Vermittler wissenschaftlichen Wissens: Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft [1. Aufl.] 9783839408780

Seit Entstehung der modernen Wissenschaft stellt sich die Frage nach der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an dieje

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German Pages 196 [193] Year 2015

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Inhalt
»Öffentliche Wissenschaft« in Biographien. Vorwort
Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter
Ganzheitliche Natursicht: Anna Maria Sibylla Merian
Aufklärung gegen Hexenwahn: Christian Thomasius
Frauenstudium und ganzheitliche Medizin: Dorothea Christiane Erxleben (geb. Leporien)
Wahrheit und Aufklärung: Immanuel Kant
Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann Gottlieb Fichte
Kosmos als Einheit und Vielfalt: Alexander von Humboldt
Wissenschaft und die Arbeiter: Emil Adolf Roßmäßler
Volksbildung: Ludo Moritz Hartmann
Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath
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Vermittler wissenschaftlichen Wissens: Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft [1. Aufl.]
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Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens

2008-02-26 10-23-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0306171976881644|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 878.p 171976881652

Theorie Bilden Band 14

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe »Theorie Bilden« wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Dabei ist der Zusammenhang von Theorie und Bildung in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, ist doch Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. In dieser Schriftenreihe werden theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre von Mitgliedern des Fachbereichs publiziert, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Es handelt sich dabei um im Kontext der Fakultät entstandene Forschungsarbeiten, hervorragende Promotionen, Habilitationen, aus Ringvorlesungen oder Tagungen hervorgehende Sammelbände, Festschriften, aber auch Abhandlungen im Umfang zwischen Zeitschriftenaufsatz und Buch sowie andere experimentelle Darstellungsformen. Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini, Michael Wimmer (Herausgeber im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg)

Peter Faulstich ist Inhaber des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind wissenschaftliche Weiterbildung, berufliche Weiterbildung, Lerntheorie und Weiterbildungspolitik. Er ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF).

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Peter Faulstich

Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft

DGWF Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudien e.V.

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) T00_03 titel - 878.p 171976881756

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Peter Faulstich Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-878-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

»Öffentliche Wissenschaft« in Biographien. Vorwort .......................

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter ............

11

Ganzheitliche Natursicht: Anna Maria Sibylla Merian .....................

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Aufklärung gegen Hexenwahn: Christian Thomasius ......................

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Frauenstudium und ganzheitliche Medizin: Dorothea Christiane Erxleben (geb. Leporien) ...................................

57

Wahrheit und Aufklärung: Immanuel Kant .......................................

77

Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann Gottlieb Fichte .........................................................................

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Kosmos als Einheit und Vielfalt: Alexander von Humboldt .............

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Wissenschaft und die Arbeiter: Emil Adolf Roßmäßler ....................

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Volksbildung: Ludo Moritz Hartmann ............................................... 163 Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath ........

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»Öffentliche Wissenschaft« in Biographien. Vorwort | 7

»Öffentliche Wissenschaft« in Biographien. Vorwort

Mit dem Konzept »Öffentliche Wissenschaft« stellt sich die Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF) in eine ambitionierte Tradition. Schon seit dem Entstehen moderner Wissenschaft, deren Giganten Kopernikus, Galilei und Newton waren, drängt die Frage nach der Anwendung und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens. Es geht dabei um Teilhabe derjenigen, die nicht unmittelbar an Wissenschaftsproduktion beteiligt sind. Gleichzeitig ist die Relevanz der Forschungsthemen immer wieder neu legitimationsbedürftig. Einen ersten Zugang haben wir im ersten Band dieser Reihe über Ansätze wissenschaftlicher Weiterbildung und Transferstrategien verfolgt (vgl. Faulstich [Hg.] 2006). Allerdings werden Transferstrategien als Aspekt der Legitimationsproblematik im Wissenschaftsbetrieb selbst nicht immer explizit gemacht und verfolgt. Das Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz konfligiert mit dem Prinzip der wissenschaftlichen Autonomie. Es steht in Spannung zu den Grundverfahren moderner Wissenschaft, welche sich fest machen lassen an scheinbar neutralen Begriffen: Beobachten, Messen, Gesetz, Gliederung und Ordnung. Diese erscheinen als zeitlos, naturgegeben und gültig, obwohl sie immer schon von Erkenntnisinteressen und Methodenauswahl bestimmt sind. Nichtsdestoweniger gibt es eine Dominanz naturwissenschaftlich inspirierter, empirisch-analytischer Wissenschaftsansätze. Diese begründen die unbezweifelbare Erfolgsgeschichte instrumenteller Technologien, die allerdings zunehmend fraglich wird durch negative Konsequenzen für Ökosysteme, Klima und menschliches Arbeiten und Leben.

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8 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Nun kann es keineswegs darum gehen, einen Frontalangriff gegen die moderne Wissenschaft zu fahren. Dies wäre – berechtigterweise – chancenlos. Es gilt aber Beschränkungen und Begrenzungen aufzuzeigen und einen umfassenderen Wissenschaftsbegriff zu verfolgen, der gesellschaftliche Verantwortung und individuelle Teilhabe erweitert. Einzelne Akteure haben die Enge des Wissenschaftsbetriebs immer wieder aufgezeigt und durchbrochen. Gekennzeichnet werden in der vorliegenden Auswahl jeweils die Positionen und die Biographien von Anna Maria Sibylla Merian, Christian Thomasius, Dorothea Erxleben, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Alexander von Humboldt, Emil Adolf Roßmäßler, Ludo Moritz Hartmann und Otto Neurath. An ihren Beispielen lässt sich zeigen, mit welchen Schwierigkeiten und Widerständen des akademischen Betriebs zu rechnen ist. Nicht zufällig sind es oft gerade die Wissenschaftler, die in ihren Lebensläufen nicht in den normalen Prozess und die Routinen institutionalisierter Wissenschaftsproduktion eingebunden sind, die sich um Fragen der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens besonders kümmern. Von unseren Protagonisten waren sicherlich Kant und Fichte auch geschätzte und berühmte Vertreter der Universität. Nichts desto weniger verfolgten sie zugleich die Idee einer »Popularisierung« und der »Volksnähe«. Nicht zufällig ist eine Frau – Anna Maria Sybilla Merian –, die kaum in den Wissenschaftsbetrieb einbezogen ist, die nicht einmal vorrangig als Wissenschaftlerin, sondern als Künstlerin rezipiert wird, eine der ersten in dieser Ahnenreihe. Sie wird in ihrer Wissenschaftskunst Vorreiterin einer neuen Sichtweise auf die Natur, bei der nicht nur die einzelnen Spezis, sondern deren ökologischer Kontext betrachtet wird. Zugleich hat sie in ihren Bildern eine die abstrakte Wissenschaftssprache überschreitende Form der sinnlichen Erfahrbarkeit geschaffen, welche sich auch Nicht-wissenschaftlich-Vorgeschulten öffnet. Solche besonderen, unüblichen Sicht- und Darstellungsweisen treffen auf alle unsere Protagonisten zu: Merian ordnet Zusammenhänge neu; Thomasius übernimmt die Rolle eines Rebellen gegen herrschende juristischen Dogmen; Erxleben setzt sich gegen den Widerstand gegen ein Studium von Frauen in der Medizin durch; Kant grenzt sich ab sowohl gegen Empirismus als auch gegen Rationalismus und schreibt die bekannteste Schrift über »Aufklärung«; Fichte will in seinen »Reden an die Deutsche Nation« das »Volk« erreichen, versucht als Rektor der neuen Berliner Universität eine Neuordnung und scheitert daran; Humboldt ist ein Einzelkämpfer als Naturforscher, der erst spät höchste Anerkennung erreicht; Roßmäßler – ein alter 1848iger – wird wegen seines politischen

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»Öffentliche Wissenschaft« in Biographien. Vorwort | 9

Engagements aus der Wissenschaft verdrängt; Hartmann engagiert sich in Wien besonders für die Volksbildung, was ihm an der Universität eher schadet; ebenso Neurath, der sich intensiv um die »Volksvorträge« kümmert und im »Wiener Kreis« eher ein Außenseiter bleibt. Direkte Kontakte zur »Wissenschaftlichen Weiterbildung« gibt es unmittelbar bei Hartmann und Neurath; die anderen ausgewählten Vertreter »Öffentlicher Wissenschaft« wirken hauptsächlich durch ihre grundlegenden Positionen. Dass ausgerechnet Fichte mit seinen »Reden an die Deutsche Nation« immer wieder als einer der Ersten zitiert wird, der sich um Volksbildung bemüht habe, beruht eher auf einem Selbstmissverständnis des Philosophen. Erreicht hat er das »Volk« nicht. Der Band »Öffentliche Wissenschaft« (Faulstich [Hg.] 2006) hat ein Signal gegeben für mögliche Perspektiven der DGWF. Deshalb soll diese Aktivität fortgesetzt werden. Wir können in der Auseinandersetzung mit solchen Positionen sehr viel lernen für die aktuelle Diskussion. Der Rückgriff auf historische Konzepte öffnet die Sicht auf langfristige zukünftige Perspektiven. Wenn es darum geht, über enge Verwertbarkeit hinaus auch konzeptionelle Grundlagen zu klären, ist – so hoffen wir – dieser Diskurs sehr nützlich und fruchtbar. Peter Faulstich Vorstand der DGWF

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9) T01_01 Vorwort.p 172059250884

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter

Die Wissenschaftsforschung hat sich lange Zeit vorrangig um die Entstehung wissenschaftlichen Wissens gekümmert. Die Produktion des Wissens stand im Vordergrund, nicht dessen Transformation und Distribution. Je mehr allerdings deutlich wird, dass alle Poren des Alltagslebens von wissenschaftlichem Wissen durchdrungen werden, desto notwendiger wird es, sich um den Zugang und die Thematik der Wissensdistribution zu kümmern. John Desmond Bernal (1901-1971), britischer Physiker und Mitbegründer einer »science of science«, betont in seinen Überlegungen über »Die soziale Funktion von Wissenschaft« (1986) die Notwendigkeit einer an sozialen Bedürfnissen orientierten science policy: »Es hat wenig Sinn, das Wissen zu vermehren, das Wissenschaftler von der Arbeit ihrer Kollegen haben, wenn nicht gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass ein echtes Verständnis für Wissenschaft Teil des Alltagslebens unserer Zeit wird. Mangelnde wissenschaftliche Kenntnis und mehr noch zu Halbwissen verzerrtes Wissen sind zum großen Teil für eine geistige Haltung verantwortlich, die den heute so offenkundigen Rückfall in die Barbarei ermöglicht und tatsächlich sogar gefördert hat.« (Bernal 1986, 305).

Die Frage nach der sozialen Funktion von Wissenschaft ist trotz vielfältiger Proklamationen dem Wissenschaftsbetrieb fremd geblieben. Der Schein der Neutralität ist für Wissenschaft zweifellos funktional, weil er ihre Autonomie sichern soll. Angesichts der vielfältigen Verflechtungen mit okonomischen, technischen und auch militärischen

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12 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Komplexen wächst aber der Zweifel an den Grundannahmen moderner Wissenschaft, die sich im Kern dem empirisch-analytischen Paradigma verpflichtet. Dieses allerdings ist selbst Resultat einer spezifischen historischen Konstellation.

Ursprünge moderner Wissenschaft Die Prämissen moderner Wissenschaft, die bis heute fortwirken, entwickelten sich in einem Zeitraum von etwa hundert Jahren zwischen 1540 und 1640 (vgl. Zilsel 1976). Es geht um Entwicklungsdenken, die tragenden Akteure – oft Händler und Techniker, weniger Akademiker –, humanistischen Individualismus, die Organisation wissenschaftlicher Arbeit, Erfahrungswissen, Veröffentlichungswesen, Rechenhaftigkeit, Kapitalakkumulation und Maschinerie (Zilsel 1976, 49-65). 1543 wurde »De revolutionibus orbis coelestum« des Nicolaus Kopernikus veröffentlicht. 1642 wurden die »Principia mathematica« Newtons in Druck gegeben. In den hundert Jahren, welche dazwischen liegen, bildete sich das moderne Weltbild der Wissenschaften heraus. Dabei entzieht sich die Entstehung einer monokausalen Beschreibung. Die Vielfalt der Bezüge verbietet jede mechanistische Deutung. Es gibt eine ganze Reihe von Einflüssen, welche zu der »Revolution der Wissenschaften« geführt haben: – Statt eines Denkens in Zyklen und Wiederholungen wurde – erstens – zunehmend eine Entwicklungsdynamik unterstellt. Damit wurde die Menge des ständig neu in Frage gestellten Wissens immer mehr. Nichts ist mehr fest vorgegeben, sondern alles jeweils neu zu begründen. – Es tritt – zweitens – eine neue Generation von »Wissenschaftlern« auf das Tableau: Ärzte, Anwälte, Kaufleute, Architekten und Ingenieure. Zivilingenieure sind wissenschaftlich geschulte Beamte; sie betrieben Forschung in Laboratorien und wissenschaftlichen Institutionen und unterschieden sich von den Handwerkern durch zielstrebige und schrittweise Vermehrung des Wissens durch Versuchs- und Irrtumsverfahren. – Drittens stieg das Ansehen dieses Personenkreises von weltlichen Gelehrten gemessen an dem individualistischen Berufsideal der Humanisten. – Viertens wurden in den Werkstätten Formen der Arbeitsorganisation dominant, welche eine wissenschaftliche Durchdringung der

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter | 13











Kooperation erforderten. Es ging darum »die Künste« zu verbessern und zu erklären. »Künstler«, Instrumentenmacher und Geschichtsbauer verfassten öffentlich zugängliche Texte, welche die Geheimnisse der Zünfte missachteten. Fünftens durchbrachen die Kompetenzen der Protagonisten die Erfahrungswerte des Handwerks. Die ersten Mechaniker waren keine Handwerker. Sie waren mit der klassischen Mathematik vertraut und versuchten ihre Produkte auf Grund von mathematischen Formeln zu begründen. Sechstens wurde damit wissenschaftliche Forschung und deren Veröffentlichung in den Dienst der Allgemeinheit gestellt und als Vorbedingung des Fortschritts erkannt. Die Wissenschaft erfordere die vereinigte Anstrengung vieler Menschen. Siebtens benötigte der sich herausbildende Frühkapitalismus und der damit expandierende Handel eine präzise Kalkulation und Rechnungslegung. Achtens bilden sich in den Akademien der Wissenschaft Kooperationsformen der Wissenschaftsproduktion heraus, welche allen anderen individualistischen Strategien überlegen waren. Neuntens sind die Entwicklung der Maschinerie, der kapitalistische Unternehmergeist und ökonomische Rationalität Vorbedingungen, ohne die das Ideal des wissenschaftlichen Fortschritts sich nicht entfalten kann.

Die Revolution des Denkens umfasste nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Gesellschaftswissenschaften. Unter den frühesten Untersuchungen zur Geldwirtschaft findet man ausgerechnet Nicolaus Kopernikus über monetäre Prozesse »Monetae calcule ratio« (1552). Etabliert wurde in verschiedenen Wellen die Herausbildung eines umfassenden wissenschaftlichen Weltbilds. Sicherlich gab es vielfältige Vorläufer, auch Zeiten des Stillstands und Perioden forcierter Dynamik. Ergebnis war auf alle Fälle die Entwicklung des modernen naturwissenschaftlichen Paradigmas, das auf einigen wenigen Prinzipien beruht: beobachten, messen, ordnen. Dabei ist ein zentraler Begriff der des Gesetzes, das die beobachteten und gemessenen Daten ordnet (Zilsel 1984, 8-11). »Der Begriff des Gesetzes hat ein politischen, der des Naturgesetzes einen theologischen Kontext« (ebd. 8). Ursprünglich steht hinter dem Gesetz Herrschaft, und die Natur folgt den Gesetzen. Mittlerweile hat sich der Begriff gereinigt, und es wird im Grunde eine empirisch beobachtete Regelmäßigkeit der Natur gemeint, wobei Homogenität

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14 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens und Reproduzierbarkeit unterstellt wird. Im Unterschied zum Erfahrungswissen der Handwerker oder der ersten Ingenieure oder Mediziner ist wissenschaftliche Erkenntnis auf die Erzeugung eines personneutralen Systems gerichtet, in der die einzelnen Erfahrungen geordnet sind. Erfahrungen entstehen aus der Praxis von Künstlern, Ingenieuren und Chirurgen. Dabei wird nicht die Aufgabe gestellt, den beobachteten Effekt zu begreifen; es genügt, ihn zu beherrschen. »Geht, passt und hält« ist heute noch ein Leitspruch vieler Ingenieure. Beobachtungen gelten dann als exakt, wenn sie auf Messungen beruhen. Das quantifizierte Datum gilt als das Ideal wissenschaftlicher Beschreibungen. Zusammenhänge werden korrelativ hergestellt, ohne nach dem Wesen dieser Erscheinungen zu fragen. Theorien gelten dem gemäß nicht mehr als Wirklichkeitsentwürfe, sondern als Modelle, in denen bekannte und noch zu suchende Erkenntnisse probeweise geordnet werden. Letztendlich wird die Wirklichkeit nach den Modellen umgebaut. Dieses Paradigma naturwissenschaftlicher Moderne ist für alle Wissenschaftsbereiche dominant geworden. Es hat vor allen Dingen durch ökonomische und technische Erfolge einen Siegeszug angetreten, der nicht mehr aufzuhalten ist.

Öffentliche Wissenschaft als Perspektive Angesichts der negativen Konsequenzen blinder Wissenschaftsdynamik käme es demgegenüber darauf an, die Richtungen und die Inhalte der Entwicklung zu gestalten und damit möglichst viele zu beteiligen. Öffentliche Wissenschaft wirkt als Korrektiv und Korrelat für die Legitimations- und Diffusionsprobleme wissenschaftlichen Wissens. Dabei werden vier Perspektiven geöffnet: – Die Frage des Zugangs über die »normale« Population der Studenten hinaus. – Die Öffnung für »besondere« Gruppen z.B. Arbeiter, Frauen, Ausländer. – Die Überprüfung der Themen auf ihre Relevanz und hinsichtlich »vergessener« Probleme. – Der Rückgriff auf Methoden, die über Sprache und Schrift hinausgehen und sich auf Bilder und andere Medien (Lichtbilder, Filme, Studienmaterialien oder Internet) stützen.

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter | 15

Wenn es so ist, dass wissenschaftliches Wissen unsere Gesellschaft bis in alle Poren durchdringt, kann das Betreiben von Wissenschaft nicht nur Angelegenheit der Wissenschaftler bleiben. Das Konzept »Öffentliche Wissenschaft« stellt sich die Aufgabe gegen reziproke Mythologien: gegen irrationale Ängste einerseits und illusionäre Hoffnungen andererseits Grundstrukturen von Wissenschaftlichkeit zugänglich zu machen, so dass eine angemessene Auseinandersetzung möglichst vieler über Ziele, Mittel, Ressourcen und Konsequenzen von Wissenschaft ermöglicht wird. Allerdings ist das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft gekennzeichnet durch eine wachsende Diskrepanz. Es gibt ein immer stärkeres Auseinanderfallen dessen, was an wissenschaftlichem Wissen produziert wird, und dem, was davon rezipiert und umgesetzt wird. Die Kluft zwischen Priestern und Laien, zwischen Experten und Publikum, zwischen Wissenschaftlern und Alltagsleben wächst immer mehr. Dabei ist kennzeichnend, dass viele auf einem Gebiet Experten sein können, aber auf allen anderen Gebieten Ignoranten. Es werden damit zentrale Probleme des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft aufgeworfen: Das Kommunikationsproblem: Wissenschaft und alltägliche Interaktionen benutzen unterschiedliche Kommunikationssysteme. Wissenschaftliches Wissen arbeitet mit (relativ) geklärten und bestimmten Begriffen. Diese unterscheiden sich, auch wenn es die gleichen Wörter sind, in ihrem Bedeutungsgehalt im Alltag. Ist es aber nicht möglich und Aufgabe der Wissenschaftler, ihre Erkenntnisse zu »übersetzen« und sie anknüpfbar zu machen an alltägliches Handeln? Das Komplexitätsproblem: Wissenschaftliches Wissen ist nie einfaches Wissen. Es operiert auch niemals mit endgültigen Ergebnissen, sondern lässt Fragen offen und erfordert, diese Spannung auszuhalten. Ist es aber nicht möglich und Aufgabe der Wissenschaftler Grundstrukturen heraus zu arbeiten, die allgemein fasslich sind und zum Verständnis der Wissenschaft beitragen? Das Partizipationsproblem: Die Teilhabe an Wissenschaft ist hochgradig an die Expertenrolle gebunden. Es käme deshalb darauf an, sowohl die Themen, als auch den Zugang zur Wissenschaft zu erweitern und rück zubinden an alltägliche Fragen. Ist es also nicht möglich, einen größeren Kreis an Entscheidungen über wissenschaftliche Prioritäten zu beteiligen und Verfahren der Technologieabschätzung zu entwickeln, welche es möglich machen, das auch eine höhere Beteiligung an diesen Fragen entstehen kann? Das Selektionsproblem: Zwar steigt einerseits der Anteil der Studie-

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16 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens renden an der Gesamtbevölkerung. Nichts desto weniger ist es immer noch ein ausgewählter Kreis. Dies macht elitäre und technokratische Konzeptionen möglich. Ist es dagegen nicht möglich, die Institutionen der Wissenschaft für breitere Bevölkerungsteile zu öffnen und auch Personen ohne akademische Vorbildung in wissenschaftliche Diskussionen einzubeziehen?

Historische Exponenten öffentlicher Wissenschaft Es sind in der historischen Folge vielfältige Strategien entwickelt worden, welche Brücken zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen herstellen sollen und so die Probleme der Kommunikation, Komplexität, Partizipation und Selektion bearbeiten. Dabei geht es um eine Klärung der Begriffsbildungen (Kant, Fichte); dann um eine Frage der Darstellungsweise über sprachliche Mittel hinaus zu bildhaften Explikationen (Merian, Neurath); des weiteren vor allem um eine Öffnung der Wissenschaft für einen erweiterten Adressatenkreis (Erxleben, Fichte, Humboldt, Roßmäßler, Hartmann). Theoretisch spannend ist, dass die Vertreter »Öffentlicher Wissenschaft« auch für einen Wissenschaftsbegriff stehen, der Begrenztheiten aufbricht. Es geht um Begreifen, Teilhabe, Öffnung und Verantwortung. Dazu werden unterschiedliche Strategien der Vermittlung entwickelt. Wenn hier eine Darstellung der Positionen exponierter Vertreter bezogen auf eine Öffnung von Wissenschaft für ein breiteres Publikum vorgenommen wird, greifen wir historisch weit zurück; gleichzeitig reicht dies aber bis hin zu den Aktivitäten der Zentralstellen für wissenschaftliche Weiterbildung und Einrichtungen des Wissenschaftstransfers bzw. des Public Understanding of Science and Humanities. Öffnung der Hochschulen ist eine der Aufgaben »Wissenschaftlicher Weiterbildung«. Immerhin ist es gelungen einen wachsenden, wenn auch nach wie vor kleinen Teil der Ressourcen der Institutionen für eine Teilhabe bisher nicht erreichter Bevölkerungsgruppen zu verwenden, unter anderem Frauen, Ältere, Jugendliche. Auch die Rückkehr von Berufstätigen zur Hochschule ist eine zentrale Strategie lebenslangen Lernens. Dass dies nicht nur ein aktuelles Phänomen, sondern eine Grundfrage der Wissenschaftentwicklung ist, zeigt sich im geschichtlichen Rückblick. Es gab schon seit dem Entstehen moderner Wissenschaft immer wieder Einzelkämpfer, welche die Routinen durchbrachen. Als historische Exponenten und Pioniere sich bieten exemplarisch an:

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter | 17

– Anna Maria Sybilla Merian (1647-1717), die zugleich Naturforscherin und Künstlerin war und Formen der Darstellung von Naturschönheit entwickelte, die ein breites Publikum begeistern; – Christian Thomasius (1655-1738), der an der Leipziger Universität 1687 die erste Vorlesung in deutscher Sprache gehalten hat und durch juristische Gutachten wesentlich zur Abschaffung der Hexenprozesse beitrug; – Dorothea Christine Erxleben (1715-1762), die als erste Ärztin promovierte und den Zugang des »weiblichen Geschlechts« zur Universität begründete; – Immanuel Kant (1724-1804), der der Aufklärung verbunden die nachverfolgbare Begründung von Erkenntnis anstrebte; – Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der 1794 in seiner öffentlichen Vorlesung »Über die Bestimmung des Gelehrten« die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse zum Nutzen der Gesellschaft forderte und in seinen »Reden an die deutsche Nation« eine breite Öffentlichkeit ansprechen wollte; – Alexander von Humboldt (1769-1859), der einem neuen Verständnis von Naturwissenschaft zum Durchbruch verhalf und in seinen »Kosmosvorträgen« 1827/28 eines der frühesten und bekanntesten Beispiele von »Volksvorträgen« hielt; – Emil Adolf Roßmäßler (1806-1867), der als Mitglied des Paulskirchen-Parlaments sich für die Demokratie einsetzte und in »Ein Wort an die deutschen Arbeiter« die naturwissenschaftlichen Bildungsbemühungen unterstrich; – Ludo Moritz Hartmann (1865-1924), der als Historiker, Volksbildner und Politiker der wichtigste Initiator für das Wiener Modell der »volkstümlichen Universitätsvorträge« wurde; – Otto Neurath (1882-1945), der als einer der Hauptvertreter des »Wiener Kreises« an der Entwicklung einer »Einheitswissenschaft« mitwirkte und gleichzeitig sich in den verschiedensten Aktivitäten von Volksbildung in Wien engagierte. Die meisten dieser Protagonisten werden in der aktuellen Diskussion wenig rezipiert, können aber durch ihre Positionen und Herangehensweisen Impulse geben, um die Debatte aus instrumenteller Enge herauszuführen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie gegenüber dem akademischen Tross Einzelgänger blieben und im Wissenschaftsbetrieb eher Sand als Öl waren.

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18 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens

Öffentliche Wissenschaft als Aufgabe der Wissenschaft Öffentliche Wissenschaft war in der Geschichte eher Anliegen einzelner. Der mainstream orientierte sich an wissenschaftsimmanenten Methoden, Relevanzkriterien und Ritualen. Dies ändert sich: Die Kritik an den wissenschaftlichen Elfenbeintürmen ist allgemein geworden, seit der Umfang der gesellschaftlich aufgebrachten Ressourcen einen immer größeren Anteil am Bruttosozialprodukt ausmacht. Immerhin betragen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE-Ausgaben) in Deutland etwa 2,5 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) (vgl. zum Folgenden Faulstich [Hg.] 2006, 16-20, 26-28). Damit verschärft sich die Legitimationsproblematik. Die Ausstattung der Wissenschaft mit öffentlichen Mitteln soll gerechtfertigt werden. Dazu reichen allgemeine Lobpreisungen über die Wissenschaft als Innovationsmotor und zur Standortsicherung nicht aus. Auch die Konkurrenz zwischen einzelnen Wissenschaftszweigen, zugespitzt auf die Spannung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, verstärkt angesichts prinzipiell unbegrenzten Mittelbedarfs bei enger werdenden Haushalten den Druck auf die wissenschaftlichen Institutionen, die Konsequenzen ihrer Forschungen deutlich zu machen. Entsprechende Reaktionen haben eigene institutionelle Formen gefunden. Gremien zur Folgenabschätzung (so die verschiedenen Institutionen der Technikfolgeeinschätzung; der VDI nennt etwa 400 solcher Einrichtungen – allen voran das Büro für Technikfolgeneinschätzung des Deutschen Bundestages) und Initiativen zur Verbreitung öffentlichen Verständnisses und erweiterter Teilhabe (so die vom BMBF angeregten Jahre der Wissenschaft und Technik) sind entstanden. Zuletzt hat sich die Debatte um PUSH (Public Understandig of Science and Humanities) intensiviert. Der »PUSH« geht in zwei Richtungen: Sturgis und Allum resümieren in der Zeitschrift »Public Understanding of Science« (2004, 55-74): »Science in Society: re-evaluating the deficit model of public attidutes« die Effekte des im Auftrag der Royal Society 1985 vorgelegten »Bodmer-Reports«: »The public unterstanding of Science«, der die ganze Bewegung auslöste: »The report suggested not only that scientists now had a duty to go out and communicate the benefits of science to a wider public, but also that a more ›scientifically literate‹ public would be more supportive of scientific research programs and more enthusiastic about technological innovations« (Sturgis/ Allum 2004, 55).

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Konzepte »Öffentlicher Wissenschaft« und deren Vertreter | 19

Angesichts des verbreiteten wissenschaftlichen Unwissens und drohenden Misstrauens oder sogar der Wissenschaftsfeindlichkeit werden Risiken für technologische Innovationen befürchtet. Auch in Deutschland wurde entsprechend 1999 auf Initiative des »Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft« der »Dialog Wissenschaft und Gesellschaft« gegründet. Die Bürger sollen in die Lage versetzt werden, an öffentlichen Diskussionen über wissenschaftliche Prioritäten teilzunehmen. »Scientific literacy« soll dies ermöglichen. Die Diskussion wird erweitert zu »Public Engagement in Science and Technology« (PEST). Es geht nicht mehr nur um Verstehen, sondern um verstärkte Teilhabe. Betont wird die Notwendigkeit der Vermittlung eines individuelle Erlebnisse übersteigenden kulturellen Wissens. Hinter der Kontroverse verbirgt sich ein reales Problem, nämlich die Tatsache, dass Wissenschaft immer deutlicher unser Leben bestimmt und ihm zugleich fremd bleibt und sogar immer entfernter wird. Es entsteht eine unaufhebbare Lücke zwischen der Masse wissenschaftlicher Einzelerkenntnisse und der Kraft, diese zu begreifen – jedenfalls dann, wenn man einem stoffbezogenen Begriff von Wissen hinterher rennt. Ergebnis kann dann nur eine hoffnungs- und atemlose Resignation gegenüber einer anwachsenden Flut diffuser Informationen sein. Es kann aber nicht mehr darum gehen, unzählige Fakten zu kennen. Demgegenüber käme es darauf an, die grundlegenden Strukturen und Methoden von Wissenschaft zu begreifen. Bei aller Problematik medienüberformter und massenmedialer Formen von Öffentlichkeit gibt es für die Demokratie keine Alternative, als Foren der Partizipation zu öffnen. Dazu muss »Öffentliche Wissenschaft« eine Basisexpertise ermöglichen, um Teilhabemöglichkeiten am Diskurs zu gewährleisten. Dies ist nicht in der Dichotomie von Wissen versus Nicht-Wissen fassbar, sondern erfordert sich erweiternde Grade von Aneignung. Statt des Kaskaden-Modells, wie es auch noch in vielen Transferstrategien unterstellt wird, ist ein Diskurs-Modell angemessener. Wissen rinnt nicht von »oben«, der »Quelle« in den Universitäten, Forschungseinrichtungen und »Erzeuger«, nach »unten« in den »Mühlteich« der Betriebe, Ingenieurbüros und »Anwender«. Nachweisbar sind bis hin zu Beispielen aus der Bio- oder der Nanotechnologie neue Formen der Wissenserzeugung, -verteilung und -verwendung. Diskutiert wird ein neuer Modus der Wissensproduktion, der die Rolle von Wissenschaft verändert einordnet. Wissenschaft wurde in traditionellem Verständnis (Modus I) erzeugt in etablierten Institutionen und war gekennzeichnet durch ein internes Ensemble

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20 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens von Ideen, Theorien, Methoden und Normen. Eine neue Form der Wissenserzeugung (Modus II) breitet sich aus und erstreckt sich auf die kontinuierliche Kombination und Rekonfiguration von Wissensbeständen in unterschiedlichen Problemkontexten. Sie wird vielfach in komplexen Netzwerken von Hochschulen, Labors, Unternehmen, Ingenieurbüros u.ä. vollzogen, in denen kein Akteurstyp per se die dominante Rolle übernimmt. Generierung, Diffusion und Implementation von Wissen ist dann ein Prozess der Interaktion zwischen vielen Beteiligten. Transfer in einem Diskurs-Modell wird somit zu einer Pflichtaufgabe des Wissenschaftsbetriebs selbst.

Öffentliche Wissenschaft und kritisch-pragmatischer Wissenschaftsbegriff Nach wie vor dominiert ein szientifischer Begriff von Wissenschaft, der das Gegebene in abstrakte Theorien fasst, Faktizität wiederholt und einem instrumentellen Zugriff unterwirft. Dieses Wissenschaftsverständnis prägt – teilweise unterschwellig – den herrschenden Wissenschaftsbetrieb. Demgegenüber kann gerade die Diskussion um »Öffentliche Wissenschaft« beitragen, einen kritisch-pragmatischen Wissenschaftsbegriff zu begründen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seiner Untersuchung »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (Bourdieu 1998) versucht, in reflexiv-praktischer Absicht Strukturen eines selbst geregelten Austauschs in der Wissenschaft aufzudecken. Dabei greift er zurück auf den für ihn zentralen Begriff des Feldes als einem relativ autonomen Mikrokosmos, in welchem Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Akteuren stattfinden. Solche Felder verfügen über mehr oder weniger ausgeprägte Autonomie (ebd. 18). Sie erhalten Grade von Unabhängigkeit je nachdem, wie weit äußere Zwänge – Herkunft und Umfang von Geldern, Verordnungen, Vertragsbestimmungen, Forschungsaufträge – durchschlagen oder aber gebrochen werden durch eine interne »Übersetzungsmacht« (ebd. 19). Diese »Brechungsstärke« (ebd.) strukturiert auch die Felder im sozialen Raum Wissenschaft. Festgelegt wird diese Struktur durch die jeweilige Verteilung wissenschaftlichen Kapitals (ebd. 21). Es geht um Kämpfe um Ausstattung und Anerkennung, um Einfluss und um Macht. Bourdieu unterscheidet zwei Sorten wissenschaftlichen »Kapitals« – womit er die Verfügung über Ressourcen meint: Auf der einen Seite eine institutionelle Macht, die verknüpft ist mit der Besetzung hervor-

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gehobener Stellen in Institutionen, mit der Leitung von Forschungseinrichtungen und Abteilungen, Mitgliedschaften, Gutachtertätigkeiten usw. (ebd. 31). Auf der anderen Seite gibt es »persönliches« Prestige (ebd.), welches auf der Anerkennung und Wertschätzung für die Angesehensten eines Wissenschaftsbereiches basiert. So ergibt sich einerseits eine kleine Oligarchie von Wissenschaftsadministratoren und -politikern mit Verfügungsgewalt über Stellen, Gelder, Verträge usw., andererseits eine international angesehene, berühmte, anerkannte Forschungstheokratie der »Besten«, die aber kaum Macht besitzen (ebd. 36f.). Bourdieu benutzt diese Sichtweise, um die verschiedenen Blickwinkel auf das wissenschaftliche Feld zu verstehen. »Weit davon entfernt, […], einem Relativismus den Weg zu ebnen, […], erlaubt es die Konstruktion des Feldes, die Wahrheit verschiedener Stellungen zu verstehen und die Grenzen der Gültigkeit unterschiedlicher Stellungnahmen aufzuzeigen« (ebd. 40). Bourdieu kennt dieses Feld selbst bestens: »Die üblichen Orte der Auseinandersetzung und des Gruppengesprächs, die kleinen Diskussionskreise, wo Gerüchte und Klatsch die Runde machen, die Parteien, Verbände und Gewerkschaften, wo alle self deceptions kollektiver Verteidigungsstellungen wirksam werden, die Komitees und Kommissionen, wo Fehleinschätzungen und fromme Wünsche die Runde machen, wo die hölzerne Sprache der Bürokratie gebietet, lassen eine echte Erörterung wissenschaftlicher Fragen kaum zu, sondern ersetzten sie nur allzu leicht durch Denunzierung oder Politisierung« (ebd. 58).

Die Warnung vor der unmittelbaren »Politisierung« (ebd.) des wissenschaftlichen Feldes soll es ermöglichen, sich einer »ungeschminkten, aber nicht enttäuschten Sicht der Wissenschaft« (ebd.) zu öffnen. Bourdieu plädiert für eine »Realpolitik«, nämlich an die Strukturen, in denen sich Kommunikation erfüllt, selbst Hand anzulegen (ebd. 59). »Nur so lässt sich jenes Ideal verwirklichen, das als Wirklichkeit der Kommunikation auftritt, durch ein politisches Handeln spezifischer Art, nämlich in der Lage, in spezifischen sozialen Widerständen gegen Vernunft geleitete Kommunikation, gegen einen aufgeklärten Diskurs entgegenzutreten« (ebd.).

Widerständen gegen einen aufgeklärten Diskurs entgegenzutreten, könnte als eine handlungsleitende Maxime für alle, welche im Wissenschaftsbereich arbeiten, geltend gemacht werden. Die Forderungen

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22 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens nach stärkerer Partizipation und umfassenderer Kontrolle durch außerwissenschaftliche, politische Institutionen und Akteure wird immer stärker. Die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Produktion und gesellschaftlicher Diffusion von Wissen wächst, je mehr sich wissenschaftliche Kommunikation gegenüber der politischen Öffentlichkeit abschließt und nur noch eine interne Fachöffentlichkeit anspricht, Spezialsprachen entwickelt und sich um gesellschaftliche Relevanz kaum noch bemüht. Eine Rückbesinnung auf klassische Positionen öffentlicher Wissenschaft kann dagegen eine Grundlage liefern für eine Neubestimmung des Wissenschaftsbetriebs. Eine aufgeklärte, bildende Interpretation von Wissenschaft erfordert also auch einen reflektierten Begriff von Wissenschaft selbst.

Literatur Bernal, John Desmond: Die soziale Funktion von Wissenschaft. PahlRugenstein. Köln 1986 Bodmer, Walter: The Public Understanding of Science. The Royal Society. Sage. London 1985 Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. UVK. Konstanz 1998 Faulstich, Peter (Hg.): Öffentliche Wissenschaft. transcript. Bielefeld 2006 Sturgis, Patrick/Allum, Nick: »Science in Society: re-evaluating the deficit model of public attitudes«. In: Public understanding of science. (2004) 55-74. Zilsel, Edgar: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1976

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Anna Maria Sibylla Merian

Anna Maria Sibylla Merian (1647-1717)

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Ganzheitliche Natursicht: Anna Maria Sibylla Merian

Ihre Bekanntheit zeigt sich darin, dass Drucke ihrer Blumenbilder in vielen Kaufhäusern angeboten werden und ihr Portrait auf der 500 DM Banknote abgedruckt war. Leben und Leistungen allerdings sind wenig bekannt. Geboren wurde Anna Maria Sibylla Merian am 2. April 1647 in Frankfurt a.M. Sie war die Tochter von Mattheus Merian, der als Herausgeber des »Theatrum Europaeum« und der »Topograhie« berühmt war. Allerdings starb dieser drei Jahre nach ihrer Geburt. Ihr Stiefvater, der holländische Blumenmaler Jacob Morell (1614-1681) vermittelte ihr den Naturalismus der holländischen Blumenmalerei. Bereits mit dreizehn Jahren malte sie ihre ersten Insekten- und Pflanzenbilder nach Vorbildern aus der Natur. Merian war fasziniert von Tieren, die bis heute als unsauber und ekelhaft gelten. Sie wurden als Teufelsgeschöpfe und Hexenbrut betrachtet: Raupen und Schmetterlinge, Mücken und Fliegen, Wespen, Kakerlaken, Spinnen. »Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung der Insekten beschäftigt, Zunächst begann ich mit Seidenraupen in meiner Geburtsstadt Frankfurt a.M.. Danach stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupen viel schönere Tag- und Eulenfalter entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste mich, alle Raupen zu sammeln, die ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu beobachten. Ich entzog mich deshalb der menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen. Dabei wollte ich mich zugleich in der Malkunst üben und sie alle nach der Natur zeichnen und beschreiben, wie auch die In-

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26 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens sekten, die ich zunächst in Frankfurt und danach in Nürnberg habe finden können, für mich selbst sehr genau auf Pergament gemalt habe« (Merian 1975, 36).

Beobachtbar waren an diesen Spezies die Zusammenhänge der Metamorphose. Merian verfolgte die Frage, wie aus der wässerigen Materie und Raupen aufgrund von immanenten Prinzipien ein so wunderbares Gebilde, wie ein herrlich gezierter und schön leuchtender Schmetterling, werden könne. Dabei stieß sie notwendigerweise auf die Lebenszusammenhänge dieser Tiere und ihrer Umwelt. So konnte sie Insektenplagen deuten, die damals immer wieder wütende Hexenprozesse auslösten. Im Raupenbuch von 1679 erklärte sie eine damals gerade grassierende Raupenplage mit dem warmen Frühlingsregen und wiederkehrendem Sonnenschein, was zu einer ungewöhnlich warmen Witterung geführt hatte. Da die Ernteschäden auch nach Ansicht kirchlicher Autoritäten auf Schadenszauber zurückgeführt werden konnten und Hexenverfolgungen auslösten, war der nüchterne Hinweis auf das Wetter unmittelbar ein Beitrag zur Aufklärung gegen Irrglauben und Fanatismus. 1679 und 1683 veröffentlichte sie die beiden Bände ihres Werks »Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung«. Es beruht auf systematischer Naturbeobachtung vor allem der Entwicklungsstadien der Insekten und ihrer Ökologie. 1705 wurde ihr berühmtestes Werk »Metamorphosis Insectorum Surinamensum« in Amsterdam veröffentlicht. Während dieser Zeit war sie zweimal verheiratet und hat zwei Töchter geboren – die älteste 1678. 1685 trennte sich Anna Maria Sibylla Merian von ihrem Mann, zog zu ihrem Bruder auf Schloss Waltha in die Niederlande und lebte dort in einer pietistischen Kommune. Dort erhielt sie die Anregung zu ihrer großen Reise nach Surinam. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits 52 Jahre alt. »In Holland sah ich jedoch voller Verwunderung, was für schöne Tiere man aus Ost- und West-Indien kommen ließ, besonders, wenn mir die Ehre zuteil wurde, die kostbare Sammlung des Hochwohlgeborenen Herrn Dr. Nicolaas Witsen, Bürgermeister der Stadt Amsterdam und Vorsteher der Ostindischen Gesellschaft, sehen zu dürfen wie auch die des edlen Herrn Jonas Witsen, Sekretär selbiger Stadt. Ferner sah ich auch die Sammlung des Herrn Fredericus Ruysch, Medicinae Doctor Anatomes et Botanices Professor, die des Herrn Livinus Vincent und vieler anderer. In jenen Sammlungen habe ich diese und zahllose andere Insekten gefunden, aber so, dass dort ihr Ursprung und ihre

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Ganzheitliche Natursicht: Anna Maria Sibylla Merian | 27 Fortpflanzung fehlten, das heißt, wie sie sich aus Raupen in Puppen und so weiter verwandeln. Das alles hat mich dazu angeregt, eine große und teure Reise zu unternehmen und nach Surinam zu fahren (Merian 1975, 38).

Zwei Jahre lang bereiste sie mit ihrer jüngeren Tochter die Siedlungen und Plantagen Surinams und das unerforschte Landesinnere. Gezwungen durch eine Malaria im Frühjahr 1701 kehrte sie nach Holland zurück und begann die Auswertung ihrer Reise in der Form von Kupferstichen. Um das Werk umsetzen zu können, betätigte sie sich auch als Geschäftsfrau (Quellentext). Das Werk besticht nicht nur durch ihre hohe Fähigkeit zur Gestaltung, sondern auch durch genaue Beobachtungen ökologischer Zusammenhänge zwischen Insekten und Wirtspflanzen. Die Abbildungen tropischer Pflanzen, Schlangen, Spinnen, Leguane und Käfer sind Meisterwerke graphischer Darstellung und zugleich präziser Naturbeobachtungen. Merian gilt daher als eine Begründerin ökologischer Forschung. Entgegen der damals herrschenden Auffassung, dass Insekten Produkte der »Urzeugung aus faulendem Schlamm« seien, wie Aristoteles es vertreten hatte, und die deshalb die Bezeichnung »Teufelsgetier« erhalten hatten, war sie begeistert wie aus Raupen die schönsten Falter und Schmetterlinge schlüpften. Sie hielt diese Metamorphosen von der Eiablage bis zum Schmetterling fest und bezog gleichzeitig die Futterpflanzen der Raupen mit in ihre Betrachtung ein (Quellentext). Damit beschreibt sie eine Tier- und Pflanzenwelt, die damals überhaupt erst entdeckt wurde. Naturbetrachtung ist jeweils Ausdruck eines sich verändernden Verhältnisses von Mensch und Natur. Die Beziehung zur Natur änderte sich zur Zeit Merians mit der Entstehung der weltweiten Handelsbeziehung, für die gerade Holland herausragendes Beispiel war. Die Kaufleute mussten ihre Reisen vermessen und Land wurde über die unmittelbare Bearbeitung hinaus zur Entfernung.

Komplexe Betrachtung der Natur und wissenschaftliche Systematik Die Ackerbauern hatten keinen Abstand zur Natur. Sie lebten in den Zyklen des Jahreslaufs zwischen Aussaat und Ernte und waren selbst deren Teil. Reziprok waren die Ansichten der Natur durch die Natur entbundenen Herrscher lange Zeit von Merkwürdigkeiten und Skurrilitäten geprägt. Ausdruck dafür waren die »Wunderkammern« der

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28 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Fürsten, Kuriositätenkabinette, Naturaliensammlungen, wie z.B. noch die Kunst- und Naturaliensammlung der Frankeschen Stiftungen in Halle 1734. Tonangebendes Werk war über Jahrhunderte die »Naturalis historiae« des römischen Schriftstellers Gaius Plinius Secundus (23-79), welche 37 Bände mit insgesamt 493 Kapiteln umfasst. Plinius nennt selbst die eigene Absicht und rühmt sein Ergebnis: »Zwanzigtausend merkwürdige Gegenstände, gesammelt durch das Lesen von etwa zweitausend Büchern, unter welchen erst wenige ihres schwierigen Inhalts wegen von den Gelehrten benutzt sind, von Hundert des besten Schriftsteller, habe ich zusammengefasst, dazu aber noch vieles gefügt, wovon entweder unsere Vorfahren nichts wussten oder was das Leben erst später ermittelt hat« (Plinius 1987, 17).

