Verisimilitudo: Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Peter Abaelards 9783050056609, 9783050060446

Peter Abaelard (1079-1142) nutzt das Instrumentarium der aristotelisch-boethianischen Logik, um theologische Aussagen sp

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German Pages 271 [272] Year 2012

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Verisimilitudo: Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Peter Abaelards
 9783050056609, 9783050060446

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Michael Seewald Verisimilitudo

Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät

Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Band 54 Begründet von Michael Schmaus†, Werner Dettloff und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Richard Heinzmann und Martin Thurner (federführender Herausgeber)

Michael Seewald

Verisimilitudo Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Peter Abaelards

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005660-9 978-3-05-006044-6

Vorwort

Die Studie Verisimilitudo. Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Peter Abaelards wurde im Sommersemester 2011 von der KatholischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Ich danke den Gutachtern, Herrn Professor Dr. Bertram Stubenrauch und Herrn Professor Dr. Martin Thurner. Beide haben die Entwicklung der Arbeit mit großem Interesse und sachkundigem Rat begleitet. Bertram Stubenrauch sei besonders für die vertrauensvolle Zusammenarbeit an seinem Lehrstuhl gedankt. Meine Untersuchung ist zu großen Teilen in München entstanden. Die dortigen Bibliotheken und das Martin-Grabmann-Institut für mittelalterliche Theologie und Philosophie boten beste Bedingungen. Wichtige Anregungen kamen aber auch aus den Vereinigten Staaten. Dort konnte ich meine Studien als Visiting Scholar am Philosophy Department des Boston College vorantreiben. Hierfür danke ich Professor Dr. Eileen Sweeney. Die Katholische Akademie in Bayern hat mitgeteilt, dass meiner Studie der Kardinal-Wetter-Preis zur Förderung herausragender theologischer Dissertations- und Habilitationsarbeiten 2011 zuerkannt wird. Die Preisverleihung wird im November dieses Jahres stattfinden. Sebastian Walter hat die Drucklegung des Manuskripts mit hohem Einsatz betreut. Mein Bischof, Dr. Gebhard Fürst, fördert die Veröffentlichung großzügig. Herzlichen Dank dafür. München, im Juli 2011

Inhalt

I.

Einleitung....................................................................................... 11

1. 2.

Die Themenstellung und das methodische Vorgehen .................................. 11 Die Primärquellen: Chronologie und hermeneutische Prinzipien ihrer Verwendung......................................................................................... 15 Zum Forschungsstand .................................................................................. 21

3.

II. Formale Bestimmungen zum Gegenstand sowie dem Grund der Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Irrtums.................. 32 1. Der Begriff des Glaubens: Definition und Tragweite .................................. 32 1.1. Was bedeutet fides? Was ist eine existimatio? ............................................. 32 1.2. Methodische Implikationen und Konsequenzen von Abaelards Glaubensbegriff ............................................................................................ 43 2. Glauben und Wissen – Theologie und Philosophie ..................................... 48 2.1. Transposition der Untersuchungsebene: Von Glauben und Wissen zu Theologie und Philosophie ............................ 48 2.2. Die Unterscheidung zwischen Metaphysik und Heilsgeschichte: Abaelards augustinische Zuordnung ............................................................ 57 3.

Die Problematik einer „natürlichen“ Gotteserkenntnis: Das Zueinander von Erkenntnis und Offenbarung....................................... 67

4.

Gotteserkenntnis durch Erleuchtung: Adaptionen der augustinischen Illuminationslehre ...................................... 78

5.

Das Ethos des Wissenschaftlers: Zum Verhältnis von theoretischer Vernunft und praktischer Rationalität .................................... 89 5.1. Moralität als Ausgangspunkt der Gotteserkenntnis ..................................... 89 5.2. Die ontologische Gutheit jeder Wissenschaft und die Apologie der Dialektik durch ihren rechten Gebrauch ................................ 98 6.

Die Phänomenologie des Irrtums ............................................................... 106

8

Inhalt

6.1. Der Zusammenhang von superbia und caecitas ........................................ 106 6.2. Irrtum trotz Illumination? Ein Problem und seine Lösung......................... 110 7.

Zusammenschau: Die Subjektivität und ihre Grenzen ............................... 119

III. Die Methoden theologischer Erkenntnisgewinnung und der epistemische Status dogmatischer Aussagen...................121 1. Similitudo als methodischer Leitbegriff ..................................................... 121 1.1. Zur Bedeutung von Ähnlichkeiten innerhalb der Universalientheorie: Eine terminologische Klärung.................................................................... 121 1.2. Die Analyse von Ähnlichkeitsrelationen in den Theologiae: Zur Entwicklung einer Erkenntnismethodik .............................................. 127 1.3. Ontologische Fundierung und Rechfertigung der similitudo-Methode...... 133 1.4. Richtlinien zur Anwendung: Die Stufen der Analytik ............................... 143 1.5. Die Grenzen: Seinsmäßige Unähnlichkeit und sprachliche Unzulänglichkeit .............................................................. 147 1.6. Similitudo und illuminatio: Zwei konkurrierende epistemische Modelle? ............................................................................... 150 2. Die translatio als Sprachmodus der Gotteslehre........................................ 156 2.1. Die Subtilität der göttlichen Substanz als Krise der Prädikation ............... 156 2.2. Modi und Ebenen der Übertragung............................................................ 159 3. Die erkenntnisleitende Funktion der Autorität........................................... 166 3.1. Zur Interpretation der christlichen Quellen: Schrift und Kirchenväter ...... 166 3.2. Involucrum und integumentum als Deutungsschlüssel paganer Texte....... 177 4. Verisimilitudo als epistemischer Status dogmatischer Aussagen............... 187 4.1. Eine kognitionstheoretische Betrachtungsweise ........................................ 187 4.2. Theologische Beweisgänge: Wahrheit und ihre Erfassbarkeit................... 189 5.

Zusammenschau: Die Logik und ihre Grenzen .......................................... 194

IV. Reichweite und Grenzen des rational Einsehbaren: Das höchste Gut und Gottes Handeln in der Welt ........................197 1. 1.1. 1.2. 1.3.

Die perfectio summi boni als propädeutischer Zugang zur Gotteslehre..... 197 Abaelards methodisches Vorgehen: Von der Sprache zum Sein ............... 197 Der Begriff des summum bonum ................................................................ 200 Von den Eigenschaften des höchsten Gutes zu den Proprietäten der drei Personen ................................................................... 207 1.4. Die apologetische Zielrichtung der Argumentation ................................... 214

2.

Gottes mächtiges, weises und gütiges Handeln in der Welt....................... 216

Inhalt

9

2.1. Absolute Handlungsfreiheit und innere Notwendigkeit............................. 216 2.2. Modalität und Temporalität: Gottes naturhaft determinierter Wille .......... 226 2.3. Wie lässt sich Gottes Freiheit deuten? Ein Ausblick ................................. 231 3.

Zusammenschau: Das Verstehen und seine Grenzen................................. 240

V. Schlussreflexion: Abaelard, der Synthetiker ................................243 Literaturverzeichnis.............................................................................247 1.

Hinweise zu den Abkürzungen .................................................................. 247

2. Primärquellen ............................................................................................. 247 2.1. Zitierte Werke Abaelards ........................................................................... 247 2.2. Weitere Quellentexte.................................................................................. 250 3.

Sekundärliteratur ........................................................................................ 253

I. Einleitung

1. Die Themenstellung und das methodische Vorgehen „Peter Abaelard ist lange Zeit bloß oder vorwiegend als Theologe betrachtet und gewürdigt worden“1 – so urteilt Bernhard Geyer, der Herausgeber von Abaelards Schriften zur Logik, in seinen „Untersuchungen“ aus dem Jahr 1933. Ein Blick auf die Forschungslage der Gegenwart zeigt, dass Geyers Feststellung einerseits überholt ist, sich andererseits aber eine bleibende Gültigkeit bewahrt hat. Überholt ist sie insofern, als die Auseinandersetzung mit den logischen Schriften derzeit den dominierenden Zugang zum Werk Abaelards bildet;2 dessen genuin theologische Problemstellungen treten oft in den Hintergrund oder dienen lediglich als Fundort sprachtheoretischer Distinktionen.3 Wenn Geyer beklagt, Abaelard werde hauptsächlich als Theologe und nicht in ausreichendem Maße als Philosoph angesehen, so liegt darin auch etwas noch immer Zutreffendes: Die in Geyers Feststellung implizierte Dichotomie zwischen Abaelardus theologus und Abaelardus philosophus prägt einen Großteil der Abhandlungen, die sich dem Werk Abaelards mit einer spezifisch theologischen Fragestellung nähern: Sie separieren meist Abaelards theologisches Schaffen von seinem Wirken als Logiker und gehen selten auf die philosophischen, allen voran die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ein, die Abaelards Theologie zugrunde liegen.4 1 2 3

4

Geyer, Untersuchungen, 591. Vgl. die Diagnose von Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 338. Vgl. King, Metaphysics, 86-92. King löst die Überlegungen zu den Modi von identitas und diversitas aus ihrem trinitätstheologischen Zusammenhang und bettet sie in eine allgemeine Darstellung der Metaphysik Abaelards ein. Diese Beobachtung ist nicht so zu verstehen, als ob die philosophischen Denkwege Abaelards in den Untersuchungen, die sich seinem theologischen Schaffen widmen, einfach vergessen oder übersehen würden. Manche Autoren blenden sie auch in einer bewusst getroffenen, für ihre Fragestellung angemessenen Methodenwahl aus. So formuliert etwa Klitzsch, Die ‚Theologien’, 16, programmatisch: „Auf der Grundlage der sog. Theologien wird der ‚Theologe’ Abaelard stärker akzentuiert werden.“ Der Wert dieser Herangehensweise liegt darin, dass die materiale Seite der Gotteslehre Abaelards in den Blick gerät (Was

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Einleitung

Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, die beiden skizzierten, meist voneinander getrennten Betrachtungsweisen zusammenzuführen, indem sie die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards in den Blick nimmt. Die Rede von der „Gotteslehre“ wurde gezielt dem Begriff „Theologie“ vorgezogen, um eine Äquivokation mit dem zu Abaelards Zeiten noch ungeklärten Terminus theologia zu vermeiden.5 Trotz seiner bereits in der Antike belegten Verwendung6 erhielt er erst im zwölften Jahrhundert – nicht zuletzt durch Abaelard – eine Bedeutung, die als „rationale Erläuterung des Geoffenbarten“7 umschrieben werden kann. Zunächst muss die Themenstellung geklärt werden, anschließend ist die Methode zu erläutern. Definiert man Epistemologie – mit Blick auf die beiden Bestandteile des Begriffs – als geordnete Reflexion (logos) auf den Vorgang des Erkennens und die Grundlagen des Wissens (episteme), so ist unter den epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre ein kognitiver Prozess zu verstehen, der den inhaltlichen Aussagen über Gott vorausgeht und ihnen zugrunde liegt. Bevor eine Prädikation – sei sie affirmativ, sei sie negativ – vorgenommen wird, muss ein Erkenntnisakt stattgefunden haben. Gleiches gilt auch für die Rede von Gott: Ihr liegt eine Einsicht – in der Sprache Abaelards formuliert, eine intelligentia8 – zugrunde. Die vorliegende Studie beabsichtigt, den Prozess der sich auf Gott beziehenden intelligentia zu untersuchen. Der Begriff verisimilitudo, der neologistisch, aber präzise, als Wahrheitsähnlichkeit wiedergegeben wird, eignet sich – wie noch zu zeigen ist – zur prägnanten Charakterisierung der epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards. Verisimilitudo bezeichnet den epistemischen Status dogmatischer

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hat er inhaltlich gelehrt?). Die formalen, gestaltgebenden Prinzipien und Voraussetzungen seiner Gotteslehre, die auf dem Gebiet der Erkenntnislehre – und damit auch der Philosophie – liegen, bleiben dabei jedoch Außen vor. Vgl. Heinzmann, Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft, 124. Heinzmann zufolge lassen sich noch im dreizehnten Jahrhundert mindestens „drei, bisweilen sich überlagernde Bedeutungen“ feststellen: Theologie als allgemeine Rede von Gott, als metaphysische Gotteslehre oder als Bibelauslegung. Vgl. auch Colish, Systematic Theology and Theological Renewal, 135-156. Vgl. Augustinus, De Civitate Dei VI 5 (Ed. Dombart/Kalb 170, 1-4). Erläuternd vgl. Enders, Zur Bedeutung des Ausdrucks theologia, 19-28. Santiago-Otero, El término ‚Teología’ en Pedro Abelardo, 882: „Porque el primer autor que utiliza la palabra teología en el sentido epistemológico moderno; es decir, para significar la explicación racional de lo revelado, fue Pedro Abelardo“. Wenn Santiago-Otero Abaelards Verwendung des Theologiebegriffs im „modernen epistemologischen Sinn“ deutet, geht er von einer wissenschaftstheoretischen Entfaltung der Theologie aus, die Köpf zufolge nicht in das zwölfte Jahrhundert hinein projiziert werden darf. Vgl. Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie, 52. Vgl. Th. Sum. 1,30 (Ed. Buytaert/Mews 97, 297), Th. Chr. 1,54 (Ed. Buytaert 94, 710), th. sch. 101 (Ed. Buytaert 442, 1222), Th. Sch. 1,94 (Ed. Buytaert/Mews 356, 1058).

Einleitung

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Aussagen und klärt den Modus ihrer Prädikation;9 dadurch wird ersichtlich, welche logische Wertigkeit und damit auch welche epistemische Gültigkeit den über Gott getroffenen Aussagen zukommt. Die Klärung dieser Fragestellung ist ein Grundproblem der theologischen Erkenntnislehre. Deshalb ist es gerechtfertigt, Abaelards hermeneutischen Leitbegriff als Titel der vorliegenden Studie zu wählen. In methodischer Hinsicht stellen sich der Untersuchung zwei Hauptprobleme: (1) In seinen Werken zur Logik entwickelt Abaelard zwar eine im Zusammenhang der Universalienproblematik stehende, von ihm mehrfach modifizierte Kognitionstheorie;10 er stellt aber selten explizite Verbindungen zwischen diesen Überlegungen und seinen theologischen Schriften her. (2) Abaelard hat keinen spezifisch auf die Gotteslehre zugeschnittenen „Tractat von der Methode“11 verfasst, sondern seine erkenntnistheoretischen Überlegungen ad hoc einfließen lassen, ohne sie thematisch zu gliedern, zu bündeln und mögliche Widersprüche zu synthetisieren. Da die vorliegende Studie aus den beiden genannten Gründen nicht auf eine von Abaelard vorgegebene Strukturierung – und damit auch Umgrenzung – ihres Stoffes zurückgreifen kann, ist zu fragen: Welche epistemologischen Problemstellungen sind mit Blick auf das theologische Werk Abaelards relevant? Flach stellt hierzu – in einem allgemeineren Kontext – mehrere Kriterien auf: „Was die Gliederung der Erkenntnislehre betrifft, so gilt, daß die Erkenntnislehre sämtliche Rücksichten, in denen der Begriff der Erkenntnis thematisch ist, wird oder zu werden vermag, aufzunehmen und als solche reinlich festzuhalten und durchzusetzen hat. Darin liegt, daß die Erkenntnislehre sich gemäß der Direktive eben dieser Rück12 sichten gliedert.“

Es werden drei Interpretationstermini vorgeschlagen, die sich zwar nicht expressis verbis in den Schriften Abaelards finden, diese aber nach epistemologisch relevanten Gesichtspunkten gliedern. Auf diese Weise lassen sich – wie Flach formuliert – drei „Rücksichten“ benennen, deren sukzessive Analyse das methodische Vorgehen dieser Studie bestimmt und ihre Gliederung in drei Hauptaspekte vorgibt: (1) Unter dem Begriff des Erkenntnisgrunds wird eine Instanz verstanden, die auf den menschlichen Geist derart einwirkt, dass sie ihm ein korrektes Erkennen ermöglicht. Der Erkenntnisgrund ist nicht als „die Totalität der intelligibilia“13, der potentiell erkennbaren geistigen Gegenstände, aufzufassen, sondern er be9 10 11 12 13

Vgl. Th. Sum. 2,26f. (Ed. Buytaert/Mews 123, 234. 244), Th. Chr. 3,54. 3,57. 5,1 (Ed. Buytaert 217, 698. 218, 745. 347, 8), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 414, 242. 499, 6). Eine knappe Übersicht findet sich bei Guilfoy, Mind and cognition, 200-220. Der Ausdruck geht zurück auf Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXII (AA III 15). Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre, 75. Schulthess, Sprechen, Erkennen und Lehren, 75.

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Einleitung

zeichnet die weder mit dem erkennenden Subjekt noch mit dem erkannten Objekt identische Voraussetzung dafür, dass ein epistemischer Prozess gelingen kann. Zunächst geht es deshalb um eine Analyse der Möglichkeitsbedingungen menschlicher Gotteserkenntnis. Hierzu sind die beiden epistemischen Akte, die sich auf Gott richten – nämlich Glauben (II.1) und Erkennen (II.2) – voneinander zu unterscheiden sowie einander zuzuordnen. Erst von diesen Bestimmungen her lässt sich die Frage nach Abaelards Lehre über die natürliche Gotteserkenntnis (II.3) in den Blick nehmen. Dabei zeigt sich der prägende Einfluss, den Augustins Illuminationstheorie ausgeübt hat (II.4). Wie aber lässt sich die Möglichkeit des Irrtums erklären, wenn der menschliche Verstand bei seinem Fragen nach Gott durch den magister interior erleuchtet wird, der als göttliches Licht weder fehlbar ist noch die Absicht hat, zu täuschen? Dieses Problem behandelt Abaelard, indem er das spekulative Fragen an die praktische Lebensführung koppelt (II.5) und auf dieser Grundlage eine Phänomenologie des Irrtums entwickelt (II.6). (2) Eine Erkenntnismethode ist derjenige Modus, in dem der menschliche Geist das ihm zur Verfügung stehende Material – sei es sinnlicher, sei es intelligibler Art – ordnet um einen Erkenntnisgewinn zu erzielen.14 Abaelards Frageinteresse – und damit auch die Methodik seiner Gotteslehre – ist vor allem sprachtheoretischer Natur. Es geht ihm darum, die Bedeutung und Gültigkeit von Termen durch verschiedene Weisen der Unterscheidung (rationes disserendi) zu klären.15 Aus diesem Grund sind die logischen Schriften Abaelards in den Blick zu nehmen; der Ähnlichkeitsbegriff, dem in unterschiedlichen Schattierungen eine zentrale Rolle in Abaelards Erkenntnismethodik zukommt, ist nur aus den Schriften zur Dialektik heraus verstehbar.16 Die dort entwickelte Struktur der similitudo wird in den Theologiae zu einer spezifisch theologischen Erkenntnismethodik erweitert (III.1). Wie kann der Mensch gültige Aussagen über das Wesen Gottes treffen? Dies ist, so Abaelard, nur durch eine translatio der angestammten Wortbedeutungen möglich (III.2). Bei der Unterscheidung, welche Übertragungen und uneigentlichen Redeweisen Gültigkeit besitzen und welche sich jenseits des verbindlichen Sprachgebrauchs der Gotteslehre bewegen, kommt der Befragung von auctoritates eine bedeutende Funktion zu; deshalb entwickelt Abaelard Kriterien zu ihrer Auslegung (III.3). Abschließend wird der Begriff verisimilitudo untersucht, der den epistemischen Status dogmatischer Aussagen klärt (III.4). 14 15

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Vgl. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 16: „Die Methode ist die Art und Weise, in irgendeinem Gebiet vorzugehen, d.h. unsere Tätigkeit zu ordnen“. Vgl. Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 506, 24-28): „Est autem logica Tulli auctoritate diligens ratio disserendi, idest discretio argumentorum, per quae disseritur, idest disputatur. Non enim est logica scientia utendi argumentis sive componendi ea, sed discernendi et diiudicandi veraciter de eis, quare scilicet haec valeant, illa infirma sint.“ Die Begriffe logica und dialectica verwendet Abaelard als Synonyme. Vgl. Luscombe, Peter Abelard, 282f.: He „uses both terms indifferently“.

Einleitung

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(3) Durch die Vermittlung des Erkenntnisgrunds und die richtige Anwendung der zur Verfügung stehenden Methodik eröffnet sich in der Gotteslehre einerseits ein Radius des rational Einsehbaren und korrekt Prädizierbaren, andererseits bleibt ein Bereich, der nur durch Offenbarung geglaubt, nicht aber durch sichere Erkenntnis gewusst werden kann.17 Dem letzten Teil der Studie geht es um eine Analyse derjenigen Aspekte von Gottes Wesen und Handeln, die der Mensch vernunftgemäß erfassen und begrifflich artikulieren kann. Was das Wesen Gottes angeht, so sind die Vorstellung des summum bonum sowie der Ternar potentia, sapientia, benignitas zu untersuchen (IV.1). Abaelards Konzeption des göttlichen Handelns leitet sich aus den genannten drei Eigenschaften ab; sie ermöglichen eine rationale Rekonstruktion der Handlungsweisen des mächtigen, weisen und gütigen Gottes (IV.2).

2. Die Primärquellen: Chronologie und hermeneutische Prinzipien ihrer Verwendung Vorab sei angemerkt: In Anlehnung an Mews’ philologische Untersuchungen zur Aussprache und zu den Transkriptionen der konkurrierenden Bezeichnungen Abaelardus, Abailardus, Abelard oder Baiolardus wird der Autor, um den es hier vorrangig geht, als Petrus Abaelardus oder – in einer geläufigen eingedeutschten Form, die Mews ausdrücklich anerkennt – als Peter Abaelard bezeichnet.18 Auf biographische Details, die auf der Grundlage der Briefe an Heloise oder anhand des als Historia Calamitatum bekannt gewordenen Trostschreibens zu untersuchen wären, kann nicht eingegangen werden; es sei dazu auf die reichhaltige Sekundärliteratur verwiesen.19 Der Fokus dieser Studie liegt stattdessen auf den 17

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Vgl. Gössmann, Glaube und Gotteserkenntnis im Mittelalter, 16: „So steht Abaelard, selbst von den konservativen Kreisen seiner Zeit des übertriebenen Gebrauchs der rationalen Glaubenserklärung bezichtigt, genau in der Mitte zwischen der superdialektischen und der antidialektischen Einstellung. Er kennt sowohl Skepsis wie auch Vertrauen gegenüber der menschlichen ratio.“ Vgl. Mews, In search of a name and its significance, 199f. Der Diphthong „ae“ wurde zweisilbig ausgesprochen, wie ein Gedicht des Petrus Venerabilis (PL 178, 103 C) sowie die Grabinschrift Abaelards (PL 178, 103 D) nahe legen. Vgl. Ernst, Petrus Abaelardus, 18, Anm. 13. Vgl. Clanchy, Abelard – A medieval life, 24. 120. 204f. sowie Marenbon, Life, milieu and intellectual contexts, 13-38. Mews, Peter Abelard, 9-20 und Wetherbee, Literary works, 4756. Verschiedene literaturwissenschaftliche Modellanalysen zur Hist. Cal. finden sich im Sammelband von Hasse, Abaelards ‚Historia Calamitatum’. Zum Problem der Authentizität des Briefwechsels zwischen Abaelard und Heloise vgl. die grundsätzlichen Erwägungen von Moos, Mittelalterforschung und Ideologiekritik, 108-128 (Nr. 53,1-61,2) sowie Fumagalli, Heloise und Abaelard, 74-100 und die Bewertung von Marenbon, The Philosophy of Peter

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Einleitung

theologischen Schriften Abaelards, allen voran der Theologia.20 Die hier vorausgesetzte Werkchronologie beruht auf den Untersuchungen von Mews und den darauf aufbauenden Modifikationen Marenbons.21 Abaelards erster Versuch, eine systematisch ausgearbeitete Gotteslehre vorzulegen, hat ihren Niederschlag in dem um das Jahr 1120 entstandenen „Tractatus de unitate et trinitate divina“ gefunden, der in der Forschung seit Ostlender – „entsprechend einer mittelalterlichen Gepflogenheit […] unter Beifügung des Incipit“22 – als Theologia Summi Boni (Th. Sum.) bezeichnet wird. Diesem aus drei Büchern bestehenden Werk geht es um eine Darlegung der Möglichkeiten sowie der Grenzen einer vernunftgemäßen Durchdringung des trinitarischen Dogmas. Es wird einerseits betont, dass sowohl die Juden durch das Gesetz und die Propheten, als auch die Heiden durch ihr philosophisches Forschen im Besitz einer impliziten, propädeutischen Kenntnis des dreifaltigen Gottes seien. Abaelard lehnt jedoch eine Überrationalisierung des Glaubens ab; er polemisiert gegen die „Pseudodialektiker“23, deren Thesen er zu widerlegen sucht. Es geht ihm mit seinen Aussagen im epistemischen Status der verisimilitudo um den Nachweis, dass die christliche Gotteslehre nicht irrational ist und aus diesem Grund gegen Einwände vernunftgemäß verteidigt werden kann.24 Abaelards Tractatus wurde auf der Synode von Soissons (1121) verurteilt,25 da die Versammlung den in dem Werk eingeführten Ternar potentia, sapientia, benignitas,

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25

Abelard, 82-93. Zu weiteren Quellen über die Biographie Abaelards vgl. Van den Eynde, Détails biographiques sur Pierre Abélard, 217-223. Das poetische Schaffen Abaelards untersucht Niggli, Peter Abaelard als Dichter, 157-195. Zum Problem der verlorenen Schriften vgl. Van den Eynde, Les écrits perdus d’Abélard, 468f. Die komplexe Entwicklung der Theologia wurde von Mews in seiner Oxforder Dissertation (The Development of the Theologia of Peter Abelard, Diss.) sowie in einem Aufsatz mit identischem Titel untersucht. Vgl. Mews, The Development of the Theologia of Peter Abelard, Aufs., 183-198. Vgl. Mews, On Dating the Works, 130-132, sowie Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 46-53. Ostlender, Peter Abaelards Theologia ‚Summi boni’, IX. Th. Sum. 2,79 (Ed. Buytaert/Mews 141, 714), Th. Chr. 3,135 (Ed. Buytaert 246, 1643). Vgl. Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 232-236), Th. Chr. 3,54 R (Ed. Buytaert 217, 693-700): „De quo quidem nos docere ueritatem non promittimus, quam neque nos neque aliquem mortalium scire constat, sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinium nec sacre scripture contrarium proponere libet aduersus eos qui humanis rationibus fidem se inpugnare gloriantur“. Seit Stölzle, Abaelards 1121 zu Soissons verurtheilter Tractatus, XXII-XXXIII, wird der in Soissons verurteilte Traktat meist mit der Schrift identifiziert, die heute in Anlehnung an Ostlender als Theologia Summi Boni bezeichnet wird. Kritisch dazu positioniert sich Klitzsch, Die ‚Theologien’, 233-239.

