichen ist sogar die Grundvoraussetzung für das Heil des Menschen, sei es nun religiöser Art oder nur moralischer, denn das Heil ist erst dann erreicht, wenn alle entsühnt sind. Die Spur eines Makels, eines Rests an Verbrechen in einer Gemeinschaft lässt diese Gemeinschaft nicht heil werden. Deshalb kann eine Gemeinschaft nur ethisch-moralisch aufblühen, wenn sie Verzeihung und Gnade kennt. Denn auch die tiefste Schuld des Menschen, die Daseinsschuld, ist nur durch Verzeihung und Gnade zu tragen. Hier liegt auch der Zusammenhang zwischen Schuld und Freiheit. Freiheit kann nicht individuell errungen und verwirklicht werden, sie ist abhängig von dem Schuldzusammenhang, in dem der Einzelnen steht, weil er in der Gemeinschaft mit der Natur und den Mitmenschen lebt. Aus diesen Gemeinschaften und mit ihnen wird eine Solidarität im Opfer und in der gegenseitigen Vergebung errungen, aus der sich dann die Freiheit des Einzelnen entwickeln kann.
REINHARD MOCEK
Aufklärung im Zeichen eines destruktiven Geschichtssubjekts
Eigentlich wollte ich, als ich zur Mitarbeit an diesem Band gebeten wurde, einen ganz persönlichen Artikel schreiben. Hans-Martin Gerlach und ich haben in Leipzig Mitte bzw. Ende der fünfziger Jahre Philosophie studiert und waren danach am Philosophischen Institut in Halle an der Saale tätig, nahezu ein Vierteljahrhundert in Lehre und Forschung verbunden, haben gemeinsam publiziert und standen inmitten der philosophischen Kultur der DDR. Vieles, was uns damals und in den Jahren danach bewegte, hatte seine Wurzeln im Studienerlebnis in Leipzig. Es war das Erlebnis einer spannungsgeladenen politischen wie geistigkulturellen Situation, und es war das Gewahrwerden der Höhenflüge wie der Abgründe einer spezifischen Form philosophischer Aufklärung, der marxistischen, unser hauptsächliches Studienobjekt. Aufklärung war für uns die diskursive Vermittlung der Denkkultur fortschrittlicher Epochen der Menschheitsgeschichte in Relation zu einer Form von Aufklärung, die sich als Sieger der Geschichte wähnte. Es war Fortschrittsglaube und Zuversicht, verbunden mit einer gewissen Naivität, die derartigem Optimismus in der Regel eigen ist. Und das war, gewissermaßen als Gegenstück, verbunden mit der Überzeugung, dass andere in dieser zentralen Menschheitsfrage auf dem falschen Weg waren! Und schließlich war diese Aufklärung das Gewahrwerden mehrerer Möglichkeiten, mit Marxens Werk umzugehen. Wir hörten Marx im Kontext von Weltwissen und Weltweisheit. Der uns das als erster vermittelte, war Ernst Bloch. Nicht nur nebenher, sondern konzeptionell. Auch die wenig später ihr Studium in Leipzig begannen und Bloch selbst nicht mehr hörten, erfuhren davon, denn eine solche Atmosphäre verfliegt nicht von heute auf morgen. Aber man beginnt sein Studium nicht mit dem Vorwissen um die konkrete Studiensituation, in die man versetzt ist. In den ersten beiden Semestern, da wir uns, noch weit weg von Blochs Vorlesungen, in die Geschichte des philosophischen Denkens einzuarbeiten hatten, vernahmen wir, dass just am selben Orte, im Hörsaal nebenan, ein ganz anderer Marxismus vorgetragen wurde. Anders zunächst mit Blick auf die kategoriale Struktur, denn dem Fundamentalaufbau des Marxismus über den Materiebegriff, wie es damals üblich war und dem sich der nachvollziehende Weltaufbau bis zur Entstehung der höheren Bewegungsformen anschloss, stand eine Darstellung gegenüber, die sofort nach „dem Unseren" im philosophischen Weltgeist fragte. Und in der die Hoffnung nach einem wahrhaft menschlichen Wegziel der nun, nach dem zweiten Weltkriege, wohl endlich vernünftig gewordenen Menschheit eine wichtige Rolle spielte. Zur Kraft dieser Idee kam die historische Erläuterung über diejenigen, die durch ihr Werktätigsein die Letztgültigkeit dieser Ideen garantieren. Ein Geschichtssubjekt erschien vor unseren Augen, eine historische Kraft, die das von der bürgerlichen Aufklärung versprochene Ziel eines Ausbruchs aus der von der Gattung selbstver-
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schuldeten Unmündigkeit des ausgebeuteten Menschseins endlich wird erkämpfen können. Dies nun sei die historische Mission des Proletariats und sie wurde zur Zentralthese dieser unserer Aufklärung, vorgetragen im Wissen darum, dass sich in dieser Frage die Weltmächte diametral gegenüberstanden. Von Kampf wurde damals viel gesprochen. Der Blick auf die übrige Welt zeigte, dass sich viel bewegte, zu bewegen war. Ein hier eingreifendes Philosophieren, so glaubten wir alle, mache einen guten Sinn. Diesen Leipziger Jahren will ich nun ein wenig nachgehen. Denn das kleine Stück erlebte Philosophiegeschichte am Leipziger Institut ist eingegossen in eine aufregende Epoche der Herausbildung und Entwicklung einer für deutsche Verhältnisse völlig neuen sozialen wie ideellen Wirklichkeit. Ein neuer Geist sollte einziehen in die Universitäten der DDR, orientiert an Marxens Lehre und den in seinem Sinne wirkenden Theoretikern der Arbeiterbewegung; wobei es falsch wäre, zu übersehen, dass auch die gesamte Geschichte des philosophischen Denkens zum Gegenstand des Studiums wurde - allerdings vorwiegend kritisch betrachtet und auch ein wenig sortiert nach seinem Beitrag zur Herausbildung eben jener - wie man in aller revolutionären Unbescheidenheit glaubte - höchsten und entwickeltsten Form philosophischen Denkens, die im Marxismus verkörpert schien. Und an der Spitze des Leipziger Philosophie-Lehrkörpers, auf dessen Differenziertheit und Widersprüchlichkeit noch einzugehen ist, stand die eigenwillige Denkerpersönlichkeit Ernst Bloch. Die vorliegende Literatur, vor allem die zu Leben und Werk Ernst Blochs, gibt hinreichenden Aufschluss über die Spannung jener Leipziger Jahre mit Bloch, der von 1949 bis 1957 als Direktor des Philosophischen Instituts wirkte und bis 1961 noch in der DDR lebte.1 Es ist jedoch auffällig, dass die durch Bloch der Leipziger Schule2 aufgeprägte Besonderheit in der DDR-kritischen Literatur seit der Wende nach meiner Übersicht kaum wahrgenommen wird. Zudem wird diese Schule ausschließlich auf die Person Blochs und seine Schüler bezogen, was wohl so nicht stimmt. Was die anderen angeht, gilt als uninteressant. Immerhin startete das Studienjahr, mit dem ich 1954 mein Studium in Leipzig begann, mit drei Seminargruppen.3 Das waren rund 50 Philosophiestudenten - eine auch im Vergleich zu den späteren Jahren enorme Zahl, die allerdings für die bislang mit einem kleinen Häuflein Studierender befassten Professoren und Assistenten ihren Schrecken verlor, da bereits im Verlauf des ersten Semesters sich diese stolze Zahl drastisch reduzierte. In Gerlachs Jahrgang war es ähnlich; später ging der Ansturm auf das Philosophiestudium allerdings stark zurück. Fraglos war Bloch der bestimmende Geist der Leipziger Szene; neben seinem Philosophieren wirkte er durch die mit seiner Persönlichkeit gegebene ständige Präsenz von Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Der später von Kurt Hager, dem für die geistige Kultur zuständigen Sekretär des Politbüros der SED, an Blochs Adresse gerichtete Vorwurf einer Verführung der (akademischen) Jugend war de facto weniger auf eine Verführungsabsicht als auf die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit gerichtet. Das nahmen wir auch nicht als Verführung wahr - wie denn auch sollte man sich an einer Universität als geistig Verführter wähnen? Ein zweiter von Hager gegen Bloch erhobener Vorwurf war aus heutiger Sicht eher erheiternd - er, Bloch, mache öffentlich Witze über Walter Ulbricht! Damals freilich
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Vgl. u. a. Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch, Baden-Baden 1987. Dieser Begriff ist allerdings unüblich; ich verwende ihn hier, um auf ein ganzes Bündel von Besonderheiten aufmerksam zu machen, die für die Entwicklung der marxistischen Philosophie am Leipziger Institut bestimmend geworden sind. Die Einführung von Seminargruppen war eine Neuerung der zweiten Hochschulreform in der DDR, von der man sich mehr Übersichtlichkeit und bessere Kontrollmöglichkeiten versprach.
IM ZEICHEN EINES DESTRUKTIVEN GESCHICHTSSUBJEKTS
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war das ein Sakrileg. Der dritte Vorwurf stimmte uns nachdenklich: Bloch würde den Anspruch erheben, der gegenüber dem parteioffiziellen Marxismus alleinige Sachkundige in Fragen der marxistischen Theorie zu sein. War an diesem nichts zu deuten? War diese Philosophie, die so eminent dialektisch daherkam, etwa schon zum Ende gekommen? Auf der anderen Seite hat Bloch hinlänglich viele Ergebenheitserklärungen an die Adresse der SED formuliert, die für ihn allemal an der Spitze des besseren Deutschland stand. Bloch war mithin so und so zitierbar. So führte der Ende der fünfziger Jahre erfolgende BlochHinauswurf keineswegs schnurstracks zur puren Eingepasstheit der Leipziger Philosophie in die Enge des parteibestimmten philosophischen Lebens in der DDR. Uns Studenten hatte sich zumindest ein Abglanz der Weite und kulturellen Verantwortung von Philosophie erhalten - auch unter Bedingungen, die uns ständig die aus der historischen Mission des Proletariats vermeintlich unwiderlegbar hervorbrechende Pflicht suggerierten, konforme Mitstreiter, Interpreten und Ratgeber der Parteiobrigkeit zu sein. Wobei letzteres schon als Anmaßung galt, aber aus der philosophischen Literatur der DDR nie ganz zu tilgen war. Denn viele damit verbundene Fragen, erklärlicherweise auch Antworten, stießen sofort auf hellhörigen Argwohn. Querzudenken war uns früh schon als Privileg ganz weniger erfahrbar; aber selbst diese hatten es in schwierigen Zeiten schwer. Nun gab es während der fünfziger Jahre bekanntlich mindestens zwei das geistige Leben herausfordernde und zugleich empfindlich treffende sozialpolitische Ereignisse - der sich bald aufstandsähnlich entwickelnde Streik der Berliner Bauarbeiter rund um den 17. Juni 1953 und der XX. Parteitag der KPdSU 1956. Beide Ereignisse forderten Stellungnahmen heraus. Dabei fanden die Ereignisse des 17. Juni sowohl bei Bloch als auch bei den anderen Mitgliedern des Lehrkörpers, soweit ich mich erinnere, keine Zustimmung, wenngleich dieser Sachverhalt dem Selbstverständnis einer sozialistischen Partei zutiefst zuwiderlief und auch so empfunden wurde. Eher befreiend, aber in der Reflexion der politischen Geschichte der DDR geradezu niederschmetternd blieb die Wirkung des ersten nachstalinschen sowjetischen Parteitages. Vor allem Bloch forderte Selbstkritik der Partei am Institut. Seine Schüler schlossen sich an. Wie ernst die Parteispitze ihren Vorsatz nahm, den Stalinismus ohne Selbstkritik im Vorwärtsschreiten zu überwinden, zeigte sich an der nun folgenden Kriminalisierung des Blochschen Einflusses auf die damaligen Debatten. Aber nicht Bloch, sondern seine Schüler wurden verhaftet. Ein seltsamer Sachverhalt! Ein solches Philosophiestudium prägt. Doch hier wäre ein fundamentaler Unterschied zu machen zwischen der Generation von Philosophiestudenten, denen Gerlach und auch ich angehörten, und jener Generation, die bereits ab 1949 zu Blochs Füßen saß. Zu dieser Generation der Semester vor uns hatten wir kaum Kontakt. Das war, wie man heute sagen könnte, eine andere soziologische Welt. Sie waren im Durchschnitt fünf bis zehn Jahre älter als wir, hatten den Krieg noch bewusst miterlebt, zum Teil als letztes Aufgebot für den Naziwahnsinn noch Gesundheit und Leben riskiert. Das hörten wir mit Respekt. Bei ihnen war die Begegnung mit Bloch keine Prägung, sondern Aufarbeitung des durch den Faschismus Erlebten im philosophischen Geiste. Und das war gekoppelt mit dem Einverständnis dessen, wie man damals mit linken, kommunistischen Idealen umging - sie klangen logisch und steckten hinter dem Heroismus einer Großmacht, die im Kampf gegen den Hitlerismus den größten Blutzoll entrichtet hatte. Dazu schien es damals, in diesem Kreise, keine vernünftige Alternative zu geben. Und das Wort „vernünftig" war es, das einer solchen Feststellung ihr auf Bloch und die Philosophie bezogenes Gewicht verlieh. Denn Blochs Vernunftbegriff lag ganz im Rahmen dieser historischen Erfahrung, war aber keine bloße begriffsverstiegene Parallelität zur Ideenwelt des Kommunismus sowjetischer Prägung, sondern war zugleich etwas anderes. Sie war alternativ und gleichen Geistes. Sie war