Er gliedert – nach dem ersten Band mit der Einleitung – die Darstellung in 36 Hauptgebiete (nach heutigen Disziplinen): 1. 2.

Vorrede, Inhaltsverzeichnis und Quellenindex Kosmologie, Astronomie, Meteorologie, Vulkanologie, Geologie 3.-6. Geographie und Ethnologie 7. Anthropologie und Physiologie 8.-11. Zoologie 12.-17. Botanik 18. Ackerbau, Meteorologie, Zoologie 19. Gartenbau 20.-32. Medizin, Pharmakologie und Botanik 20.-27. Pflanzenreich 28.-32. Heilmittel aus dem Tierreich 33.-37. Metallurgie, Mineralogie und Bildende Kunst (Möller/Vogel 2007, 18) Man sieht in dieser Auswahl einen deutlichen Bezug auf den Nutzen der »Naturschätze« für den Menschen: sein Überleben, seine Reisen, seine Ernährung, seine Gesundheit, seinen Reichtum. In der Spätgotik und der Frührenaissance ändert sich das Naturverhältnis: Die Menschen sind nicht mehr nur Bauern, Fischer und Jäger, welche die Natur bearbeiten und nutzen. Diese leben unmittelbar zwischen Äckern und Feldern, Wäldern, Flüssen und Bergen. Sie erleben Natur nicht aus einem Abstand, sondern sind darin eingebunden.

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Dieser unmittelbare Naturbezug wird gebrochen; an die Stelle direkter Bearbeitung tritt reflektierte Betrachtung. Das neuzeitliche Individuum in den Städten ist gekennzeichnet durch ein Gegenüberstehen und Trennung. Es ist Teil der Kultur im Gegensatz zur Natur. Typischerweise treten die ersten Anzeichen zunächst in der Malerei auf. Während die Darstellungen von Tieren und Pflanzen im Mittelalter meist schematisch sind, werden sie in den Stundenbüchern des Duc de Berry (um 1415) oder im Genter Altar des Jan von Eyck (um 1430) realistisch und lebendig. Einen Höhepunkt findet die neue Art der Naturbetrachtung bei Dürer mit dem berühmten Hasen oder dem »Rasenstück« um 1500. Dürer steht den Naturgegenständen betrachtend und schauend gegenüber. Die ersten Landschaftsbilder und -beschreibungen entstehen (Eberle 1986). Francesco Petraca liefert eine detaillierte Beschreibung seiner Besteigung des Monte Ventoux 1336 und vor allen seiner eigenen Befindlichkeit beim Aufstieg. Für ihn ist Bergsteigen noch Teil religiösen Glaubens, eine Selbstfindung der Seele durch Hinaufführen des Körpers. Michel de Montaigne (1533-1592) dagegen legt in seinem Tagebuch seiner Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 schon eine Außensicht vor (erschienen erst 1770). In der Folge dominierte eine analytische Sichtweise auf die Natur. Der Siegeszug der Mechanik in der Folge der Bacon, Galilei und Descartes bis hin zu Newton erfasste alle Naturwissenschaften. Im Zentrum der Forschung standen die Mechanik und die sie grundlegende Mathematik, die sich in der Kosmologie glänzend bewährt hatte. Erfahrung wurde zum Beobachten und Messen. In den Vordergrund schoben sich die Wissenschaften, welche sich mit den materiellen Dingen beschäftigen – vor allem die Physik. Naturwissenschaft wurde in ihrem mainstream erfasst von Physikalismus und dem diesen impliziten Reduktionismus, Was nicht materiell (physikalisch) zu erklären sei, galt (später) als metaphysisch – also jenseits der materiell beschreibbaren und messbaren Prozesse liegend. Es fand eine Devitalisierung statt: Das Leben verschwindet aus der Biologie. Auch Carl von Linnes (17071776) Taxonomie beruht auf einer morphologischen Systematik der Einzeltiere.

Ganzheitlichkeit und Zusammenhangsdenken Die Gegentendenz durch Zusammenschau blieb aber erhalten. Anna Maria Sibylla Merians Werk war eines der wichtigsten (später Goethe

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30 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens und auch Alexander von Humboldt s.u.). Merian erfasste die Ganzheit natürlicher Phänomene – typischerweise wieder wie in der Malerei der Frührenaissance – in Bildern. Zum einen ist dies eine hervorragende Darstellungsform wissenschaftlicher Ergebnisse, wenn es darum geht, Zusammenhänge zu erfassen und sie nicht dem sezierenden Schnitt einer analytischen Wissenschaftssprache zu unterwerfen. Zum andern wird damit ein breiteres Publikum erreicht, das eben diese Sprache nicht beherrscht. Darüber hinaus sind die meisten Gelehrten nicht gewöhnt sich mit bildhaften Darstellungen auseinanderzusetzen und diese zerreißen in empirische Details. So ist Merians Zurückhaltung bezogen auf längere Texte und schriftliche Interpretationen auch ein Mittel kluger Vorsicht gegenüber der vorherrschenden Sichtweise und des wohlüberlegten Selbstschutzes. Im Vorwort zu dem Surinam-Buch hat sie dies – wiederum mit ironischem Unterton begründet: »Ich hätte den Texte wohl ausführlicher begründen können, da aber die heutige Welt sehr feinfühlig ist und die Ansichten der Gelehrten unterschiedlich sind, bin ich nur einfach bei meinen Beobachtungen geblieben. Ich liefere dadurch Stoff, aus dem jeder nach eigenem Sinn und eigener Meinung Schlüsse ziehen […] kann« (Merian 1975, 8).

Dass man nicht nur bei »Beobachtungen« bleiben kann, sondern ihre Darstellungen des Kontextes der dargestellten Pflanzen und Tiere immer Interpretationen implizieren, weiß sie selbstverständlich. Ihre Leistung wird deutlich im Vergleich mit dem bedeutendsten Entomologen (Insektenkundler) der Zeit: Jan Swammerdam (1637-1680). Dieser nutzt die Mikroskopie zur Sektion der Insekten. Das dient ihm zur Klassifikation der Tiere. Die Tafeln im Anhang seines Hauptwerks haben einen schaubildartigen Aufbau. Sie zeigen das Innere verschiedener, aber eben toter Insekten und ihr Äußeres in verschiedenen Entwicklungsstadien. Auf den ökologischen Kontext verzichtet Swammerdam vollständig. (Wettengl 1997, 25) Merian dagegen legt allergrößten Wert auf die ästhetische Gesamtwirkung ihrer Tafeln und gestaltete diese zu eigenständigen Kunstwerken. Anna Maria Sibylla Merian starb 1717 in Amsterdam, nachdem sie 1715 einen Schlaganfall erlitten hatte und sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen konnte. Sie war dann lange Zeit vergessen, und wurde erst Mitte des letzten Jahrhunderts von der sich herausbildenden Frauenbewegung wiederentdeckt und gilt als eine der bedeutendsten Wissenschaftlerinnen nicht nur ihrer Zeit. Sie wurde zu einer der wichtigsten Naturforscherinnen der Neu-

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zeit. Zugleich war sie Handwerkerin, Händlerin, Forscherin und Künstlerin. Mit ihrer Bildsprache hat sie ein Publikum erreicht, dem die analytische und oft mathematische Begriffsprache der herrschenden Naturwissenschaften verschlossen ist. Ihre Bilder sind nicht nur zusätzliche Illustrationen begriffssprachlich erläuterter Gegenstände, sondern gelungene Kunstwerke. Damit überschreitet sie die scheinbare Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Abbildung 2: Anna Maria Sibylla Merian. Lilie.

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Literatur Schriften Merian, Anna Maria Sibylla: Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung. 3 Bände Nürnberg/Frankfurt a.M. 1679-1683; Graff, Nürnberg 1679-1683 (Microform 1991); Harenberg. Dortmund 1982 (Repr.). Digitalisat der Universität Göttingen; Auswahl »Die bibliophilen Taschenbücher« Bd.331. Dortmund 1982 Merian, Anna Maria Sibylla: Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Amsterdam 1705. Piron, London 1980-1982; (Nachdrucke: Leipzig 1975; Frankfurt a.M./Leipzig 1991; Insel-Verlag. Frankfurt a.M. 1992 [Repr.]) Merian, Anna Maria Sibylla: Neues Blumenbuch. Prestel. München 1999, 2003 (Repr. in 2 Bänden. Digitalisat der Universität Göttingen Merian, Anna Maria Sibylla: Das kleine Buch der Tropenwunder. Insel-Bücherei. Frankfurt a.M./Leipzig 1999

Darstellungen, Einordnungen Dullemen, Inez: Die Blumenkönigin. Ein Maria Sibylla Merian Roman. Aufbau Taschenbuch Verlag. Berlin 2002 Eberle. Matthias: Individuum und Landschaft. Anabas. Giessen 1986. 3. Aufl. Güntherrodt, Ingrid: Maria Sibylla Merian (1647-1717): Feministische Alternative zur männerbeherrschten Naturwissenschaft. In: Konsens 5 (1989) H. 3, 13-16 Hörz, Herbert/Wenig, Klaus: Zur Genese des Entwicklungsdenkens in der Biologie bis zur Mitte des 19. Jahrhundert. In Argument Sonderband, AS 54, 107-131 Kaiser, Helmut: Maria Sibylla Merian: Eine Biografie. Artemis & Winkler. Düsseldorf 2001 Keppler, Uta: Die Falterfrau: Maria Sibylla Merian. Biographischer Roman. Bietigheim-Bissingen, Salzer 1977, dtv. München 1999, 2000. Kerner, Charlotte: Seidenraupe, Dschungelblüte – Die Lebensgeschichte der Anna Maria Sibylla Merian. Beltz & Gelberg. Weinheim 1998. 2. Aufl.

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Kühn, Dieter: Frau Merian! Eine Lebensgeschichte. S. Fischer. Frankfurt a.M. 2002, Möller, Liselotte/Vogel, Manuel (Hg.): Die Naturgeschichte des Caius Plinius Secundus. Band I und II. marixverlag. Wiesbaden 2007 Montaigne, Michel: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Übersetzt, herausgegeben und mit einem Essay versehen. Eichborn. Frankfurt a.M. 2002 Plinius Secundus der Ältere: Historia Naturalis. Eine Auswahl aus der »Naturgeschichte«. Greno. Nördlingen 1987 Schiebinger, Londa; Wissenschaftlerinnen im Zeitalter der Aufklärung. Die Entomologin Maria Sibylla Merian. In: Kleinau, E./Opitz, C. (Hg.): Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Band 1. Campus. Frankfurt a.M. 1996, 299-303 Schmidt-Loske, Katharina: Die Tierwelt der Maria Sybilla Merian. Basilisken-Presse. Marburg 2007 Wettengel, Kurt: Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin. Ausstellungskatalog. Frankfurt a.M./Ostfildern 1997 Wettengl, Kurt: Von der Naturgeschichte zur Naturwissenschaft – Maria Sibylla Merian und die Frankfurter Naturalienkabinette des 18. Jahrhunderts. Kleine Senckenberg-Reihe. Bd. 46. Schweizerbart. Frankfurt a.M. 2003

Zeittafel 1647 Anna Maria Sibylla Merian wird am 2. April in Frankfurt a.M. als Tochter des Kupferstechers Matthäus Merian geboren. 1665 Heirat mit dem Architekturmaler Johann Andreas Graf 1667 Geburt der ersten Tochter Johanna Helena, Umzug nach Nürnberg 1675 Erscheinen der ersten Veröffentlichung: »Neues Blumenbuch« 1678 Geburt der zweiten Tochter Dorothea Maria 1679 »Der Raupen sonderbare Verwandlung und Blumennahrung« 1681 Tod des Stiefvaters Morell. Merian zieht mit ihren Töchtern wieder nach Frankfurt zu ihrer Mutter. 1685 Anna Maria Sibylla Merian trennt sich endgültig von ihrem Mann und zieht zu ihrem Stiefbruder auf das Schloss Waltha in die Niederlande und lebt dort in einer pietistischen Kommune. 1686 Umzug nach Amsterdam 1699 Angeregt durch die Sammlungen ihrer Bekannten in Orange-

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34 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens rien, reist Anna Maria Sibylla Merian mit ihrer jüngsten Tochter nach Surinam. 1701 Erkrankung an Malaria, Abbruch der Reise und Rückkehr in die Niederlande. 1705 »Metamorphosis Insectorum Surinamensium« erscheint in Amsterdam 1715 Anna Maria Sibylla Merian erleidet einen Schlaganfall und ist seitdem an den Rollstuhl gefesselt. 1717 Anna Maria Sibylla Merian stirbt am 13. Januar in Amsterdam

Quellentext Herrn Johan Georg Volkammer doctor In Nürnbergh Monsieur! Dieweilen ich die Ehre das der herr, mich gewürdiget mit einem grus briflein, also kann ich nicht weniger, dan meine pfligt hiermit legen und in allen Ehren meinen thinst Zu bresendieren, worinen ich dem herrn hier Zu lant dienen kan, Vorerst berichte dem herrn, das nachdem ich wider auß America kommen bin, mein werck gemacht, und noch mache, Alles was ich in getachtem America gesugt, und unterfanden habe, in seiner perfection auf das bergament Zu bringen, welches ich hofte bey gesuntheit in 2 Monat fertig Zu haben, Solches dan bestehet eigentlich, in auf Samlung der würmbr und raupen, welcheich täglich mit Speise unterhalten, und alles observert biss sie Zu ihrer völigen veränderung gekommen seint, darumb ich vortem im lant die würmbr und raupen wie auch ihre Speise art und eygenschaft gemahlt, und beschrieben habe, aber alles das ich nicht vonnöten hate. Zumahlen, habe ich mit gebragt, als die Sommervögelein und kefter und alles was ich in brandenwein kont legen auch alles das ich konnte drucknen, das mahle ich nun darbey, eben auf die manier wie ich vordiessen in Deutschlant gethan habe, aber alles auf bergament in grossfolio, die gewerk So und gethierte lebensgrooss, Seehr Corios, da dan vieler wunderliche rahre Sachen inen Seint, die da noch nie an das ligt seint kommen, und auch so leigt niemand eine solche schwere kostbare reise thun wirt, umb solcher sachen willen, auch ist im selben lande eine Seehr grosse hitze, so das man keine arbeit dhun kann, als mit grosster beschwernuss, und hatte ich das selbe beynahe mit dem

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Ganzheitliche Natursicht: Anna Maria Sibylla Merian | 35

dhot bezahlen müssen, darumb ich auch nicht lenger aldar bleiben konte, auch sich aldar alle menschen verwunderten das ich noch mit dem leben darvon bin kommen, da doch die meisten menschen alda von der hitze sterben, so das diesses werck nicht allein rar ist, sondern wirt es auch bleiben, Ich wohlte es wohl denen herren gelehrten und liebhabern Zum besten und zu ihrer bliesier in den druck geben, auf das sie sehen könten, was Gott der herr in America vor wunderliche gewerk So und gethierte geschaffen hat, aber dieweillen es sehr viel gelt wirt kosten, dasselbe Zu verlegen, so werde ich es nicht anderst können außführen, als das es auf eine weise von einschreibung geschehe, als wie mit dem Ambonischen werck, das es vorerst 60 kupferbllaatten in grossfolio, ja grösser als das werck im Hortus Medicus von Amsterdam ist, müste sein und wan es dan wohl gezogen oder verkaufft würde so das ich meine reißuhnkosten wider dardurch bekommen, so könnte alsdan noch ein dheil gemacht werden von allerhant andere gethierte als schlangen Crocotillen leguanen und dergleichen, wie auch ostindische gethierte, das meiner jüngsten dogter ihr man als ober-Schurugiendarnach Zu gereist ist, welcher auch sein best dhun wirt alles so viel es möglich ist auf Zu sugen. Darumb ersuge den herrn diesses mit anderen verständigen liebhabern Zu überlegen, und mir hierinnen raht zu erdheillen wie ich solches am füglichsten dhun könnte, das es mir ohne schaden, und die herren gelehrten und liebhaber ihr Condendement mögten haben, Dan wanich das gemahlte werck wohlte verkaufen so ist es wegen der grossen rariteit, sein gelt under reiß kosten wert, aber dan kann es nur einer haben, und wie oben gedhacht so kost es viel gelt Zu verlegen, wan aber vieler liebhaber wohlten einschreiben und bey der einschreibung das gelt verlegen, damit ich ohne schaden könnte bleiben, so dhörfte ich es noch wagen. Ich habe auch alle diesse gethierte, so in diessen werck begriffen seint, gedrucknet mit gebracht, und in schlagtellen wohl bewahrt, auf das es von allen kann gesehen werden, Ferner so habe ich gegenwerdig noch in glässer mit liquor, eine Crocotil und vielerhant schlangen und andere gethierte, wie auch 20 runde schagtellen mit allerhant Sommervögelein, kepfer, Colobritger, lanternentrager, oder in Indien genant leyerman von wegen ihres geleuts so sie sich geben, und andere gethierte die Zu verkaufen seint, wan der herr solche begehrt so beliebe er Zu ordinieren, auch habe ich in America leute die solche gethiert fangen, und mir Zu verkaufen übersenden auch hoffe ich auß den Spanischen westindien Zu bekommen, so balde nur der weg geöffnet sein wirt, so das die schiffe

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36 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens dahinein dörften wie balde aber solches gesehen das weiss Gott, wan ich dan wider neuwe solche bekommen so werde es herrn Schrey bekent machen, hoffe dem herren als das noch vermögen zu versehen, negst herzfreuntlichen gruss verbleibe des herrn Zu Ehren dinstgeflissene Maria Sybilla Merian bitte alle bekntr freunde so nach mir fragen freuntlich Zu grüssen Amsdeldam den 8 october 1702 (Universitätsbibliothek Erlangen, Trew-Bibliothek, Brief-Sammlung Ms. 1834, Merian Nr. 1. Abgedruckt in Wettengl 1997, 264-265)

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Christian Thomasius

Christian Thomasius (1655-1738)

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Aufklärung gegen Hexenwahn: Christian Thomasius

Christian Thomasius (1655-1728) wird benannt als einer der Begründer der deutschen Aufklärung. Er ist eine Schlüsselfigur des Umbruchs zwischen Tradition und Moderne, der sich von London bis St. Petersburg über ganz Europa erstreckte. Bekannt ist er heute nur noch wenigen – wenn überhaupt, dann durch die Tatsache, dass er 1687 die erste Vorlesung auf Deutsch gehalten hat. Ansonsten ist, obwohl er vieles veröffentlicht hat, sein Werk weitgehend unbekannt. Die geplante Neuausgabe (Hildesheim 1994ff.) umfasst 24 Bände, die über vielfältige Gebiete streuen und in vielen Fällen zeitbehaftet sind. Er ist nicht durch ein zentrales Werk, das die Geschichte der Philosophie mitbestimmt hätte, hervorgetreten, sondern durch die Vielfalt seiner oft praktischen Schlussfolgerungen, welche vom Eherecht bis zur Hexenverfolgung reichten. Er vertritt einen Gelehrtentyp, der die Konsequenzen des eigenen Denkens mitberücksichtigt. Diese Haltung gilt für sein Wirken als Philosoph, als Jurist und als Publizist. Ernst Bloch hat seine Thomasius-Biographie begonnen: »Es gilt eines aufrechten Mannes zu gedenken. Er war seiner schläfrigen und untertänigen Umgebung recht unbequem. Wäre es nach ihr gegangen, so hätte sie den ärgerlichen Neuerer vernichtet. Stattdessen zeigte sich wieder einmal ein ehrlicher Kopf, der beides ist und Fortschritt spricht, macht sich auf die Dauer unvermeidlich. Eine kräftige und nachdenkliche Gestalt des bürgerlich aufsteigenden Rechttuns soll uns in folgendem wieder begegnen. Dieser Erzieher war und handelte deutsch, im trefflichsten Sinn des Worts. Nichts Steifes ist an ihm, außer daß er vor keinem den Nacken bog« (Bloch 1961, 7).

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40 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Geboren wurde Thomasius am 1.1.1655 in Leipzig als Sohn des Professors Jakob Thomasius, der Lehrer unter anderem von Leibniz war. Ein besonderer Vorzug für Professorenkinder war, dass sie bereits als Säugling immatrikuliert wurden. Sein Studium begann er tatsächlich schon mit 14 Jahren: 1669 als Student der Rechte. Bereits 1672 erwarb er den akademischen Magistergrad und promovierte 1679 zum Doktor der Rechte an der Universität Frankfurt/Oder. Zurückgekehrt nach Leipzig ließ er sich als Konsulent nieder und hielt an der Universität Privatvorlesungen über das Naturrecht des Hugo Grotius. Schnell geriet er in wissenschaftliche und theologische Konflikte mit Benedikt Crapzov und Valentin Alberti als Vertretern der protestantischen Scholastik. Die Kursächsische Universität Leipzig war in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Hochburg dieser Theologie. Sein unvoreingenommenes Eintreten gegen den religiösen Dogmatismus Leipziger Prägung führte zu heftigen Kontroversen und am 10. März 1690 wurde Thomasius mit Vorlesungs- und Schreibverbot belegt. Beigetragen dazu hatte seine vielfältige Aufmüpfigkeit. 1685 las er über »De crimine bigamiae«. Obwohl er die Bigamie als dem positiven Recht widersprechend charakterisierte, hielt er sie nach dem Naturrecht für zulässig. Statt im Talar dozierte er in einem farbigen Modeanzug mit Kavaliersdegen. Heute noch bekannt ist seine Ankündigung am Schwarzen Brett der Universität, in der er am 31. Oktober 1687 eine Vorlesung auf Deutsch ankündigte: »Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?« Hauptthese war, dass die Franzosen ihre Werke großteils auf Französisch herausgäben und auch lateinische, griechische, auch deutsche Autoren in ihre Muttersprache übersetzten. Dadurch werde die Gelehrsamkeit unmittelbar fortgepflanzt und nicht durch das Erlernen einer Fremdsprache gebremst.

Exegese der Scholastik vs. erfahrungsgeleitete Aufklärung Die Muttersprache war Kennzeichen einer Kritik an der scholastischen Universitätstradition, die vor allem in Exegese klassischer Schriften auf Latein beruhte. Gegen diese Tradition setzt Thomasius einen Begriff von Wahrheit, der sich nicht erschöpft in Interpretation von Texten, sondern der das Neue zulässt. In seiner Schrift: »Einleitung zu der

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Aufklärung gegen Hexenwahn: Christian Thomasius | 41

Vernunfft-Lehre, worinnen, durch eine leichte, und allen vernünfftigen Menschen, wasserley Standes oder Geschlechts sie seyen, verständige Manier der Weg gezeiget wird, ohne die Syllogistica das Wahre, Wahrscheinliche und Falsche voneinander zu entscheiden, und neue Wahrheiten zu erfassen« (Halle: Saalfeld 1691) setzt er einen Begriff von Wahrheit, der nicht auf Glauben, sondern auf Vernunft und der »Erkenntnis des wahrhaften Guten« beruhen soll (Quellentext): »Denn die Wahrheit ist nichts anderes als eine Übereinstimmung der menschlichen Gedanken, und die Beschaffenheit der Dinge außer den Gedanken.« (zit. Hinske/Specht 1990, 128). Über die Wahrheit entscheidet die Vernunft, deshalb auch, weil »Harmonie« zwischen den äußeren Dingen und den Gedanken besteht: »Denn die Dinge sind so beschaffen, dass sie von den Menschen begriffen werden können, und der Verstand ist so beschaffen, dass er die äußerlichen Dinge begreifen kann« (ebd. 129). Der Ausgang vom Menschen und die Rolle der Vernunft sind Merkmale des Denkens des Thomasius. Es geht ihm auch darum, Neues zuzulassen, wie es in den Syllogismen des Aristoteles unzugänglich bleibt. Er ironisiert die scholastische Exegese: »Ja ich habe ganze volumina de methodo gelesen, und bin doch noch so klug als zuvor« (ebd. 133).

Teutsche Monats-Gespräche – die erste deutsche Zeitschrift Thomasius Begriff von Wahrheit macht es möglich, sich der Wirklichkeit zu stellen und handelnd einzugreifen. Dies verfolgt er durch einen weiteren Strang von Aktivitäten: Die Herausgabe der frühesten deutschen Zeitschrift »Teutsche Monate« ab 1688. Dabei griff er die bigotte Heuchelei der Rechtsgläubigen, den scholastischen und überalterten Universitätsbetrieb und die orthodoxe Geistlichkeit an. Überwiegend in der Zeitschrift ist, nach den eigenen Worten des Thomasius, die freudige und sinnreiche Schreibart. Freudig infolge des Vernunftglaubens der aufsteigenden bürgerlichen Klasse, sinnreich infolge der genau gezielten, genau dosierten Satire. Ein Blick in die Zeitschrift (vgl. Thomasius 1688; vgl. auch Bloch 1961, 13-17) zeigt, wie dies gelingt. Sie entwickelt vom ersten Heft an ihren kritischen Inhalt als Gespräch zwischen vier Personen auf einer Reise in einem Postwagen. Christoph, ein lebenskundiger Kaufmann, Augustin, ein erfahrener Kavalier, Benedict, ein gründlicher Gelehrter,

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42 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens David, ein vorurteilsvoller, befangener Pedant. Behandelt werden die Predigten des Abraham a Santa Clara, die neueren französischen Romane; der vorurteilsfreie Gelehrte schätzt sie wegen ihrer so weltmännischen wie nationalen Art, der engstirnige Pedant zieht sie herab. Stattdessen rühmt er scholastische Logik, Rhetorik und Metaphysik. Es folgen Probleme, die der Pedant zu behandeln wünscht. Dieser beschränkte Kopf schlägt vor – nur dies gilt ihm als wirkliche akademische Wissenschaft, dass in der Historie untersucht werden soll, »ob David schon Coffée getrunken, weil Abigail ihm unter anderen Präsenten gedörrte Bohnen überbracht«. In der Physik soll man, gemäß der Lehre, dass die Luft und nicht das Wasser das feuchteste Element sei, per deductionem beweisen, es könne Wasser geben, das nicht nass sei. Die Medizin soll, gegen die Entdeckung des Blutkreislaufs, per inductionem diese Lehre widerlegen, weil die Anatomie zeige, dass es keinen Kreislauf gebe. Die Rechenkunst soll eine christliche Mathematik mit geistlichen Beispielen durchdrungen werden und beweisen, dass die Probe beim Addieren, da sie mit dem Kreuz geschieht, viel christlicher und richtiger sei als die per subtractonem. Thomasius nimmt mit seinem Hohn und Spott eine Renaissanceund Humanistentradition auf, gegen abstrakte Spinnerei und wertlose Pedanterie. Noch mehr kämpft er gegen Subalternität, die den Fortschritt zu einem Spinnweb machte und blühende Studien zur Geistesöde. Gegen all das ironisiert das Gespräch. An der Karikatur der Wissenschaft illustriert Thomasius, dass man bei vorurteilsfreien Militärs und bei Frauen mehr erfahren könne als von Stubengelehrten. Zweifellos traf die Karikatur der akademischen Wissenschaft, das bewies die Reaktion, typische Auswüchse der protestantischen Neuscholastik, also das Epigonentum seit Melanchthon, das sich mit besonderer Unfruchtbarkeit und Bigotterie gerade in Leipzig etabliert hatte. Am Ende kommt das Gespräch der Reisenden auf politische Bücher. Sie werden mit Schwejkscher Manier verworfen, ironisiert als unnütz, und sogar, weil der Privatmann doch nicht so klug sei wie der Fürst, »der alle geheimen Abmachungen kenne«, als gefährlich. Als aber Benedict, der Gelehrte, gerade eingreifen will, fällt der Wagen um, und ihr Diskurs nimmt ein beschneites Ende. Dieses Ende markiert zugleich den Schluss des ersten Heftes der Zeitschrift. Gemeinsam ist den Folgen der nächsten Monate der Zweck, »die Lehre von der wahren Tugend und von rechtschaffener Gelehrtheit dem von der Pedanterie und Gleisnerei guten Teils verblendeten menschlichen Geschlechte vorzutragen«. Unter Rezensionen einge-

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streut sticht noch der Dialog über die Ungerechtigkeit der Steuer hervor. Indem die Obrigkeit den Armen, »denen sie selbst eine große Schuld abzutragen hat«, auch noch Steuern abzwingt, leben der Adel und die Kirche »taxfrei in Christo«. Christoph, der lebenskundige Kaufmann, schlägt – ebenfalls ironisierend – stattdessen vor, jedes Schäferstündchen zu besteuern; gerade die Kirchenmänner könnten dann einen Beitrag liefern – zugleich einen gottgefälligen; denn alle Steuern dienten einzig dazu, dem Kurfürst von Sachsen, wie man höre, eine reiche Einnahme zum Türkenkrieg zu verschaffen, also den Kampf gegen Haremsbesitzer und Leugner der Lehre, dass kein Reicher ins Himmelreich komme, zu unterstützen. In dieser Laune geht das Gespräch fort, gibt dauernd contra, im Dienst der deutschen Aufklärung gegen Bigotterie und Scholastik. Am 10. März 1690 wurde – nach diesen Angriffen auf Kirche und Staat nicht überraschend – dem Thomasius vom Sächsischen Kurfürsten mit Vorlesungs- und Schreibverbot belegt, was nicht nur seine intellektuelle Freiheit bedrohte, sondern auch seine wirtschaftliche Existenz gefährdete. Vom Dresdener Hof erging der Befehl an die Universität Leipzig, Thomasius vorzuladen, ihm das »Ungnädigste Missfallen Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht zu eröffnen und ihm unter Androhung einer Strafe von 200 Reichstalern zu befehlen »sich allen Profitierens, Lesens und Disputierens, es geschehe publice oder privatim oder was Art und Weise es wolle« ebenso zu enthalten, »wie aller Edirung von Schriften« (zit. Schmidt 1995, 88). Allerdings hatte die Kritik an Kursächsischen Zuständen ihm gleichzeitig die Unterstützung Kurbrandenburgischer Politik gebracht. Thomasius wechselte nach Halle zunächst an die Ritterakademie und war dann eine der tragenden Personen an der vier Jahre später (1694) gegründeten neuen Universität.

Aufklärung gegen Hexenwahn und Folter Thomasius hat ein großes Werk über Naturrecht geschrieben. Wirkmächtig wurde er aber bis heute durch zwei kleine Schriftchen, die als Doktorarbeiten der Universität veröffentlicht wurden und die den Namen der Doktoranden tragen. Es war aber klar, wer der Autor bzw. der dahinterstehende Gedankengeber war. Es galt als üblich, dass Dissertationen von den Professoren selbst verfasst wurden und die Doktoranden nur die Aufgabe hatten, diese in der Disputation zu verteidigen. Das erste Büchlein erschien 1711: »De crimine magiae« (Über das

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44 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Verbrechen der Hexerei) als Streitschrift gegen die Hexenprozesse. Formal war der Text als Dissertation bei Thomasius gekennzeichnet, tatsächlich aber von ihm vorgegeben und wohl auch selbst geschrieben. Das, nachdem er lange vorher schon, 1687, also bereits in Leipzig, eine Disputation veröffentlicht hatte: Ob Ketzerey ein strafwürdig Verbrechen sei. Darin hatte er der Obrigkeit unverhohlen das Recht abgesprochen, die Ketzer zu bestrafen, sich aber noch nicht gegen den Teufelswahn gewandt. Das geschah erst, nachdem Thomasius als rangerster Professor der Hallenser Juristenfakultät Einsicht in Hexenprozessakten erlangt hatte und entscheidende Gutachten darüber verfassen konnte: Hunderttausende waren zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden, meistens Frauen und die meisten in deutschen Ländern. Ausgerechnet im reichsunmittelbaren Frauenstift Quedlinburg ließ man 1589 an einem Tag hundertdreiunddreißig Hexen verbrennen; aus christlicher Barmherzigkeit hatte man den Zauberinnen vom nahen Blocksberg Pulversäcke an die Brust gebunden. Thomasius kritisiert die Umkehrung juristischer Argumentation: bei normalen Gerichtsfällen bestimmte die Tat den Richterspruch, in Hexenprozessen bestimmte der Richter die Tat. Da beim Teufel alles möglich ist, besteht, was Buhlschaft mit dem Bösen, die Versammlungen der Hexenzunft auf dem Blocksberg anging, kein schützendes Alibi. Dem Teufel rückt Thomasius satirisch auf den Leib, er macht ihn durch seine unverhältnismäßig große Jugend lächerlich. Denn während der Glaube an Einwirkungen böser Geister alt sei, habe der christliche Teufel, auf den der Greuelbund vom Blocksberg sich bezieht, sein Alter kaum auf fünfhundert Jahre gebracht. Das Alte Testament kennt zwar eine Hexe von Endor, aber ohne Teufel, das Neue erwähnt zwar einen Satanas, weiß aber nicht das mindeste von Meister Urian und seinem abgründigen Hofstaat. Das römische Reich kannte gleichfalls keinen Hexenteufel, ebenso wenig Kaiser Karl mit seinen Paladinen, ja die alten Päpste selber schweigen, und von keiner Walpurgisnacht wird ein Dämonisches berichtet. Das änderte sich erst mit der Anti-Satansbulle Gregors IX. im 13. Jahrhundert; sie erst steht bei Meister Urian Gevatter. Derart also machte Thomasius aus dem theologischen Satan-Phänomen ein historisches: Der Teufel als Hauptrequisit der Hexenprozesse wird zu einer kurzen, nur fünfhundertjährigen Einschiebung, zu einer Fragwürdigkeit in den Flegeljahren. Desto heftiger herrschte der Teufelswahn seit Gregorbulle und Hexenhammer. Die mit der Obrigkeit eng verbundene Kirche, die protestantische wie die

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katholische, brachte mit dem gepredigten Wahnsinn statt des Paradieses wenigstens die ihr nützliche schreckende Hölle auf Erden. Das lieferte das argumentative Arsenal zur Bekämpfung des ärgsten Aberglaubens, des Hexenwahns. Die Hexenprozesse ließen in Preußen, wie auch in Sachsen durch den Einfluss des Thomasius nach. Aufgrund von Thomasius Schrift machte Friedrich Wilhelm I. 1714, ein Jahr nach seinem Regierungsantritt, ihnen ein Ende und verbot die Prozesse. Thomasius aber hat nicht nur den Hexenrauch, sondern den Aberglauben jeder Art bekämpft: Geisterbanner, Kometenangst, Wunderzeichen, Amulette und die Astrologie. Er gibt bereits 1692, in seiner Einleitung zur Sitten-Lehre am Schluss des dritten Hauptstück (S. 151ff.) ein Fazit: »Und ist dannenhero ein Abergläubischer und Abgöttischer mehr als ein Atheist, […] da doch ein Atheist nicht allein in seinem äußerlichen Tun und Wandel nicht unvernünftig lebt, sondern auch zum öfteren äußerlich von Gott subtil räsoniert […].Darfst dich nicht daran stoßen, dass man so sehr wider die Atheisten, gar selten aber über den abgöttischen und unvernünftigen Aberglauben streite und schreit. Fast die ganze Welt steckt in diesem letztern bis über die Ohren und bemüht sich dannenhero denselben als eine wahrhaftige Gottesfurcht den armen Unwissenden vorzumalen […] Und gewiß, wenn man sich in dessen Historien ein wenig umsieht, so ist dieses ein uralter Streich, dass man rechtschafene Philosophos, und beinahe fast alle, für Atheisten ausgeschrieen. Dannenhero pflegen vernünftige Menschen diese Anmerkung zu machen, dass gemeiniglich derjenige, der von einer dergleichen unvernünftigen Bestie auch zu unseren Zeiten für einen Atheisten ausgerufen wird, ein rechtschaffener und tugendhafter Mann zu sein pflege« (Thomasius 1995, 151).

Das zweite Schriftchen: »De tortura ex foris Christianorum proscribenda« (Über die Folter, die aus den Gerichten der Christen verbannt werden muss) traf noch wesentlich tiefer. Der Dissertationstext von 38 Seiten rührte an die üblichen Verfahren antiken, römischen und christlichen Rechts. Überall war Folter als Vorrecht der Obrigkeit üblich: es wurden Gelenke ausgerenkt, Glieder zerquetscht, Körper versengt. Alles, was einer sadistischen Fantasie einfiel, wurde schaurige Wirklichkeit. Aufgrund der Dissertation aus der wichtigsten Universität Preußens erließ Friedrich Wilhelm I. 1714 eine Kabinettsorder über die Folter. Er war allerdings vorsichtig und legte lediglich fest, dass jeder Fall vorgelegt und die Folter von ihm genehmigt werden müsse. Die Staats-

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46 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens räson behielt Priorität. Auch sein Nachfolger Friedrich II. untersagte 1740 die Folter – allerdings mit drei Ausnahmen: Majestätsverbrechen, Landesverrat und Massenmord. 1754 konkretisierte Friedrich II. seine Verfügung aufgrund eines Fehlurteils, bei dem ein durch Folter erzwungenes Mordgeständnis sich eindeutig als falsch erwiesen hatte: Das Folterverbot sollte aber geheim bleiben. Die Gerichte konnten die Folter androhen, der Scharfrichter durfte die Instrumente anlegen. Es durfte jedoch nicht gefoltert werden. Immerhin war die Rechtmäßigkeit der Folter als Körperstrafe ohne ausreichenden Beweis der Schuld danach grundsätzlich in Frage gestellt. Sie blieb aber weltweit immer wieder neu bedrohend. Dagegen steht die Idee der Menschenrechte und im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland liefert die Grundlage der Artikel I: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Die von Thomasius verfolgte Denkrichtung basierte auf der Lehre des Naturrechts, das die Menschen zur Glückseligkeit führen sollte. Unmittelbar praktische Konsequenzen auf rechtlichem Gebiet hatte die Lehre des Thomasius auf die Abschaffung der Folter und die Bekämpfung des Hexenwahns. Er stellte den Glauben an den Teufel infrage und entzog den Hexenverfolgungen ihre Legitimation. Ihm steht das Verdienst zu, mit »De criminae magicae« dem Hexenwahn und mit »De tortura« der Folter in Deutschland ein Ende bereitet zu haben. Insofern ist Christian Thomasius eine herausragende Figur des Kampfes der Aufklärung gegen Aberglauben und Unwissenheit. Gleichzeitig dient seine Betonung der Muttersprache der Verbreitung von Wissenschaft.

Literatur Schriften De crimine bigamiae. Leipzig 1685. Discours welcher Gestalt man denen Franzosen nachahmen solle? (1687). In: Kleine teutsche Schriften. Halle 1701 (ND Olms, Hildesheim 1994). 1-70 Discurs von den Mängeln derer heutigen Academien (1688), in: Kleine teutsche Schriften. Halle 1701 (ND Olms, Hildesheim 1994) 195232 Institutiones jurisprudentiae diviane. Frankfurt a.M./Leipzig 1688. Zit. nach der von Thomasius durchges. und autorisierten Übers. Von

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J.G. Zeidler, Drey Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit. Halle 1709 Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen Höchstnöthigen Wissenschaft (1691). In: Kleine teutsche Schriften. Halle 1701 (ND Olms, Hildesheim 1994). 449-490 Einleitungen zu der Vernunfft-Lehre. Halle 1691 (ND Olms, Hildesheim 1998) Ausübung der Vernunfft-Lehre. Halle 1691 (ND Olms, Hildesheim 1998) Einleitung zur Sittenlehre. Halle 1692 (ND Olms, Hildesheim 1995) An haeresis sit crimen (1697). Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei. In: Christian Thomasens Auserlesene und in Deutsch noch nie erschienene Schriften. Halle 1705 (ND Olms, Hildesheim 1994). 210-307 De jure principis circa haereticos (1697); Abhandlung vom Recht evangelischer Fürsten gegen die Ketzer. In: Christian Thomasens Auserlesene und in Deutsch noch nie erschienene Schriften. Halle 1705 (ND Olms, Hildesheim 1994) 308-376 Über die Hexenprozesse (1711) Böhlau. Weimar 1967 Über die Folter. Böhlau. Weimar 1960

Darstellungen Bloch, Ernst: Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1961 Christoph Bühler: Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius (1655-1728). Roderer. Regensburg, 1991. Hinske, N./Specht,R. (Hg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Reclam. Stuttgart 1990 Schmidt, Werner: Ein vergessener Rebell. Diederichs. München 1996 Schneiders, Werner (Hg.): Christian Thomasius (1655-1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung. Meiner. Hamburg 1989 Ders. Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Olms. Hildesheim 1971 Ders. Vernunft und Freiheit. Christian Thomasius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana XI, 1979, 3-21 Schröder, Peter: Christian Thomasius zur Einführung. Junius. Hamburg 1999

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48 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Vollhard (Hg), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Niemeyer. Tübingen 1997

Zeittafel 1655 1. Januar: Thomasius in Leipzig geboren. 1663 7. April: Schwester Johanna geboren. 20. April: Tod der Mutter. 1669 Thomasius an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig immatrikuliert. 20. November: Baccalaurus philosophiae. 1675 18. Juni: Schlacht bei Fehrbellin. Thomasius in Frankfurt/Oder immatrikuliert. 1677 22. Juni: Baccalaureus iuris. 1678 18. Oktober: Licentiatus iuris. 1679 18. Oktober: Promotion zum Doctor iuris bei Samuel Stryk; anschließend Reise in die Niederlande. 1680 17. Februar: Eheschließung mit Auguste Christine Heyland. 14. Juni: Halle fällt an Kurbrandenburg und huldigt dem »Großen Kurfürsten«. 28. November: Sohn Chrisitian Polycarp (I) geboren. 1681 21. Mai: Sohn Christian Polycarp (I) gestorben. 9. Dezember: Sohn Christian Polycarp (II) geboren (gestorben 1751) 1684 9. September: Tod des Vaters in Leipzig. 24. Dezember: Tochter Sophie Elisabeth geboren. 1685 12. November: De crimine bigamiae erschienen. 1687 31. Oktober: Erste Vorlesung in deutscher Sprache: Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? 1688 ab Januar: Monats-Gespräche, die erste deutschsprachige Monatszeitschrift mit populärwissenschaftlichem Anspruch. 9. Mai: Tod des »Großen Kurfürsten«; Thronbesteigung Friedrichs III. Dezember: Rechtmäßige Erörterung der Ehe- und Gewissensfrage, Ob zwey fürstliche Personen im Römischen Reich, deren eine der Lutherischen, die andere der Reformierten Religion zugethan ist, einander mit gutem Gewissen heyrathen können? 1689 Stellungnahme zu dynastischen Ehefragen. Missfallen des Kursächsischen Hofes.

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1690 10. März: Lehr- und Publikationsverbot in Kursachsen. 18. März: Thomasius verlässt Leipzig. 4. April: Kurfürstlich brandenburgischer Rat. 27. April: Erstes Hallesches Vorlesungsprogramm Sächsischer Haftbefehl 8. Mai: Niederlassung in Halle. 15. Oktober: Tochter Christiane geboren (gestorben 1719). 1691 27. August: Ernennung zum Professor in Halle. 18. Oktober: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre und Ausübung Der Vernunfft-Lehre erschienen 1692 16. April: Einleitung der Sittenlehre 1693 19. Oktober: Kaiserliches Privileg zur Gründung der Universität Halle. 1694 11. Juli: Eröffnung der Universität durch Friedrich III. September: Erste Vorlage von Hexen-Akten an Thomasius. Dissertation ad Petri Poireti libros de Eruditione solida, superficiaria et falsa. 14. Oktober: Beschwerde der Theologischen Fakultät gegen Thomasius. 1698 27. März: August der Starke (Kurfürst von Sachsen) hebt einen Beschluss des Oberkonsistoriums gegen Thomasius auf. September: A.H. Francke erhält einen Lehrstuhl in der Theologischen Fakultät und beginnt, die Gründung des Waisenhauses vorzubereiten. 1701 29. Dezember: Zweite Beschwerde der Theologischen Fakultät gegen Thomasius. 1702 Dritte Beschwerde der Theologischen Fakultät gegen Thomasius. 1705 26. Februar: Verhandlungen über eine Rückberufung nach Leipzig. 22. Juni: De Tortura ex foris Christianorum proscribenda Fundamenta Juris Naturae et gentium. Kurzer Entwurff der politischen Klugheit. 1708 Prorektor in Halle. Erneute Verhandlungen über eine Rückberufung nach Leipzig. 27. August: Geheimer Justizrat. 1710 12. August: Direktor der Universität, Professor primus und Ordinarius der Juristischen Fakultät. Widerspruch der Theologischen Fakultät gegen die Ernennung von Thomasius.

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50 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 1713

8. April: Vierte Beschwerde der Theologischen Fakultät gegen Thomasius. 1714 Anklage beim Reichshofrat Deduction, dass der Reichs Hof-Rath mit nichten befugt sey, der Chur- und Fürsten, auch anderer Stände des heiligen Römischen Reiches Unterthanen in Erster Instanz für sich zu zitieren. 13. Dezember: Edikt Friedrich Wilhelm I., König von Preußen, das bei Hexenprozessen und Anwendung der Folter die Vorlage der Akten an den König befiehlt. 1721 8. Mai: Rector perpetuus (Universitätsdirektor auf Lebenszeit). 1728 23. September: Tod des Thomasius. 30. September: Beisetzung in Halle.