Einleitung

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der die Eigenheiten der drei Personen kennzeichnen soll, als modalistische Häresie betrachtete.26 Abaelard hat in einer zweiten Fassung, der Theologia Christiana (Th. Chr.), auf diese Vorwürfe reagiert: Er belässt den Textbestand der Theologia Summi Boni zu großen Teilen unverändert, gliedert ihn jedoch um. Zudem modifiziert er einige seiner sprachlogischen Überlegungen und ergänzt zahlreiche Väterzitate, die den Gebrauch der paganen Philosophen rechtfertigen sollen.27 Die Theologia Christiana lässt sich in mindestens drei Redaktionsstufen unterteilen,28 die entweder Abaelards eigene Überarbeitungen spiegeln oder auf synthetisierende Versuche der Kopisten zurückgehen:29 Die erste Redaktion (DR) entstand unmittelbar nach der Synode von Soissons 1121, die zweite und dritte (CT) sind bereits Vorstufen der Theologia Scholarium und daher deutlich später, auf den Zeitraum zwischen 1133 und 1137, zu datieren.30 Die parallel dazu entstandenen Recensiones Breviores (th. sch.) stellen eine Art Rohbau für die letzte Bearbeitungsstufe der Theologia dar. Diese notizartige Protokonzeption ist bereits deutlich kontextenthobener als die Theologia Summi Boni und die Theologia Christiana. Sie richtet sich nicht mehr nur defensiv gegen die Hyperdialektiker auf der einen und die Antidialektiker auf der anderen Seite, sondern formuliert ein positives Anliegen: Abaelard will auf die Bitte seiner Schüler – so das Incipit unter gängiger Verwendung eines literarischen Topos31 – eine „Summe der heiligen Unterweisung als eine Art Einführung in die Heilige Schrift“32 vorlegen. Aufgrund dieser umfassenden, der Theologia Scholarium (Th. Sch.) zugrunde 26 27 28 29

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Eine Zusammenstellung der Vorwürfe findet sich bei Niggli, Theologia Summi boni, 280288. Vgl. Jolivet, La théologie d’Abélard, 53-56 sowie Mews, The development of the Theologia of Peter Abelard, Aufs., 186f. Vgl. Buytaert, Petri Abaelardi Theologia Christiana – Introduction, 30-40 sowie Buytaert, Critical Observations on the ‘Theologia Christiana’, 412. Vgl. Mews, Peter Abelard’s (Theologia Christiana) and (Theologia ‘Scholarium’) reexamined, 157f.: „The different manuscripts of the Theologia Christiana […], rather than being ‚first’, ‚second’ or ‚third’ redactions of one or other work, each represent the attempt of a copyist to reproduce the state of Abelard’s text, with all its annotations, as it stood at the time it was copied.“ Vgl. Mews, On Dating the Works, 132 sowie Van den Eynde, Les rédactions de la ‚Theologia Christiana’ de Pierre Abélard, 292-299. Vgl. Ostlender, Die Theologia ‚Scholarium’ des Peter Abaelard, 263. Den gleichen, womöglich fiktiven Anlass, nämlich das Drängen seiner Schüler, benennt Abaelard auch als Abfassungsgrund für seine Glossulae super Porphyrium, die nach ihren Anfangsworten auch „Logica Nostrorum Petitioni Sociorum“ genannt werden. Vgl. Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 505, 3-5). th. sch. 1 (Ed. Buytaert 401, 4-6), Th. Sch., pref. 1 (Ed. Buytaert/Mews 313, 1-3): „Scholarium nostrorum petitioni prout possumus satisfacientes, aliquam sacrae eruditionis summam, quasi diuinae Scripturae introductionem, conscripsimus.“

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Einleitung

liegenden Zielsetzung wurde das Werk bis zur Nomenklatur Ostlenders auch als „Introductio ad theologiam“33 bezeichnet. Als Gliederungselemente gibt Abaelard die drei Prinzipien an, „in denen die Summe des menschlichen Heiles besteht“34, nämlich Glaube, Liebe und Sakramente – wobei er die Tugend der Hoffnung, die in der Aufzählung fehlt, als ein Unterglied des Glaubens ansieht, so dass sie gemeinsam mit der fides behandelt werden kann. Diese Struktur ist zwar für die späteren Traktate der Abaelard-Schule kennzeichnend,35 wurde von ihm selbst aber nicht konsequent durchgeführt. Die Theologia Scholarium blieb ein Fragment, dessen Fertigstellung nach der zweiten Verurteilung Abaelards durch die Synode von Sens (1141) nicht mehr gelingen sollte.36 Die Theologia bildet die Hauptquelle der vorliegenden Studie. Im Umgang mit ihr bieten sich zwei hermeneutische Möglichkeiten an: Sie könnte mit Blick auf die Komplexität ihrer Entstehung und die Entwicklung ihrer Gedanken in mehrere, thematisch getrennt voneinander zu interpretierende Teile gegliedert werden. Dieser Weg wird in der von Klitzsch vorgelegten Monographie beschritten, der es – wie ihr Titel bereits angibt – um eine „genetisch-kontextuelle Analyse“ der Theologiae geht. Klitzsch beklagt, dass eine Auseinandersetzung mit Abaelards theologischem Denken häufig „unter zu geringer Differenzierung zwischen den einzelnen Schriften“37 stattfinde. Mews hingegen, der Herausgeber zahlreicher Schriften Abaelards, nähert sich der Theologia unter der hermeneutischen Vorgabe an, dass es sich – trotz aller Heterogenität – um ein einheitliches Werk handelt,38 das in mehreren Bearbeitungsstufen vorliegt. Dies 33

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So lautet der von d’Amboise und Duchesne zu Beginn des 17. Jahrhunderts vergebene Titel des Werkes, der in der Folge Eingang in die Patrologia Latina (PL 178, 979 A) gefunden hat und von Cousin, Petri Abaelardi Opera II, 1 übernommen wurde. Vgl. auch Van den Eynde, La ‚Theologia Scholarium’ de Pierre Abélard, 228-231. Zur frühen Editionsgeschichte der Werke Abaelards vgl. Engels/Kingma, ‚His ego versiculos’, 256f. th. sch. 11 (Ed. Buytaert 404, 111f.), Th. Sch. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 318, 1f.): „Tria sunt, ut arbitror, in quibus humana salutis summa consistit, fides uidelicet, caritas et sacramenta.“ Vgl. Luscombe, The School of Peter Abelard, 143-145. Landgraf, Écrits théologiques de l’école d’Abélard, XXX-XXXIX sowie Landgraf, Einführung in die Geschichte der theologischen Literatur, 65-73. Zur Wirkung Abaelards auf seine Zeitgenossen, zum Beispiel Robert von Melun, vgl. Horst, Beiträge zum Einfluß Abaelards, 314-326. Bei der umstrittenen Datierung der Synode wird den Ausführungen Mews’ gefolgt, der die Verurteilung Abaelards auf das Jahr 1141 festsetzt (vgl. Mews, The Council of Sens, 353). Eine abweichende Deutung wurde in neuerer Zeit von Strothmann vertreten. Vgl. Strothmann, Das Konzil von Sens 1138 und die Folgeereignisse, 254. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 24. Dies wird implizit an folgender Aussage deutlich: „Although there are many different works of Abelard […], I shall concentrate on just one, the Theologia, the treatise which came under such criticism during his lifetime. The work is of particular importance because Abelard continued to revise its text over a period of some twenty years, producing three major versions“ (Mews, Man’s Knowledge of God, 419).

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entspricht auch der Intention Abaelards und dem Empfinden seiner Zeitgenossen, da sowohl „im Geist des Verfassers als auch in den Urteilen seiner Gegner“ die drei Fassungen der Theologia „als verschiedene Versionen eines einzigen Werkes“39 angesehen wurden. Aus diesem Grund bedarf die bereits erwähnte methodische Vorentscheidung, sich auf die Theologia Abaelards zu konzentrieren, einer Präzisierung: Die Schrift wird unter dem Blickwinkel ihrer Einheitlichkeit analysiert; es geht darum, ein Gesamtbild der epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards zu zeichnen. Dies darf jedoch nicht – hierin muss die Warnung Klitzschs ernst genommen werden – zu einer harmonisierenden Deutung führen, die Entwicklungslinien und Brüche verdeckt. Bei der Bezugnahme auf eine Aussage, die in mehreren Fassungen der Theologia vorkommt, werden – ausgehend von der frühesten Erwähnung – auch die Parallelstellen zitiert. Findet sich in einer Version ein besonderer Aspekt, der in den folgenden eine Umakzentuierung erfährt, wird dies ebenfalls benannt und auf seine Konsequenzen hin untersucht. Als Interpretamente für die Aussagen der Theologia dienen Abaelards logische Schriften, seine Bibelkommentare (vor allem die Deutung des Römerbriefs), gelegentlich die Ethica, die Historia Calamitatum sowie ausgewählte Briefe. Das methodische Grundanliegen besteht darin, Abaelard aus seinem eigenen Schrifttum heraus zu verstehen sowie seine theologischen Abhängigkeiten, die vor allem auf Augustinus verweisen, offen zu legen. Die Konzentration auf die beiden genannten Aspekte hat zur Folge, dass bestimmte Fragestellungen nicht weitergehend erörtert werden können: Auf eine genaue Identifizierung der zeitgenössischen Gegner, mit denen Abaelard sich auseinandersetzt, muss ebenso verzichtet werden wie auf eine genetische Skizze der Nachwirkungen, die von seiner Gotteslehre ausgehen. Diese doppelte Lücke ist dadurch zu rechtfertigen, dass Thesen über den direkten Einfluss Abaelards – etwa auf die Ähnlichkeitslehre und die analogia entis-Theorie im dreizehnten Jahrhundert – textlich nur schwer zu belegen sind und deshalb im Bereich des Spekulativen verbleiben müssen; der zwei Mal als Häretiker Verurteilte wird nicht direkt zitiert oder explizit beim Namen genannt, sondern – wie Wieland feststellt – „meist mit Schweigen übergangen“40. Auch Grane diagnostiziert ein „Schweigen über Abaelard in der darauffolgenden Schultheologie. Es ist geradezu auffallend, wie er aus der Diskussion verschwindet. Über die Ursache kann es keinen Zweifel geben. Bernhards Einfluß war stark genug, Abaelards Namen sozusagen auszuradieren.“41

39 40 41

Niggli, Philosophischer Scharfsinn in der theologischen Kritik, 248f. Wieland, Abaelard – Denker des Glaubens, 32. Vgl. auch Mews, Orality, Literacy, and Authority, 489. Grane, Peter Abaelard, 180. Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Strothmann, Das Konzil von Sens 1138 und die endgültige Verurteilung, 404.

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Die These Granes wird durch die von Barrow, Burnett und Luscombe erstellte Liste der mittelalterlichen Manuskripte, die die Werke Abaelards überliefern, bestätigt: Während die Theologia Summi Boni nur in elf Handschriften dokumentiert ist,42 finden sich in der Zählung Leclerqs 116 Belege für Bernhards Anklageschrift gegen Abaelard.43 Die nachfolgenden Generationen konnten sich mit den Theoremen der Theologia kaum durch eine direkte Konsultation dieser Schrift auseinandersetzen; sie war lediglich als „Gegenstand der Schmähung vonseiten eines hoch geachteten (und kanonisierten) Autors“44 bekannt – gemeint ist Bernhard von Clairvaux. Bezüglich der Auseinandersetzungen Abaelards mit zeitgenössischen Gegnern gilt: Sofern es um namentlich bekannte Personen geht, allen voran um Bernhard45, sind die Kontroversen bereits ausführlich erforscht worden; sofern es sich um unerwähnte Gegner handelt, bleibt der Interpret auf Mutmaßungen verwiesen.46 Die dieser Studie zugrunde liegende Methodik, sich auf eine intrinsische Analyse der Werke Abaelards zu konzentrieren und von dort aus zu versuchen, den dogmenhistorischen Kontext – allen voran den Einfluss Augustins – offen zu legen, ist also in einem doppelten Sinne legitim: Die Untersuchung verzichtet auf spekulative Hypothesen über mögliche Adressaten Abaelards sowie auf schwer zu belegende Mutmaßungen bezüglich der von ihm ausgehenden Wirkungen. Sie kann einen Beitrag zur Forschung leisten, weil die Bedeutung Augustins fast ausschließlich im Rahmen von Abaelards Ethik,47 nicht 42 43 44

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Vgl. Barrow/Burnett/Luscombe, A Checklist of the Manuscripts, 190-240 sowie Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 341. Vgl. Leclerq, Les formes successives de la lettre-traité, 89-93. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 341: „But it is clear from these figures that, once the generation of those who had known or been taught by him personally had died out, Abelard’s reputation in the Middle Ages was not based to any great extent on his logical or theological works; and that the thirteenth, fourteenth and fifteenth century was most likely to come across Abelard’s name as the object of vituperation by a highly respected (and canonized) author.“ Vgl. Borst, Abälard und Bernhard, 497-526. Grill, Die neunzehn ‚Capitula’, 230-239. Jolivet, Sur quelques critiques de la théologie d’Abélard, 33-47. Gössmann, Dialektische und rhetorische Implikationen, 890-902. Knoch, Der Streit zwischen Bernhard von Clairvaux und Petrus Abaelard, 303-313. Maas, Widerspruch zwischen Glauben und Vernunft?, 395407. Dies zeigt sich etwa an den Spekulationen über die fehlende namentliche Erwähnung Roscelins von Compiègne in der Historia Calamitatum. Vgl. Silvestre, Pourquoi Roscelin n’est-il pas mentionné, 218-224. Die Mutmaßungen über Abaelards Verhältnis zu seinen Zeitgenossen prägen auch den Versuch Clanchys, den Humor Abaelards zu analysieren. Vgl. Clanchy, Abelard’s Mockery of St Anselm, 22. Die neueste Untersuchung zur augustinischen Prägung der Ethik Abaelards findet sich bei Georges, Die Verwurzelung von Abaelards Ethik, 9-30. Rydstrom-Poulsen, The Gracious God, 192-198 zeichnet aus einer allgemeineren Perspektive die Wirkung der Gnadenlehre nach.

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aber im Bereich der Epistemologie zur Kenntnis genommen wurde. Dies belegen zwei neuere Darstellungen über den Einfluss Augustins auf Abaelard. Doutre strukturiert seine Ausführungen im 2007 erschienenen „Augustin Handbuch“ gemäß dreier Hauptthemen: Philosophie (tatsächlich behandelt er nur die Universalienlehre), Ethik und Theologie in einem unspezifischen Sinne.48 Doutres Untersuchung weißt mehrere Schwächen auf: Sie argumentiert fast nur auf Grundlage der Sekundärliteratur; Abaelard selbst kommt fast nicht zu Wort. Der fehlende Bezug zum Primärtext wird umso problematischer, je selektiver die Forschungsliteratur herangezogen wird: Doutre stützt sich vornehmlich auf die für sich genommen solide Untersuchung Cartwrights zu den Römerbriefkommentaren Wilhelms von Saint-Thierry und Abaelards.49 Die in ihrer Werkauswahl sehr zugespitzte Studie ist jedoch nicht geeignet, einen – wie Doutre es beabsichtigt – Überblick über das Werk Abaelards und die darin enthaltenen Spuren Augustins zu geben. Kurioserweise zitiert Doutre in den Ausführungen zu Abaelards theologischem Schaffen einzig und allein den Kommentar zum Römerbrief; die Theologia des Magisters selbst bleibt unerwähnt. Durch diese methodischen Ungenauigkeiten mangelt es Doutre auch an inhaltlicher Präzision. Er stellt schlussfolgernd fest: „Abaelard war ein eigenständiger Denker, der inmitten einer vom augustinischen Gedankengut geprägten Welt an die Kraft der Vernunft glaubte.“50 Was ist damit ausgesagt? Stehen sich der Augustinismus und die Kraft der Vernunft etwa gegenüber? Deutlich werknäher und differenzierter argumentiert Karfíková in ihren Überlegungen „Zur Rezeption Augustins bei Peter Abaelard“ aus dem Jahr 2009. Sie skizziert fünf Aspekte: den literarischen Einfluss von Augustins Confessiones auf die Historia Calamitatum sowie die Wirkung des Bischofs von Hippo auf Abaelards Trinitätslehre, seinen Liebesbegriff, seine Gnadenlehre sowie seine Ethik.51 Eine Verknüpfung von Erkenntnis- und Gotteslehre fehlt jedoch. Sie gilt es in der vorliegenden Studie herauszuarbeiten.

3. Zum Forschungsstand Die Aufarbeitung des Diskussionsstandes verbindet eine diachrone mit einer synchronen Perspektive: Es wird versucht, auch die ältere Forschung (diachron) in ein kritisches Gespräch (synchron) mit neueren Untersuchungen zu bringen, die für die epistemologischen Voraussetzungen von Abaelards Gotteslehre relevant sind. 48 49 50 51

Vgl. Doutre, Abaelard, 581. Vgl. Cartwright, The Romans Commentaries, 242-247. Doutre, Abaelard, 587. Vgl. Karfíková, Zur Rezeption Augustins bei Peter Abaelard, 71-83.

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Die Geschichte der Abaelardforschung seit dem 19. Jahrhundert ist selbst zum Gegenstand zahlreicher Abhandlungen und Berichte geworden.52 Es zeigt sich eine paradoxe Lage: Eine Studie mit dem thematischen Zuschnitt der vorliegenden Arbeit ist bisher noch nicht erschienen. Da es hier jedoch um eine Synthese geht, die auf einer Analyse mehrerer kontextuell verschiedener „Rücksichten“ fußt, „in denen der Begriff der Erkenntnis thematisch ist“53, sind auch solche Aspekte zu beleuchten, die in der Sekundärliteratur bereits berücksichtigt wurden. Die vorliegende Untersuchung will einen zweifachen Beitrag leisten: (1) Es ist erstens ein differenziertes Gesamtbild der erkenntnistheoretischen Präkonditionen der Gotteslehre Abaelards durch die Kombination voneinander verschiedener, aber in dieser Problemstellung zusammengehöriger Einzelaspekte zu entwerfen. Damit betritt die Studie hinsichtlich ihres Fragens als auch mit Blick auf ihre Antworten Neuland. (2) Die Analyse der erkenntnistheoretischen „Rücksichten“ hat in kritischem Gespräch mit der Sekundärliteratur zu erfolgen, so dass nicht nur bisher getrennt behandelte Problemstellungen zusammengefügt, sondern auch einige der zu untersuchenden Aspekte reinterpretiert werden. Darin besteht der zweite Forschungsbeitrag: Die Studie versucht, neue Antworten auf bereits gestellte Fragen zu geben. Niggli unterscheidet in der Abaelardforschung drei Hauptphasen:54 Eine frühe, der es um Abaelard, den „Rationalisten“, gegangen sei, eine neuere, die Abaelard, den „Kritiker“, in den Fokus gerückt habe und eine zeitgenössische, die nicht näher charakterisiert wird. Diese Einteilung ist zu unpräzise, da sie zwei notwendige Differenzierungen nicht erfasst: Sie sichtet zwar vorherrschende Tendenzen, verkennt aber die Heterogenität, die auch die Forschung des neunzehnten Jahrhunderts prägt. Zudem übersieht Nigglis Periodisierung der Abaelardforschung sprachraumspezifische Differenzen, die sich vor allem zwischen deutschen und französischen Autoren konstatieren lassen. Auch die rationalistischen Deutungen Abaelards, die heute hinterfragt werden, sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern in der Vielschichtigkeit von Abaelards Werk und der selektiven, je nach Frageinteresse variierenden Konzentration auf bestimmte Textstellen begründet. Die Auslegungstradition, die mit einer 1845 veröffentlichten Studie Rémusats und den von Cousin neu herausgegebenen Werken einsetzte, untersuchte vor allem solche Passagen der Theologia, in denen die natürlichen Fähigkeiten der Vernunft betont werden. Die zweite Referenz52

53 54

Vgl. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode II, 177f. Jolivet, Abélard entre chien et loup, 307-312. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 1-3. 332-349. Gandillac, Sur quelques interprétations récentes d’Abélard, 293-301. Little, The Status of Current Research on Abelard, 119-124. Luscombe, Some recent interpretations, 69-75. Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre, 75. Vgl. Niggli, Theologia Summi boni, XXXVIf. Zur Kritik an der Einteilung Nigglis vgl. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 21, Anm. 24.

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schrift Abaelards, die in den Mittelpunkt der Forschung des neunzehnten Jahrhunderts rückte, ist Sic et Non, dessen Prolog vor allem als Destruktion des Autoritätsbezugs der mittelalterlichen Wissenschaft gewertet wurde. Auf dieser Grundlage entwarf Rémusat das lange Zeit einflussreiche Bild eines rationalistischen, autoritätsfeindlichen Reformers, der wesentliche Vorstellungen der Aufklärung vorweggenommen habe: Il „servit l’esprit général du rationalisme. Il ébranla profondément la tyrannie de l’autorité tout en l’invoquant sans cesse, […] il conduisit forcément les esprits à reconnaître l’arbitrage de la raison. C’est par ces motifs et dans cette mesure que le génie d’Abélard peut mériter, soit comme éloge, soit comme blâme, le titre de génie révolutionnaire.“55

Der Rationalismus Abaelards wurde weitgehend von seiner Gotteslehre getrennt, an der nur geringes Interesse bestand, so dass seine spezifisch theologische Epistemologie in den Hintergrund trat. Rémusat ging es nicht um eine inhaltliche Auswertung von Abaelards Trinitätsspekulationen; er betont stattdessen die mit den Mitteln der Logik operierende Methodik, die den überlieferten Glauben kritisch hinterfrage. Das apologetische Interesse gegenüber den Hyperdialektikern, das ein Leitmotiv der Theologia Summi Boni bildet, kommt dabei nicht in den Blick. Das Neuartige und Singuläre von Rémusats Deutung, die im französischen Sprachraum großen Einfluss ausübte, zeigt sich, wenn man diese in Beziehung zu den vorher und nachher erschienenen Studien setzt. Golhorns in lateinischer Sprache verfasste Dissertation aus dem Jahr 1836, die – wie ihr Titel angibt – „de summis principiis theologiae Abaelardeae“ handelt, setzt einen anderen Schwerpunkt: Die von Rémusat vorausgesetzte Dichotomie zwischen Vernunftgebrauch und Autoritätsbezug findet sich dort noch nicht, da die Philosophie von Goldhorn nicht nur als spontan-kreative Vernunftwissenschaft aufgefasst wird, sondern auch als eine an die Auslegung von Autoritäten gebundene Disziplin. Im Unterschied zur Theologie gehe es ihr um die Befragung bewährter Philosophen und um eine korrekte Deutung ihrer als wahr erachteten Lehrmeinungen, die erst in einem darauffolgenden Schritt rational dargelegt, veranschaulicht und verteidigt werden müssten. „Totum theologiae opus tribus in utraque editione partibus constat, quae circa doctrinam ecclesiasticam ita versantur, ut eam prima testimoniis potissimum philosophorum confirmet, altera rationibus defendat atque illustret, tertia amplificare 56 nitatur.“

Auch die nach Rémusat erschienenen Arbeiten schätzen – ähnlich wie Goldhorn – die Möglichkeiten, Gott mittels der Vernunft zu erkennen, pessimistischer ein. Deutsch formuliert 1883 sogar die These, Abaelard habe „von der Fähigkeit des 55 56

Rémusat, Abélard II, 550f. Goldhorn, De summis principiis theologiae Abaelardeae, 54.

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menschlichen Erkenntnisvermögens keine allzu hohe Meinung“57 gehabt. Hausrath versucht 1895 diese Ansicht wieder zu korrigieren, schließt sich aber nicht dem von Rémusat gezeichneten Bild Abaelards als eines Revolutionärs an. Er betont – in Abgrenzung zu Deutsch – die Reichweite der natürlichen Vernunft, stellt jedoch im Gegensatz zu Rémusat fest, Abaelards Absicht sei „es nie gewesen, die Kirchenlehre zu bekämpfen, sondern im Gegentheil [sic], sie zu beweisen“58. Auch wenn die These einer positiven Beweisbarkeit von Glaubensaussagen mit Blick auf das Werk Abaelards problematisch ist, enthält sie eine interessante Feststellung: Abaelard setzt Hausrath zufolge die Vernunft nicht gegen den Glauben, sondern stellt sie in dessen Dienst. Kaiser verfolgt diesen Gedanken in seiner Dissertation aus dem Jahr 1901 weiter und versucht, die Bedeutung des Terms intelligere zu klären: Ist für Abaelard das Verstehen des Glaubens im Sinne eines rationalen, nicht offenbarungsgestützten Erfassens der göttlichen Geheimnisse möglich? Kaiser verneint dies und unterscheidet stattdessen die Vorgänge comprehendere und cognoscere auf der einen, und intelligere auf der anderen Seite. „Puisque donc comprehendere désigne une connaissance intrinsèque du mystère, cognoscere une connaissance certaine due à la présence de l’objet, intelligere ne peut désigner qu’une connaissance estimative engendrée par des similitudes et des analogies et due à la non présence de l’objet. Or, comme c’est précisément cette dernière connaissance qu’Abélard réclame en faveur du mystère, je conclus que pour lui, la raison ne 59 peut donner qu’une connaissance estimative du mystère.“

Kaiser differenziert zwischen einer nur bruchstückhaften, athematischen Erkenntnis und einer intelligiblen, aber auf der Wahrnehmung der Sinne aufbauenden Erfassung eines Gegenstandes. Was wird mit dieser Unterscheidung ausgesagt? Bezeichnen die Verben comprehendere und cognoscere den epistemischen Akt des Menschen, der auf die quidditas von Gegenständen zielt und schließlich zum Wissen, also einer Erkenntnis bei gleichzeitiger Gewissheit, dass sie auch wahr ist, führen kann? Was ist demgegenüber unter einer sich auf Gott richtenden „connaissance estimative“ genau zu verstehen? Kaisers Verdienst besteht darin, dass er verschiedene epistemische Akte benennt, die Abaelards Theorie der Gotteserkenntnis zugrunde liegen (comprehendere, cognoscere, intelligere). Er unterscheidet die Begriffe jedoch nicht präzise genug,60 um seine terminologischen Beobachtungen in eine elaborierte theologische Erkenntnislehre überführen zu können. Bei diesem Versäumnis setzt Schreiters Studie aus dem Jahr 1912 an. Sie greift die von Kaiser getroffene Unterscheidung zwischen intelligere und 57 58 59 60

Deutsch, Peter Abälard, 116. Hausrath, Peter Abälard, 49. Kaiser, Pierre Abélard critique, 96. Vgl. Ligeard, Le rationalisme de Pierre Abélard, 384-396.