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Apotheose des Neuen ohne propagandistische Zubereitung, wie sie den Studenten seinerzeit natürlich auch und nicht selten im Übermaß zugemutet worden war, sondern hier stand die Kontinuität und Unausrottbarkeit des historisch Gerechten und Guten vor uns. Bloch entdeckte uns die Ideengeschichte der auf Marxens Humanismus zusteuernden Philosophie. Dieses Gute und Gerechte, dieser Wärmestrom des Denkens, so zeigte Bloch, war hundertfach schon vorgedacht. Ein Joachim di Fiore, ein Thomas Müntzer, die großen Aufklärer, die deutsche philosophische Klassik, der utopische Sozialismus - Welten einer Vorläuferschaft, die es anzueignen galt. Und wir hörten und glaubten, dass es so etwas wie allgemeine Interessen der Menschheit gebe und einen gangbaren Weg zu ihrer Erfüllung. Und da fühlten wir uns nicht allein in der Philosophenwelt; diese war anzueignen. Aber aufgeklärtes Menschsein war kein bloßer Bildungsakt, sondern, so schien es und das war Blochs Überzeugung, es lag in der Tendenz der Geschichte. Nicht nur Bloch lehrte das, sondern diese Ideen erfüllten auch den klug vorgestellten Marxismus durch die anderen Lehrerpersönlichkeiten am philosophischen Institut. Ich hörte später, in den Jahren nach der Wende, unser Philosophiestudium sei bloße Schulung gewesen. Wie einfach ist doch die anmaßende Außenperspektive. Doch war für uns, Gerlach und mich, der nachfolgenden Generation also, das Erlebnis Philosophie verglichen mit denen, die zuerst in Blochs Veranstaltungen saßen, in mancher Hinsicht anders. Wir kamen direkt vom Gymnasium. Krieg war für uns die Erinnerung an den Luftschutzkeller, das erstaunte Zurkenntnisnehmen, dass neben uns sitzende Schüler, die seit 1944 in unsere Schulklasse kamen, ganz anders sprachen als wir. Ostpreußischer, böhmischer, schlesischer Dialekt wetteiferte mit meinem Sächsisch und Gerlachs heiterbreitem Mansfeldisch. Und zur Philosophie waren wir nicht aus innerer Lebensnot heraus gekommen. Eher aus der Qual, sich für ein Studium entscheiden zu müssen, zumal wir keine Absolventen der Arbeiter- und Bauern-Fakultät waren und somit nicht das Glück hatten, für ein naturwissenschaftliches Studienfach bevorzugt zu werden. Philosophie war auf diese Weise für uns zum Notnagel geworden. Was kannten wir schon, außer dem Kurzverschnitt im Gegenwartskunde-Unterricht am Gymnasium, das zur selben Zeit in Oberschule umbenannt wurde? Die meisten unserer Lehrer waren schon vor 1945 im Schuldienst. Widerständler waren nicht unter ihnen, und auch keine Anhänger sozialistischer Ideen. Gerlach mag es in Wimmelburg nicht anders ergangen sein. Und nun erlebten wir am philosophischen Institut den Emigranten Bloch; den Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands Klaus Zweiling; den jüdischen Intellektuellen Josef Schleifstein; den feinfühligen Pädagogen und Logiker Johannes Heinz Horn, der wenig später an der Blochaffäre zerbrach; den aus der Sowjetunion zurückgekehrten Sohn des naziverfolgten Worpsweder Malers Heinrich Vogeler, Jan Jürgen Vogeler, der uns in jeder Vorlesung mit glänzenden Augen die Philosophie als pure Erlebniswelt vorstellte; die engagierten Blochschüler Lothar Kleine, Frank Fiedler, Hans Pfeiffer und Jürgen Teller; Absolventen der Moskauer Staatlichen Universität wie Gerd Ludwig und Helmut Seidel, wobei vor allem letzterer zäh und wagemutig den Anspruch vertrat, den ganzen, unselektierten Marxismus in die geistige Kultur der DDR einzubringen und einer Erneuerung des dogmatischen Marxismus-Verschnitts der frühen Lehrbuchliteratur zugrunde zu legen, in dieser Frage von dem episodisch nach Leipzig delegierten Alfred Kosing engagiert unterstützt. Zu unseren Lehrern in Leipzig gehörte der parteiergebene, dennoch unentwegt gegen die Engstirnigkeit von Entscheidungsträgern in Partei und Ministerium ringende Robert Schulz, der es einfach nicht überwinden konnte, dass dort die von ihm wohl zuerst in der DDR in Lehre und Forschung vertretene Soziologie partout nicht anerkannt wurde. Und gerade diese Soziologie erschien ihm als einziges Mittel, sich der
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Intimstruktur des Weltereignisses „Sozialismus" zu vergewissern! Und Rudolf Rochhausen darf nicht übergangen werden, der in der von Bloch inaugurierten historisch ästhetischen Atmosphäre des Instituts den naturwissenschaftlichen Problempol vertrat; von den anderen eher ignoriert als geschätzt, denn ganz im Blochschen Sinne schien aus den philosophischen Tänzen um das Naturwissen keine lebensbefördernde Erkenntnis resultieren zu können. Doch gerade auf diesem Gebiet vermochte sich in der DDR-Philosophie zuerst so etwas wie ein modernes eigenständiges Problembewusstsein zu erheben in Gestalt der von Rochhausen in Leipzig wie etwa zeitgleich von Hermann Ley in Berlin auf den Weg gebrachten Fundamentalkritik an den dogmatischen Irrlehren des Lyssenkoismus sowie diverser anderer Entstellungen naturwissenschaftlicher Theorien. Und schließlich sei Rugard Otto Gropp genannt, den wir als innerlich wie verwundet wirkenden Blochfreund und schließlich Blochfeind erlebten - eine studentische Vorahnung auf das, was Parteidisziplin in Fragen der Theorie des Marxismus anzurichten vermag. Aber es war alles andere als ein formierter Lehrkörper, der uns da gegenübertrat. Kein üblicher konformer Parteimarxismus also. Das alles spricht dafür, dass die Leipziger Schule durch die Spezifik ihrer Zusammensetzung wie die Umstände der Aufarbeitung des Blochschen Einflusses eine bestimmte Eigenart im philosophischen Leben der DDR auch in der Folgezeit bewahrt hat. Es führte zu weit, diese These Punkt für Punkt auszuführen; nur einige Stichpunkte seien genannt. Unter Kosings Leitung entstand hier die erste wissenschaftstheoretische Publikation des DDR-Marxismus. 4 Karel Berka, der tschechische Logiker und langjährige Gastdozent in Leipzig, hat die von Bela Fogarasi und anderen damals gelehrte Form einer marxistischen Logik klug und leise ersetzt durch eine kritische Bestandsaufnahme der internationalen Logikliteratur. Im Jahr 1966 schockte Helmut Seidel nicht nur die philosophische Öffentlichkeit durch einen programmatischen Artikel zur Neubestimmung des Gegenstandes der marxistischen Philosophie. 5 Auf andere konzeptionelle Einträge in das philosophische Leben der DDR wurde schon verwiesen; zu ergänzen wäre u. a. die Kantarbeit von Martina Thom und das umfangreiche erkenntnistheoretische Werk von Dieter Wittich, der dann wenig später zusammen mit Horst Poldrack das wissenschaftshistorische Vermächtnis von Boris Hessen aufarbeitete. Prägung war also auch die Erfahrung, dass der Marxismus lebte, obwohl er in der Gefahr stand, eingemauert und zum Schulungsstoff degradiert zu werden. Aber so gar nicht weit davon entfernt war für uns die (auch von Bloch durchaus nahegelegte) Einsicht, wonach dieser Marxismus eine Art Schlusspunkt der Weltgewissheit sei, das gute Ende der Aufklärung über Mensch und Geschichte. Angesichts dessen gab es links und rechts von diesem System im Grunde genommen kein unschuldiges Philosophieren! Die Abfuhr, die dem philosophierenden Jesuitenpater Gustav Wetter durch einen führenden DDR-Philosophen jener Jahre, Georg Klaus, erteilt wurde, bildete für längere Sicht den Maßstab für Stil und Unerbittlichkeit jener Auseinandersetzungen. 6 Vor allem das Geschichtsverständnis westdeutscher Nachkriegsreflexionen stieß in der DDR-Philosophie auf durchgängige Ablehnung. Auf dem dritten westdeutschen Philosophiekongress 1950 in Bremen sprach Klaus Ziegler davon, dass der seit der Aufklärung in Gang gekommene Prozess der Entmythisierung dieser Welt eine Umkehrung erfahren habe; und „die spezifisch mythischen und auch
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Autorenkollektiv, Leitung Alfred Kosing, Die Wissenschaft von der Wissenschaft, Berlin 1968. Helmut Seidel, „Vom praktischen und theoretischen Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit", in: Deutsche Zeitschrift ftir Philosophie, 14. Jg. (1966), Heft 10, 1177-1191. Georg Klaus, Jesuiten, Gott, Materie, Berlin 2 1958.
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,numinosen' Qualitäten des Unerhörten und Ungeheuren scheinen wieder zu einem unmittelbaren Bestandteil der objektiven realen Welt- und Lebenszusammenhänge" zu werden. 7 Das bedeutete nichts weniger als eine Abwendung von den historischen Leistungen der Aufklärung! Die Abgründigkeit unseres Weltseins wurde beklagt, die Ohnmacht des geschichtlichen Subjektes beschworen. Wer es nachlesen möchte, schaue in Wolfgang Heises Buch Auforuch in die Illusion oder greife auf eine der vielen Kritikschriften zurück, die im Anschluss an Georg Lukäcs Zerstörung der Vernunft erschienen sind. 8 Wie anders der Blochsche Zugriff auf den Geist der Zeit! Und wie anders, im gleichen Sinne anders und mit diesem Blochschen Geist wesensverwandt, war die DDRmarxistische Verteidigung der Aufklärung. Aus heutiger Sicht mag Überschwang und Blauäugigkeit den Kritiker verstimmen; damals war die Haltung zu Geschichte und Gegenwart aufgeklärten Philosophierens mitentscheidend für die Einordnung der betreffenden Philosophie in die Wertetabelle reaktionär oder fortschrittlich. Man selbst wähnte sich auf der fortschrittlichen Seite, wie auch anders. Das Gegenteil galt als marxistisch undenkbar. Der abmessende Vergleich zum westdeutschen Philosophieren war mithin ein ganz wichtiger Punkt für das eigene Selbstverständnis. Der Anspruch der marxistischen Kritik war dabei von Anfang an mit der Kritik des diese Philosophien tragenden gesellschaftlichen Systems verbunden. Das nun folgte klaren politischen Prämissen. Bürgerliche Philosophie 9 wurde aus dem philosophischen Erkenntnishorizont weitgehend herausgebrochen. Es gehörte zum Gründungs-Selbst-verständnis der politischen DDR-Elite, dass die DDR der historisch rechtmäßige, einzig legitimierte deutsche Staat nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur war. Blickt man in älteres politisches Schrifttum, dann wird die große Bedeutung sichtbar, die die kommunistischen und nicht wenige andere politischen Kräfte in der damaligen sowjetischen Besatzungszone dem Urteilsspruch des Manifestes der Antifaschistischen Aktion zuerkannten, der vom Antifaschistischen Einheitskongress in Berlin bereits am 10. Juni 1932 beschlossen worden war. Der Parteivorstand der SED hat diesen Spruch in einer Beratung am 4. Oktober 1949 aufgegriffen und auf die historische Mitschuld des deutschen Imperialismus an den Kriegsverbrechen des Faschismus erweitert. Der von der SED initiierte deutsche Nationalkongress am 17. Juni 1962 in Berlin als Bestandteil einer der vielen damaligen Initiativen der SED zu Verhandlungen über eine deutsche Wiedervereinigung hat dann diesen Urteilsspruch erneut in den Mittelpunkt gestellt und aktualisiert. Danach habe die deutsche Bourgeoisie „jeden Anspruch auf die Führung Deutschlands verspielt". 10 An dieser Stelle soll die staatstheoretische Berechtigung oder Nichtberechtigung dieses Urteils nicht diskutiert werden; wichtig ist, dass das hieraus resultierende staatstragende Selbstbewusstsein der DDR nicht nur die propagandistische Selbstdarstellung bestimmt und
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Vgl. Symphilosophein. Bericht über den Dritten Deutschen Kongreß für Philosophie Bremen 1950, München 1952, 265. Wolfgang Heise, Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964; Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin und Weimar 1954. Dieser Begriff war natürlich unpräzis; „bürgerliches Denken" war in der Regel ein solches, das sich polemisch gegen den Materialismus und die Dialektik richtete sowie sich politisch gegen die D D R und das sozialistische Weltsystem aussprach. Waren DDR-freundliche Positionen mit Antimaterialismus und Antidialektik verbunden, war die DDR-Polemik wesentlich milder. Beispiele erspare ich mir. Zitiert nach: Studienmaterial für das marxistisch-leninistische gewählte Dokumente, Berlin 1968, 55.
Grundlagenstudium,
II. Teil. Aus-
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durchdrungen hat, sondern auch die politischen und historischen Wissenschaften sowie Teile der Pädagogik und der Philosophie. Insofern stellte sich der geistige Kontrahent, die bürgerliche Philosophie, als historische Legitimationskraft für eben diesen geschichtsverurteilten Imperialismus dar; und insofern wurden dieser Philosophie so ziemlich alle Qualitäten philosophischer Erkenntnis aberkannt. Es hat lange gedauert, ehe sich das imperialismuskritische Schrifttum der DDR von dieser kurzschlüssigen Ineinssetzung von Imperialismus und bürgerlicher Philosophie freimachen konnte. Noch in den achtziger Jahren wurde von einer als maßgeblich betrachteten Schrift als hauptsächliche Kennzeichen der bürgerlichen Philosophie der Verzicht auf Fortschritt, Geschichte, Erkenntnis und Wahrheit vorgestellt. 11 Eine solche Totalkritik schießt natürlich an der Sache vorbei, entspricht jedoch der Zuordnung der deutschen bürgerlichen Philosophie als geistigem Interessenträger des deutschen Imperialismus. Die Tatsache, dass politische Philosophie in aller Regel soziale Interessen zugrunde hat, ist ebenso unleugbar wie die Vielfalt der Parteiungen und die der Philosophie stets eigene Fähigkeit, auch in der Zustimmung Vorbehalte zu benennen oder sich gegenüber politischen Strömungen der Stimme zu enthalten. Eine solche Totalkritik blieb übrigens nicht unwidersprochen. Dass dies in einer DDR-Publikation geschah, ist wesentlich mit den Forschungen von Hans-Martin Gerlach zur Philosophie von Edmund Husserl und Martin Heidegger zu verdanken. 12 Auf der anderen Seite ist so manche Analyse der DDR-Philosophie zu bestimmten Erscheinungen der geistigen Kultur der BRD keineswegs das bloße Resultat erfindungsreicher marxistischer Propaganda. Der über Jahrzehnte von der bürgerlichen Philosophie nicht nur der BRD beklagte Verlust einer geschichtlichen Perspektive 13 der bürgerlichen Welt ist, so scheint es, seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus kein Thema der Reflexion der eigenen Lage mehr. Dieser Verlust ist keine Erfindung von Lukäcs, Heise oder Elm, sondern Resultat so mancher Selbstanalyse aus der Feder von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Ivan Illich, Claus Grossner und vieler anderer. Aus dieser selbst diagnostizierten Perspektivlosigkeit resultiert das nicht minder große Wort von der Krise der bürgerlichen Welt; ein durchgängiges Thema der deutschen Philosophie seit Friedrich Nietzsche. Heute spricht Francis Fukuyama im Hochgefühl der amerikanischen Weltenlenker gar vom Ende der Geschichte - aber in positiver Sicht damit die Perspektivlosigkeit in das Weltenheil verkehrend. Auf diese Weise scheint eine Krise tatsächlich ausgestanden zu sein; man könnte sich beruhigt zurücklehnen, wenn nicht die nächste vor der Tür stehen würde, die sich wenig verheißungsvoll als Welt-Kriegs-Ordnung ankündigt. 14 Heute mag man von einem Geschichtssubjekt nicht mehr so recht reden. Es hat, im alten marxistischen Verständnis, keinen soziologischen Boden mehr. Freilich macht der Wegfall des Marxschen Proletariats nicht generell die Annahme eines Geschichtssubjektes hinfällig, zwingt aber zu theoretischen Neubesinnungen. Für Marx war es ja nicht nur schlechthin das
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Manfred Buhr, Robert Steigerwald, „Verzicht auf Fortschritt, Geschichte, Erkenntnis und Wahrheit". Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, Bd. 100, Berlin 1981. Vgl. Hans-Martin Gerlach, Reinhard Mocek, Bürgerliches Philosophieren in unserer Zeit, Berlin 1982.