Quellentext Thomasius: Die Wahrheit und die Grenzen der menschlichen Vernunft Denn die Wahrheit ist nichts anders als eine Übereinstimmung der menschlichen Gedanken, und die Beschaffenheit der Dinge außer denen Gedanken. Hier musst du aber nicht fragen, ob der Verstand mit denen Dingen, oder die Dinge mit dem Verstande übereinkommen müssten, sondern diese Harmonie ist so beschaffen, das keines des andern sonderliche Richtschnur ist, sondern die Harmonie von beiden zugleich präsupponieret wird, außer dass die äußerlichen Dinge gleichsam den Anfang zu derselben machen. Denn die Dinge sind so beschaffen, dass sie von dem Menschen begriffen werden können, und der Verstand ist so beschaffen, dass er die äußerlichen Dinge begreifen kann. Die äußerlichen Dinge rühren die Empfindlichkeit des menschlichen Verstandes. Dieser aber betrachtet diese Berührungen, teilet sie ab, und setzt sie zusammen, sondert sie voneinander, und hält sie gegeneinander. Wenn aber zwischen denen äußerlichen Dingen und denen Gedanken keine Harmonie ist, so entstehet daraus das Falsche oder das nicht wahr ist. Das Wahre aber ist entweder unstreitig wahr, oder wahrscheinlich. Unstreitig wahr ist dasjenige, von dessen Übereinstimmung ein je-

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der erwachsener Mensch, mit dem wir umgehen, nebst uns innerlich vergewissert ist, wenn wir ihm nur unsere Gedanken durch deutliche Worte haben zu erkennen gegeben. Wahrscheinlich ist, wenn dieser innerliche Beifall mit einigem Zweifel, dass die Sache sich anders verhalten könnte, vergesellschaftet ist. Diese unterschiedene Arten des Wahren rühren nicht sowohl von denen äußerlichen Dingen als von den unterschiedenen Beschaffenheit der menschlichen Vernunft her. Denn die äußerlichen Dinge sind in ihrem Wesen allezeit einerlei; aber der Verstand des Menschen ist wiewohl durch ihre eigene Schuld nicht gleich fähig, die Wahrheiten von denen Dingen zu fassen. Ebenmäßig gibt es auch Dinge, die man weder für wahr noch falsch ausgeben kann, entweder weil sie gar unterschiedener Natur mit der Kapazität unsers Verstandes sein, deshalben, weil sie wegen ihrer gar zu großen Kleinigkeit keine sensible Impression drein machen können, als die particulae minutis, simae materiae oder weil sie wegen der übermäßigen Größe in unsern kleinen Verstand nicht ganz eingedruckt werden können, als übernatürliche geistliche und göttliche Dinge. Solchergestalt aber heißt dieses primum principium so: Was mit des Menschen Vernunft zuwider ist, das ist falsch. Also nun begreift dieses primum principium zwei propositiones in sich, oder es wird vielmehr in dieselbige resolvieret. Die erste heißt: Was der menschliche Verstand durch die Sinne erkennet, das ist wahr, und was den Sinnen zuwider ist, das ist falsch. So ist demnach die andere Haupt-Proposition, die in dem primo principio steckt, folgende. Was mit denen ideis, die der menschliche Verstand von denen in die Sinne imprimierten Dingen macht, übereinkömmt, das ist wahr, und was ihnen zuwider ist, ist falsch. Denn die Sinnen sind die leidenden Gedanken, die ideae aber die tätigen Gedanken des Verstandes. Jene haben unmittelbar mit denen individuis zu tun, diese mit denen universalius. Jene sind der Anfang aller menschlichen Erkenntnüs, diese aber folgen auf jene. Drum ist zwischen dem wahren, falschen, und den unerkannten Dingen ein solcher Unterscheid als zwischen dem Notwendigen, Unmöglichen, und Möglichen. […] Daß solche unerkannte Dinge würklich sind oder dass es einedergleichen Art giebet, weiß der menschliche Verstand gewiß. Denn er

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52 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens weiß ja, dass ein Gott ist, nämlich eine causa prima, von welcher alle Dinge, die er vermittelst der Sinnen gewiß begreift, herkommen, und welche dieselbe stets während erhält. Aber er erkennet auch zugleich, dass dieser concept von Gott notwendig sehr konfus und dunkel sein müsse, und mehr auf existentiam Dei als auf dessen Wesen ziele. Ja wenn er nur aus diesen konfusen conceptu existentiae den Unterschied zwischen seinen Verstand und dieser causa prima genau erwäget, so erkennet er zugleich, dass es unmöglich sei, das Wesen Gottes mit dem Verstande zu begreifen, und dass er zwar Unterschiedenes sagen kann, was Gott nicht sei, aber niemals weiter, was Gott sei. Der Mensch erkennet wohl, und weiß gewiss, dass es dem Wesen nach eine Substanz sei, alleine er hat keine klare und deutliche Erkenntnüs von keiner Substanz. Denn er erkennet das Wesen aller substantien aus derselben attributis, […] und also erkennet er die Substanz nicht durch sich selbst. Die Erkenntnüs der Substanzen kann nicht klar sein, denn das wesen jeder Substanz ist innerlich, […] und kann also nicht ad evidentiam sensuum gebracht werden, das Äußerliche aber gehöret ad accidentia. Sie kann ferner nicht deutlich sein, denn ich konzipiere mir jede Substanz als ein unum oder totum indivisum, und ein jedes Ganzes als eine Substanz. Aber eine deutliche Erkenntnüs hat mit denen Teilen des Ganzen zu tun, und von denen Teilen hat der Mensch keine andere Erkenntnüs als von denen accidentibus. Und je weiter dannenhero die Frage von dem Ursprung der Dinge getrieben wird, je konfuser und dunkeler wird auch die Erkenntnüs davon.

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Thomasius: Die Methode zur Entdeckung neuer Wahrheiten Dannenhero ist es nicht genung, dass wir im vorhergehenden Kapitel gewiesen haben, in was für Dingen ein Mensch unstreitige Wahrheiten oder Wahrscheinlichkeiten finden könne, wenn wir nicht auch weisen, wie er sie finden solle. […] nachdem du in deinem Verstand die prima principia einmal feste gesetzt, so laß dieselbige nur würken, und habe Geduld darbei, so wirst du neue Wahrheiten genung haben. Denn sagst du: Wenn die Kunst, neue Wahrheiten zu erfinden, so läppisch und so leichte wäre, warum hätten sich dann die Gelehrten bisher so sehr bemühet und bemüheten sich noch, diese Kunst der gelehrten Welt beizubringen? Ich habe nun zwei Jahr nichts getan, als mich in der doctrinâ syllogistica geübet, ich habe nach diesen ein ganzes Jahr mit sauren Schweiß in der Doktrin de inventione medii termini, die die Spötter pontem asinorum nennen, studiert, ja ich habe selbsten profundissimè meditiert, wie man auf eine galante und polite Art etwas de inventione medii schreiben möchte, und meine Mühe ist doch vergebens gewesen, und ich kann mich nicht rühmen, dass ich nur einige unerkannte Wahrheiten damit hätte finden können. Ja ich habe ganze volumina de methodo gelesen, und bin doch noch so klug als zuvor. Und wiederum kann ein syllogismus in forma ganz nichts taugen, und doch alle drei propositiones desselbigen wahr sein. Mache mir doch einen syllogismum, wenn du nicht drei terminos oder eine proposition und derselben ration hast. Also siehest du, dass du die Wahrheit eher haben musst, eher du einen syllogismum machen kannst, und dass der syllogismus kein Mittel zu Erfindung der Wahrheit, sondern nur eine Mode sei, die erfundene Wahrheit in Ordnung zu bringen oder zu zieren. Und zwar solche Mode, die mehr in der eitelen Torheit der Menschen, als in der Natur ihr Fundament hat. Derowegen gemahnest du mich mit deiner syllogistica nicht anders als die Apotheker mit der zierlichen Beschreibung ihrer Büchsen und künstlichen Beschneidung derer Zettelgen, auf welche der Titel der ausgeteilten Arzneien geschrieben ist […] Die Erfindung neuer Wahrheiten ist die Erfindung neuer conclusionum aus alten und schon bekannten mediis terminis, und du willst die medios terminos zu denen conclusionibus erfinden. Wenn du die Konklusion schon hast, so musst du auch notwendig

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54 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens den medium terminum haben, hast du sie aber nicht, so suchst du den medium terminum vergebens. […] Hast du nun deine prima principia wohl eingerichtet, so wirst du die conclusiones gar leicht dran hängen können, und keine Lehre de inventione medii brauchen, hast du aber dieselbe in deinem Kopfe nicht aufgeräumet, so wird alle dein Meditieren de inventione medii so eitel sein, als wenn du einem pontem asinorum bauen, und denselben an den einem extremo mit Steckenadeln feste machen wolltest, denn es ist kein Zweifel, es würden deine armen Esel ersaufen. Es ist eine Regel de methodo. Ordne eine Erweisung oder Erfindung der Wahrheit, wie du willst, mache es nur nicht ungeschickt und lächerlich. Das ist, fange allezeit von Leichtesten und Bekanntesten an, nicht aber von den Schweresten oder Dunkelsten. (Bruchstücke aus: Thomasius, Christian: Einleitung in die Vernunft-Lehre, worinnen durch eine leichte und allen vernünfftigen Menschen weserley Standes und Geschlechts sie seyen, verständliche Manier der Weg gezeichnet wird, ohne die Syllogistica das wahre, wahrscheinliche und falsche von einander zu unterscheiden, und neue Wahrheiten zu erfinden. Halle 1691 [ND Olms. Hildesheim 1968 139-268])

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Dorothea Erxleben

Dorothea Erxleben (1715-1762)

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Frauenstudium und ganzheitliche Medizin: Dorothea Christiane Erxleben (geb. Leporien)

Dorothea Christiane Erxleben (1715-1762) war die Tochter des Arztes Christian Polikamp Leporien und der Pastorentochter Anna Sophia Leporien in Quedlinburg. Sie wurde von ihrem Vater in der Heilkunde unterwiesen und erhielt von ihm die gleiche Ausbildung wie ihr Bruder. Der Vater sorgte dafür, dass sie Latein lernte und medizinische Kenntnisse vermittelte er ihr, indem er sie zu Krankenbesuchen mitnahm. In diesem Kontext entwickelte Dorothea Leporin ihr erstaunliches Selbstbewußtsein. Sie kurierte z.B. die Dechantin des Frauenstifts, die Prinzessin von Holstein-Ploen, von den Blattern und verhängte umsichtig eine Seuchenquarantäne. Aus ihrer Sprache hört man Überzeugtheit in die eigene Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft: »Ich beschloß daher ernstlich, mich durch nichts vom Studieren abhalten zu lassen und zu versuchen, wie weit ich es in der Arzneygelehrtheit bringen könnte. Zwar wusste ich wohl, dass es an solchen nicht fehle, die das Studieren des Frauenzimmers nicht nur tadeln, sondern auch auf eine recht niederträchtige und Gelehrten schlecht anstehende Weise durchziehen; aber sie verdienen nicht, dass man sie achte. Ihr vergebliches Schimpfen macht diese Widersprecher bey Vernüftigen verächtlich. Und wenn es darauf ankomt, zu beurteilen, was wohl oder über stehe, fragt man nichts nach ihrem Ausspruch. Ihr Zorn ist viel zu ohnmächtig, und es ist ein Glück, von ihnen beneidet zu werden. Mögen sie doch, wenn sie es nicht ändern können, auch mich zum Gegenstand ihres Neides erwählen, und jederman zeigen, dass sie die Gabe besitzen, mit vielen schlecht aneinanderhangenden Worten, wenig zu sagen; ihr Gewäsche

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58 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens wird mich niemals verleiten, mir mein Studium gereuen zu lassen, oder ihnen zu antworten, und dadurch die edle Zeit zu verderben, mich selbst aber in Gefahr versetzen, ihnen gleich zu werden.« (Lebenslauf. In: Erxleben 1754, 125/ 126)

Nicht zufällig war Quedlinburg Schauplatz der Ereignisse: Es gehörte zum Territorium des ehemaligen Kaiserlichen Freiweltlichen Reichsunmittelbaren Frauenstifts, dessen Äbtissin ursprünglich zum Reichfürstenstand zählte. 1697 ging die Schutzherrschaft an Preußen und – als er 1740 Nachfolger seines Vaters wurde – an Friedrich II. Der über Jahrhunderte schwelende Streit zwischen den Äbtissinnen und den Stiftshauptleuten fand 1742 ein vorläufiges Ende in einem Präliminarienvertrag zwischen König und Stift. In dieser Konstellation einer besondern Rolle der Frauen und dem König, der sich gerne als aufgeklärt feiern lies, hatte Dorothea Leporin eine Chance für ihren eigenständigen Weg. Am 14. August 1742 heiratete sie den Stadtdiakon Erxleben, mit dem sie vier Kinder hatte, außerdem fünf Kinder aus Erxlebens erster Ehe.

Begrenzungen der Aufklärung und Frauenstudium Als sie beginnen wollte, als Ärztin in ihrer Heimatstadt Quedlinburg zu arbeiten, stieß sie notwendig auf traditionelle Gesellschaftsstrukturen und auch die Widersprüche der Aufklärung, welche in einer Ungleichbehandlung von Männern und Frauen resultierten. Im Kern hatte die bürgerliche Aufklärung den Bürger als Mann im Blickfeld. Inwieweit Frauen – oder gar das Volk – in Aufklärung einbezogen werden könne, unterlag erheblicher Einschränkung. So galt für »das schöne Geschlecht«, auch wenn man ihm Verstand zubilligte, eine Differenz: Tiefes Nachsinnen sei schwer, und schicke sich nicht für Frauen, die vielmehr ungezwungene Reize und eine schöne Natur zeigen sollen. Mühsames Grübeln vertilge die Vorzüge, die am weiblichen Geschlecht eigentümlich sind, und es könne zwar zum Gegenstand der Bewunderung werden, aber es schwäche die Reize, wodurch sie große Gewalt über das andere Geschlecht ausüben. So urteilte sogar Kant und noch schärfer, zugleich aber auch Ausdruck eigener Unsicherheiten, formulierte Fichte, dass der Gedanke, ein Frauenzimmer könne eigentlich gelehrt werden wollen, wohl keinem vernünftigen Manne einfallen kann. Dem gegenüber setzte Dorothea Christiane Leporin die Forderung nach Gleichheit; sie gipfelt in dem aufklärerischen Ausruf:

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»Ach! Hasset doch die Macht der blinden Voruteile« (Leporin 1742, Vorrede § 100). »darum ist meine Schuldigkeit ohne weiteren Anstand zu untersuchen: ob das Frauenzimmer zu studieren auch Gelegenheit hat. Die Wahrheit zu sagen, wenn wir nicht auf einzelne Personen, sondern auf viele zugleich unsere Gedanken richten, wenn wir unter diesen vielen solche finden, den das väterliche Haus weder Unterricht noch Bücher, anders, als durch eigene dazu gerichtete Kosten, darreichen kann, und wenn es endlich überdencket, wie viele Vorsicht dabei walten müsse, wenn das weibliche Geschlecht fremden Praecetoribus soll anvertrauet werden, in Besonderheit aber wie bedecklich es seyn würde, Frauens-Personen in die Fremde mitten unter die Herren Studiosos zu senden, so sollte man fast auf den Gedancken geraten: Es werde selten ein Exempel vorkommen, da es nicht dem Frauenzimmer an der zum Studieren erforderten Gelegenheit fehle; und ich leugne nicht, daß dies die erheblichste Schwierigkeit ist, von der ich glaube, daß dadurch eine große Anzahl vom Studieren abgehalten wird« (Leporien 1742, 73).

In ihrer großen, weit verbreiteten Schrift: »Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten« (1742) vertrat sie den Anspruch der Frauen auf Gleichheit. Dies ist ihr wesentlicher Beitrag zur Frage der Stellung der Frauen in Wissenschaft und Aufklärung: »Die Vorurtheile sind die vornehmsten unter denen hindernden Ursachen« (ebd. 11). »Man hebt hiernach die Schuld, warum das weibliche Geschlecht nicht studieren könne, erstens auf die Vielheit ihrer Geschäfte, zweitens auf den Ehestand. Was das erste betrifft, so ist nicht zu leugnen dass ein Frauenzimmer, welches selbst eine Haushaltung, noch zumal die etwas importiert zu besorgen hat, mehr von den Studis abgehalten wird als in der Jugend aber dennoch sind die Geschäfte der Haushaltung nicht so schwer, dass derjenige der sie leisten soll, gar keine Zeit übrig behielte, die er auf […]. verlegen könne, die Geschäfte, welche gelehrten Männern obligen, bedeuten gewiss mehr als die Geschäfte der Haushaltungen: gleichwohl sind diese vermögend derselben abzuwarten ohne dass sie denen Studis gute Nacht sagen müsste; warum sollte denn dem weiblichen Geschlecht nicht möglich sein, bei den Geschäften der Haushaltungen auch um die Studia sich zu kümmern?« (Ebd.)

Leporien vertritt demnach eindeutig eine Vereinbarkeit von Haushalt und Beruf:

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60 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens »Sind aber die Umstände dieses oder jenes Frauenzimmers so geschaffen, dass sie mehr in Studis leisten, und auch anderen dadurch dienen kann, so hat man nicht Ursach solche zu behindern, wenn sie auch als denn nicht viel häusliche Geschäfte leisten können« (ebd.).

Solche Schwierigkeiten hat Dorothea Christiane Leporien selbst erfahren, als sie 1742 den verwitweten Diakon Johann Christian Erxleben heiratete. Sie erzog die fünf Kinder ihres Mannes und vier aus der gemeinsamen Ehe. So konnte sie das vom König von Preußen zugestandene Privileg, an der Fakultät in Halle zu studieren, wegen großer Arbeitsbelastung nicht umsetzen. Bereits 1740 hatte sie sich an den preußischen König Friedrich II. gewandt mit der Bitte, sie zum Medizinstudium an der Universität Halle zuzulassen. Die Schrift »Gründliche Untersuchung« ist gleichzeitig eine umfassende Begründung für die Studienabsicht. Ihre Dissertation erstellte sie während der nächsten Jahre. Zum Rigorosum meldete sie sich aber erst, als sie durch den Geschäftsneid der männlichen Mediziner dazu gezwungen war: Im Februar 1753 war sie von den drei niedergelassenen Ärzten Quedlinburgs der Kurpfuscherei beschuldigt worden. Sie hat diesen Vorwurf zurückgewiesen und dargelegt, sie werde sich nach ihrer anstehenden Entbindung der Promotionsprüfung unterziehen. 1754 meldete sich Dorothea Christine Erxleben bei der Universität Halle, um ihre Dissertation »Akademische Abhandlung von der gar zu geschwinden und angenehmen aber deswegen öfters unsicheren Heilung der Krankheiten« (1754) zu verteidigen. Auf der Grundlage der erfolgreichen Prüfung (Quellentext) wurde sie zum Doktor med. promoviert und erhielt so die formale Berechtigung, den Beruf als Ärztin auszuüben.

Ganzheitliche Medizin Dorothea Erxleben geht in ihrer Dissertation der immer noch aktuellen und hoch brisanten Frage nach, inwieweit Ärzte durch »Kundenfreundlichkeit« und Honorarinteressen die langfristige Heilung ihrer Patienten eher gefährden. Das Kurieren am Symptom kann der langfristigen Heilung entgegenstehen, sie sogar behindern. Notwendig ist eine umfassende Sicht auf den Kranken, um sicher und gründlich zu heilen. »Es kan daher nicht geleugnet werden, dass ein Arzt, dessen Sorge nur dahin geht, daß er bald und auf angenehme Weise helfe, leicht könne verleitet wer-

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Frauenstudium und ganzheitliche Medizin: Dorothea Chr. Erxleben | 61 den, das vornehmeste Stück seiner Pflicht außer Augen setze, und zu wenig dafür sorge, daß seine Curen sicher und gründlich können genennet werden. Dieses zu erweisen ist die Absicht, die mir dismal in folgender Abhandlung die Feder führet« (Erxleben 1754, 8).

Die Abhandlung beginnt mit einem ersten Hauptstück, Erklärung der Begriffe und Einteilung. »Wenn ich behaupte, dass es Aerzte gebe, die zum Schaden des Patienten die Cur zu sehr übereilen, und sich dies bloß bemühen, dass es sie geschwinde helfen; so verstehe ich keineswegs diejenigen, welche so fort beydem Anfang der Krankheit deren eigentliche Art und Beschaffenheit erforschen, die wahren Ursachen derselben aufsuchen, und sich äusserst bemühen, durch heilsamen Rath und bewährte Mittel derselben geschickt zu begegnen, die Ursachen der Krankheit hinweg zu schaffen, auch die Zufälle, soviel sich thun lässt, zu lindern, und die gar zu heftigen auch irrigen Bewegungen der Natur in Ordnung zu bringen: denn wenn der Arzt auf diese Weise die Cur führet, und dadurch seine Patienten bald wieder herstelelt, so geschiet es allemal mit des Kranken Sicherheit, und daher ist einen solchen Arzt Bemühen niemals zu schelten, sondern vielmehr ungemein zu loben. Ich rede vielmehr von denen, welche, ob sie gleich überzeugt sind, das diese oder jene Krankheit so beschaffen sey, daß sie in kurzer Zeit nicht gründlich und sicher könne behoben werden, dennoch, sich beliebt zu machen und das Ansehen zu erlangen, als hätten sie Wunder getan, sich dahin bringen lassen, daß sie die heilsamen Bewegungen der Natur unterdrücken, und die Zufälle der Krankheit zwar heben, um deren Ursach aber und deren Hinwegschaffung sich wenig kümmern; wodurch zwar zuweilen der Schein erhalten wird, als sei dem Kranken geholfen, in der That hat er aber keine Hilfe gefunden, sondern ist noch in größere Lebensgefahr gestürzet.« (Ebd. 10/11)

Dorothea Erxleben folgt in ihrer Abhandlung der Systematik (1. Hauptstück) der damals üblichen medizinischen Indikationen: »Die Menge und Verschiedenheit der abzuhandelnden Materien erfordert eine noch nähere Abtheilung, welche hiermit im voraus darstellen will. Es werde also die Hauptstücke solcher Gestalt aufeinander folgen: Das zweyte Hauptstück: Von den Brech-Purgir-und schweißtreibenden Mitteln. Das dritte Hauptstück: Von den Mitteln, die den Urin befördern Das vierte Hauptstück: Von den lösenden, oder den Auswurf fördernden Mitteln.

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62 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Das fünfte Hauptstück: Von den Mitteln, die die monatliche Reinigung befördern. Das sechste Hauptstück: Von den anhaltenden Mitteln. Das siebente Hauptstück: Von den Opiatis. Das achte Hauptstück: Von einigen Umständen, durch deren Bewilligung die Ärzte zeigen, das sie weniger auf die Sicherheit der Cur, als auf eine Geschwindigkeit und Gefälligkeit bedacht gewesen« (ebd. 15).

Die Dissertation der Dorothea Erxleben wurde auf lateinisch bei der Fakultät eingereicht, aber dann auf Wunsch der Kandidatin 1755 auf Deutsch veröffentlicht, um ein breiteres Publikum zu erreichen. In den Anlagen finden sich außer dem Programm der Disputation auch ein Lebenslauf und eine kurze Schrift über das Studium der Medizin durch Frauen. Danach gibt es die damals üblichen Lobpreisungen (siehe Quellentext). Die Promotion wurde nach dem Examen nicht sofort vollzogen, sondern es wurde nochmals beim König nachgefragt, ob der Kandidatin auch tatsächlich der Doktorgrad zu verleihen sei. Ein Bericht über die feierliche Promotionsfeier fasst die Prüfung vom 6. Mai und die Feier am 12. Juni 1754 zusammen: »Großer Hörsaal der Friedrichs-Universität, Halle, 12. Juni 1754: Die berühmte Nadel hätte man zu Boden fallen hören können, als nun eine in schlichte dunkle Seide gekleidete Frau das Podest betrat, sehr aufrecht und allem Anschein nach in vollkommener Ruhe. Mit einem kurzen Senken ihres Kopfes begrüßte sie die versammelte Prüfungskommission […]. Auf dem Prüfungsplan, wie man der Kandidatin zuvor bekannt gegeben hatte, standen Anatomie, Diagnostik und vor allem die Behandlung von Krankheiten. Die Fragen, in lateinischer Sprache gestellt, prasselten nur so auf die bereits ein wenig matronenhaft wirkende Doktorandin nieder, und keine einzige Antwort, ebenfalls in Latein abgefaßt, blieb sie schuldig. (Der erfreute Dekan:) ›In Ihren Händen ist man als Kranker gut aufgehoben, verehrte Kandidatin! Ich wünschte, wir hätten immer solche Doktoranden, dann wäre mir um die Patienten nicht bange‹« (Brencken 2003).

Bis zu ihrem Tode 1762 erzog sie neun Kinder, führte den Haushalt und behandelte zugleich ihre Patientinnen und Patienten. Dorothea Erxleben hat nicht nur als erste Frau in Medizin promoviert, sie hat auch durch ihre Schriften eine Bresche für den Zugang von Frauen zur Universität geöffnet und zugleich die Inhalte des Medizinstudiums beeinflusst.

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Sie vertrat dabei ein Verständnis von Gelehrsamkeit, das Christian Thomasius – auf den sie sich explizit beruft – neu begründet hatte (s.o.). Er verstand darunter eine Erkenntnis, welche befähigt, das Wahre von Falschen und das Gute von dem Bösen zu unterscheiden. Fakten und Normen, Wahrheit und Richtigkeit sind untrennbar verbunden.

Literatur Schriften Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das Weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten. Berlin 1742 (Reprint Olms. Hildesheim 2004) Akademische Abhandlung von der gar zu geschwinden und angenehmen aber deswegen öfters unsicheren Heilung der Krankheiten. Halle 1755 (Digitalisat der Universitätsbiliotjek Göttingen)

Darstellungen Brencken, Julia von: Doktorhut und Weibermütze. Kaufmann. Laar 2003 (4. Auflage) Brinckschulte, Eva/Labouvie, Eva (Hg.): Dorothea Christiana Erxleben: Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert. Mitteldeutscher Verlag. Halle (Saale) 2006 Kraetke-Rumpf, Emmy/Haarstedt, Regina: Dorothea Erxleben. Oberbaum. Berlin. 2000 Kraetke-Rumpf, Emmy: Die Ärztin aus Quedlinburg. Das Leben der Dorothea Christiane von Erxleben. Francke. Marburg 2002. Stockmann, Gisela: Dorothea Erxleben. In: Kleinau, E./Opitz,C. (Hg.): Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Band 1. Campus. Frankfurt a.M. 1996, 299-303 Stockmann, Gisela: Dorothea Erxleben. Doktorwürde In: Stockmann, Gisela: Schritte aus dem Schatten. Frauen in Sachsen-Anhalt. Dingsda-Verlag. Querfurt 1993

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Zeittafel 1715 1740 1741 1742

1747 1753 1754

1762

13. November: geboren als Tochter des Arztes Christian Polycarp Leporin und dessen Frau, der Pastorentochter Anna Sophia. Gesuch an den König von Preußen auf Zulassung zum Studium der Medizin an der Fakultät in Halle. Genehmigung durch Friedrich II. 14. August: Heirat mit dem Stadtdiakon Erxleben, mit dem sie vier Kinder hatte, außerdem fünf Kinder aus Erxlebens erster Ehe. »Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten« Übernahme der ärztlichen Praxis des verstorbenen Vaters Anklage wegen »medicinischer Pfuscherei« durch drei Quedlingburger Ärzte. Januar: Abgabe der Dissertation »Quod nimis cito ac quounde curare saepius fiat causa minus tutae curationis« (Zu schnelle und angenehme als Ursache unsicherer Heilung) 6. Mai: Promotionsexamen. 12. Juni Vollzug der Promotion Gestorben in Quedlinburg

Quellentext Reflexion über das Studiren und die academischen Würden des Frauenzimmers, bey der medicinischen Promotion Frauer Dorothen Christianen Erxlebin geborenen Leporinin, welche zu Halle den 12ten Junii 1754 vollzogen worden*)

*) Diese Reflexion ist von dem Herrn Professor Junker den hallischen Anzeigen im Jahr 1754. n. 26, 27 inseriert worden. Wie so gar verschieden sind nicht die Meinungen und Urtheile der Menschen über das Daseyn einer Sache, über die Eigenschaften derselben, über ihr verschiedenes Verhalten gegen andere Dinge, ob sei gut oder böse, nüßlich oder schädlich, lobwürdig oder tadelnswerth sind, und ob anderer Meinungen davon wahr oder falsch sind? Dieses gehet durch alle Menschen und alle Dinge. Wo wird man zween Menschen antreffen, welche in allen Stücken einerley Meinung hätten?

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§. 2. Gewiß es ist mehr als eine Ursache vorhanden, wodurch diese Verschiedenheit der Meinungen hervorgebracht wird. Die Fähigkeit, Dinge nach ihrer Beschaffenheit und Zusammenhang einzusehen und zu beurtheilen, ist an sich selbst bey einem größer als bey dem andern; dieser hat seine natürlichen Kräfte mehr ausgeübet und brauchbarer gemacht, als jener, und wer schon eine gute Einsicht in vielen Dingen erhalten, und von ihnen ein richtiges Urtheil zu fällen im Stande ist, der kan in anderer Dinge Erkentniß und Beurtheilung weiter kommen. Nachdem dieser andere Begriffe und Meinungen voraus setzt als jener, fällt auch der Ausspruch anders. Einer siehet eine Sache in dem Zusammenhänge mit dem Ganzen, ein anderer mit einem großen Theil des Ganzen, wieder ein anderer nur mit einem ganz besondern Theil, und gemeiniglich mit seiner eigenen Person, an. Dieser beobachtet die Sache überhaupt, ein anderer siehet solche nur allemal unter besondern gewissen Umständen: darnach ist Begrif und Urtheil verschieden.

§. 3. Am meisten aber thun hierbey die Affecten, oder die Leibschaften des Gemüths: denn diese sind die vornehmsten Ursachen, daß die unterschiedene Meinungen nicht gleichsam auf dem sichern Mittelweg nahe bey einander bleiben, sondern auf gar zu grosse und einander gar zu sehr entgegengesetßte Abwege gerathen. Hierbey herrschet dann insonderheit der Gift des natürlichen Hochmuths und der Eigenliebe, da von einerley Sache auf beyden Seiten wahrscheinlich ratsonniret wird, und ein jeder Theil auf seiner Meinung vest besthhet. Wer die Reconitiones Clementis Romani zur Hand hat, der kann, bey Durchlesung dieses Buchs, eine sehr lebhafte Abbildung hiervon finden, und endlich das decifum Petri mit Vergnügen vernehmen.

§. 4. So sehr es indessen der Güte Gottes und seiner allgemeinen Menschenliebe gemäs ist, wenn wir alle Unvollkommenheiten, so viel möglich, verbessern, und so sehr das Böse verabscheuet, so wohl weiß seine Weisheit doch alles zum Besten zu kehren. Bey allen diesen Mängeln und Ausschweifungen. Bey allem dem daher entstehenden Widerspruch, muß Wahrheit Wahrheit und Tugend Tugend bleiben. Das

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66 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Wahre und Gute selbst wird durch den Gegensatz in desto helleres Licht gesetzt, und dem Liebhaber desto angenehmer gemacht.

§. 5. Am meisten pflegt sich der Unterschied der Meinungen zu äussern, wenn eine nicht gewöhnliche, noch täglich vorkommende Sache, oder gar eine sonst niemals geschehene Begebenheit vorfällt: denn das Reue und Seltene ziehet die Aufmerksamkeit an sich. Weil es neu und selten ist, sind die wenigsten von allen dabey vorfallenden Umständen genau unterrichtet, und desto weniger haben sie sich auch bemühet, von denjenigen Gründen eine hinlängliche Einsicht zu erlangen, wodurch sie in den Stand gesetzet werden müssen, ein richtiges Urtheil zu fällen.

§. 6. Daß sich fast zu allen Zeiten unter den Frauenspersonen einige gefunden, welchen den Studiis obgelegen, die entweder in solchen Umständen gewesen, dass sie mit häuslichen Verrichtungen sich nicht zu beschäftigen nöthig gehabt, oder solchen daneben zugleich löblich vorgestanden haben, solches ist ziemlich massen bekannt, und solcher gelehrten Frauenspersonen Andenken ist in verschiedenen Schriften aufbehalten, aber auch nicht auf einerley Art beurtheilet worden. So lange dieses nur bey den angenehmen und Schönen Wissenschaften und bey einem oder dem andern Theil der Weltweisheit geblieben, hat es weniger Aufsehens gemacht, als wenn sich ein Frauenzimmer an eine der höhern Facultäten gewaget, und es darin vielen gelehrten Mannspersonen gleich gethan. Wenn sich aber eine Frauensperson zu academischen Würden qualificirt, in Doctorem promovrt, und haben besonders in der Medicin das Recht zu practiciren bekomt, so giebt es freylich eine grpssere Attention, und man erfähret desto grössere Verschiedenheit der darüber gefällten Urtheile, je mehr Umstände hier zusammen kommen.

§. 7. Da wir bey den der medicinischen Facultät auf hiesiger Friedrichsuniversität jetzt einen solchen besondern cafum gehabt, so will ich von den verschiedenen Umständen, und wie darüber so verschiedentlich geurtheilet zu werden pflegt, erstlich überhaupt etwas beybringen, hier-

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nächst aber die bey dieser besondern Promotion vorwaltenden Umstände anführen.

§. 8. Was die Sache überhaupt betrift, so wird dabey theils das Studiren des weiblichen Geschlechts insgeheim, theils eigentlich die dadurch zu erlangenden academischen Würden, und besonders die medicinische Praxis, in Betrachtung und Beurtheilung gezogen. Haben aber auch wol alle diejenigen, welche von dem Studiren des Frauenzimmers so verschiedene Urtheile fällen, den rechten Begrif vom Studiren selbst? Ist nicht das Studiren die Bemühung, die Kräfte des Verstandes und des Willens zur Erkentniß und zum Besitz der Wahrheit und der Tugend anzuwenden? Wer seine Kräfte zur Erlangung einer deutlichen, richtigen und zusammenhängenden Erkentniß der Wahrheit gebrauchet, und sich dadurch in den Besitz derselben und des Guten gesetzet hat, der heisset weise, welches gelehrt und tugendhaft seyn in sich schliesset. Man kann studieren und gelehrt seyn, ohne die gelehrten Sprachen zu können: das Studiren selbst kan unter guter Anweisung, unter dem Lesen nützlicher Bücher und eigenem Nachsinnen geschehen: es kann einer in Wahrheit gelehrt seyn, wenn er gleich nicht alles dasjenige weiß, was ein anderer weiß. Das rechte Studiren der wahren Gelehrsamkeit führet allezeit mit zur Tugend, obgleich das letztere oft aus den Augen gesetzet wird, und das erstere gar wohl ohne das letztere kann betrachtet werden. Es soll billig niemand, als derjenige, welcher durch hinlängliche Proben dargethan hat, dass er eine gewiß nicht gemeine Stufe in der Gleichsamkeit erlanget habe, von den Facultäten auf den Universitäten mit einem gradu Magistri oder Doctoris und davon abhängenden Rechten beehret werden. Nun wissen meine Leser, was ich vom Studiren der Begriffe habe, wenn ich vom Studiren des Frauenzimmers mit ihnen rede, und aus was vor Grundsätzen dieses, meiner Meinung nach, müsse beurtheilet werden, und nun kann ein jeder selbst bestimmen, in welchen Begriffen und Grundsatzen er mit mir übereinstimme, oder nicht.

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§. 9. Diejenigen, welche dem Studiren der Frauenspersonen zuwider sind, pflegen folgende Gründe anzuführen: es sey das weibliche Geschlecht an den Kräften des Leibes und der Seelen denen Mannespersonen nicht zu vergleichen, und es sey in aller Absicht ein schwaches Werkzeug: es müsste zu häuslichen Verrichtungen angeführet werden, und da liessen weder die Unterweisung in der Jugend, noch die Ausübung derselben in den folgenden Jahren so viel Zeit übrig, als zu dem Unterricht in den Wissenschaften und dem weiteren Fortgang darin erfordert würde, sonst müste die Versorgung des Hauswesens vom gelehrten Frauenzimmer verabsäumet werden: es sey daher das Studiren des Frauenzimmers etwas sehr ungewöhnliches, und habe so gar öffentliche Gesetze und Verordnungen gegen sich: was die academischen Gradus beträfe. So redeten die Käyserlichen Priuilegia, worauf sich solche gründen, nur von Mannespersonen, daher dürften solche keinen Frauenpersonen beygeleget werden. Alles dieses pflegt besonders wider die medicinische Praxin und die Doctorwürde einer Frauenperson angeführet, und noch dieses hinzugethan zu werden, dass das Practicieren einer Frauenperson den Gesetzen der Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit zuwider laufe.

§. 10. Andere im Gegentheil meinen gegründetes Recht zu haben, wenn sie dafür halten: es mangele denen Frauenpersonen nicht an hinlänglichen Seelenkräften, und sey der Mangel wenigstens so groß nicht, daß er die Ausübung der allen Menschen obliegenden Pflichten, seinen Verstand und Willen zu verbessern, hindern sollte: ja es sey die Bemühung darnach desto nöthiger, je mehr ein Mangel gespüret werde. Die Bemühung den Verstand zu schärfen, odentlich und gründlich zu denken, seinen Willen zur Ausübung der Tugend anzugewöhnen, könne der Anweisung zu den häuslichen Verrichtungen und der Ausübung derselben nicht nachtheilig seyn, ja es sey ein nach vorgesetzter Beschreibung studirendes Frauenzimmer desto geschickter und williger, die Pflichten einer guten Hauswirthin und Ehegattin zu erfüllen, je gelehrter sie sey. Wenn die Zeit, welche überflüssig verschlafen, unnöthig verputzet, unnützlich verplaudert und verspielet wird, zum Studiren angewendet würde, so bliebe allemal noch Zeit genug übrig, auf die Studia zu wenden:

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Es sey das Studiren des Frauenzimmers nicht etwa ganz ungewöhnliches, und viele gelehrte Frauenspersonen hätten keine Gelegenheit gehabt, sich hervor zu thun, auch zum Theil solche gar nicht gesucht, sondern wären bey der Bemühung, sich vollkommener zu machen, in der Demuth und Stille im verborgenen geblieben. Schlössen gleich in einigen Ländern die öffentlichen Gesetze die Frauenspersonen von der Regierung aus, und würden solche nicht allenthalben zu dem Besitz der Landgüter gelassen; möchten einige Gesetze aus besondern Absichten und Gründen das weibliche Geschlecht von öffentlichen Aemtern abhalten; so hindere dieses nicht, daß nicht ein jedes Frauenzimmer, so viel ihm möglich ist, seinen Verstand und Willen zu bessern, das ist, zu studiren suchen sollte: es hätte aber auch manches gekrönte Frauenzimmer den Scepter geführet und Länder regieret: manche Heldin und nicht wenig gelehrte Frauenspersonen hätten gezeiget. Wie weit sie es bringen könten. Die academischen Würden wären von denen Käysern selbst gestiftete Belohnungen des Fleisses, deren höchste Majestät auf Erden hätte denen Universitäten das Vorrecht verliehen, diejenigen damit zu beehren, welche nach ausgestandener Prüfung und abgelegten Proben deren würdig erfunden worden, sie sollten zugleich öffentliche Zeugnisse der erlangten Geschicklichkeit seyn, wodurch auch andere aufgemuntert würden, sich dem menschlichen Geschlecht nützlicher zu machen. Da nun weder die Gesetze, noch die kayserlichen Priuilegia einen Unterschied des Geschlechts machten, so würde es eine auf keine Weise zu entschuldigende Unbilligkeit der Männer seyn, das weibliche Geschlecht vom Studiren, und wohlverdiente Frauenspersonen von den academischen Würden auszuschliessen, und ihnen solche zu versagen: gelehrte und tugendhafte Frauenspersonen würen eine Zierde des menschlichen und ein wahres Vergnügen des männlichen Geschlechts, worauf kein Missvergnügen, und keine Reue folgete: insonderheit würden gelehrte Männer von solchen Frauen in ihrem Hauswesen keinen Nachtheil, in Erziehung der Söhne einen Beystand, und in Anführung der Tochter einen wahren Vortheil erhalten. Hätte sich eine und die andere geschickt gemacht, die Gesundheit der Kranken zu besorgen, und solchen, als ein Arzt, mit gegründetem Rath und That beyzustehen; so müsste man solche, als den wahren Gegensatz der Pfuschen und Pfuscherinnen, eher hervorziehen, als unterdrücken: Zucht und Ehrbarkeit müsste so wol von Manns als Frauenspersonen bey der medicinischen Praxi beobachtet werden: ein gelehrtes und verständiges Frauenzimmer würde bey dem Besuch der Kranken am besten zu beurtheilen wissen, wie weit sie ohne Verlet-

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70 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens zung der Schamhaftigkeit gehen könne: es würde auch selbst das weibliche Geschlecht bey einem wohl gegründeten, wohl erfahrenen, wohl geprüften und rechtmäßig bestätigten Arzte ihres Geschlechts besser versorgt seyn, als bey den allenthalben häufig zudringenden Pfuschern beyderley Geschlechts.

§. 11. So verschiedentlich pflegt geurtheilt zu werden, wenn man eine Sache nur von aussen, bald von dieser, bald von jener Seite ansiehet. Jedoch gehören alle diese Judicia nur zur Policey, und gelten bey den Rathhäusern und Zünften; wenn man aber die Actiones der Menschen so ansiehet, wie sie vor GOtt im Lichte stehen, und nach dem Befehl Christi eine rechtes Urtheil fällen soll; so muß es auch in diesem Cafu heissen: hie ist weder Mann noch Weib; hier gilt kein Unterschied des Geschlechts; hier sind alle Adamskinder nur Dornsträuche und Disterjöpfe, von welchen man weder Trauben noch Feigen sammlen kann. Setzet man hingegen einen guten Baum, so wird auch die Frucht gut, seyn, sie heisse hernach ein Apfel, oder eine Birne. Wer sich dann in die Schranken füget, worin ihn die göttliche Vorsehung leitet, und in dieser Bahn zum vorgesteckten Ziel durch dieses Leben gerades Weges forteilet, dabey des andern Last träget, und lässet sich zum Dienst des Nächsten zubereiten, der ist ein nützliches Gefäß, dem Hausherrn zu allen Ehren bereitet. Es hat ja übrigens das Ansehen noch nicht, dass wir würden Ursache finden zu klagen, es sey zu viel Erkentniß der Wahrheit, der Tugend und der aufrichtigen Menschenliebe unter beyderley Geschlecht in der besten Welt.

§. 12. Wir wollen aber nun vernehmen, wie das in der Ueberschrift genante Frauenzimmer zur Doctorwürde gelanget sey. Ein wohlverdienter Practicus in Quedlinburg, Herr D. Christian Policarp Leporin, war ihr Vater, dem sie anno 1715. geboren worden. Da sie ihre ersten Jahre, unter anhaltenden Kränklichkeiten zubrachte, so ward sie eine fleißige Mitschülerin ihres älteren Bruders, der von dem Vater in den ersten Gründen des Christhenthums und der lateinischen Sprache unterrichtet wurde, und dieses machte ihr ihren kränklichen Zustand erträglich. Es geschahe ohn allen Zwang, daß sie auch den weitern Unterricht annahm, weil sie einen Geschmack am Lernen gewonnen, und in der

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Meinung stand, daß alle ihres gleichen auch ein gleiches thäten. Da nun auch andere Gelehrte des Orts schriftlich und mündlich das Zunehmen dieser jungen studierenden Frauensperson beförderten, so geschahe es, dass sie der Vater auch davon mit profitiren ließ, wenn er den Bruder, nach Anleitung der Stahlischen, Albertischen, Heisterischen und meiner Schriften, zu der Universität präparirte, und solchen Unterricht auch in Abwesenheit des Bruders fortsetzte, sie noch zur Praxi anführete, ihr zur Uebung Cafus auszuarbeiten gab, und endlich, wenn er krank oder abwesend war, seine Patienten von ihr besorgen ließ. Sie selbst aber las nunmehro die besten medicinischen Schriften, besonders vorhin genannter Verfasser, nebst den Hoffmannischen, Werihofischen, Coschwitzischen und Börhavischen, um ihre erlangte Erkentniß zu vermehren.

§. 13. Die bey Antritt der Regierung Se. königl. Majestät in Preussen zu Quedlingburg eingenommene Huldigung gab Gelegenheit, daß sie denen dazu höchstverordneten Herren Commissariis bekannt und weiter an Thro königl. Majestät recommendiret wurde, welche auch allergnädigst unter dem 14ten April 1741, zu rescribiren geruheten, daß Höchstdieselben die Leporinin, wenn sie es verlangen würde, der medicinischen Facultät in Halle zur Promotion recommendiren wollten. Sie würde bald darauf solche vorgenommen haben, wenn sie nicht um die Zeit an den Herrn Johann Christian Errleben, Diaconum zu St. Nicolai in Quedlinburg, verheyrathet worden, hiernächst ihr Vater nicht verstorben und sie selbst eine Mutter von vier Kindern geworden wäre, auch haben eine schwere Krankheit ihres Mannes zu besorgen gehabt hätte.

§. 14. Sie hat demnach erst zu Anfange dieses Jahres Sich entschlossen, die ehemals vorgenommene Promotion vollziehen zu lassen, deswegen ein Specimen inaugurale ausgearbeitet: de co, quod nimis cito ac iucunde curare, faepius fiat caufa minus tutae curationis; und solches ihre allerunterhänigsten Bitte, um die ehemals allergnädigst versprochene Recommendation an die hiesige Facultät, daß sie zum Examine admittieret werden möchte, und sich zum gradu und praxi medica legitimiren könnte, beygefüget; darauf ein allergnädigstes Rescript vom 6 Martii an die Facultät erhalten, daß, wofern dagegen nichts erhebliches

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72 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens einzuwenden, der Supplicantin Gesuch erfüllet werden solte. Da nun dieses Frauenzimmer hierauf sich zu uns nach Halle verfüget, und sich als eine solche Person dargestellet, welche ohne Bedenken konte zum Examine gelassen werden, so ist solches den 6ten May vor sich gegangen, und hat die Frau Candidatin in einem zweystündigen Examine alle quaestiones theoreticas und practicas in lateinischer Sprache, mit einer solchen gründlichen Accuratesse und modesten Beredsamkeit beantwortet, daß alle Anwesende damit vollkommen vergnügt waren. Ob nun schon die löbliche medicinische Facultät, nach geprüftem und gut befundenem Specimine inaugurali, zur Promotion hätte schreiten können; so hat dieselbe doch lieber der Frau Candidatin im Examine befundene Geschicklichkeit nach der Wahrheit an Se. Königliche Majestät allunterhänigst berichten, und in einem solchen seltenen Cafu königliche allergnädigste Approbation erfragen wollen. Hierauf hat es Seiner königlichen Majestät allergnädigst gefallen, in einem höchsteigenhändig unterschriebenen Rescript vom 18 May, die hiesige Facultät allergnädigst zu autorisiren, dieser Candidatin gewöhnlicher massen den gradum in unserer Facultät nach ihrem petito zu ertheilen.