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comprehendere auf; von dort aus versucht sie, die von Rémusat vertretene rationalistische Deutung der Theologie Abaelards zu widerlegen. In diesem Zusammenhang führt Schreiter einen weiteren Gegenbegriff zu comprehendere ein: die visio beatifica. Abaelard stelle jede intelligible Erkenntnis unter den Vorbehalt der jenseitigen Schau Gottes. Durch diese These verbindet Schreiter Abaelards Erkenntnistheorie mit der Eschatologie: „Hier in der Finsternis ist eben nur ein Vorgeschmack der Seligkeit möglich. So bald aber der innere Mensch befreit ist vom Körper, dann wird er ihr ganz teilhaftig.“61 Problematisch an den Ausführungen Schreiters ist, dass sie die Theologie Abaelards mit Interpretamenten und Begriffen überformt, die ihr fremd sind: Abaelard geht zwar – allen voran in der Theologia Scholarium – davon aus, dass die seligmachende Schau für den Menschen eine neue Qualität der Gotteserkenntnis mit sich bringt; dennoch nimmt die Reflexion auf die visio beatifica nicht die tragende Bedeutung ein, die Schreiter ihr beimisst. Die Rede vom ‚inneren Menschen’ und der ‚Befreiung vom Körper’ entspricht weder Abaelards Diktion noch seinem Gedankengang. Eine ähnliche Methode – wenn auch unter anderen Vorzeichen – findet sich bei Ottaviano: Er bedient sich einer neuscholastischen Terminologie. Die schuldogmatische Aufteilung der Gotteslehre in zwei Subtraktate – de Deo uno und de Deo trino – erlaubt es, das Problem der Gotteserkenntnis zu differenzieren: Ottaviano unterscheidet zwischen der Erkenntnis des einen Gottes (Deus unus), die mit den Mitteln der Vernunft erfolgen kann, und dem Glauben an die Trinität (Deus trinus), der auf die Offenbarung rekurriert. Abaelards Gotteslehre wird als Vorläuferin dieser Distinktion angesehen: „All’esistenza di Dio li portò ipsa philosophiae ratio; alla Trinità assursero solo Deo revelante.“62 Der Einfluss der These Rémusats schwindet, weil die Kategorien, die ihr zugrunde liegen, von den Autoren nicht mehr geteilt werden, die Abaelard entweder aus der Sicht einer neuscholastischen Orthodoxie betrachten, oder sich um eine historisch exakte Deutung bemühen und versuchen, Abaelard in seiner Zeit und nicht im Gegensatz zu ihr zu verstehen. Eine Monographie, die sich den geschichtlich-kontextuellen Bedingungen von Abaelards theologischem Denken widmet, wurde 1932 von Sikes vorgelegt. Er beschreitet bei der Analyse der theologischen Erkenntnislehre einen Mittelweg zwischen Rationalismus und Fideismus; beide Ausprägungen seien für sich genommen unzureichend und werden als wechselseitige Korrektive gegenüberstellt: „I have said enough to show that Abailard was no rationalist in the Voltarian sense of that word. Like all the great scholastic thinkers, he was, however, a rationalist in that he considered human reason competent to arrive at some knowledge of Reality.“63 61 62 63

Schreiter, Petrus Abälards Anschauungen, 43. Ottaviano, Pietro Abelardo, 194. Sikes, Peter Abailard, 252.

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In eine ähnliche Richtung geht auch Cottiaux, der in einer ebenfalls 1932 erschienen Aufsatzserie, die allerdings den Umfang einer Monographie hat, die bei Kaiser offen gebliebene, begriffliche Differenzierung zwischen verschiedenen epistemischen Akten aufgreift und die Bedeutung von intelligentia präzisiert: Abaelard bezeichne mit diesem Begriff „ein Verstehen des grammatikalischen Sinnes der Offenbarungsaussagen“64. Das intelligere substituiert demnach nicht die Offenbarung, sondern setzt sie voraus; es bezieht sich auf revelatorisch gestützte Propositionen und versucht, diese rational zu durchdringen. Die bisherigen Beobachtungen haben gezeigt: Bereits in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die im französischen Sprachraum wirkmächtige These, Abaelard sei ein kirchenkritischer Rationalist im Sinne der Aufklärung, bereits nicht mehr vertreten. Im Gegenteil: Marenbon bemerkt, dass Cottiaux tendenziös um den Nachweis der Rechtgläubigkeit Abaelards bemüht sei.65 In der Folgezeit spezialisiert sich die Abaelardforschunng zunehmend. Wurde die theologische Erkenntnislehre bisher meist als ein Unterthema innerhalb umfassender, werkbiographisch orientierter Abhandlungen betrachtet, so geraten nun feingliedrigere Aspekte der epistemologischen Voraussetzungen von Abaelards Gotteslehre in den Fokus. Dies zeigt die in lateinischer Sprache verfasste, 1938 erschienene Dissertation Rózyckis, die den Gesamttitel „Doctrina Petri Abaelardi de Trinitate“ trägt, deren erster Band aber ausschließlich „De cognoscibilitate Dei“ handelt. Rózycki unterscheidet – mit einer neoscholastisch präzisen, teilweise auch an Descartes erinnernden, aber Abaelard fremden Terminologie – zwischen einer „cognitio Dei clara et distincta, perfecta et essentialis“ auf der einen, und einem „‚sensus fidei’ in Trinitatem“66 auf der anderen Seite. Eine klare und distinkte Erkenntnis des dreifaltigen Wesens Gottes sei für den Menschen nicht möglich, da Gott die Fassungskraft jedes geschaffenen Intellekts übersteige. Die Vernunft verfüge jedoch über einen sensus fidei, der auf die Trinität hin ausgerichtet sei und dem Menschen eine athematische und implizite Gotteserkenntnis ohne begrifflich präzise Gestalt vermittle. Rózycki lehnt die Konzeption einer natürlichen, rein auf den Fähigkeiten der Vernunft beruhenden Trinitätserkenntnis ab: „Homo itaque mysterium Trinitatis comprehensive cognoscere non valet. Amplius, postquam in tribus Theologiis Abaëlardus asseruerat Deum solum imperfecte ab homine cognosci posse, non vero quidditative, conclusionem hanc applicavit statim ad mysterium Trinitatis.“67

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Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f.: Abélard „ramène l’intelligentia fidei aux proportions d’une connaissance indirecte de l’objet de la foi ou d’une compréhension du sens grammatical des énoncés de la révélation“. Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 56, Anm. 3. Rózycki, Doctrina Petri Abaelardi de Trinitate I, 95. Rózycki, Doctrina Petri Abaelardi de Trinitate I, 86.

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Abaelard verneint nach der Deutung Rózyckis die Möglichkeit eines begreifenden Verstehens Gottes, da sich der menschliche intellectus auf die Washeit (quidditas) der Dinge richte, Gott aber per definitionem nicht quidditative erfasst werden könne. Es wäre demnach ein Kategorienfehler, in Bezug auf Gott von cognoscere zu sprechen, weshalb die Vorstellung einer ohne Offenbarung auskommenden, natürlichen Gotteserkenntnis (cognitio naturalis) obsolet werde. Damit zeigt sich Rózycki vernunftskeptischer als Ottaviano, der zwar eine rationale Erkennbarkeit der Trinität, nicht aber die Möglichkeit einer klaren und distinkten Einsicht in die Existenz des einen Gottes verneint.68 Simonis fragt in seiner 1972 erschienenen Habilitationsschrift zum ersten Mal explizit nach den epistemologischen Voraussetzungen, die Abaelard seiner Gotteslehre zugrunde legt. Dabei trifft Simonis auf eine ontologische und eine methodische Prämisse. Erstere betrifft das Verhältnis Gottes zu den Menschen, letztere die Rechtfertigung der Dialektik als Arbeitsinstrument der Theologie: „Denn letztlich ist der Mensch ja Ebenbild Gottes, und gerade in seiner Vernunftbegabtheit steht er Gott am nächsten, und so wird er auch mit Hilfe der Vernunft am ehesten etwas über Gott aussagen können. […] Christus wird sowohl die Weisheit, als auch der Logos des Vaters genannt; und so wie der Name des Christen 69 sich von Christus herleitet, so kommt der Name der Logik von ‚Logos’.“

Durch die Absicherung der Möglichkeit vernunftgemäßer Gotteserkenntnis neigt Simonis zu einer starken Betonung der rationalen Einsehbarkeit Gottes. Er geht davon aus, dass Abaelard einen „Trinitätsbeweis“70 unternimmt. Diese auf Hausrath zurückgehende Ansicht liegt in einer Fokussierung auf die vernunftoptimistischen Passagen begründet,71 die sich vor allem in der Theologia Christiana finden; sie werden als repräsentativ für den gesamten, oft uneinheitlichen und sogar widersprüchlich scheinenden Gedankengang Abaelards betrachtet. Die Einseitigkeit verwundert, denn Simonis ist sich der Tatsache bewusst, dass Abaelard zum Problem der natürlichen Gotteserkenntnis „keine systematische, geschlossene Abhandlung [vorgelegt hat], so daß wir auf einzelne Bemerkungen angewiesen sind.“72 Simonis geht bei der Bewertung der disparaten Textlage selektiv vor und dehnt so den Radius des rational Erfassbaren weit aus: Er wertet den von Abaelard eingeführten Ternar potentia, sapientia, benignitas und die von ihm benannten similitudines nicht bloß als Versuche, die bereits vorausgesetzte Offenbarung zu veranschaulichen und zu plausibilisieren, sondern als streng rationale Zugänge zum Trinitätsgeheimnis. Die Möglichkeit vernunftgemäßer Einsicht erstreckt sich ihm zufolge sogar auf die innertrinitarischen 68 69 70 71 72

Vgl. Ottaviano, Pietro Abelardo, 194. Simonis, Trinität und Vernunft, 40f. Simonis, Trinität und Vernunft, 35. Vgl. Hausrath, Peter Abälard, 49f. Simonis, Trinität und Vernunft, 58.

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Konstitutionsprozesse, deren Notwendigkeit rational einsehbar sei; lediglich der genaue Ablauf bliebe dem Menschen verborgen: „Nach Abaelards Ansicht können wir also sehr wohl das ‚Daß’ etwa der Zeugung, nicht aber das ‚Wie’ begreifen.“73 Während die bisherige Forschung vor allem darum bemüht war, Abaelards theologische Erkenntnislehre auch aus seinen spezifisch theologischen Schriften heraus zu untersuchen, nimmt Blackwells Studie „Non-Ontological Constructs“ aus dem Jahr 1988 eine andere Perspektive ein: Ihr geht es um die Einflüsse, die Abaelards sprachlogische Ansichten auf seine Theologie sowie – laut Blackwell eng damit verbunden – auf seine Ethik ausüben. Der Schnittpunkt zwischen Abaelards verschiedenen Denkansätzen wird durch die Begriffe Bedeutung (meaning) und Überprüfbarkeit (verification) charakterisiert. Blackwell zufolge ist die Gotteslehre auf die Logik angewiesen, sofern zu klären bleibt, welche „Bedeutung“ die Glaubensaussagen besitzen und wie sie für die Gläubigen „bedeutungsvoll“ werden: „Divine revelation must by its very nature become meaningful on some level of the understanding. Were it not meaningful, it would have been revealed superfluously. Thus the question which must be dealt with […] is, on what human level are faith statements 74 meaningful [sic]“ .

Blackwells Frage greift auf die Ergebnisse Cottiaux’ zurück, denen zufolge Abaelards Rede von der intelligentia fidei sich nur auf das grammatikalische Verständnis von offenbarten Sätzen beziehe.75 Die Antwort, die Blackwell gibt, ist jedoch differenzierter als diejenige Cottiaux’: Sie verbindet Logik, Theologie und Ethik zu einem epistemologischen Gesamtkonzept. Aufgrund von Abaelards konzeptualistischer Position, derzufolge den Universalien als voces keine eigenständige Subsistenz jenseits der konkreten Einzeldinge zukommt,76 könne der Intellekt keine bestehenden Allgemeinbegriffe aus den Objekten seiner Erkenntnis herauslösen, sondern müsse diese Allgemeinbegriffe selbst bilden. Dazu bedarf er – so Blackwells Deutung – eines göttlichen Beistandes, dessen Wirken von Abaelard als inspiratio oder illuminatio gedeutet wird. Da der Akt der Erleuchtung jedoch nicht im Sinne einer universalia ante rem-Position als Mitteilung eines jenseits des Einzelgegenstands bestehenden Prinzips gedacht werden könne, setze der göttliche Beistand nicht auf der ontologischen, sondern auf der praktischen Ebene an. Der Mensch werde durch die Erleuchtung Gottes

73 74 75 76

Simonis, Trinität und Vernunft, 62. Blackwell, Non-Ontological Constructs, 181. Vgl. Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f. Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 16, 19-22): „Nunc autem ostensis rationibus quibus neque res singillatim neque collectim acceptae universales dici possunt in eo quod de pluribus praedicantur, restat ut huiusmodi universalitatem solis vocibus adscribamus.“

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zu einem tugendhaften Leben angeleitet, das ihn zum theoretischen Erkennen der Allgemeinbegriffe befähigt: „By accepting the Socratic position that the virtues are, in fact, a type of knowledge, he [sc. Abelard] redirects these two inherently realist principles towards a non-ontological, ethical base. As a result, both inspiration and illumination act as an ethical conduit through which the knowledge of divine Ideas (comprehendere) is transferred and transformed into a human knowledge (intelligere)”77.

Auch wenn Blackwell die von Abaelard postulierten ethischen Implikationen der Gotteslehre richtig erkannt hat, bleibt seine Theorie dennoch ein Fragment aus nicht konsistent zusammengesetzten Teilen: Zunächst ist es anhand der Werke Abaelards nicht belegbar, dass der menschliche Intellekt – auch unter der Prämisse einer universalia post rem-Position – eines göttlichen Beistands bedarf, um Allgemeinbegriffe zu bilden. Selbst wenn man die Notwendigkeit einer auf den menschlichen Geist einwirkenden, von Außen kommenden epistemischen Intervention zugesteht, bleibt unklar, wie diese mit der von Blackwell beschriebenen Anleitung zum moralisch guten Leben zusammenhängt. Abaelard geht zwar davon aus, dass Gotteserkenntnis nur durch eine rechte Lebensführung erreicht werden kann;78 dies gilt jedoch nur für den Bereich der spezifisch theologischen Erkenntnislehre und impliziert nicht, dass sich eine allgemeine Kenntnis der Universalien aus der Moralität des Subjekts herleiten ließe. Eine weitere Monographie zur Theologie Abaelards ist Bonannis 1996 erschienene Dissertation „Parlare dellà Trinità“. Diese Arbeit weist – wie ihr Untertitel: una „lettura della Theologia Scholarium“ anzeigt – weniger eine thematische, als vielmehr eine werkspezifische Eingrenzung auf: Es geht Bonanni ausschließlich um eine Analyse der Theologia Scholarium. Darin liegt sowohl die inhaltliche Stärke als auch die methodische Problematik seiner Untersuchung begründet. Bonannis Forschungsbeitrag besteht darin, dass er nur die letzte Stufe von Abaelards theologischem Denken untersucht und so eine Synthese vorlegt, die angesichts der Bearbeitungen, die die Theologia im Zeitraum ihrer etwa zwanzigjährigen Entstehungszeit erfahren hat, leicht unterzugehen droht. Da Bonanni sich der von ihm intendierten zusammenfassenden Darstellung von Abaelards theologischem Schaffen nicht unter einer präzisen Fragestellung nähert, bleibt die Perspektive im Dunkeln, aus der heraus er die Werke Abaelards untersucht. Die diffuse Zielsetzung „[q]uesta ricerca non vuole essere nulla di più che une lettura di questo testo“79, bringt es mit sich, dass die vielen Aspekte, auf die Bonanni eingeht, entweder assoziativ aneinandergereiht sind oder den Ge77 78

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Blackwell, Non-Ontological Constructs, 250f. Vgl. Th. Sum. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 120, 155f.): „Quod nec ipsos latuit philosophos, qui noticiam dei non ratiocinando, sed bene uiuendo acquirendam censebant”. Mit leichten Modifikationen zu Beginn des Satzes vgl. Th. Chr. 3,33 (Ed. Buytaert 207, 386-388). Bonanni, Parlare della Trinità, 1.

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Einleitung

dankengang der Theologia Scholarium lediglich nacherzählen. Die letztgenannte Tendenz wird auch dadurch verstärkt, dass Bonanni nur wenig Sekundärliteratur anführt und seine Überlegungen kaum in den Zusammenhang bereits vorliegender Forschungsergebnisse einbettet; die Theologia Scholarium wird schlicht unter dem hermeneutischen Gesichtspunkt eines „complesso […] spirituale“80 betrachtet. In ihrem thematischen Zuschnitt und der methodischen Durchführung weitaus präziser ist Heyders Untersuchung „Auctoritas scripturae“ aus dem Jahr 2010. Die Dissertation widmet sich schwerpunktmäßig der Expositio in Hexaemeron und beleuchtet von deren Auslegung her die Methoden und theologischen Implikationen von Abaelards Schriftinterpretation. Heyder beschreibt zunächst die praktische Verortung von Abaelards Bibelhermeneutik (Liturgie und Studium im Konvent Heloisas), untersucht in einem zweiten Schritt den die Theologia prägenden Umgang mit der Schrift und legt abschließend eine ausführliche, theologiegeschichtlich fundierte Analyse von Abaelards Schöpfungstheologie vor. „In der Entwicklung von Abaelards Theologien lässt sich ein zunehmendes Interesse am Schriftstudium feststellen“81. Heyders Dissertation ist daher für die vorliegende Untersuchung relevant, entlastet sie aber gleichzeitig. Da den solide erhobenen Ergebnissen Heyders, die auf einer präzisen Analyse der Primärtexte beruhen, nur wenig hinzuzufügen ist, kann eine ausführlichere Darstellung der Schrifthermeneutik Abaelards im Folgenden vernachlässigt werden. Ähnliches gilt für die Interrelationen zwischen Abaelard und seinen Gegnern sowie den kirchenpolitischen Umständen seiner Zeit. Diesen Aspekten widmet sich Klitzsch in seiner ebenfalls 2010 erschienenen Monographie, die die Theologien Abaelards genetisch-kontextuell und theologiegeschichtlich untersucht. Klitzsch legt eine historisch-beschreibende Arbeit vor, in der die Bearbeitungsstufen der Theologia „unter Berücksichtigung des differenzierten Handschriftenbefundes – mit ‚philologischer Präzision’ und ‚historischer Umsicht’ [Zitate aus: Flasch, Augustin, 327] genetisch-kontextuell interpretiert werden, so dass ihr jeweiliges Spezifikum (als 82 ‚theologia’) herausgearbeitet werden kann.“

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Bonanni, Parlare della Trinità, 357: „Leggendo le pagine della Theologia Scholarium, si apre di fronte ai nostri occhi un complesso universo spirituale, in cui si trovano riflessi e come mediati nella singolare testimonianza della vicenda intellettuale di un uomo, i motivi dominanti lo spirito di tutta un’epoca.“ Heyder, Auctoritas scripturae, 20. Zu dieser Beobachtung passt auch die bereits zitierte These Heinzmanns, derzufolge die Bibelauslegung über das zwölfte Jahrhundert hinaus nicht nur eine Teildisziplin der „theologia“ gewesen sei, sondern der wesentliche Inhalt, der diesen Begriff ausmacht. Vgl. Heinzmann, Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft, 124. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 16. Hervorhebungen im Original.

Einleitung

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Klitzsch untersucht die verschiedenen Entwicklungsstadien Abaelards unter vier Gesichtspunkten: Er fragt nach der Gotteserkenntnis, der materialen Ausgestaltung der Trinitätslehre, dem Autoritätsbezug sowie der Bedeutung von der Logik entnommenen Argumentationsfiguren. Es geht ihm dabei nicht um die Darstellung einer vermeintlich einheitlichen Position Abaelards; er betont stattdessen die Heterogenität und versucht, die Abaelards spezifisch theologischem Denken „eigene Entwicklungsdynamik“ in Form „einer konsequenten geistesgeschichtlichen, sozialen sowie biographischen Rückbindung“83 nachzuzeichnen. Klitzschs Studie bietet die genaue Untersuchung von Wortfeldern und eine Auflistung einschlägiger Belegstellen eines Begriffs in den verschiedenen Redaktionsstufen der Theologia; sie zieht seltener systematische Schlussfolgerungen. Klitzsch ordnet das Werk und die an ihm vorgenommenen Veränderungen ausführlich in die geistesgeschichtlichen Auseinandersetzungen des zwölften Jahrhunderts ein. 84 Mit Blick auf das dadurch bereits Erreichte – die Betonung des Differenzmomentes innerhalb der Theologia und die historischkontextuelle Aufarbeitung ihrer sukzessiven Modifikationen – kann die vorliegende Arbeit andere Wege gehen: Sie betrachtet – wie bereits dargestellt – die Theologia als ein Werk, das in mehreren Redaktionsstufen vorliegt. Dieser hermeneutischen Vorentscheidung entspricht, dass sich bestimmte Grundaussagen erheben lassen, die die Theologia konstant durchziehen. Dabei gilt es jedoch, die Vielgestaltigkeit des Werkes nicht aus den Augen zu verlieren. Klitzsch hat gezeigt, dass eine allzu starke Harmonisierung angesichts der zahlreichen Veränderungen, die Abaelard im Laufe der langen Entstehungsgeschichte seines Werkes vorgenommen hat, nicht vertretbar ist. Diese Untersuchung betrachtet die Theologia daher unter dem Blickwinkel der Einheit, nicht der Einheitlichkeit. Die vorgelegte Studie fügt zum ersten Mal verschiedene Gedankengänge Abaelards, in denen „der Begriff der Erkenntnis thematisch ist“85, zu einem die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre erhellenden Gesamtbild zusammen. Dieser thematische Zuschnitt fehlt den bisherigen Forschungsbeiträgen; sie benennen aber einzelne „Rücksichten“, auf denen diese Arbeit aufbauen kann. 83 84

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Klitzsch, Die ‚Theologien’, 587. 595. Dabei legt Klitzsch zurecht besonderen Wert auf die Eigenständigkeit der ‚Theologia’ als Theologie: Sie ist nicht bloß variabler Ausdruck einer übergeordneten, philosophischen Entwicklung, sondern ein methodisch wie inhaltlich eigenständiges Werk. Vgl. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 595: Es sei verfehlt, „die in den sog. Theologien greifbare Dynamik und Entwicklung primär an eine philosophische Entwicklung rückzubinden. Die besondere Leistung seiner sog. Theologien bzw. seiner dort entfalteten Theologie liegt vielmehr in einer elaborierten ‚Trinitätstheologie’ bzw. Pneumatologie und in dem ständigen Streben, diese in neuen Kontexten – in Auseinandersetzung mit Infragestellungen – treffender auszudrücken.“ Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre, 75.

II. Formale Bestimmungen zum Gegenstand sowie dem Grund der Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Irrtums

1. Der Begriff des Glaubens: Definition und Tragweite 1.1. Was bedeutet fides? Was ist eine existimatio? Eine Studie, der es um die epistemologischen Voraussetzungen der Theologie Abaelards geht, hat – noch bevor sie einzelne inhaltliche Aussagen in den Blick nimmt – den Glaubensbegriff zu klären; bevor die Reflexion auf den Glauben analysiert wird, ist präzise zu bestimmen, was unter dem Begriff des Glaubens selbst zu verstehen ist. (1) Die fides geht der Theologie einerseits voraus, da diese Disziplin auf einen bereits vorhandenen Glauben reflektiert. (2) Andererseits ist es eine Aufgabe der Theologie, den vorgefundenen Glauben begrifflich zu explizieren sowie definitorisch zu fassen. Die methodische Dichotomie des Terminus fides, der Voraussetzung einer jeden (1) und zugleich Kontroversbegriff einer bestimmten Theologie ist (2), prägt auch die Glaubensdefinition, die Abaelard gibt: (1) Sie geht vom bereits Gegebenen, dem Zeugnis der Schrift, aus. Der Hebräerbrief definiert in der Abaelard vorliegenden Vulgata-Fassung: „Fides est substantia sperandarum rerum, argumentum non apparentium“ (Hebr 11,1).1 (2) Während die Theologia Summi Boni das genannte Zitat ignoriert und die Theologia Christiana es nur beiläufig aufgreift, erfährt es in den Recensiones breviores der Theologia Scholarium erstmals größere Beachtung. Abaelard 1

Das Zitat, das in verschiedenen Fassungen der Vulgata variiert, wird innerhalb der Theologien Abaelards an folgenden Stellen angeführt: Th. Chr. 3,42 (Ed. Buytaert 211, 524f.), th. sch. 12. 18 (Ed. Buytaert 404, 114f. 406, 161-163), Th. Sch. 1,2. 1,11. 1,12. 2,49 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f., 322, 104-106. 322, 123. 432, 789f.). Vgl. auch Engelhardt, Die Entwicklung der dogmatischen Glaubenspsychologie, 31-38.

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nimmt jedoch eine folgenreiche Veränderung vor und interpretiert damit den Glaubensbegriff, auf den jeder Theologe seiner Zeit zurückgreifen muss (fides als faktisch gegebene), in einer ihm eigentümlichen Weise (fides als kontroverser Reflexionsbegriff): „Der Glaube ist nämlich eine Einschätzung über nicht erscheinende, das heißt den leiblichen Sinnen nicht unterstehende Dinge“2. Der entscheidende Unterschied zwischen (1) und (2) besteht darin, dass aus dem argumentum über die nicht sichtbaren Dinge, von dem der Hebräerbrief spricht, eine existimatio wird. Wie erklärt sich dieser interpretierende Eingriff in den Wortlaut der Schrift? Der Terminus argumentum ist eng mit Abaelards Verständnis der Dialektik verbunden. Diese ist – so die Definition aus den Glossulae zu Porphyrios – eine „Denkweise der Erörterung [ratio disserendi], das heißt eine Unterscheidung der Argumente [discretio argumentorum], durch die etwas erörtert wird“3. Der im Hebräerbrief angeführte Begriff argumentum steht für Abaelard also in einem ganz bestimmten sprachlogischen Zusammenhang. Ein Argument ist nach der Bestimmung des Boethius „der Grund für die Glaubwürdigkeit einer zweifelhaften Sache“; anders gesagt: Ein Argument ist „etwas Gewisses, durch das etwas Zweifelhaftem Glaubwürdigkeit verliehen wird“4. Es ist die Aufgabe der Logik, durch die Beleuchtung verschiedener loci den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu prüfen,5 indem sie die Gründe ihrer Glaubwürdigkeit, nämlich die Argumente,6 kritisch befragt. Auffällig ist, dass es auch in diesem nicht-theologischen Zusammenhang eine innere Verbindung zwischen argumentum und fides gibt. Ein durch die menschliche Vernunft für zulässig befundenes Argument führt zum Glauben an den positiven Wahrheitsgehalt eines Satzes: Der prüfende Intellekt ist bei der Vorlage eines stichhaltigen Argumentes davon überzeugt, dass eine Aussage (zunächst im propositionalen Sinne) als wahr bezeichnet werden kann. Sie gilt in diesem Sinne als notwendig, weil die Wahrheit eines Arguments notwendigerweise zur apodiktischen Geltung der Proposition führt, der sie 2

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th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.): „Est quippe fides existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“. Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 506, 24-26): „Est autem logica Tulli auctoritate diligens ratio disserendi, idest discretio argumentorum, per quae disseritur, idest disputatur.“ Die Aussage bezieht sich nicht direkt auf ein Cicero-Zitat, sondern auf die Ausführungen des Boethius. Vgl. Boethius, In Topica Ciceronis I (PL 64, 1045A). Sup. Top. (Ed. Dal Pra 205, 8f.): „Est itaque argumentum ratio rei dubiae faciens fidem, hoc est aliquid certum per quod fit fides alicui dubio.“ Vgl. Boethius, In Topica Ciceronis I (PL 64, 1048B). Vgl. Dialect. 3,1 (Ed. De Rijk 253, 11-15). Zum Begriff des Arguments vgl. Jolivet, Arts du langage, 246. Bei Green-Pedersen, The Tradition of the Topics, 44 sowie bei Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 95-98 finden sich prägnante Ausführungen zur boethianischen Theorie des argumentum, die für Abaelard grundlegend ist.