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Wolfgang Heise, Aufbruch in die Illusion, 73. Siehe dazu auch Ludwig Elm, Aufbruch ins Vierte Reich. Zu Herkunft und Wesen konservativer Utopie, Berlin 1981. Vgl. Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2002; Ekkehard Sauermann, Neue WeltKriegsOrdnung Die Polarisierung nach dem II. September 2001, Bremen 2002.
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revolutionierende Element der neueren Weltgeschichte, sondern auch der Garant, dass die scheinbar naturgesetzlich treibenden Produktivkräfte in ihrer ganzen inneren Dynamik nicht zur ausschließlichen schicksalsbestimmenden Triebkraft der Geschichte werden. Das Proletariat war in Marxens Augen das alleinige konstruktive Geschichtssubjekt. Denn aus den materiellen Produktivkräften heraus wird keine neue Ethik geboren, erfährt Menschsein keine wirklich emanzipatorische Kraft, um die eingefahrenen Strukturen jahrtausendelanger Unterdrückung und Knechtung endlich sprengen zu können. Schaut man genauer hin, dann war für Marx, noch mehr für Lenin, das Proletariat allerdings ein konstruktives Geschichtssubjekt nur unter der Voraussetzung einer klugen Theorie. Nur im Banne dieser Theorie ist danach ein richtiger Weg zu beschreiten, im Kampfe der Klassen durchzusetzen, Geschichte zu gestalten. Das Problem, das damit geboren war, bestand zum einen in der Meisterung einer höchst schwierigen Vermittlung, zum anderen in der Tatsache, dass die Akteure keine Rückkopplungsansprüche gegenüber der Theorie geltend machen konnten. Während bei Marx das Proletariat zwar nicht den bevorstehenden Prozess auszudenken, aber immerhin durchzusetzen hatte, war diese Subjektrolle nun zur Angelegenheit von Parteieliten geworden. Geschichtsprägende Missionen sozialer Gruppierungen großen Ausmaßes - immerhin umfasste die Arbeiterklasse in den höher entwickelten Industrienationen am Ausgang des 19. Jahrhunderts, rechnet man das Landproletariat hinzu, nahezu drei Viertel der Bevölkerung - verwandelten sich regelrecht unter der Hand in viel enger umgrenzte Machtgruppierungen, die mehr und mehr auch die Definitionshoheit über Ziel und Anliegen der ursprünglichen historischen Mission des Proletariats an sich rissen. Die Älteren in beiden deutschen Staaten auf dem Felde der Sozialtheorie, die - freiwillig oder nicht - wenigstens im Seminar den intellektuellen Gang durch Marxens Schriften gegangen sind, wissen, dass diese These von der historischen Mission des Proletariats von Marx und Engels mit einer ausgeprägten sozialethischen Komponente ausge-stattet war. Das hatte bei Marx noch etwas mit einem uralten Menschheitstraum zu tun - der Befreiung des Menschen von den Mühsalen der Knechtschaft und Ausbeutung, von Marx auf den philosophischen Begriff der Selbstentfremdung gebracht. Aufhebung von Entfremdung wurde zum Schlagwort in eben diesen Seminaren! Doch gelangte man dann zur wissenschaftlichen Analyse, wurde man schnell gewahr, dass ausgerechnet diese Kategorie der Entfremdung von den politischen Sachwaltern des Marxismus so gar nicht gemocht wurde. Wie das? Nun, es wurde allein im Blick auf die Lebensverhältnisse in den beiden deutschen Staaten klar, dass die Aufhebung von Entfremdung, bezieht man sie im engeren Sinne tatsächlich auf die Mühsale des täglichen Lebens, im kapitalistischen Teil Deutschlands offensichtlich schneller voranzugehen schien als im realsozialistischen, östlichen Teil. Hatten doch die Westmächte mehr Unterstützungspotentiale zur Hand als die Sowjetunion, um ihr neues Einflussgebiet schnellstmöglich attraktiv zu machen. Doch wie auch immer; als die Ideologie des Stolzes auf die eigene Kraft im Osten allmählich zu verglimmen begann, deutete sich bald an, dass der Wettlauf sich nicht in erster Linie auf die geistigen Welten richtete, sondern auf reale Fragen des täglichen Konsums. Nach dem Mauerbau verdichtete sich dann die allgemeine Unzufriedenheit mit der politischen Lebensstruktur in der DDR, gepaart mit einem Gefühl des Eingeschlossenseins - kurzum, eine ganz spezifische Form von selbstverpasster Entfremdung entstand, die auch nicht durch das Geltendmachen neuer geistiger und ethischer Ansprüche kompensiert werden konnte. Zwar wurde in den sechziger Jahren schon auf die unleugbare Tatsache hingewiesen, dass die kapitalistischen Entfremdungsweisen im Realsozialismus lange noch zu wirken
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vermögen, 15 allein die Konstruktionsmängel der heranwachsenden sozialistischen Gesellschaft erwiesen sich bald schon als wesentlich durchschlagskräftiger als die alten bürgerlichen Gewohnheiten und, was das Wirtschaften, die Kultur des Arbeitsprozesses etc. betraf, die Mühsale täglichen Arbeitslebens. Es ging, wie die damalige soziologische Literatur der DDR klar erkannte, nicht nur um die alten bürgerlichen Überbleibsel, sondern im Sozialismus begann sich eine ganze eigene Entfremdungswelt herauszubilden, deren Erscheinungsformen mit soziologischen Mitteln zu erkunden waren. 16 Realsozialismus als Forschungsfeld - eine der damals für die Partei höchst unangenehmen Forderungen marxistischer Gesellschaftstheorie der DDR. Das wäre nun alles Punkt für Punkt zu hinterfragen. Ich weiß mich hier einig mit dem Jubilar, dass diese von uns gemeinsam erlebte Jugendform des DDR-Realsozialismus in den fünfziger Jahren noch Ahnungen einer geistigen Lebensbreite erkennen ließ. Man konnte noch auf einen Prozess hoffen, auf abrollende Geschichtlichkeit. Doch dieses Vertrauen in das Naturgesetzliche sozialer Prozesse wurde Mal um Mal enttäuscht. Die zweite Hoffnung vertraute auf die ebenso naturgeschichtliche Einsicht, wonach junge Systeme, frisch aus dem Schöße entlassene Gegebenheiten sich gänzlich anders verhalten, rasches Wachstum zeigen, Veraltetes überholen und zurücklassen. Auch hier zeigte die Wirklichkeit, dass die sozialistischen Sozialsysteme diese frischen Entwicklungspotentiale gar nicht hatten. Verwaltete Armseligkeit blieb dominierend - wer es an der jungen und volkswirtschaftlich gesehen vorübergehend auch dynamischen DDR nicht früh schon abzulesen vermochte, dem demonstrierte ein Besuch in Bulgarien oder Rumänien, noch deutlicher in den rückwärtigen Gebieten der Sowjetunion, dass diese Entwicklungsmetapher nicht griff. Herrschaft hatte sich neu strukturiert, zweifellos, aber das große Gesamte blieb seltsam schizophren zurück. Zwar schaffte die Sowjetunion im technischen Wettlauf mit dem Weltimperialismus gelegentlich sensationelle Erfolge, jedoch waren das Kraftakte, die riesige volkswirtschaftliche Löcher rissen und den Unterschied zwischen Armut und Wohlstand weiter einebneten. Väterchen Staat sorgte, das ist wohl wahr, aber er verwaltete das Wenige, das übrig blieb. Der Begriff der Entfremdung erhielt einen neuen realsozialistischen Sinn. Es war das Fremdwerden von einer theoretisch zugesprochenen Mission. Marx hatte nach einer frühen Kritik an Hegels Rechtsphilosophie die optimistische Vermutung geäußert, wonach das Proletariat ein identisches Subjekt-Objekt der geschichtlichen Entwicklung werde, denn wenn es die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, ist dieses doch die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Diese Auflösung bedeutet das Abwerfen der Lasten der Entfremdung, die die tiefste Entmenschlichung verkörpern. Diese Entfremdung nun teile das Proletariat, so Marx, mit der Bourgeoisie, jedoch mit einem gewaltigen Unterschied: Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht, und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. 1 7
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Wolfgang Heise, „Die Entfremdung und ihre Überwindung", in: Deutsche Zeitschrift ftir Philosophie, 13 (1965), Heft 6, 677-710. Ebd., 710. Friedrich Engels, Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Bd. 2, Berlin 1959.
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Dieser Gegensatz nimmt ganz offenkundig in der kapitalistisch beeinflussten wie beherrschten Welt gänzlich verschiedene Gestalt an. Auf der einen Seite wurde deutlich, dass sich die Enkel des (westdeutschen Proletariats gleichfalls in der Entfremdungssituation einzurichten und wohl zu fühlen begannen. Das Gegenstück wurde in der Sowjetunion vorgezeichnet. Die Realgeschichte eines siegreichen Proletariats lief auf die Führungsrolle eines im Vergleich zur Großklasse des kapitalistischen Proletariats kleinen Grüppchens agiler Funktionäre hinaus. Der von ihnen verwaltete, zu guten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung nach dem Kriege politisch „geschenkte" Realsozialismus konnte auch angesichts des von den Verbrechen des Stalinismus gezeichneten Weges in der Sowjetunion zu keinem guten Ende kommen. Das Geschichtssubjekt in der Tradition der Arbeiterklasse geriet auf ein destruktives Gleis. Man muss sich wohl fragen, ob in unseren Tagen geschichtsbestimmende Kräfte auf Dauer eine solche weltgeschichtliche Subjektfunktion zu spielen vermögen. Es sieht so aus, dass eine derartige Rolle, auf die Ideengeschichte des Marxismus projiziert, heutzutage keine Darsteller mehr findet. Dennoch kann man nicht übersehen, dass die historische Mission der Arbeiterklasse keine überflüssige historische Kraft gewesen ist. Ihr allein ist zu danken, dass das Wohl der arbeitenden Bevölkerung zur zentralen Kategorie aller modernen Staatlichkeit geworden ist. Aber andere Kräfte und Motivationen waren in der Regel stärker. Der nationalistische Enthusiasmus in zwei Weltkriegen hat die internationale Arbeitereinheit zudem empfindlich getroffen. Realiter gescheitert, soziologisch in die Mitte der Gesellschaft diffundiert, politisch von allen Richtungen von links bis rechts durchwandert, ist von einem solchen konstruktiven Geschichtssubjekt in proletarischer Tradition nicht mehr zu sprechen. Versuche, innerhalb der Schicht der Computer-Intelligenz den legitimen, auf der Logik der neuen Produktivkräfte basierenden Nachfolger dieser historischen Mission auszumachen, sind keinesfalls überzeugend und viel zu wenig soziologisch und sozialpsychologisch unterlegt.18 Dieses Computer-„Proletariat" erzeugt zwar die große Masse des „fremden Reichtums", aber es produziert nicht mehr „das eigene Elend". Wer Arbeit hat, hat sich entproletarisiert. Das gilt zumindest für die Länder mit hochorganisierten kapitalistischen Systemen. Weltpolitik also ohne konstruktives historisches Subjekt? Es sieht so aus, als hätten sich nahezu alle Regierungen dieser Welt entschieden, dem mächtigsten Kapitalismus in unserer Gegenwartswelt eine solche Rolle zuzuerkennen und ihn eigennützig schalten und walten zu lassen. Eine Administration als Geschichtssubjekt! Auf der anderen Seite ist nicht übersehen, dass sich mit Massenbewegungen wie Attac und anderen Globalisierungsgegnern sowie den stattlichen Massenveranstaltungen des Weltsozialforums eine neue Ära in der Herausbildung eines breiten, soziologisch wohl noch diffusen Geschichtssubjektes abzuzeichnen beginnt. Noch steht ihnen ein großer Teil der Weltöffentlichkeit verständnislos gegenüber. Bedarf es erst noch der Aufklärung, dass am Horizont des Fukuyamaschen Endes der Geschichte neue historische Gestaltungskräfte sichtbar sind? Man könnte annehmen, dass der alte Kreislauf der Macht wieder eine sich öffnende Geschichte vor sich hat. Die hehre Idee aufgeklärten Menschseins hat in verschiedenster Form sozialpolitische Durchschlagskraft gewonnen. Geschichte arbeitet eben unermüdlich, hätte Bloch wohl gesagt. Sein Hoffen war voll und ganz auf die schöpferischen Qualitäten neuer geschichtsbildender Kräfte gerichtet. Wohin die neuen Wege führen, ist längst nicht klar. Geschichte ist wieder voller Rätsel. Brauchen wir deshalb eine neue Aufklärung? Wir haben sie bitter nötig!