§. 15. Es hat sich hierauf die Frau Candidatin wieder bey uns eingefunden, und war der 12te Junii angesetzt, die Promotinn zu vollziehen, an welchem Tage in meiner, als des Decani, Behausung, in Gegenwart einer nicht geringen Anzahl, mehrentheils von selbst sich ansehnlicher Personen, beyderley Geschlechts, und Anwesenheit mehrerer Studioforum, nach Inhalt derer käyserlichen und königlichen Privilegien, und besonderer im letzten allergnädigsten Rescript geäusserten aller höchsten Genehmhaltung, mehrgedachter Frau Candidatin der Gradus Doctoris Medicinac und die Freyheit zu practiciren, von mir ertheilt, und der gewönliche Doctor-Eid aufgenommen worden. Diese Handlung hat die neue Frau Doctorin mit einer kurzen, doch wohlgesetzten Rede, in demüthigstem und gehorsamsten Dank gegen GOtt, den König und die Facultät, beschlossen, und die wohlgemeinten Glückwünsche der Anwesenden angenommen. Worauf denn auch das gewöhnliche Doctordiploma ausgefertiget worden.

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§. 16. Da ich den Schluß dieses Vortrages gemacht, wird mir von einem Freunde das Journal des Scavans combiné avec les Memoires de Trevoux, vom Monat Martio dieses Jahres, communiciret, woselbst pag.283. als ein Supplement aux Nouvelles litteraires du Journal des Scavans, von Paris berichtet wird, daß die Gräfin von Voifenon, welche sich durch ihren lebhaften Geist und erlangte Gelehrsamkeit ein großes Ansehen erworben, die Stelle einer Präsidentin in der medicinischen Facultät zu Paris angenommen habe. Es sey dieselbe in dieser Qualität mit allgemeinem Beyfall und erkant worden, und sie habe bey dieser Gelegenheit die schönste Rede gehalten, welche die Herren Doctores wohl jemals in ihren Collegiis gehört. Diese nette und kurze Rede kann daselbst gelesen werden. Wir wollen an deren Stelle die mit dem angenehmsten Ernst und rühmlichster Bescheidenheit abgelegte Danksagungsrede unserer Frau Doctorin hier beyfügen. (aus: Erxleben 1755, 151-167)

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Immanuel Kant

Immanuel Kant (1724-1804)

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Wahrheit und Aufklärung: Immanuel Kant

Eine Darstellung des Konzepts »öffentlicher Wissenschaft« kann an Immanuel Kant (1724-1804) nicht vorbeigehen. Einerseits ist er Vollender der Aufklärung in seiner Preisschrift: »Was ist Aufklärung?«; anderseits wirkt er als Zerstörer ihrer Illusionen. Es geht ihm um das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit, von Rationalismus und Empirismus, von Wahrnehmen und Denken – insgesamt um die Reichweite und Grenzen der Vernunft. Immanuel Kants Theorie stellt den Scheitelpunkt der Aufklärung und einen Anfangspunkt der idealistischen deutschen Philosophie dar. Zum einen hat er einen Programmtext geschrieben, der wie kein anderer die Leitthemen der Aufklärung aufgreift. Zum andern dreht sich seine Erkenntnistheorie immer wieder neu um die Grenzen der Vernunft und die Möglichkeit von Wahrheitsurteilen.

Disziplinierte Philosophie Kants äußeres Leben war wie kaum ein anderes gekennzeichnet durch ein äußerst geringes Maß an Aufgeregtheit. Er wurde 1724 geboren und starb 1804 in Königsberg. Der Sohn des Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina, geborene Reither, besuchte die Vorstädter Hospitalschule und anschließend von 1732 bis 1740 das dortige Gymnasium, das pietistische Kollegium Fredericianum. Ab 1840 studierte Kant Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft. Er fasste frühzeitig den Entschluss, die Laufbahn eines wissenschaftlichen Lehrers zu wählen. Zunächst war er als Hauslehrer bei drei verschiedenen Familien in der Umgebung Königsberg tätig. Bereits 1746

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78 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens veröffentlichte er seine erste Schrift: »Erste Abhandlung Gedanken von der wahren Schätzung der weltlichen Kräfte« (in Deutsch geschrieben und erschienen 1747). Er versuchte zwischen Cartesianern und Leibnizianern einen Ausgleich herzustellen, zunächst ohne dafür aber ein theoretisches Fundament zu sichern. Lessing hat sein Urteil über die Arbeit knapp in vier Zeilen komprimiert: »Kant unternimmt ein schwer Geschäfte, der Welt zum Unterricht, er schätzet die lebend’gen Kräfte, nur seine schätzt er nicht.« (zit. Schulz 1965, 16)

1755 gab Kant seine Hauslehrertätigkeit auf, um sich in Königsberg zu habilitieren. Mit einer lateinischen Abhandlung »De Igne« (Über das Feuer) promovierte er am 12. Juni 1755. Mit einer zweiten lateinischen Schrift über die Grundprinzipien der metaphysischen Erkenntnis, die er am 27. September verteidigte, wurde Kant Privatdozent für Philosophie an der Universität Königsberg. Die weitere Bedingung für das Lehramt erfüllte er im April 1756 mit einer lateinischen Abhandlung »Über die physische Monadologie«. Danach nahm er seine Lehrtätigkeit auf und begann seine Vorlesungen täglich von sieben bis neun Uhr – sogar oftmals insgesamt über zwanzig Stunden wöchentlich. Der Bogen der Fächer war thematisch breit: Mathematik, Naturlehre, Anthropologie, physische Geographie, Logik, Metaphysik, Moralphilosophie, natürlich Theologie, philosophische Enzyklopädie, Pädagogik und sogar Fortifikation und Pyrotechnik. Er bewarb sich auf die Stelle für Mathematik und Philosophie, die sein Lehrer Knutzen innegehabt hatte. Diese wurde ihm verwehrt. Er sollte allerdings die nächste freiwerdende Stelle bekommen. Dies war 1764 die Professur für Dichtkunst, die als neu besetzt werden musste. Diese lehnte er ab. Nicht zuletzt deshalb, weil ihrem Inhaber die Aufgabe zufiel, alle jene Gelegenheitsgedichte zu verfassen, zu denen das akademische und öffentliche Leben ein Anlass bot. Er trat stattdessen die keineswegs herausragende Stelle eines Unterbibliothekars an der königlichen Schlossbibliothek an. Es war die erste feste Anstellung; er war damals bereits 42 Jahre alt. Nach Rufen nach Halle und Erlangen wurde 1770 die Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg wieder vakant – die gleiche Stelle, um die er sich zwölf Jahre vorher vergeblich bemüht hatte. Hauptaugenmerk lag zunächst wieder auf den Lehrveranstaltungen. Sein

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Vortrag bestand weniger in einer Wiedergabe vorhandener Lehrbücher, sondern er benutzte diese als Ausgangspunkt für eigene Gedanken, bei den öffentlichen Vorlesungen betrug die Zahl seiner Hörer zwischen 80 bis 100 – für die damalige Zeit ein sehr zahlreiches Auditorium. Das Leben, des Kant vierzig Jahre als akademischer Lehrer führte, nahm äußerlich einen monotonen Verlauf. In seiner Regelmäßigkeit von Spaziergang, Lehrveranstaltung und Essen ist es berühmt-berüchtigt geworden. Seine Bewegung fand hauptsächlich in seinem Kopf statt. Fast elf Jahre erschien von ihm keine nennenswerte Veröffentlichung (was ihn heute endgültig aus einer »Leistungsbezogenen Besoldung« heraus geworfen hätte). Immer wieder angekündigt hat er ein Hauptwerk, das endlich Ostern 1781 unter dem Titel »Kritik der reinen Vernunft« herauskam.

Kritische Philosophie Ziel dieser Schrift ist, kritisch den Nachweis zu führen, dass die spekulative Metaphysik in die Sackgasse des Selbstwiderspruchs geraten muss. Kant unternimmt den Versuch, ein neues, gesichertes wissenschaftliches Fundament der Wahrheit zu schaffen. Er setzt sich dazu kritisch mit seinen Vorgängern auseinander und zentraler Kritikpunkt ist die Vermischung zwischen sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis. Diese Auseinandersetzung hatte Kant bereits mit Emanuel von Swedenborg (1688-1722) geführt. In der kleinen Abhandlung »Versuch über die Krankheiten des Kopfes« (1764) hat Kant versucht, eine Ironie derjenigen Philosophen vorzulegen, die säkularisiert-religiöse Auskunfteien für das Jenseits seien, ohne allerdings die eigene Krankheit, die Tobsucht eines gelehrten Schreiens, zu bemerken. »In diesem Fall aber wäre es ratsam, die Natur einen anderen Weg der Reinigung anzuweisen, damit das Übel gründlich und stille abgeführt werde, ohne das gemeine Wesen dadurch zu beunruhigen« (Kant 1764). Solche Vorwürfe wurden konkretisiert an Swedenborg, der als Visionär gleichzeitig den Ruf eines exakten Wissenschaftlers genoss. Dieser Theosoph besaß sowohl mythische Fähigkeiten wie kühlen, klaren Verstand, der ihn zu Weltruf führte. Seine Schwärmerei artete aus in Religionsstiftungen. Kant versuchte sich auch in Briefen über Swedenborgs visionäre Erfolge zu informieren. Seine Schrift »Träume eines Geistersehers« ist eine Auseinandersetzung mit dem Spiritismus. Er prüfte die Wahrheit einiger Erzählungen; »er fand wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat – er fand nichts« (ebd.). Kritisch nennt er

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80 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens die positiv-spekulativen Systeme der Metaphysik »hypochondrische Winde, die in den Eingeweiden toben« (ebd.). Er wirft diesen Systemen einen »Erschleichungsfehler« vor, der darin besteht, dass eine hinreichende Unterscheidung von mundus sensibilis (Sinnenwelt) und mundus intelligibilis (Verstandeswelt) fehlt. Die Grenzen der Sinnlichkeit einerseits und der Vernunft andererseits ausführlich zu bearbeiten, ist Absicht der »Kritik der reinen Vernunft«. Die Frage geht auf den Nachweis, welche Fragen die Vernunft als Denktätigkeit zu beantworten vermag und welche nicht. In Auseinandersetzung mit philosophischen Konzeptionen seiner Vorgänger hat er deren Erkenntnisarten gefasst: Dogmatiker stützen sich auf den Satz des Widerspruchs und lassen keinen Raum für die Erfahrung. Es können nur analytische Urteile gefällt werden d.h. Urteile, die von vorhergehenden Begriffen ausgehen und diese zerlegen – apriori –. Skeptiker dagegen lehnen jede Erkenntnis a priori – unabhängig von der Erfahrung – ab. Alle Erkenntnis ist a posteriori, – nach der Erfahrung – nur durch sinnliche Wahrnehmung zu vollziehen. Die präzise Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft ist es: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Beispiel ist ihm die Arbeit des Kopernikus, »der nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm dass das gesamte Sternenmeer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ« (ebd.). Die Kopernikanische Wende ist für Kant Beispiel einer transzendentalen – d.h. Sinnlichkeit und Vernunft verbindenden – Erkenntnis. Sie stellt ein synthetisches Urteil a priori dar, indem sie Erfahrungen einordnet in die Kategorien der Vernunft von Raum und Zeit. Es sind Erfahrung und Denken, welche einen logischen Fortgang von Wahrheit begründen. Damit hat Kant gegenüber spekulativer Metaphysik einen wesentlichen Fortschritt erzielt, gleichzeitig gegenüber dem empiristischen Ansammeln von Daten. Es geht um die Verbindung von Wahrnehmung und Denken. Dies erfolgt durch die reinen Anschauungen a priori, Raum und Zeit. Das Meer, das die Inseln der Wahrheit umgibt, wird von der Vernunft erfahren. In alle Himmelsrichtungen, da es in ihrem Wesen liegt, der Dialektik, der Logik des Scheins notwendig zu verfallen: »Es gibt also eine natürliche unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst

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Wahrheit und Aufklärung: Immanuel Kant | 81 verwickelt, oder irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern jeder menschlichen Vernunft anhängt, und selbst nachdem wir ihr Blindwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird ihr vorzugaukeln« […] »Dieses Land aber ist wie eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzendes Eis neue Länder lügt, und indem es auf den Entdeckungen herum schwärmende Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch noch niemals zu Ende bringen kann« (ebd.).

Etikettierend könnte man Kant als idealistischen Konstruktivisten bezeichnen. Er nimmt allerdings nicht wahr, dass auch die scheinbar feststehenden Kategorien sich historischen und kulturellen Konstellationen verdanken, dass auch Raum und Zeit unterschiedlich gefasst und hergestellt werden können.

Aufklärung als Kritik und Prozess Die Vernunft ist für Kant zentrale menschliche Fähigkeit. Insofern schließt er an die Tradition der Aufklärung an und wird zu ihrem bekanntesten Propagator. Gleichzeitig geht er deutlich über deren Naivitäten hinaus. Kant ist ein ironischer Mensch und hält durchaus Widersprüche aus. Er erhofft, dass das freie Denken die Sinnesart des Volkes allmählich verändert und am Ende sich ein Mensch entwickelt, »der nun mehr als Maschin ist, seiner Würde gemäß zu handeln« (Kant 1784). Die berühmte Schrift »Was ist Aufklärung?« (1783) ist geschrieben von einem Befürworter der französischen Revolution und deren Ehrenbürger im Bewusstsein, dass er im preußischen Staat durchaus mit Sanktionen rechnen musste. Kernbotschaft der Schrift ist es, das Vernunft immer mehr zunehme, und somit Aufklärung ein Prozess ist, der letztlich alle erreicht (Quellentext). Gegenwärtig hat Aufklärung dagegen keinen guten Ruf. Nachdem durch Horkheimer und Adorno ihre »Dialektik« aufgezeigt und die Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Emanzipationsprozesses nachgewiesen worden ist, scheint sie Opfer einer hämischen Vernunftkritik, die eh immer schon zu wissen glaubte, dass Freiheit nicht möglich sei. Aufklärung gilt – besonders in Deutschland – als flach, vernünft-

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82 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens lerisch und gefühlskalt. Demgegenüber sollte man aber – gerade wenn man wissenschaftliche Weiterbildung betreibt – noch einmal zurückdenken. Die »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, die Immanuel Kant in der »Berlinischen Monatschrift« vom 5. Dezember 1783 gegeben hat, ist die in Deutschland entschiedenste und berühmteste Stellungnahme (Quellentext): »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienten! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant: Werke XI, 53).

Es geht um die Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (ebd. 55). Das Wissen soll allen gehören. Wissenschaftlichkeit und Verständlichkeit, Scholastik und Popularität werden nicht als Gegensatz gesehen, sondern Klarheit und Nachvollziehbarkeit gelten als Beweis für die Tiefe der Erkenntnis. Deutlich macht dies Kant in der »Einleitung zur Logik«: »Denn um der popularen Vollkommenheit willen, – dem Volke zu gefallen – muß die scholastische Vollkommenheit nicht aufgeopfert werden, ohne die alle Wissenschaft nichts als Spielwerk und Tändelei wäre. […] Denn wahre Popularität erfordert viele praktische Welt- und Menschenkenntnis, Kenntnis von den Begriffen, dem Geschmacke und den Neigungen der Menschen, worauf bei der Darstellung und selbst der Wahl schicklicher, der Popularität angemessener, Ausdrücke beständige Rücksicht zu nehmen ist. – diese wahrhaft populare Vollkommenheit der Erkenntnis ist in der Tat eine große und seltene Vollkommenheit, die von vieler Einsicht in die Wissenschaft zeigt« (Kant: Werke III. 473/474).

Nun kann diese frühbürgerliche Wissenschaftsgläubigkeit heute nicht mehr ungebrochen enthusiastisch formuliert werden. Nichtsdestoweniger ist die Idee der Aufklärung nicht zu den Akten der Geschichte zu legen, sondern reflexiv fortzuführen.

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Immanuel Kant. Zeichnung um 1798.

Literatur Wichtigste Werke 1746 »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« 1754 »Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechslung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe« 1755 »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder der Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des gesamten Weltgebäudes von Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.« »De Igne« (Über das Feuer) 1758 »Neuer Lehrbegriff der Bewegung und der Ruhe« 1762 »Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren« 1763 »Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes« 1764 »Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral« »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«

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84 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 1766 »Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik« 1775 »Über die verschiedenen Rassen der Menschen« 1781 »Kritik der reinen Vernunft« 1783 »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik« 1784 »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« 1785 »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« 1790 »Kritik der Urteilskraft« 1788 »Kritik der praktischen Vernunft« 1793 »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« 1793 »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« 1797 »Die Metaphysik der Sitten« 1798 »Der Streit der Fakultäten« »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«

Darstellungen Düsing, Klaus: Immanuel Kant. In: Kreimendahl, Lothar (Hg.): Philosophen des 18. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft. Darmstadt 2000, 189-208 Gulyga, Arsenij: Immanuel Kant. Suhrkamp.Frankfurt 1985 Schultz, Uwe: Immanuel Kant. Rowohlt. Reinbek 1965 Thom, Martina: Immanuel Kant. Pahl-Rugenstein. Köln 1978 Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Fourier Verlag. Wiesbaden 2003

Zeittafel 1724

22. April: Geburt Immanuel Kants als viertes Kind des Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina, geb. Reuter, in Königsberg. 1730-1732 Besuch der Vorstädter Hospitalschule. 1732-1740 Besuch des pietistischen Collegium Fridericianum. 1738 Tod seiner Mutter. 1740-1746 Studium der Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft an der Universität Königsberg.

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1746 1746-1755

Tod des Vaters. Tätigkeit als Hauslehrer bei drei verschiedenen Familien in der Umgebung Königbergs. 1755 Juni: Promotion in Königsberg mit der Dissertation Meditationum quarundam de igne succincta delineatio. September: Mit der Schrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio wird Kant Privatdozent für Philosophie an der Universität Königsberg. 1762-1764 Johann Gottfried Herder gehört zu Kants Hörern. 1763 Kant erhält den zweiten Preis für seine Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, auf die Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1764 Juli: Kant lehnt die angebotene Professur für Dichtkunst ab. 1769 Berufung als ordentlicher Professor nach Erlangen und Jena. Kant lehnt nach anfänglicher Zusage an Erlangen ab, da sich ihm in Königsberg eine baldige Professur anbietet. 1770 März: Antritt als ordentlicher Professor für Metaphysik und Logik an der Universität Königsberg mit der Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (mit öffentlichem Disput). 1781 Kritik der reinen Vernunft. 1784 »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Rektor der Universität Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. 1787 Bezug eines eigenen Hauses in Königsberg. 1788 Zum zweiten Male Rektor. – Kritik der praktischen Vernunft. 1792 Senior der philosophischen Fakultät sowie der gesamten Akademie. 1794 Konflikt mit der preußischen Zensurbehörde. 1797 Aufgabe der akademischen Lehrtätigkeit. 1804 12. Februar: Tod Kants.

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Quellentext Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (5. Dezemb. 1783) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist die Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs

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seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln, und dennoch einen sicheren Gang zu tun. Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen

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88 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Wiedersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demohngeachtet der Pflicht einer Bürgers nicht entgegen, wenn er, als Gelehrter, wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er zu Folge seines Amts, als Geschäftträger der Kirche, lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines andern vorzutragen ange-

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stellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch; weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er, als Priester, nicht frei, und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft. Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt) berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen, und diese so gar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstäge und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen, und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden

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90 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte? Nun wäre dieses wohl, gleichsam in der Erwartung eines bessern, auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen; indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen, frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewähret worden, daß sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche, von niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung, auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen, sich zu einigen, und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten, und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig, zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person, und auch alsdann nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammen bestehe: so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinen Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften, wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchsten Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non est supra grammaticos, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit ernie-

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drigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen. Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausgangs aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs. Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten, in der Qualität der Gelehrten, frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit, für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten. Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist. Aber die

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92 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter, und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren. Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, – kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft, und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln. Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784. I. Kant (Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Berlinische Monatsschrift, 1784, 2. 481-494)

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Johann Gottlieb Fichte

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)

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Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann Gottlieb Fichte

Ausgerechnet Fichte (1762-1814), der als Exponent des Dunklen, Tiefen und Unverständlichen in der Philosophie verschrien ist, als Vorreiter »Öffentlicher Wissenschaft« aufzuführen, braucht einige Begründungen. Zum einen wird er immer wieder benannt als Beispiel für eine Philosophie, welche sich dem Volk öffnen will. 1808 hielt er seine – immer wieder zitierten – »Reden an die Deutsche Nation«. Zum anderen hat er sich selbst verstanden als jemand, der in der Pflicht ist, Wissenschaft zugänglich zu machen. Dies hat durchaus kontroverse Konsequenzen: Einerseits wird Fichtes Werk kritisiert als ungeordnet, abgründig und unsinnig. Anderseits hat erstaunlicherweise gerade der ironische Heinrich Heine ihn in Schutz genommen gegen diese Kritik und misst ihm hohe Bedeutung zu. Der Versuch ein System zu konstruieren, das von einigen Grundsätzen ausgeht, eigensinnig von oben herab den Selbstlauf des Begriffs demonstriert, wird gekennzeichnet als eine abstrakte Leidenschaft. Die Wissenschaftslehre – das Hauptwerk – beginnt mit der Formel (ich gleich ich); sie versucht eine Welt aus der Tiefe des Geistes zu schaffen. Der bekennende Befürworter der französischen Revolution, der deutsche Jakobiner, der gleichzeitig seinen Sohn taufen lässt, gerät in die aktuellen Kontroversen der Wissenschafts- und Weltpolitik. Am 19. Mai 1762 wurde Fichtes in Rammenau als erstes Kind des Bandwirkers Christian Fichte und dessen Frau Johanna Maria Dorothea, geb. Schurich, geboren. Das Leben Fichtes war gekennzeichnet durch Ereignisse, welche immer wieder tief in die Biographie einschnitten. Oft zitiert wird die Geschichte, dass der Sohn eines armen

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96 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Bandwebers aus Rammenau eines Tages den Gutsherrn Freiherr Haubold von Miltitz traf, der die Predigt verpasst hatte und ihn fragte, worüber der Pfarrer gesprochen habe. Fichte zitierte dem Gutsherrn die Predigt und wiederholte sie in einer Art, dass der Gutsherr begeistert war und dem Kind eine Ausbildung an der Fürstenschule Schulpforta bei Nauenburg (Saale) finanzierte. 1770 nahm Miltitz Fichte zu sich nach Oberau und gab ihn zunächst zu Pfarrer Krebel nach Niederau. Nach der Schulzeit zieht Fichte nach Jena und studiert an der dortigen Universität. Als aber der Gutsherr stirbt, wird ein weiteres Stipendium verweigert, deshalb muss er sein Studium abbrechen. Er schlägt sich fortan als Privatlehrer durch. Ein Angebot kommt aus Zürich, wo Fichte Hauslehrer werden soll. Dort verliebt und verlobt er sich mit Johanna, geb. Rahn, Tochter eines Wagenbauers. 1791 besucht Fichte Kant in Königsberg, der ihm einen Verleger für seine Schrift »Versuch einer Kritik der Offenbarung (1792)« verschafft, welche ohne Nennung des Verfassers veröffentlicht wird. Deshalb gilt das Buch zunächst als ein Werk Kants selbst. Als Kant diesen Irrtum klarstellt, ist Fichte berühmt. Er erhält einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität in Jena, den er 1794 antritt. Dort entstehen die »Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794)« und die ersten Texte zur »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« (1794/1795). Fichte begann seine Vorlesungen am Freitag, den 23. Mai 1794, mit einem Publikum das sich aus den Hörern aller Fakultäten zusammensetzte. Die Veranstaltungen hatten einen glänzenden Erfolg: »Das größte Auditorium in Jena war zu enge; der ganze Hausflur, der Hof stand voll auf den Tischen und Bänken standen sie einander auf den Köpfen«. Am 14. Juni heißt es in den Briefen an Johanna: »Es stehen immer noch eine Menge Menschen vor der Türe; gestern Abend hat mir die halbe Universität eine sehr solenne Musik und ein Vivat gebracht; es ist sehr glaublich, das ich gegenwärtig wohl der beliebteste unter allen hiesigen Professoren bin […].« (zit.: Jakobs 1984, 47).

Fichte war einer der ersten Hochschullehrer, dessen Methode darin bestand, nicht aus vorgegebenen Lehrbüchern vorzutragen sondern eigene Gedanken im Verlauf zu entwickeln. Er gab zu den Fachvorlesungen bogenweise Texte heraus. Diese Sammlung der Bogen ergaben die erste Fassung für die »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre – Anschrift für seine Zuhörer«.

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Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann G. Fichte | 97

Wissenschaftslehre als Wissenschaft der Wissenschaft Wissenschaftslehre ist das Zentralthema von Fichtes Philosophie als systematische Wissenschaft. Die Aussagen einer Wissenschaft werden durch systematische Herleitung zusammen gehalten und hängen voneinander ab. Dabei werden Grundsätze heraus gearbeitet, die in dem jeweiligen System, das sie begründen, nicht bewiesen werden können. Beweisen heißt aus Gründen herleiten. So verweist die Struktur von Wissenschaft letztlich auf eine Wissenschaft, welche die anderen Wissenschaften begründet. Dies ist demnach die Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt. Fichte stellt seine Grundsätze nicht einfach auf, sondern versucht sie in einer kritischen Analyse des Bewusstseins zu verankern. Es werden Elemente formuliert, die sich in keiner Denkoperation wegdenken lassen. Hinzu treten die Grundsätze der Tathandlung und der Freiheit des Ichs. Diese verweisen auf die Fragen nach der Bestimmung des Menschen an sich und in der Gesellschaft. Es ist die Aufgabe, alles Vernunftlose in unendlicher Annäherung vollkommen unter die Gesetze der Vernunft und Freiheit zu stellen. In vielfältigen Varianten hat Fichte seine »Wissenschaftslehre« immer wieder neu gefasst. Sie ist Kern seiner Philosophie, die in mehreren Fassungen vorliegt. Es handelt sich dabei keineswegs um Überarbeitungen, sondern Fichte, der keine fertigen Kollegtexte festschrieb, vollzog jeweils eine völlige neue Bearbeitung. Wissenschaftslehre ist für ihn die Suche nach absolutem Wissen, nach Wahrheit. Im »2. Vortrag der Wissenschaftslehre im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni« erhält dies die Formel: »Besinnen wir uns nur, was wir nicht für Wahrheit gelten lassen: wenn es so sein kann, oder auch so; also die Mannigfaltigkeit und die Wandelbarkeit der Ansicht. Die Wahrheit daher, absoluter Einheit und Unveränderlichkeit der Ansicht« (Fichte 1986, 7).

Fichte setzt sich ab gegen Beliebigkeit und bloße Geschichtlichkeit, wie er diese in den vorherrschenden Auffassungen seiner Zeit findet. »Nämlich: der Grundzug unseres Zeitalters ist meines Erachtens der, daß in ihm das Leben nur historisch und symbolisch geworden ist, zu einem wirklichen Leben aber es gar selten kommt. Ein nicht unwichtiger Bestandteil des Lebens ist das Denken. Wo das ganze Leben zur fremden Geschichte verblasst ist, muss es wohl dem Denken eben also ergehen« (ebd. 3).

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98 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Dies hat merkwürdig moderne Konnotationen. Er kennzeichnet den vorfindlichen Geisteszustand als historische Flachheit: »Zerstreutheit in die mannigfaltigsten und widersprechendsten Ansichten, Unentschlossenheit über alles zusammen und absolute Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit« (ebd. 4). Allerdings geht es dann nicht darum einer solchen skeptischen Allseitigkeit eine dogmatische Starrigkeit (a.a.O.) entgegenzusetzen. Wer die Wahrheit besitzen will, muss sie aus sich selbst erzeugen. Dafür ist »Bedingung, daß er selbst, die Person, Etwas erzeuge, nämlich die Bedingung jenen Sicherzeugens der Einsicht« (ebd. 5). Zentrum der Einsicht der Wahrheit ist das Ich. Deshalb muss der Vortragende »als ein Verstummter und Verschwundener betrachtet sein, und Sie selber müssen nun an meine Stelle treten. Alles, […], sei gedacht und sei wahr nur in wiefern Sie selber es gedacht und als wahr eingesehen haben« (a.a.O.). Es geht um Maximen des Denkens und den »Unterschied zwischen dem bloßen Begriffe und der wirklichen und wahrhaften Sache, der allenthalben von Bedeutung ist« (ebd. 6). Absolute Einheit stellt sich dar als »Unveränderlichkeit der Ansicht« (ebd. 7). Deshalb ist das Mannigfaltige durch das Eine und das Eine durch das Mannigfaltige wechselseitig zu begreifen, d.h. dass ihm die Einheit gleich »als Prinzip einleuchte solche Mannigfaltigkeiten; und umgekehrt, dass die Mannigfaltigkeit ihrem Seinsgrunde nach nur Begriffe werden können, als Principiate von A. Dies kann nur »darin bestehen, was jedes als die Einheit, das Eine, wahre in sich geschlossene Ansicht aufstellt (gleich das Absolute; daher im Vorbeigehen: die Aufgabe der Philosophie lässt sich auch ausdrücken: Darstellung des Absoluten)« (ebd. 8).

Diese Identitätsphilosophie gründet sich in der Subjektphilosophie: »das schlechthin alles Sein ein Denken oder Bewusstsein des selben setzt und das daher das bloße Schein immer nur die eine Hälfte zu einer Zweiten dem Denken desselben, so nach Glied einer ursprünglichen und höher liegenden Disjunktion ist, welche nur dem sich nicht besinnenden und flach denkenden verschwinden« (ebd. 10). Die Wissenschaftslehre ist dadurch gekennzeichnet, »dass in einer solchen Philosophie der Unterschied zwischen Sein und Denken, als in sich gültig, durchaus verschwindet« (ebd. 17). »Endlich, die Vernunft ist der Grund ihres Daseins als Vernunft« (274) »Die Vernunft ist schlechthin Grund ihres eigenen Daseins, und eigenen Objektivi-

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Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann G. Fichte | 99 tät, für sich selber, und darin eben besteht ihr ursprüngliches Leben« (ebd. 275). »Unsere übernommene Aufgabe ist daher vollkommen gelöst, und ihre Wissenschaft geschlossen. Die Prinzipien sind in höchst möglicher Klarheit und Bestimmtheit hingestellt; den Schematismus kann jeder sich selber machen, der die Prinzipien wahrhaft verstanden und durchdrungen hat« (ebd. 284).

Abgründig, dunkel unverständlich, schwärmerisch, verstiegen als eine Begrifflichkeit voller Abstraktionen und hohlen Distinktionen, so wird Fichtes Philosophie gekennzeichnet. Er spielt mit abstraktesten Abstraktionen ein Spiel mit Wörtern und Begriffen. Schopenhauer hat Fichte verspottet als Meister der Kunst philosophischer Mystifikationen und als unter dem Schein des Tiefsinns auftretender Unsinn.

Aufruf zur Nationalerziehung Im strikten Gegensatz dazu steht sein Versuch nicht nur einzelne Individuen sondern »das Volk« zu erreichen. Er hat durchaus versucht, ein breites Publikum anzusprechen; allerdings dürfte das Bild, das ihn darstellt wie ihn auch Handwerker und Küchenmägde zuhören, eher eine Hoffnung, statt eine Wirklichkeit darstellen. Wirkungsgeschichtlich sind das Auftreten und die Ausstrahlung Fichtes nur zu erklären durch seine zwingende Energie des Vortrags, sein unerhörtes Wahrheitspathos und den damit eingeschlossen Aufruf zum Handeln. Sie sind auch Grundlage für die »Reden an die deutsche Nation« (1807) (Quellentext). Diese hat der unbeugsame Philosoph im besetzten Berlin gehalten, unter den Augen und sicher auch vor den Ohren der französischen Besatzungsmacht. Die »Reden« begründen einen weiteren Mythos über Fichte. Es gibt Darstellungen, in denen behauptet wird, Handwerker und Mägde, Kaufleute und Wissenschaftler, Bürgerliche und Adlige hätten ihm begeistert zugehört. Dies allerdings ist falsch. Die »Reden« erreichten nur einen kleinen Kreis. Sie sind teilweise in ihrer Deutschtümelei sehr merkwürdig. Sie sind Produkt der politischen und militärischen Konstellation, in der Fichte Stellung nimmt. Mit den »Reden an die Deutsche Nation« stellt Fichte Bildung als »Nationalerziehung« ins Zentrum der Aufgaben. Die menschlichen Verhältnisse sollen in Freiheit durch Vernunft und Werterziehung verankert werden. Mensch sein heißt für ihn, ein Wesen zu sein, welches

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100 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Vernunft und Freiheit hat. So lautet der oberste Grundsatz über die geschichtliche Bestimmung des Menschen: »Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten« (Fichte: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. GA I, 198).

In den Reden an die deutsche Nation ist dies als Aufruf formuliert. Dieser zu Kriegszeiten gehaltene Zyklus ist ein zutiefst zwiespältiger Text. Zum einen gibt es vielfältige Überzeichnungen des Nationalen, zum andern geht es um eine umfassende Bildung. »Mit einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einige Mittel die deutsche Nation im Dasein zu erhalten in Vorschlag bringe. Dass man den Kindern eine gute Erziehung geben müsse, ist auch in unserem Zeitalter oft genug gesagt, und bis zum Überdrusse wiederholt worden, und es wäre ein geringes, wenn auch wir unseres Ortes dies gleichfalls einmal sagen wollten. Vielmehr wird uns, sowie ein anderes Vermögenglauben, obliegen, genau und bestimmt zu untersuchen, was eigentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe, und anzugeben, welches durchaus neue Glied die veränderte Erziehung der bisherigen Menschenbildung hinzufügen müsse.« (Fichte 1909, 13)

Es geht um eine Bildung, welche den Menschen zutiefst durchdringt und seine Person erfasst: »Das ermangelnde Durchgreifen bis in die Wurzeln der Lebensregung und -bewegung hätte diese neue Erziehung der bisherigen hinzuzufügen und wie die bisherige höchstens Menschen, so hätte diese den Menschen selbst zu bilden, und ihre Bildung keineswegs wie bisher, zu einem Besitztume, sondern vielmehr zu einem persönlichen Bestandteil des Zöglings zu machen« (ebd. 15).

Fichte kritisiert Beschränktheit von Bildung auf »Bildungsbürgertum«, begrenzt Volksbildung aber gleichzeitig auf »deutsche Nationalerziehung«: »Ferner wurde bisher diese also beschränkte Bildung nur an die sehr geringe Minderzahl dem ebenda gebildet genannten Stände gebracht, die große Mehrzahl aber, auf welche das gemeine Wesen rechtlich eigentlich ruht, das Volk,

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Wissenschaft als »Bestimmung des Menschen«: Johann G. Fichte | 101 wurde von der Erziehungskunst fast ganz vernachlässigt, und dem Blinden ungefähr übergeben. Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesammtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sich durch dieselbe Eine Angelegenheit, so wir aber etwa hierbei abermals einen gebildeten Stand, der etwa durch den neu entwickelten Antrieb der sittlichen Billigung belegt wurde, absondern wollten von einem ungebildeten, so würde dieser letzte, da Hoffnung und Furcht, durch welche allein noch auf ihn gewirkt werden könnten, nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, von uns abfallen und uns verloren gehen. Es bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahm, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besonderen Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne Ausnahme einzelner Glieder derselben werde, in welcher in der Bildung zum Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in anderen Zweigen der Entwicklung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei und verschwinde. Und daß auf diese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eingetümliche deutsche Nationalerziehung entstehe« (Fichte 1909, 15/16).

Die von Fichte propagierte »Nationalerziehung« steht so in einem merkwürdigen Widerspruch zwischen nationalistischen und antielitären Tendenzen. Sie wurden später vielfältig missbraucht und benutzt – bis hin zu den Auswüchsen im Nationalsozialismus. Die Frage stellt sich zwingend: Wer sind denn die Erzieher für diese »Nationalerziehung«? Fichte hatte dies frühzeitig benannt: Ab 23. Mai 1794 hatte er in Jena fünf öffentliche Vorlesungen »Über die Bestimmung des Gelehrten« gehalten: »Seine für die Gesellschaft erworbene Kenntnis soll er nun wirklich zum Nutzen der Gesellschaft anwenden; er soll die Menschen zum Gefühl ihrer wahren Bedürfnisse bringen und sie mit den Mitteln ihrer Befriedigung bekannt machen. Das heißt nun aber nicht, er soll sich mit ihnen in die tiefen Untersuchungen einlassen, die er selbst unternehmen mußte, um etwas Gewisses und Sicheres zu finden. Dann ginge er darauf aus, alle Menschen zu so großen Gelehrten zu machen, als er etwa selbst sein mag; und das ist unmöglich und zweckwidrig. […] Wie kann und soll er denn aber seine Kenntnisse verbreiten? Die Gesellschaft könnte ohne Zutrauen auf die Redlichkeit und Geschicklichkeit anderer nicht bestehen, und dieses Zutrauen ist demnach tief in unser Herz geprägt; und wir haben es durch eine besondere Wohltat der Natur nie in einem höhern Grade als da, wo wir der Redlichkeit und Geschicklichkeit des andern am dringendsten bedürfen. Er darf auf dieses Vertrauen zu seiner Red-

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102 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens lichkeit und Geschicklichkeit rechnen, wenn er es sich erworben hat, wie er soll. – Ferner ist in allen Menschen ein Gefühl des Wahren, welches freilich allein nicht hinreicht, sondern entwickelt, geprüft, geläutert werden muß; und das eben ist die Aufgabe des Gelehrten. Es würde dem Ungelehrten nicht hinreichen, um ihn auf alle Wahrheiten zu führen, deren er bedürfte; aber wenn es nur sonst – und das geschieht oft gerade durch Leute, die sich zu den Gelehrten zählen – wenn es nur sonst nicht etwa künstlich verfälscht worden ist, wird es immer hinreichen, daß er die Wahrheit, wenn ein anderer ihn darauf hinführt, auch ohne tiefe Gründe für Wahrheit anerkenne. Auf dieses Wahrheitsgefühl darf der Gelehrte gleichfalls rechnen. – Also der Gelehrte ist, insoweit wir den Begriff desselben bis jetzt entwickelt haben, seiner Bestimmung nach der Lehrer des Menschengeschlechts. […] Der letzte Zweck jedes einzelnen Menschen sowohl als der ganzen Gesellschaft, mithin auch aller Arbeiten des Gelehrten an der Gesellschaft, ist sittliche Veredlung des ganzen Menschen. Es ist die Pflicht des Gelehrten, diesen letzten Zweck immer aufzustellen und ihn bei allem, was er in der Gesellschaft tut, vor Augen zu haben. Niemand aber kann mit Glück an sittlicher Veredlung arbeiten, der nicht selbst ein guter Mensch ist. Wir lehren nicht bloß durch Worte; wir lehren auch weit eindringender durch unser Beispiel; und jeder, der in der Gesellschaft lebt, ist ihr ein gutes Beispiel schuldig, weil die Kraft des Beispiels erst durch unser Leben in der Gesellschaft entsteht. Wie viel mehr ist der Gelehrte dies schuldig, der in allen Stücken der Kultur den übrigen Ständen zuvor sein soll! […] Also der Gelehrte, in der letzten Rücksicht betrachtet, soll der sittlich beste Mensch seines Zeitalters sein: er soll die höchste Stufe der bis auf ihn möglichen sittlichen Ausbildung in sich darstellen.« (Fichte 1959, 50-53 gekürzt).

Es findet auch eine Gleichsetzung zwischen Erziehung und Bildung statt, welche äußerst schwierig ist. Die Öffnung von Bildung für alle Stände sagt über den Inhalt noch nichts. Populär zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig demokratisch zu sein. Damit hat der Begriff der Popularität seine Unschuld verloren. Zusammenfassend urteilt Heinrich Heine (1822): »Der Fichtesche Idealismus gehört zu den kollosalsten Irrtümern, die jemals der menschliche Geist ausgeheckt« (Heine 1981, 622). Herausragende Beutung erhält Fichte für die öffentliche Wissenschaft, weil er wie kaum ein anderer die Sphäre der reinen Theorie, die gerade bei ihm ihr purstes Destillat findet, zerbrochen hat und übergegangen ist zu einer politischen und sogar propagandistischen Praxis.

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Literatur Werke Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 40 Bände. Hg. von Reinhard Lauth, Erich Fuchs und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Über die Bestimmung des Gelehrten. Jena 1794, Nachdruck Verlag Freies Geistesleben. Stuttgart 1959 Die Bestimmung des Menschen. Meiner. Hamburg 2000 Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804. Meiner. Hamburg 1986 Reden an die deutsche Nation. Philipp Reclam jun. Leipzig 1898. Insel-Verlag. Leipzig 1909

Darstellungen Bloch, Ernst: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Bd.5. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1985, 136-188 Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Sämtliche Schriften Bd. 5, dtv. Berlin 1981, 607627 Jacobs, Wilhelm G.: Johann Gottlob Fichte. Rowohlt. Reinbek 1984 Janke, Wolfgang: Johann Gottlieb Fichte In: Fleischer, Margot/Hennigfeld, Jochem: Philosophen des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1998, 35-54 Seidel, Helmut: Johann Gottlieb Fichte zur Einführung. Junius. Hamburg 1997

Zeittafel 1762

1770 1774 1774-1780 1780-1784

19. Mai: Geburt Fichtes in Rammenau als erstes Kind des Bandwirkers Christian Fichte und dessen Frau Johanna Maria Dorothea, geb. Schurich. Ernst Haubold von Miltitz nimmt Fichte zu sich nach Oberau und gibt ihn zu Pfarrer Krebel nach Niederau Besuch der Lateinschule in Meißen Besuch von Schulpforta Studium von Theologie und Jura an den Universitäten in Jena, Wittenberg und Leipzig

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104 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 1784 Tätigkeiten als Hauslehrer in Leipzig 1788-1790 Von September 1788 bis März 1790 Hauslehrer in Zürich. Verlobt mit Johanna Rahn 1790 Wieder Hauslehrer in Leipzig 1791 Im März löst Fichte das Verlöbnis, reist nach Warschau und von dort nach Königsberg, wo er im Juli eintrifft. Er besucht Kant und legt ihm einen Versuch einer Kritik aller Offenbarung vor, die dieser zum Druck empfiehlt 1791-1792 Hauslehrer in Krokow bei Danzig Ende 1792 Fichte in Danzig. Erneuerung des Verlöbnisses mit Johanna Rahn 1793 Von Danzig über Königsberg nach Zürich. Am 22. Oktober heiraten Fichte und Johanna 1794 Grundgedanken seiner Wissenschaftslehre: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (Mai). Seit Mai: Professor in Jena. Über die Bestimmung des Gelehrten. 1794-1795 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1795 Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre 1796 18. Juli: Geburt des Sohnes Immanuel Hartmann (später: Hermann). Grundlage des Naturrechts 1798 System der Sittenlehre. Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung. Am 8. November wird in Kursachsen die Konfiskation des »Philosophischen Journals« verkündet. 1799 Appellation an das Publikum. Fichte und Niethammer, die Herausgeber des »Philosophischen Journals«, werden zur Verantwortung gezogen, Fichte entlassen. 1800 Bestimmung des Menschen. Endgültige Übersiedlung nach Berlin 1800-1803 Bruch mit Reinhold, Schelling, Jacobi. Abrechnung mit Nicolai. 1804 Dreimal Öffentliche Vorlesungen über die Wissenschaftslehre 1805 Im Sommer an der seinerzeit preußischen Universität Erlangen. Beurlaubung für den Winter nach Berlin 1806 Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Anweisung zum seligen Leben. Wieder Beurlaubung. Nach der Niederlage Preußens am 14. Oktober bei Jena und Auerstedt Flucht nach Königsberg

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1808

1810

1811 1812

1813 1814

Reden an die deutsche Nation. Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Erkrankung Fichtes und seiner Familie Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse. Errichtung der Universität Berlin. Fichte Dekan der Philosophischen Fakultät Fichte erster gewählter Rektor Vorzeitiger Rücktritt vom Rektorat anlässlich studentischer Händel. Einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit Ausbruch der Freiheitskriege; Abbruch der Vorlesungen. Wiederaufnahme im Herbst 3. Januar: Erkrankung Johannas. Fichte infiziert sich an ihrer Krankheit. 29. Januar: Tod Fichtes

Fichte Reden an die Deutsche Nation. Wandgemälde Universität Berlin. Arthur Kampf. (Im 2. Weltkrieg zerstört).