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Glaubwürdigkeit verleiht.7 Eine andere Konnotation besitzt der Begriff existimatio. Auch er steht im Kontext der Dialektik, die hier jedoch nicht nur als Sprachlogik, sondern in einem weiteren Sinne als Kunst der Erörterung und der Diskussion verstanden wird. Jolivet zufolge stellt existimatio einen terminus technicus aus dem frühscholastischen Disputationsbetrieb dar. Er bezeichne „die geistige Haltung des Auditors (der einer der beiden Akteure der dialektischen Disputation ist) gegenüber den Propositionen, die man ihm unterbreitet“8. Mews hat daher die Glaubensdefinition Abaelards ausführlich in den Zusammenhang von Abaelards logischen Schriften eingeordnet.9 Eine existimatio ist demnach keine bloß diffuse Vermutung, sondern – präzise bestimmt – der intentionale Akt einer Wertung, die der Zuhörer in Bezug auf eine vorgebrachte These unternimmt. Er hält diese aufgrund der dargelegten Argumente, die ihr Kredibilität verleihen sollen, für haltbar oder unhaltbar und bildet auf dieser Grundlage ein Glaubensurteil.10 Die vorgebrachten argumenta begründen die existimatio, die eine gerechtfertigte fides in den Wahrheitsgehalt und die Notwendigkeit einer Aussage auf der einen, oder in die Falschheit und Unhaltbarkeit einer Proposition auf der anderen Seite konstituiert. Abaelard erläutert diesen Zusammenhang in De intellectibus: Sicheres Wissen beruhe auf einer Einsicht (intellectio), die mit Notwendigkeit wahr ist. Wo die Gewissheit über den Wahrheitswert einer Aussage fehlt, handele es sich nicht um eine Einsicht im strengen Sinne, sondern um eine existimatio: Sie sei kein beweisbares Wissen, sondern eine Glaubenshaltung.11 Aus dieser Verhältnisbestimmung wird ersichtlich, dass die Begriffe fides, argumentum und existimatio in ihrer dialektischen Verwendungsweise allesamt dem Bereich der Urteilsfindung entnommen sind, sich allerdings auf unterschiedlichen Ebenen bewegen: (1) Existimatio bezeichnet den intentionalen Akt (intentio), der sich auf den propositionalen Wahrheitsgehalt einer Aussage (intentum) bezieht. (2) Die inhaltliche Füllung dieser als existimatio bezeichneten mentalen Ausrichtung liegt in der fides quae creditur, dem Für-Wahr-Halten, begründet: Der prüfende Intellekt glaubt, dass eine Aussage wahr oder falsch ist. (3) Dieses Glaubensurteil wiederum hängt von den vorgebrachten argumenta ab, den in topischer Weise dargelegten Gründen, die einer Aussage Kredibilität verleihen sollen. 7 8

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Vgl. Dialect. 3,1 (Ed. De Rijk 273, 31-33). Jolivet, Sur quelques critiques, 25f.: „Le mot existimatio chez Abélard désigne l’attitude mentale de l’auditor (l’un des deux acteurs de la dispute dialectique) à l’égard des propositions qu’on soumet à son accord.“ Vgl. Mews, Faith as existimatio rerum non apparentium, 915-926. Vgl. Dialect. 3,1 (Ed. De Rijk 272, 3-5). Vgl. De Intell. 24 (Ed. Morin 42): „Sed [existimatio et intellectio] differunt quod existimare credere est, et existimatio idem quod credulitas siue fides.“

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Es lässt sich also folgendes Beziehungsgeflecht herstellen: Ein argumentum geht der fides voraus, indem es ihre inhaltliche Ausrichtung, den Glauben an die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage, konstituiert; das Argument besitzt also eine zeitliche und logische Priorität gegenüber dem Glauben. Eine existimatio hingegen ist temporal wie auch logisch dem Glauben nachgeordnet: Die existimatio setzt die fides als bereits gegeben voraus, weil eine existimatio den intentionalen Akt bezeichnet, dessen inhaltliche Ausrichtung das Ergebnis einer Glaubenshaltung ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Abaelard die im Hebräerbrief gegebene Definition abändert. Er wendet sein der Dialektik entstammendes Begriffsverständnis auf die Deutung der Schrift an. Ein argumentum rerum non apparentium (wie es im Hebräerbrief heißt) wäre demnach der Geltungsgrund der nicht sichtbaren Dinge, der dem Glauben vorausgeht. Dies ist jedoch keine aussagekräftige Definition, da sie nur die Voraussetzungen, nicht aber das Wesen – also die Gattung und die spezifische Differenz – des Glaubens klärt. Anders verhält es sich mit der Rede von der existimatio rerum non apparentium: Sie setzt einen bereits vorhandenen Glauben voraus und bezeichnet eine affirmierende Haltung (intentio) gegenüber den Dingen (intenta), die der sinnlichen Wahrnehmung zwar entzogen sind,12 aber dennoch als real-vorhanden und damit im ontologischen Sinne als wahr angesehen werden. Anders gesagt: Der Glaube ist die innere Haltung des Menschen, die einem nicht evidenten Sachverhalt einen positiven Wahrheitswert zuordnet, der sich sowohl auf den propositionalen Aspekt (ein Für-Wahr-Halten von Aussagen) als auch auf die ontologische Ebene (ein Vorhandensein von Dingen13) bezieht. Die Ausführungen der Theologia Scholarium zeigen, dass Abaelard unter fides nicht nur, so der Vorwurf Bernhards von Clairvaux, eine unsichere, beliebig wandelbare Meinung versteht.14 Abaelard selbst hat jedoch zu dieser Fehldeutung beigetragen, indem er in seiner Schrift De intellectibus die Begriffe existimatio und opinio als Synonyme einführt.15 Eine solche Bestimmung findet sich in der Theologia Scholarium nicht.

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Vgl. Brown, The Theological Virtue of Faith, 222: „Faith as Abelard meant it only excludes experimental knowledge based on the compelling presence of the thing known; it does not exclude certitude.“ Vgl. De Rijk, Peter Abelard’s Semantics and His Doctrine of Being, 123f. sowie Lewis, Determinate Truth in Abelard, 87f. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 4,9 (Ed. Leclerq/Rochais 25, 11-13): „’Scio cui credidi, et certus sum’ (2 Tim 1,12), clamat Apostolus, et tu mihi subsibilas: Fides est aestimatio? Tu mihi ambiguum garris, quo nihil est certius.“ Vgl. De Intell. 24 (Ed. Morin 42): „Inde autem maxime existimatio idem quod intellectus uidetur esse, quod nonnumquam intelligere pro existimare dicimus, et opinionis nomen, quod idem est quod existimatio, ad intellectum quandoque transfertur.“

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Durch den Ersatz von argumentum durch existimatio gelingt Abaelard innerhalb seines eigenen begrifflichen Rahmens – dem frühscholastisch-disputativen Lehrkontext16 – eine konsistente Bestimmung der fides. Er geht dabei nicht von der Sprache der Schrift als Maßstab seiner eigenen Diktion aus, sondern erhebt umgekehrt seine dialektischen, und damit nicht der Bibel entnommenen Terme zum Maßstab für eine sinngerechte Interpretation des Hebräerbriefs. Er korrigiert den Sprachgebrauch der Schrift, sofern dieser nicht seinem eigenen entspricht. Auch wenn die Behauptung einer Dichotomie zwischen monastischer und scholastischer Theologie, die vor allem von Leclerq in die Diskussion eingebracht wurde,17 zu stark schematisiert, wirft sie dennoch ein interessantes Licht auf Abaelards Deutung des Glaubensbegriffs: Während Abaelard seine den Disziplinen des Trivium entnommenen Terme an die Schrift heranträgt, also grob gesagt scholastisch vorgeht, gewinnen die eher monastisch orientierten Theologen ihre Sprachkunst nicht durch eine säkulare Rhetorik, sondern durch eine meditative Aneignung (ruminatio) der biblischen Texte. Bernhard von Clairvaux – selbst rhetorisch begabt – äußert sich sehr zurückhaltend über den theologischen Wert der „Rhetoren- und Philosophenschulen“: Der Weg zum Leben werde „nicht durch die Vorzüglichkeit einer Rede“ oder „Worte menschlicher Weisheit“ gefunden, sondern durch „die Torheit der Verkündigung“18. Eine solche Haltung macht sich Abaelard nicht zueigen. Er versucht, den Ausführungen des Hebräerbriefs einen systematisch-theologischen Sinn abzugewinnen, den er in seine eigene Terminologie hinein übersetzt. Dies kann – um einen Vorschlag Sweeneys aufzugreifen – als disputativer Schriftzugang bezeichnet werden, dessen Ausgangspunkt nicht die kontemplierende lectio, sondern die befragende disputatio ist, die „die eigene narrative Ordnung der Schrift unterbricht“. Der disputatio geht es – so Sweeney – um „Argumente, Positionen und Schlussfolgerungen“19, da sie sich der Schrift mit einem bereits 16 17

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Vgl. den Überblick bei Jacobi, Der disputative Charakter, 31-42. Vgl. Leclerq, L’amour des lettres, 105f. Dort wird zwischen einer „théologie scholastique“ und einer „théologie monastique“ differenziert. Vgl. auch Chenu, La théologie au douzième siècle, 343-350 und Steinen, Monastik und Scholastik, 243-256 sowie grundlegend Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, 341f. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Sermo 36 1,1 (Ed. Leclerq/Talbot/Rochais 4, 4-13): „Petrus, et Andreas, et filii Zebedaei, ceterique discipuli omnes, non de schola rhetorum aut philosophorum assumpti sunt; et nihilominus tamen Salvator per ipsos operatus est salutem in medio terrae. Non in sapientia, quae in ipsis esset plus quam in cunctis viventibus, quemadmodum Sanctus aliquis de semetipso confessus est, sed in fide et lenitate ipsorum salvos fecit illos, etiam et sanctos, etiam et magistros. Denique notas mundo fecerunt vias vitae, et non sublimitate sermonis, aut in doctis humanae sapientiae verbis, sed sicut placuit Deo per stultitiam praedicationis eorum salvos facere credentes, quia mundus eum in sua sapientia non cognovit.“ Vgl. Sweeney, Rewriting the Narrative of Scripture, 3. Sweeney unterscheidet „between the study of Scripture conceived as lectio as opposed to disputatio. […] The latter, however,

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vorgefertigten systematischen Frageinteresse nähert und sich ihre Problemstellungen nicht erst aus der Lektüre der Bibel aufgeben lässt. Diese Tendenz zeigt sich auch anhand einer auf den ersten Blick unbedeutsamen terminologischen Verschiebung, die zwischen der Theologia Christiana und der Theologia Scholarium stattgefunden hat: Während die Theologia Christiana noch davon ausgeht, dass die dichterischen Erfindungen (poetica figmenta) der paganen antiken Autoren den Geist von der meditatio der heiligen Schrift ablenken, formuliert die Theologia Scholarium, dass die heidnische Poesie dem studium der Bibel schade.20 Auf die damit verbundene Bewertung der vorchristlichen Literatur ist hier nicht einzugehen; entscheidend für die vorliegende Problemstellung ist, dass sich die Rede von einer geistlichen Betrachtung der Schrift (meditatio) zu einer vernunftgemäßen Durchdringung derselben (studium) gewandelt hat. Das Herantragen präziser Begrifflichkeiten und systematischer Fragestellungen an die Bibel ist Teil von Abaelards rationalem Bemühen, das sich vor allem sprachtheoretisch manifestiert und – in Abwandlung eines von Lohr eingeführten Begriffs – als kritische Bedeutungsanalyse beschrieben werden kann.21 Diese in der Theologia anzutreffende Tendenz darf jedoch nicht für das Gesamtwerk Abaelards verabsolutiert werden. Die Predigten und Hymnen setzten einen anderen Schwerpunkt: Sermo 14 etwa legt großen Wert auf ein geistlich

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stops Scripture’s own narrative order to ask questions from another order, e.g., about consistency with other parts of the ‘story’ or with other interpretations and conclusions. It issues not in interpretations paralleling and retelling the stories of Scripture, but in arguments, positions, and conclusions. The goal of the lectio is a synthetic grasp of the text that is almost affective and experiential, while disputatio is analytic and critical and aimed at understanding.“ Ein monastischeres Bild Abaelards zeichnet Kramer, ‘We speak to God with our Thoughts’, 23-28. Vgl. Th. Chr. 2,120 (Ed. Buytaert 187, 1832-1837): „poetica figmenta […] e sacrae lectionis meditatione nos abducunt.“ Th. Sch. 2,22 (Ed. Buytaert/Mews 417, 319-324): „poetica figmenta […] a sacre pagine studio nos abducunt.“ Die Tatsache, dass die zitierte Wendung „a sacre pagine“ eine Korrektur der letzten Hand ist, die lectio durch pagina ersetzt hat (vgl. Perkams, Theologia Scholarium, 260, Anm. 243), ändert nichts an der diagnostizierten begrifflichen Verschiebung: Aus der meditatio ist ein studium geworden. Eine Grundthese Lohrs besagt, dass es sich bei dem „Denken Abälards […] weder um eine Metaphysik, wie etwa die Anselms von Canterbury, noch um eine Naturphilosophie, wie etwa die der Schule von Chartres [handle], sondern um eine Methode der Bedeutungsanalyse auf der Grundlage ihres linguistischen Ausdrucks“ (Lohr, Peter Abälard und die scholastische Exegese, 107). Dem ersten Teil des Satzes ist nicht zuzustimmen; Abaelard verfügt sehr wohl – wie noch zu zeigen sein wird – über eine sprachtheoretisch fundierte Metaphysik. Der zweite Teil von Lohrs These ist hingegen zutreffend: Exegese ist für Abaelard vor allem eine „Bedeutungsanalyse“. Durch die hier vorgeschlagene Hinzufügung der Qualifikation „kritisch“ wird deutlich, dass Abaelard seine terminologischen Untersuchungen nicht bloß rezeptiv-konstatierend durchführt, sondern auch bereit ist, bestimmte Begriffe (wie den des argumentum) zu ersetzen, sofern sie nicht den von ihm vorausgesetzten, der Dialektik entnommenen Definitionen entsprechen.

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fundiertes, in der monastischen ruminatio begründetes Verstehen der Schrift, die dem betenden Menschen geistliche Speise ist.22 Zurück zur Theologia: Bisher wurde die von Abaelard gegebene Definition des Glaubens in ihrem Verhältnis zu derjenigen des Hebräerbriefes betrachtet und auf ihre methodischen Implikationen hin befragt. Es wurde deutlich, dass Abaelard vor dem Hintergrund seines eigenen Sprachgebrauchs die neutestamentliche Rede von einem argumentum rerum non apparentium als missverständlich empfand und deshalb den Glauben (Explanandum) als eine existimatio (Explanans) bestimmte. Es bleibt folgendes Problem zu klären: Fides ist ein heterogener Begriff, der der weiteren Differenzierung bedarf. Hierzu grenzt Abaelard das heilsnotwendig zu Glaubende von einer alltagssprachlichen Verwendung ab, die vor allem mit dem Verb credere (weniger mit dem Substantiv fides) verbunden ist. In einem nicht spezifisch theologischen Kontext ist ‚glauben’ ein Synonym zu ‚vermuten’. Es handelt sich präzise gesprochen um eine Einschätzung bezüglich eines nicht eindeutig klärbaren Sachverhaltes oder um eine Prognose über das Eintreten eines zukünftigen Ereignisses. Diese Vermutungen können sich zwar auf Gott und sein Handeln beziehen, sie stellen jedoch keine heilsrelevante fides dar. „Bei diesen Dingen liegt nichts daran, ob sie geglaubt oder nicht geglaubt werden, weil wir keine Gefahr laufen, ob sie nun geglaubt werden oder nicht“23. Als Beispiel führt Abaelard die Frage an, ob Gott es morgen regnen lassen wird oder nicht. Die Einschätzung eines Menschen über diesen Sachverhalt bezieht sich zwar auf eine Handlung Gottes, ist jedoch nicht mit einer grundsätzlicheren, ebenfalls als credere bezeichneten Haltung gegenüber der Existenz und den Wesenseigenschaften Gottes zu verwechseln. Die fides, um die es Abaelard bei seiner zitierten Definition aus den Recensiones breviores zur Theologia Scholarium geht, ist also keine beliebige existimatio, sondern eine Positionierung des Menschen, die sich auf ‚nicht erscheinende Dinge’ richtet; sie hat solche Sachverhalte zum Gegenstand, die der sinnlichen Wahrnehmung grundsätzlich und nicht nur zeitweise unzugänglich sind. Es geht nicht um irgendeine Vermutung, sondern um die ganz bestimmte fides catholica, „die für alle derart notwendig ist, dass kein der Unterscheidung Fähiger ohne sie gerettet werden kann.“24 Selbst dieses spezifische, sich jenseits alltäglicher Vermutungen bewegende Verständnis des Glaubens ist in sich vielschichtig und verlangt nach 22 23

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Vgl. Sermo 14 (PL 178, 494 Af.) th. sch. 22 (Ed. Buytaert 410, 265-268), Th. Sch. 1,15 (Ed. Buytaert/Mews 325, 188-192): „Sunt autem plura etiam ad Deum pertinentia, quae credi uel non credi nostra nihil interest, quia siue credantur siue non credantur nullum incurrimus periculum; ueluti si credamus Deum cras pluuiam facturum uel non“. th. sch. 23 (Ed. Buytaert 410, 273-275), Th. Sch. 1,16 (Ed. Buytaert/Mews 325, 198f.): „Catholica quippe est fides, id est uniuersalis, quae ita omnibus necessaria est ut nemo discretus absque ea saluari possit.”

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weiteren Präzisierungen. Eine gängige, spätestens seit Augustinus wirkmächtige Unterscheidung ist diejenige zwischen credere Deum, credere Deo und credere in Deum.25 Abaelard greift sie in seinem Kommentar zum Römerbrief und seiner Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses auf. Während credere Deum die bloße Vermutung der Existenz Gottes bezeichnet, heißt credere Deo anzunehmen, dass „seine Verheißungen und Worte wahr sind“.26 Credere Deum ist auf der ontologischen Ebene angesiedelt (ein bestimmtes Wesen existiert; es ist wirklich), credere Deo hingegen auf der propositionalen (Aussagen, die von diesem Wesen getroffen werden, sind wahr; sie sind wirklich). Das christliche Bekenntnis erschöpft sich jedoch nicht in metaphysischen oder sprachtheoretischen Annahmen. Es schließt vielmehr eine innere Hinwendung zu Gott mit ein. Abaelard formuliert in enger Anlehnung an Augustinus: „Wahrhaft an Gott zu glauben heißt, ihn im Glauben zu lieben und so zu seinem Glied zu werden“27. Worin liegt der terminologische Ertrag dieser Unterscheidung? Durch sie tritt sowohl das Einheits- als auch das Differenzmoment, welches der Begriff fides in sich birgt, zu Tage. Glaube ist – allgemein formuliert – ein Modus der Wirklichkeitsdeutung. Credere findet auf drei Ebenen statt, nämlich (1) einer ontologischen (Deum), (2) einer propositionalen (Deo) und (3) einer existentiellen (in Deum). Die drei Stufen bauen aufeinander auf. Wer einen Satz über Gott für wahr hält (2), geht davon aus, dass Gott auch existiert (1). Wer Gott liebt (3), der setzt auch seine Existenz (1) und die Wahrheit seines Wortes (2) voraus. Nun gilt es zu klären: Welchen der drei genannten Aspekte hat Abaelard bei seiner Abwandlung der Definition des Glaubensbegriffs aus dem Hebräerbrief im Blick? Im Folgenden wird die These vertreten, dass sich die Bestimmung des Glaubens als „existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“28 auf den satzhaften, propositionalen Aspekt des Glaubens, nicht jedoch auf den existentiellen, bezieht. Dies wird anhand der Verhältnisbestimmung, die Abaelard zwischen den drei göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung, Liebe – vornimmt, deutlich. Die fides ist, wie Abaelard in Anlehnung an eine pseudo-augustinische Auslegung des Glaubensbekenntnisses formuliert, einerseits „von Natur aus früher als die anderen“ und „gleichsam die Grundlage

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Vgl. Mohrmann, Credere in Deum, 195-203. Exp. Rom. 2 (Ed. Buytaert 123, 46-48): „Aliud est enim credere Deum, ut uidelicet ipse sit; aliud est Deo, id est promissis uel uerbis eius quod uera sint; aliud in Deum.“ Exp. Symb. Apost. (PL 178, 621 C): „Credere vero in Deum, est credendo eum diligere, et sic ejus membrum fieri vel esse.“ Vgl. Augustinus, Tractatus in Evangelium Iohannis 29,6 (Ed. Willems 287, 9-50). th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.).

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aller Güter“29, sie ist aber andererseits von begrenzter Dauer, weil „nur die Liebe niemals aufhört“ (1 Kor 13,8). Den ersten Teil der Aussage (Glaube als Fundament von Hoffnung und Liebe) leitet Abaelard aus der Definition des Hebräerbriefes ab, wo der Glaube als „substantia sperandarum rerum“ (Hebr 11,1) gefasst wird. Die fides ist der Urgrund von Hoffnung und Liebe, weil der Glaube Auskunft darüber gibt, was erhofft und wer geliebt werden soll. Er ist also „der Ursprung, von dem aus wir dazu geführt werden, etwas zu erhoffen“30. In dieser Gegenüberstellung wird der existentielle Akt der im Glauben begründeten Hoffnung und Liebe (credere in Deum) von inhaltlichen Aussagen (credere Deo) klar unterschieden: Die Glaubenssätze sind der Glaubenshaltung zeitlich vorgeordnet, weil sie dem lebendigen Vollzug erst seine inhaltliche Ausrichtung verleihen, indem sie ihn über das Wort und die Verheißung Gottes unterrichten.31 Die von Abaelard angenommene zeitliche Priorität der fides gegenüber caritas und spes lässt sich also nur konsistent denken, wenn der Glaube im propositionalen Sinne interpretiert wird; er bezeichnet das Hören auf und das Verstehen von Gottes Wort. Daraus erwächst ein temporär nachgeordneter Akt der gläubigen Hingabe, der sich in Hoffnung und Liebe manifestiert. Diese Deutung wird durch einen Blick auf das andere Ende der zeitlichen Ausdehnung des Glaubens, seine Vollendung, gestützt. Die fides als eine existimatio ist von begrenzter Dauer, weil sie sich auf Aspekte richtet, die „noch nicht [nondum] erscheinen“32. Der Glaube ist – in der eigentlichen Bedeutung des Wortes (proprie) – ein irdischer Modus der Beziehung zu Gott, der sich auf eine nicht körperliche Wirklichkeit bezieht; diese kann – aufgrund der leiblichen Verfasstheit des Menschen und seiner an diese Gegebenheit gebundenen Kognitionsfähigkeit – nur in defizienter, vorläufiger Weise erfasst werden. Abaelard weist darauf hin, dass es auch möglich ist, fides im uneigentlichen Sinne (improprie33) zu verwenden, indem der Begriff auf sichtbare Dinge angewendet wird. Wenn 29

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th. sch. 18 (Ed. Buytaert 406, 156f.), Th. Sch. 1,11 (Ed. Buytaert/Mews 322, 99f.): „Ac primum de fide, quae naturaliter ceteris prior est tamquam ‚bonorum omnium fundamentum’.“ Vgl. (Psdeudo)-Augustinus, De Symbolo, Exordium (PL 40, 1189). th. sch. 18 (Ed. Buytaert 406, 161-164), Th. Sch. 1,11 (Ed. Buytaert/Mews 322, 104-107): „Fides […] est fundamentum et origo unde ad speranda aliqua perducimur“. Vgl. Blackwell, Non-Ontological Constructs, 238. th. sch. 18 (Ed. Buytaert 406f., 167-169), Th. Sch. 1,11 (Ed. Buytaert/Mews 322, 109-112): „Quia enim fidem nemo esse dubitat, oportet ex hoc ut aliqua non apparentia esse concedat, cum fides, ut dictum est, proprie non dicatur nisi de his quae nondum apparent.“ Zum Begriff der improprietas vgl. Dialect. 5,2 (Ed. De Rijk 586, 19-21): „Ideoque figurative atque impoprie tota simul diffinitio accipitur, cum non constituitur sensus eius secundum partium singularum significationem.” Vgl. auch Dialect. 1,3 (Ed. De Rijk 136, 25f.). Rosier-Catach, La notion de translatio, 128, exliziert improrietas folgendermaßen: „En d’autres termes, est impropre ou figuré toute infraction au principe de compositionalité, infraction qui concerne l’interprétation, donc l’auditeur et la manière dont il se forme une intellection en entendant une phrase.”