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Als ein Versuch unter mehreren, ein neues Geschichtssubjekt im Beschäftigtensektor Realkapitalismus auszumachen, vgl. Alfred Granowski, Marxismus und Vision, Bonn 1997.
des
W E R N E R SCHNEIDERS
Vernunft und Unvernunft
1. Unvernünftige Vernunft In seiner Schrift Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit1 kritisiert Karl Jaspers Vernunftvergessenheit und Verstandesanmaßung als Grundübel der Gegenwart. Vor allem Marxismus und Psychoanalyse sind für ihn PseudoWissenschaften, die jede methodisch strenge und daher partikulare Wissenschaft im Namen einer angeblichen Totalwissenschaft ruinieren. Letztlich sind sie Wissenschaftsaberglaube, der sich als Flucht vor der eigenen Freiheit erkennen lässt - durch eine Reflexion auf wahre Wissenschaftlichkeit als bloße Verstandeserkenntnis sowie durch einen „Sprung" in die für das umgreifende Sein offene Vernunft. Vernunft ist Befreiung von fanatischem Denkdogmatismus und blindem Daseinswillen als Offenheit und Freiheit für das transzendente Eine. Sie ist allerdings nur schwer zu bestimmen, da sie auf wahrer Existenz basiert, d. h. Gehalt eines Entschlusses ist. Ihr Hauptmerkmal ist Kommunikationsbereitschaft. Allerdings kann Vernunft immer wieder zu bloßem Verstand degenerieren oder zur Pseudovernunft pervertieren, so dass auch immer wieder eine Umkehr zu sich selbst erforderlich ist; denn sonst führt die Preisgabe der Freiheit der Vernunft durch Unphilosophie nicht zuletzt zu politischer Unfreiheit. Vernunft muß immer noch um ihre Verwirklichung kämpfen, und dieser Kampf um Sinn und Selbstsein findet wesentlich im Einzelnen statt. „Vernunft ist wie ein offenbares Geheimnis [...]" (71). Auch Max Horkheimer sieht die Situation der Vernunft wesentlich durch das Vergessen der wahren Vernunft bestimmt. In seiner Schrift The eclipse of reason (1947, dt. Kritik der instrumenteilen Vernunft, 1967)2 unterscheidet er eine wahre und eine falsche Vernunft, nämlich eine „objektive" und eine bloß „subjektive" Vernunft. Die objektive Vernunft ist eine allumfassende normative Vernünftigkeit - zunächst des Menschen, letztlich aber auch der Wirklichkeit. Die subjektive, degenerierte oder halbe Vernunft hingegen ist eigentlich Unvernunft bzw. bloßer Verstand, nämlich formallogisches Denken oder Zweck-MittelRationalität im Dienste der Selbsterhaltung. Diese Reduktion der sach- und normorientierten objektiven Vernunft auf die durch Habgier bestimmte subjektive Vernunft, nämlich auf die Betrachtung der Welt als Beute (schon bei den ersten Menschen), hat inzwischen zu einer Krankheit und Krise der Vernunft geführt. Sie kann nur durch eine „Selbstkritik" der Vernunft überwunden werden, durch die der gefährliche Wahnsinn der pervertierten Vernunft aufgezeigt wird, also vor allem durch eine „Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt" (174).
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Karl Jaspers, Vernunft und Widervernunft Max Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Kriegsende, Frankfurt a. M. 1967.
in unserer Zeit, München 2 1952. Vernunft. Aus den Vorträgen
und Aufzeichnungen
seit
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WERNER SCHNEIDERS
Die Unterschiede zwischen Jaspers und Horkheimer sind unverkennbar. Jaspers' Philosophie ist wesentlich durch Kant und Kierkegaard bestimmt, Horkheimers Denken geht von Hegel und Marx aus. Und wie Jaspers den Neomarxismus der Frankfurter Schule (soweit er ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hat) für Pseudowissenschaft halten muss, so kann auch Horkheimer Jaspers' Existenzphilosophie (soweit er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat) nur als Irrationalismus verurteilen. Dennoch ist zumindest eine gewisse formale Ähnlichkeit der beiden Positionen, vor allem ihres moralisch getönten zeitkritischen Vernunftbegriffs, unverkennbar. Jaspers wie Horkheimer sind auf der Suche nach der wahren Vernunft und betrachten, indem sie diese postulieren, antizipieren und für sich reklamieren, das, was üblicherweise Vernunft heißt, als eine gefährliche Degeneration oder sogar Perversion der Vernunft, insofern aber auch als unvernünftigen Verstand, als eine Art wildgewordenen Verstand. Gleichzeitig sind sie jedoch (in ihrem jeweiligen Sinne) bereit, einem zur Vernunft gebrachten Verstand ein relatives Recht einzuräumen. Die Frage ist allerdings, ob die wahre Vernunft irgendwo rein gegeben ist. Jaspers und Horkheimer argumentieren, wenn auch mit wichtigen sachlichen wie sprachlichen Unterschieden, im Rahmen einer an sich alten, zuerst von Piaton etablierten, dann nachdrücklich von Kant neu gefassten Unterscheidung von Verstand und Vernunft, die dann vor allem von Fichte und Hegel weiterentwickelt, nämlich historisch und politisch dynamisiert worden ist. Demnach ist - grob gesprochen - die Vernunft, wenn sie denn wahre Vernunft ist, das höchste geistige Vermögen, der Verstand hingegen ist ein niederes Erkenntnisorgan, das zwar in seinen Grenzen unverzichtbar ist, aber, wenn es nicht durch die wahre Vernunft transzendiert wird und kontrolliert bleibt, zu einer perversen Selbstverabsolutierung tendiert. Dieser Unverstand, der sich selbst verschließende und dogmatisierende Verstand, kann, wenn der Sündenfall des Verstandes als eine Folge des Versagens der höheren Vernunft betrachtet wird, auch als degenerierte oder pervertierte Vernunft, als Unvernunft oder Pseudovernunft betrachtet werden. Die Suche nach der wahren Vernunft ist dann ein Kampf gegen die unvernünftige Vernunft.
2. Die reflexive Selbstbestimmung der Vernunft Wie lässt sich das, was Vernunft ist oder Vernunft heißen könnte - auf eine vernünftige Weise - eruieren? Geht man, wie naheliegend, von dem deutschen Wort aus, dann ist die Vernunft vor allem eine Fähigkeit zu vernehmen. Dieses Vernehmen ist allerdings von dem Veraehmen der sinnlichen Wahrnehmung verschieden, es versteht sich selbst als geistiges oder denkendes Vernehmen; die Behauptung der Existenz von Vernunft impliziert die Behauptung, dass es ein Erkennen gibt, das anders und mehr als Wahrnehmung ist. Dabei wird zugleich stillschweigend vorausgesetzt, dass das Vernehmen der Vernunft ein richtiges Vernehmen ist, d. h. sich nach der Wirklichkeit richtet. Vernunft ist insofern immer wahre Vernunft, richtige Vernunft oder gesunde Vernunft, wenn man so will. Vernunft ist Offenheit oder Freiheit für die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist. Die Absicht, etwas zu vernehmen, setzt voraus, dass es etwas Vernehmbares gibt. So wie die Wahrnehmung auf etwas sinnlich Wahrnehmbares gerichtet ist, so zielt das geistige Vernehmen als solches, d. h. seiner eigenen Intention nach, auf etwas geistig Vernehmbares, auf etwas Denkbares, das sich dem Erkennen darbietet, etwa Sachstrukturen oder auch Sachzusammenhänge. Dieses geistig Erkennbare, das mehr als das sinnlich Wahrnehmbare ist und nach der Unterscheidung von Vernunft und Sinneswahrnehmung als etwas Intelligibles ge-
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dacht wurde, konnte die Natur der Sache, das Wesen usw. oder kurz die objektive Vernunft genannt werden - im Unterschied zur subjektiven Vernunft, zum menschlichen Vernunftvermögen. Aus dieser Perspektive zielt der Sinn des Menschen für etwas, sein Geist, auf den Sinn von etwas, auf die seinsmäßige Ordnung der Sachen; das menschliche Vernunftvermögen (ratio) ist auf den möglichen Vernunftgrund (ratio) der Dinge gerichtet. Allerdings ist diese Voraussetzung der Vernunft, dass es in der Wirklichkeit eine für die Menschenvernunft vernehmbare Seinsvernunft, irgendeine prinzipielle Intelligibilität, geben müsse, später mehr oder weniger aus dem Blick geraten; Vernunft wird heute weitgehend als bloßes spontanes Denken verstanden, das sich seine Regeln selbst gibt oder sogar seinen Gegenstand selbst erzeugt. Heute geht es vor allem - so oder so - um die subjektive Vernunft, die Vernunft des Menschen. Mit dem Erwachen der Reflexion, in der sich der Mensch als erkennendes Wesen erkennt, beginnt auch die Selbstdifferenzierung der Erkenntnis - nicht nur die Unterscheidung zwischen Wahmehmungs- und Denkvermögen, sondern auch die Differenzierung des geistigen Vermögens, ζ. B. in nous und dianoia, intellectus und ratio, Vernunft und Verstand. Wie und warum es auch immer zu diesen und ähnlichen Unterscheidungen gekommen sein mag, in der Philosophie gewinnen sie schon bald eine kritische Funktion; sie dienen nämlich vor allem dazu, die Philosophie über die Alltagsvernunft und die bloß wissenschaftliche Erkenntnis zu stellen. Sie sollen die Möglichkeit einer philosophischen oder metaphysischen, also prinzipiellen Erkenntnis gewährleisten. Geht man also vom deutschen Sprachgebrauch aus, so ist die Vernunft das höchste geistige Vermögen, und zwar in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Die Konzeption der Vernunft als Vermögen des Vernehmens liefert nur einen (unverzichtbaren) Minimalbegriff von Vernunft. Denn Vernunft ist einem alten Sprachgebrauch zufolge nicht nur theoretische, sondern auch praktische Vernunft, d. h. nicht nur ein kognitives, sondern auch ein regulatives Vermögen, nicht nur ein Erkenntnisorgan, sondern auch ein Vermögen der Handlungsleitung. Vernunft bestimmt bzw. kann und soll bestimmen, nämlich das, was geschieht bzw. geschehen kann oder soll; als Inbegriff von Handlungsanweisungen ist sie sogar eine Norm für das, was aus Freiheit geschieht. Als praktische Vernunft in diesem engeren Sinne des Wortes ist Vernunft nicht (bzw. nicht mehr nur) Vernehmen, sondern auch (bzw. vor allem) geistiges Handeln, und zwar handlungsregelndes inneres Handeln; sie kann und soll die Denkvorgänge oder vielmehr Denktätigkeiten, dann aber auch den Willen und so die willensgesteuerten äußeren Handlungen normativ bestimmen. Vernunft regelt sich selbst und das, was ihr unterstehen könnte oder sollte. Insofern gibt es nicht nur notiones rectae rationis, sondern auch dictamina rectae rationis. Wie aber kann die rezeptive Vernunft zur normativen Vernunft werden bzw. als rezeptive zugleich normative sein? Wie kann es zur Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft kommen, und wie hängen theoretische und praktische Vernunft zusammen? Offensichtlich setzt die praktische Vernunft als Vermögen der Bestimmung dessen, was sein soll, die theoretische Vernunft als Vernehmen dessen, was ist, voraus. Handeln ist nämlich nur dann möglich, wenn nicht ununterbrochen gegen die Wirklichkeit und deren Gesetze verstoßen wird. Das aber bedeutet, dass ohne Erkenntnis von Sachzusammenhängen, nämlich Erkenntnis von deren sozusagen normativer Struktur, überhaupt kein sinnvolles Handeln möglich ist. Alle Handlungen sind mehr oder weniger erkenntnisbestimmt. Insofern gibt es eine Priorität der theoretischen Vernunft, auch wenn diese möglicherweise erst im Kontext des Gebrauchs der praktischen Vernunft erkannt wird. Das richtige Vernehmen aber richtet sich nach den Strukturen der realen wie der idealen Wirklichkeit. Was Vernunft ist, kann nur die Vernunft selbst bestimmen. Woher sonst sollte das reflexive Erkennen den Vemunftbegriff nehmen, wenn nicht aus einem der Intention nach vernünftigen, d. h. aus einem bereits vernunftgeleiteten Erkennen des Erkennens? Was Vernunft ist
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oder sein könnte, kann nur aus und mit Vernunft erkannt werden. Insofern ist die Bestimmung von Vernunft eine reflexive Selbstbestimmung der Vernunft, die Diskussion über Vernunft ist notwendigerweise reflexiv oder zirkulär. Zwar kann man mit gutem Grund die Rationalität von Rationalitätskriterien in Frage stellen. Aber diese Diskussion kann sinnvollerweise nur unter der Voraussetzung der Möglichkeit von Vernunft und insofern auf dem Boden der Vernunft geführt werden. Die Diskussion über Rationalität bzw. Irrationalität von Rationalitätskriterien kann nämlich nur mit Argumenten geführt werden, die, falls sie sich nicht selbst aufheben wollen, den Anspruch machen müssen, selbst vernünftig zu sein. Dann aber müssen sie sich auf den in ihnen vorausgesetzten Begriff von Rationalität befragen lassen und sich so selbst dem Streit um die wahre Vernunft aussetzen. Oder gibt es rationale Argumente für eine irrationale Setzung von Rationalitätskriterien?