Quellentext Erste Rede. Vorerinnerungen und Uebersicht des Ganzen. Als eine Fortsetzung der Vorlesungen, die ich im Winter vor drei Jahren allhier an derselben Stätte gehalten, und welche unter dem Titel: »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« gedruckt sind, habe ich die Reden, die ich hiermit beginne, angekündigt. Ich hatte in jenen Vorlesungen gezeigt, daß unsere Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesammten Weltzeit stehe, welcher Abschnitt den blosen sinnlichen

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106 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe; daß diese Zeit in der einzigen Möglichkeit des genannten Antriebes sich selbst auch vollkommen verstehe und begreife; und daß sie durch diese klare Einsicht ihres Wesens in diesem ihren lebendigen Wesen, tief begründet und unerschütterlich befestigt werde. Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnittes verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwickelung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und dessen Selbständigkeit, verloren; und ihr, da sie gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollte, durch äußerliche Gewalt ein solcher anderer und fremder Zweck aufgedrungen worden. Wer es einmal unternommen hat, seine Zeit zu deuten, der muß mit seiner Deutung auch ihren Fortgang begleiten, falls sie einen solchen Fortgang gewinnt; und so wird es mir denn zur Pflicht, vor demselben Publikum, vor welchem ich etwas als Gegenwart bezeichnete, dasselbe als vergangen anzuerkennen, nachdem es aufgehört hat, die Gegenwart zu sein. Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche. Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrücket ist, und in dieser ihm nur der Ruhm des Gehorchens übrig bleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eigenen Abschnitt in der Zeit begönne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte; doch müßte, da es einmal unterworfen ist fremder Gewalt, diese neue Welt also beschaffen sein, daß sie unvernommen bliebe jener Gewalt, und ihre Eifersucht auf keine Weise erregte, ja, daß diese durch ihren eigenen Vortheil bewegt würde, der Gestaltung einer solchen kein Hinderniß in den Weg zu legen. Falls es nun eine also beschaffene Welt, als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit, geben sollte, für ein Geschlecht, das sein bisheriges Selbst, und seine bisherige Zeit und Welt verloren hat, so

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käme es einer allseitigen Deutung selbst der möglichen Zeit zu, diese also beschaffene Welt anzugeben. Nun halte ich meines Orts dafür, daß es eine solche Welt gebe, und es ist der Zweck dieser Reden, Ihnen das Dasein und den wahren Eigenthümer derselben nachzuweisen, ein lebendiges Bild derselben vor ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben. In dieser Weise demnach werden diese Reden eine Fortsetzung der ehemals gehaltenen Vorlesungen über die damals gegenwärtige Zeit sein, indem sie enthüllen werden das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll. Bevor ich jedoch dieses Geschäft beginne, muß ich Sie ersuchen vorauszusetzen, also daß es Ihnen niemals entfalle, und einverstanden zu sein mit mir, wo und inwieferne dies nöthig ist, über die folgenden Punkte: 1) Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Sie, E. V., sind zwar meinem leiblichen Auge die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen, und der sichtbare Brennpunkt, in welchem die Flamme meiner Rede sich entzündet; aber mein Geist versammelt den gebildeten Theil der ganzen deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her, bedenkt und beachtet unser aller gemeinsame Lage und Verhältnisse, und wünschet, daß ein Theil der lebendigen Kraft, mit welcher diese Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem stummen Abdrucke, welcher allein unter die Augen der Abwesenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm athme, und an allen Orten deutsche Gemüther zu Entschluß und That entzünde. Blos von Deutschen und für Deutsche schlechtweg, sagte ich. Wir werden zu seiner Zeit zeigen, daß jedwede andere Einheitsbezeichnung oder Nationalband entweder niemals Wahrheit und Bedeutung hatte, oder, falls es sie gehabt hätte, daß diese Vereinigungspunkte durch unsere dermalige Lage vernichtet, und uns entrissen sind, und niemals wiederkehren können; und daß es lediglich der gemeinsame Grundzug der Deutschheit ist, wodurch wir den Untergang unserer Nation im Zusammenfließen derselben mit dem Auslande, abwehren, und worin wir ein auf ihm selber ruhendes, und aller Abhängigkeit durchaus unfähiges Selbst, wiederum gewinnen können. Es wird, so wie wir dieses letztere einsehen

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108 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens werden, zugleich der scheinbare Widerspruch dieser Behauptung mit anderweitigen Pflichten, und für heilig gehaltenen Angelegenheiten, den vielleicht dermalen mancher fürchtet, vollkommen verschwinden. Ich werde darum, da ich ja nur von Deutschen überhaupt rede, manches, das von den allhier versammelten nicht zunächst gilt, aussprechen, als dennoch von uns geltend, so wie ich anderes, das zunächst nur von uns gilt, aussprechen werde, als für alle Deutsche geltend. Ich erblicke in dem Geiste, dessen Ausfluß diese Reden sind, die durch einander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgend eines andern Gliedes Schicksal, für ein ihm fremdes Schicksal hält, die da entstehen soll und muß, wenn wir nicht ganz zu Grunde gehen sollen, – ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig dastehend. 2) Ich setze voraus solche deutsche Zuhörer, welche nicht etwa mit allem was sie sind, rein aufgehen in dem Gefühle des Schmerzes über den erlittenen Verlust, und in diesem Schmerze sich wohlgefallen, und an ihrer Untröstlichkeit sich weiden, und durch dieses Gefühl sich abzufinden gedenken mit der an sie ergehenden Aufforderung zur That; sondern solche, die selbst über diesen gerechten Schmerz zu klarer Besonnenheit und Betrachtung sich schon erhoben haben, oder wenigstens fähig sind, sich dazu zu erheben. Ich kenne jenen Schmerz, ich habe ihn gefühlt wie einer, ich ehre ihn; die Dumpfheit, welche zufrieden ist, wenn sie Speise und Trank findet, und kein körperlicher Schmerz ihr zugefügt wird, und für welche Ehre, Freiheit, Selbständigkeit leere Namen sind, ist seiner unfähig: aber auch er ist lediglich dazu da, um zu Besinnung, Entschluß und That uns anzuspornen; dieses Endzwecks verfehlend, beraubt er uns der Besinnung, und aller uns noch übrig gebliebenen Kräfte, und vollendet so unser Elend, indem er noch überdies, als Zeugniß von unserer Trägheit und Feigheit, den sichtbaren Beweis gibt, daß wir unser Elend verdienen. Keineswegs aber gedenke ich Sie zu erheben über diesen Schmerz, durch Vertröstungen auf eine Hilfe, die von außen herkommen solle, und durch Verweisungen auf allerlei mögliche Ereignisse, und Veränderungen, die etwa die Zeit herbeiführen könne; denn, falls auch nicht diese Denkart, die lieber in der wankenden Welt der Möglichkeiten schweifen, als auf das Nothwendige sich heften mag, und die ihre Rettung lieber dem blinden Ohngefähr, als sich selber, verdanken will, schon an sich von dem sträflichsten Leichtsinne, und der tiefsten Verachtung seiner selbst zeugte, so wie sie es thut, so haben auch noch überdies alle Vertröstungen und Verweisungen dieser Art durchaus keine Anwendung auf unsere Lage. Es läßt sich der strenge Beweis

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führen, und wir werden ihn zu seiner Zeit führen, daß kein Mensch, und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann, sondern daß allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll. Vielmehr werde ich Sie zu erheben suchen über den Schmerz, durch klare Einsicht in unsere Lage, in unsere noch übrig gebliebene Kraft, in die Mittel unserer Rettung. Ich werde darum allerdings einen gewissen Grad der Besinnung, eine gewisse Selbstthätigkeit, und einige Aufopferung anmuthen, und rechne darum auf Zuhörer, denen sich soviel anmuthen läßt. Uebrigens sind die Gegenstände dieser Anmuthung insgesammt leicht, und setzen kein größeres Maß von Kraft voraus, als man, wie ich glaube, unserem Zeitalter zutrauen kann; was aber die Gefahr betrifft, so ist dabei durchaus keine. 3) Indem ich eine klare Einsicht der Deutschen, als solcher, in ihre gegenwärtige Lage hervorzubringen gedenke; setze ich voraus Zuhörer, die da geneigt sind, mit eigenen Augen die Dinge dieser Art zu sehen, keineswegs aber solche, die es bequemer finden, ein fremdes und ausländisches Seh-Werkzeug, das entweder absichtlich auf Täuschung berechnet ist, oder das auch natürlich, durch seinen andern Standpunkt, und durch das geringere Maß von Schärfe, niemals auf ein deutsches Auge paßt, bei Betrachtung dieser Gegenstände sich unterschieben zu lassen. Ferner setze ich voraus, daß diese Zuhörer in dieser Betrachtung mit eigenen Augen den Muth haben, redlich hin zu sehen auf das, was da ist, und redlich sich zu gestehen, was sie sehen und daß sie jene häufig sich zeigende Neigung, über die eigenen Angelegenheiten sich zu täuschen, und ein weniger unerfreuliches Bild von denselben, als mit der Wahrheit bestehen kann, sich vorzuhalten, entweder schon besiegt haben, oder doch fähig sind, sie zu besiegen. Jene Neigung ist ein feiges Entfliehen vor seinen eigenen Gedanken, und kindischer Sinn, der da zu glauben scheint, wenn er nur nicht sehe sein Elend, oder wenigstens sich nicht gestehe, daß er es sehe, so werde dieses Elend dadurch auch in der Wirklichkeit aufgehoben, wie es aufgehoben ist in seinem Denken. Dagegen ist es mannhafte Kühnheit, das Uebel fest ins Auge zu fassen, es zu nötigen Stand zu halten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen, und es aufzulösen in seine Bestandteile. Auch wird man nur durch diese klare Einsicht des Uebels Meister, und geht in der Bekämpfung desselben einher mit sicherem Schritte, indem man, in jedem Theile das Ganze übersehend, immer weiß, wo man sich befinde, und durch die einmal erlangte Klarheit seiner Sache gewiß ist, dagegen der andere, ohne festen Leitfaden, und ohne sichere Gewißheit, blind und träumend herumtappt.

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110 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Warum sollten wir denn auch uns scheuen vor dieser Klarheit? Das Uebel wird durch die Unbekanntschaft damit nicht kleiner, noch durch die Erkenntniß größer; es wird nur heilbar durch die letztere; die Schuld aber soll hier gar nicht vorgerückt werden. Züchtige man durch bittere Strafrede, durch beißenden Spott, durch schneidende Verachtung die Trägheit und die Selbstsucht, und reize sie, wenn auch zu nichts besserem, doch wenigstens zum Hasse und zur Erbitterung gegen den Erinnerer selbst, als doch auch einer kräftigen Regung, an, – so lange die nothwendige Folge, das Uebel, noch nicht vollendet ist, und von der Besserung noch Rettung oder Milderung sich erwarten läßt. Nachdem aber dieses Uebel also vollendet ist, daß es uns auch die Möglichkeit auf diese Weise fortzusündigen benimmt, wird es zwecklos, und sieht aus wie Schadenfreude, gegen die nicht mehr zu begehende Sünde noch ferner zu schelten; und die Betrachtung fällt sodann aus dem Gebiete der Sittenlehre in das der Geschichte, für welche die Freiheit vorüber ist, und die das Geschehene als nothwendigen Erfolg aus dem Vorhergegangenen ansieht. Es bleibt für unsere Reden keine andere Ansicht der Gegenwart übrig, als diese letzte, und wir werden darum niemals eine andere nehmen. Diese Denkart also, daß man sich als Deutschen schlechtweg denke, daß man nicht gefesselt sei durch den Schmerz, daß man die Wahrheit sehen wolle, und den Muth habe ihr ins Auge zu blicken, setze ich voraus, und rechne auf sie bei jedem Worte, das ich sagen werde, und so jemand eine andere in diese Versammlung mitbrächte, so würde derselbe die unangenehmen Empfindungen, die ihm hier gemacht werden könnten, lediglich sich selbst zuzuschreiben haben. Dies sei hiemit gesagt für immer, und abgethan: und ich gehe nun an das andere Geschäft, Ihnen den Grundinhalt aller folgenden Reden in einer allgemeinen Uebersicht vorzulegen. Irgendwo, sagte ich im Eingange meiner Rede, habe die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwickelung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und das Vermögen, sich selbstständig ihre Zwecke zu setzen, verloren habe. Diese nunmehr erfolgte Vernichtung der Selbstsucht war der von mir angegebene Fortgang der Zeit, und das durchaus neue Ereigniß in derselben, das nach mir eine Fortsetzung meiner ehemaligen Schilderung der Zeit so möglich wie nothwendig machte; diese Vernichtung wäre somit unsere eigentliche Gegenwart, an welche unser neues Leben in einer neuen Welt, deren Dasein ich gleichfalls behauptete, unmittelbar angeknüpft werden müßte, sie wäre daher auch der eigentliche Ausgangspunkt meiner Reden; und ich hät-

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te vor allen Dingen zu zeigen, wie und warum eine solche Vernichtung der Selbstsucht aus ihrer höchsten Entwickelung nothwendig erfolge. Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist die Selbstsucht, wenn, nachdem sie erst mit unbedeutender Ausnahme die Gesammtheit der Regierten ergriffen, sie von diesen aus sich auch der Regierenden bemächtigt, und deren alleiniger Lebenstrieb wird. Es entsteht einer solchen Regierung zuförderst nach außen die Vernachlässigung aller Bande, durch welche ihre eigene Sicherheit an die Sicherheit anderer Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des Ganzen, dessen Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und die traurige Täuschung der Selbstsucht, daß sie Frieden habe, so lange nur die eigenen Grenzen nicht angegriffen sind; sodann nach innen jene weichliche Führung der Zügel des Staats, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde zu nennen ist. Wenn sie auch der Regierenden sich bemächtigt, habe ich gesagt. Ein Volk kann durchaus verdorben sein, d. i. selbstsüchtig, denn die Selbstsucht ist die Wurzel aller andern Verderbtheit, – und dennoch dabei nicht nur bestehen, sondern sogar äußerlich glänzende Thaten verrichten, wenn nur nicht seine Regierung eben also verdirbt; ja die letztere sogar kann auch nach außen treulos und pflicht- und ehrvergessen handeln, wenn sie nur nach innen den Muth hat, die Zügel des Regiments mit straffer Hand anzuhalten, und die größere Furcht für sich zu gewinnen. Wo aber alles eben genannte sich vereinigt, da geht das gemeine Wesen bei dem ersten ernstlichen Angriffe, der auf dasselbe geschieht, zu Grunde, und so, wie es selbst erst treulos sich ablöste von dem Körper, dessen Glied es war, so lösen jetzt seine Glieder, die keine Furcht vor ihm hält, und die die größere Furcht vor dem Fremden treibt, mit derselben Treulosigkeit sich ab von ihm, und gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier ergreift die nun vereinzelt stehenden abermals die größere Furcht, und sie geben in reichlicher Spende, und mit erzwungen fröhlichem Gesichte dem Feinde, was sie kärglich und äußerst unwillig dem Verteidiger des Vaterlandes geben; bis späterhin auch die von allen Seiten verlassenen, und verrathenen Regierenden genöthigt werden, durch Unterwerfung und Folgsamkeit gegen fremde Plane ihre Fortdauer zu erkaufen; und so nun auch diejenigen, die im Kampfe für das Vaterland die Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren lernen, dieselben gegen das Vaterland tapfer zu führen. So geschieht es, daß die Selbstsucht durch ihre höchste Entwicklung

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112 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens vernichtet, und denen, die gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollten, durch fremde Gewalt ein solcher anderer Zweck aufgedrungen wird. Keine Nation, die in diesen Zustand der Abhängigkeit herabgesunken, kann durch die gewöhnlichen und bisher gebrauchten Mittel sich aus demselben erheben. War ihr Widerstand fruchtlos, als sie noch im Besitze aller ihrer Kräfte war, was kann derselbe sodann fruchten, nachdem sie des größten Theils derselben beraubt ist? Was vorher hätte helfen können, nämlich wenn die Regierung derselben die Zügel kräftig und straff angehalten hätte, ist nun nicht mehr anwendbar, nachdem diese Zügel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und diese ihre Hand selbst durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird. Auf sich selbst kann eine solche Nation nicht länger rechnen; und eben so wenig kann sie auf den Sieger rechnen. Dieser müßte eben so unbesonnen, und eben so feige und verzagt sein, als jene Nation selbst erst war, wenn er die errungenen Vorteile nicht fest hielte, und sie nicht auf alle Weise verfolgte. Oder wenn er einst im Verlauf der Zeiten doch so unbesonnen und feige würde, so würde er zwar eben also zu Grunde gehen, wie wir, aber nicht zu unserem Vortheile, sondern er würde die Beute eines neuen Siegers und wir würden die sich von selbst verstehende, wenig bedeutende Zugabe zu dieser Beute. Sollte eine so gesunkene Nation dennoch sich retten können, so müßte dies durch ein ganz neues, bisher noch niemals gebrauchtes Mittel, vermittelst der Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge, geschehen. Lassen Sie uns also sehen, welches in der bisherigen Ordnung der Dinge der Grund war, warum es mit dieser Ordnung irgend einmal nothwendig ein Ende nehmen mußte, damit wir an dem Gegentheile dieses Grundes des Untergangs das neue Glied finden, welches in die Zeit eingefügt werden müßte, damit an ihm die gesunkene Nation sich aufrichte zu einem neuen Leben. Man wird in Erforschung jenes Grundes finden, daß in allen bisherigen Verfassungen die Theilnahme am Ganzen geknüpft war an die Theilnahme des Einzelnen an sich selbst, vermittelst solcher Bande, die irgendwo so gänzlich zerrissen, daß es gar keine Theilnahme für das Ganze mehr gab, – durch die Bande der Furcht und Hoffnung für die Angelegenheiten des Einzelnen aus dem Schicksale des Ganzen, in einem künftigen, und in dem gegenwärtigen Leben. Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen durch Religion aufhob, zugleich auch andere Ergänzungs- und stellvertretende Mittel der sittlichen Denkart, als da sind Liebe zum Ruhm, und National-

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ehre, als täuschende Trugbilder begriff; die Schwäche der Regierungen war es, welche die Furcht für die Angelegenheiten des Einzelnen aus seinem Betragen gegen das Ganze, selbst für das gegenwärtige Leben, durch häufige Straflosigkeit der Pflichtvergessenheit aufhob, und eben so auch die Hoffnung unwirksam machte, indem sie dieselbe gar oft, ohne alle Rücksicht auf Verdienste um das Ganze, nach ganz andern Regeln und Bewegungsgründen, befriedigte. Bande solcher Art waren es, die irgendwo gänzlich zerrissen, und durch deren Zerreißung das gemeine Wesen sich auflöste. Immerhin mag von nun an der Sieger das, was allein auch er kann, emsiglich thun, nämlich den letzten Theil des Bindungsmittels, die Furcht und Hoffnung für das gegenwärtige Leben, wiederum anknüpfen und verstärken; damit ist nur ihm geholfen, keineswegs aber uns, denn so gewiß er seinen Vortheil versteht, knüpft er an dieses erneute Band zu allererst nur seine Angelegenheit, die unsrige aber nur in so weit, inwiefern die Erhaltung unserer, als Mittel für seine Zwecke, ihm selbst zur Angelegenheit wird. Für eine so verfallene Nation ist von nun an Furcht und Hoffnung völlig aufgehoben, indem deren Leitung ihrer Hand entfallen ist, und sie zwar selber zu fürchten hat und zu hoffen, vor ihr aber von nun an kein Mensch sich weiter fürchtet, oder von ihr etwas hofft; und es bleibt ihr nichts übrig, als ein ganz anderes und neues, über Furcht und Hoffnung erhabenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheiten ihrer Gesammtheit an die Theilnahme eines jeden aus ihr für sich selber anzuknüpfen. Ueber den sinnlichen Antrieb der Furcht oder Hoffnung hinaus, und zunächst an ihn angrenzend, liegt der geistige Antrieb der sittlichen Billigung oder Mißbilligung, und der höhere Affect des Wohlgefallens oder Mißfallens an unserem und anderer Zustande. So wie das an Reinlichkeit und Ordnung gewöhnte äußere Auge durch einen Flecken, der ja unmittelbar dem Leibe keinen Schmerz zufügt, oder durch den Anblick verworren durch einander liegender Gegenstände dennoch gepeinigt, und geängstet wird, wie vom unmittelbaren Schmerze, indeß der des Schmutzes und der Unordnung Gewohnte sich in demselben recht wohl befindet: eben also kann auch das innere geistige Auge des Menschen so gewöhnt und gebildet werden, daß der blose Anblick eines verworrenen und unordentlichen, eines unwürdigen und ehrlosen Daseins seiner selbst und seines verbrüderten Stammes, ohne Rücksicht auf das, was davon für sein sinnliches Wohlsein zu fürchten oder zu hoffen sei, ihm innig wehe thue, und daß dieser Schmerz dem Besitzer eines solchen Auges, abermals ganz unabhängig von sinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe lasse, bis er, so viel an ihm ist,

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114 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens den ihm mißfälligen Zustand aufgehoben, und den, der ihm allein gefallen kann, an seine Stelle gesetzt habe. Im Besitzer eines solchen Auges ist die Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen, durch das treibende Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, an die Angelegenheit seines eignen erweiterten Selbst, das nur als Theil des Ganzen sich fühlt, und nur im gefälligen Ganzen sich ertragen kann, unabtrennbar angeknüpft; die Sichbildung zu einem solchen Auge wäre somit ein sicheres und das einzige Mittel, das einer Nation, die ihre Selbständigkeit, und mit ihr allen Einfluß auf die öffentliche Furcht und Hoffnung verloren hat, übrig bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung sich wieder ins Dasein zu erheben, und dem entstandenen neuen und höheren Gefühle ihre National-Angelegenheiten, die seit ihrem Untergange kein Mensch und kein Gott weiter bedenkt, sicher anzuvertrauen. So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe in der Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei Einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewesenen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitzthum bleibt, oder, falls es auch von ihr auf an andere kommen sollte ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Theilung; mit Einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe. Daß man den Kindern eine gute Erziehung geben müsse, ist auch in unserem Zeitalter oft genug gesagt, und bis zum Ueberdrusse wiederholt worden, und es wäre ein geringes, wenn auch wir unseres Ortes dies gleichfalls einmal sagen wollten. Vielmehr wird uns, so wir ein anderes zu vermögen glauben, obliegen, genau und bestimmt zu untersuchen, was eigentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe, und anzugeben, welches durchaus neue Glied die veränderte Erziehung der bisherigen Menschenbildung hinzufügen müsse. Mau muß, nach einer solchen Untersuchung, der bisherigen Erziehung zugestehen, daß sie nicht ermangelt, irgend ein Bild von religiöser, sittlicher, gesetzlicher Denkart, und von allerhand Ordnung und guter Sitte vor das Auge ihrer Zöglinge zu bringen, auch daß sie hier und da dieselben getreulich ermahnt habe, jenen Bildern in ihrem Leben einen Abdruck zu geben; aber mit höchst seltenen Ausnahmen, die somit nicht durch diese Erziehung begründet waren, indem sie sodann an allen durch diese Bildung hindurchgegangenen, und als die Regel, hätten eintreten müssen, sondern die durch andere Ursachen

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herbeigeführt worden, – mit diesen höchstseltenen Ausnahmen, sage ich, sind die Zöglinge dieser Erziehung insgesammt nicht jenen sittlichen Vorstellungen und Ermahnungen, sondern sie sind den Antrieben ihrer, ihnen natürlich, und ohne alle Beihilfe der Erziehungskunst, erwachsenden Selbstsucht, gefolgt; zum unwidersprechlichen Beweise, daß diese Erziehungskunst zwar wol das Gedächtniß mit einigen Worten und Redensarten, und die kalte und theilnehmungslose Phantasie mit einigen matten und blassen Bildern anzufüllen vermocht, daß es ihr aber niemals gelungen, ihr Gemälde einer sittlichen Weltordnung bis zu der Lebhaftigkeit zu steigern, daß ihr Zögling von der heißen Liebe und Sehnsucht dafür, und von dem glühenden Affecte, der zur Darstellung im Leben treibt, und vor welchem die Selbstsucht abfällt, wie welkes Laub, ergriffen worden; daß somit diese Erziehung weit davon entfernt gewesen sei, bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und Bewegung durchzugreifen, und diese zu bilden, indem diese vielmehr, unbeachtet von der blinden und ohnmächtigen, allenthalben wild aufgewachsen sei, wie sie gekonnt habe, zu guter Frucht bei wenigen durch Gott begeisterten, zu schlechter bei der großen Mehrzahl. Auch ist es dermalen vollkommen hinlänglich, diese Erziehung durch diesen ihren Erfolg zu zeichnen, und kann man für unsern Behuf sich des mühsamen Geschäfts überheben, die innern Säfte und Adern eines Baumes zu zergliedern, dessen Frucht dermalen vollständig reif ist, und abgefallen, und vor aller Welt Augen liegt, und höchst deutlich und verständlich ausspricht die innere Natur ihres Erzeugers. Der Strenge nach wäre dieser Ansicht zu Folge, die bisherige Erziehung auf keine Weise die Kunst der Bildung zum Menschen gewesen, wie sie sich denn dessen auch eben nicht gerühmt, sondern gar oft ihre Ohnmacht, durch die Forderung, ihr ein natürliches Talent, oder Genie, als Bedingung ihres Erfolgs voraus zu geben, freimüthig gestanden; sondern es wäre eine solche Kunst erst zu erfinden, und die Erfindung derselben wäre die eigentliche Aufgabe der neuen Erziehung. Das ermangelnde Durchgreifen bis in die Wurzel der Lebens-Regung und -Bewegung hätte diese neue Erziehung der bisherigen hinzuzufügen, und wie die bisherige höchstens etwas am Menschen, so hätte diese den Menschen selbst zu bilden, und ihre Bildung keineswegs, wie bisher, zu einem Besitzthume, sondern vielmehr zu einem persönlichen Bestandteile des Zöglings zu machen. Ferner wurde bisher diese also beschränkte Bildung nur an die sehr geringe Minderzahl der eben daher gebildet genannten Stände gebracht, die große Mehrzahl aber, auf welcher das gemeine Wesen recht eigentlich ruht, das Volk, wurde von der Erziehungskunst fast ganz

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116 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens vernachlässigt, und dem blinden Ohngefähr übergeben. Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesammtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe Eine Angelegenheit; so wir aber etwa hierbei abermals einen gebildeten Stand, der etwa durch den neu entwickelten Antrieb der sittlichen Billigung belebt würde, absondern wollten von einem ungebildeten, so würde dieser letzte, da Hoffnung und Furcht, durch welche allein noch auf ihn gewirkt werden könnte, nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, von uns abfallen, und uns verloren gehen. Es bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derselben, werde, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicklung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei, und verschwinde; und daß auf diese Weise unter uns keineswegs Volks-Erziehung, sondern eigenthümliche deutsche National-Erziehung entstehe. Ich werde Ihnen darthun, daß eine solche Erziehungskunst, wie wir sie begehren, wirklich schon erfunden ist und ausgeübt wird, so daß wir nichts mehr zu thun haben, als das sich uns darbietende anzunehmen, welches, so wie ich dies oben von dem vorzuschlagenden Rettungsmittel versprach, ohne Zweifel kein größeres Maß von Kraft erfordert, als man bei unserem Zeitalter billig voraussetzen kann. Ich fügte diesem Versprechen noch ein anderes bei, daß nämlich, was die Gefahr anbelange, bei unserem Vorschlage durchaus keine sei, indem es der eigne Vortheil der über uns gebietenden Gewalt erfordere, die Ausführung jenes Vorschlags eher zu befördern, als zu hindern. Ich finde zweckmäßig, sogleich in dieser ersten Rede über diesen Punkt mich deutlich auszusprechen. Zwar sind so in alter wie in neuer Zeit gar häufig die Künste der Verführung und der sittlichen Herabwürdigung der Unterworfenen, als ein Mittel der Herrschaft mit Erfolg gebraucht worden; man hat durch lügenhafte Erdichtungen, und durch künstliche Verwirrung der Begriffe und der Sprache, die Fürsten vor den Völkern, und diese vor jenen verleumdet, um die entzweiten sicherer zu beherrschen, man hat alle Antriebe der Eitelkeit und des Eigennutzes listig aufgereizt und entwickelt, um die Unterworfenen verächtlich zu machen, und so mit einer Art von gutem Gewissen sie zu zertreten: aber man würde einen sicher zum Verderben führenden Irrthum begehen, wenn man mit

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uns Deutschen diesen Weg einschlagen wollte. Das Band der Furcht und der Hoffnung abgerechnet, beruht der Zusammenhang desjenigen Theils des Auslandes, mit dem wir dermalen in Berührung kommen, auf den Antrieben der Ehre und des Nationalruhms; aber die deutsche Klarheit hat vorlängst bis zur unerschütterlichen Ueberzeugung eingesehen, daß dieses leere Trugbilder sind, und daß keine Wunde, und keine Verstümmelung des Einzelnen durch den Ruhm der ganzen Nation geheilt wird; und wir dürften wol, so nicht eine höhere Ansicht des Lebens an uns gebracht wird, gefährliche Prediger dieser sehr begreiflichen und manchen Reiz bei sich führenden Lehre werden. Ohne darum noch neues Verderben an uns zu nehmen, sind wir schon in unserer natürlichen Beschaffenheit eine unheilbringende Beute; nur durch die Ausführung des gemachten Vorschlages können wir eine heilbringende werden: und so wird denn, so gewiß das Ausland seinen Vortheil versteht, dasselbe durch diesen selbst bewegt, uns lieber auf die letzte Weise haben wollen, denn auf die erste. Insbesondere nun wendet mit diesem Vorschlage meine Rede sich an die gebildeten Stände Deutschlands, indem sie diesen noch am ersten verständlich zu werden hofft, und trägt zu allernächst ihnen an, sich zu den Urhebern dieser neuen Schöpfung zu machen, und dadurch theils mit ihrer bisherigen Wirksamkeit die Welt auszusöhnen, theils ihre Fortdauer in der Zukunft zu verdienen. Wir werden im Fortgange dieser Reden ersehen, daß bis hierher alle Fortentwickelung der Menschheit in der deutschen Nation vom Volke ausgegangen, und daß an dieses immer zuerst die großen Nationalangelegenheiten gebracht, und von ihm besorgt und weiter befördert worden; daß es somit jetzt zum ersten Male geschieht, daß den gebildeten Ständen die ursprüngliche Fortbildung der Nation angetragen wird, und daß, wenn sie diesen Antrag wirklich ergriffen, auch dies das erste Mal geschehen würde. Wir werden ersehen, daß diese Stände nicht berechnen können, auf wie lange Zeit es noch in ihrer Gewalt stehen werde, sich an die Spitze dieser Angelegenheit zu stellen, indem dieselbe bis zum Vortrage an das Volk schon beinahe vorbereitet und reif sei, und an Gliedern aus dem Volke geübt werde, und dieses nach kurzer Zeit ohne alle unsere Beihilfe sich selbst werde helfen können, woraus für uns blos das erfolgen werde, daß die jetzigen Gebildeten und ihre Nachkommen zum Volke werden, aus dem bisherigen Volke aber ein anderer höherer gebildeter Stand emporkomme. Nach allem ist es der allgemeine Zweck dieser Reden, Muth und Hoffnung zu bringen in die Zerschlagenen, Freude zu verkündigen in die tiefe Trauer, über die Stunde der größten Vedrängniß leicht und

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118 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens sanft hinüber zu leiten. Die Zeit erscheint mir wie ein Schatten, der über seinem Leichname, aus dem so eben ein Heer von Krankheiten ihn heraus getrieben, steht und jammert, und seinen Blick nicht loszureißen vermag von der ehedem so geliebten Hülle, und verzweifelnd alle Mittel versucht, um wieder hineinzukommen in die Behausung der Seuche. Zwar haben schon die belebenden Lüfte der anderen Welt, in die die abgeschiedene eingetreten, sie aufgenommen in sich, und umgeben sie mit warmem Liebeshauche, zwar begrüßen sie schon freudig heimliche Stimmen der Schwestern, und heißen sie willkommen, zwar regt es sich schon und dehnt sich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Gestalt, zu der sie erwachsen soll, zu entwickeln; aber noch hat sie kein Gefühl für diese Lüfte, oder Gehör für diese Stimmen, oder wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in Schmerz über ihren Verlust, mit welchem sie zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt. Was ist mit ihr zu thun? Auch die Morgenröthe der neuen Welt ist schon angebrochen, und vergoldet schon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen soll. Ich will, so ich es kann, die Strahlen dieser Morgenröthe fassen, und sie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die trostlose Zeit sich erblicke, damit sie glaube, daß sie noch da ist, und in ihm ihr wahrer Kern sich ihr darstelle, und die Entfaltungen und Gestaltungen desselben in einem weissagenden Gesichte vor ihr vorüber gehen. In diese Anschauung hinein wird ihr denn ohne Zweifel auch das Bild ihres bisherigen Lebens versinken, und verschwinden, und der Todte wird ohne übermäßiges Weheklagen zu seiner Ruhestätte gebracht werden können. (Fichte: Reden an die deutsche Nation. Philipp Reclam jun. Leipzig 1898)

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Alexander von Humboldt

Alexander von Humboldt (1769-1859)

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Kosmos als Einheit und Vielfalt: Alexander von Humboldt

Unablässig war er damit beschäftigt zu beobachten, zu messen, zu vergleichen und das alles zu sammeln und zu ordnen. »Der mexikanische Historiker Jaime Labastida Ochoa hat für die sieben Tage vom 22. März 1803, als Humboldt aus Peru kommend in Acapulco eintraf bis zu seiner Abreise nach Mexiko-Stadt am 29. März 1803 rekonstruiert: ›Humboldt berechnet exakt den Breiten- und Längengrad des Hafens. Er misst die Lufttemperatur, gräbt im Gebirge Mineralien aus, bestätigt die Tatsache, dass die Selementschichten der Erdoberfläche auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans identisch sind. Er zieht die trigonometrischen Linien, die es ihm erlauben, den Plan der Bucht zu zeichnen. Zusammen mit Aime Bonpland sammelt er Pflanzen, notiert Höhe, Länge und Breite des Fundorts, studiert ihre Morphologie und klassifiziert sie nach dem Linne’schen System. Außerdem kopiert er Inschriften, zeichnet Bauten und Denkmäler sowie das Profil der Gebirgszüge der Umgebung. Er notiert die Einwohnerzahl der Hafenstadt, charakterisiert das wirtschaftliche Leben, die Hauptgüter der Küstenschifffahrt: Kupfer, Öl, Wein aus Chile, Zucker und Chinin aus Peru, Kakao aus Guayaquil. Er stellt sich den Honoratioren der Hafenstadt vor und verfasst ein Schreiben an den Vizekönig Iturrigaray, indem er seine Ankunft ankündigt und die Gründe seiner Reise so mitteilt. Umgeben von seinen Instrumenten – rund 30 an der Zahl, darunter drei Teleskope, eine Längenuhr, ein Sextant, ein Inklinometer, ein Pendel, zwei Barometer und ein Thermometer sowie ein Mikroskop – arbeitet er Tag und Nacht. Auch Reagenzien und Behälter führt er für Analysen vor Ort mit sich‹« (zit. Schlögl 2004, 16).

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122 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Alexander von Humboldt (1769-1859) potenziert die Skurrilität vieler »Naturforscher« in ihrer Obsession und Faszination durch ihren Gegenstand. Der Abkömmling eines preußischen Adelsgeschlechtes reist in die entlegendsten Winkel der Welt, tritt auf wie ein Dandy im Urwald, klettert auf den Chimborazo, den höchsten Berg Perus, ohne jegliche Bergausrüstung und mit Stofffetzen um die blutenden Hände gebunden. Er erreicht den Gipfel nicht. Aber er war so hoch wie nie ein Mensch. Er war ein manischer Wissenschaftler. Er war ein mit Geld, Ansehen und Geist ausgestatteter preußischer Adliger und Privilegierter. Am 14. September 1769 als jüngerer Bruder von Wilhelm von Humboldt geboren, hatte er verschiedene Hauslehrer. Einer davon war Johann Heinrich Campe (1746-1818), der mit den Humboldt-Brüdern 1789 das revolutionäre Paris besuchte.

Unrast und Obsession der Forschungsreisen Alexander von Humboldt wurde weltberühmt als Naturforscher und Entdecker. Schon als junger Mann hatte er sich im Harz und in Thüringen die Bergwerke angesehen, angefangen die Bedingungen des Bergbaus zu studieren und zu verbessern. Getrieben wurde er durch eine absolute Bessesenheit. Er war Ethnograph, Anthropologe, Physiker, Geologe, Mineraloge, Botaniker, Vulkanologe, Geograph und entwickelte Klimatologie und Ozeanographie. Seine Sehnsucht nach Fernreisen wurde weiter angeregt durch die Freundschaft mit Georg Forster, der 1772 bis 1775 James Cook auf dessen zweiter Weltreise begleitet hatte. Bei seinen Reisen verfolgte er keinen starren Plan, sondern ließ sich treiben. 1795 machte er eine geologische botanische Tour durch die Schweiz und Italien. 1796 verließ er zusammen mit dem französischen Arzt und Botaniker Aime Bonpland Paris in Richtung Marseille, um nach Ägypten zu segeln. Sie landeten jedoch in Madrid, und wurden vom Minister Raphael Urquijo dazu angeregt, Spanisch-Amerika zum Ziel ihrer Entdeckungsreise zu machen. Am 5. Juni 1799 stachen sie von La Corunha mit der »Pizarro« in See. Sie hielten sich sechs Tage in Teneriffa auf, um dann weiter zu segeln nach Cumana (Venezuela). Von dort begaben sich Humboldt und Bonpland nach Caracas. Im Februar 1800 begannen sie das Flusssystem des Orinoco zu erkunden. Diese Reise dauerte vier Monate und führte 2775 Kilometer durch unentdecktes Land. Es war ein unbekanntes Terrain, das viele weiße Flecken auf der Landkarte aufwies. Humboldt reiste in der modischen Kluft des preußischen Edelmanns im Dschungel:

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Kosmos als Einheit und Vielfalt: Alexander von Humboldt | 123 »Draußen, in Öl gemalt und sehr blau, die fernen Gipfel, die Palmen, die nackten Wilden; drinnen, im Schatten der laubigen Hütte, die Wände verhangen mit Fellen und Riesenfarnen, ein bunter Ara sitzt auf dem Packsattel, der Gefährte im Hintergrund hält eine Blüte unter die Lupe, über die Bücherkisten sind Orchideen verstreut, der Tisch ist bedeckt mit Paradiesfeigen, Karten und Instrumenten: der Künstliche Horizont, die Busole, das Mikroskop, der Theodolit, und messingglänzend der Spiegelsextant mit dem silbernen Limbus; hell in der Mitte auf seinem Feldstuhl sitzt der gefeierte Geognost in seinem Labor, im Dschungel, in Öl gemalt, an den Ufern des Orinoco. (Enzensberger: A.v.H. [1769-1859]. In: Mausoleum siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt a.M. 1975, 56-58.)

An vielen Orten ist Humboldt in Lateinamerika überall zuerst. Er ist begeistert, in dem göttlichsten und wundervollsten Land zu sein; wunderbare Pflanzen, Zitteraale, Tiger, Karmadolle, Affen, Papageien und viele, viele andere Tier- und Pflanzenarten zu sehen. Er besitzt ein emphatisches Naturgefühl. »Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurückläßt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend, als durch die Beleuchtung bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölks, erscheinen. […] Denn in dem innersten, empfänglichen Sinne spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriß der Gebirge, die in der Ferne den Horizont begrenzen das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollen Verkehr mit dem gemütlichen Leben des Menschen. (Humboldt 1969, 33/34).

Humboldt beschreibt die Felsen an den Wasserfällen des Orinoco: »Hier ist der Punkt, wo man eines wundervollen Anblicks genießt. Eine meilenlange schäumende Fläche bietet sich auf einmal dem Auge dar. Eisenschwarze Felsmassen ragen ruinen- und burgartig aus derselben hervor. Jede Insel, jeder Stein ist mit üppig anstrebenden Waldbäumen geschmückt. Dichter Nebel schwebt ewig über dem Wasserspiegel. Durch die dampfende Schaumwolke dringen die Gipfel der hohen Palmen. Wenn sich im feuchten Dufte der Strahl der glühenden Abendsonne bricht, so beginnt ein optischer

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124 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Zauber. Farbige Bögen verschwinden und kehren wieder. Ein Spiel der Lüfte, schwankt das ätherische Bild (ebd. 47).

In den »Ansichten der Natur« entwirft Humboldt viele solcher Naturgemälde, die ästhetischen Anspruch erheben. Nach Cumana zurückgekehrt segeln Humboldt und Bonpland am 24. November 1800 weiter nach Cuba, um dann in Cartagena (Kolumbien) wieder auf das Festland zu kommen. Sie überqueren die Anden und erreichen am 6. Januar 1802 Quito (Ecuador). Von dort aufgebrochen versuchen sie am 23. Juni 1802 den Chimborazo (6310 Meter) zu besteigen. Sie erreichen eine Höhe von etwa 5000 Metern. dabei erleben sie die Höhenkrankheit: Schwindelanfälle, Ohnmachten, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen. »Der Pfad wurde immer schmaler und steiler. Die Eingeborenen verließen uns alle bis auf einen in der Höhe von 15 000 Fuß. […] Wir gelangten mit großer Anstrengung und Geduld höher als wir hoffen durften, da wir meist in Nebel gehüllt blieben. Der Felskamm […] hatte oft nur eine Breite von acht bis zehn Zoll. Zur Linken war der Absturz mit Schnee bedeckt, dessen Oberfläche durch Frost wie verglast erschien, Die dünne Spiegelfläche hatte gegen 30 Grad Neigung. Zur Rechten senkte sich unser Blick schaurig in einen achthundert oder tausend Fuß tiefen Abgrund, aus dem schneelose Felsmassen senkrecht hervorragten. Wir hielten den Körper immer mehr nach dieser Seite hin geneigt; denn der Absturz zur Linken schien noch gefahrvoller, weil sich dort keine Gelegenheit darbot sich mit den Händen an zackig vorstehendem Gesteine festzuhalten, und weil dazu die dünne Eisrinde nicht vor dem Untersinken im lockeren Schnee sicherte. […] . Nach einer Stunde vorsichtigen Klimmens wurde der Felskamm weniger steil, aber leider! blieb der Nebel gleich dick. Wir fingen nun an alle an großer Übelkeit zu leiden. Der Drang zum Erbrechen war mit etwas Schwindel verbunden, und weit lästiger als die Schwierigkeit zu atmen. […] Die Nebelschichten, welche uns hinderten entfernte Gegenstände zu sehen, schienen plötzlich, trotz der totalen Windstille, vielleicht durch elektrische Prozesse, zu zerreißen. Wir erkannten einmal wieder, und zwar ganz nahe, den domförmigen Gipfel des Chimborazo. Es war ein ernster, großartiger Anblick. Die Hoffnung, diesen ersehnten Gipfel zu erreichen, belebte unsere Kräfte aufs neue. Der Felskamm, welcher hier und da mit dünnen Schneeflocken bedeckt war, wurde etwas breiter; wir eilten sicheren Schritts vorwärts, als auf einmal eine Art Talschlucht von etwa 400 Fuß Tiefe und 60 Fuß Durchmesser unserem Unternehmen eine unübersteigbare Grenze setzte., Wir sahen deutlich jenseits des Abgrundes unsern Felskamm in derselben Richtung fortsetzen; jedoch zweifle ich, daß er bis zum Gipfel selbst führt. […] Hier war der Versuch

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Kosmos als Einheit und Vielfalt: Alexander von Humboldt | 125 nicht zu wagen, wegen Lockerheit der Masse; auch macht die Form des Absturzes das Herabklimmen unmöglich. Es war 1 Uhr mittags« (Humboldt 1999, 113-116 gekürzt).

Zurückgekehrt gelangten sie über Peru und Mexiko in die USA. Humboldt wurde als persönlicher Gast von Präsident Thomas Jefferson empfangen. Am 4. August 1804 erreichten sie wieder Bordeaux. Während der gesamten Expedition durch Süd-Lateinamerika haben Humboldt und Bonpland 9650 Kilometer zurückgelegt. Sie haben Längenund Breitengrade bestimmt, Höhenprofile entworfen, 60 000 Pflanzen bestimmt, davon 3 600 bis dahin unbekannte. Über Paris nach Berlin zurückgekehrt unternimmt Humboldt 1829 auf Einladung des russischen Zaren Nikolaus I. im Alter von sechzig Jahren eine Russisch-Sibirische Reise. Die Expedition führte über das Gebirge des Ural, die Steppen Sibiriens, über das Altai-Gebirge zur chinesischen Grenze. Wieder studierte er die Chemie des Wassers, beschrieb Fischarten, sammelte Pflanzen, suchte Gesteinsproben und maß Berghöhen, Temperaturen und Erdmagnetismus. In seinem Russland-Werk »Asie Centrale« (1844) sind die Ergebnisse erschienen.

Naturerkenntnis als Einheit von Erfahrung und Systematik Humboldt ist getrieben von Sammelhunger und Perfektion im Detail. Gleichzeitig verbindet er dieses mit nahezu kindlichem Staunen und versucht die Erscheinungsformen zu ordnen. Er sammelt nicht nur im Reagenzglas, sondern die Tropen sind für ihn ein Sinnesrausch, eine gewaltige Erregung. Zugleich ist Alexander von Humboldt nicht nur der immer Reisende, sondern ein systematischer und reflektierter »Naturforscher«. Es sieht sich dabei in der Nachfolge von Plinius dem Älteren (Kosmos I, 23-79) und dessen »naturalis historia«. Dabei geht es ihm aber darum, nicht nur die Teile, sonders das Ganze zu erfassen. Humboldt war gierig nach Erfahrungen; gleichzeitig versuchte er die einzelnen Wahrnehmungen zuordnen in die Erkenntnis des Weltganzen – »des Kosmos« (Kosmos II, 135). Er unterstellte eine grundlegende, systematische Struktur, die es ermöglichte, zum »Verstehen des Weltplans« (Kosmos III, 10) zu gelangen. In der Lehre vom Kosmos wird »das Einzelne nur in seinem Verhältnis zum Ganzen, als Teil der Weltanschauung betrachtet« (Kosmos I, 40). Er setzt sich ab gegen »Enzyklopädie« in einem schlechten Sinn des Aneinanderreihens all-

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126 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens gemeinster und wichtigster Resultate aus naturhistorischen, physikalischen und astronomischen Schriften. Das zentrale Resultat naturwissenschaftlicher Forschung sei es, »in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem individuellen alles zu erfassen, was die Entdeckung der letzten Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht in ihrem Maße zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk den Geist der Natur zu begreifen, welche unter der Decke der Erscheinung verhüllt liegt« (Kosmos I, 6).