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„Glauben nicht nur von Verborgenem, sondern sogar von Offenbarem ausgesagt wird“34, hat eine Bedeutungsverschiebung, ein Eingriff in die ursprüngliche significatio des Terms stattgefunden,35 so dass dieser nicht mehr der spezifisch erkenntnistheologischen Verwendungsweise entspricht. Die fides, die Gott zu ihrem Gegenstand hat, bezieht sich notwendigerweise auf non-apparentia, auf ‚noch nicht’ Erscheinendes. Das nondum deutet darauf hin, dass das bruchstückhafte Erfassen, das kennzeichnend für den irdischen Menschen ist, durch eine Evidenz abgelöst wird. Abaelard bezeichnet diese aus der Schau Gottes erwachsende, neue Einsichtigkeit dessen, was zuvor nur geglaubt wurde, in Anlehnung an Gregor den Großen nicht mehr als fides, sondern als agnitio, nicht mehr als credere, sondern als videre oder cognoscere.36 Diese Ausführungen sind nur dann sinnvoll zu deuten, wenn sie sich auf das credere Deo beziehen. Der Glaube ist eine temporäre epistemische Stufe der menschlichen Gottesbeziehung, die nach diesem Leben in eine neue Qualität überführt wird: „Wir glauben [credimus], damit wir erkennen [cognoscamus], wir erkennen nicht, damit wir glauben.“37 Der hier beschriebene Glaube bezieht sich in seinem verbalisierten Modus auf das credere Deo, also eine begrifflich gefasste, im epistemischen Status der existimatio sich manifestierende fides. Das Geschehen des credere in Deum ist dabei eindeutig nicht im Blick, weil der wirksame, prozesshaft sich vollziehende Akt des Glaubens aufs engste mit der Liebe verbunden ist. Das credere in Deum, das keinen epistemischen Status, sondern ein Geschehen bezeichnet, wird also, genau wie die Liebe, „in dieser Zeit wie auch in der Zukunft fortbestehen“38 – anders als das credere Deo, das in eine höhere Stufe der Gottes-

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th. sch. 21 (Ed. Buytaert 410, 262-264), Th. Sch. 1,14 (Ed. Buytaert/Mews 325, 186-188): „His itaque testimoniis patet fidei nomen modo proprie, modo improprie poni, cum uidelicet non solum de occultis, uerum etiam de manifestis fides dicatur.“ Eine prägnante Erläuterung des Begriffs significatio findet sich bei Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 181-184. Spade, Rez. Tweedale, 480, definiert: „’To signify x (to a person)’ is thus ‚to establish an understanding of x (in that person)’, which is to say that ‚to cause a mental act of understanding x to arise (in that person)’“. In th. sch. 19 FH und T (Ed. Buytaert 407, 187-189) sowie Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 322, 125f.) zitiert Abaelard die Wendung Gregors: „Quae enim apparentia sunt, fidem non habent sed agnitionem.“ Vgl. Gregor der Große, Homiliae in Evangelia 26,8 (Ed. Étaix 224f.). In th. sch. 19 T (Ed. Buytaert 408, 195f.) sowie Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 323, 132) heißt es: „Nam credi iam non potest quod uideri potest.” Vgl. Gregor der Große, Dialogi 4,5 (Ed. De Vogüé/Antin 36). Das sich in th. sch. 19 (Ed. Buytaert 409, 227f.), Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 323, 150f.) findende Zitat „Credimus ut cognoscamus, non cognoscamus ut credamus“ geht auf Augustinus, Tractatus in Evangelium Iohannis 40,9 (Ed. Willems 355, 5f.) zurück. th. sch. 18 (Ed. Buytaert 407, 169-172), Th. Sch. 1,11 (Ed. Buytaert/Mews 322, 112-115): „Vnde iuxta Apostolum, cum nunc tria manere dicantur, fides scilicet, spes, caritas, sola caritas numquam excidit, tam in hoc saeculo quam in futuro perseueratura.“

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erkenntnis überführt werden wird, weil die Dinge, die für den irdischen Menschen noch non-apparentia sind, für den himmlischen zu apparentia werden. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Die im Hebräerbrief zu findende Bestimmung des Glaubens als ein argumentum über nicht erscheinende, also den menschlichen Sinnen nicht zugängliche Sachverhalte, ist für Abaelard – vor dem Hintergrund seiner dialektischen Begriffsbestimmungen, mit denen er sich der Bibel nähert – zu missverständlich für eine adäquate Definition des credere Deo, das die Einschätzung des leiblich verfassten und damit nur begrenzt erkenntnisfähigen Menschen gegenüber Aussagen, die sich auf Gott beziehen, bezeichnet. Aus diesem Grund führt Abaelard den Begriff der existimatio zur Bestimmung des Glaubens ein. Dieser dient – vor dem Hintergrund des scholastischen Lehrbetriebs – als eine Veranschaulichung, die das Wesen des propositionalen Glaubensbegriffs treffend zum Ausdruck bringen soll. Das dem zugrunde liegende Vorgehen könnte im Sinne einer analogia proportionalis gedeutet werden (auch wenn Abaelard den Begriff nicht verwendet): So, wie a sich zu b verhält, verhält c sich zu d. Gössmann erfasst dies prägnant: „Was in der dialektischen disputatio die existimatio ist, das ist in dem komplexen Vorgang der Gotteserkenntnis die fides.“39 Abaelards Verknüpfung von fides (als Explanans) und existimatio (als Explanandum) zielt auf die gemeinsame Struktur zweier mentaler Akte. Während innerhalb einer Disputation der Hörer eine Haltung gegenüber dem Wahrheitswert einer vorgetragenen These einnimmt, indem er diese als haltbar oder unhaltbar einschätzt (existimatio), ist der Gläubige am Vorgang der Gotteserkenntnis durch den Glauben beteiligt, indem er bestimmte Sätze über das Wesen Gottes für wahr erachtet (sie also glaubt) oder als falsch ansieht (sie nicht glaubt). Existimatio und fides sind demnach zwei intentionale Akte, die sich durch ihr intentum unterscheiden, also durch das Objekt, auf welches sie sich ausrichten, die aber dennoch eine gemeinsame Struktur aufweisen, was den Vorgang der Ausrichtung selbst betrifft. Der Begriff existimatio dient somit als Veranschaulichung für das, was credere Deo bezeichnet. Das eine Mal geht es um eine Entscheidung über die Annahme einer These, das andere Mal um die Entscheidung über die Aneignung eines Glaubenssatzes. Durch die Betonung des propositionalen Aspekts der fides tritt ein epistemologisches Leitmotiv zum Vorschein: Abaelard ist sich der sprachlichen Bedingtheit des Glaubens bewusst.40 Das Verstehen des Glaubens, die intelligentia fidei, besteht für ihn deshalb in einer sprachlogischen Analyse der Glaubensaussagen, der propositiones fidei. Die Gotteslehre beschäftigt sich also – um diesen Gedanken vorweg zu nehmen – mit der Bedeutung von Termen und deren Gültigkeit.

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Gössmann, Zur Auseinandersetzung, 236. Vgl. Wieland, Abaelard – Denker des Glaubens, 29-31.

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1.2. Methodische Implikationen und Konsequenzen von Abaelards Glaubensbegriff Im Anschluss an die Untersuchungen, die sowohl den Begriff der existimatio (Explanans) als auch den der fides (Explanandum) zum Gegenstand hatten, werden nun drei Thesen aufgestellt, die die Tragweite des Ansatzes Abaelards veranschaulichen sollen: (1) Mit der Bestimmung des Glaubens als existimatio rerum non apparentium ist in epistemologischer Hinsicht eine Art transzendentale Wende verbunden, weil Abaelard versucht, das Wesen des Glaubens nicht mehr durch eine Reflexion auf die fides als in sich stehendem Objekt zu erfassen, sondern den intentionalen Akt des gläubigen Subjekts betrachtet. Die Abaelard vorliegende Wendung des Hebräerbriefs verwendet den Substanzbegriff, um die fides zu deuten und fasst diese als „substantia sperandarum rerum“. Dieser objektbezogenen Beschreibung wird erst nachträglich die damit verbundene subjektive Haltung, das „argumentum (rerum) non apparentium“ (Hebr 11,1), zur Seite gestellt. Abaelard hingegen verzichtet darauf, den Glauben als eine Substanz im Sinne einer in sich stehenden, vom wahrnehmenden Subjekt41 getrennten Wirklichkeit zu fassen und begnügt sich ausschließlich mit einer Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen, unter denen die fides als Haltung gegenüber einer Proposition im menschlichen Geist konstituiert wird: Er betrachtet – anachronistisch formuliert – nicht den Glauben „an sich“, sondern den Glauben „für uns“, indem er den vom Einzelnen vollzogenen intentionalen Akt (existimatio) benennt, der dem Glauben zugrunde liegt. Das Neue und Anstößige dieses Ansatzes besteht nicht darin, dass er auch auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des menschlichen Geistes reflektiert, sondern dass er dies ausschließlich tut: Abaelard geht davon aus, dass er durch eine Untersuchung der epistemischen Grundstrukturen des Subjekts hinreichend definieren kann, was das Wesen des Glaubens ausmacht: „Est […] fides existimatio“42! Innerhalb der Philosophiegeschichte drängt sich eine Parallele zu Kant auf, der in der „Vorrede“ zur zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ein ähnliches Programm entwirft. Die als kopernikanische Revolution bekannte These, „daß wir in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem [sic] Erkenntniß richten“43, lässt sich in der von Kant vorgetragenen Radikalität sicherlich nicht auf Abaelard übertragen. Dennoch ähnelt sein Vor41

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Der hier verwendete Subjektbegriff wird im spezifisch erkenntnistheoretischen Sinne eingeführt und ist nicht mit der modernen Konnotation von Subjektivität (im Sinne von Eigensinnigkeit oder Nonkonformität) zu verwechseln, die Abaelard etwa von Verbeke zugeschrieben wird. Vgl. Verbeke, Introductory Conference, 1-11. th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5). Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI (AA III 12).

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gehen bei der Ausformulierung der Glaubensdefinition demjenigen von Kants transzendentaler Ästhetik: Der zu erkennende Gegenstand wird nicht im Sinne einer objektsprachlichen Fassung seiner Washeit beschrieben, sondern durch eine Analyse der Erkenntnisbedingungen des auf diesen Gegenstand hin ausgerichteten Subjekts.44 Ein ähnliches Muster kennzeichnet auch die Argumentation Abaelards, der die fides nicht als ein in sich ruhendes Gegebenes (eine Substanz) deutet, sondern die transzendentale Rückfrage nach der Bedingung der Möglichkeit des Glaubens im menschlichen Geist stellt. Dadurch gelangt er zur Bestimmung: Einen Satz zu glauben heißt, eine positive existimatio vorzunehmen. Was das Wesen des Glaubens ausmacht erscheint also nicht ‚an sich’, sondern wird – in der Sprache Kants – nur durch einen Blick auf das transzendentale Subjekt ersichtlich, so dass einer Definition der fides „nichts beygelegt werden kann, als was das denkende Subject aus sich selbst hernimmt“45. Die Behauptung Pachecos, derzufolge Abaelard eine Definition des Glaubens „d’un point de vue psychologique“46 vorlege, ist hingegen zu ungenau. Abaelard betreibt im vorliegenden Zusammenhang keine philosophische Psychologie im strengen Sinne, da es ihm lediglich um die Glaubensbedingungen des Menschen als Definitionsmerkmal für den Glauben geht. Er legt also – um es mit einem Kantischen Interpretationsbegriff zu charakterisieren – eine ‚transzendentale’ Bestimmung der fides, nicht aber eine präzisere Analyse der menschlichen Seele vor. Die Behauptung Wielands, dass in „dem Maße, in dem die subjektive Bedingtheit des Glaubens sichtbar wird, […] die Anforderungen an das methodische Instrumentarium und die rationale Qualität der Argumentation“47 wachsen, lässt sich also anhand von Abaelards Glaubensdefinition verifizieren. Der Umstand, dass Abaelards theologische Reflexion beim glaubenden Subjekt und dessen intelligentia ansetzt,48 zieht auf der methodischen Ebene nach sich, dass der Glaubensbegriff nicht mehr getrennt von seinem subjektiven Vollzug betrachtet werden kann, sondern nur von dem mentalen Akt her, den der Mensch im Glauben vollbringt, zu definieren ist: „Est […] fides existimatio“49. Die skizzierte Parallele zu Kant soll nur mit der methodisch gebotenen Vorsicht formuliert werden. Die Person Abaelards veranlasst – aufgrund der Strittigkeit ihrer Lehre und der Unkonventionalität ihrer Biographie – einige Interpreten 44

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Aus der großen Anzahl der Studien zu Kant seien lediglich zwei Werke benannt, die sowohl den Text der „Kritik der reinen Vernunft“ interpretieren als auch auf Kontroversen und Entwicklungen in der Sekundärliteratur verweisen: Vgl. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 91-103. Natterer, Systematischer Kommentar, 30-36. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXIII (AA III 15). Pacheco, Aux sources d’une théologie comme science, 472. Wieland, Abaelard – Denker des Glaubens, 29. Vgl. Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f. th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5).

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zu einem zuspitzenden, aber ahistorischen Urteil, wie es etwa Chenu fällt, wenn er Abaelard als „premier homme moderne“50 bezeichnet. Das Aufzeigen eines Abaelard und Kant gemeinsamen transzendentalen Vorgehens zielt weder darauf ab, Kants Ansatz bereits vollständig in Abaelards Werk vorgezeichnet zu sehen, noch geht es darum, eine direkte geistige Abhängigkeit des Königsberger Philosophen von Abaelards Werk zu behaupten. Beides wäre abwegig. Es kann hier lediglich um die Feststellung eines gemeinsamen Vorgehens – was den „Tractat von der Methode“51 betrifft – gehen. Ähnliche Versuche hat auch Perkams, allerdings über den Zusammenhang von Ethik und Gottesglauben, unternommen und dabei einen hohen „Grad von Übereinstimmung zwischen Kant und Abaelard“52 festgestellt. Die mit Blick auf die Glaubensdefinition gezogene Parallele zu Kant dient der Veranschaulichung, nicht dem Ziehen allzu direkter, ungeschichtlicher Verbindungslinien. Bei dem Verweis auf Kant geht es um das strukturelle Muster der Argumentation, nicht um die genetische Übernahme von Argumenten. (2) Die existimatio benennt eine epistemische Grundgegebenheit jedes Glaubenssatzes: Er unterscheidet sich von sicherem Wissen dadurch, dass er strittig ist, weil er sich nicht positiv beweisen lässt und – gerade deshalb – der beständigen rationalen Vergewisserung bedarf. Zur Erläuterung dieser These kann ein extrinsisches und ein intrinsisches Vorgehen gewählt werden. Eine extrinsische Betrachtungsweise nähert sich dem Werk Abaelards von Außen, indem sie ihn als Gestalt des zwölften Jahrhunderts ausweist und in die „Ideengeschichte“53 seiner Zeit einordnet. Einer intrinsischen Analyse hingegen geht es um die Interpretation der Werke Abaelards; sie untersucht die Bedeutung seiner Definition des Glaubens textimmanent. Zunächst zum extrinsischen Aspekt: Ernst übernimmt das von Wieland zur Erklärung der „geistigen Physiognomie des 12. Jahrhunderts“ vorgeschlagene Paradigma der „Rationalisierung und Verinnerlichung“54. Abaelard sehe sich – so Ernst – dazu veranlasst, den Glauben innerhalb eines „rationalen und säkularen Wirklichkeitsverständnisses“55 als nicht unvernünftig auszuweisen. Da er nicht positiv mit vernünftigen Mitteln bewiesen werden könne, bliebe ihm nur der epistemische Status der existimatio. Der Glaube sei „ein offener Prozess, […] in dem die Wahrheit dadurch stets neu zu bewähren und vor der Vernunft zu verantworten ist, daß Widerlegungsversuche abgewehrt werden“56. Abaelard sieht sich als Ver50 51 52 53 54 55 56

Chenu, La parole de Dieu, 141. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXII (AA III 15). Perkams, Autonomie und Gottesglaube, 147. Zur Anwendung des Begriffs der „intellectual history“ auf das zwölfte Jahrhundert vgl. Bezner, Vela Veritatis, 23-33. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung, 61. Ernst, Petrus Abaelardus, 15. Ernst, Subjektivität und Rationalität, 145. Hervorhebungen im Original.

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treter seiner Epoche einer Ausprägung der Rationalität gegenübergestellt, die sich zunehmend von bisher nicht in Frage gestellten theologischen Vorgaben emanzipiert. Dies zeigt sich etwa innerhalb der Trinitätslehre, die im zwölften Jahrhundert einen spekulativen Aufschwung erlebt. Poirel spricht von einem „renouveau trinitaire“57, der unter den Vorgaben eines vor allem an der formalen Logik orientierten Vernunftbegriffs steht.58 Das Trinitätsdogma wird also auf seine Kompatibilität mit den Regeln der Dialektik befragt und gegebenenfalls auch bezweifelt, wodurch neue Häresien, wie Abaelard sie Roscelin von Compiègne vorwirft, entstehen.59 Es wäre zu stark vereinfacht, Roscelin als Tritheisten zu bezeichnen. Er sieht jedoch eine logisch notwendige Verbindung zwischen trinitas und pluralitas: Drei Personen seien viele, auch wenn sie eine Substanz bilden. Für Abaelard besonders anstößig ist Roscelins Ausdruck, dass die drei gleichewigen Personen sich wie „mehrere ewige Dinge“60 (plures res aeternae) zueinander verhielten. Nun zur intrinsischen Betrachtung: Um den Einwänden auf derselben Ebene zu begegnen, auf der sie vorgebracht werden, oder – polemisch gesagt – „den Dummen gemäß ihrer Dummheit zu antworten und ihre Angriffe durch ihre eigenen Künste, mit denen sie uns angreifen, zu erschüttern“61, versucht Abaelard aufzuzeigen, dass der Glaube an den dreifaltigen Gott, die Einheit seines Wesens und die Dreiheit der Personen, zumindest nicht unvernünftig ist. Dieses Unterfangen soll hier mit dem Arbeitsbegriff der ‚defensiven Rationalität’ charakterisiert werden. Darunter ist eine vernunftgemäße, den Regeln der Logik folgende Weise der Argumentation zu verstehen, der es nicht um einen Beweis (positio), sondern um die Abwehr unberechtigter, nur scheinbar rationaler Einwände mit den Mitteln der Vernunft (negatio) geht. Der Glaube wird dabei nicht von der Vernunft her konstruiert, sondern als bereits gegeben betrachtet. Ihn, den überlieferten katholischen Glauben, gilt es, wie Abaelard in der Dialectica 57 58 59

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Poirel, Livre de la nature, 276. Vgl. Valente, Aequivoca oder Univoca?, 317f. Vgl. Epist. 14 (Ed. Smits 280, 41). Roscelin wird dort gegenüber dem Bischof von Paris als „pseudo-dialecticus […] et pseudo-christianus“ bezeichnet. Zur Auseinandersetzung zwischen Roscelin und Abaelard vgl. Mews, The Trinitarian Doctrine of Roscelin of Compiègne, 354-358. Roscelin von Compiègne, Epistola ad Petrum Abaelardum 12 (Ed. Reiners 76, 13-19): „Negavit enim se non prophetam esse omnino, sed simplicem prophetam, quia plus quam propheta fuit, ubi quae praedixerat ostendit. Ita igitur et hic dicendum est eum non omnino tres aeternos negasse, sed eo tantum modo, quo Arius affirmabat, qui mensuram aeternitatis in personis variabat. Aeterni enim erant pluraliter, sicut plures res aeternae; et aeterni non erant, ut aeternitas in eis varia videretur. Dicat melius qui potest. Ego melius non valeo, sed neque quod dico importune defendo.“ Th. Sum. 2,25 (Ed. Buytaert/Mews 122, 220-222): „[…] decreuimus et stultis secundum stulticiam suam respondere et eorum impugnationes ex ipsis artibus quibus nos impugnant conquassare.“

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formuliert, gegen logische Fehlschlüsse zu verteidigen.62 In diesem Sinne lässt sich Gilsons Diktum, „la vraie sagesse ne va pas de la raison à la foi, mais au contraire de la foi à la raison“63, auch auf Abaelard anwenden. Die Aufzählung zahlreicher Einwände gegen den überlieferten Trinitätsglauben und deren Widerlegung zielen nicht auf einen positiven Beweis, sondern sind Ausdruck des Bemühens um ‚defensive Rationalität’.64 Dieser Interpretationsbegriff bringt die Funktion, die der Vernunft innerhalb von Abaelards theologischem Denken zukommt, treffender zum Ausdruck als Weingarts Differenzierung zwischen einem polemischen, apologetischen und konstruktiven Gebrauch der ratio,65 da Weingarts Terminologie die kontextuelle Verwendung, nicht jedoch die formale Zielrichtung der menschlichen Vernunftanstrengung charakterisiert. Von der beschriebenen defensiven Zielsetzung her ist der Einsatz der formalen Logik verständlich, der es – wie Hödl formuliert – darum geht, „die Gottesoffenbarung der Hl. Schrift als theologische Aussage zu verifizieren.“66 (3) Die Bestimmung des credere Deo als existimatio rerum non apparentium hat auch Auswirkungen auf das credere in Deum, weil das vertiefte Verständnis auf der kognitiven Ebene eine den gelebten Glauben bereichernde Interiorisierung nach sich zieht. Abaelard konstruiert eine enge Verbindung zwischen einem tieferen Verstehen des satzhaft formulierten Glaubens und einem Wachsen des gelebten Glaubensvollzugs. Aus der intelligentia fidei, der es um „ein Verstehen des grammatischen Sinnes der Offenbarungsaussagen“67 geht, erwächst auch ein actus fidei, der die gläubige Hinwendung des Menschen zu Gott bezeichnet. Eine existimatio, die sich entweder in der Zustimmung oder in der Ablehnung zu einer Proposition zeigt, ist das Ergebnis einer Erörterung (ratio disserendi), die zu einer Unterscheidung (ratio discernendi) in wahr oder falsch führt.68 Abaelard betont, dass der gelebte, praktisch vollzogene Glaube in ähnlicher Weise einer ständigen discretio bedarf, um nicht in abergläubisches Getue abzugleiten und den Segen vom Fluch zu separieren, weil nur so eine verantwortete Zustimmung möglich ist, 62

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Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 470, 6-8): „Quae fidei quoque catholicae ita necessaria monstratur, ut schismaticorum sophisticis rationibus nullus possit, nisi qui ea praemuniatur, resistere.“ Gilson, Études de philosophie médiévale, 28. Vgl. exemplarisch die obiectiones in Th. Sum. 2,44-2,62 (Ed. Buytaert/Mews 129, 398 – 134, 538) und deren solutio in Th. Sum. 3,1-3,51 (Ed. Buytaert/Mews 157, 3 – 179, 616). Vgl. Weingart, The Logic of Divine Love, 23: „Reason has three functions in theology: polemical, apologetic and constructive.“ Hödl, Die dialektische Theologie des 12. Jahrhunderts, 141f. Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f.: Abélard „ramène l’intelligentia fidei aux proportions d’une connaissance indirecte de l’objet de la foi ou d’une compréhension du sens grammatical des énoncés de la révélation“. Vgl. auch Moore, Reason in the Theology, 148-160. Vgl. Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 506, 24-26).

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ein – wie die Theologia Scholarium formuliert – wirkliches „Amen“69 gesprochen werden kann. Die theoretische Reflexion auf den Glaubenssatz dient also einem vertieften Vollzug des Glaubensaktes.70 Diesen Zusammenhang entfaltet Abaelard nicht nur aus theoretischer Perspektive, sondern auch in praktischhomiletischer Weise. Sermo 14 zufolge ist das vernunftgemäße Erfassen dessen, worum gebetet wird, die Voraussetzung für die andächtige Haltung des Beters.71 Diese innere Haltung (die devotio) bedinge sogar die Erhörung des Gebetes bei Gott, da nur derjenige Beter auch erhört werde, der weiß, worum er bitte. Umgekehrt ist es, wie Abaelard in der Theologia Christiana ausführt, das Bedürfnis des gelebten Glaubens, vernunftgemäß Rechenschaft über die ihm zugrunde liegende Hoffnung abzugeben.72 Rationalisierung und Interiorisierung sind also keine sich antagonistisch gegenüberstehenden Größen,73 sondern aufeinander verwiesene Vorgänge: Die Prüfung nach Maßstäben der Vernunft ermöglicht einen Vollzug des Glaubens, der auch kritischen Hinterfragungen standhalten kann; im Umkehrschluss bewahrt die rechte innere Disposition den denkenden Menschen vor einer Hypostasierung seiner Vernunft und dem Fall in die Häresie, wie später noch zu zeigen sein wird.

2. Glauben und Wissen – Theologie und Philosophie 2.1. Transposition der Untersuchungsebene: Von Glauben und Wissen zu Theologie und Philosophie Bisher wurde der Glaubensbegriff betrachtet, wie er sich in den Recensiones breviores zur Theologia Scholarium findet. Dabei stand der Glaube als Akt des Subjekts – sei es in Form einer existimatio, sei es als existentiell wirksame Ausrichtung – im Mittelpunkt des Interesses. Nun erfolgt ein Wechsel der Betrachtungsebene. Methodisch geht es darum, von der Definition des Vollzugs zur Reflexion des Vollzugs vorzustoßen. Anders gesagt: Die Perspektive der Unter69

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Th. Sch. 2,55 (Ed. Buytaert/Mews 435, 864-868): „Qui etiam in tantum uerborum intelligentiam in ecclesia necessariam dicit, ut cum ibi alique benedictiones fiant, non debeat amen responderi nisi ab intelligentibus, qui uidelicet discernere possint an benedictionis uerba sint an maledictionis.“ Vgl. Schreiter, Petrus Abälards Anschauungen, 12-14. Vgl. Sermo 14 (PL 178, 490 C). Vgl. Th. Chr. 3,15 (Ed. Buytaert 202, 200-204): „De illis autem quos deuotos ad inquisitionem ueritatis percipiendae uiderimus, ut eis scilicet per rationes satisfacere studeamus, Petrus apostolus admonet dicens: Dominum autem Christum sanctificate, parati semper ad satisfaciendum omni poscenti uos rationem, de ea quae in uobis est spe et fide (1 Petr 3,15).“ Zu dem Begriffspaar vgl. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung, 61.