3. Die reaktive Fremdbestimmtheit der Unvernunft Was Unvernunft bzw. Pseudovernunft ist, wird nicht selten konkret benannt; in der Regel sind es die jeweiligen Gegner, die als unvernünftig bekämpft werden. So hat ζ. B. Piaton die Sophistik als bloße Rabulistik, Aristoteles hingegen Piatons Ideenlehre als unsinnig bekämpft. Als das Christentum in der frühen Neuzeit problematisiert wurde, gab es diejenigen, die das Christentum für vernünftig hielten, diejenigen, die es durch eine neue Vernunftreligion ersetzen wollten, und diejenigen, die einen Atheismus als Vernunftforderung propagierten, und sie alle hielten einander für nicht vernünftig. Hegel hat dann, nachdem schon Kant die überlieferte Metaphysik als Verstandesanmaßung abgetan hatte, die ganze Aufklärung als bloße Verstandesphilosophie denunziert. Offensichtlich sind sowohl nacheinander als auch nebeneinander unterschiedliche Positionen möglich, die alle einen emphatischen Vernunftanspruch erheben; offensichtlich kann - mit Vernunft und Unvernunft - über Vernunft und Unvernunft gestritten werden. Was Vernunft als solche ist, scheint wesentlich ein theoretisches Problem zu sein, ein Definitionsproblem. Dementsprechend scheint auch Unvernunft, zumindest zunächst, ein theoretisches Problem zu sein, also rein formal ebenfalls ein Definitionsproblem. Unvernunft ist, so scheint es, nichts als der Gegensatz von Vernunft, wie er vom Standpunkt der Vernunft her - formal durch Negation - bestimmt wird. Unvernunft kann dann Vernunftlosigkeit (ζ. B. bei Tieren) oder Vernunftwidrigkeit (ζ. B. bei Menschen) heißen, in der Regel bedeutet Unvernunft jedoch soviel wie Widervernunft, nämlich Unvernunft bei potenziell vernünftigen Lebewesen. Unvernunft ist insofern das Gegenteil von Vernunft - sei es als konträrer, sei es als kontradiktorischer Gegensatz, d. h. als Mangel an Vernunft oder als Gegenteil von Vernunft. In jedem Fall ist Unvernunft - negativ - durch Vernunft definiert. Allerdings wird nicht nur die Unvernunft formal durch die Vernunft definiert, faktisch wird auch die Vernunft durch die Unvernunft bestimmt, nämlich begrenzt; denn was inhaltlich unter Vernunft verstanden wird, ergibt sich auch aus dem, was für unvernünftig gehalten wird. Die Vernunft definiert sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich durch das, was sie als unvernünftig negiert. Insofern bestimmt die durch Vernunft bestimmte Unvernunft reaktiv auch die Vernunft. Auch wenn Unvernunft vorsichtshalber, wiewohl zweckmäßig, als bloßer Mangel an Vernunft, nicht als totale Abwesenheit von Vernunft, verstanden wird, bedarf daher auch das Gegenteil der Vernunft, die Unvernunft, noch der näheren Bestimmung, nicht nur der formalen Bestimmung durch die Negation. Zumal die Definitionen der Vernunft als Vermögen denkenden Vernehmens und als normbewusstes Vermögen hand-
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lungsbestimmenden Denkens noch sehr formal und nur prinzipiell sind. Was also heißt Vernunft wie Unvernunft in concreto oder in praxi, d. h. inhaltlich? Wenn die Wirklichkeit als unvernünftig bezeichnet wird, dann wird sie als unverstehbar, ungeordnet, normwidrig usw. gedacht. Meist ist es jedoch das Verhalten des Menschen, sein Denken und mehr noch sein Handeln, das als vernünftig bzw. unvernünftig bezeichnet wird. In diesem Sinne bezeichnen Vernunft und Unvernunft - genauer gesagt: Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit - Eigenschaften dessen, was aus Freiheit geschieht, geschehen kann oder soll. Dabei ist es wesentlich die Vorstellung einer praktisch-regulativen Vernunft, die eine Erhebung der Vernunft zu einem allgemeinen normativen Prinzip (Maßstab, Kriterium usw.) mit sich führt. Dementsprechend wird Unvernunft zumeist als praktische Unvernunft, Vernunft also vor allem normativ verstanden. Allerdings setzt der normative Begriff von Vernunft und damit auch von Unvernunft theoretische Vernunft bzw. Unvernunft voraus, nämlich eine Erkenntnis von Sach- und Folgezusammenhängen, ζ. B. Kausalitätsbewusstsein. Generell lässt sich daher sagen, dass Vernünftigkeit auf der Erkenntnis von Kausalität, Zweckmäßigkeit usw. beruht, Unvemünftigkeit auf deren Verkennen. Zwar garantiert eine solche Erkenntnis von Zusammenhängen noch keine Vernünftigkeit im Ganzen, allenfalls im Detail, aber so wie es unvernünftig ist, die Sachlogik (wenn auch nur partiell) zu ignorieren, so ist es auch unvernünftig, die Denklogik (wenn auch nur partiell) zu suspendieren. Unvernunft ist nicht offen für das, was ist. Anders als die Vernunft, die auf das für sie Vernehmbare bezogen bleibt, imaginiert die Unvernunft sich selbst eine Pseudowirklichkeit, sie produziert selbst das, was sie für erkannte Wirklichkeit hält, den Unsinn, den sie sich einbildet und als erkannten Sinn ausgibt. Es gibt also gewisse Indizien für Vernunft bzw. Unvernunft. Was vernünftig sein will, darf nicht gegen allen Verstand verstoßen (vorausgesetzt, dass man eine hierarchische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft überhaupt machen will). Mit anderen Worten, wer den Anspruch auf Vernünftigkeit erhebt, muss zumindest gewisse Minimalbedingungen des Denkens anerkennen (was nicht heißt, die Vernunft auf das unverzichtbare formallogische Denken des Verstandes zu reduzieren). Daher ist sowohl die Behauptung unbeweisbarer Kausalketten als auch die Leugnung evidenter Kausalketten unvernünftig. Allerdings: Was ist evident? Immerhin lässt sich zwischen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Wirklichkeits- und Wirkungsannahmen unterscheiden. Aufgrund der Abhängigkeit der praktischen, d. h. bestimmenden Vernunft, von der theoretischen, d. h. vernehmenden Vernunft, wird jedoch mit der Größe des Sachzusammenhangs die Feststellung und Verknüpfung der Tatsachen immer schwieriger. Daher gibt es auch auf den totalisierenden Gebieten der Religion und der Politik die meisten und größten Wirrköpfe.
4. Vernünftige Unvernunft Es ist anscheinend nicht leicht, Vernunft direkt zu verwerfen; meist ist auch der Kampf der Unvernunft gegen die Vernunft ein Kampf der Vernunft mit sich selbst, ein Kampf um wahre Vernunft. Woran aber erkenne ich, was vernünftig ist, wenn alle immer wieder die wahre oder höhere Vernunft für sich in Anspruch nehmen? Nicht alles, was Vernunft genannt wird, was als Vernunft ausgegeben wird oder sich selbst als Vernunft ausgibt, ist auch Vernunft; diese ist daher nicht ohne vernünftige Selbstkritik möglich. Vernunft ist auch ein Problem für sich selber, ihre mögliche Existenz voraussetzend und realisierend, fragt sie nach sich selber. Vernunft steht so in einem endlosen Prozess der Selbstreinigung, sie lebt anscheinend
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in einer permanenten Krise - offensichtlich ist Vernunft immer nur in begrenztem Maße vorhanden. Inwieweit sie aus sich selbst heraus siegreich sein wird, ist immer noch offen. Der Streit zwischen Vernunft und Unvernunft ist uralt, und er ist ein Kampf mit unklaren Fronten. Er ist vor allem deshalb kompliziert, weil sich die Unvernunft in aller Regel nicht selbst als Unvernunft darstellt, d. h. sich blind als Unvernunft behauptet. In der Praxis tritt sie vor allem in zwei Formen auf. Entweder deklariert Unvernunft sich selbst als Vernunft und muss dann als Pseudovernunft entlarvt werden. Oder sie stellt sich als die wesentliche Wirklichkeit gegen oder über die Vernunft (ζ. B. als Gefühl, Leidenschaft, Glauben, Frömmigkeit usw.) und muss dann wegen dieses Anspruchs bestritten werden. Faktisch wird allerdings in beiden Fällen eine höhere Vernunft reklamiert, so dass der Kampf gegen die Unvernunft in Wirklichkeit ein Streit um die höhere oder wahre Vernunft ist. Diese aber ist nur antizipativ und präsumtiv gegeben. Im übrigen ist es zwar möglich, Vernunft und Unvernunft als zwei Prinzipien, als ein gutes und ein böses Prinzip, einander entgegenzusetzen, aber diese Darstellung des Konflikts ist im schlechten Sinne des Wortes abstrakt. Der Streit zwischen Vernunft und Unvernunft ist ein Streit zwischen Menschen, die sich in der Regel mit dem Anspruch auf (mehr) Vernunft entgegenstehen und jeden Verdacht auf Unvernunft von sich weisen; die Definitionsprobleme der Vernunfttheorie erweisen sich daher in der Praxis, d. h. angesichts der real existierenden Unvernunft, nicht zuletzt als Personalprobeme. Es ist jedenfalls nicht einfach, zur Vernunft zu kommen oder jemanden zur Vernunft zu bringen, doch kann es, wenn der Mensch ein vernünftiges Lebewesen ist, auch nicht unmöglich sein. Menschliche Vernunft ist offenbar keine absolute Vernunft. Vermutlich gibt es sogar grundsätzliche Grenzen der Vernunft bzw. des möglichen menschlichen Erkennens, Grenzen, die - sozusagen von innen - auf dem Boden der Vernunft bzw. der Erkenntnis erkannt oder doch erhellt werden können. Allerdings sind die prinzipiellen Grenzen des Erkennens nicht die faktischen Grenzen der Vernunft, es gibt ζ. B. auch einen vernünftigen Glauben. Zwar gibt es möglicherweise auch grundsätzliche Grenzen der Vernunft, aber diese sind dann ebenfalls nicht mit den faktischen Grenzen der Vernunft identisch. Oder vielmehr umgekehrt: Die faktischen sind noch nicht die prinzipiellen Grenzen der Vernunft, diese sind immer noch zu klären. Anscheinend gibt es nämlich viele Gestalten der Unvernunft, aber nur eine wahre Vernunft. Vernunft und Unvernunft, die sich gegenseitig bestimmen, beruhen beide auf bloß partiellem Erkennen bzw. Verkennen der Wirklichkeit. Auch die größte menschliche Vernunft enthält sozusagen blinde Flecken, die größte menschliche Unvernunft enthält noch Fragmente von Sachkenntnis und somit potenzieller Vernünftigkeit. Reine (totale) Unvernunft ist also ähnlich selten wie reine (totale) Vernunft, nämlich vermutlich nirgendwo gegeben, wenn auch manchmal geradezu flächendeckend als offenbarer Wahn oder Schwachsinn, Demenz oder Delirium vorhanden. Es gibt keine wirklich totale Vernunft oder Unvernunft, Vernunft und Unvernunft sind insofern begrenzt. Sie stehen sich daher - trotz aller verbalen Suggestion - nicht wie kontradiktorische Gegensätze gegenüber, sie sind nur konträre Gegensätze. Ich bin mehr oder weniger vernünftig bzw. mehr oder weniger unvernünftig. Wenn aber keine vollkommene menschliche Vernunft möglich ist, weder als theoretische noch als praktische Vernunft, so heißt dies mit anderen Worten: menschliche Vernunft ist endlich oder unvollendet, faktisch immer nur geschichtlich gegeben. Sie ist relative und partielle Vernunft und immer im Streit mit Unvernunft. Man könnte auch sagen: Alle Vernunft ist immer auch noch Unvernunft. Die immer noch mangelhafte Vernunft zeichnet sich eigentlich nur durch ihre Intention auf Vernunft aus, d. h. durch ihre Offenheit und Freiheit als Vernehmen. Die Vernunft ist eigentlich nur vernünftige Unvernunft.
Anhang
Tabula gratulatoria
Die folgend aufgeführten Personen haben durch großzügige Spenden die finanziellen Voraussetzungen der Drucklegung in erheblichem Maße mitgetragen und das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht. Sie haben dadurch zugleich ihrer Würdigung von Person, Werk und Wirken des Jubiiiars Hans-Martin Gerlach Ausdruck verliehen. Die Herausgeber möchten den Spenderinnen und Spendern auf diesem Wege emeut ihre große Verbundenheit und ihren Dank aussprechen.
Manfred Baum
Martin Mühl
Elke Brendel
Christian Rabanus
Volker Caysa
Josef Rauscher
Walter Dietz
Helmut Reinalter
Mechthild Dreyer
Josef Reiter
Lothar Ehrlich
Ulrich Ricken
Klaus-Dieter Eichler
Hans-Walter Ruckenbauer
Ludger Hagedorn
Margit Ruffing
Alois Hartmann
Kurt Salamun
Beatrix Himmelmann
Thomas Seebohm
Hans Gerald Hödl
Hans Rainer Sepp
Karen Joisten
Pirmin Stekeler-Weithofer
Matthias Kossler
Matthias Vollet
Thomas Metzinger
Bettina Walde
Reinhard Mocek
Richard Wisser Siegfried Wollgast
Verzeichnis der Schriften von Hans-Martin Gerlach
Monographien und Co-Autorschaft -
Existenzphilosophie und Politik (Dissertation Halle 1968), Berlin 1974. Der Mensch. Neue Wortmeldungen zu einem alten Thema (Autorenkollektiv), Berlin 1982.
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Bürgerliches Philosophieren in unserer Zeit (mit R. Mocek), Berlin 1982. Martin Heidegger. Denk- und Irrwege eines spätbürgerlichen Philosophen, Berlin 1982. Existenzphilosophie - Karl Jaspers, Berlin 1987. Christian Wolff oder von der ,Freyheit zu philosophieren' und ihren Folgen. Texte und Kommentar zur Vertreibung des Philosophen Wolff aus Halle, Halle 1993.
Aufsätze und Artikel (Auswahl) Beiträge in Sammelbänden und Editionen: -
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Hume und Kant - oder das Verhältnis zwischen bürgerlicher Aufklärungsphilosophie und bürgerlichem philosophischem Kritizismus, in: G. Schenk (Hg.): David Hume anläßlich seines 200. Todestages, Halle 1976. Vorwort zur Ausgabe in deutscher Sprache (1974, mit G. Rieske), in: Stepan F. Oduev: Auf den Spuren Zarathustras, Berlin 1977.
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Einleitung (mit G. Schenk), in: Piaton: Der Staat, Leipzig 1978 (2. Aufl. 1988).
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Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft bei Aristoteles (mit G. Schenk), in: H.-M. Gerlach, G. Schenk (Hg.): Aristoteles anläßlich seines 2300. Todestages, Halle 1978. Die Philosophie und die Naturwissenschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: W. Kaiser (Hg.): Johann Juncker (1679-1759) und seine Zeit, Halle 1979. Wahrheit und Geschichte. Lessing oder Kierkegaard?, in: H.-G. Werner (Hg.): LessingKonferenz (Halle 1979), Halle 1980. Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland - Leistung, Wirkung, Grenzen und Kritik, in: H.-M. Gerlach, G. Schenk, B, Thaler (Hg.): Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland, Halle 1980.