Einerseits kann die Erkenntnis der Natur nicht aus Begriffen hergeleitet werden, sondern ist auf empirische Erfahrung angewiesen (Kosmos I, 32); andererseits können »Thatsachen« nur dann fruchtbringend werden, »[…].wenn Ideen, d.h. Einsicht in den Geist der Natur das Beobachten und Sammeln vernunftmäßig leiten« (ebd. 33). Die Natur zu begreifen, bedeutet, die beiden Sphären ihres Seins, die materielle und die geistige (ebd. 32) zu verbinden und dadurch »beide Sphären des einigen Kosmos (die äußere durch die Sinne wahrnehmbare, wie die innere reflectierte, geistige Welt) gleichmäßig an lichtvoller Klarheit gewinnen« (Kosmos III, 8). Dabei treten »klare Erkenntnisse und Begrenzungen an die Stelle dumpfer Ahndungen und unvollständiger Inductionen« (ebd. 5). Der »Kosmos« ist ein Projekt der Aufklärung über die Welt. Der Kosmos stellt sich dar als Zusammenhang der Welt, als ihre Einheit in der Vielfalt, von Identität und Differenz, die gänzlich nie zu erfassen sind. Alle Erkenntnis bleibt begrenzt, und wer erkennt, weiß, welche Schlussfolgerung über die Beschaffenheit der Welt die Erkenntnis erlaubt und welche nicht. Humboldt begreift den »Kosmos« als Entwurf, geprägt von der »Freude an der errungenen Erkenntnis« aber auch von einer mit »Wehmut gemischten« nie verwindenden Sehnsucht nach noch nicht aufgeschlossenen, unbekannten Regionen des Wissens« (Kosmos I, 81).

Popularisierung als Prüfstein der Forschung Den Wissenschaftlern kommt nur ein gradueller Vorsprung vor »normalen« Menschen zu. Allen gemeinsam ist die prinzipielle Fähigkeit zur umfassenden Welterkenntnis. Streben nach Wissen ist dem Menschen wesensmäßig eigen und zeichnet ihn aus. Hier steht Humboldt voll in der Tradition der Aufklärung, er schreibt: »Wissen und Erken-

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nen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit« (Kosmos I, 36). Hieraus begründet sich eine Verpflichtung zur Popularisierung wissenschaftlichen Wissens. Wenn jedem ein Recht auf Wissen zukommt, dann ist es notwendig, dass diejenigen, die mehr wissen, denjenigen, die weniger wissen, Kenntnisse vermitteln und zu deren Einsicht über das Wesen der Welt beitragen. Popularisierung ist eine unabweisbare Aufgabe. Der Wissenschaftler muss dafür sorgen, dass eine Verbindung des Wissens der Experten mit dem der Laien in der Weise erfolgt, dass sie es aufnehmen können. Ziel ist dabei nicht die »Laien« auf den neuesten Stand der Forschung zu bringen, sondern es wird angestrebt, ihren Geist mit Ideen zu bereichern und die Einbildungskraft lebendig und fruchtbar anzuregen (Kosmos II, 29). Eine so erworbene Bildung ruht nicht auf wissenschaftlichen Resultaten einzelner Gebiete, die zu einer geistreichen Unterhaltung bewegen. Dies wäre Ausdruck einer »Halbcultur« (ebd. 24). Diese aber bildet nicht, sondern verstärkt Vorurteile und ein selbstgefälliges Halbwissen: Eine klare Ansicht der Natur ist dagegen nur auf dem Weg des Suchens und sich in Frage stellen Lassens zu erreichen. »Aus unvollständigen Beobachtungen und noch unvollständigeren Inductionen entstehen irrige Ansichten von dem Wesen der Naturkräfte, Ansichten, die sich […] wie ein Gemeingut der Phantasie, durch alle Klassen einer Nation verbreiten. Neben der wissenschaftlichen Physik bildet sich dann eine andere, ein System ungeprüfter zum Theil gänzlich missverstandene Erfahrungs-Kenntnisse. Wenige Einzelheiten umfassend, ist diese Art von Empirie umso anmaßender, als sie keine der Thatsachen kennt, von denen sie erschüttert wird. Sie abgeschlossen, unveränderlich in ihren Axiomen, anmaßend wie alles Beschränkte« (ebd. 17).

Alexander von Humboldt entwirft »Naturgemälde«. Dies folgt ästhetischen Ansprüchen. Ästhetik wird zugleich ein Grundprinzip der Didaktik: »Den Naturschilderungen darf nicht der Hauch des Lebens entzogen werden« (ebd. VIII). Er verfolgt das Lernen anregende unterstützende Methoden: Wiederholungen der Begriffe, kurze Zusammenfassungen, Zwischenbetrachtungen und Ausblicke. Damit wird eine Strategie eingeschlagen, in der naturwissenschaftlichen Volksbildung keinen Abstrich vom wissenschaftlichen Impetus zu machen. Er hält es prinzipiell für möglich, alles wissenschaftliche

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128 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Wissen allgemeinverständlich zu vermitteln, und er wehrt sich dagegen, im Namen einer »Volkstümlichkeit« seinen wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben. Der Drang zur Popularisierung ist dabei kein einseitiges Öffnungsmodell, sondern Humboldt sieht darin ein leichtes und entscheidendes Mittel, »um die gute oder schlechte Verkettung einzelner Theile einer Lehre zu prüfen« (Kosmos I, IX). Popularisierung führt also auch zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Genutzt werden soll ein breites Spektrum von Methoden, die dem Volk zu öffnen sind: Museen, Panoramen, Gemälde, Lichtbilder. Diese Mittel sollen dazu dienen, die Liebe zum Naturstudium zu erhöhen und »die Kenntnis und das Gefühl von der erhabenen Größe der Schöpfung […] kräftig zu mehren« (ebd. 94). Indem die Menschen zu einer tiefen Einsicht in das innere Wesen der Natur kommen, wird es ihnen möglich, den Zusammenhang der Welt zu erahnen und diesen vernunftmäßig zu erkennen. Damit wird nicht nur die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen gefördert sondern auch ein Beitrag zur »intellektuellen Veredelung des Menschen geleistet« (Kosmos I, 34). Es geht darum, die Kluft zwischen strenger Wissenschaft und der Bildung des Volkes zu überwinden. Als einer der ersten hat Alexander von Humboldt die Verbindung zwischen ökonomischer Entwicklung und industriellem Fortschritt durch erhöhten Gewerbefleiß mit der Volksbildung in Zusammenhang gebracht. Es geht um die Nutzung der Einsicht in die Natur und der »Naturgesetze«: »Der Mensch kann auf die Natur nicht einwirken, sich keiner ihrer Kräfte aneignen, wenn er nicht die Naturgesetze nach Maaß- und Zahl- Verhältnissen kennt. Auch hier liegt die Macht der Volksthümlichen Intelligenz. Sie steigt und sinkt mit dieser. Diejenigen Völker, welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande absinken« (Kosmos I, 36).

Allerdings ist nicht der Gewerbefleiß, sondern die Erhöhung von Freiheit und Menschlichkeit der höhere Zweck der Bildung des Volkes. So erhebt sich auch der »Mensch, der die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner Bildung durchläuft allmählich zu geistiger Freiheit« (Kosmos I, 16). In den letzten 25 Jahren seines Lebens schrieb Alexander von

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Humboldt in Berlin an seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, dem »Kosmos«. Die fünf Bände »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« erschienen zwischen 1845 und 1862. Die fünf Bände erreichten zusammen eine Auflage von 87 000 Exemplaren, was in dieser Zeit sensationell hoch war. Gelesen haben das Werk wahrscheinlich nicht so viele. Es ist die Präsentation einer Fülle von Details bei einem gleichzeitigen Versuch, den »Kosmos« als harmonisch geordnetes Ganzes darzustellen. In den »Kosmos-Vorträgen«, die seine Berühmtheit noch steigerten, hat er ausgeführt: »Einestheils ist der Gegenstand, den ich zu behandeln habe, so unermesslich und die mir vorgeschriebene Zeit so beschränkt, dass ich fürchten muss, in eine enzyklopädische Oberflächlichkeit zu verfallen, oder, nach Allgemeinheit strebend, durch Kürzel zu ermüden. Anderentheils hat eine viel bewegte Lebensweise mich wenig an öffentliche Vorträge gewöhnt; und in ihr Befangenheit meines Gemüts wird es mir nicht immer gelingen, mich in der Bestimmtheit und Klarheit auszudrücken, welche die Größe und Mannigfaltigkeit des Gegenstands erreichen. […] Wer die Resultate der Naturforschung nicht in Ihrem Verhältnis zu den einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung und die gesamte Menschheit betrachtet, dem bietet sich, als die erfreulichste Frucht dieser Forschung, der Gewinn dar, durch die Einsicht in dem Zusammenhang der Erscheinungenden Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen. Die Natur ist die für denkende Betrachtung Einheit in der Vielfalt, Verbindung der Mannigfaltigkeit in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte als ein lebendiges Ganzes« (Quellentext).

Alexander von Humboldts Stichwort dafür ist »Naturgenuss«. Diesen will er durch die öffentliche Darstellung teilbar machen, und er erreichte – im Unterschied zu Fichte – tatsächlich ein breites bürgerliches Publikum. Er hielt in der Zeit zwischen dem 6. Dezember 1827 und dem 27. März 1828 im großen Saal der Berliner Singakademie 16 öffentliche Vorlesungen über »physikalische Geographie«. Später nannte er selbst dies »Kosmos-Vorlesungen« oder »Kosmos-Vorträge«. Diese Veranstaltungen werden als Sternstunden in der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung gefeiert (Hamel/Tiemann 2004, II). Das Spektrum des Publikums reichte nachweislich vom Maurermeister bis zu König Friedrich Wilhelm III. Eine solch breite Zuhörerschaft hatte zuvor kein anderer deutscher Gelehrter tatsächlich erreicht. Jede Person gleich welchen Standes und Geschlechts hatte frei-

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130 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens en Zutritt. Der Eintritt war kostenlos. Der große Saal der Berliner Singakademie war überfüllt. Über 800 Personen pro Vortrag wurden mehrmals gezählt. Parallel hielt Humboldt noch zum gleichen Themenkreis 61 Universitätsvorlesungen. Insgesamt gab es eine erstaunliche Resonanz. Für diese starke Wirksamkeit gab es mehrere Gründe: Das war zunächst der kostenlose Eintritt, Humboldts wissenschaftliches Renommee und vielleicht auch ein patriotisches Moment, da Humboldt geborener Berliner war. Zweifellos wirkte auch die Person Humboldts. In seiner zur Schau getragenen Bescheidenheit, machte er starken Eindruck auf Männer und besonders auch auf Frauen. Dazu kam die Art des Vortrags: er erzählte. Über die Erste »Singakademie – Vorlesung« berichtete die Vossche Zeitung am 8. März 1827: »So haben dann auch diese Vorträge vor den ausgewähltesten Versammlungen, die je ein Gelehrter in einer größeren Reihe von Vorlesungen vor sich gesehen, am 6. des Monats in dem schönen Lokal der Singakademie ihren Anfang genommen und auf Zuhörer einen nicht minder lebhaften und dauernden Eindruck gemacht, als der war, den ihm die Universität zu verdanken hat. Möge der Mann, der die reichsten inneren Mittel mit seltener Beharrlichkeit und Hingebung den höchsten Zwecken der Wissenschaft zuwendet, der seit dem Anfang seiner Laufbahn mit gleichen Glücke ein neues Leben in die Wissenschaft, wie die Wissenschaft in das Leben geführt hat, den Lohn seines Wirkens, in der von ihm allein erreichten Stellung zu Geistes Welt finden, die, gleichermassen über Neid und Eifersucht, wie über irdische Vergeltung, ihm zum gemeinsamen Ziel aller unterrichteten Erdbewohner macht« (ebd. 19). »Die Würde und Anmut des Vortrags, vereinigt mit dem Anziehenden des Gegenstandes und der ausgebreiteten tiefen Gelehrsamkeit des Lehrers, die immer wieder aus dem Vollen zu schöpfen vermag, dieser so seltene Zusammenfluss aller für die mündliche Belehrung ersprießlichen Eigenschaften, fesselt den Zuhörer mit unwiderstehlichen, in keinem Augenblick nachlassender Kraft« (ebd. 19).

Dieser überströmende Erfolg zog auch Spott nach sich. Es kursierte der Witz: »Der Saal fasste nicht die Zuhörer und die Zuhörer fassten nicht den Vortrag« (ebd. 23). Alexander von Humboldt nutzte die Gelegenheit, um der sich damals noch um öffentliche Anerkennung mühenden naturwissenschaftlichen Denkweise zum Durchbruch zu verhelfen. In einer bewussten Auseinandersetzung mit den Nachfolgern der

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metaphysichen Naturschau Schellings hat er die Notwendigkeit der Erfahrung betont. Hans Magnus Enzensberger hat ihn als »intellektuelles Ungeheuer« in sein »Mausoleum« eingeordnet: »Wozu hatte er all das ertragen: Insekten, Schlingpflanzen, Regengüsse und die verdrossenen Blicke der Indianer? Es war nicht der Zinn, die Jute, der Kautschuk, das Kupfer. Ein Gesunder war er, der mit sich die Krankheit ahnungslos schleppte, ein uneigennütziger Bote der Plünderung, ein Kurier, der nicht wusste, dass er die Zerstörung dessen zu melden gekommen war, was er, in seinen Naturgemälden, bis er neunzig war, liebevoll malte.« (Enzensberger: A.v.H. [1769-1859]. In: Mausoleum siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt a.M. 1975, 56-58

Alexander Humboldt, Wilhelm von Humboldt, Schiller und Goethe in Jena 1794. Holzstich von W. Aarland nach einer Zeichnung von Andreas Müller. Aus: Die Gartenlaube, 1860, S. 229.

Literatur Werke Ansichten der Natur. Berlin 1807. Nachdruck nach der dritten, verbesserten Ausgabe. Reclam. Stuttgart 1969

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132 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bände Stuttgart (1845-1862). Nachruck 2004. (Mit einem Nachwort versehen von Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver). Die andere Bibliothek. Eichborn. Frankfurt a.M. 2004a Die Kosmos-Vorträge. Vorlesungsmitschrift 1827/28, Handschrift Ms. Germ. 4.02124 Staatsbibliothek Berlin. Druck 1993 Hg. Hamel, Jürgen/Tiemann, Klaus-Harro. Insel Taschenbuch. Frankfurt a.M./Leipzig 2004 Über die Freiheit des Menschen – Auf der Suche nach Wahrheit. (Hg. Osten, Manfred) Insel Taschenbuch. Frankfurt a.M./Leipzig 1999

Darstellungen Daum, Andreas: Alexander von Humboldt, die Natur des »Kosmos« und die Suche nach Einheit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte (2000) 243-268 Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver: Editorische Notiz. In: Humboldt 2004 a Hamel, Jürgen/Tiemann, Klaus-Harro: Vorwort. In: Humboldt 2004, 11-39 Meilhammer, Elisabeth: »Kosmos« von Alexander von Humboldt. In: Koerrenz, Ralf u.a.: Wegweisende Werke zur Erwachsenenbildung. Paideia. Jena 2007, 173-195 Meyer-Abich: Adolf: Alexander von Humboldt. Rowohlt. Rowohlt. Reinbek 1967 Meyer-Abich, Adolf: Nachwort In: Humboldt 1969, 147-173 Osten, Manfred: Vorwort. In: Humboldt 1999 13-48 Schlögel, Karl: Das wilde Tier der Erfahrung. Frankfurter Rundschau 21, Dezember 2004, 16 wikipedia.org/wiki/Alexander_von_Humboldt (Zugriff 20.1.2008)

Zeittafel 1769

14. September: Alexander von Humboldt in Berlin, Jägerstrasse 22 (am Gendarmenmarkt) geboren. 1777-1787 Unterrichtung durch verschiedene Hauslehrer wie J.H. Campe und G.J. Kunth in Tegel. 1787-1788 Studium an der Universität in Frankfurt/Oder. 1788-1789 Einführung in die Botanik durch C.L. Willdenow in Berlin. 1789-1790 Studium an der Universität Göttingen vor allem bei J.F. Blumenbach und G. Ch. Lichtenberg.

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1790

Humboldts erste Veröffentlichung »Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« erscheint anonym. 1790 März bis Juli: Reise mit Georg Forster durch Belgien, Frankreich, die Niederlande und England. 1790-1791 Studium an der Handelsakademie in Hamburg bei J.G. Büsch. 1791-1792 Studium an der Bergakademie Freiberg (Sachsen). 1792-1796 Oberbergmeister in Oberfranken. Arbeiten über technische Einrichtungen im Bergbau. Reisen nach Schlesien, Österreich, Oberitalien und in die Alpen (Schweiz, Frankreich). 1797/98 »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, nebst Vermutungen über den chemischen Prozess des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt« (2 Bde.) 1799 Abreise von Humboldt und Bonpland nach Amerika von La Coruna. 19. bis 25. Juni: Aufenthalt auf Teneriffa; 16. Juli Ankunft in Cumaná (Venezuela); 16. bis 21. November: Küstenreise von Cumaná nach Caracas 1800 Reise auf dem Orinoco. Überfahrt nach Havanna. 1801 Exkursionen in das Landesinnere von Cuba. 9. bis 30. März: Seereise von Havanna nach Cartagena (Kolumbien). 1802 6. Januar bis 21. Oktober: Aufenthalt in Quito; 21. März. Exkursionen zu den Pyramiden von Yaruqui; 14. April: Besteigung des Vulkans Pichincha (4784 m); 28. April Besteigung des Vulkans Cotopaxi (5896 m); 23. Juni Besteigung des Vulkans Chimborazo (6267 m) zusammen mit A. Bonpland und C. Montúfar, ohne den Gipfel zu erreichen; 23. Oktober: Ankunft in Lima (Peru) nach Reise durch die Anden. 1803 17. Februar bis 22. März: Seereise von Guayaquil nach Acapulco (Mexico); 12. April Ankunft in Mexico-Stadt. Aufenthalt dort bis 20. Januar 1804. 1804 20. April bis 20. Mai Seereise von Havanna nach Philadelphia; 1. bis 13. Juni: Aufenthalt in Washington. Treffen mit Präsident Thomas Jefferson. Rückreise nach Europa. Ankunft in Bordeaux; 27. August bis März 1805: Aufenthalt in Paris. Erste Vorträge zu Reiseergebnissen. Zusammentreffen mit Simón Bolivar. 1805 11. März bis 18. September: Aufenthalt in Italien. Juli und

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134 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens

1805-1807

1805-1834

1807 1812 1819 1822 1827

1828

1829 1829

1835 1844

August: mehrfache Besteigung und Vermessung des Vesuvs zusammen mit L.-J. Gay-Lussac und L. von Buch. Beobachtung eines Vesuvausbruchs; 18. September bis 16. November: Reise von Rom nach Berlin über Florenz, Mailand, St. Gotthard, Zürich, Tübingen, Göttingen. Arbeiten in Berlin vor allem zu astronomischen und geomagnetischen Themen mit L.-J. Gay-Lussac und J. Oltmanns. Vorträge in der Akademie der Wissenschaften. Herausgabe des amerikanischen Reisewerks in 34 Bänden: »Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par Alexandre de Humboldt«. »Ansichten der Natur« Humboldt entwickelt Pläne für eine Reise nach Sibirien. Zur Vorbereitung der asiatischen Reise erhält Humboldt vom preußischen Staat 12.000 Taler. Humboldt nimmt von Plänen einer großen Asienreise Abstand und erwägt, nach Mexico zu übersiedeln. 5. Mai: Rückkehr nach Berlin. 3. November Beginn von Humboldts 61 Vorlesungen über physikalische Erdbeschreibung (»Kosmos«-Vorlesungen) in der Berliner Universität (bis 26. April 1828). 6. Dezember: »Kosmos«-Vorträge in der Berliner Singakademie (bis 27. April 1828) 26. Februar: Humboldt nimmt den Vorschlag des russischen Ministers Georg Graf von Cancrin zu einer Forschungsreise durch Russland an. 12. April: Beginn der russisch-sibirischen Reise zusammen mit C.G. Ehrenberg und G. Rose. 1. Mai: Ankunft von Humboldt in Petersburg nach Reise über Königsberg, Riga, Dorpat und Narva. 20. Mai bis 18. Juli: Reise über Moskau, Nishni Nowgorod und Kasan nach Jekaterinburg im Ural. 18. Juli bis Ende September: Reise über Tjumen, Tobolsk, Barnaul in den Altai. Exkursion zur chinesischen Grenze und weiter von Ustkamenogorsk über Omsk und Minsk nach Orenburg und Weiterreise über Samara und Zarizyn nach Astrachan. Exkursion zum Wolga-Delta und auf den Kaspi-See. 28. Dezember: Ankunft in Berlin. 8. April: Tod des Bruders Wilhelm in Tegel. Humboldts Arbeit »Central Asien. Untersuchungen über

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1845-1862 1859

die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie« (franz. 1843) erscheint. Humboldts »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« erscheint in 5 Bänden mit Register. 6. Mai: Humboldt verstirbt in seiner Wohnung in Berlin, Oranienburger Straße 67.

Quellentext Alexander von Humboldt: KOSMOS. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Einleitende Betrachtung über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze (Vorgetragen am Tage der Eröffnung der Vorlesungen. In der großen Halle der Singakademie zu Berlin. – Mehrere Einschaltungen gehören einer späteren Zeit an.)

WENN ICH es unternehme, nach langer Abwesenheit aus dem deutschen Vaterlande, in freien Unterhaltungen über die Natur die allgemeinen physischen Erscheinungen auf unserem Erdkörper und das Zusammenwirken der Kräfte im Weltall zu entwickeln, so finde ich mich mit einer zwiefachen Besorgniß erfüllt. Einestheils ist der Gegenstand, den ich zu behandeln habe, so unermesslich und die mir vorgeschriebene Zeit so beschränkt, dass ich fürchten muß, in eine encyclopädische Oberflächlichkeit zu verfallen, oder, nach Allgemeinheit strebend, durch aphoristische Kürze zu ermüden. Anderentheils hat eine vielbewegte Lebensweise mich wenig an öffentliche Vorträge gewöhnt; und in der Befangenheit meines Gemüths wird es mir nicht immer gelingen, mich mit der Bestimmtheit und Klarheit auszudrücken, welche die Größe und die Mannigfaltigkeit des Gegenstandes erheischen. Die Natur aber ist das Reich der Freiheit; und um lebendig die Anschauungen und Gefühle zu schildern, welche ein reiner Natursinn gewährt, sollte auch die Rede stets sich mit der Würde und Freiheit bewegen, welchen nur hohe Meisterschaft ihr zu geben vermag. Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältniß zu einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die gesamte Menschheit betrachtet, dem bietet sich, als die erfreulichste Frucht dieser Forschung, der Gewinn dar, durch Einsicht in den Zu-

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136 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens sammenhang der Erscheinungen den Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen. Eine solche Veredlung ist aber das Werk der Beobachtung, der Intelligenz und der Zeit, in welcher alle Richtungen der Geisteskräfte zu reflectiren. Wie seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht dahin gearbeitet hat, in dem ewig wiederkehrenden Wechsel der Weltgestaltungen das Beharrliche des Gesetzes aufzufinden und so allmälig durch die Macht der Intelligenz den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte den, welcher den uralten Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vorzeit bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit befragen, heißt dem geheimnißvollen Gange der Ideen nachspüren, auf welchem dasselbe Bild, das früh dem inneren Sinne als ein harmonisch geordnetes Ganze, Kosmos, vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebniß langer, mühevoll gesammelter Erfahrungen darstellt. In diesen beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des Bewusstseins der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller Zweige der Cultur, spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab. Den einen erregt, in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen, der Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der vollendeteren Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an: er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte. So wie der Mensch sich nun Organe schafft, um die Natur zu befragen und den engen Raum seines flüchtigen Daseins zu überschreiten, wie er nicht mehr bloß beobachtet, sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen hervorzurufen weiß, wie endlich die Philosophie der Natur, ihrem alten dichterischen Gewande entzogen, den ernsten Charakter einer denkenden Betrachtung des Beobachteten annimmt; treten klare Erkenntniß und Begrenzung an die Stelle dumpfer Ahndungen und unvollständiger Inductionen. Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte leben dann nur fort in den Vorurtheilen des Volks und in gewissen Disciplinen, die, in dem Bewusstsein ihrer Schwäche, sich gern in Dunkelheit hüllen. Sie erhalten sich auch als ein lästiges Erbtheil in den Sprachen, die sich durch symbolisirende Kundwörter und geistlose Formen verunstalten. Nur ein kleine Zahl sinniger Bilder der Phantasie, welche, wie vom Dufte der Urzeit umflossen, auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Umrisse und eine erneuerte Gestalt. Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielfalt, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der

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Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen. Wenn wir zuvördest über die verschiedenen Stufen des Genusses nachdenken, welchen der Anblick der Natur gewährt, so finden wir, daß die erste unabhängig von der Einsicht in das Wirken der Kräfte, ja fast unabhängig von dem eigenthümlichen Charakter der Gegend ist, die uns umgiebt. Wo in der Ebene, einförmig, gesellige Pflanzen den Boden bedecken und auf grenzenloser Ferne das Auge ruht, wo des Meeres Wellen das Ufer sanft bespülen und durch Ulven und grünenden Seetang ihren Weg bezeichnen: überall durchdringt uns das Gefühl der freien Natur, ein dumpfes Ahnen ihres »Bestehens nach inneren ewigen Gesetzen«. In solchen Anregungen ruht eine geheimnißvolle Kraft; sie sind erheiternd und lindernd, stärken und erfrischen den ermüdeten Geist, besänftigen oft das Gemüth, wenn es schmerzlich in seinen Tiefen erschüttert oder vom wilden Drange der Leidenschaften bewegt ist. Was ihnen ernstes und feierliches beiwohnt, entspringt aus dem fast bewusstlosen Gefühle höherer Ordnung und innerer Gesetzmäßigkeit der Natur; aus dem Eindruck ewig wiederkehrender Gebilde, wo in dem Besondersten des Organismus das Allgemeine sich spiegelt; aus dem Contraste zwischen dem sinnlich Unendlichen und der eigenen Beschränktheit, der wir zu entfliehen streben. In jedem Erdstriche, überall wo die wechselnden Gestalten des Thierund Pflanzenlebens sich darbieten, auf jeder Stufe intellectueller Bildung sind dem Menschen diese Wohltaten gewährt. Ein anderer Naturgenuß, ebenfalls nur das Gefühl ansprechend, ist der, welchen wir, nicht dem bloßen Eintritt in das Freie (wie wir tief bedeutsam in unserer Sprache sagen), sondern dem individuellen Charakter einer Gegend, gleichsam der physiognomischen Gestaltung der Oberfläche unseres Planeten verdanken. Eindrücke solcher Art sind lebendiger, bestimmter und deshalb für besondere Gemüthszustände geeignet. Bald ergreift uns die Größe der Naturmassen im wilden Kampfe der entzweiten Elemente oder, ein Bild des Unbeweglich-

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138 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Starren, die Oede der unermesslichen Grasfluren und Steppen, wie in dem gestaltlosen Flachlandeder Neuen Welt und des nördlichen Asiens; bald fesselt uns, freundlicheren Bildern hingegeben, der Anblick der bebauten Flur, die erste Ansiedlung des Menschen, von schroffen Felsschichten umringt, am Rande des schäumenden Gießbachs. Denn es ist nicht sowohl die Stärke der Anregung, welche die Stufen des individuellen Naturgenusses bezeichnet, als der bestimmte Kreis von Ideen und Gefühlen, die sie erzeugen und welchen sie Dauer verleihen. Darf ich mich hier der eigenen Erinnerung großer Naturscenen überlassen, so gedenke ich des Oceans, wenn in der Milde tropischer Nächte das Himmelsgewölbe sein planetarisches, nicht funkelndes Sternenlicht über die sanftwogende Wellenfläche ergießt; oder der Waldthäler der Cordilleren, wo mit kräftigem Triebe hohe Palmenstämme das düstere Laubdach durchbrechen und als Säulengänge hervorragen, »ein Wald über dem Walde«1; oder des Pics von Teneriffa, wenn horizontale Wolkenschichten den Aschenkegel von der unteren Erdfläche trennen, und plötzlich durch eine Oeffnung, die der aufsteigende Luftstrom bildet, der Blick von dem Rande des Kraters sich auf die weinbekränzten Hügel von Orotava und die Hesperidengärten der Küste hinabsenkt. In diesen Scenen ist es nicht mehr das stille, schaffende Leben der Natur, ihr ruhiges Treiben und Wirken, die uns ansprechen; es ist der individuelle Charakter der Landschaft, ein Zusammenfließen der Umrisse von Wolken, Meer und Küsten im Morgendufte der Inseln; es ist die Schönheit der Pflanzenformen und ihrer Gruppirung. Denn das Ungemessene, ja selbst das Schreckliche in der Natur, alles was unsere Fassungskraft übersteigt, wird in einer romantischen Gegend zur Quelle des Genusses. Die Phantasie übt dann das freie Spiel ihrer Schöpfungen an dem, was von den Sinnen nicht vollständig erreicht werden kann; ihr Wirken nimmt eine andere Richtung bei jedem Wechsel in der Gemüthsstimmung des Beobachters. Getäuscht, glauben wir von der Außenwelt zu empfangen, was wir selbst in diese gelegt haben. Wenn nach langer Seefahrt, fern von der Heimath, wir zum ersten Male ein Tropenland betreten, erfreut uns, an schroffen Felswänden, der Anblick derselben Gebirgsarten (des Thonschiefers oder des basaltartigen Mandelsteins), die wir auf europäischem Boden verließen und deren Allverbreitung zu beweisen scheint, es habe die alte Erdrinde sich unabhängig von dem äußeren Einfluß der jetzigen Klimate gebildet; aber diese wohlbekannte Erdrinde ist mit den Gestalten einer fremdartigen Flora geschmückt. Da offenbart sich uns, den Bewohnern

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der nordischen Zone, von ungewohnten Pflanzenformen, von der überwältigenden Größe des tropischen Organismus und einer exotischen Natur umgeben, die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemüthes. Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt, daß, wenn es anfangs auch scheint, als müsse die heimische Landschaft, wie ein heimischer Volksdialekt, uns zutraulicher, und durch den Reiz einer eigenthümlichen Natürlichkeit uns inniger anregen als jene fremde üppige Pflanzenfülle, wir uns doch bald in dem PalmenKlima der heißen Zone eingebürgert glauben. Durch den geheimnißvollen Zusammenhang aller organischen Gestaltung (und unbewusst liegt in uns das Gefühl der Nothwendigkeit dieses Zusammenhangs) erscheinen unserer Phantasie jene exotischen Formen wie erhöht und veredelt aus denen, die unserer Kindheit umgaben. So leiten dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen, wie später die Thätigkeit der combinirenden Vernunft, zu der Erkenntniß, welche alle Bildungsstufen der Menschheit durchdringt, dass ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge. Es ist ein gewagtes Unternehmen, den Zauber der Sinnenwelt einer Zergliederung seiner Elemente zu unterwerfen. Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindrucksreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüth errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft.

Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung. In den allgemeinen Betrachtungen, mit denen ich die Prolegomenen zur Weltanschauung eröffnet, wurde entwickelt und durch Beispiele zu erläutern gesucht, wie der Naturgenuß verschiedenartig in seinen inneren Quellen durch klare Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen und in die Harmonie der belebenden Kräfte erhöht werden könne. Es wird jetzt mein Bestreben sein, den Geist und die leitende Idee der nachfolgenden wissenschaftlichen Untersuchungen specieller zu erörtern, das Fremdartige sorgfältig zu scheiden, den Begriff und den Inhalt der Lehre vom Kosmos, wie ich dieselbe aufgefasst und nach vieljährigen Studien unter mancherlei Zonen bearbeitet, in übersichtlicher Kürze anzugeben. Möge ich mir dabei der Hoffnung schmeicheln

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140 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens dürfen, daß eine solche Erörterung den unvorsichtigen Titel meines Werkes rechtfertigen und ihn von dem Vorwurfe der Anmaßung befreien werde. Die Prolegomenen umfassen in vier Abtheilungen nach der einleitenden Betrachtung über die Ergründung der Weltgesetze: 1. 2. 3.

4.

den Begriff und die Begrenzung der physischen Weltbeschreibung, als einer eigenen und abgesonderten Disciplin; den objectiven Inhalt, die reale, empirische Ansicht des NaturGanzen in der wissenschaftlichen Form eines Natur-Gemäldes; den Reflex der Natur auf die Einbildungskraft und das Gefühl, als Anregungsmittel zum Naturstudium durch begeisterte Schilderungen ferner Himmelsstriche und naturbeschreibende Poesie (ein Zweig der modernen Litteratur), durch veredelte Landschaft-Malerei, durch Anbau und contrastirende Gruppirung exotischer Pflanzenformen; die Geschichte der Weltanschauung, d.h. der allmäligen Entwickelung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos, als einem NaturGanzen.

Je höher der Gesichtspunkt gestellt ist, aus welchem in diesem Werke die Naturerscheinungen betrachtet werden, desto bestimmter muß die zu begründende Wissenschaft umgrenzt und von allen verwandten Disciplinen geschieden werden. Physische Weltbeschreibung ist Betrachtung alles Geschaffenen, alles Seienden im Raume der Natur-Dinge und Naturkräfte Als eines gleichzeitig bestehenden Natur-Ganzen. Sie zerfällt für den Menschen, den Bewohner der Erde, in zwei Hauptabtheilungen, den tellurischen und siderischen (uranologischen) Theil.

Anregungsmittel zum Naturstudium. Reflex der Außenwelt auf die Einbildungskraft: Dichterische Naturbeschreibung. – Landschaftsmalerei. – Cultur exotischer Gewächse, den physiognomischen Charakter der Pflanzendecke auf der Erdoberfläche bezeichnend. WIR TRETEN aus dem Kreise der Objecte in den Kreis der Empfindungen, Die Hauptresultate der Beobachtung, wie sie, von der Phantasie entblößt, der reinen Objectivität wissenschaftlicher Naturbeschreibung angehören, sind, eng an einander gereiht, in dem ersten Bande dieses Werks, unter der Form eines Naturgemäldes, aufgestellt worden. Jetzt betrachten wir den Reflex des durch die äußeren Sinne empfan-

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genen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft. Es eröffnet sich uns eine innere Welt. Wir durchforschen sie, nicht um in diesem Buche von der Natur zu ergründen, – wie es von der Philosophie der Kunst gefordert wird –, was in der Möglichkeit ästhetischer Wirkungen dem Wesen der Gemüthskräfte und den mannigfaltigen Richtungen geistiger Thätigkeit zukommt; sondern vielmehr um die Quelle lebendiger Anschauung, als Mittel zur Erhöhung eines reinen Naturgefühls, zu schildern, um den Ursachen nachzuspüren, welche, besonders in der neueren Zeit, durch Belebung der Einbildungskraft so mächtig auf die Liebe zum Naturstudium und auf den Hang zu fernen Reisen gewirkt haben. Die Anregungsmittel sind, wie wir schon früher bemerkt haben, von dreierlei Art: ästhetische Behandlung von Naturscenen, in belebten Schilderungen der Thier- und Pflanzenwelt, ein sehr moderner Zweig der Litteratur; Landschaftsmalerei, besonders in so fern sie angefangen hat die Physiognomik der Gewächse aufzufassen; mehr verbreitete Cultur von Tropengewächsen und contrastirende Zusammenstellung exotischer Formen. Jedes der hier bezeichneten Anregungsmittel könnte schon seiner historischen Beziehungen wegen der Gegenstand vielumfassender Erörterung werden; aber nach dem Geiste und dem Zweck meiner Schrift scheint es geeigneter nur wenige leitende Ideen zu entwickeln, daran zu erinnern, wie die Naturwelt in verschiedenen Zeitepochen und bei verschiedenen Volksstämmen so ganz anders auf die Gedanken- und Empfindlichkeitswelt eingewirkt hat, wie in einem Zustande allgemeiner Cultur das ernste Wissen und die zarteren Anregungen der Phantasie sich gegenseitig zu durchdringen streben. Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt, wie sie durch diesen Reflex bald das Nebelland physischer Mythen mit anmuthigen Gestalen füllt, bald den edlen Keim darstellender Kunstthätigkeit enfaltet. Indem wir uns hier auf die einfache Betrachtung der Anregungsmittel zum wissenschaftlichen Naturstudium beschränken, erinnern wir zuerst an die mehrfach sich wiederholende Erfahrung, daß oft sinnliche Eindrücke und zufällig scheinende Umstände in jungen Gemüthern die ganze Richtung eines Menschen bestimmen. Kindliche Freude an der Form von Ländern und eingeschlossenen Meeren2, wie sie auf Carten dargestellt sind, der Hang nach dem Anblick der südlichen Sternbilder, dessen unser Himmelsgewölbe entbehrt3, Abbildungen von Palmen und libanotischen Cedern in einer Bilderbibel können

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142 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens den frühesten Trieb nach Reisen in ferne Länder in die Seele pflanzen. Wäre es mir erlaubt eigene Erinnrungen anzurufen, mich selbst zu befragen, was einer unvertilgbaren Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gab, so müsste ich nennen: Georg Forsters’s Schilderungen der Südsee- Inseln; Gemälde von Hodges die Ganges-Ufer darstellend, im Hause von Warren Hastings zu London; einen colossalen Drachenbaum in einem alten Thurme des botanischen Gartens bei Berlin. Die Gegenstände, welche wir hier beispielsweise aufzählen, gehörten den drei Classen von Anregungsmitteln an, die wir früher bezeichneten: der Naturbeschreibung, wie sie einer begeisterten Anschauung des Erdenlebens entquillt, der darstellenden Kunst als Landschaftsmalerei, und der unmittelbaren objectiven Betrachtung charakteristischer Naturformen. Diese Anregungsmittel üben aber ihre Macht nur da aus, wo der Zustand moderner Cultur ein eigenthümlicher Gang der Geistesentwicklung unter Begünstigung ursprünglicher Anlagen die Gemüther für Natureindrücke empfänglicher gemacht hat. (Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bände Stuttgart 18451862). Nachruck 2004. Mit einem Nachwort versehen von Ette, Wolfgang/Lubrich, Oliver. Die andere Bibliothek. Eichborn. Frankfurt 2004)

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Emil Adolph Roßmäßler

Emil Adolph Roßmäßler (1806-1867)

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Wissenschaft und die Arbeiter: Emil Adolf Roßmäßler

»Wir müssen uns hier unwillkürlich an den Ausspruch erinnern: ›Die Naturwissenschaft ist von Haus aus populär‹« (Roßmäßler 1874, 50.). Populäre Wissenschaft und die Tätigkeit als Volkslehrer waren Lebensinhalt des Professors für Zoologie an der königlich sächsischen Akademie für Forst- und Landwirte in Tharand: Emil Adolph Roßmäßler (1806-1867). 1830 hatte er diese Position erhalten, 1849 aufgegeben. Geboren wurde er am 3. März 1806 als Sohn eines Leipziger Kupferstechers. Sein Vater weckte in ihm das Interesse für die Natur und das Zeichnen. Früh starben seine Eltern, so dass er auf die Unterstützung seiner Verwandten und auf einen Zusatzverdienst durch Hilfsarbeiten angewiesen war. 1825 begann er an der Universität Leipzig Theologie zu studieren; sein Wunschfach Medizin erschien seinem Onkel und Vormund zu teuer. Während des Studiums beschäftigte er sich nebenher mit Botanik. Dies war nur möglich, weil der zuständige Professor ihm die Vorlesungskosten erließ. In diesem Fach war er so erfolgreich, dass man ihm bereits im zweiten Studienjahr die botanische Ausbildung der Apothekerlehrlinge übertrug. Nach dem nicht abgeschlossenen Studium der evangelischen Theologie an der Universität Leipzig von 1825 bis 1827 ist er Lehrer und Leiter einer »schola collecta« im thüringischen Städtchen Weida geworden. Hier widmete er sich seiner Leidenschaft, der naturwissenschaftlichen Forschung. In jener Zeit entstanden die ersten naturwissenschaftlichen Schriften, darunter der 1830 veröffentlichte Beitrag zum Sammelband »Flora Deutschlands – in getrockneten Exemplaren«. Die

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146 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Heinrich G. L. Reichenbach, Professor für Botanik und Gründer des Botanischen Gartens in Dresden, führte zu langjähriger gegenseitiger Verbundenheit. Obwohl sich Roßmäßler seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturforschung vorwiegend als Autodidakt angeeignet hatte und dabei der heimischen Fauna weniger Beachtung schenkte, empfahl Reichenbach ihn als Kandidaten für die Zoologieprofessur an der königlich sächsischen Forstakademie in Tharandt. Roßmäßler erhielt den Ruf und trat 1830 sein Amt an. Dabei gelang es ihm, binnen weniger Jahre ein dichtes Netz wissenschaftlicher Kontakte zu knüpfen. Über seinen Gedankenaustausch mit Alexander von Humboldt beispielsweise, den er 1837 in Berlin kennen gelernt hatte, legt die überlieferte Korrespondenz Zeugnis ab. Seit 1840 hielt Roßmäßler zusätzlich zu seinem bisherigen Lehrgebiet auch die Pflichtveranstaltungen in den Fächern Mineralogie und Pflanzenkunde. Trotz resultierender großer Unterrichtsbelastung und seiner geringen akademischen Vorbildung gelang es Roßmäßler, wissenschaftliche Forschungsarbeiten zu betreiben. Zunächst beschäftigte er sich mit dem Fichtenrüsselkäfer, der damals die Wälder in der Umgebung zerstörte. 1832 veröffentlichte er seine Systematische Übersicht des Tierreiches mit eigenen Zeichnungen. Weiterhin beschäftigte er sich mit den Land- und Süßwasserweichtieren. Sein Hauptwerk, die Beschäftigung mit den Weichtieren (Muscheln, Schnecken etc.), publizierte er in der von ihm ins Leben gerufenen Zeitschrift »Iconographie der Land- und Süßwassermollusken mit vorzüglicher Berücksichtigung der europäischen, noch nicht abgebildeten Arten«. Zwischen 1835 und 1858 gab er 18 Hefte heraus, deren mehrheitlich von ihm stammende Lithografien große Anerkennung fanden.

Populäre Naturwissenschaft Die Erfahrung der Naturgesetze, »der in ihnen überall liegende ursachliche Zusammenhang der Erscheinungen und das daraus hervorleuchtende oberste Gesetz der inneren Notwendigkeit« (Roßmäßler 1874, 21/22) sah er in Kontrast zu der Situation an den Hochschulen, wo die »widernatürliche Erscheinung« herrsche, dass die »verschiedensten Grade von krasser Orthodoxie bis zu entschiedenem Freisinn« vertreten werden können (S. 24).

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Wissenschaft und die Arbeiter: Emil Adolf Roßmäßler | 147 »Die Naturwissenschaft ist, wie sie nach ewigen Gesetzen sein muss. […] Sie ist nur eine, und darum ist sie, und sie ist, indem sie thatsächlichen Inhalt hat und ist darum eine echte Wissenschaft und eine echte Wissenschaft ist doch wol nur die, welche – wir beabsichtigen keinen Wortwitz – wahres Wissen schafft, was die dogmatische Theologie nicht kann und nie können wird. […] Die Theologie aber fährt auf den Lehrstühlen und Kanzeln aller Jahrhunderte herum und holt längst Abgethanes wieder an das Tageslicht, und – darf dies mit Erfolg thun!! Sie beruht aber, um dies zu können, eben nur auf persönlichen Lehrmeinungen der Professoren und Priester und derer, denen sie dienen. Ist das Wissenschaft?« (ebd. 24).

Dieser Glaube an eine szientifische Naturwissenschaft entfernte ihn vom Glauben an die Religion. Das war auch der Grund, weshalb er sein Theologiestudium abbrach und sich als Autodidakt in die botanische und zoologische Forschung wühlte. »Ich war nur Selbstlehrer (Autodidakt), wie es jeder meiner Leser sein kann; und Jedermann könnte es daher soweit bringen, als ich, nämlich zu einem von den Fachmännern für ebenbürtig anerkannten Forscher und Gelehrten. Die Naturwissenschaft wird es zuletzt auch sein, welche die Zunftschranke des Universitätentums bricht« (ebd. 25).

Verpflichtet war Roßmäßler den aufklärerischen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie. Getragen von diesen Idealen beteiligte er sich u.a. an der Gründung des Tharandter Bürgervereins, der sich seit Mitte der 1840er-Jahre die Entwicklung und Pflege der Kultur zur Aufgabe gesetzt hatte. 1848 bewarb er sich erfolgreich um ein Abgeordnetenmandat der Amtshauptmannschaft Pirna für die Frankfurter Nationalversammlung. Als Mitglied des »Deutschen Hofs«, einer gemäßigt linken Paulskirchenfraktion, trat er vornehmlich in Fragen der allgemeinen Schulbildung an die Öffentlichkeit. Seit Juli 1848 war er Mitglied im Ausschuss für Kirchen- und Schulangelegenheiten. Vehement kritisierte er den Einfluss der Kirchen auf das Bildungssystem in den deutschen Staaten, forderte eine staatliche Schulaufsicht und die Verbannung christlicher Lehrinhalte aus den Lehrplänen. Diese politische Betätigung rief Unmut unter seinen konservativen, mehrheitlich monarchisch gesinnten Tharandter Kollegen hervor. Nachdem sich die königlich sächsische Landesregierung 1849 wieder gefestigt hatte, ging sie gezielt gegen revolutionäre Kräfte vor und suspendierte auch den missliebigen Zoologieprofessor vom Staatsdienst.

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148 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Nach einer Anklage wegen Hochverrats, von der er zwar freigesprochen wurde, wurde er dennoch aus seinem Amt entfernt. Offiziell ließ er sich im Sommer 1849 auf eigenen Wunsch emeritieren. Von daher begründet sich sein Beschluss »Volkslehrer zu werden«. »Worin beruht also wesentlich diese Bildung, die den Menschen zum Menschen macht? Auf der Kenntnis der Natur, denn wir wissen nichts, als in der Natur und durch die Natur, wie sie in uns und um uns nach unabänderlichen, ehrwürdig-einfachen Gesetzen wirkt und waltet. […] Wer sich also berufen fühlt, an der Freiheitszukunft Deutschlands mit zu bauen, der helfe sorgen, für allgemeine Verbreitung einer menschenwürdigen Kenntnis von der Natur; der lehre alle Welt, dass die Natur weder eine Vorrathskammer, noch eine Studirstube, noch ein Betschemel, sondern unser Aller gemeinsame Heimath ist, in der ein Fremdling zu sein, Jedermann Schande und Schaden bringt! […] Ich bin so kühn, zu sagen: ich fühle mich berufen, und muss also hinzufügen: Ich fühle mich dazu verpflichtet« (Mein künftiger Lebensplan. Am 1. Juli 1849. In: Roßmäßler 1874, 131-135).