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suchung soll von der Ebene des Glaubens auf die der Theologie transponiert werden. Was Abaelard unter fides versteht, wurde bereits analysiert. Was aber fasst er als theologia auf? Köpf weist auf Folgendes hin: „Alle Hinweise auf eine volle wissenschaftstheoretische Besinnung auf die Theologie im 12. Jh. halten einer genaueren Prüfung nicht stand; eine theologische Wissenschaftstheorie wird erst im 2. Viertel des 13. Jh. Greifbar.“74. Das simple Aufsuchen einer zeitgenössischen Definition ist also nicht möglich. Stattdessen muss die Heterogenität, die sich sowohl im Begriff der Theologie selbst, als auch in der Umschreibung ihres Gegenstandsbereiches findet, zur Kenntnis genommen und in eine möglichst konzise, aber nicht simplifizierende Arbeitsdefinition überführt werden. Zunächst zum Terminus selbst: Santiago-Otero behauptet, Abaelard sei der erste Autor, der das Wort theologia verwende, um die geordnete Reflexion auf das geoffenbarte Glaubensgut zu bezeichnen.75 Träfe dies zu, so würde sich der heutige Sprachgebrauch allein einer begrifflichen Setzung Abaelards verdanken, der die zuvor unterschiedlich benannte Disziplin (sacra doctrina, divina oder sacra pagina, sacra eruditio – um nur einige Namen aufzuführen76) mit einem griechischen Lehnwort charakterisierte, das – wie Augustinus referiert – in der Antike eine andere Bedeutung hatte.77 Abaelard bezeichnet in der Historia Calamitatum eines seiner Werke als „Traktat der Theologie“ und beschreibt die damit verbundene Zielsetzung wie folgt:78 Es sei ihm (schematisiert aufgelistet) darum gegangen, (1) die Grundlagen des Glaubens durch 74 75 76 77

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Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie, 52. Vgl. Santiago-Otero, El término ‚Teología’ en Pedro Abelardo, 882. Zu den terminologischen Vorgängern vgl. Ghellinck, ‚Pagina’ et ‚sacra pagina’, 23-59. Vgl. Augustinus, De Civitate Dei VI 5 (Ed. Dombart/Kalb 170, 1-4). Inwiefern sich das Christentum vom Begriff „theologia“ distanzierte oder ihn positiv aufnahm, ist umstritten. Laut Bonhoeffer, Die Wurzeln des Begriffs Theologie, 25, erbte das Christentum „sowohl die mythologische wie die rationale griechische Tradition. Es versucht, parallel zur spätantiken Philosophie, sowohl bedeutungsschwer als auch rational Theologie zu treiben. (Diese Verbindung wohl verleiht theologischen Differenzen immer wieder eine systematisch-mörderische Gewalt.) Es dürfte schwierig sein, zwischen der antik-christlichen und der heidnischen Theologie, etwa eines Jamblich, einen wesentlichen Unterschied, nicht nur der Aussageinhalte, sondern der Struktur von Theologie festzustellen.“ Eine sachlichere und deutlich differenziertere Analyse der Quellen des Begriffs „theologia“ findet sich bei Enders, Zur Bedeutung des Ausdrucks theologia, 19-28. Vgl. Hist. Cal. (Ed. Monfrin 82f., 690-696): „Accidit autem mihi ut ad ipsum fidei nostre fundamentum humane rationis similitudinibus disserendum primo me applicarem, et quendam theologie tractatum De Unitate et Trinitate Divina scolaribus nostris componerem, qui humanas et philosophicas rationes requirebant, et plus quae intelligi quam que dici possent efflagitabant: dicentes quidem verborum superfluam esse prolationem quam intelligentia non sequeretur, nec credi posse aliquid nisi primitus intellectum, et ridiculosum esse aliquem aliis predicare quod nec ipse nec illi quos doceret intellectu capere possent, Domino ipso arguente quod ceci essent duces cecorum.“

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(2) der menschlichen Vernunft entsprechende Ähnlichkeiten (similitudines) darzulegen, (3) um so dem Drängen seiner Schüler, die heftig nach vernünftigen und philosophischen Gründen für den Glauben verlangten, zu entsprechen, weil (4) nur das zuvor Verstandene auch geglaubt und (5) als verstandenes Geglaubtes auch verkündigt werden kann. Welches Werk Abaelard genau im Blick hat, wenn er von seinem Theologiae tractatus spricht, ist umstritten und kann hier nicht weiter erörtert werden.79 Terminologisch bedeutsam ist, dass sich aus den fünf Eckpfeilern, die Abaelard im Zusammenhang mit der Theologia erwähnt, eine Arbeitsdefinition entwickeln lässt, die dazu beitragen kann, sein Verständnis dieses neu spezifizierten Begriffs zu präzisieren. Demnach lässt sich sagen: Die Theologie ist jene Disziplin, die nach den Maßstäben der Vernunft (3) auf das bereits vorgefundene Glaubensgut (1) reflektiert und dieses anschaulich darstellt (2), damit ein Verständnis der Glaubenssätze (4) ermöglicht und so die Grundlage für einen lebendigen Glaubensakt (5) gelegt wird. Diese anhand des Primärtextes entwickelte Bestimmung soll dem folgenden Gang der Untersuchung als Arbeitsdefinition dienen. Sie hat – was die Bewertung von Abaelards originellem Beitrag zur Neuakzentuierung des Begriffs theologia im zwölften Jahrhundert angeht – zwei Konsequenzen: (1) Es wäre überspitzt, Abaelard mit den Worten Santiago-Oteros als alleinigen Urheber des Theologiebegriffs „im modernen epistemologischen Sinn“80 zu betrachten. Eine solche Maximalbehauptung, die dazu noch mit ungeklärten Voraussetzungen operiert (Was ist denn der „moderne epistemologische Sinn“ von Theologie?) lässt sich historisch nicht verifizieren. (2) Dennoch darf Abaelards Beitrag nicht unterschätzt werden. Der Gegenstand dessen, was die aus der Historia Calamitatum gewonnene Definition als theologia bezeichnet, ist mehr als nur ein Werktitel – wie etwa Mews behauptet.81 Es geht Abaelard um das fundamentum fidei, dessen bedeutendster, aber nicht alleiniger Teil die Gotteslehre ist. 79

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Seit Stölzle, Abaelards 1121 zu Soissons verurtheilter Tractatus, XXII-XXXIII, wird die genannte Schrift meist mit der Th. Sum. identifiziert. Kritisch dazu positioniert sich Klitzsch, Die ‚Theologien’, 233-239. Eine weitere Diskussion der Streitfrage ist im Kontext dieser Untersuchung nicht erforderlich, da es hier nicht darum geht, Abaelards Aussage einem bestimmten Werk zuzuordnen, sondern den darin enthaltenen Begriff der theologia als neuen terminus technicus zu analysieren. Santiago-Otero, El término ‚Teología’ en Pedro Abelardo, 882: „Porque el primer autor que utiliza la palabra teología en el sentido epistemológico moderno; es decir, para significar la explicación racional de lo revelado, fue Pedro Abelardo“. Vgl. Mews, The Sententie, 166: „Abelard used the word theologia as the title of a treatise about the divine nature, not (at least within his writings) as study of the divine nature and

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Abaelard hat also durchaus einen innovativen Beitrag zur Neuakzentuierung des Theologiebegriffs erbracht.82 Die Polemik und die Wortspiele Bernhards von Clairvaux deuten darauf hin, dass der Terminus damals noch nicht allgemein etabliert war. Bernhard stellt abfällig fest, es gebe in Francia einen novus theologus, nennt Abaelard spöttisch theologus noster und verballhornt die Bezeichnung theologia zu stultologia;83 er steht damit – bewusst oder unbewusst – in der Tradition Gregors von Nazianz.84 Der Titel von Abaelards Werk muss zu seiner Zeit – damit die Bemerkungen Bernhards ihre Wirkungen erzielen könnten – als ungewöhnlich wahrgenommen worden sein.85 Wirkungsgeschichtlich ist er jedoch Teil einer breiteren Bewegung, die Köpf im zwölften Jahrhundert ausmacht: Die Bedeutung des Begriffs theologia habe sich „durch Erweiterung seines Umfangs“ und „Erweiterung seiner Merkmale“86 verändert. Mit Blick auf Abaelard heißt dies: Nicht mehr nur die Gotteslehre, die zwar das Zentrale bleibt,87 aber auch der Glaube selbst und seine Grundlagen sind für ihn Gegenstand der theologia; die Durchführung dieser Disziplin hat nach Maßstäben der Vernunft zu erfolgen, sie zielt auf intellektuelle Anschaulichkeit und einen praktisch verantwortbaren Glaubensvollzug. Abaelards Verständnis hat sich jedoch nicht linear durchgesetzt. Heinzmann zu Folge lassen sich noch im dreizehnten Jahrhundert mindestens „drei, bisweilen sich überlagernde Bedeutungen“88 feststellen: Im weitesten Sinne sei jedes Denken über Gott, im engeren Sinne entweder die metaphysische Gotteslehre oder die Auslegung der Schrift als theologia bezeichnet worden. Abaelard vermeidet die diesen Bestimmungen zugrunde liegenden Engführungen und verbindet die drei Aspekte als zusammengehörende Pfeiler des einen theologischen Fragens: Ein verantwortetes Reden über Gott setzt für ihn bei einer (auch spekulativen) Reflexion

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never in the modern sense of ‘theology’ to embrace redemption, sacraments and ethics as well.“ Folgt man Colish, From the Sentence Collection to the Sentence Commentary, 10, so handelt es sich bei Abaelards ‚Theologia’ um eine Unterart der Sentenzengattung. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 1,1f. 1,6. 4,9 (Ed. Leclerq/Rochais 17,17. 18,16. 22,20. 24,24f.). Vgl. Stiglmayr, Mannigfache Bedeutungen von ‚Theologie’ und ‚Theologen’, 305: „Im ironischen Sinn redet Gregor nicht ungern seinen häretischen Gegner mit dem Theologentitel an. ‚O du neugebackener Theolog’, ruft er einem zu, der die Gottheit des Heiligen Geistes leugnet.“ Darauf deutet auch ein Brief Bernhards an die römische Kurie hin, wo er den Titel eines Werkes, die Theologia, befremdlich erwähnt. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 188,2 (Ed. Leclerq/Rochais 11, 11). Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie, 14f. Vgl. Apol. 12 (Ed. Buytaert 365, 193-207). Heinzmann, Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft, 124. Für die weitere Entwicklung im dreizehnten Jahrhundert vgl. Heinzmann, Die Theologie auf dem Weg zur Wissenschaft, 1-17.

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auf die Trinität an, hat seine Grundlage allerdings im Zeugnis der Schrift. Ausgehend von dieser Einheit theologischen Fragens ist auch die Einheit der Zielsetzung zu betrachten. Diese besteht einzig in einem Verstehen des Glaubenssatzes, einer intelligentia fidei; erst nachträglich eröffnen sich verschiedene Anwendungsbereiche dieses auf propositiones gerichteten Verstehens – etwa der vertiefte Glaubensvollzug oder die Verkündigung.89 Dies hat Cottiaux nicht im Blick, wenn er in der Theologia Abaelards eine „intention polémique“, der es darum gehe, die Angriffe der Pseudo-Dialektiker abzuwehren, von einer „intention apologétique“ unterscheidet, die der Bekehrung Ungläubiger diene, und erst nachträglich, als drittes Glied in der Kette, eine „intention positive ou théologique“90 anführt, die auf ein Verstehen der Glaubensinhalte abzielt. Die Aufteilung ist in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend. Sie arbeitet mit einem nicht präzise geklärten Glaubensbegriff und gelangt deshalb auch zu einem unklaren Theologieverständnis, bei dem die Kohärenzprüfung von Propositionen (credere Deo) nur eine nebengeordnete Rolle spielt. Demgegenüber muss in Anlehnung an die entwickelte Arbeitsdefinition betont werden, dass die Theologie eine rationale Erfassung der Glaubenssätze zum Gegenstand hat und erst von dieser intelligentia fidei aus ihre weitere, praktische Wirkung entfaltet. Die fides ist dabei das Primäre, bereits vorgefundene, während die theologia eine sekundäre, erst nachträglich hinzutretende Reflexionsbemühung darstellt. Dieses Strukturverhältnis zwischen Glaube und Theologie auf der einen Seite ist der Schlüssel zu einer Verhältnisbestimmung der beiden Größen zu Erkenntnis und Philosophie auf der anderen Seite, weil sich die beiden letztgenannten zueinander so verhalten wie theologia und fides. Intelligibles Erkennen ist ein primär-epistemischer Grundvollzug des Subjekts; die Philosophie stellt eine sekundäre Reflexionsinstanz auf diesen Akt dar, durch den das Erkannte geprüft und seinem Gewissheitsgrad nach klassifiziert wird. Dies soll anhand einer kurzen Begriffsanalyse veranschaulicht werden. Während sich der Glaube seiner Definition nach – hierbei stimmen Hebr. 11,1 und Abaelard überein – auf ‚nicht erscheinende Dinge’, das heißt auf solche, „die den leiblichen Sinnen nicht unterstehen“91, bezieht, zielt die Erkenntnis auf Erscheinendes und ist – trotz ihres intelligiblen Charakters – auf die sensitive Wahrnehmung verwiesen. Durch dieses Merkmal wird der Glaube als Gegenbegriff zur Erkenntnis konstruiert: 89 90

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Zu den verschiedenen Ausprägungen des Theologiebegriffs vgl. Geyer, Facultas theologica, 133-145. Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 272: „Fixons, pour plus de clarté, notre vocabulaire; nous appelons intention polémique, celle qui se borne à repousser les attaques des adversaires; intention apologétique, celle qui vise à convertir l’incroyant; intention positive ou théologique, celle qui se propose de comprendre des données de la foi.“ th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.): „Est quippe fides existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“.

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„Was nämlich die erscheinenden Dinge betrifft, so erhalten sie keinen Glauben, sondern Erkenntnis.“92 Letztere ist das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, der bei der Sinneswahrnehmung ansetzt und aus dem durch sie gewonnenen Material den intelligiblen Gehalt eines Gegenstandes herausliest, so dass dieser nach Gattung und Art eingeordnet werden kann. Terminologisch ist anzumerken, dass Abaelard noch nicht, wie der lateinische Westen es später in der Tradition des Dominicus Gundissalinus tut,93 streng zwischen intelligere (durch Vernunft erkennen) und percipere (durch die Sinne wahrnehmen) unterscheidet. Im Gegenteil: Abaelard verwendet die Begriffe bisweilen umgekehrt. Er spricht von ‚ratione percipere’, wenn er ‚durch die Vernunft erkennen’ meint,94 und – etwa im Römerbriefkommentar – von ‚intelligere’,95 um die Wahrnehmung der materiell verfassten Schöpfungswerke zu bezeichnen. Diese Eigentümlichkeit in der Begriffsverwendung geht darauf zurück, dass Abaelard noch keinen direkten Zugriff auf Aristoteles’ De anima hatte, das dem lateinischen Okzident erst durch die Übersetzung des Jakob von Venedig aus dem Griechischen (die translatio vetus) sowie die deutlich spätere Übertragung des Michael Scotus aus dem Arabischen zugänglich wurde.96 Dennoch unterscheidet Abaelard der Sache nach präzise zwischen intelligibler Erkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung. In der Theologia Christiana bezeichnet er es als alleiniges Merkmal (proprium) des menschlichen Intellekts, „alles Sinnliche zu übersteigen und das aufzuspüren, was das Sinnliche nicht zu erreichen vermag“97. Damit wird der intelligible Gehalt oder die Washeit eines Gegenstandes bezeichnet, die zwar aus dem Körperlichen heraus abstrahiert werden muss, jedoch selbst nichts Gegenständliches ist. Wendet man diese Überlegungen auf das Verhältnis von Glaube und Erkenntnis an, so wird sowohl das unterscheidende als auch das verbindende Moment deutlich: 92

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th. sch. 19 FH und T (Ed. Buytaert 407, 187-189), Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 322, 125f.): „Quae enim apparentia sunt, fidem non habent sed agnitionem.“ Vgl. Gregor der Große, Homiliae in Evangelia 26,8 (Ed. Étaix 224f.). Zur Rezeption von Avicennas Seelenlehre durch Gundissalinus und die sich anschließende scholastische Tradition vgl. Hasse, Das Lehrstück von den vier Intellekten, 40-44. Vgl. Th. Sum. 3,100 (Ed. Buytaert/Mews 201, 1344-1347): „’Quod notum est dei manifestum est illis’ (Rom 1,19), ac si diceret: quod ad diuinitatem pertinet, ratione perceperunt, quia hec de deo naturaliter ratio unumcumque edocet.“ Vgl. Th. Chr. 4,159 (Ed. Buytaert 345, 2540-2543), Th. Sch. 2,183 (Ed. Buytaert/Mews 497, 2672-2674). Vgl. Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 68, 744f.): „Intelligitur per effecta mundanorum operum quae tam optime fieri uoluit ac disponi.” Vgl. Minio-Paluello, Iacobus Veneticus Grecus, 265-304. Th. Chr. 5,3 (Ed. Buytaert 347, 25-30): „Si tamen ipsam uim rationis diligentius attendamus, cuius proprium est omnem transcendere sensum et ea uestigare quae sensus non ualet attingere, profecto quanto quaeque res subtilioris est naturae et a sensu remotior, tanto rectius rationis se committit iudicio et maius in se rationis studium prouocare debet.“ Vgl. Th. Sch. 3,3 (Ed. Buytaert/Mews 499, 22-27).

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(1) Die Differenz besteht bezüglich des Objekts: Während die Erkenntnis stets auf das Sinnliche und damit auf ‚erscheinende Dinge’ angewiesen bleibt, richtet sich der Glaube im strengen Sinne auf non apparentia. (2) Das Gemeinsame besteht darin, dass sowohl die Erkenntnis als auch der Glaube auf das Verstehen zielen: Der Erkenntnis geht es um die Bildung eines abstrakten Begriffs (intellectus), welcher die Einzeldinge ihrem Wesen nach bezeichnet und sie nach genus und species einordnet. Der Glaube als existimatio verlangt nach einem Verstehen (intelligentia) satzhaft gefasster Aussagen. Sowohl dem Glauben als auch der Erkenntnis geht es also um das Verstehen der Wirklichkeit, die – als Ganze betrachtet – aus ‚erscheinenden’, den Sinnen zugänglichen Dingen, und einem Bereich des Unsichtbaren, Unkörperlichen besteht. Das intelligible Erfassen der apparentia wird Erkenntnis, das der non apparentia wird Glaube genannt. Beiden epistemischen Vollzügen des Menschen ist eine sekundäre Reflexionsinstanz zugeordnet (Theologie und Philosophie), die in rationaler und methodisch nachvollziehbarer Weise auf die primären Vollzüge (Glauben und Erkennen) reflektiert. Die Disziplin, die den Glauben zum Gegenstand hat, wird – wie oben definiert – als Theologie bezeichnet (fides – theologia), diejenige, welche die Möglichkeiten, Grade und Grenzen der Erkenntnis betrachtet, heißt Philosophie (agnitio – philosophia). Die Philosophie stützt sich nicht auf die Offenbarung, sondern nur auf die der menschlichen Vernunft zugänglichen Prinzipien und beschäftigt sich – sofern sie sich der Logik als Instrumentarium bedient98 – mit den apriorischen und deshalb apodiktisch geltenden Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Dadurch ist sie in der Lage, nicht nur konkurrierende Meinungen oder als wahr erachtete Überzeugungen hervorzubringen, sondern Wissen über die ‚erscheinenden Dinge’ in seiner sichersten epistemischen Form, nämlich als Erkenntnis bei gleichzeitiger Gewissheit, dass diese Erkenntnis auch wahr ist.99 Der Erwerb von Wissen ist also das Ergebnis eines rationalen Prüfprozesses, bei dem die Einzelerkenntnisse nicht nur ihrer formalen Wertigkeit nach in wahr oder falsch aufgeteilt, sondern auch anhand ihres Gewissheitsgrades gegliedert werden. Philosophie ist also in höchstem Maße eine Wissenschaft (scientia), weil sie auf den Erwerb von Wissen (scientia) zielt. Die dichotome Rede von scientia, die sowohl die apriorische Methodik der Untersuchung als auch das Ergebnis derselben bezeichnet, wird von Abaelard durchgängig in allen Redaktionsstufen seiner Theologia als „comprehensio

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Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 1, 17-21): „Ipsa etiam logica sui saepe instrumentum videtur, cum et quaestionem ad se pertinentem suis approbat argumentis, veluti istam: ‚homo est species animalis’. Nec tamen ideo minus est logica, quia logicae est instrumentum. Sic nec philosophia, quia philosophiae.“ Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15f.): „Est enim scientia veritatis rerum comprehensio, cuius species est sapientia”.

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ueritatis rerum que sunt“100, als Erfassung der Wahrheit der Dinge, die sind, verstanden. Bei der Rede von der „Wahrheit der Dinge“ verbindet sich ein propositionales mit einem ontologischen Wahrheitsverständnis. „Wahr sein“ im ontologischen Sinne bedeutet, eine Was-Bestimmtheit zu besitzen. „Sein“ ist in diesem Zusammenhang als Kopula (So-Sein) zu verstehen.101 Die veritas rerum ist also die jedem Gegenstand eigene Bestimmtheit, seine Washeit (quidditas oder natura, wie man im dreizehnten Jahrhundert sagen wird), durch die er intelligibel begriffen sowie nach Gattung und Art eingeordnet werden kann. Weil jede res eine Form besitzt, die ihr eine sie von anderen unterscheidende Bestimmung, ihr So-Sein, verleiht, ist Wahrheit – neben anderen Eigenschaften wie Gutheit und Einheit – eine Grundbestimmung alles Seienden, getreu des Axioms: Ens et verum convertuntur.102 Der ontologischen Wahrheit im Sinne einer jedem Seienden eigenen Was-Bestimmtheit, die Gegenstand einer möglichen Erkenntnis sein kann, entspricht die propositionale Wahrheit, die die quidditas der Dinge in die sprachliche Form prädikativer Aussagen bringt und somit auf der Ebene der Semantik das offen legt,103 was ontologisch gesehen eine Grundeigenschaft alles Seienden ist. Da dieses Seiende notwendig gut ist, ist auch jede Erkenntnis darüber gut.104 Methodisch gesehen ergibt sich der rationale Anspruch der Philosophie aus ihrer Methodik, die vom Studium der septem artes liberales ihren Ausgang nimmt. Hierbei ist das aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestehende Trivium von besonderer Wichtigkeit, da es auf die Bedeutung von Termen (Rhetorik), ihre Beziehung untereinander (Grammatik) sowie sich aus ihnen ergebende Schlussfolgerungen (Logik) reflektiert. Die Logik nimmt eine herausgehobene Stellung ein, weil sie sich mit den vorerfahrungshaften und deshalb apodiktisch geltenden Gesetzmäßigkeiten des Denkens beschäftigt. Sie tut dies aber nicht (nur) durch einen kreativ-spontanen Akt der Vernunft, sondern unter Heranziehung kanonischer Autoritäten, allen voran Aristoteles, Porphyrios und Boethius. Die Logik als ars sermonicalis ist auf terminologische Distinktionen ausgerichtet und stellt auf diese Weise ein Charakteristikum der Philosophie, auf das Abaelard besonderen Wert legt, sicher: die begriffliche Präzision. Ciceros stilistische Leitlinien bei der Erstellung einer guten Rede überträgt Abaelard auf die Philosophie: „’Gleichförmigkeit ist die Mutter der Über-

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Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 117, 78f.), Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 70f.), Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 447). 101 Vgl. Rosier-Catach, Abélard et les grammairiens – Sur le verbe, 187-189. 102 Zur historischen Einordnung vgl. Rüfner, Ens et verum, 406-437. 103 Vgl. Marenbon, Abélard, la prédication et le verbe ‚être’, 205-213 sowie De Rijk, Peter Abelard’s Semantics and His Doctrine of Being, 123f. 104 Vgl. Th. Sum. 2,8 (Ed. Buytaert/Mews 117, 90f.): „Ex his itaque liquidum est nullam aut scientiam aut potestatem malam esse“. Th. Chr. 3,7 (Ed. Buytaert 197, 83f.), Th. Sch. 2,30 (Ed. Buytaert/Mews 422, 459f.).

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sättigung’, das heißt sie bringt Überdruss hervor“105. Die Aufgabe der Dialektik steht dem Streben nach einer vorschnellen identitas, einer Herstellung von Gleichheiten, entgegen; sie soll die begriffliche Unterscheidung und dadurch die sachliche Differenzierung fördern. In den Glossen zu De differentiis topicis wird die Dialektik deshalb als „ratio disserendi“ und „scientia discernendi“ verstanden, der es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem für eine Aussage reklamierten Wahrheitsanspruch geht, wodurch eine „discretio argumentorum“106, ein Urteil über die logische Wertigkeit – wahr oder falsch – ermöglicht wird. Darin unterscheidet sich die Dialektik von einer Handlungswissenschaft, der es um die Unterscheidung zwischen gut und böse geht: „Est enim scientia alia agendi, alia discernendi.“107 Dennoch ist auch das menschliche Handeln Gegenstand der Philosophie, weil die Beantwortung der sich der praktischen Vernunft stellenden Frage nach gut und böse (1) das Ergebnis eines unterscheidenden Erkenntnisaktes (ratio disserendi und scientia discernendi) ist, der (2) nach rational einsichtigen und methodisch nachvollziehbaren Grundsätzen erfolgen muss.108 Beides sind Kriterien philosophischen Forschens, das auch auf die Sitten (mores) zu reflektieren hat, sofern darunter „Laster oder Tugenden der Seele [verstanden werden], die uns den schlechten oder den guten Werken zugeneigt sein lassen.“109 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Glauben und Erkennen sind zwei epistemische Vollzüge des Menschen, die beide auf das Verstehen der Welt abzielen, sich allerdings durch den Bereich, den sie zu erfassen suchen, unterscheiden: Dem Erkennen geht es um apparentia, dem Glauben um non apparentia. Beide ziehen jedoch die Bildung von Disziplinen, die systematisch 105

Th. Sum. 2,77 (Ed. Buytaert/Mews 140, 693-695): „[…] quia semper ‚in omnibus’, teste Tullio, ‚idemptitas mater est sacietatis’, hoc est fastidium generans”. Th. Chr. 3,133 (Ed. Buytaert 245, 1621f.), Th. Sch. 2,90 (Ed. Buytaert/Mews 452, 1348-1350). Es handelt sich hier um eine Anspielung auf Ciceros Aufforderung in De Inventione I 41,76 (Ed. Stroebel 55bf., 29f.), der Orator möge beim Vortrag seiner Rede großen Wert auf Abwechselungsreichtum legen. Denn: „Omnibus in rebus similitudo mater est satietatis.“. Abaelard bettet den Satz in einen anderen Kontext, indem er die Ähnlichkeit, von der Cicero spricht, in eine Gleichheit umwandelt. Es geht ihm nicht um sprachliche Variation, sondern um terminologische Präzision. 106 Sup. Top. (Ed. Dal Pra 209, 12-14): „Est autem logica ratio disserendi, id est logica est discretio argumentorum, hoc est scientia discernendi diligenter ea quae tam ad iventionem quam ad iudicium argumentorum attinent.“ 107 Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 506, 4). Vgl. Blackwell, Non-Ontological Constructs, 32. 108 Zum Problem der Ethik, „dem Anspruch wissenschaftlicher Rationalität zu genügen, ohne die Bedeutung für das sittliche Handeln einzubüßen“ vgl. Wieland, Ethica docens – Ethica utens, 593. 109 Scito I 1,1 (Ed. Ilgner 1, 1f.): „Mores dicimus animi uicia uel uirtutes, quae nos ad mala uel bona opera pronos efficiunt.“

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auf sie reflektieren, nach sich. Die Theologie untersucht den Glauben, die Philosophie die Erkenntnis. Im Folgenden soll es darum gehen, die von Abaelard vorgenommene Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Wissenschaften zu betrachten. Die Untersuchungsebene wird also – im Vergleich zu den vorangehenden Überlegungen – transponiert: von Glauben und Erkennen hin zu Theologie und Philosophie.