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Die Mensch-Maschine-Theorie im Denken der Aufklärung, in: W. Kaiser (Hg.): Hallesche Physiologie im Werden, Halle 1981. Existenz oder Gott? Kritisches zu einer scheinbaren Alternative im existentialistischen Philosophieren, in: E. Lange (Hg.): Philosophie und Religion. Beiträge zur Religionskritik der deutschen Klassik, Collegium Philosophicum Jenense Bd. 3, Weimar 1981.
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HANS-MARTIN GERLACH
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Z u m philosophischen Gottesbegriff in der neuzeitlichen Metaphysik, in: Th. Höhle (Hg.): Lessing und Spinoza, Halle 1982.
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Kants Metaphysikkritik und ihre Wirkung in der spätbürgerlichen Philosophie, in: H.-M. Gerlach, S. Mocek (Hg.): Kants „Kritik der reinen Vernunft" im philosophischen Meinungsstreit der Gegenwart, Halle 1982.
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Das Bild vom Menschen in der Philosophie der Existenz, in: (Autorenkollektiv:) Der Mensch. Neue Wortmeldungen zu einem alten Thema, Berlin 1982.
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Sechs Thesen über das Thema Jaspers als Philosoph - und wie werten wir ihn heute', in: H.-M. Gerlach, S. Mocek (Hg.): Karl Jaspers (1883-1969), Halle 1984. „Wissenschaft denkt nicht". Reflexionen zu einem Heidegger-Satz, in: Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie Bd. 5, Halle 1984. Geschichte contra Natur? Natur contra Geschichte?, in: H. Hörz (Hg.): Philosophie und Natur. Beträge zur Naturphilosophie der deutschen Klaassik, Collegium Philosophicum Jenense Bd. 5, Weimar 1985.
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Christin Wolff - bedeutender Repräsentant der Aufklärungsphilosophie, in: M. Buhr (Hg.): Studien zur Philosophie der Aufklärung, B d . l : Aufklärung - Gesellschaft - Kritik, Berlin 1985.
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Rationalismus und Empirismus und die Philosophie Christian Wolffs, in: Georg Ernst Stahl (1659-1734), Halle 1985.
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Die Idee des ,ewigen Friedens' - Utopie und Wirklichkeit: Saint Pierre, Kant, Jaspers, in: B. Schweinitz (Hg.): Philosophie und Frieden. Beiträge zum Friedensgedanken in der deutschen Klassik, Collegium Philosophicum Jenense Bd. 6, Weimar 1985. „Tabula rasa" contra „ideae innatae" oder John Lockes empiristisch-sensualistischer Kampf gegen Metaphysik und seine metaphysischen Reste, in: John Locke. Ein wissenschaftliches Kolloquium, Halle 1985.
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Die „Zerstörung der Vernunft" und die Vernunft der Zerstörung: Bemerkungen zu Georg Lukäcs' Analyse und Kritik der spätbürgerlichen Philosophie, in: M. Buhr, J. Lukäcs (Hg.): Geschichtlichkeit und Aktualität. Beiträge zum Werk und Wirken von Georg Lukäcs, Berlin 1987.
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Heideggers Kritik der Wissenschafts- und Technikentwicklung und ihre Rolle in der gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskussion, in: G. Kröber, H.-P. Krüger (Hg.): Wissenschaft Das Problem ihrer Entwicklung, 2 Bde., Berlin 1987.
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Individuum und Gesellschaft zwischen rationaler Beherrschbarkeit und existenzieller Freiheit Max Weber und Karl Jaspers, in: H. Hörz (Hg.): Pflicht der Vernunft: Das Spannungsfeld von Vernunft, Mensch und Geschichte, Berlin 1987. „Was ist Aufklärung?" aus philosophiegeschichtlicher Sicht, in: W. Siegmund-Schultze (Hg.): Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz ,Georg Friedrich Händel - Persönlichkeit, Werk, Nachleben', Leipzig 1987.
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Friedrich Nietzsche - ein Philosoph für alle und keinen?, in: H.-M. Gerlach u.a. (Hg.): Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie Bd. 7/8, Halle 1987. Philosophie der Aufklärung - Aufklärung der Philosophie, in: G. Häßler (Hg.): Aufklärung aus multidisziplinärer Sicht, Halle 1987. Moze byt Heideggerovo myslenie zäkladom alternatinei teorie vedy?, in: Konfrontacie s positivizmom, Bratislava 1988. Rene Descartes' „Discours de la methode" - oder der gute Anfang vom bösen Ende? Rationalitätskritik heute im Streit zwischen Moderne und Postmoderne, in: Hans-Martin Gerlach, Regina Meyer (Hg.): Descartes und das Problem der wissenschaftlichen Methode, Halle 1989.
SCHRIFTEN
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Substanz oder Dasein? Spinoza oder Heidegger? Heideggers Metaphysikkritik und ihr Bezug zu Spinoza, in: G. Lohse (Hg.): Vernunft und Erbe, Berlin 1989. Philosophie und Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, in: R. Mocek (Hg.): Die Wissenschaftskultur der Aufklärung, Halle 1990. Metaphysikkritik bei Marx und Heidegger, in: Albert Raffelt (Hg.): Martin Heidegger weiterdenken, Freiburg/München/Zürich 1990. Chaos oder Terrorismus der Vernunft? Von den falschen Voraussetzungen einer „elenden Alternative", in: Manfred Buhr (Hg.): Moderne, Nietzsche, Postmoderne, Berlin 1990. Koalition der Vernunft gegen Zerstörung der Vernunft in unserer Zeit. Zum Vernunftbegriff bei Marx und Jaspers, in: H. Saner (Hg.): Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens, München/Zürich 1991. Der Philosoph Edmund Husserl in Halle (1887-1901), in: V. Dietzel (Hg.): 300 Jahre Juden in Halle. Leben, Leistung, Leiden, Lohn, Halle 1992. Der Mensch im Übergang - oder vom Menschen zum Übermenschen, in: L. Lambrecht, E.-M. Tschurenev (Hg.): Geschichtliche Welt und menschliches Wesen. Beiträge zum Bedenken der conditio humana in der europäischen Geistesgeschichte, Reihe Daedalus Bd. 4, Frankfurt a. M. u. a. 1994. „Es ist keine Seligkeit 13 Jahre lang Privatdozent und Tit. ,Prof.' zu sein." - Husserls Hallesche Jahre 1887 bis 1901, in: H.-M. Gerlach, H. R. Sepp (Hg.): Husserl in Halle. Spurensuche im Anfang der Phänomenologie, Reihe Daedalus Bd. 5, Frankfurt a. M. u. a. 1994. „... denn aus uns haben wir Modemen gar nichts." - Nietzsche und das Problem der Kritik der modernen Vernunft, in: V. Caysa, K.-D. Eichler (Hg.). Praxis, Vernunft, Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft, Festschrift für Helmut Seidel, Weinheim 1994. Aufbruch zur Vernunft - Zerstörung einer Illusion? Zum Werdegang der Auseinandersetzung der Philosophie in der DDR mit der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: N. Kapferer (Hg.): Innenansichten ostdeutscher Philosophen, Darmstadt 1994. Vorwort zu Roland Dreßler: Spurensuche. Die Lebensstationen Friedrich Nietzsches 1844-1969, Thüringen Verlag 1994. „Wir wollen lernen, miteinander zu reden." - Wandlungen und Erneuerungen in Deutschland: Was hätten die Deutschen heute von Jaspers lernen können?, in: K. Salamun (Hg.): Philosophie - Erziehung - Universität. Zu Karl Jaspers' Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Frankfurt a. M. u. a. 1995. „Ei da ist ja auch Herr Nietzsche", in: A. Herzog (Hg.): Literarisches Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt, Leipzig 1995. Gegnerschaft - Distanz - Annäherung. Einige Bemerkungen zur Heidegger-Rezeption in der Philosophie der DDR, in: H. Schäfer (Hg.): Geschichte in Verantwortung. Annäherung an Martin Heidegger, Festschrift für Hugo Ott, Frankfurt/New York 1996. Karl Marx' Theorie - das Ende der Aufklärung oder die .Poesie der Zukunft'?, in: Y. Masubuchi (Hg.): Die Rolle der Philosophie im 21. Jahrhundert, Sendai, Tokio 1996. Christian Wolffs „Sittenlehre der Sineser" (1721) oder vom wahren philosophischen Erkennen zum rechten moralischen und politischen Handeln, in: E. Donnert (Hg.): Europa in der frühen Neuzeit, Festschrift für Günther Mühlpfort, Bd. 2: Frühmodeme, Köln/Weimar/Wien 1997. Moses Mendelssohn - Immanuel Kant: Zwei Antworten auf die Frage „Was ist Aufklärung?", in: R. Bach, R. Desne, G. Hassler (Hg.): Formen der Aufklärung und ihre Rezeption/Expressions des Lumieres et de leur receptions, Tübingen 1999.
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„Nur der höchsten Vernunft aber kommt es zu, die ganze Unendlichkeit zu begreifen". G. W. Leibniz - der „vollkommenste Barockmensch"!?, in: C. Kessler (Hg.): Weltsicht und Selbstverständnis im Barock, Halle 1999.
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Streit in der Aufklärung oder: Halle - ein Ort der deutschen Frühaufklärung und drei philosophische Konzeptionen im Kampf (Thomasius, Wolff, Lange), in: K. Bai, V. Caysa, P. StekelerWeithofer (Hg.): Philosophie und Regionalität, Wroclaw 1999.
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Aufklärung oder Gegenaufklärung - das Beispiel Nietzsche, in: R. Rozanowski (Hg.): Aktualität der Aufklärung, Wroclaw 2000. Friedrich Nietzsche. Piattaforma girevole tra moderno e postmodemo?, in: F. Totaro (ed.): Nietzsche tra eccesso e misura. La volonta di potenza a confronto, Roma 2002.
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Die Praxis-Diskussion und ihre Stellung in der Geschichte der Philosophie der DDR. Versuch einer Ortsbestimmung auch aus persönlicher Erfahrung, in: V. Caysa, H. Seidel, D. Wittich (Hg.): Zum philosophischen Praxis-Begriff. Die zweite Praxis-Diskussion in der DDR, Texte zur Philosophie Heft 12, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Leipzig 2002.
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Friedrich Nietzsches „Nihilismus der Stärke" und die „neue Moral" der „Immoralisten", in: R. Zecher (Hg.): Unterwegs mit und in der Philosophie. Festschrift für Karl Anton Sprengard, Hamburg 2003.
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Aufklärung und Kultur - ihre Rolle im kulturphilosophischen Diskurs einst und heute, in: HansMartin Gerlach, A. Hütig, O. Immel (Hg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, Frankfurt a. M. u.a. 2004. Wiederabdruck in: Klaus Fischer, Hamid Reza Yousefi (Hg.): Grundlagen des Toleranz-Dialogs. Teil I: Methoden und Konzeptionen, Nordhausen 2004.
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Friedrich Nietzsche und die Aufklärung, in: Renate Reschke (Hg.): Nietzsche - Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Nietzscheforschung Sonderband 2, Berlin 2004.
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Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophiegeschichte?, in: Klaus Kinner (Hg.): Aktualität von Philosophiegeschichte. Helmut Seidel zum 75. Geburtstag, Rosa-LuxemburgStiftung Sachsen e.V., Leipzig 2005.
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Kant und die Berliner Aufklärung, in: Wolfgang Eichhorn (Hg.): Revolution der Denkungsart. Zum 200. Todestag von Immanuel Kant, Berlin 2005. „Technik und Masse haben einander hervorgebracht" - Karl Jaspers' „Geistige Situation der Zeit" und der Zusammenhang von technischer Daseinsordnung und Masse in der Moderne, in: Matthias Ruppert, Tarek Badawia, Helga Luckas (Hg.): Ethos - Sinn - Wissenschaft. Historisch-systematische Perspektiven einer philosophischen Pädagogik, Remscheid 2005. Abbe St.-Pierre, Kant, Jaspers und die Idee des ewigen Friedens, in: Jean Ferrari, Margit Ruffing, Robert Theis, Matthias Vollet (Hg.): Kant et la France - Kant und Frankreich, Hildesheim 2005.
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Beiträge in Zeitschriften und Periodika: -
Friedrich Nietzsche - ein Philosoph für alle und keinen?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 9, 1966.
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Die Stellung der Existenzphilosophie heute, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 12,1966. Philosophie und Politik im Denken von Karl Jaspers, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 7, 1969. Mensch und Geschichte bei Karl Jaspers, Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-MarxUniversität Leipzig, Heft 5,1973.
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SCHRIFTEN
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Rezension zu H. Ley: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 2/1 und 2/2 (mit G. Schenk u. S. Kirschke), Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Heft 5, 1973.
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Burzoäzny clovek medzi existencion a bytim, Filosofia (Bratislava), Bd. 33, 1973. Spätbürgerliche Philosophie und Konservatismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 5, 1976. Metaphysik oder Geschichtlichkeit?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4,1979. Philosophiegeschichte und Wissenschaftsentwicklung in der Neuzeit, in: Blätter für Wissenschaftsgeschichte, Heft 6, Halle 1979. Christian Wolff - ein hervorragender deutscher Philosoph der Aufklärung (mit S. Wollgast), Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 10,1979. Geschichte oder Geschichtlichkeit?, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-SchillerUniversität Jena, Heft 1,1984. Gefühl - Sinnlichkeit - Verstand. Bemerkungen zu einem erkenntnistheoretischpsychologischen Problem in der Philosophie der Aufklärung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 7, 1984. Das Konzept .bürgerliche Ideologie' - Anwendbarkeit, Probleme, Grenzen (mit R. Mocek), in: Ideologie - Aufklärung über Bewußtsein, Dialektik 10, Köln 1985. Individuum contra Egalität und der Mythos zum ,Aufbruch' in eine ,neue Ordnung', in: Konservatismusforschung, Heft 7, Jena 1987. Wissenschaft und Besinnung, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte, Heft 18, Halle 1987. Johannes Gottlieb Fichte - revolutionärer Weltbürger und aktiver Patriot: Einheit oder Widerspruch?, in: Fichte-Studien, Heft 1, Rammenau 1988. Bemerkungen zum Organon der geistigen Auseinandersetzungen in unserer Zeit, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1,1988. Friedrich Nietzsche - ein Philosoph für alle und keinen?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 9, 1988. Heidegger und das Problem der Metaphysik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 9,1989. Die französische Revolution und ihre Widerspiegelung in der klassischen deutschen Philosophie, in: Brücken. Germanistisches Jahrbuch der DDR, Prag 1988/89. Rationalität und Humanität. Methodologische Überlegungen zu einem philosophiegeschichtlichen Grundmotiv (mit R. Mocek), in: Philosophie als Geschichte: Probleme der Historiographie, Dialektik 18, Köln 1989. Tarih karsi doga? Dogya karsi tarih, Felsefe dergisi (Ankara), Heft 3,1989. „Ihm graute vor der entsetzlichen Öde". Franz Mehrings Auseinandersetzung mit Nietzsche Modellfall marxistischer Ideologieanalyse bezüglich spätbürgerlicher Philosophieentwicklung, in: Franz Mehring - Historiker der Philosophie, der Arbeiterbewegung und der Literatur. Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1989. Dasein als Sein zum Tode oder der Tod als Grenzsituation? Identisches und Differentes in der Todesauffassung bei Heidegger und Jaspers, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 11,1991. Denk- und Irrwege Martin Heideggers und ihre Reflexion in der DDR-Philosophie der letzten vierzig Jahre, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog, Supplementband ,Martin Heidegger', Wien 1991. Denken heute - zwischen Pluralismus und Fundamentalismus?, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft, Band XXXV, Stuttgart 1991.