1850 kehrte Roßmäßler in seine Heimatstadt Leipzig zurück. Er war gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit naturwissenschaftlichen Schriften und Vorträgen zu bestreiten. Er schrieb zahlreiche Bücher, so zum Beispiel zusammen mit Alfed Brehm Die Tiere des Waldes. Roßmäßler entfaltete eine intensive Vortragstätigkeit in allen Teilen Deutschlands, die Gründung von Bildungsvereinen, Diskussionen mit den verschiedensten Zielgruppen von Arbeitern, Lehrern bis zu der »Vereinigung Deutscher Naturforscher und Ärzte«. Er veröffentlichte »ein naturwissenschaftliches Volksblatt« »Aus der Heimat« (18591866). Zusammen mit Otto Ule und Karl Müller gab er drei Jahre lang die Zeitschrift Die Natur heraus. 1862 stellte er in seinem Werk Der Wald die wichtigsten Bäume Deutschlands zusammen. und veröffentlichte ein breites naturwissenschaftliches Œuvre: »Der Mensch im Spiegel der Natur«. Roßmäßler förderte den Aufbau lokaler und regionaler naturkundlicher Sammlungen und Museen, regte die Gründung von Naturkundemuseen in einigen sächsischen Gemeinden (u.a. in Leipzig) an, unterstützte die Gründung von »Humboldt-Vereinen«.

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Populäre Bildung als Arbeiterbildung Nach 1859 entstanden im Zuge eines neuen Schubs der Industrialisierung hunderte von Arbeiterbildungsvereinen. Sie sollten den Fabrikarbeitern diejenigen Kenntnisse vermitteln, die für die industrielle Produktion wichtig waren. Die Vereine vermittelten hauptsächlich Elementarkenntnisse des Schreibens und Lesens, Buchführung, Mechanik und Fertigkeiten des Zeichnens, Modellierens, Zuschneidens, der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung, Verwertung der Abfälle u.a. Die meistens Vereine wurden zunächst von Vertretern des liberalen und demokratischen Bürgertums oder philanthropisch gesinnten Angehörigen der Intelligenz gegründet, geleitet oder beeinflusst. In diesem Kontext ist auch die Aktivität Roßmäßlers zu sehen. Er wurde Mitbegründer des Ersten Arbeiterbildungsvereins in Leipzig (1860) und er förderte die noch in den Kinderschuhen steckende Arbeiterbewegung. Eine Broschüre mit dem Text einer Rede, die er im November 1862 vor Arbeitern im Leipziger Odeon gehalten hatte, wurde ebenso wie Ferdinand Lassalles »Arbeiter-Programm« zur Vorbereitung eines gesamtdeutschen Arbeitertags vom »Leipziger Gewerblichen Bildungsverein« und dem »Leipziger Bildungsverein« gemeinsam vertrieben (Quellentext). Roßmäßler gab in seinem Programm »Ein Wort an die Deutschen Arbeiter« (Quellentext) die Empfehlung, sich die Bildung anzueignen, die in der orthodox-klerikal bevormundenden Volksschule vorenthalten würde. Er betont die Macht der Aufklärung und wendet sich zugleich gegen jede militante Form der Auseinandersetzung: »Und glaubt ihr, dass diejenigen, welche über die Verleihung dieser Rechte und Vorteile mit zu entscheiden haben werden, sich dieselben auf friedlichen Wege – und vor einem andern möchte ich alle Volks bewahrt wissen – anders werden abringen lassen, als wenn ihr ihnen die zwingende Macht entgegensetzt, welche ein durch und durch ehrenwerter, an echt menschlicher und staatsbürgerlicher Bildung sowie an weltbürgerlichem und gründlichen Fachwissen reicher Arbeiterstand ist? – Erkennt dies!« (Roßmäßler 1862)

Er stimmt das heute – 150 Jahre später – weit verbreitete Lied von der notwendigen Entwicklung der Kompetenzen an: »[…] unsere Zeit, die immer tiefer in die Gesetze der Natur eindringt und der Werkstatt immer mehr neue Mittel und Stoffe zuführt, macht an den Arbeiter höhere Anforderungen als die gottlob überwundene Zeit des alten Schlendri-

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150 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens ans, wenn er nicht im Gedränge der Konkurrenz in den Hintergrund gedrängt werden soll. Sie verlangt von ihm Kenntnis der Natur, denn mit heuchlerischen Augenverdrehen lassen sich keine besseren Stiefel und kein dauerhafter Lack machen, obgleich Frömmigkeit, d.h. sittlichen Hingebung an das, was recht und ehrbar ist, niemand besser ansteht als dem Arbeiter« (ebd.).

In der Wortwahl zeigt sich die Zwischenposition Roßmäßlers zwischen Handwerk und Industrie, zwischen Bourgoisie und Proletariat. 1863 gehörte er zu den Mitbegründern des »Vereinstags deutscher Arbeitervereine« (VDAV). 1866 trat er der sächsischen Volkspartei bei. Emil Adolf Roßmäßler starb am 8. April 1867 in Leipzig. Er war getragen von der Überzeugung, »dass wir Menschen nur auf einer naturgeschichtlichen Grundlage bilden können«. Dem widmete er sein »Leben und Streben«. Er verkörperte den Typus eines »politischen Professors«. Sein Wirken als Wissenschaftler, Politiker, Redner und Volksschriftsteller war von den Prinzipien der Aufklärung geprägt.

Emil Adolph Roßmäßler (1806-1867)

Literatur Schriften 1832 1835-1839 1840

Systematische Übersicht des Tierreiches Iconographie der Land- und Süßwassermollusken (3 Bände) Die Beiträge zur Versteinerungskunde

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1843 1850-1853 1852

Das wichtigste vom inneren Bau und Leben der Gewächse Der Mensch im Spiegel der Natur (5 Bände) Populäre Vorlesungen aus dem Gebiet der Natur (2 Bände) 1854 Reiseerinnerungen aus Spanien (2 Bände) 1854 Der Ocean auf dem Tisch. Artikel in der Zeitschrift Gartenlaube 1856 Flora im Winterkleid 1856 Die vier Jahreszeiten mit 24 Vegetationsansichten 1856 Die Geschichte der Erde 1856-1859 Die Natur (Zeitschrift mit Otto Ule und Karl Müller) 1857 Das Süßwasseraquarium 1858 Das Wasser 1859-1866 Aus der Heimat (eigene Zeitschrift) 1860 Der naturgeschichtliche Unterricht 1862 Der Wald 1860 Der naturkundliche Unterricht – Gedanken und Vorschläge zu einer Umgestaltung desselben 1863-1868 Die Tiere des Waldes (2 Bände, zusammen mit Alfred Brehm) 1868 Mikroskopische Blicke (Sammlung Roßmäßlers Vorträge) 1874 Mein Leben und Streben (Autobiografie, nach dem Tod des Verfassers herausgegeben von Karl Ruß)

Darstellungen Burgemeister: Burghard: Emil Adolf Roßmäßler, ein demokratischer Pädagoge, 1806-1867. Humboldt-Universität. Berlin 1958 Birker, Karl: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840-1870. Colloquium. Berlin 1963 Gilsenbach, Karl Friedel Reimar (Hg.): Das Roßmäßlerbüchlein. Herausgegeben zur 150. Wiederkehr des Geburtstages von Emil Adolf Roßmäßler am 3. März 1956. Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Zentrale Kommission Natur- und Heimatfreunde. Berlin 1956 Günther, Karl-Heinz: Bürgerlich-demokratische Pädagogen in Deutschland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diesterweg, Roßmäßler, Dittes, Sack. Verlag Volk und Wissen. Berlin 1963 Günther, Karl-Heinz u a. (Hg.): Dokumente zur Bildungspolitik und Pädagogik der deutschen Arbeiterbewegung. 1. Folge: Von den An-

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152 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens fängen bis zur Pariser Kommune. Verlag Volk und Wissen. Berlin 1982 Schneider, Gustav: Emil Adolf Rossmässler als Pädagog. Beyer Verlag. Langensalza 1906 Weiß, Barbara: Emil Adolf Roßmäßler: Das Stuttgarter Rumpfparlament 1849. Das Tagebuch von Emil Adolph Roßmäßler und das Selbstverständnis der Abgeordneten. Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart. Band 80. Klett-Cotta. Stuttgart 1999 www.wikipedia.org/wiki/Emil_Adolf_Ro%C3%9Fm%C3%A4%C3%9F ler: Emil Adolf Roßmäßler (Zugriff 20. 1. 2008)

Zeittafel 1806 1825 1827

1830 1832 1835-1839 1835 1837 1848

1849 1850 1856 1857 1859

Geboren in Leipzig am 3. März als Sohn des Kupferstechers Johann Adolph Roßmäßler und dessen Frau Amalia. Beginn des Studiums der Theologie in Leipzig Leitung botanischer Exkursionen für Apotheker Lehrer an einer Privatschule in Weida (Thüringen) Bekanntschaft mit dem Botaniker Prof. Ludwig Reichenbach (Dresden) Professor für Zoologie an der Kgl. Sächsischen Akademie für Landwirte und Forstwirte in Tharandt. »Systematische Übersicht des Tierreiches« mit eigenen Zeichnungen erschienen. Veröffentlichung des Hauptwerkes »Iconographie der Land- und Süßwassermollusken« (3 Bände) Forschungsreise nach Triest Treffen mit Alexander von Humboldt in Berlin Abgeordneter für Pirna in der Frankfurter Nationalversammlung Mitglied der linken Fraktion »Deutscher Hof«, später »Nürnberger Hof« Mitglied im Ausschuss für Kirchen- und Schulangelegenheiten Anklage wegen Hochverrats Emeritierung Rückkehr nach Leipzig Die Natur (Zeitschrift mit Otto Ule und Karl Müller) Veröffentlichung »Das Süßwasseraquarium« Herausgabe der eigenen Zeitschrift »Aus der Heimat«

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1861

Gründungsmitglied des Gewerblichen Bildungsvereins für Arbeiter 1863 Mitbegründer des »Vereinstags deutscher Arbeitervereine« (VDAV) 1863-1868 Veröffentlichung »Die Tiere des Waldes« (2 Bände, zusammen mit Alfred Brehm) 1866 Beitritt zur »Sächsischen Volkspartei« 1867 Gestorben in Leipzig am 8. April

Quellentext Emil Adolf Roßmäßler Ein Wort an die deutschen Arbeiter* […] Mein langjähriger Umgang mit dem Arbeiterstande hat mich überzeugt, daß der Bildungsstand der meisten Arbeiter noch nicht soweit gediehen ist, um die verwickelte Frage, wie ihrem Stande aufzuhelfen sei, vollkommen lösen zu können. Das ist schlimm, aber es ist für die Arbeiter kein Vorwurf, denn es ist dies nicht ihre Schuld der Verhältnisse, vor allem der unter der Leitung der orthodoxen Kirche stehenden Volksschule, welche erstere zum Teil die dem Arbeiter notwendigsten Kenntnisse geflissentlich hintenanhält, ja sogar nicht selten verpönt. Unsere Zeit, welche in immer weiteren Kreisen durch Aufhebung des Zunftzwanges die Arbeit freigibt und die volle Konkurrenz herstellt – unsere Zeit, die immer tiefer in die Gesetze der Natur eindringt und der Werkstatt immer mehr neue Mittel und Stoffe zuführt, macht an den Arbeiter höhere Anforderungen als die gottlob überwundene Zeit des alten Schlendrians, wenn er nicht im Gedränge der Konkurrenz ins Hintertreffen gedrängt werden soll. Sie verlangt von ihm Kenntnis der Natur, denn mit heuchlerischem Augenverdrehen lassen sich keine besseren Stiefel und kein dauerhafter Lack machen, ob*

In einem Geleitwort von 10. Dezember 1862 nennt Roßmäßler eine am 18. November 1862 in einer Arbeiterversammlung in Leipzig gehaltene Rede als Vorlage für diese Schrift, die 1863 in Berlin erschien. Das Leipziger Zentralkomitee zur Vorbereitung eines Arbeitertages für ganz Deutschland verbreitete die Broschüre als eine Art Programmschrift. Zur gleichen Zeit verteilte das Leipziger Zentralkomitee Lassalles »Arbeiterprogramm«, das nach dem Verbot in Berlin in Zürich neu erschienen war. Wegen dieser Broschüre wurde Roßmäßlers zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

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154 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens gleich Frömmigkeit, d.h. sittliche Hingebung an das, was recht und ehrbar ist, niemand besser ansteht als dem Arbeiter. Neben klarer Erkenntnis der Mängel eurer Lage und der Mittel zur Abhilfe jener tut euch daher vor allem Naturkenntnis not; denn alles, was ihr verarbeitet, alles womit ihr arbeitet, bietet euch die Natur in geringer oder höherer Vollkommenheit, und eben diesen Vollkommenheitsgrad kann nur der ermessen und sich verschaffen, der die Natur dieser Dinge kennt. Nun bin ich jetzt aber nicht, wie es auf den ersten Blick wohl scheinen könnte, so dumm und kaltherzig wie jener, welchen einem Armen, der ihn um Kleidung ansprach, erwiderte: »Warte, mein Freund, ich will gleich Lein säen lassen, damit ich Leinwand zu einem Herd für dich bekomme.« Ich würde aber ein solcher kaltherziger Dummkopf sein, wenn ich dem Arbeiter zumutete, so lange mit der Abhaltung des Kongresses und der Inangriffnahme der Arbeiterfrage zu warten, bis alle Arbeiter auf demjenigen Standpunkt der Bildung und des Wissens angekommen sein werden, wo sie sicher in kürzerer oder längerer Zeit ankommen werden. Dies ist allerdings in drei Monaten nicht zu bewerkstelligen. Was aber in dieser Zeit bewerkstelligt werden kann und erreicht werden muß, ist dennoch viel. Versuchen wir es einmal, uns klar zu werden, was dieses sei. Es ist zunächst: den Tatbestand der Arbeiterfrage festzustellen, d.h., wie es auf diesen Seiten schon mehrfach vorkam, euch über die Mängel eurer lage vereint klar zu werden und über die Mittel nachzussinnen, wie diesen ohne jede Störung der bürgerlichen Ordnung abgeholfen werden kann. Dies ist euch allein und wen ihr sonst als Vertrauensmann etwa dazuziehen wollt, zu überlassen, denn Ihr wisst am besten, wo euch der Schuh drückt, und das weiß ich, es sind in euren Kreisen tüchtige und ehrenwerte Männer, welche hier mit Rat und Tat beistehen können. Hierbei wird es sich herausstellen, was und wie viel von solchen Missständen jeder einzelne beseitigen kann und was dagegen nur den vereinten Kräften weichen wird. Dies muß und wird jeden einzelnen zur Selbstprüfung führen, und daraus wird und muß persönliches Streben folgen, die Wurzel, aus welcher der eine mächtige Stamm des gemeinsamen Streben hervorgehen muß. Weiter müsst Ihr euch klar werden, wie es anzufangen ist, dass die Arbeit auch bei uns die Achtung erlange, welche sie in England und in den Vereinigten Staaten hat, was allerdings bei uns zum Teil auf anderen Bedingungen wird beruhen müssen als dort. Dort ist diese Bedingung in der Hauptsache das »Geldmachen«, denn da die Arbeit, auch die niedrigste, Geld macht, so ist

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dort jede Arbeit, auch die niedrigste, geachtet. Obgleich wir nun dem Gelde auch nicht abhold sind, so ist doch zum Glück Geldmachen bei uns nicht das Haupttriebrad des Gewerbefleißes. Der deutsche Arbeiter will leben, und dazu ist das Geld das Mittel, es ist bei uns nicht allgemein höchster Zweck. Wenn diese Bedingung der Achtung der Arbeit bei uns nahezu wegfällt, worüber wir uns freuen dürfen, so haben wir uns über einen andern Grund, weshalb die Arbeit bei uns weniger geachtet ist, nicht eben zu freuen. Er liegt darin, dass man bei uns nicht an die Arbeit, sondern an die Person des Arbeiters den Maßstab der Achtung anlegt, einen Maßstab, welchen unsere unfreieren Institutionen geschaffen haben. Durch diese sind die Staatsbürger in eine langmächtige Stufenleiter von niedrigst, niedrig, ein bisschen höher, noch höher und höchst geordnet, auf welcher der um eine Sprosse höher Stehende gewöhnlich mit Geringschätzung auf den zunächst unter ihm, aber leider meist auch mit Unterwürfigkeit auf den zunächst über ihm Stehenden sieht. Nach dieser Stufenleiter wird nun bei uns auch aller übrige geordnet und ausgeteilt, leider auch Bildung und Wissen; und so ist es zuletzt nicht der niedrigere Stand auf dieser Stufenleiter, sondern die damit verbundene niedrigere Bildung, was dem Arbeiterstande die ihm gebührende Achtung entzieht. Durch dieses beklagenswerte Klassenverhältnis, nicht von der Arbeiterklasse selbst, ist der tiefe Bildungsstand dieser wesentlich mitverschuldet. Es bringt es mit sich, dass aus vielen Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft der Arbeiter, weil er Arbeiter ist, sich ausgeschlossen sieht, aus Kreisen, in welchen wenigstens die äußerliche Politur (wenn auch oft nichts weiter) zu erwerben wäre. Es ist darum unbrüderlich, dem Arbeiter »Rohheit« vorzuwerfen, sie selbst verschuldet haben. Ein weiterer Grund, weshalb in den genannten Ländern die Arbeit geachtet ist, liegt darin, daß dort der Arbeiter den höheren Ständen politisch gleichberechtigt ist und sich also im Bewusstsein dieser Gleichberechtigung nicht demütig unter, sondern mit Selbstgefühl neben die von Glücks- und Geistesgütern Gesegneten stellt. Daß dies bei uns leider anders ist, wißt und empfindet ihr selbst am besten. Die große Mehrheit des Volkes, fast allein von dem Arbeiterstande gebildet, ist einer die Staatsgesetze miterlassenden, besitzenden Minderheit gegenüber eine botmäßige, beherrschte, willenlose Masse, welche eben an der Gesetzgebung und durch sie an der Staatsordnung keinen oder für jeden einzelnen nur einen verschwinden kleinen Anteil hat. Wo soll da im Gefühl dieser unwürdigen Stellung

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156 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens bei den Arbeitern Selbstachtung herkommen? Wie sollen die herrschenden Stände sich veranlasst fühlen, die politisch so tief unter ihnen Stehenden besonders zu achten? Wer mir dies widerlegen kann, der sei so gut, es zu tun. Bis dahin aber werde ich es für der Arbeiter nächste Aufgabe halten, dieser Sachlage sich klar bewußt zu werden zu werden und dann sofort einzusehen, dass sie bloß ein Mittel haben, sich Achtung zu erzwingen: Bildung und Wissen. Denn Gott sei Dank, wenn man auch von seiten der öffentlichen Fürsorge hier eben noch viel versäumt, so machen es doch unsere Einrichtungen nicht unmöglich, das persönlich an uns nachzuholen, was öffentlich an uns versäumt worden ist. Ich werde mich nicht wundern, wenn jetzt mancher von euch einwendet, dass dies eine starke Zumutung sei. »Wenn wir den Tag über angestrengt gearbeitet haben, sollen wir uns abends noch geistig anstrengen und dazu wohl obendrein auch noch einen Teil der Sonn- und Festtage verwenden?« Wer mir jetzt diese Einwendung macht, nun, der steht eben noch nicht in der Arbeiterbewegung, sondern als müßiger Zuschauer daneben. Ich sage nicht, wie es hier mancher vielleicht tun würde: mit denen habe ich also nicht zu schaffen, o ja, mit denen habe ich es erst recht zu schaffen; denn guten Rat erteilt man nicht denen, welche denselben schon von selbst befolgen, sondern denen, welche ihn erst befolgen sollen und dazu bis jetzt vielleicht gar keine Lust verspürten. Erlaubt mir hierüber noch zwei Worte. Einmal ist die Zahl derer, welche diesen Rat bereits befolgen, welche also statt auf die Herberge oder in ein anderes Bierhaus zu gehen, an einigen Abenden in einem Bildungsvereine nützliche Vorträge anhören, schon eine sehr ansehnliche, wenn schon immer noch sehr gering im Vergleich zu der Menge der deutschen Arbeiter. Und dann soll euch ja das Lernen keine anstrengende Arbeit sein. Wenn irgendwo das Wort »belehrende Unterhaltung« einen richtigen Sinn hat, so hat es ihn euch gegenüber. Wenn euch ein Vortrag bloß mit Gedächtnisfutter abspeist, was unverdaut morgen wieder fortgeht, oder wenn euch jemand gelehrten Krimskrams vorpredigt, so bleibt nicht etwa weg, sondern schafft solche Vortragende selbst weg von der Stelle, wohin sie nicht gehören: von dem ehrwürdigsten aller Lehrstühle, von dem Lehrstuhle des Volksredners. Habt ihr aber die rechten Männer gefunden, so werdet ihr dann sicher nicht von »arger Zumutung« reden. Vielleicht geht ihr die erstenmale nur widerstrebend und wie zur Probe zu ihnen, – aber ich wette darauf – bald wird es euch zu ihnen ziehen. Notabende wenn sie richtige Volksmänner sind, die das Volk kennen, die das Volk lieben

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und die da richtig ermessen, was von ihrem eigenen Wissen dem Volke frommt. Aber auch zugegeben, dass dieses Nachlernen des ohne ihre Schuld Versäumten für manche, meinetwegen für viele, ja für die meisten eine Anstrengung wäre – ich könnte darum doch nicht anders raten. Ist denn das, was ihr erstrebt, keiner Anstrengung wert? Ihr erstrebt Befreiung von der Übermacht des Kapitals, ihr wollt Freizügigkeit, ungehinderte Ausübung eures Gewerbes, ihr seht, und zwar mit Recht, in dem Genossenschaftswesen ein Mittel zu mancherlei Vorteilen, ihr wollt endlich Gleichstellung im Staate und in der Gemeinde – ist dies keiner Anstrengung wert? Und glaubt ihr, dass diejenigen, welche über die Verleihung dieser Rechte und Vorteile mit zu entscheiden haben werden, sich dieselben auf friedlichem Wege – und vor einem andern möchte ich alles Volk bewahrt wissen – anders werden abringen Lassen, als wenn ihr ihnen die zwingende Macht entgegensetzt, welche ein durch und durch ehrenwerter, an echt menschlicher und staatsbürgerlicher Bildung sowie an weltbürgerlichen und gründlichem Fachwissen reicher Arbeiterstand ist? – Erkennt dies! Die Gewinnung der Erkenntnis dieser Sachlage ist, ich wiederhole es, eine zwar nicht eben schwere, aber eben doch noch erst zu erledigende Aufgabe des Arbeiterstandes, und zwar ein Teil der ihm in den bevorstehenden Monaten obliegenden Aufgabe. Ist dieser Teil erledigt, dann wird in der Folgezeit, welche ich eine Wiedergeburt des deutschen Arbeiterstandes nennen möchte, der übrige Teil der Hauptaufgabe, die Gewinnung von höherem Wissen und höherer Bildung um so leichter und um so eifriger gefördert werden, weil dann eben jene Erkenntnis als äußerer Nötigungsgrund zu dem inneren Nötigungsgrunde – dem Bedürfnisse nach Wissen und Bildung selbst – hinzukommt. Ob dieses Bedürfnis bereits ein allgemein gefühltes sei – ich wage es nicht zu entscheiden. Wenn es nicht der Fall sein sollte, so würde ich auch daraus den Arbeitern keinen Vorwurf machen; denn das bisherige Wissen, mit welchem der angehende Arbeiter mit 14 Jahren aus der Volksschule entlassen wird, die rein mechanische Weise, in welcher Regel nach in seinem Berufe ausgebildet wird und in welcher er bis zur Selbständigkeit seine Berufstätigkeit ausübt, schloß beinahe jedes wissenschaftliche Denken und Weiterstreben aus, ließ den Glauben fast mit Notwendigkeit aufkommen, dass das Wort Wissenschaft für ihn ohne Bedeutung sei. Gegenwärtig ist der Übertritt aus der Volksschule in das bürgerli-

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158 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens che Leben ein Abreißen des dünnen Fadens zu nennen, welchen die Schule gesponnen hat, während der Natur der Sache nach das gewerbliche Bildungsleben ihn weiterspinnen sollte. Aber das Schulwissen steht so durchaus in keiner Beziehung zu dem gewerblichen Wissen – das bißchen Lesen, Schreiben und Rechnen ausgenommen –, dass von einem Fortsetzen jenes Wissens im Arbeiterberufe gar keine Rede sein kann. Wer mit vierzehn Jahren keinen klaren Begriff von der Bedeutung der Naturkenntnis und einiger Wissensgebiete für das Gewerbe aus der Schule mitnimmt, wie soll es dem einfallen, nach jenen Kenntnissen zu trachten! Daß dies aber in unserer Zeit ein sehr schädlicher Irrtum ist, kann sehr leicht nachgewisen werden, wenn man den Arbeiter darauf aufmerksam macht, wie vieles sein Gewerbe den neueren Entdeckungen der Wissenschaft vor allem der Naturwissenschaft verdankt und wie viel des wichtigen Neuen er selbst noch hinzufinden kann, wenn er mit den Grundsätzen dieser Wissenschaften einigermaßen bekannt ist. Diese Nachweisung des Zusammenhangs des Gewerbes mit der Wissenschaft ist eine weitere Aufgabe für die allernächste Zeit. Gewiß, diese Aufgabe zu erledigen, werden denen, die sie sich vornehmen, die Arbeiter selbst durch hingebende Aufmerksamkeit leicht machen, wenn diese sich nur daran erinnern wollen, was ihnen z.B. die Chemie und Physik und die naturgeschichtliche Rohstoff-Kunde für Nutzen zu bringen vermögen. Ich muß mich übrigens, ehe ich weitergehe, noch vor einem anderen, etwas für sich habenden Einwand wappnen. Es könnte euch belieben zu sagen: Warum mutest du nur immer uns Lernen zu und nicht auch den sogenannten höheren Ständen? Antwort: Mit den letzteren habe ich hier nichts zu schaffen. Ich weiß sehr wohl, dass man mit verhältnismäßig größerem Recht – denn sie haben meist eine bessere Jugendbildung genossen – auch ihnen das Fortlernen predigen könnte, und ich habe es mündlich und gedruckt auch oft genug getan. Sie mögen aber wahrscheinlich denken, sie brauchten es nicht, denn sie haben das ja auch ohne Wissen und Bildung, was ihr erst erringen wollt und ohne Wissen und Bildung nimmermehr erringen werdet. Übrigens wollen wir nicht ungerecht sein – es würden sich unter den höheren Ständen tausend Vorbilder eins richtigen Strebens, in Wissen und Bildung mit der Zeit fortzugehen, nachweisen lassen: Was ihnen eine um so größere Ehre ist, als sie es aus innerem Antrieb tun, euch aber es jetzt zunächst nur als Mittel zur Erreichung eurer Zwecke angeraten wird. Wir haben bisher immer von Wissen und Bildung als von zwei ver-

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schiedenen Dingen gesprochen, die sie auch sind. Bildung wird nicht lediglich durch Wissen bedingt, und Wissen kann recht gut ohne Bildung bestehen. Aber die Verbindung, ja die Verschmelzung beider macht den Mann, wie ihn unsere Zeit verlangt. Es kann jemand erstaunlich viel Wissen besitzen und doch ein ungebildeter Mensch sein, und ein gebildeter Mann kann ein sehr unwissender Mensch sein. Der Arbeiter unserer Zeit bedarf aber Wissen und Bildung, das erstere macht ihn tüchtig zu seinem Berufe, und das zweite befähigt ihn, eine geachtete Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen und gewährt ihm unabweisbaren Anspruch auf alle staatsbürgerlichen Rechte, die ihm zum Teil noch vorenthalten werden. Also welchen unberechenbar großen Wert haben Wissen und Bildung für den Arbeiterstand! Geschrieben 1862/1863 E.A. Roßmäßler: Ein Wort an die deutschen Arbeiter. Berlin 1863 (Roßmäßler, Emil Adolf: Ein Wort an die deutschen Arbeiter. Leipzig 1863, S. 6-11 )

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Ludo Moritz Hartmann

Ludo Moritz Hartmann (1865-1924)

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) T01_10 Bild-Hartmann.p 172059251172

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Volksbildung: Ludo Moritz Hartmann

Wien hat bezogen auf wissenschaftliche Weiterbildung eine lange Tradition. Vor mehr als 110 Jahren ist dort die erste Serie »Volkstümlicher Universitätsvorträge« durchgeführt worden. Nach den Impulsen der »University Extention« an der Universität Cambridge 1873 war der Anstoß zur Öffnung der Universitäten über die Hochschulen in Belgien 1892 auf dem Kontinent aufgenommen worden. Durch die Initiative und Bemühungen des Historikers Ludo Moritz Hartmann (1865-1924) wurden dann nach ersten Vorstößen seit 1893 an der Wiener Universität und später auch an anderen österreichischen Hochschulen diese Aktivitäten institutionell verankert. Sie erhielten schnell weit reichende Wirksamkeit und fanden breite Resonanz. Der wichtigste Initiator der »Volkstümlichen Universitätsvorträge« Ludo Moritz Hartmann (18651924) wirkte als Historiker, Erwachsenenbildner, sozialdemokratischer Politiker und Universitätsprofessor. Als Sohn des Dichters Moritz Hartmann wurde er am 2. März 1865 in Stuttgart geboren. Die Familie übersiedelte 1868 nach Wien. Nach der Matura studierte Ludo Moritz Hartmann in Wien, Straßburg und Berlin. Dort promovierte er 1887 mit der Dissertation »De exilio aput Romanos« zum Doktor der Philosophie bei Theodor Mommsen. Ab 1889 war er Privatdozent an der Universität Wien für Römische Geschichte und Geschichte des Mittelalters. Sein Hauptwerk als Historiker »Geschichte Italiens im Mittelalter« erschien zwischen 1897 und 1915 in sechs Einzelbänden. Er wurde allerdings erst 1918 zum ExtraOrdinarius ernannt. Gleichzeitig war er bis November 1920 Gesandter der Republik Deutsch-Österreich in Berlin, anschließend wurde er von 1920 bis 1924 Mitglied im Bundesrat als Vertreter Wiens. Am 30. Ju-

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164 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens li 1924 wurde er zum ordentlichen Professor der Universität Wien ernannt, starb allerdings bereits am 14. November 1924.

Volkstümliche Universitätsvorträge Die bleibenden Aktivitäten von Ludo Moritz Hartmann liegen auf dem Gebiet der Volksbildung. Er regte bereits 1890 an, Vorträge zu Unterrichtskursen zusammenzufassen. 1893 wurde auf seine Initiative der »Ausschuss für volkstümliche Universitätsverträge der KuK. Universität Wien« gegründet. Es gelang die Unterstützung der Universität und des Staates zu erhalten. »Dank der staatlichen Subvention, die es ermöglichte, die Lehrenden angemessen, wenn auch nicht glänzend zu honorieren und den Lernenden nicht allzu große materielle Opfer zuzumuten; Dank der Leitung durch die Universität, die Lehrenden und Lernenden Vertrauen zu dem neuen Unterrichtssystem einflößte, dank der Wissbegier der Bevölkerung, welche die Lehrenden zu begeistertem Eifer anspornte und den Eifer der Lernenden niemals erlahmen ließ – haben sich die Wiener volkstümlichen Universitätskurse in den 5 Jahren des Bestehens überraschend entwickelt. Die Zahl der Kurse konnte in Wien von 58 auf 77 vermehrt werden, und die Durchschnittszahl der Besucher stieg trotzdem von 100 auf 123, die Gesamtzahl von 6200 auf 9500« (Hartmann 1900 [Nachdruck 1992, 171]). »Zur Ausgestaltung der Volkstümlichen Universitätskurse« (Quellentext) schrieb Hartmann: »Die Richtung der Fortentwicklung muss sich aus den erwachsenen Bedürfnissen ergeben; ist ja doch das vielleicht der Hauptvorzug der neuen Unterrichtsorganisation, dass sie innerhalb gewisser Grenzen unbedingt anpassungsfähig ist. Innerhalb gewisser Grenzen: denn es versteht sich nahezu von selbst, dass alles Politische gemäß den Statuten von den Universitätskursen strengstens ferngehalten werden muss, will man nicht die Institution nach unten und nach oben in gleicher Weise gefährden; die Politik gehört überhaupt nicht in den Rahmen einer allgemeinen Unterrichtsorganisation, und der politische Unterricht mag füglich den politischen Parteien überlassen werden. Eine andere Beschränkung legt der Hochschulcharakter auf: Die Universitätskurse müssen auf den eigentlichen Elementarunterricht verzichten; die großen Lücken, welche unser Volksunterricht in Österreich lässt, müssen auf andere Weise ausge-

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Volksbildung: Ludo Moritz Hartmann | 165 füllt werden; manches leisten die Arbeiterbildungsvereine, anderes könnte, wie in Dänemark, durch Leistungen der Studentenvereine, die sich sozial betätigen wollen, geschehen« (ebd. 171/172).

Volksbildungsbestrebungen Hartmann verfolgte auch weiter reichende Pläne, die das gesamte Volksbildungswesen umfassten: »Man kann die Schaffung einer solchen Institution bei uns nicht als Utopie bezeichnen; es muss nur der letzte Schritt in diese Richtung noch gethan werden, und die ›Volksuniversität‹ wird sein, ehe man sich’s versieht. Sie wird aber dann auch das einigende Band für alle ähnlichen Bestrebungen und Vereine, die der Volksbildung dienen, sein« (ebd. 176).

Solche weiteren Volksbildungsbestrebungen hat Ludo Moritz Hartmann selbst in Gang gesetzt und unterstützt. Mit hohem Einsatz konnte der Wiener Volksbildungsverein den Bau eines eigenen Hauses finanzieren. In dem 1900 gegründeten Frauenbildungsverein Athenäum war Hartmann stellvertretender Obmann. Die Forderung zur Einrichtung des Volksheims in Ottakring, welche von den Hörenden ausging, wurde von Emil Reich und Ludo Moritz Hartmann aufgenommen und umgesetzt. Die Gründungsversammlung erfolgte am 24.2. 1901. 1905 erhielt das Volksheim die erste Abend-Volkshochschule Europas. In den zwanziger Jahren erreichte die wissenschaftliche Bildungsarbeit mit und für Laien einen international beachteten Höhepunkt. Hartmann war maßgeblich am Zustandekommen der deutschen Volkshochschultage beteiligt. Er war 1916 Delegierter des »Zentralverbands der deutsch-österreichischen Volksbildungsvereine«. Mit der Hörerstatistik der Volkstümlichen Universitätsvorträge legte er die erste empirische Untersuchung im Bereich der Volksbildung vor. Bis zu seinem Tod begleitete er die Funktion eines stellvertretenden Obmannes des Volksheimes.

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Ludo Moritz Hartmann (um 1918)

Literatur Schriften Untersuchungen zur Geschichte der byzantinischen Verwaltung in Italien. 1889 Über historische Entwicklung. 1905 Theodor Mommsen, eine biographische Skizze. 1908 Das Volkshochschulwesen. 1910 Preussisch-österreichische Verhandlungen über den Crossener Zoll und über einen General-Commerz-Tractat zur Zeit Karls VI. 1915 100 Jahre italienischer Geschichte 1815-1915. 1916 Christentum und Sozialismus. 1916

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Über den Beruf unserer Zeit – optimistische Betrachtungen. 1917 Kurzgefasste Geschichte Italiens – von Romulus bis Viktor Emmanuel. 1924.

Darstellungen Filla, Wilhelm/Judy, Michaela/Knittler-Lux, Ursula (Herausgeber): Aufklärer und Organisator – Der Wissenschaftler, Volksbildner und Politiker Ludo Moritz Hartmann. Picus Verlag. Wien 1992.

Zeittafel 1865 1868 1883 1887 1889 1889 1890 1890 1893 1893 1895 1899 1900

1901 Ab 1903 1905

02. März Geburt als Sohn des Dichters Moritz Hartmann in Stuttgart. Übersiedlung der Familie nach Wien. 04. Juli Matura, danach Studien in Wien, Straßburg und Berlin 01. März Promotion zum Doktor der Philosophie in Berlin Veröffentlichung der Habilitationsschrift 16. August Privatdozent an der Universität Wien für römische Geschichte und Geschichte des Mittelalters 05. Januar Volksbildnerisches Debüt Entstehung der »Unterrichtscurse«; Beginn der Mitgliedschaft im Verein für Sozialpolitik 21. Januar Heirat mit Grete Chrobak »Ausschuss für volkstümliche Universitätsvorträge der K.K. Universität Wien« Mitbegründer des »Sozialwissenschaftlichen Bildungsvereins« Mitbegründer der »Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten« Gründung des »Verein für Abhaltung wissenschaftlicher Lehrkurse für Frauen und Mädchen ATHENÄUM«; Initiative zur Gründung einer Volkshochschule mit Emil Reich 24. Februar Gründungsversammlung des Vereins »Volksheim« »Wissenschaftliche Ferialkurse« in Salzburg 19. März Konstituierende Versammlung des Vereins »Freie Schule«

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05. November Eröffnung des europaweit ersten Abendvolkshochschulgebäudes 1907 24. April Konstituierende Sitzung der Soziologischen Gesellschaft in Wien 1909-1911 Bau und Ausbau des Gebäudes des »Volksbildungsvereines« 1909-1912 Veröffentlichungen in der Zeitschrift »Mein Kampf« zur »nationalen Frage« 1911 Erfolglose Bewerbung um ein Mandat im Reichstag 1917 Mai: Teilnehmer an den Stockholmer Friedensgesprächen 1918 Dezember bis November 1920 Gesandter der Republik Deutschland-Österreich in Berlin 1918 31. Dezember Ernennung zum Extraordinarius 1919 12. März Ersatzmitglied im Ausschuss für Erziehung und Unterricht sowie im Verfassungsausschuss August 1919 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn 1920-1924 Mitglied im Bundesrat als Vertreter Wiens 1922 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Heidelberg 1924 30. Juli Ernennung zum ordentlichen Professor der Universität Wien 1924 14. November Tod Ludo Moritz Hartmanns

Quellentext Zur Ausgestaltung der volkstümlichen Universitätskurse Von Privatdozent Dr. Ludo M. Hartmann – Wien (1900) Dank der staatlichen Subvention, die es ermöglichte, die Lehrenden angemessen, wenn auch nicht glänzend zu honorieren und den Lernenden nicht allzu grosse materielle Opfer zuzumuten; dank der Leitung durch die Universität, die Lehrenden und Lernenden Vertrauen zu dem neuen Unterrichtssysteme einflösste; dank der Wissensbegier der Bevölkerung, welche die Lehrenden zu begeistertem Eifer anspornte und den Eifer der Lernenden niemals erlahmen liess – haben sich die Wiener volkstümlicher Universitätskurse in den 5 Jahren ihres Bestehens überraschend entwickelt. Die Zahl der Kurse konnte in Wien von 58 auf 77 vermehrt werden, und die Durchschnittszahl der Besucher stieg trotzdem von 107 auf 123, die Gesamtzahl von 6200 auf

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9500. Nahezu drei Viertel der eingeschriebenen Hörer waren in den letzten Vorträgen der Kurse noch anwesend. Zugleich breitete sich die Bewegung auf dem Lande aus, und im letzten Jahre wurden ausserhalb Wiens 21 von der Wiener Universität veranstaltete Kurse von 6372 Personen besucht1. Kurz nach Beginn der Wiener Kurse haben nahezu alle österreichischen Universitäten das in Wien gegebene Beispiel befolgt2, und es wirkte auch anregend und ermunternd auf die Bewegung in Deutschland, welche die gleichen Ziele verfolgt. Je größer die Freude an der Schnelligkeit der Entwicklung, die sogar die anfänglichen Erfolge der University Extension in England übertrifft, desto zwingender auch die Pflicht, den weiteren Entwicklungstendenzen entgegenzukommen und in der Organisation keinen Stillstand eintreten zu lassen. Die Richtung der Fortentwicklung muss sich aus dem erwachsenen Bedürfnissen ergeben; ist ja doch das vielleicht der Hauptvorzug der neuen Unterrichtsorganisation, dass sie innerhalb gewisser Grenzen unbedingt anpassungsfähig ist. Innerhalb gewisser Grenzen: denn es versteht sich nahezu von selbst, dass alles Politische gemäss den Statuten von den Universitätskursen strengstens ferngehalten werden muss, will man nicht die Institution nach unten und nach oben in gleicher gefährenden; die Politik gehört überhaupt nicht in den Rahmen einer allgemeinen Unterrichtsorganisation, und der politische Unterricht mag füglich den politischen Parteien überlassen werden. Eine andere Beschränkung legt der Hochschulcharakter auf: die Universitätskurse müssen auf den eigentlichen Elementarunterricht verzichten; die großen Lücken, welche unser Volksunterricht in Österreich lässt, müssen auf andere Weise ausgefüllt werden; manches leisten die Arbeiterbildungsvereine, die sich sozial bethätigen wollen, geschehen. Das Gebiet, das durch diese Grenzen abgesteckt ist, ist noch weit genug. Wenn bei der Zusammensetzung der Kurse bisher vor allem darauf gesehen wurde, dass Gegenstände allgemeineren Interesses in wissenschaftlicher Weise behandelt wurden, um die Denkfähigkeit der Hörer durch Beispiele in der einen oder der anderen Richtung zu schärfen, so wird dieser Zug nach der allgemeinen Bildung, nach einer Erweiterung und Vertiefung des elementaren Wissens und Denkens, das die allgemeine Volksschule vermittelt, wohl auch künftig der Mittelpunkt der Entwickelung bleiben. Es ist aber andererseits natürlich, dass, wie sich auch durch die Statistik herausgestellt hat, von den einzelnen vielfach diejenigen theoretischen Kurse bevorzugt werden, welche ihnen als Ergänzung ihrer praktischen Thätigkeit erscheinen3, von den Photographen Chemie, von den Monteuren Elektrotechnik, von

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170 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Zeichnern und Bildhauern Kunstgeschichte u.s.w. Es wurden auch schon vielfach von Fachgruppen Wünsche laut, die sich auf die Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse bezogen. Man wird sicherlich diesen Wünschen entgegenkommen, ja die Interessen aneifern müssen, diese Wünsche zu äussern. So stellten z.B. die Angestellten im Handels- und Speditionsgewerbe einen nicht unbeträchtlichen Teil der Hörer: sie wünschen Kurse über Handelsgeographie, und es ist nicht unmöglich, dass, wenn dieser Wunsch berücksichtigt wird, die geographischen Kurse, die bisher wenig besucht waren, stärkeren Zuspruch finden werden. Auf dem Lande wird man in nichtindustriellen Gegenden landwirtschaftliche Kurse einrichten müssen, die sich z.B. in Dänemark so gut bewährt haben usw. Auch die Kurse für Lehrer, also für einen Stand, der schon bis 1898 mehr als 8 % der Hörer stellte, gehören in diese Kategorie; gewiss wird es in nächster Zukunft eine der Fragen sein müssen, welche zu lösen sind, in welcher Weise Universitätskurse für Lehrer einzurichten sind, welche auf die höhere Vorbildung der Lehrer Rücksicht nehmen. Allein es wäre unseres Erachtens ein Irrtum, zu glauben, dass solche Kurse für Lehrer die volkstümlichen Universitätskurse überhaupt ersetzen könnten, wenn die Lehrer dann ihrerseits die Vermittlung der so erworbenen Kenntnisse an die weiteren Kreise übernähmen. Denn es genügt nicht für einen gedeihlichen Unterricht, wenn der Lehrende gerade nur über die Kenntnisse verfügt, die er weiter vermitteln soll; der Lehrende muss über dem Lehrstoff stehen; in der Auswahl und Disposition des Stoffes, die allerdings viel sorgfältiger sein muss, als im Universitätskolleg, liegt eine grosse Schwierigkeit, die der Lehrer, der den Stoff frisch in sich aufgenommen hat, kaum wird bewältigen können. Der Lehrer, der nicht Spezialist ist, wie der Universitätslehrer, kann niemals das enge Verhältnis zu seinem Stoffe gewinnen, wie der Forscher selbst und könnte bei aller Hingebung und trotz der grössten pädagogischen Erfahrung nur ein Surrogat dessen geben, was der Universitätslehrer bietet, wenn er einmal populär vorzutragen gelernt hat. Wenn man aber auch den Volksschullehrern die ihnen von manchen zugedachte Rolle nicht wird zuteilen wollen, bevor sie nicht selbst eine ganz andere Bildungsgrundlage gewonnen haben, als unter den heutigen Verhältnissen möglich ist, so wird man doch anerkennen müssen, dass Kurse für Lehrer von besonders grosser Bedeutung sind, weil jede Förderung der Lehrerbildung unendlich vervielfältigt zurückwirkt auf die elementare Bildung der heranwachsenden Generation. Wenn sich solche Kurse für bestimmte Fachgruppen oder mit besonderer Berücksichtigung bestimmter Fachgruppen schon einen un-