2.2. Die Unterscheidung zwischen Metaphysik und Heilsgeschichte: Abaelards augustinische Zuordnung Die bisherigen Bestimmungen haben ihren Ausgang von dem kognitiven Akt – Glaube oder Erkenntnis – genommen, auf den sich Theologie und Philosophie beziehen und in dem sie sich unterscheiden. Eine Überschneidung beider Disziplinen ist jedoch beim Objekt ihrer Betrachtung gegeben: Sie versuchen, die Wirklichkeit als ganze nach einer je eigenen Methode zu erfassen; dabei stoßen sie auf die Frage nach Gott und reflektieren entweder seine Rolle als Grund alles Seienden (Philosophie) oder als personales, geschichtsmächtiges Gegenüber des Menschen (Theologie). Gott ist somit ein Gegenstand, den sowohl die Theologen als auch die Philosophen zu berücksichtigen haben, wenn sie versuchen, durch die ihnen speziell zugeordneten kognitiven Akte die Wirklichkeit zu verstehen. Die bisherige Untersuchung hat – um es mit zwei Arbeitsbegriffen zu kennzeichnen – den actus specificus von Theologie und Philosophie in den Blick genommen; eine präzise Klärung ihres Verhältnisses muss aber auch das obiectum commune, nämlich Gott, berücksichtigen. Abaelard zeigt ein reges Interesse an den Lehrmeinungen Platons und der sich auf ihn berufenden späteren Traditionen des Mittel- oder Neuplatonismus. Platon habe „sich nach dem Zeugnis der heiligen Väter vor den anderen Philosophen der Heiden dem christlichen Glauben genähert und den gesamtem Inhalt der Trinität nach den Propheten offen gelehrt“110. Aus diesem Grund besitze die doctrina platonicorum eine besondere Relevanz für christliche Interpreten; sie enthält laut Abaelard den Glauben an die Göttlichkeit des Wortes, „wie er später von den höchsten Schriftstellern des Neuen Testamentes, nämlich den Aposteln Johannes und Paulus, überliefert wurde.“111 Obwohl die Blütezeit des Neuplatonismus erst 110

Th. Sum. 1,36 (Ed. Buytaert/Mews 98f., 348-351): „Reuoluatur et ille maximus philosophorum Plato, qui testimonia sanctorum patrum pre ceteris gentium philosophis fidei christiane accedens, totius trinitatis summam post prophetas patenter edocuit“. Vgl. mit leichten Modifikationen Th. Chr. 1,68 (Ed. Buytaert 100, 897-900), th. sch. 121 (Ed. Buytaert 450, 1459-1462), Th. Sch. 1,123 (Ed. Buytaert/Mews 368, 1411-1414). 111 Th. Sum. 1,58 (Ed. Buytaert/Mews 107, 595-598): „[…], in quibus quidem tota fere fidei nostre summa circa diuinitatem uerbi apertissime continetur, sicut ipsa postmodum tradita est a summis scriptoribus noui testamenti, Iohanne scilicet et Paulo apostolis.“

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in die nachneutestamentliche Epoche fällt, setzt Abaelard wohl die gesamte platonische Tradition früher als die Wirkungszeit der Apostel an (so erklärt sich das postmodum im gerade zitierten Text). Abaelard sieht die doctrina platonicorum als einheitliches Lehrgebäude und ist nicht über Differenzen sowie Entwicklungen innerhalb der Schule unterrichtet, wie die Ablehnung der Ideenlehre in der mittleren Akademie und der damit verbundenen Entstehung einer akademischen Skepsis. Trotz seines Interesses an aristotelischer Logik stößt für Abaelard der – nicht weiter binnendifferenzierte – Platonismus am weitesten in jene Gebiete vor, die die Philosophie noch erreichen kann. Insofern erscheint es methodisch gerechtfertigt, die allgemein gestellte Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie auf die Beziehung zwischen dem Platonismus – in der einheitlichen Form, wie Abaelard ihn wahrnimmt – und der Theologie zuzuspitzen. Ein Schlüsseltext hierzu findet sich bei Augustinus: In Confessiones VII stellt der Bischof von Hippo verschiedene christliche Glaubensaussagen der neuplatonischen Metaphysik gegenüber und wertetet die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede zwischen beiden aus.112 Dieser Text wird in allen Bearbeitungs-

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Vgl. Augustinus, Confessiones VII 9, 13-14 (Ed. Verheijen 101f., 1-38): „Et primo uolens ostendere mihi, quam resistas superbis, humilibus autem des gratiam et quanta misericordia tua demonstrata sit hominibus uia humilitatis, quod uerbum tuum caro factum est et habitauit inter homines, procurasti mihi per quendam hominem immanissimo tyfo turgidum quosdam Platonicorum libros ex graeca lingua in latinam uersos, et ibi legi non quidem his verbis, sed hoc idem omnino multis et multiplicibus suaderi rationibus, quod in principio erat uerbum et uerbum erat apud deum et deus erat verbum: hoc erat in principio apud deum; omnia per ipsum facta sunt, et sine ipso factum est nihil, quod factum est; in eo uita est, et uita erat lux hominum; et lux in tenebris lucet, et tenebrae eam non comprehenderunt; et quia hominis anima, quamvis testimonium perhibeat de lumine, non est tamen ipsa lumen, sed uerbum, deus ipse, est lumen uerum, quod inluminat omnem hominem uenientem in hunc mundum; et quia in hoc mundo erat, et mundus per eum factus est, et mundus eum non cognovit. Quia vero in sua propria uenit et sui eum non receperunt, quotquot autem receperunt eum, dedit eis potestatem filios dei fieri credentibus in nomine eius, non ibi legi. Item legi ibi quia uerbum, deus, non ex carne, non ex sanguine neque ex uoluntate uiri neque ex voluntate carnis, sed ex deo natus est; sed quia uerbum caro factum est et habitauit in nobis, non ibi legi. Indagaui quippe in illis litteris uarie dictum et multis modis, quod sit filius in forma patris non rapinam arbitratus esse aequalis deo, quia naturaliter id ipsum est, sed quia semet ipsum exinaniuit formam serui accipiens, in similitudinem hominum factus et habitu inuentus ut homo, humilauit se factus oboediens usque ad mortem, mortem autem crucis: propter quod deus eum exaltauit a mortuis et donauit ei nomen quod est super omne nomen, ut in nomine Iesu omne genu flectatur caelestium, terrestrium et infernorum, et omnis lingua confiteatur quia dominus Iesus in gloria est dei patris non habent illi libri. Quod enim ante omnia tempora et supra omnia tempora incommutabiliter manet unigenitus filius tuus coaeternus tibi et quia de plenitudine eius accipiunt animae, ut beatae sint, et quia participatione manentis in se sapientiae renouantur, ut sapientes sint, est ibi; quod autem secundum tempus pro inpiis

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stufen und Redaktionsschichten der Theologien Abaelards angeführt;113 es handelt sich um eines der längsten zusammenhängenden Zitate in seinen Werken, das nicht nur „die Erkenntnis der Platoniker in Bezug auf den christlichen Glauben zum Thema hat“114, sondern generell das Verhältnis zwischen philosophischer und offenbarungsgeleiteter Einsicht thematisiert. Zum Einen geraten die Gemeinsamkeiten zwischen christlicher Glaubenslehre und neuplatonischer Philosophie in den Blick, zum Anderen werden die nicht rational kontruierbaren Glaubensinhalte benannt.115 Die Aussagen Augustins haben in der Sekundärliteratur kontroverse Deutungen erfahren.116 Gilson vertritt die These, dass Augustinus keine klare Trennlinie zwischen Theologie und Philosophie ziehe. Beide seien methodisch wie inhaltlich nicht zu separieren, da sich der denkende Mensch weder vom Fleisch – also der Verhaftung des Geistes in der sinnlichen Welt, die einen Aufstieg zum Geistigen verhindert – noch vom Skeptizismus – nämlich dem Zweifel an der möglichen Erwerbbarkeit sicherer Erkenntnis – befreien könne. Eine „wahre Philosophie“ sei nur durch eine Ausrichtung der Vernunft auf Gott hin zu erreichen: „La vraie philosophie présuppose un acte d’adhésion à l’ordre surnaturel, qui libère la volonté de la chair par la grâce et la pensée du scepticisme par la révélation.“117 Auch wenn die Deutung Gilsons dem augustinischen Ideal einer vera philosophia,118 die den Aufstieg der Seele zu Gott im theoretischen wie im praktischen Sinne vorbereiten soll, sehr nahe kommt, erscheint es dennoch problematisch, dass aus einer tatsächlich vorhandenen Untrennbarkeit von Theologie und Philosophie auch eine Ununterscheidbarkeit beider Disziplinen gefolgert wird. Gilson verneint – systematisch gesprochen – nicht nur eine reale Distinktheit, sondern auch eine formale. „C’est pourquoi l’on ne sait jamais bien si saint Augustin parle en théologien ou en philosophe.“119 Etwas gemäßigter, aber in eine ähnliche Richtung zielend, urteilt Plantinga, für dessen eigenes System die Augustinus-Deutung von entscheidendem Gewicht ist: Augustin entwickle eine „positive christliche Philosophie“. Konkret bedeute dies, dass er alle Fragen, die sich im theoretischen wie im praktischen Bereich der philosophischen Reflexion stellen, aus einer dezidiert christlichen, also offenbarungsgestützten mortuus est et filio unico tuo non pepercisti, sed pro nobis omnibus tradidisti eum non est ibi.“ 113 Vgl. Th. Sum. 1,59 (Ed. Buytaert/Mews 107f., 598-633), Th. Chr. 1,125 (Ed. Buytaert 124f., 1651-1686), Th. Sch. 1,188 (Ed. Buytaert/Mews 397f., 2242-2276). 114 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 41. 115 Vgl. die Gliederung bei Solignac, Les Confessions, 682-689. 116 Vgl. zum Beispiel die Auseinandersetzung zwischen Madec, Une lecture des Confessions VII, 79-137, und O’Connell, Confessions VII, 86-100. 117 Gilson, Introduction à l’étude, 311. 118 Vgl. Augustinus, Contra Iulianum IV,72 (PL 44, 774f.). 119 Gilson, Introduction à l’étude, 311.

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Perspektive betrachte: Augustine „is thinking about the sorts of questions philosophers ask and answer from an explecitely Christian point of view.“120 Honnefelder hingegen sieht sowohl eine Identität als auch eine Differenz zwischen Philosophie und Theologie im Denken des Bischofs von Hippo gegeben. Durch erstere sei es möglich, eine Kontinuität „zwischen dem christlichen Glauben und den anderen von den Philosophen entfalteten Vollzugsweisen des Menschen [herzustellen] und den Glauben als Gestalt des Weisheitsstrebens und der damit verbundenen Lebensform auszuweisen. Durch die Differenz kann er [Augustinus] den Glauben an den Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, nicht nur als das inhaltlich, sondern auch als das formal Neue deuten“121.

Die Stärke dieser Interpretation liegt darin, dass sie die Unterschiede zwischen philosophischem und theologischem Fragen nicht verwischt, aber gleichzeitig den für Augustinus notwendigen Zusammenhang beider Disziplinen betont. Augustinus elaboriert seine Zuordnung in Confessiones VII anhand der Gegenüberstellung zweier Bibelstellen: des Johannesprologs und des Philipperhymnus als loci classici der neutestamentlichen Christologie. Er gliedert sie unter zwei Aspekten. Auf der einen Seite finden sich Aussagen über den Logos: seine göttliche Natur, sein Verhältnis zum Vater sowie seine belebende und Erkenntnis vermittelnde Funktion gegenüber den Geschöpfen. Es handelt sich dabei um allgemeine Gültigkeit beanspruchende Thesen, die mit einer neuplatonischen Metaphysik kompatibel sind und an die Ausführungen in Plotins Enneaden erinnern: Aus dem Einen emaniert der Nous, welcher als Schöpfungsmediator fungiert und der Welt ihre Geformtheit sowie den Dingen ihre Erkennbarkeit verleiht.122 Auf der anderen Seite stehen die Unterschiede zwischen dem christlichem Glauben und dem Neuplatonismus. Dort finden sich keine zeitlosen Wahrheiten, sondern historische Ereignisse, nämlich Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu Christi, die der Glaube für wahr hält, die aber nicht Gegenstand der Philosophie sein können, sofern diese – wie Abaelard es tut – als Wissenschaft zur Erfassung der Was-Bestimmtheit alles Seienden verstanden wird:123 Eine Aussage über die quidditas eines Gegenstandes erfordert keine 120

Plantinga, Augustinian Christian Philosophy, 16. Honnefelder, Weisheit durch den Weg der Wissenschaft, 68f. Hervorhebungen im Original. 122 Vgl. Solignac, Les Confessions, 683-686. Solignac vergleicht die Aussagen aus dem Johannesprolog und dem Philipperhymnus mit metaphysischen Spekulationen aus Plotins Enneaden. Dadurch versucht er, die Stellen, die Augustinus bei seiner Lektüre im Blick hatte, genauer zu benennen. Dies bringt erstaunlich präzise Parallelen zu Tage, birgt jedoch die Gefahr – wie Solignac selbst erwähnt (683) – einer Engführung auf Plotin als einziger Primärquelle. Zum Problem der neuplatonischen Quellen Augustins vgl. auch Geerlings, Libri Platonicorum, 60-70. 123 Vgl. Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 117, 78f.): „Scientia […] est comprehensio ueritatis rerum que sunt”. Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 70f.), Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 447). 121

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Positionierung gegenüber historischen Ereignissen; die Philosophie als Wissenschaft der „Wahrheit der Dinge“ kann überhaupt keine Stellung etwa zur Auferstehung Jesu Christi beziehen. Brachtendorf schlussfolgert daher, dass es zwischen Theologie und Philosophie die Metaphysik als „einen inhaltlichen Überlappungsbereich, in dem beide Gleiches aussagen“124 gibt; dieser gemeinsame Bereich deutet die Grundstrukturen der Wirklichkeit sowie ihr Verhältnis zu Gott. Augustinus betont, dass die Weltdeutung aus dem Glauben auf der einen und aus der rationalen Analyse auf der anderen Seite nicht völlig auseinandertreten dürften: „Es wird nämlich geglaubt und gelehrt, dass es die Hauptsache des menschlichen Heiles ist, dass nicht die Philosophie, also das Studium der Weisheit, das eine, und die Religion etwas anderes sei“125. Ansonsten wäre nämlich entweder der Glaube als unvernünftig oder aber die rationale Erkenntnis als dem Glauben widersprechend abzulehnen. Beides sind jedoch für Augustinus keine gangbaren Wege, da die Metaphysik einen Bereich faktischer Übereinstimmung darstellt, der ein kontradiktorisches Auseinandertreten von Glauben und Erkennen verhindert. Dennoch gebe es, so Brachtendorf, einen „inhaltlichen Überschuss“126 des Glaubens, der die Inkarnation zum Gegenstand hat und damit einmalige geschichtliche Ereignisse (wie Menschwerdung, Tod, Auferstehung Jesu Christi) in den Mittelpunkt stellt. Die Anerkennung der Heilsrelevanz des Geschichtlichen ist nur im Akt des Glaubens erreichbar, nicht aber durch ein Erkennen im strengen Sinne, das auf die Washeit der Wirklichkeit zielt: „De singularibus non est scientia“127. Ein einmaliges historisches Ereignis kann nicht im Sinne einer allgemeinen Was-Bestimmtheit erkannt werden. Aus diesem Grund fällt die christliche Heilsgeschichte aus dem Bereich möglicher intelligibler Erkenntnis heraus und ist damit – per definitionem – auch kein Objekt der philosophischen Reflexion, die auf den Akt des Erkennens und die Prüfung seiner Gewissheitsgrade ausgerichtet ist. Zu betonen bleibt jedoch, dass sich der Glaube nicht nur auf einmalig Historisches (das Handeln Gottes), sondern auch auf Ewiges (das Wesen Gottes) bezieht. Damit betritt er metaphysisches Terrain, für das die Philosophie wiederum zuständig ist, weil es um die ewige Grundstruktur der Wirklichkeit geht. Insofern lässt sich sagen: Allgemein-ontologische Aussagen bilden den Schnittpunkt zwischen Philosophie 124

Brachtendorf, Augustins Confessiones, 131. Augustinus, De vera religione V 8 (Ed. Daur 193, 12-16): „Sic enim creditur et docetur quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem, cum hi, quorum doctrinam non approbamus, nec sacramenta nobiscum communicant.” 126 Brachtendorf, Augustins Confessiones, 131. 127 Das Axiom wird nach Heinzmann, Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft, 125, zitiert. Eine nähere Quellenangabe findet sich dort nicht, ist aber für den vorliegenden Zusammenhang entbehrlich, weil es hier um eine begrifflich-systematisierende Darstellung des Gedankengangs Augustins geht, der durch den zitierten Satz pointiert zur Geltung kommt.

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und Theologie, historische Daten eines einmaligen Handelns Gottes in der Welt markieren die Scheidelinie zwischen beiden Disziplinen. Vor diesem Hintergrund erscheint Abaelards These, Platon habe (wie bereits zitiert) „den gesamten Inhalt der Trinität“128 offen gelehrt und die Neuplatoniker seien Zeugen für die „Göttlichkeit des Wortes“129 verständlicher. Beide Einsichten – die Dreifaltigkeit im Allgemeinen wie auch die göttliche Natur des Logos – beziehen sich auf überzeitlich Gültiges; sie sind keine geschichtlichen Gewordenheiten, sondern Grundgegebenheiten, die von einer metaphysischen Gotteslehre – und damit der Philosophie – spekulativ durchdrungen werden können, ohne dass es zu einer Vermischung mit dem der Theologie eigenen Gegenstand käme. Die Metaphysik als Wissenschaft über die stets gleichen Strukturen der Wirklichkeit ist von theologischer wie auch von philosophischer Seite aus begehbar. In diesem Sinne ist auch eine Bemerkung zu verstehen, die Abaelard in der zweiten der Recensiones breviores zur Theologia Scholarium seinen Schülern, auf deren Bitte er dieses Werk verfasst habe, in den Mund legt. Diese behaupten, er könne „weder auf andere Weise den Lauf der Philosophie zusammenfassen noch an ihr Ziel gelangen oder irgendeine Frucht aus ihr davontragen, wenn er nicht ihr Studium in Gott“130 vollende. Das ist keineswegs eine diffuse Auflösung der vernunftgemäßen Reflexion in den Glauben, sondern eine Beschreibung des Gegenstandes der Philosophie im strengen Sinne: Ihr höchstes Erkenntnisobjekt ist Gott und sie verfehlt ihr Ziel, wenn sie es versäumt, nach dem ihr eigenen obiectum eminentiae zu fragen. Tut sie dies in methodisch korrekter Weise, steht sie in keinem Widerspruch zur Theologie. Der zugleich philosophisch wie auch theologisch Tätige ist damit aus einer Verlegenheit, die eine Opposition der beiden Disziplinen nach sich zöge, befreit: „Ich will nicht, nein, ich will nicht solch ein Philosoph sein, dass ich Paulus zurückweise, solch ein Aristoteles, dass ich von Christus ausgeschlossen bin“131, so die pathetische Beteuerung Abaelards aus der Confessio fidei ad Heloisam. Vor diesem Hintergrund korrigiert er sogar vorsichtig die paulinische Tradition, welche – trotz des 128

Th. Sum. 1,36 (Ed. Buytaert/Mews 98f., 348-351): „Reuoluatur et ille maximus philosophorum Plato, qui testimonia sanctorum patrum pre ceteris gentium philosophis fidei christiane accedens, totius trinitatis summam post prophetas patenter edocuit“. Vgl. mit leichten Modifikationen Th. Chr. 1,68 (Ed. Buytaert 100, 897-900), th. sch. 121 (Ed. Buytaert 450, 1459-1462), Th. Sch. 1,123 (Ed. Buytaert/Mews 368, 1411-1414). 129 Th. Sum. 1,58 (Ed. Buytaert/Mews 107, 595-598): „[…], in quibus quidem tota fere fidei nostre summa circa diuinitatem uerbi apertissime continetur, sicut ipsa postmodum tradita est a summis scriptoribus noui testamenti, Iohanne scilicet et Paulo apostolis.“ 130 th. sch. 2 (Ed. Buytaert 401, 11-14): „Addebant etiam nec me aliter philosophiae cursum consummare nec ad eius peruenire metam aut aliquem ex ea me fructum colligere, nisi eius studium in Deum, ad quem omnia referri conuenit, terminarem.“ Th. Sch. pref. 2 (Ed. Buytaert/Mews 314, 8-11). 131 Conf. fid. Hel. 17,3 (Ed. Burnett 152): „Nolo, nolo sic esse philosophus ut recalcitrem Paulo; nolo sic esse Aristoteles ut secludar a Christo.“

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für sie prägenden stoischen Einflusses – den philosophischen Schulen ihrer Zeit gegenüber einige Skepsis hegt. Die Theologia Scholarium relativiert die polemischen Spitzen des Apostels, die sich etwa in 1 Kor 1,20-23 finden, durch den Hinweis, dass diese „eher wenige als viele“132 unter den Philosophen betreffen, insofern diese sich durch ein tugendhaftes Leben auszeichnen und – in methodischer Hinsicht – ihre Grenzen nicht überschreiten. Die Philosophie wird erst dann zu einer Gegnerin der Theologie, wenn sie Aussagen über das hinaus trifft, was die Erfassung der quidditas, der Was-Bestimmtheit der seienden Dinge, angeht. Trotz dieser prinzipiell harmonischen Zuordnung geht Abaelard davon aus, dass Theologie und Philosophie auch im Gebiet der metaphysischen Gotteslehre keine koextensiven Größen sind: Es gibt ihm zufolge auch dort einen Bereich, der nicht rational einzuholen und durch intelligible Erkenntnis zu erfassen ist. „Was werden darauf die Lehrer der Dialektik antworten, wenn sie es unternehmen, das mit Vernunft zu erörtern, von dem ihre eigenen vorzüglichen Lehrer angeben, dass es nicht erklärt werden kann? Um des Heiles willen muss doch geglaubt werden, was 133 nicht erklärt zu werden vermag“ .

An diesem Zitat sind zwei Dinge von besonderem Interesse: (1) Nicht alles, was sich jenseits von Gottes geschichtlichem Handeln in der Welt abspielt und was aus der Perspektive des Glaubens für wahr gehalten wird, kann von der Theologie oder der Philosophie adäquat erfasst werden. Es gibt einen Überschluss des Glaubens, der keiner reflexiven Klärung zugänglich ist. Abaelard nennt als Beispiel die innergöttlichen Konstitutionsprozesse von generatio und processio. „Es ist nicht erlaubt, die himmlischen Geheimnisse zu durchforsten“134, wird in Anlehnung an Ambrosius von Mailand behauptet. Auch in dieser Frage besteht eine Kontinuität zu Augustinus, der am Ende von De Trinitate eingestehen muss, dass es ihm nicht gelungen ist, den Unterschied zwischen Zeugung und Hervorgang begrifflich präzise zu benennen.135

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Th. Sch. 1,110 (Ed. Buytaert/Mews 361, 1202-1205): „Quod itaque ait apostolos quosdam philosophorum gentilium sapientium hoc quod de deo uel ceteris intelligebant sibi potius quam deo ascripsisse, atque hinc excecari meruisse, paucis potius quam multis imputandum uidetur“. 133 Th. Sum. 2,23f. (Ed. Buytaert/Mews 122, 204-207): „Quid ad hoc responsuri sunt professores dialectice, si illud ratione conantur discutere quod precipui doctores eorum perhibent explicari non posse? Credi tamen salubriter debet quod explicari non ualet”. In der Th. Chr. ist das Zitat mit leichten Veränderungen auf zwei verschiedene Stellen verteilt: Th. Chr. 3,46. 3,50 (Ed. Buytaert 213, 578-580. 214, 618). 134 Th. Sum. 2,24 (Ed. Buytaert/Mews 122, 213): „Scrutari non licet superna misteria.“ Th. Chr. 3,50 (Ed. Buytaert 215, 632f.). Es handelt sich um ein Zitat aus Ambrosius, De fide I 10,65 (Ed. Faller 28, 30f.). 135 Vgl. Augustinus, De trinitate XV 27,48 (Ed. Mountain 529, 1-8).

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(2) Darüber hinaus führt die Aufforderung Abaelards, „was nicht erklärt zu werden vermag, muss doch um des Heiles willen geglaubt werden“136 eine neue Kategorie ein: die salus des Menschen. Abaelard definiert nicht präzise, was er darunter versteht. Lediglich seine in der Theologia Scholarium vertretene Grundthese, die humanae summa salutis137 bestehe in Glaube, Liebe und dem Empfang der Sakramente, lässt darauf schließen, dass der Begriff Heil eine Beziehung des Menschen zu Gott bezeichnet, die durch eine zu Erfüllung und Glückseligkeit führende Intensität geprägt ist. In diesem Sinne wäre salus die umfassendere und auf die Transzendenz hin ausgerichtete Form dessen, was in seiner irdischen Ausprägung beatitudo genannt wird. Wenn um des Heiles willen (salubriter) geglaubt werden muss, so heißt dies, dass die Erlangung des Heils eine Folge des Glaubens ist. Die letztgültige, aus der Beziehung zu Gott erwachsende beatitudo des Menschen fällt also nicht in die Kompetenz der philosophischen Ethik. Während sich die eudaimonistische Moralphilosophie der Antike darum bemüht, dem Menschen den Weg zum Glück zu weisen, betont Abaelard in Anlehnung an Augustin, dass die letzte Glückseligkeit, das Heil der bei Gott wohnenden Seele, nur durch den Akt des Glaubens zu erreichen ist. Dies entspricht der augustinischen Unterscheidung, wonach das „Vaterland des Friedens“ durch die Ethik zwar „geschaut“, es aber nur durch den Glauben „ergriffen“ werden könne.138 In diesen beiden Aspekten – die spekulativen Details des immanenten göttlichen Lebens sowie das Heil des Menschen betreffend – geht der Glaube über die Erkenntnis hinaus. Der Intellekt kann das Unendliche nicht erfassen, weil er sich wesenhaft durch endliche Erkenntnis auszeichnet. Schreiter bringt dies prägnant zum Ausdruck: „Denn seine [sc. des Menschen] Geistesfähigkeiten sind ja immer noch die irdischen, daher beschränkt; wie könnten sie da das Unbeschränkte erkennen!“139 Diese These ist eine grundlegende Konstante in Abaelards Einschätzung der menschlichen Vernunft, die – wie im weiteren Fortgang der Untersuchung zu zeigen ist – keinesfalls als rationalistische, sondern laut Perkams sogar als „vernunftkritische Grundeinstellung“140 zu charakterisieren ist. Schwankend ist Abaelard jedoch bei der Frage nach der Reichweite des erkenntnishaft Einsehbaren. Dieser Bereich scheint in der Theologia Christiana, allerdings nur durch Fragen und Andeutungen,141 umfassender bestimmt zu 136

Th. Sum. 2,24 (Ed. Buytaert/Mews 122, 207), Th. Chr. 3,50 (Ed. Buytaert 214, 618). th. sch. 11 (Ed. Buytaert 404, 111f.), Th. Sch. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 318, 1f.): „Tria sunt, ut arbitror, in quibus humane salutis summa consistit, fides scilicet, caritas, et sacramenta.“ 138 Vgl. Augustinus, Confessiones VII 21,27 (Ed. Verheijen 111f., 34-42). 139 Schreiter, Peter Abälards Anschauungen, 37. 140 Perkams, Rationes necessariae, 147. Vgl. auch Deutsch, Peter Abälard, 116. 141 Vgl. Th. Chr. 2,15 (Ed. Buytaert 140, 250-256): „Quis etiam asserat nullis eorum fidem incarnationis reuelatam esse, sicut et Sibyllae, licet haec in eorum scriptis non uideatur expressa, quae neque a Iob et nonnullis prophetarum aperte praedicatur, cum et septuaginta 137

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werden als in der Theologia Summi Boni. Dabei verbleibt Abaelard innerhalb der bei den Kirchenvätern gebräuchlichen Topoi, wenn er aus den Weissagungen der Sibylle und der kreuzartigen Form des griechischen Buchstabens χ ein besonderes Vorauswissen der Philosophen bezüglich der Menschwerdung und des Leidens Christi für – vorsichtig formuliert – nicht ausgeschlossen hält. Dennoch wird der latente Versuch erkennbar, das Wissen der Philosophen so weit als möglich auszudehnen, um – wie Klitzsch feststellt – eine „Konformität zwischen Christen und Heiden gegen das Judentum“142 aufzuzeigen. Im Hintergrund steht dabei die bereits in der Theologia Summi Boni formulierte und sich durch die weiteren Redaktionen durchhaltende Annahme, dass die wesentlichen Glaubensinhalte des Christentums (Trinität im Allgemeinen und die Göttlichkeit des Wortes im Besonderen) den Juden bereits durch die Propheten und das Gesetz im Voraus angekündigt wurden, so dass ihre Ablehnung, an Jesus Christus zu glauben, für Abaelard einen schuldhaften Akt darstellt.143 Die Haltung des Judentums erscheint – im Sinne einer akkusatorischen Strategie – als noch blasphemischer, wenn diejenigen, die der göttlichen Offenbarung ferner stehen, nämlich die Heiden, in ihrem Glaubenswissen und ihrer Frömmigkeit aufgewertet und gegenüber den Juden profiliert werden, denen bereits Spuren des Trinitätsgeheimnisses im Alten Testament zugängleich seien. Trotz dieser Kritik an der jüdischen Schriftauslegung hat Abaelard – wie Heyder konstatiert – „ein ausgeprägtes Interesse an der jüdischen Exegese“144. Dieses reicht sogar so weit, dass Abaelard Juden zu Rate zieht, um dunkle Stellen des Alten Testamentes besser zu verstehen – so berichtet der Commentarius Cantabrigiensis, eine Auslegung zu den Paulusbriefen aus der Schule Abaelards.145 In der Theologia entsteht jedoch eine stark antijudaistisch gefärbte, diatribische Zuspitzung: Sogar die Völker haben ein Wissen um die Menschwerdung und das Leiden Christi, während die Nachinterpretes, legem ethnicis transferentes, omnia fere fidei arcana tacuerunt quae forte rudi populo reuelata magis scandali offensionem parerent quam aedificationem?”. In Th. Chr. 2,16 (Ed. Buytaert 140, 257-265) stellt Abaelard eine allegorische Verbindung des Kreuzes Jesu mit dem griechischen Buchstaben χ her. 142 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 266. 143 Die Schriftbeweise in Th. Sum. 1,6-1,24 (Ed. Buytaert/Mews 88, 63 – 94, 234) münden in eine zusammenfassende Drohrede gegen die Juden in Th. Sum 1,24-1,29 (Ed. Buytaert/Mews 95f., 235-293). Diese Invectio hält sich mit leichten Modifikationen in allen Redaktionsstufen der Theologia. Vgl. Th. Chr. 1,46-1,53 (Ed. Buytaert 90, 588 – 94, 707), th. sch. 94 (Ed. Buytaert 439f., 1119-1148), Th. Sch. 1,86-1,93 (Ed. Buytaert/Mews 352, 947 – 356, 1055). 144 Heyder, Auctoritas scripturae, 185. 145 Vgl. Commentarius Cantabrigiensis 4 (Ed. Landgraf 1 65): „Judei vero a philosopho sepe requisiti nullatenus dicunt se istam benedictionem posse assignare in carnali Ysaac, per quem vel cuius semen gentes potius extirpate sunt quam benedictionem susceperint.“ Zu den Dialogbemühungen in den Collationes vgl. Guth, Religionsgespräche im Mittelalter, 136149.