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Von alten und neuen Schwierigkeiten mit Friedrich Nietzsche, in: Jahresschrift der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V., Bd. I, Halle 1991.
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„... es kostet mich keine Mühe, ein .guter Europäer' zu sein." (Friedrich Nietzsche), Weimarer Kultur-Journal, Heft 6,1992.
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Tod als Daseinserschließung oder als Grenzsituation? Die Todesauffassung bei Heidegger und Jaspers - ein Vergleich, in: Jahrbuch der österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft Bd. 6, Wien 1993.
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Rezension zu D. M. Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs: E. Förster-Nietzsche, F. Koegel, R. Steiner, G. Naumann, J. Hofmiller. Chronik, Studien und Dokumente (Supplemente Nietzscheana Bd. 2, Berlin/New York: De Giuyter 1991), Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd.24, Berlin / New York 1995.
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Friedrich Nietzsche und die Politik, Nietzscheforschung Bd. 4, Berlin 1998. Nietzsches Denken zwischen „aristokratischem Radikalismus" und „Psychopathia spiritualis". Zur Nietzsche-Rezeption der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der Haltung der deutschen Linken, Nietzscheforschung Bd. 6/7, Berlin 2000.
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Christian Wolff - seine Schule und seine Gegner. Einleitung, in: Christian Wolff. „Aufklärung", Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Jg. 12, Bd. 2, Hamburg 2001.
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Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie? Die alternativen Wege von Christian Thomasius und Christian Wolff im philosophischen Denken der Frühaufklärung an der Universität Halle, in: Christian Wolff. „Aufklärung", Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Jg. 12, Bd. 2, Hamburg 2001.
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Wege der Nietzsche-Kritik - Jaspers, Bloch, Lukäcs, Nietzscheforschung Bd. 8, Berlin 2001.
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Prinzip Hoffnung oder Prinzip Verantwortung? Emst Bloch und/oder Hans Jonas - eine Alternative oder eine Einheit?, Zblizenia Polska - Niemcy / Annäherungen Polen - Deutschland, Pismo Uniwersytetu Wroclawskiego 3 (33), Wroclaw 2002.
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Ost-West-Passage, Die ZEIT 05/2003. Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel, in: Antike und Romantik bei Nietzsche. Nietzscheforschung Bd. 11, Berlin 2004.
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Helmut Seidel - oder vom praktischen und theoretischen Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, Zblizenia Polska - Niemcy / Annäherungen Polen - Deutschland, Pismo Uniwersytetu Wroclawskiego 1 (40), Wroclaw 2005.
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Drei Antworten zu Kant, in: International Kant-Interview. 100 Et'udov ο Kante. IstorikoFilosofsky Almanach, Vipusk 1. Moskva: Sovremennie Tetradi, 2005. Gott, die Welt und Ich. Dem Philosophen Joachim Kopper zum achtzigsten Geburtstag (mit L. Baumann), Süddeutsche Zeitung, 61. Jg., Nr. 174, 30.07.2005, Feuilleton (S.17).
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Beiträge in Lexika und Handbüchern -
Art. Heidegger, Jaspers (mit H. Barth), Kierkegaard (mit G. Tewsadse) in: D. Alexander, E. Lange (Hg.): Philosophenlexikon, Berlin 1982ff.
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BI Universal-Lexikon in 5 Bänden, Leipzig 1985ff. F. Fiedler, G. Gurst (Hg.): Jugendlexikon Philosophie, Leipzig 1985ff. Art. Nihilismus, in: H. J. Sandkühler (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, 4 Bde., Hamburg 1990.
SCHRIFTEN
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Art. Existentialismus, Irrationalismus, Lebensphilosophie, in: H. Hörz, H. Liebscher, R. Löther, E. Schmutzler, S. Wollgast (Hg.): Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1991. Art. Absolutes, Askese, Chiffre, Geschichtlichkeit, Grenzsituation (phil.), Heroismus, Sein, Seinsvergessenheit, Todestrieb, Umgreifende, Unendlichkeit, Urseiendes, Wesensschau, Zeitlichkeit, Zweite Welt, in: W. Beltz (Hg.): Lexikon der Letzten Dinge, Augsburg 1993. Art. Eduard von Hartmann, in: F. Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bde., Stuttgart 1999. Art. Nihilismus, in: H. J. Sandkühler, D. Pätzold, P. Stekeler-Weithofer (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, 2 Bde., Hamburg 1999. Art. Philosophie (Wirkungsgeschichte), Politik (Faschismus, Nationalsozialismus, Sozialdemokratie, Marxismus), in: H. Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch, Stuttgart 2000.
(Mit-)Herausgeberschaften Sammelbände und Editionen: -
Chrestomathie zur Geschichte der neuesten und gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie in zwei Bänden (mit S. Mocek), Zwickau o. J. - Aristoteles anläßlich seines 2300. Todestages (mit G. Schenk), Halle 1978. - Piaton: Der Staat (mit G. Schenk), Leipzig 1978,2. Aufl. 1988. - Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland. Hallesches Wolff Kolloquium 1979 (mit G. Schenk u. B. Thaler), Halle 1980. - Kants „Kritik der reinen Vernunft" im philosophischen Meinungsstreit der Gegenwart (mit S. Mocek), Halle 1982. - Karl Jaspers (1883-1969) (mit S. Mocek), Halle 1984. - Georg Lukäcs (1885-1971) (mit S. Mocek u. A. Sailer), Halle 1986. - Quellen der spätbürgerlichen deutschen Philosophie im 19. Jhd. und ihr geistig-kulturelles Erbe. Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie 7/8 (mit R. Bauermann, G. Schenk u. J. Biüggemann), Halle 1987. - Descartes und das Problem der wissenschaftlichen Methode (mit R. Meyer), Halle 1989. - Philosophenlesebuch Bd. 3: Texte von Schopenhauer bis Levi-Strauss, Berlin 1991. - Husserl in Halle. Spurensuche im Anfang der Phänomenologie (mit H. R. Sepp), Frankfurt a. M. u. a. 1994. - Christian Wolff - seine Schule und seine Gegner. Aufklärung - Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Jg. 12, Bd. 2, Hamburg 2001. - Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kultuiphilosophische Zugänge zur Interkulturalität (mit A. Hütig u. O. Immel), Frankfurt a. M. u. a. 2004.
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HANS-MARTIN GERLACH
Reihen und Periodika: -
Jahrbuch Nietzscheforschung. Jahresschrift der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V., Bde. 1 u. 2, Berlin 1994 u. 1995. Reihe Daedalus. Europäisches Denken in deutscher Philosophie, Frankfurt a. M. u.a., seit 1991, bisher 16 Bände: Th. Grüning/K. Vieweg: Hegel - Vision und Konstruktion einer Vemunftgeschichte der Freiheit, 1991. E.-M. Tschurenev: Kant und Burke: Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns, 1992. J. Rathmann: Historizität in der Deutschen Aufklärung, 1993. L. Lambrecht/E.-M. Tschurenev (Hg): Geschichtliche Welt und menschliches Wesen. Beiträge zum Bedenken der conditio humana in der europäischen Geistesgeschichte, 1994. H.-M. Gerlach/H. R. Sepp (Hg.): Husserl in Halle. Spurensuche im Anfang der Phänomenologie, 1994. V. Caysa: Das Seyn entwerfen. Die negative Metaphysik Martin Heideggers, 1994. J. Friedrich/B. Westermann (Hg.): Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmut Plessner, 1995. J. Brejdak: Philosophia crucis. Heideggers Beschäftigung mit dem Apostel Paulus, 1996. V. Caysa (Hg.): Auf der Suche nach dem Citoyen. Konzepte der Citoyenität, 1997. Th. Schröder: Natur als Idee. Begründung und Aktualität des Naturbegriffs unter kritischer Berücksichtigung der Naturphilosophie Schellings, 1997. J. Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistischmetaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meiners, Weishaupt), 1999. H.-J. Arendt: Gustav Theodor Fechner. Ein deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, 1999. R. Zecher: Das Ziel der Einheit. Verwirklichung einer Idee oder Ergebnis eines Selbstorganisationsprozesses? Schellings spekulative „Naturphilosophie" und die Evolutionstheorie: Gesprächspartner in der Frage nach einer Rückbesinnung auf die Naturphilosophie?, 2000. M. George: Die Geburt der Hermeneutik aus dem Geist der Politik. Diltheys Begründung der Philosophie als pragmatische Ordnungsmacht der Moderne, 2002. Ch. Rabanus: Praktische Phänomenologie. Jan Patockas Revision der Phänomenologie Edmund Husserls, 2002. H.-M. Gerlach/A. Hütig/O. Immel (Hg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalitat, 2004.
Personenregister (Mythologische Namen sowie Nennungen in Fußnoten sind kursiv gesetzt)
Abbt, Thomas 124 Adam 384, 385 Adam & Eva 68, 345 Adorno, Theodor W. 6 3 , 1 8 5 , 1 9 0 , 1 9 4 , 244,327, 327-330,330-332, 336, 340, 342, 397 d'Alembert, Jean Le Rond 12, 63, 83 Alexander der Große 344 Anaxagoras 305 Apel, Karl Otto 275,276 Apollon 107-108,108, 110-118,118, 120 Arendt, Hannah 265 Aristoteles 28,28-29, 30, 31,69,189, 305, 365,404 Assmann, Jan 27,95, 95 Astruc, Jean 99 Aubenque, Pierre 31 Augustinus 187, 385 Bacon, Francis 63, 65-67 Bai, Karol 18 Baudelaire, Charles 342 Bauer, Bruno 198 Baum, Manfred 18 Baumann, Lutz 18 Baumann, Peter 270 Baumgarten Alexander Gottlieb 9 6 , 1 1 2 114 Barthes, Roland 353 Bayle, Pierre 91 Beck, Georg 26 Becker, Oskar 30 Beckett, Samuel 347
Benjamin, Walter 353 Benn, Gottfried 335,335 Berka, Karel 395 Berkeley, George 233 Bernini, Gian Lorenzo 108-109,109,120 Bloch, Ernst 20,21, 335-347,335,337, 339, 391-395 Boehm, Rudolf 249, 257 Böhme, Jakob 42, 229 Bohinc, Thomas 211 Bolingbrokes, Lord 123 Bollnow, Otto Friedrich 61,61 Bonaparte, Napoleon 181, 344 Bonhoeffer, Dietrich 197 Boulanger, Nicolas-Antoine 70 Boyle, Robert 42, 52 Broese, Konstantin 19 Brusotti, Marco 238 Bucher, Urban Gottfried 52 Burckhardt, Jacob 128 Burnet, John 27 Caligula 192 Canetti, Elias 199,202 Canterbury, Anselm von 166 Carnap, Rudolf 258 Cassirer, Ernst 19,64, 267,272, 272277,276-277 Cattepoel, Jan 194,194 Caysa, Volker 21 Cesana, Andreas 20 Chaplin, Charlie 189,192 Chardin, Teilhard de 313 Cherbury, Herbert von 92