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mittelbar praktischen Zweck verfolgen, so wird man auch den Beschluss des Wiener Ausschusses für volkstümliche Universitätskurse, im Jahre 1900-1901 provisorisch fakultative Prüfungen und Zeugnisse einzuführen, als einen weiteren Schritt in dieser Richtung betrachten können4. Bisher schloss sich an jeden Vortrag nur eine freie Fragestellung von seiten der Hörer oder des Vortragenden an, und diese Besprechungen, die sich namentlich in Arbeitergegenden, sobald die Hörer einmal die erste Scheu überwunden hatten, sehr lebhaft gestalteten, waren für Lehrer und Hörer nicht der am wenigsten belehrende Teil des Abends. Die Einführung von Zeugnissen wird nun gewiss nicht nur den Ehrgeiz einzelner anspornen, sondern auch für viele von praktischem Nutzen sein, wenn auch noch keine Berechtigungen mit der Ablegung einer solchen Prüfung verbunden sind. Der Monteur, der nachweisen kann, dass er mehrere Kurse über Elektrotechnik, Mechanik usw. mit gutem Erfolg gehört hat, wird gewiss bei seinem Fortkommen einen Vorsprung vor seinen Kollegen haben. Allerdings ist es notwendig, dass zur Erreichung dieses praktischen Zieles die Prüfungen von vornherein ernsthaft behandelt werden, und so hat der Ausschuss vorsichtigerweise, um den Wert dieser Zeugnisse nicht herabzusetzen, beschlossen, nur solche Hörer zur Prüfung (oder richtiger »Besprechung«) zuzulassen, welche nachweisen können, dass sie mindestens 3 Kurse, welche ein grösseres Wissensgebiet in Fortsetzungen behandeln, gehört haben. Die neue Einrichtung wird aber auch durch den Zwang zum Nachstudieren, den sich der einzelne freiwillig auflegen wird, in dem er Handbücher über den Gegenstand durcharbeitet, wie sie z.T. in den kleinen, viel benutzen Kursbibliotheken oder in den Volksbibliotheken zur Verfügung stehen, zur Intensivierung des Lernens beitragen. Aus den schon bisher üblichen Besprechungen, aus vielen Eingaben, die an die Leitung der volkstümlichen Kurse gemacht wurden, ergiebt (im Orig., d. Red.) sich das Bedürfnis, das die Elite der Hörerschaft empfindet, noch weiter in den vorgetragenen Gegenstand einzudringen, als dies selbst durch Anhören von 3-4 Fortsetzungskursen möglich ist; man verlangt nach allgemeinen Kursen Spezialkurse, auf Grund der Kenntnisse der Grundlinien des Eindringens in die Methoden. Ein Vortragender berichtet, dass sich 38 Teilnehmer an seinen Kursen an ihn mit der Bitte wendeten, eine Organisation schaffen zu helfen, in welcher die Möglichkeit gegeben wäre, unter der Leitung der Vortragenden eingehendere Studien zu machen, und bemerkt, dass, da sich die Zahl der Vorgeschrittenen beständig eben durch den beharrlichen Besuch der volkstümlichen Kurse und das dadurch angeregte und ge-

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172 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens leitete Privatstudium vermehrt, das Bedürfnis nach besonderen Vorträgen für besser Vorgebildete gerade geschaffen wird5. Kaum einer der von den Vortragenden wird nicht mit dem einen oder dem anderen seiner Hörer in engere Beziehung getreten sein, um ihn weiter nach der einen oder der anderen Richtung hin anzuleiten, wird nicht den Wunsch empfunden haben, eine Anzahl seiner Hörer durch Lektüre und Erklärung von Quellenschriften, durch praktische Übungen weiterzuführen. Hier liegt ein starkes Bedürfnis vor, das befriedigt werden muss und das zu seiner Befriedigung einer Organisation bedarf. Im Rahmen unserer volkstümlichen Universitätskurse lassen sich die Fortsetzungskurse ausbauen, die Besprechungen stärker betonen, vielleicht auch »Sommer-Meetings« im Sinne der englischen ins Auge fassen. Doch würde dies alles wohl nicht allein genügen. Nachdem die Universitätslehrer zum Volke gegangen sind, will nun das Volk zu den Universitätslehrern gehen, um sich unter ihrer Leitung auch selbstthätig zu bewähren. Wie die Kollegien in den Seminaren, so fordern die Kurse in einer analogen Einrichtung ihre Ergänzung, nur dass die Berührung zwischen Lehrer und Lernenden umso enger sein muss, der Lehrende um so mehr von sich ausgeben muss, je unbehilflicher die neuen Schüler sind; der Umgang umso zwangloser, je mehr er auf Freiwilligkeit beruht. Es ist schwer anzunehmen, dass die Universität in ihrer heutigen Organisation als solche auch dieses Experiment unternehmen wird. Genug vorläufig, dass sie durch die volkstümlichen Kurse die Grundlage geschaffen hat, die einen weiteren Ausbau ermöglicht, und die Lehrer stellt, die sich Vertrauen erworben haben und zur Mitleitung der neu zu schaffenden Organisation bereit sind. Diese selbst muss aus der Selbstthätigkeit der Interessenten, d. i. der Hörer der volkstümlichen Kurse hervorgehen. Ein Verein der Hörer der volkstümlichen Universitätskurse muss sich bilden, dem sich vielleicht auch die Leser der Volksbibliotheken anschliessen und an dessen Leitung und Thätigkreit, die Universitätslehrer teilnehmen. Zunächst ein kleines Heim, etwa einige Zimmer in den westlichen Vororten, ist nötig, in dem Lehrmittel, Bücher und Demonstrationsobjekte, konzentriert werden, als Sammelpunkt für die Lernenden und die Lehrenden. An jedem Wochentage werden sich hier einige Dozenten einfinden und diesen auf bestimmte Fragen Auskunft geben, jenen Anleitung zur richtigen Lektüre in ihrem Fache erteilen; an einem Wochentage wird von einem kleinen Kreise etwa ein philosophischer Schriftsteller gelesen und erläutert werden, an einem anderen werden physikalische Experimente angestellt, an einem drit-

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ten wohl auch ein Fortbildungskurs gehalten, an einem weiteren Hörer zur Führung in ein Museum vorbereitet. Der physikalische Apparat der volkstümlichen Kurse, der in Vorbereitung ist6, die kleinen schon bestehenden Kursbibliotheken könenn als Ansätze für diese intensivere Bildungsthätigkeit dienen; andere Vereine mögen zum Zwecke der Bibliotheksgründung kooperieren: eine Verbindung mit der Zentralbibliothek wäre sehr wünschenswert. Auch andere Hilfskräfte, Lehrer, Studenten mögen zu bestimmten fest umgrenzten Arbeiten herangezogen werden. So kann etwas den analogen englischen Instituten Ähnliches entstehen, zunächst das, was in Frankreich als Volksuniversität bezeichnet wird und was Deherme zuerst in Paris ins Leben gerufen hat, ohne dass er eine Anlehnung an volkstümliche Universitätskurse gehabt hätte, wie sie bei uns möglich ist?7 Man kann die Schaffung einer solchen Institution bei uns nicht als Utopie bezeichnen; es muss nur der letzte Schritt in dieser Richtung noch gethan werden, und die »Volksuniversität« wird sein, ehe man sich’s versieht.Sie wird aber dann auch das einigende Band für alleähnlichen Bestrebungen und Vereine, die der Volksbildung dienen, sein. Das Volksbibliothekswesen und das Vortragswesen sind bei uns schon auf eine relativ hohe Stufe gebracht, dass sie zur Konzentration und Zusammenarbeit hindrängen. Und der weitere Schritt, der dann gethan werden muss, führt zum Volkspalaste. Die Errichtung eines Volkspalastes ist bei uns eigentlich nur noch eine finanzielle Frage. Wenn er stände, könnten wir ihn mit Büchern und Lesern, mit Vorträgen und Schülern und mit allen anderen nötigen Einrichtungen in einmütiger zielbewusster Arbeit der schon bestehenden Korporationen prächtig füllen. So darf man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich auch bei uns einmal die Mittel zu einem gemeinnützigen Unternehmen so grosser Art finden und dass der Rahmen für das schöne Bild nicht fehlen wird.

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. den beiliegenden Bericht für 1899-1900, S. 10f. Vgl. den Bericht für 1898-1899, S. 21ff. Vgl. den Bericht für 1897-1898, S. 49 Die Innsbrucker volkst. Univ.-Kurse haben, ebenso wie die englischen, solche Prüfungen von vornherein in ihren Statuten vorgesehen.

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174 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 5 Vgl. den Bericht für 1899-1900, S. 22. 6 Vgl. den Aufsatz von Lampa S. 22. 7 Wir werden demnächst eine ausführliche Darstellung Herrn Dehermes über die Pariser Organisation »La coopération des idées«, ihre Entwicklung, gegenwärtigen Stand und und nächste Ziele bringen. Die Red. (Aus: Zentralblatt für Volksbildungswesen. 1. Jg. 1900/01, ausgegeben am 15. November 1900, Nr. 1/2, 17-22.)

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Otto Neurath

Otto Neurath (1882-1945)

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Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath

»Logischer Empirismus« und sozialistische Gesellschaftsveränderungen scheinen auf den ersten Blick unvereinbare Positionen wiederzuspiegeln. Otto Neurath (1882-1945) ging diesen beiden Intentionen nach mit logischer Konsequenz und politischem Engagement. Er wurde bekannt als Mitglied des »Wiener Kreises« der Philosophen des Logischen Positivismus um Moritz Schlick, Inhaber des Mach-Bolzmann-Lehrstuhls für Philosophie der induktiven Wissenschaften. Mehrere Jahre arbeitete er über wirtschaftsgeschichtliche Fragen. Darüber hinaus hat er als Theoretiker einer Planwirtschaft praktisch gewirkt. Er diskutierte in zahlreichen Schriften Methoden der Wirtschaftsplanung und war Exponent der Münchner Räterepublik. Er entwickelte die Bildsprache ISOTYPE und nutzte diese zur öffentlichen Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse: Neurath war der Aktivist des Kreises. Wissen und Denken galten ihm als Leitlinie des Handelns. Otto Neurath wurde im Dezember 1882 in Wien geboren. Sein Vater Wilhelm, Jude und enzyklopädisch gebildeter Jurist und Staatswissenschaftler, lehrte seit 1889 als Professor an der Wiener Hochschule für Bodenkultur. Dessen Leitspruch lautete: »Mensch sein, heißt Kämpfer sein« (zit. Geier 1992, 19). Nach der Schule nahm Neurath im Jahr 1901 ein Universitätsstudium auf und studierte in Wien und Berlin Mathematik, Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie. Bereits in dieser Zeit lernte er Victor Kraft und Hans Hahn kennen, die später ebenfalls innerhalb des Wiener Kreises eine bedeutende Rolle spielen sollten. Im September 1906 promovierte er in Berlin zum Dr.

2008-02-27 09-16-35 --- Projekt: t878.faulstich / Dokument: FAX ID 02ee172059250788|(S. 177-193) T01_11 Neurath.p 172059251228

178 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Phil. mit »summa cum laude« mit der Dissertation: »Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft.« (1906/07). Er wird beschrieben als ein »Gigant von einem Mann« mit einem roten Vollbart, »an die 1.90 Meter groß, ein großer, etwas korpulenter, aber sehr beweglicher Mann, extrovertiert, lebhaft und endlos energisch und unternehmend. Er steckte immer voll Ideen und Plänen« (Geier 1992, 18). Die auch persönliche Spannbreite des Wiener Kreises wird deutlich mit der Ablehnung Schlicks, Neurath bei sich zu Hause einzuladen: »Ich kann doch nicht einen Mann mit einer so lauten Stimme bei mir sehen, hier spielt man Mozart und unterhält sich nachher leise. Was soll da so ein Mann mit einer so lauten Stimme?« (zit. ebd. 18). Neurath fand zunächst eine Anstellung an der Neuen Wiener Handelsakademie und lehrte dort von 1907 bis 1914 Politische Ökonomie. Während des 1. Weltkrieges war er an der Ostfront und gründete 1916 das Kriegswirtschaftsmuseum in Leipzig. Mit einem einschlägigen Thema »Die Kriegswirtschaftlehre und ihre Bedeutung für die Zukunft (erschienen 1918) habilitierte er 1917 an der Universität Heidelberg. Neurath erkundet die Möglichkeit einer radikalen Abkehr von der Geldwirtschaft und die Möglichkeiten von Planung als Regulationsprinzip der Gesellschaft. Die Arbeiten Neuraths zu Problemen der Planwirtschaft sind der Schlüssel zu seinen späteren wissenschaftlichen und politischen Auffassungen. Er befand sich bei Kriegsende in Deutschland. Am 23. Januar 1919 traf er den damaligen Bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und besprach mit ihm das Problem einer Neuorganisation der Wirtschaft. In seiner Schrift »Wirtschaftsplan und Naturalrechnung« (1931) hat Neurath Planungsmethoden anzugeben versucht. Es kam ihm darauf an, dass der Wirtschaftsplan auf dem Wege demokratischer Willensbildung festgelegt würde. In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1919, als über die Ausrufung der Räterepublik in Bayern beraten wurde, war Neurath anwesend. Geführt wurde diese von Hans Toller (USPD), Hans Nikisch (SPD) und den beiden Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam. Alle vier waren Schriftsteller und Dichter. Es ging um den Versuch, die Utopien der Literaten Realität werden zu lassen. Neuraths Beteiligung an der Bayerischen Räterepublik führte zur Verurteilung zu 18 Monaten Festungshaft und gleichzeitig zum Verlust seiner Privatdozentenstelle bei Max Weber in Heidelberg.

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Logischer Empirismus Schon vor Abschluss seiner Promotion hatte Neurath Kontakte zum »Wiener Kreis« aufgenommen. Es handelte sich um einen Gesprächskreis, der sich seit 1922 in Wien um Moritz Schlick bildete. Von daher stammt die Bezeichnung »Philosophie des Wiener Kreises«. Neben Neurath waren dessen führende Mitglieder Rolf Carnap, Herbert Weigel, Kurt Gödel, Hans Hahn, Viktor Kraft und Friedrich Weismann. Dabei vertraten die einzelnen Diskutanten durchaus unterschiedliche Positionen. Gemeinsam ging es ihnen darum, »metaphysisches und theologisierendes Denken« aufzubrechen und durch eine »antimetaphysische Tatsachenforschung« zu ersetzen (Neurath 1979, 81): Scharf stellten sich von daher die Fragen: Was ist eine Tatsache? Was bedeutet Erfahrung? Was ist Empirie? Neurath formuliert in diesem Kontext die Devise: »Wissenschaft dient dem Leben, und das Leben nimmt sie auf« (Neurath 1979, 101). Die Bezeichnung »Logischer Empirismus« stellt eine Klammer da, die eine Abkehr von der Kantischen Transzendentalphilosophie beinhaltet und eine prinzipiell gegenläufige erkenntnistheoretische Annahme: endgültige Erkenntnis könne nur durch Erfahrung gewonnen werden. Dieses Grundkonzept beinhaltet eine breite Möglichkeit von Sinntheorien, welche gemeinsam »Metaphysische Sätze« ablehnen und versuchen diese auf Basistheoreme abzustellen. Das Spektrum reicht vom Phänomenalismus zum Physikalismus. Während die Mehrzahl der Positionen auf Varianten in der Korrespondenztheorie der Wahrheit fundieren, geht Neurath weiter und öffnet den Zugang zu einem sozialen Pragmatismus. Nicht das sinnlich Erfahrbare – die Phänomene – oder das Beobachtbare und Messbare – die Physik –, sondern die soziale Praxis gelten als Begründungszusammenhang. Neurath nähert sich damit dem Austromarxismus. Die Kant’schen Fragestellungen unterstellen ein abstraktes Subjekt, das aber als Illusion entlarvt werden muss. Auch der Kategorische Imperativ erscheint, wenn die Fiktion Gott wegfällt, als ein absurder Befehl, »den niemand gegeben hat und dennoch soll ihn jemand empfangen« (Neurath 1982, 552). Der »absolute Raum hat nur dann einen Sinn, wenn man einen Gott annimmt, der an allen Orten und zu aller Zeit gegenwärtig ist« (Neurath 1981, 552). Der »absolute Raum« ist vielmehr eine Konstruktion. Hintergrund für Neuraths Aktivitäten war eine spezifische Ausprägung des »Logischen Empirismus«, dem es um ein Begründungssystem der Begriffe geht. Innerhalb des Wiener Kreises entstand ein hef-

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180 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens tiger Streit um Status und Form der einfachsten Sätze, die als Basissätze das System begründen und die Neurath »Protokollsätze« nannte. Er behauptete eine prinzipielle Widerlegbarkeit auch der Protokollsätze. Kern seiner Auffassung war, dass nicht Sätze mit der Wirklichkeit, sondern nur Sätze mit anderen Sätzen verglichen werden können. Deshalb kann kein Satz als prinzipiell sicher gelten. Statt einer »Korrespondenztheorie« der Wahrheit, die ein Abbild einer irgendwie vorgegebenen »wirklichen Wirklichkeit« unterstellt, greift der Gedanke der Widerspruchsfreiheit – eine Kohärenztheorie – der Sprache, der Erfahrung und vor allem des Handelns. Neurath nähert sich so einem konstruktivistischen Pragmatismus. Er unternahm es, eine Soziologie der Erkenntnis aufzubauen, d.h. eine Verankerung der Erfahrung in der sozialen Praxis. Es ging ihm um die Vereinbarkeit theoretischer und praktischer Vernunft.

Aufklärung durch Bildersprache Neurath war deshalb auch an einer breiten Beteiligung möglichst vieler am Planungsprozess interessiert. Er betonte den hohen instrumentellen Wert von Statistiken als ein entscheidendes Instrument für den Kampf um eine Lebensordnung, die durch bewusste Planung und Gestaltung charakterisiert ist. Es ging ihm darum, Wissenschaft als Sondereigentum einer kleinen Gruppe Wissender aufzubrechen und zu öffnen. Dazu muss an die Idee von Aufklärung breiter Massen angeknüpft werden. Konzipiert wurde ein »Volksbildungsinstitut für soziale Aufklärung« (1931). Etabliert wurde ab 1924 das heute wieder bestehende »Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum« als Sammlung sinnlicher und bildlicher Darstellungen. Dazu sollten entsprechende Aufklärungs-»Techniken« entwickelt werden. Neurath sah in der Visualisierung gesellschaftlicher Tatbestände durch bildliche Darstellung ein wesentliches Instrument. Dies war sein Arbeitsschwerpunkt ab Mitte der 1920er Jahre. Gesucht wurde »eine Systematik der optischen Darstellungsweisen« (Neurath 1926, 70). Bilder haben nach Neuraths Behauptung gegenüber sprachlichen Erläuterungen den Vorteil, unmittelbar einsichtig zu sein (Quellentext). »Es gibt verwickeltere Zusammenhänge, die ausführlicher Erläuterungen bedürfen, aber die meisten können von einfach denkenden Menschen erfasst

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Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath | 181 werden, wenn man die Gegenstände der Wirklichkeit gewissermaßen verkleinert abbildet!« (ebd.)

Dazu sollen die Figuren standardisiert werden. »Von großer Wichtigkeit sind sprechende Signale, das sind solche, die möglichst weniger Konventionen bedürfen. Den Landarbeiter stelle man als Mann mit einer Sichel, den Bergmann als Mann mit einem Hammer dar. […] Wer sich überhaupt solche Bildtafeln merkt, und gerade der weniger Gebildete reagiert stark auf optische Eindrücke, kann aus dem Bilde ablesen, was es bedeutet.« (Ebd.) »Es kommen überhaupt nur sehr vereinfachte Bilder in Betracht, insbesondere dann, wenn solche Figuren mit andern Darstellungen, z.B. geographischen verbunden werden sollen. Nichts soll im Bilde zu finden sein, das nicht zur Kennzeichnung nötig ist« (ebd.).

Neurath stellt sich selbst damit in der Tradition des böhmischen Volkserziehers Johann Amos Comenius (1592-1670), der im siebzehnten Jahrhundert Bilder zu didaktischen Zwecken eingesetzt hat. Comenius hatte die Idee einer enzyklopädisch angelegten, visuell aufbereiteten Wissenssammlung. Sein »Orbis pictus« zeigt Bilder für eine große Zahl von Wörtern und deren Namen in verschiedenen Sprachen. »Die sichtbare Welt in Bildern« vermittelt in 180 Bildern ein erstes Wissen von der Welt, das sich durch Abbilden und Nachbilden formt. Allerdings sind die Zeichnungen hauptsächlich Mittel zum Erlernen der Schriftsprache. Neurath ging weiter. Die Bilder erhielten einen eigenständigen Stellenwert Er unternahm die Schaffung einer international verständlichen Bildersprache mit dem Namen ISOTYPE (International System of Typographie Picture Education. 1934). Die Bildsymbole wurden durch die Konstruktion decodierbarer und unabhängiger von der verbalen Sprache zu verstehender Piktogramme zunehmend systematisiert. Es entsteht daraus eine Syntax der Bilder und eine visuelle Grammatik. Für die Erarbeitung und den Einsatz der Standardtypen wird ein Regelkanon entwickelt: – Relationaler Einsatz der Bildzeichen, wobei Quantitäten nicht durch größere Zeichen, sondern durch Wiederholung dargestellt werden. – Typisierung der Bildzeichen durch möglichst hohe Gegenstandsentsprechung (Ikonizität). – Verzicht auf Zentralperspektive und Raumwirkung.

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182 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens – Konsistenz beim Einsatz der Bildzeichen, um ihre Unmittelbarkeit und Wiedererkennbarkeit zu sichern. – Klarheit der Farbgebung, um Unterschiede zu akzentuieren und Zeichen zu gruppieren (vgl. Hartmann/Bauer 2006, 63). Es geht um eine Fortsetzung des Programms der Aufklärung mit den Mitteln der Medienpädagogik. Als Devise formuliert Neurath: »Worte trennen, Bilder verbinden« (1926). Es werden Übersichten geschaffen und Zusammenhänge hergestellt. Ausgangseinschätzung ist: »Die modernen Menschen empfangen einen großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme. Die Tageszeitungen bringen von Jahr zu Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte Reklamewesen, das einerseits mit optischen Signalen, andererseits auch wieder mit Darstellungen arbeitet. Ausstellungen, Museen sind durchaus Kinder dieses Schaugeschehen. Die Methode der Darstellung ist bisher wenig entwickelt. Erst allmählich entsteht eine Museums- und Ausstellungstechnik, die über gesicherte Erfahrungen verfügt« (Neurath 1979, 195).

Die gleichen Dinge sollen durch gleiche Zeichen dargestellt werden. Als Designer fungierte ab 1928 Gerd Arntz (Arntz 1982, 31-34). Behandelt wurden Themen wie Wohnungsbau, Fürsorge, Parkanlagen, Schulwesen, Betriebe und Finanzen. Ein instrumenteller Charakter, die Vorstellung einer Herstellbarkeit von Wahrnehmung, unterliegt vielen dieser Formulierungen. Dies gilt für viele der Arbeiten Neuraths, die immer auf der Suche sind und gekennzeichnet durch vielfältige Widersprüche und Selbstmissverständnisse. Gleichzeit entsteht daraus eine Offenheit, die zu Weiterdenken anstößt. Von da war es nur ein kleiner Schritt zur Beteiligung an der Arbeiterbildung. Einige Vertreter der »wissenschaftlichen Weltanschauung« (Carnap, Hahn, Neurath, Zilsel) fühlten sich der Arbeiterbewegung verbunden und unterrichteten an den Wiener Volkshochschulen. Neurath lieferte auch wesentliche Begründungen der Erwachsenenbildung in der Tradition der Aufklärung. »Die Arbeiterbildung trägt zur Entfaltung des einzelnen bei. Sie beeinflusst sein Handeln, seine Freude an Menschen und Dingen, seine Eingliederung in die organisierte Arbeiterschaft. Dabei spielt die Aufklärung über Menschen und Dinge, über Zusammenhänge aller Art eine entscheidende Rolle. Weniger

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Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath | 183 die Erregung von Begeisterung, die Schilderung herrlicher Ziele steht im Vordergrund, weit mehr die sachliche Beschreibung dessen was ist« (Neurath, O. »Wissenschaftliche Weltauffassung«. In: Arbeiter-Zeitung 13.10.1929, 17).

Die Mitglieder des »Wiener Kreises« waren wegen ihres Internationalismus, ihres strikten Empirismus und ihrer Metaphysikkritik der erbitterten Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. 1933 etablierte sich das autoritäre Regime unter Bundeskanzler Dollfuß und die »Vaterländische Front« wurde gegründet. 1934 folgte nach den »Februarkämpfen« die Niederlage der Arbeiterbewegung in Österreich und die Sozialdemokratie wurde verboten. Am 23. Februar wurde der Verein »Ernst Mach« durch die Wiener Bundespolizeidirektion aufgelöst. Neurath flüchtete nach Den Haag. Am 22. Juni 1936 wurde Moritz Schlick erschossen. Er war auf dem Weg zu seiner Vorlesung über die Philosophie der Physik. Getroffen von vier Kugeln brach er auf der Treppe zusammen. Johann Nelböck, 33 Jahre alt, war ein ehemaliger Student seines Opfers. Er lies sich ohne Widerstand abführen. Im Mordprozess (24.-26. Mai 1937) rechtfertigte er seine Tat weltanschaulich. Schlicks empiristische Kritik des transzendenten Wissens habe jede metaphysische Idee sinnlos werden lassen (vgl. Geier 1992, 7/8) Das deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1936 zwischen Adolf Hitler und Kurt von Schuschnigg besiegelt die Niederlage. Carnap emigrierte in die USA. Das Donnerstag-Abend-Kolloquium wurde aber auf privater Ebene (bis 1938) unter Waismanns Leitung weitergeführt. In Max Horkheimers »Zeitschrift für Sozialforschung« erschien Neuraths Darstellung des »Lebenslagenkatasters« (Inventory of the Standard of Living). 1938 fand vom 14.-19. Juli der »4. Internationale Kongress für Einheit der Wissenschaft« in Cambridge/England statt. Victor Kraft verlor seine Venia legendi an der Wiener Universität. Gustav Bergmann und Philipp Frank emigrieren in die USA, Edgar Zilsel und Waismann nach England. Auch Neurath floh 1940 nach England. Dort hielt er Vorträge über Logischen Empirismus und Sozialwissenschaften an der Universität Oxford. 1941 heiratete er Marie Reidemeister. Neurath starb am 22. Dezember 1945. Er war getragen durch eine Utopie: Er hielt fest an der Möglichkeit der Menschheit, die gemeinsam Strategien zur Realisierung kollektiven Glücks entwirft und umsetzt.

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Otto Neurath 1945

Literatur Schriften Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft. Jena 1906/07 (Dissertation) Die Kriegswirtschaftslehre und ihre Bedeutung für die Zukunft. Leipzig 1918 Wesen und Weg der Sozialisierung. Gesellschaftstechnisches Gutachten. München 1919 Aufgaben des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien. In: Aufbau 1926, 169-170 Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände. In: Die Quelle 1927, 130-136 Lebensgestaltung und Klassenkampf. Berlin 1928

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Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis (zus. mit Hans Hahn und Rudolf Carnap) Wien 1929 Empirische Soziologie. Wien 1931 International Picture Language. Psyche miniatures. General series London 1936 Inventory of the Standard of Living. In: Zeitschrift für Sozialforschung (1937) Modern Man in the Making. New York/London 1939 Education through the Eye. In: Journal of Education (1945) 914 Wissenschaftliche Weltauffassung. Sozialismus und Logischer Empirismus. Frankfurt a.M. 1979 Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Zwei Bände. Wien 1981, 1982 Gesammelte bildpädagogische Schriften. (Haller, Rudolf/Kinross, Robin [Hg.]) Wien 1991

Darstellungen Geier, Manfred: Der Wiener Kreis. Rowohlt. Reinbek 1992 Hartmann, Frank/Bauer, Erwin K.: Bildersprache – Otto Neurath – Visualisierung. WUV. Wien 2006 (2.Aufl.) Hengselmann, Rainer: Otto Neurath – Empirischer Aufklärer und Sozialreformer. In: Neurath, Otto: Wissenschaftliche Weltauffassung. Sozialismus und Logischer Empirismus. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1979, 7-78 Stadler, Friedrich: Otto Neurath 1862-1945: Enzyklopädist, Schulreformer und Volksbildner, In: Erwachsenenbildung in Österreich (1989) 5/6, 33-36 Stadler, Friedrich (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit Otto Neurath – Gerd Arntz. Löcker Verlag. Wien/München 1982

Zeittafel 1882 10. Dezember: Otto Neurath geboren als Sohn des Nationalökonomen Wilhelm Neurath 1906 Nach Studium der Geschichte der Antike und der Volkswirtschaftslehre in Wien und Heidelberg promoviert Neurath mit Auszeichnung in Berlin. Thema der Dissertation ist: »Die Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft.

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186 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 1907-1912 Erster Wiener Kreis: Hans Hahn, Philipp Frank, Otto Neurath und Richard von Mises treffen sich regelmäßig und diskutieren besonders die wissenschaftstheoretischen Schriften von Henri Poincaré, Pierre Duhem und Abel Rey Neurath lehrt an der Neuen Wiener Handelsakademie Ehe mit Anna Schapire (gestorben 1911) 1911 Geburt des Sohnes Paul 1913 Neurath unternimmt als Stipendiat der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden Studienreisen in Balkan-Länder, insbesondere Serbien. 1914 Neurath leitet die Abteilung für Kriegswirtschaftslehre im österreichischen Kriegsministerium, Wien. 1918 Neurath habilitiert für Politische Ökonomie am Institut für Soziologie bei Max Weber in Heidelberg. Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. Ludwig Wittgenstein Manuskript »Logisch-philosophische Abhandlung«, die 1921 in »Ostwalds Annalen der Naturphilosophie« erscheint. Zweisprachige (deutsch/englische) Ausgabe mit dem Titel »Tractatus logico-philosophicus« 1922 im Londoner Verlag Routledge & Kegan Ltd. 1919 Neurath wird Präsident des Zentralwirtschaftsamtes der Münchner Räterepublik. 1920 Generalsekretär des Österreichischen Verbandes für Siedlungsund Kleingartenwesen. 1922 Schlick wird auf den Mach-Bolzmann-Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften berufen. Kurt Reisemeister wird Professor für Mathematik an der Universität Wien. 1924 Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien. Neurath beginnt die Wiener Methode der Bildstatistik zu entwickeln. Beginn des Donnerstag-Abend-Kolloquiums unter Leitung von Schlick. 1926 Rudolf Carnap wird Privatdozent für Philosophie an der Wiener Universität. Neuraths bildstatistische Tafeln werden auf der internationalen Ausstellung GESOLEI – Gesundheit, Soziale Fürsorge und Leibesübung in Düsseldorf gezeigt. Bekanntschaft mit dem Graphiker Gerd Arntz und dessen Zusage als Mitarbeiter. Im Schlick-Zirkel wird Wittgensteins »Tractatus« gelesen und diskutiert.

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1929 Manifest »Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis« erscheint als Gemeinschaftswerk von Carnap, Hahn und Neurath. 1930 Publikation des 100 Tafeln umfassenden bildstatistischen Elementarwerkes »Gesellschaft und Wirtschaft« im Auftrag des Bibliographischen Instituts Leipzig. 1931 Einladung nach Moskau 1933 Neurath gibt die Schriftenreihe »Einheitswissenschaft« heraus. Etablierung des autoritären Regimes unter Bundeskanzler Dollfuß. Gründung der »Vaterländischen Front« 1934 Die gemeinsam mit Gerd Arntz weiterentwickelte Bildsprache wird zu »International System of Typographic Education (ISOTYPE)« umbenannt. Februarkämpfe. Niederlage der Arbeiterbewegung in Österreich. Verbot der Sozialdemokratie. 23. Februar: Auflösung des Verein Ernst Mach durch die Wiener Bundespolizeidirektion. Neuraths Flucht nach Den Haag. 1935 15.-23. September: »1. Internationaler Kongress für Einheit der Wissenschaft« in Paris. Bertrand Russell hält den Eröffnungsvortrag. Planung der International Encyclopedia of Unified Science 1936 21.-26. Juni: »2. Internationaler Kongress für Einheit der Wissenschaft« in Kopenhagen. 22. Juni: Schlick wird erschossen. 11. Juli: Deutsch-österreichisches Abkommen zwischen Adolf Hitler und Kurt von Schuschnigg. Carnap emigriert in die USA. Weiterführung des Donnerstag-Abend-Kolloquiums auf privater Ebene (bis 1938) unter Waismanns Leitung. »International Picture Language« erscheint in London 1937 In Horkheimers »Zeitschrift für Sozialforschung« erscheint Neuraths Darstellung des »Lebenslagenkatasters« (Inventory of the Standard of Living). 1938 14.-19. Juli: »4. Internationaler Kongress für Einheit der Wissenschaft« in Cambridge/England. Erstes Heft der International Encyclopedia of Unified Science erscheint. Schlick: Gesammelte Aufsätze 1926-1936. Ende der »Einheitswissenschaft«. Victor Kraft verliert seine Venia legendi an der Wiener Universität. Gustav Bergmann und Philipp Frank emigrieren in die USA, Edgar Zilsel und Waismann nach England

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188 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens 1940 Ende des »Journal of Unified Science«. Neurath flieht nach England. Vorträge über Logischen Empirismus und Sozialwissenschaften an der Universität Oxford Gründung des ISOTYPE-Instituts 1941 Ehe mit Marie Reidemeister 1945 22. Dezember: Otto Neurath stirbt in Oxford

Isotype

Quellentext Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände Die Pädagogik der Sozialwissenschaften ist noch unterentwickelt, insbesondere fehlt eine Systematik der optischen Darstellungsweisen. Immer häufiger stößt man auf Versuche, Kurven und Bänder den wissenschaftlichen Werken zu entlehnen, um sie bunter und gröber zu gestalten. Derlei erweist sich als zu schwierig, solche abstrakten Figuren schrecken ab. Also: Bilder! Aber diese Einsicht genügt nicht, man muss wissen, wie man Bilder richtig anwendet. In vielen Büchern und Zeitschriftenartikeln sucht man die Mengenverhältnisse in der Weise zum Bewusstsein zu bringen, dass man die größere Menge durch eine größere Figur symbolisiert! Gibt es irgendwo 100 reiche Leute, 500 Menschen mit mittlerem Einkommen und 1000 mit kleinem Einkommen, dann malt man etwa einen kleinen Mann hin, daneben einen größeren Mann, der den »Mittelstand« repräsentiert und einen großen Mann, der die übrigen Menschen darstellt. Entweder begnügt sich der Zeichner damit, die drei Figuren verschieden groß zu machen, oder er sucht ein System in die Sache zu

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bringen, indem er zum Beispiel den zweiten Mann fünfmal so groß macht als den ersten und den dritten zweimal so hoch als den zweiten. Man merkt aber bald, dass die Figuren, welche verschieden hoch sind, nicht gleich breit gemacht werden können, sondern dass die größeren Männer auch breiter gezeichnet werden müssen, so dass offenbar der Mann, welcher doppelt so hoch ist als ein anderer, weit mehr als das doppelte Volumen hat. Daher wird ein sorgsamen Zeichner, der ein schlechter Pädagoge ist, die Volumina abschätzen und nun die Höhe der Figuren so abstimmen, dass die Volumina 100, 500, 1000 entsprechen, das heißt, sich wie 1 zu 5 zu 10 zueinander verhalten! Er ist ein schlechter Pädagoge, weil der Beschauer nicht imstande ist, die Volumina auf Grund des Bildes miteinander zu vergleichen! Was tun? Man stelle die fünffache Menge durch fünf Figuren dar, die zehnfache Menge durch zehn! Also Reihen von kleinen Männchen, kleinen Waggons, kleinen Autos usw.! Will man zeigen, dass auf eine bestimmte Anzahl Autos eine bestimmte Anzahl Menschen entfällt, so stelle man neben die Autos Männchen! Diese schlichte Art der Darstellung ist fast jedermann ohne Erläuterung verständlich. Es gibt verwickeltere Zusammenhänge, die ausführlicher Erläuterung bedürfen, aber die meisten können von einfach denkenden Menschen erfasst werden, wenn man die Gegenstände der Wirklichkeit gewissermaßen verkleinert abbildet. Von größter Wichtigkeit sind sprechende Signaturen, das sind solche, die möglichst weniger Konventionen bedürfen. Den Landarbeiter stelle man durch einen Mann mit einer Sichel, den Bergmann durch einen Mann mit einem Hammer dar! Wer sich des Schutzes der Krankenkasse erfreut, stehe unter einem Dach, das die Medizinflasche als Kennzeichen trägt. Die ungeschützten Menschen werden durch Figuren angedeutet, die ohne Dach im Regen stehen. Wer sich überhaupt solche Bildertafeln merkt, und gerade der weniger Gebildete reagiert stark auf optische Eindrücke, kann aus dem Bilde ablesen, was es bedeutet! Die Figuren sind nicht nur eine gefällige Augenweide, welche das Interesse wachrufen sollen, sie sind Elemente einer Bilderschrift, die vielleicht berufen ist, einmal international verwertet zu werden! Wer pädagogisch eingestellt ist, fühlt sich dazu gedrängt, weniger anschauliche Tatsachen durch anschaulichere zu ersetzen! Soll etwa die Progression der Wohnbausteuer zur Darstellung gebracht werden, dann wird man sie nicht auf die Mietzinse beziehen, deren Bedeutung nicht unmittelbar erfasst wird, die überdies Geldsummen sind, welche durch die immer gleichen Geldrollen dargestellt werden müssten, sondern auf Wohnungen selbst! Man sieht die kleine Wohnbausteuer der

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190 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens ärmlichen Wohnung und die gewaltige einer Villa. Prozentverhältnisse werden dargestellt, inde, man auf einem Brett mit hundert Feldern eine bestimmte Anzahl von Feldern ausfüllt. Bedeuten die hundert Felder hundert Wohnungen, dann kann die elektrische Lampe in einem Feld etwa elektrische Beleuchtung in der Wohnung bedeuten. Die gefürchteten Kurven treten auch dem nicht vorgebildeten anschaulich entgegen, wenn man zum Beispiel die Versicherten aufeinanderfolgender Jahre als Figurenreihen untereinander setzt. Die Enden miteinander verbunden ergeben die »Kurve«. All diese Darstellungsmethoden können durch die Verwendung kennzeichnender Farben unterstützt werden. Es ist verständlich, wenn man Kinder, die aufs Land kommen, auf grünen Grund setzt, die in der Stadt bleiben auf grauem! Man kann allmählich die Farbenschrift als Ergänzung einführen, wobei grundsätzlich jede Farbe durch einen Raster der Schwarzweißtechnik ersetzt werden kann. Zahlreiche Versuche haben gezeigt, dass die üblichen Methoden, gezeichnete Figuren zu »tuschen« oder Bildchen zu »malen«, nicht den gewünschten Erfolg zeitigen. Die Reize des Malerischen lenken ab. Dagegen zeichnen sich Figurentafeln, die im Scherenschnitt ausgeführt sind, durch satte Farben, exaktes Aussehen aus. Recht viel ist schon mit bescheidenen Mitteln erreichbar, insbesondere dort, wo die Schulreform den Scherenschnitt in den Schulen pflegt. Er wird auf diese Weise aus einem Hilfsmittel zur Schulung von Auge und Hand, von Geschmack und Farbensinn zu einem Hilfsmittel des bürgerkundlichen und sozialen Unterrichtes. Man kann die Kinder durch geeignete Scherenschnittaufgaben geradezu für das Verständnis der Bildertafeln vorbereiten. Die hier angedeuteten Darstellungsweisen lassen sich auf allen möglichen Gebieten verwenden. Zum Beispiel kann man, wie dies schon oft geschehen ist, die Verteilung von Menschen in der Stadt mit diesen Hilfsmitteln sehr gut zeigen. Die Kreisscheiben, welche Personengruppen darstellen, können als Köpfe interpretiert werden, denen wir dann auf einer Erläuterungstafel außerhalb der Karte wieder begegnen mögen. Man zählt eben die »Köpfe«. Der Kopf als Kreisscheibe verlangt einen wesentlich vereinfachten Körper als Fortsetzung. Es kommen überhaupt nur sehr vereinfachte Bilder in Betracht, insbesondere dann, wenn solche Figuren mit anderen Darstellungen, zum Beispiel geographischen, verbunden werden sollen. Nichts soll im Bilde zu finden sein, das nicht zur Kennzeichnung nötig ist. Es bleibe nicht unerwähnt, dass diese Darstellungsweise auch auf hygienische und andere Bildtafeln übergreifen wird, so dass allmählich ein System

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von Figuren entsteht, das einerseits anatomische Tatbestände vereinfachend zeigt, andererseits aber auch im gleichen Stil sozusagen soziale Tatbestände. Heute ist die Darstellungsweise meist naturalistisch, literarisch und besonders übel, wenn sie witzig sein soll. Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien hat es unternommen, konsequente, bildliche Darstellungen ganz besonders zu pflegen und zu propagieren. Es ist das hier Dargelegte von freundlich gesinnten Kritikern gelegentlich als »Wiener Methode« bezeichnet worden. Damit ist zuviel gesagt, wenn es bedeuten sollte, dass das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum eine neue Methode vorschlägt. Fast alles, was oben erwähnt wurde, ist bald da, bald dort bereits ausgeführt worden, manches ist uralt, findet sich schon bei den Ägyptern, wohl aber ist die Arbeitsgemeinschaft, die in diesem Museum schon seit langem zusammenarbeitet, entschlossen, eine bis ins einzelne durchgearbeitete Systematik bildlicher musealer Darstellungen zu schaffen – eine erlernbare Methode. (Quelle: Aufbau Nr. 8/9, Wien 1926, 170-174)

ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) Die Situation ist folgende: es werden heute eine Reihe von Versuchen unternommen, stärkeren Gebrauch von Bildern in Unterricht und Information zu machen, aber es gibt keine Verbindung zwischen diesen Versuchen. Bis jetzt wurde keine klar umgrenzte Auswahl von guten Regeln unter den allgemein üblichen gemacht. Unser Buch trifft eine solche Auswahl vom Standpunkt des Lehrens und Informierens aus – eine Auswahl, die im Einklang mit einem vollständigen System einer Bildersprache steht. Sätze der Wissenschaft in Bilder zu verwandeln ist oft eine schwierige Aufgabe und weder Sache des Wissenschaftlers noch eines Zeichners. Die besondere Beachtung dieses Prozesses führte zur Schaffung des Isotype – Systems. Seine Regeln sind die Instrumente dafür, die Arbeit des Wissenschaftlers und die Arbeit des Zeichners miteinander zu verbinden. Der erste Schritt von den wissenschaftlichen Sätzen zu den Bildern hat einen besonderen Namen: »Transformation«. Für Transformieren und für Zeichnen – das Schreiben der Bildersprache – ist es notwendig, nicht nur die Regeln zu kennen, sondern in ihrem Gebrauch geübt zu sein. Daher war es erst möglich, einen Anfang mit einer solchen

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192 | Vermittler wissenschaftlichen Wissens Bildersprache zu machen, nachdem eine Organisation entstanden war, in der eine Gruppe von Personen verschiedener Vorbildung jahrelang zusammengearbeitet hatte. Die Isotype – Methode stützt sich auf ein besonderes visuelles Lexikon von etwa zweitausend Symbolen und eine besondere visuelle Grammatik, die verwendet werden kann, um in Bildern eine Geschichte zu erzählen, die fast auf den ersten Blick verstanden werden kann. Maschinen, die Funktionen von Tieren und Menschen, Stadtpläne, gesellschaftliche Tatbestände und geschichtliche Entwicklungen werden mit Hilfe standarisierter Elemente erklärte, die wie Bausteine zusammengesetzt werden, um Ideen zu vermitteln und zusammenhängende Geschichten zu erzählen. Der pädagogische Wert dieser visuellen Methode hat sich bereits in der allgemeinen Erziehung und in Schulen gezeigt, beim Unterricht von Erwachsenen und Kindern über das öffentliche Gesundheitswesen, Kinderpflege, Sicherheit usw. Mit guten visuellen Hilfsmitteln ist man weniger abhängig von guten Lehrern. Es ist leicht, Isotype – Bilder zu deuten, aber eine Zeit der Ausbildung ist erforderlich, um sie zusammenzusetzen. Ein Bild zu machen ist eine verantwortlichere Arbeit, als einen Satz zu machen, denn Bilder haben eine größere Wirkung und ein längeres Leben. Jedes Isotype – Bild ist gleichsam ein Teil eines großen Bilderbuches oder einer Enzyklopädie, denn alle Bilder müssen zueinander passen. Die Auswahl des pädagogischen Materials ist nicht so einfach. Wer am geschicktesten weglassen kann, ist der beste Lehrer. Die »Transformation« bestimmter Ideen in klare Skizzen auf der Grundlage des ausgewählten Materials ist der zweite schwierige Schritt. Alles muß auf seinen eigentlichen Kern reduziert werden. Eine besondere Eignung ist nötig, um eine wirklich befriedigende Tafel nach einer gegebenen Skizze zu schaffen. Belanglose Einzelheiten werden ausgeschlossen. Dies gilt nicht nur für die einzelnen Symbole, sondern auch für die ganzen Tafeln. Die Schauspieler auf dieser Bühne müssen zusammenarbeiten und einander ständig beeinflussen. Die Isotype-Methode kann sehr wohl zu einem der Elemente werden, die mithelfen können, eine Zivilisation zustandezubringen, an der alle Menschen in einer gemeinsamen Kultur teilhaben können und in der die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten überbrückt sein wird. Vielleicht wird jeder als Fachmann in seinem Gebiet arbeiten; gleichzeitig wird er – muß er – aktiv am gemeinsamen Leben teilnehmen, die Hauptprobleme seiner Welt verstehen und die Verantwor-

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Wissenschaftliches Begreifen und Sozialismus: Otto Neurath | 193

tung zu deren Lösung teilen. Unsere Generation öffnet den Weg für dieses neue Leben von morgen trotz aller Widerstände. Ein Teil dieser Vorbereitung ist die Verbesserung unserer Mittel zur kulturellen Verständigung, die schon beginnen, unseren Erziehungsplan umzuformen. Wir können keine Demokratisierung des Kulturlebens ohne viele neue Wege der Informationsvermittlung erhoffen. Einer davon ist die Isotype-Methode, die darauf abgestellt ist, ein einfaches, umfassendes und genaues Veranschaulichungsmittel zu liefern. (Bruchstücke aus: International Picture Language 1936)

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