420 Christus (Jesus von Nazareth) 58, 93,391 Christian VIII. von Dänemark 201 Clinton, Bill 381 Comte, Auguste 94 Condillac, Etienne, Bonnot de 64 Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas 294 Crusius, Christian August 123 Cues, Nikolaus von (Cusanus) 5 2 , 9 2 Daphne 109,120 Dannemann, Rüdiger 360 Darwin, Charles 226, 281 Decher, Friedhelm 226 Descartes, Rene 1 6 , 4 0 , 4 3 , 4 9 , 51-57, 59-63, 6 9 , 1 6 6 - 1 6 7 , 1 7 2 , 1 8 1 , 217,267, 339 Diderot, Denis 64, 83 Dietz, Walter 18 Dietzsch, Steffen 17 Dilthey, Wilhelm 294-295 Diogenes Laertios 29 Droysen, Johann Gustav 121 Dürkheim, Emile 26, 100 Dux, Günter 26 Eichhorn, Johann Gottfried 99 Eichler, Klaus-Dieter 16 Eliade, Mircea 100 Eliot, Thomas Stearns 335 Elm, Ludwig 397 Engels, Friedrich 398 Erdmann, Johann Eduard 220 Eros 306 Euklid 176 Evans-Pritchard, Edward E. 377 Farrington, Benjamin 26 Fellmann, Ferdinand 57 Fett, Othmar Franz 25 Ferry, Luc 231 Feuerbach, Ludwig 197, 337 Fludd, Robert 42 Flusser, Vilem 3 5 4 - 3 5 6 , 3 5 5 Fichte, Johann Gottlieb 73, 147-149, 211, 218, 306,306, 3 5 2 - 3 5 3 , 4 0 2 Fichte, Immanuel Hermann 220 Fiedler, Frank 394
PERSONENREGISTER
Fiore, Joachim di 394 Fischer, Kuno 220 Föllesdal, Dagfinn 259 Fogarasi, Bela 395 Foucault, Michel 31 Foucher de Careil, L. A. 39 Francke, August Hermann 41 Frege, Gottlob 165 Freud, Sigmund 9 8 , 1 0 0 , 1 0 0 , 1 7 2 , 2 8 6 Friedrich II. von Preußen 12, 81, 84, 108,
108 Fukuyama, Francis 397 Gassendi, Pierre 4 9 , 5 2 Gasset, Ortega y 199 Gebauer, Gunter 363-364 Geertz, Clifford 377 Gerhardt, Volker 17,231 Gerlach, Hans Martin 1 0 , 2 0 2 , 2 8 0 , 293, 335, 391-394, 397 Gernet, Louis 26 Girardon, Francois 109,109, 120 Gleich, Franz Michael von 44 Gloy, Karen 256 Goethe, Johann Caspar 117 Goethe, Johann Wolfgang 2 0 , 1 1 1 , 1 1 5 , 117-118, 121,125, 3 3 5 , 3 3 5 , 338-339, 342-346 Goeze, Johann Melchior 96 Gogarten, Friedrich 385 Goldschmidt, Meir Aron 194 Goody, Jack 27 Gothofredus, Masius 41 Grätzel, Stephan 21 Graf, Karl Heinrich 99 Gr0n, Arne 204 Gropp, Rugard Otto 395 Grossner, Claus 397 Grua, Gaston 3 9 , 4 0 Guericke, Otto von 4 8 , 5 2 Gyllemberg, Thomasine 191, 192 Habermas, Jürgen 8 9 , 9 0 , 2 7 1 , 3 2 7 , 3 2 7 , 3 2 8 - 3 2 9 , 3 3 4 , 397 Haecker, Theodor 191,196,196,204 Hager, Kurt 392 Hamann, Johann Georg 122,125 Hamann, Nicolai 310
421
PERSONENREGISTER
Harder, Richard 29 Hartmann, Eduard von 305 Hausen, Carl Renatus 122,122 Havelock, Eric A . 2 7 Haym, Rudolf 220 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 3 1 3 2 , 3 1 - 3 2 , 6 5 , 71,72, 88-89,118,125, 165,169-174,176,179-180,180, 181183,185,189,193,198, 218,271, 279, 2 9 4 , 3 0 6 , 3 1 0 , 3 1 8 - 3 1 9 , 3 2 2 - 3 2 5 , 336, 337, 340, 3 4 4 , 3 9 9 , 4 0 2 , 4 0 4 Heidegger, Martin 20, 28,240,279, 290, 305, 310, 312, 317-318, 322, 3 2 6 , 3 4 0 341,341,355-356,397 Heinrich, Klaus 26 Heise, Wolfgang 396-397,399 Helvetius, Claude Henri 70 Heraklit 173,265, 355-356 Herder, Johann Gottfried 121-124,124, 125-127,126, 294,310,373-374 Herkules 341 Hesse, Hermann 231 Hessen, Boris 395 Hillebrand, Bruno 20 Himmelmann, Beatrix 19 Hirsch, Emanuel 191 Hitler, Adolf 188, 189,192, 344 Hobbes, Thomas 40,63, 65,69, 95,166, 217 Hödl, Hans Gerald 17,707 Höffe, Otfried 231 Hölderlin, Friedrich 65 Hofmannsthal, Hugo von 335 Holbach, Paul Henry Thiry d' 68, 91,96,
100 Holenstein, Elmar 300 Homer 110,112, 169 Honneth, Axel 327,360 Horkheimer, Max 21, 63, 327,327, 328, 401-402 Horn, Johannes Heinz 394 Hütig, Andreas 19 Hume, David 92-94, 94,97, 96, 100, 101, 157, 159, 163-165,173-175 Husserl, Edmund 19,53, 53, 249-265, 249,252-253,256-257, 366,367, 397 Huygens, Christiaan 48
Ibn Esra, Abraham 98 Ijsseling, Samuel 55, 61,61, Illich, Ivan 397 Immel, Oliver 21
249,257
Jacobi, Friedrich Heinrich 243, 310 Jaspers, Karl 19, 20, 21, 185, 199, 279281,284-287,289-293,295-301, 376, 376, 386,401-402 Jenninger, Philipp 381 Jesu(s) von Nazareth (Christus) 96, 195, 197, 198,198 Joisten, Karen 16 Joseph II. von Österreich 84 Josia 99 Joyce, James 335,335 Jüngel, Eberhard 384 Jungius, Joachim 52 Kafka, Franz 347-348,347-348 Kahn, Charles 26 Kain 384-386, 388 Kallimachos 110, 112 Kamata, Yasuo 220 Kant, Immanuel 12, 1 7 - 1 9 , 6 1 , 7 3 , 7 8 79, 8 2 - 8 3 , 9 6 - 9 7 , 9 9 , 9 9 , 121-123,121122, 125, 127-128, 131-141,143, 143146, 147-148,148, 149-153, 155-170, 172,176,193, 211, 220, 220,222,231, 231-236,233,238-244,243,245,2452 4 6 , 2 6 3 , 2 6 7 - 2 7 2 , 2 7 0 - 2 7 2 , 277,277, 284,293-294,305-306, 318-319, 321325,333, 362, 365, 371,371-371, 383384,395,402,404 Kepler, Johannes 42, 52 Kelsen, Hans 285 Keulartz, Jozef 332 Kierkegaard, S0ren 18,185,185-205, 188-194,198, 200-202,204,205,280, 296,402 Kippenberg, Hans Georg 95, 102,102 Kircher, Athanasius 42 Kirmmse, Bruce H. 188 Klages, Ludwig 20,305, 311,313 Klaus, Georg 395 Kleine, Lothar 394 Kleist, Heinrich von 233, 234,335, 338 Klopstock, Friedrich Gottlieb 37
422 Knebel, Karl von 121 Knoblauch, Hubert 94 Knutzen, Matthias 52 Koch, Lutz 143 Köberle, Adolf 204 Körner, Christian Gottfried 124 Kosing, Alfred 394-395 Kossler, Matthias 18, 208 Kraus, Albrecht 245 Kuenen, Abraham 99 Kuhlmann, Quirinus 42 Kurzke, Hermann 308 La Mettrie, Julien Offray de 69 Laboribus, Jucundus de 43^45,44, 45 Lambert, Johann Heinrich 143 Lange, Joachim L. 44-45 44 Laokoon, 107 Lau, Th. L. 52 LeBon, Gustave 305, 309 Lehmann, Gerhard 143 Lehrke, Winfried 17 Leibniz, Gottfried Wilhelm 37, 39,39, 40,46,47,49,52,114, 305 Lenin, Wladimir Iljitsch 398 Lepenies, Wolf 114 Lessing, Gotthold Ephraim 66, 79, 83, 96,98, 123,243 Ley, Hermann 395 Lichtenberg, Georg Christoph 121 Locke, John 64, 69,71, 160 Luruja, Aaron S. 27 Luden, Heinrich 39, 40,124, 128 Ludwig XIV. von Frankreich 108,108, 119 Ludwig XVI. von Frankreich 84 Ludwig, Gerd 394 Lukäcs, Georg 185, 328-330,330, 336, 359, 360, 396-397 Luther, Martin 37,195, 196, 197,201, 202,381-385,388 Lynkeus 342 Mably, Gabriel Bonnot de 71, 81 MacLennan, John F. 99 Malter, Rudolf 143, 207, 207 Maimon, Salomon 18, 155-160,163 Mansfeld, Jaap 30
PERSONENREGISTER
Marcuse, Herbert 185 Marett, Robert R. 98 Marlowe, Christopher 343 Marquard, Odo 94,101 Marx, Karl 18,103,125, 198-199, 203, 205,294,330, 335-336,337, 339,359, 391-392,394, 397-399,402 Mauthner, Fritz 172 Meier, Christian 27 Meier, Georg Friedrich 114 Meinecke, Friedrich 293-294 Meister Eckhard 346 Meller-Marcovicz, Digne 355 Mencke, Otto 37, 39,39 Mendelssohn, Moses 11, 293 Mendelssohn, Joseph 78 Mengs, Anton Raphael 115 Meyer, Thomas 282 Meyer, Walter 220 Mnemosyne 170 Mocek, Reinhard 21 Montaigne, Michel de 166 Montesquieu, Charles de Secondat 80, 105 Morelly, N. 81 Moritz, Karl Philipp 117 Mose(s) 98 Müller, Friedrich Max 101,101 Müntzer, Thomas 394 Musil, Robert 335, 345 Nero 192 Newton, Isaac 68, 217 Nida-Rümelin, Julian 231 Nietzsche, Friedrich 15, 18-20, 99,102, 116,165,172-176,190,192,199,203, 208,217,218,220,230-238,231,240246,245, 280,286,296-297, 305, 309, 317-326,320,335,337,337, 338,346, 352, 354, 362,577,397 Nussbaum, Martha 359 Odysseus 345 Otto, Stephan 57 Otto, Rudolf 101 Pai-Chang 301 Patocka, Jan 19,260-266,265
423
PERSONENREGISTER
Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 42,52 Parmenides 166,232 Pascal, Blaese 48,67 Paul, Jean 210 Paulsen, Friedrich 143 Penzo, Giorgio 20 Pestalozzi, Karl 238 Pfeiffer, Hans 394 Piaget, Jean 26 Pilatus, Pontius 198 Piles, Roger de 114 Piaton 18, 28,28,32, 107, 165,166, 173-174, 210, 218, 279, 285, 305, 309, 323-324,402,404 Plessner, Helmuth 368,375, 377,377 Plotin 279 Poiret, Paul 42 Poldrack, Horst 395 Popper, Karl 27, 285 Postel, Gert 42 Pott, Martin 40 Prometheus 113 Proust, Marcel 335 Putnam, Hilary 231 Rabanus, Christian 19 Raffael 355 Reichardt, Johann Friedrich 121 Reichardt, Tobias 25,25, 26 Reicke, Rudolf 245 Reids, Thomas 160 Reinalter, Helmut 13, 17 Reinhold, Carl Leonhard 160 Renz, Ursula 276 Reputakowski, Piotr 280 Reschke, Renate 17 Rickert, Heinrich 295 Rilke, Rainer Maria 335 Riedel, Manfred 123 Ritter, Joachim 27 Robespierre, Maximilien de 87 Rochhausen, Rudolf 395 Rorty, Richard 231 Rosenkranz, Karl 128 Rousseau, Jean-Jacques 16, 63-74, 81, 83,87-88, 196,20,310, 323 Rudolph, Enno 256
Ruffing, Margit 18 Salamun, Kurt 19 Salaquarda, Jörg 220,226, 228 Sartre, Jean-Paul 21, 138, 365-367,366367, 369-370,369-370, 373-374,374, 380 Scaliger, Joseph Justus 42 Schärf, Christian 20 Scheler, Max 20,305,309, 313 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 20,128,198,218,279,307, 351-354, 356 Schiller, Friedrich 18,123,124, 147,148, 149-152,309,315,335 Schlegel, August Wilhelm 352 Schlegel, Caroline 352 Schleiermacher, Friedrich 189 Schleifstein, Josef 394 Schlözer, August Ludwig 126,126 Schmidt, Alfred 207,207, 208 Schmidt, Wilhelm 102 Schnädelbach, Herbert 269 Schneiders, Werner 13, 21 Schönherr, Christian 143 Schopenhauer, Arthur 18-19, 95, 172, 175,207-230,208-209,211-213,218220,222,226-229,232-233,233, 305, 308, 320, 354 Schuhmann, Karl 253 Schultz, Johann 155 Schulz, Robert 394 Schulze, Gottlob Ernst 18, 155, 160-161, 163-164 Schweitzer, Albert 387 Seidel, Helmut 16, 17, 394-395 Sepp, Hans Rainer 19 Sloterdijk, Peter 199, 201, 202,202,203 Smith, William Robertson 99 Söderblom, Nathan 101 Sohn-Rethel, Alfred 28 Sokrates 1 1 , 1 1 , 3 2 , 6 7 , 107,166, 185, 185,187, 198,203,232, 234, 309 Spener, Philipp Jakob 43 Spengler, Oswald 305, 310 Spinoza, Baruch de 44,45,48, 51,65, 66, 68,98,217 Sprengard, Karl Anton 20
424 Srubar, Ilja 265 Stalin, Josef Wissarionowitsch 192, 344 Stekeler-Weithofers, Pirmin 18 Stetter, Christian 27 Stiefel, E. 42 Stiehler, Gottfried 39, 52 Stirner, Max 190,198,290 Stosch, Friedrich Wilhelm 52 Strauss, David Friedrich 99,198 Sturm, Johann Christoph 41
PERSONENREGISTER
Vico, Giambattista 16, 53, 54, 57,58, 59, 60,61,62 Vidal-Major, Vanessa 20 Vlastos, Gregory 26 Vogeler, Heinrich 394 Vogeler, Jan Jürgen 394 Voltaire 64, 69, 98,108, 294
Ulbricht, Walter 392 Ullrich, Wolfgang 355
Wächter, Johann Georg 52 Waetzoldt, Wilhelm 107 Wagner, Gabriel (Realis de Vienna) 16, 3 7 - 3 8 , 3 7 , 3 9 , 39-52 Watt, Ian 27 Weber, Max 95,99, 286 Weigel, Valentin 42 Weisskopf, Traugott 143 Weller, Emil 44 Wellhausen, Julius 99, 99 Wellmer, Albrecht 327 Werner, Joseph 108, 119 Wetter, Gustav 395 Wimmer, Andreas 276 Winckelmann, Johann Joachim 17,105, 105-109,109, 110-119 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 29 Wisser, Richard 20 Witter, Johann Bernhard 99 Wittgenstein, Ludwig 59, 165, 171 Wittich, Dieter 395 Wolff, Christian 10, 82, 83, 84,114, 123, 219 Wollgast, Siegfried 16 Wyss, Beat 352
Vernant, Jean-Pierre 26-27 Viechtbauer, Helmut 57 Vienna, Realis de (Gabriel Wagner) 3942,44-45
Zeller, Eduard 220 Ziegler, Klaus 395 Zöllner, Johann Friedrich 78 Zweiling, Klaus 394
Talmon, Jacob Leib 88 Teller, Jürgen 394 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 29 Thom, Martina 395 Thomasius, Christian 16, 38,38,39, 39, 4 0 , 4 1 , 4 2 , 4 3 , 4 3 , 4 4 , 4 5 , 4 8 , 4 9 , 5 0 , 52, 82 Tibi, Bassam 283 Tieck, Ludwig 189 Tieftrunk, Johann Heinrich 97 Tindal, Matthew 93 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 117 Tönnies, Ferdinand 305, 309 Toland, John 93 Tolstoi, Leo 342 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 51 Turgot, Anne Robert Jacques 294 Turk, Horst 274 Tylor, Edward B. 94, 100