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fahren des Mose ihren Erlöser ablehnen. Die Andeutungen Abaelards, wonach den Philosophen auch eine rationale Erkenntnis von Menschwerdung und Leiden Jesu zueigen sein könnte, sind also vor dem Hintergrund seiner sich in der Theologia Christiana verstärkenden rhetorischen Bemühungen um eine polemische Auseinandersetzung mit dem Judentum zu sehen.146 Die grundsätzliche, an Augustinus angelehnte Verhältnisbestimmung zwischen aus dem Glauben und aus der Metaphysik resultierenden Einsichten findet sich auch in der Theologia Christiana nicht in Frage gestellt. In explizitem Verweis auf Augustinus wird behauptet, die Erkenntnisse der Platoniker erstreckten sich „nur auf das, was sich auf die Göttlichkeit des Wortes bezieht“, wohingegen sie aus ihrer eigenen Vernunftanstrengung keine Einsicht in „das Geheimnis der Inkarnation [haben], in dem gewiss die gesamte Summe des menschlichen Heiles besteht und ohne das alles übrige vergeblich geglaubt wird“147. Die Göttlichkeit der mit dem neuplatonischen Nous identifizierten zweiten trinitarischen Person ist somit als metaphysisches Prinzip für die menschliche Vernunft zugänglich, die Inkarnation des Logos hingegen, die den soteriologischen Dreh- und Angelpunkt des Glaubens bildet, bleibt den Philosophen auch nach der ihnen weitreichende Einsichten zugestehenden Theologia Christiana verborgen. Diese Verhältnisbestimmung kann durch die Gegenüberstellung zweier Interpretationstermini umschrieben werden: cognitio historialis148 versus quidditas. Die Theologie positioniert sich zu geschichtlichen Ereignissen, indem sie ihnen, allen voran der Inkarnation der zweiten trinitarischen Person, einen heilsrelevanten Charakter zugesteht. Dieser erschließt sich jedoch den Philosophen nicht, weil es ihnen um die Strukturen des Seienden – kurz: um die quidditas der Gegenstände – geht.

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Zu Abaelards Einschätzung des Judentums vgl. Abulafia, Intentio recta an erronia?, 13-30. Th. Chr. 4,159 (Ed. Buytaert 345, 2543-2548), Th. Sch. 2,183 (Ed. Buytaert/Mews 497, 2674-2679): „Vnde et superius, cum Platonicorum sententias de Verbo Dei Augustinus praesentaret, solum quod ad diuinitatem Verbi pertinet se in eis repperisse confirmauit et nihil de incarnationis mysterio, in quo totam salutis humanae summam consistere certum est, sine quo frustra cetera creduntur.” 148 Der Ausdruck geht auf Studer, La cognitio historialis di Porfirio, 51, zurück. Er wird im vorliegenden Zusammenhang verwendet, um das Proprium der Theologie gegenüber der Philosophie prägnant zu beschreiben. Eine inhaltliche Positionierung gegenüber Studers umstrittener Augustinus-Deutung ist damit nicht verbunden. Vgl. hierzu Kany, Augustins Trinitätsdenken, 163. 147

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3. Die Problematik einer „natürlichen“ Gotteserkenntnis: Das Zueinander von Erkenntnis und Offenbarung Ausgehend von den beiden epistemischen Grundvollzügen – Glauben und Erkennen – wurde das Verhältnis der auf sie reflektierenden Disziplinen – Theologie und Philosophie – hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihres Objektes in den Blick genommen. Es ist ein Kennzeichen der Philosophie, dass sie auf einer reinen Vernunftanstrengung beruht und ohne Rekurs auf eine Offenbarung auskommt, wohingegen die Theologie, die den geschichtsmächtigen Gott zu bedenken hat, auch auf die Mitteilung dieses Gottes, die dem Glauben an ihn zugrunde liegt, reflektieren muss. Insofern der Glaube – als epistemischer Akt – eine Offenbarung als wahr (das heißt als tatsächlich von Gott kommend) anerkennt, ist diese Offenbarung für die Theologie – als Reflexionsinstanz auf den Glauben – eine Quelle der Erkenntnis. Diese bleibt der Philosophie per definitionem verschlossen. Es ist jedoch anzumerken, dass Abaelard die Philosophie zwar als reine, nicht aber als bloß kreativ-spontane Vernunftwissenschaft begreift, sondern ihr – wie bei mittelalterlichen Autoren üblich149 – auch einen Autoritätsbezug beimisst. Die Vernunft ist nicht nur auf ihre eigene Spontaneität verwiesen, sondern sie findet ihre Aufgabe darin, als kanonisch angesehene Autoren zu befragen, deren Urteile nicht nur zur Kenntnis genommen werden, sondern als wahre Aussagen über einen Sachverhalt gelten. Dieses Verfahren geht, wie Ebbesen betont, auf die aristotelische Lehre von den Topoi zurück, aus denen das lateinische Mittelalter eine Theorie der loci entwickelt hat, die als sichere Erkenntnisorte gelten und bei strittigen Fragen zu konsultieren sind.150 Die Vernunftleistung, die die Philosophie methodisch auszeichnet, ist also – um eine neue Arbeitsbegrifflichkeit einzuführen – nicht nur kreativ-spontan im Sinne einer voraussetzungslosen Erklärung der Welt, sondern sie ist ebenso rezeptivinterpretierend, da sie sich um die korrekte Auslegung von Autoritäten, je nach Teilgebiet vornehmlich um Platon, Aristoteles, Porphyrios oder Boethius, bemüht. „Vieles aber tragen die Philosophen vor, an dem sie nur deshalb festhalten, weil es durch die Autorität der Philosophen bestätigt wird, nicht aus irgendeinem Grund, der sichtbar ist.“151 Trotz des Mangels an Evidenz weist Abaelard die 149

Vgl. Libera, Der Universalienstreit, 32f. De Libera skizziert, dass die Vielseitigkeit der Positionen, die im Universalienstreit vertreten wurden, letztlich auf einer kontroversen Interpretation der Isagoge des Porphyrios beruht. 150 Vgl. Ebbesen, The Theory of Loci in Antiquity and the Middle Ages, 19-36. 151 Th. Sum. 2,116 (Ed. Buytaert/Mews 156, 1111-1113), Th. Chr. 3,185 (Ed. Buytaert 264, 2276-2279): „Multa autem tradunt philosophi, que eo solummodo tenentur quia auctoritate philosophorum confirmantur, non ratione aliqua que appareat.“

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Autoritätsargumente nicht als falsch zurück. Er hat jedoch – wie in näherem Rekurs auf den Prolog von Sic et Non noch zu zeigen ist – keinen naiven Autoritätsglauben. Sicheres Wissen, also eine Erkenntnis bei gleichzeitiger Gewissheit, dass diese auch wahr ist, kommt für ihn durch die rechte Deutung der dafür zuständigen Autorität zu Stande, wobei jedoch explizit mit Fehlschlüssen des Interpretierenden zu rechnen ist. Falsche Aussagen sind demzufolge weniger ein Irrtum des als kanonisch geltenden Autors, sondern vielmehr eine Fehldeutung desjenigen Philosophen, der ihn befragt. Da Abaelard Platons Dialog Timaios vor allem als involucrum versteht – darauf wird an anderer Stelle näher einzugehen sein – sieht er die Notwendigkeit einer Übersetzung: „Es gefällt mir gesunde Vernunft, aber ich suche darüber hinaus katholische Begrifflichkeiten“152. Diese propositionale Entfaltung der sana intelligentia durch verba catholica ist wiederum irrtumsanfällig, da eine rechtgläubige Terminologie verfehlt werden kann. Zudem lassen sich die spontan-kreative und die rezeptiv-interpretierende Tätigkeit des philosophisch und theologisch fragenden Menschen zwar unterscheiden, aber nicht trennen. Jede Interpretation erfolgt durch die spontane Auslegung des menschlichen Geistes, der das Vorgegebene selektiv ordnet und in sein eigenes Weltverständnis einbindet. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bezeichnet Grabmann die methodischen Prinzipien von „auctoritas und ratio“ als die „beiden treibenden Kräfte des Scholastizismus“153. Es gilt festzuhalten: Der Theologe wie auch der Philosoph haben eine interpretative Leistung zu erbringen; dies ist eine methodische Gemeinsamkeit. Die Differenz besteht jedoch in dem auszulegenden Objekt: Der Theologe hat das Zeugnis einer als gültig anerkannten Offenbarung, allen voran die Heilige Schrift, zu deuten,154 wohingegen der Philosoph sich auf bestimmte, als kanonisch anerkannte Autoritäten, deren Aussagen er zu erforschen hat, stützen kann.155 Woher aber bezieht der Philosoph seine Erkenntnisse über Gott, den er bei seiner Deutung der Wirklichkeit berücksichtigen muss? Damit verlagert sich die Untersuchungseben von den positiven Quellen der Erkenntnis, also den schriftlich fixierten Fundorten, zu dem Grund der Erkenntnis. Lehrt Abaelard eine Theorie der cognitio naturalis?156 Um dies zu klären ist der Begriff der ‚natürlichen Gotteserkenntnis’ in seine drei Bestandteile aufzugliedern, die den allgemeinen Akt, seinen Grund und sein

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Th. Sum. 3,33 (Ed. Buytaert/Mews 171, 420f.), Th. Chr. 4,41 (Ed. Buytaert 283, 606f.): „[…] placet michi sana intelligentia, sed requiro etiam uerba catholica”. 153 Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode II, 55. 154 Vgl. Curkpatrick, Authority of the Text, 135-152. 155 Vgl. Goldhorn, De summis principiis theologiae Abaelardeae, 54. 156 Zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einer cognitio dei naturalis vgl. Hoenen, Metaphysik und Intellektlehre, 405-413. Mit Blick auf Abaelard vgl. Simonis, Trinität und Vernunft, 38-46.

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Objekt angeben. Von einer natürlichen Gotteserkenntnis ist genau dann die Rede, wenn (1) ein Erkenntnisakt (2) auf der Grundlage der Natur (auch dieser Begriff weist wiederum Binnendifferenzierungen auf) vonstatten geht, und (3) Gott zu seinem Gegenstand hat. Der unter (2) genannte Aspekt bezeichnet den Grund des Erkenntnisvorgangs (1); (3) benennt sein Objekt. Das Spezifikum der natürlichen Gotteserkenntnis, das diese etwa von offenbarungsgestützten Einsichten unterscheidet, liegt in (2) begründet: Von einer „natürlichen“ Gotteserkenntnis wird – in Anlehnung an die einflussreiche religionsphilosophisch geprägte Definition Eschenmayers157 – dann gesprochen, wenn wahre Sätze über das Wesen Gottes nicht von diesem selbst offenbart und aufgrund dieser Offenbarung geglaubt, sondern durch den Menschen aufgrund seiner eigenen Vernunftanstrengung eingesehen werden; natura und revelatio stehen sich dabei gegenüber.158 Mit Blick auf die theologische Erkenntnislehre Abaelards soll folgende These vertreten werden: Abaelard schwankt bei der Frage, ob die natura – dieser Begriff ist noch zu spezifizieren – als Grund der Gotteserkenntnis ausreicht, oder ob (1) zur natura das Moment der revelatio hinzutreten muss, beziehungsweise (2) die naturhafte Erkenntnis Gottes durch die menschliche Vernunft selbst einen Offenbarungsakt darstellt und somit die cognitio naturalis durch die revelatio hintergehbar und von ihr her zu verstehen wäre. Zur Erläuterung dieser These ist zunächst der Terminus ‚Natur’ sowie – davon abgeleitet – die Bedeutung der ‚natürlichen Erkenntnis’ zu klären. Auf Gott angewendet umfasst der Begriff der cognitio naturalis seiner Extension nach den Monotheismus159 auf der Ebene der theoretischen und das natürliche Sittengesetz auf dem Gebiet der praktischen Vernunft160 – dies wird dem Philosophen in den Collationes161 und den Heiden im Römerbriefkommentar162 zuerkannt. Inwiefern

157

Vgl. Eschenmayer, Religionsphilosophie I, 4, wo die natürliche Gotteserkenntnis als Bemühung definiert wird, „in welcher die reine Vernunfterkenntniß göttliche Wahrheiten noch ihrer Prüfung zu unterwerfen sucht. Wenn gleich auch hier schon der Glaube seine Keime hin verpflanzt, so will doch die Vernunft ihre Klarheit durch Begriffe darin rechtfertigen und das Wissen übernimmt die stärkere Rolle.“ 158 Vgl. Birkner, Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie, 279-295. 159 Vgl. Seit, Dilectio consummatio legis, 57f. 160 Zur Bedeutung des Naturrechts in den Collationes vgl. Kurdzialek, Beurteilung der Philosophie im ‚Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum’, 87. 161 Vgl. Coll. 1,1 (Ed. Marenbon/Orlandi 2): „Vnius Dei quidem cultores esse nos omnes partiter profitemur, diuersa tamen fide et uita ipsi famulantes. Vnus quippe nostrum, gentilis ex his quos philosophos appellant, naturali lege contentus est“. Zur Deutung vgl. Westermann, Wahrheitssuche im Streitgespräch, 174-177.

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sich für Abaelard der allgemeine Monotheismus in Form einer speziellen Trinitätslehre konkretisiert, ist später zu erörtern. Hier geht es zunächst nur um den Begriff des ‚Natürlichen’. Er bezieht sich nicht nur auf die natura des Menschen und die ihr gegebene Erkenntnisfähigkeit, sondern auch auf die natura rerum, die Beschaffenheit der Dinge, deren Erfassung das Ziel jeder Wissenschaft ist163 und bei deren Betrachtung sich – so Abaelard – die Frage nach Gott ergibt. Die Schöpfung verweist auf ihren Urheber („per uisibilia sua opera“164) und offenbart ihn „per effecta suorum operum“165. Demnach lassen sich – je nachdem, worauf sich die Rede von natura bezieht166 – zwei Stämme einer ‚natürlichen’ Gotteserkenntnis im Sinne Abaelards unterscheiden: (1) Eine apriorische, also rein intelligible, vor aller sinnlichen Erfahrung liegende Erkenntnis Gottes ist dann gegeben, wenn die Menschen „das, was zur Gottheit gehört, durch die Vernunft erfassen [perceperunt].“167 Die Natur des Menschen, seine ratio als Teil der natürlichen Ausstattung, ist der Erkenntnisgrund dieses Vorgangs. (2) Eine aposteriorische, sich auf die Sinneswahrnehmung stützende Gotteserkenntnis liegt dann vor, wenn Gott „durch die Wirkungen der Werke in der Welt, von denen er will, dass sie aufs allerbeste geschehen und geplant werden, erkannt wird [intelligitur]“168. Der Mensch stützt sich bei diesem Vorgang auf die Erfahrung der Außenwelt, wenngleich eine spontan-intelligible Leistung notwendig ist, um die eigene Sinneswahrnehmung auf Gott als den Weltschöpfer hin auszulegen. Die Natur der Dinge ist dabei der Erkenntnisgrund, weil von ihrem Wesen her ein Rückschluss auf den Schöpfer gezogen wird. Vertieft man die Analyse des Begriffs der ‚natürlichen’ Gotteserkenntnis auf seine epistemisch-theologische Reichweite, so lassen sich in ihm verschiedene Stufen unterscheiden: Er kann sich erstens auf die allgemeine Einsicht, dass es eine unbestimmte Zahl von Göttern gibt, zweitens eine monotheistische Gottes162

Vgl. Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 44, 107-109): „[…] si legem scriptam non acceperant, naturalem habebant qua et Deum cognoscere et mala a bonis possent discernere“. Vgl. auch Jolivet, Doctrines et figures de philosophes chez Abélard, 106. 163 Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15f.): „Est enim scientia veritatis rerum comprehensio, cuius species est sapientia.” 164 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 67, 703). 165 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 68, 715f.). 166 Klärungen zu Abaelards Verwendung des Begriffs natura im Sinne der belebten Schöpfung finden sich bei Jolivet, Éléments du concept de nature, 297-304. Vgl. auch Gregory, Considérations sur ratio et natura, 580. 167 Th. Sum. 3,100 (Ed. Buytaert/Mews 201, 1344-1347): „’Quod notum est dei manifestum est illis’ (Rom 1,19), ac si diceret: quod ad diuinitatem pertinet, ratione perceperunt, quia hec de deo naturaliter ratio unumquemque edocet.“ Vgl. Th. Chr. 4,159 (Ed. Buytaert 345, 25402543), Th. Sch. 2,183 (Ed. Buytaert/Mews 497, 2672-2674). 168 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 68, 744f.): „Intelligitur per effecta mundanorum operum quae tam optime fieri uoluit ac disponi.”

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lehre, oder drittens auf die präzise Erkenntnis trinitarischer Differenzierungen innerhalb des einen Gottes beziehen. Die Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Aspekt spiegelt sich im Bedeutungsunterschied zwischen „Heiden“ (gentes) und „Philosophen“ (philosophi). Sie wird in Abaelards Werken nicht konsequent durchgehalten. Im Römerbriefkommentar definiert er, ganz dem paulinischen Sprachduktus folgend: „Einen Griechen nennt er [der Apostel] jeden Heiden, der nach Art der Philosophen, die Griechen waren, mit Vernunft ausgestattet, das heißt durch das natürliche Gesetz bestens unterrichtet ist.“169 In diesem Zitat sind Heiden und Philosophen weitgehend deckungsgleich, weil letztere als Explanans für erstere herangezogen werden. In den Fassungen seiner Theologia ist Abaelard präziser: Hier wird unter Verweis auf Cicero zwischen einem polytheistischen Heidentum, also den Anhängern antiker paganer Kulte auf der einen, und den monotheistischen Philosophen auf der anderen Seite unterschieden: „Dass die Philosophen nur einen einzigen Gott erkannten, bestätigt Tullius, einer von ihnen, wenn er sagt: ‚Diejenigen, die Mühe auf die Philosophie verwenden, glauben nicht, dass es Götter gibt’, so als ob er offen sagen würde: vielmehr einen einzigen 170 Gott, nicht mehrere Götter.“

Dieser Aussage zu Folge sind Heiden und Philosophen keine deckungsgleichen Größen: ‚Heiden’ ist der Allgemeinbegriff für diejenigen, die weder Juden noch Christen sind, aus denen die Philosophen aber als Teilmenge heraustreten.171 Letztere unterscheiden sich nämlich von den übrigen Heiden durch ihr monotheistisches Bekenntnis, das sie wiederum mit Juden und Christen gemeinsam haben und das sie „im Glauben bei weitem vom Volk unterschied“, dessen Frömmigkeit Abaelard abfällig als religio stultorum172 bezeichnet. Dennoch sind die Heiden nicht mit Häretikern gleichzusetzen, wie in der Theologia Christiana 169

Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 82, 211-214): „Iudaeum uocat omnem scripta lege edoctum, Graecum omnem gentilium more philosophorum qui Graeci fuerunt, ratione praeditum, id est naturali lege optime instructum.“ 170 Th. Sum. 1,31 (Ed. Buytaert/Mews 97, 298-301): „Quos quidem unum tantummodo deum cognoscere unus ex ipsis Tullius perhibet dicens: ‚Eos qui philosophie dant operam, non arbitrari deos esse’, ac si aperte dicat: immo deum unum, non deos plures.” Vgl. auch Th. Chr. 1,57 (Ed. Buytaert 94f., 734-738), th. sch. 104 (Ed. Buytaert 443, 1245-1248), Th. Sch. 1,97 (Ed. Buytaert/Mews 356f., 1080-1083). Das Zitat bezieht sich auf Cicero, De Inventione I 29,46 (Ed. Stroebel 39b, 11f.). 171 Als Beleg für das Teilmengenverhältnis zwischen Heiden und Philosophen lässt sich auch die Unterscheidung zwischen ‚vita philosoporum’ und ‚vita ceterorum gentilium’ anführen. Diese findet sich allerdings nur in Th. Sum. 1,69 (Ed. Buytaert/Mews 112, 729f.). 172 Vgl. Th. Sch. 1,133 (Ed. Buytaert/Mews 363, 1259-1264): „Qui cum manifeste cum populo exteriorem religionem templis exhiberent, - stultorum scilicet quorum infinitus est numerus, - multitudinem metuentes, priuatim tamen et quasi sapientiam loquentes inter perfectos, ipso etiam nonnumquam populo audiente, sectam fidei contrariam profitebantur atque defendebant.”

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betont wird. Häretiker sind solche, die um die Wahrheit des christlichen Glaubens wissen, aber dennoch willentlich in die Irre gehen, indem sie einzelne Glaubenssätze (nicht jedoch das gesamte Glaubensgut) leugnen und sich dadurch auf moralischer Ebene schuldig machen.173 Abaelard galt – wie bei den Ausführungen zum Forschungsstand skizziert wurde – in Anlehnung an Rémusat lange Zeit als exponierter Vertreter einer rationalistischen Vernunftkonzeption,174 da er das von Gott Erkennbare nicht bloß auf dessen Existenz beschränkt zu haben scheint, sondern an einigen Stellen auch das dreifaltige Wesen in den positiven Einzugsbereich der menschlichen Vernunft einordnet. Bereits in der Inhaltsübersicht der ersten beiden Fassungen der Theologia wird behauptet, „dass alle Menschen natürlicherweise [naturaliter] einen Glauben an die Trinität haben“175. Ist damit nicht schon der Beweis für Abaelards Lehre einer natürlichen Gotteserkenntnis erbracht? Dies kann schon deshalb nicht der Fall sein, weil sich in dem zitierten Satz keine Rede von cognitio, intelligentia oder ähnlichen Begriffen findet; Abaelard spricht – genauer gesagt – auch nicht von einer fides naturalis, sondern nur von einer naturaliter vorhandenen fides. Der Naturbegriff erscheint hier in adverbialer Gestalt. Verbindet man diese mit dem bereits skizzierten Glaubensbegriff Abaelards,176 so könnte man formulieren: Alle Menschen haben natürlicherweise eine existimatio, die sich auf die Trinität richtet. Es kann sich also per definitionem nicht um eine sichere Erkenntnis im strengen Sinne handeln, da diese sich auf die WasBestimmtheit von der Vernunft zugänglichen Dingen richten müsste; der Glaube zielt hingegen – in der Definition Abaelards – auf non-apparentia. Vor dem Hintergrund dieser Terminologie ist unter einer naturaliter vorhandenen fides also eine implizite, die Trinität mit bejahende Glaubenshaltung zu verstehen, die sich jenseits einer explizit-intelligiblen Erkenntnis bewegt. Dennoch kennt Abaelard nicht nur einen ‚natürlich’ vorhandenen Glauben, sondern auch eine Art ‚natürliche’ Gotteserkenntnis, die dann vorliege, wenn „die Rechenschaft der Philosophie selbst zur Erkenntnis des einen Gottes führt.“177 173

Vgl. Th. Chr. 2,10 (Ed. Buytaert 137, 177f.): „Quis etiam haereticos longe deteriores esse philosophis et quibuslibet gentibus ignoret?”. Vgl. auch Th. Sch. 2,10 (Ed. Buytaert/Mews 411, 166-168). 174 Vgl. Rémusat, Abélard II, 550. 175 Th. Sum., Libr. cap. 3 (Ed. Buytaert/Mews 85, 17f.): Liber continet „quod fidem trinitatis omnes homines naturaliter habeant.” In der Theologia Christiana findet sich der gleiche Satz, allerdings unter anderen Gliederungsvorzeichen: Er dient als Inhaltsbeschreibung für das vierte Buch. Vgl. Th. Chr., Cap. libr. 4 (Ed. Buytaert 71, 30f.). 176 Vgl. th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.): „Est quippe fides existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“. 177 Th. Sum. 1,30 (Ed. Buytaert/Mews 97, 295-297): „Nunc autem post testimonia prophetarum de fide sancte trinitatis, libet etiam testimonia philosophorum supponere, quos ad unius dei intelligentiam ipsa philosophie ratio perduxit.” Während nach dieser Stelle in der Theologia

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Hierbei kommen den Aussagen des Paulus in Rom 1,19f. eine entscheidende Rolle zu: „Quia quod notum est dei, manifestum est (in) illis; deus enim illis manifestavit.“178 Der Vers zerfällt in zwei Teile, die – isoliert betrachtet – unterschiedliche Aussagen transportieren. Der erste Teilsatz zielt darauf ab, dass jenes, was von Gott erkennbar, den Heiden auch tatsächlich bekannt ist. Diese natürliche Kenntnis (notitia) wird jedoch von der revelatio her konstruiert, so dass von einer Sonderform der Offenbarung gesprochen werden kann: Gott ist das Subjekt des zweiten Teilsatzes; er selbst zeigt den Heiden das, was potentiell von ihm erkennbar ist auch actualiter. Jolivet stellt den ambivalenten Gebrauch, den Abaelard von der paulinischen Aussage macht, deutlich heraus: En „outre, ce texte implique, pour Abélard, tantôt une connaissance purement rationelle, tantôt une assistance divine spéciale“179. Der letztgenannte Aspekt nimmt innerhalb des theologischen Werkes Abaelards eine Vorrangstellung ein. Der menschliche Geist sei ohne eine Intermediation Gottes nicht in der Lage, Gott als solchen auch nur bruchstückhaft zu erkennen und von ihm zu sprechen. „Wenn Gott sich nämlich nicht selbst offenbart, wird auch unsere Natur nicht ausreichen, um ihn zu sehen“180. Dennoch ist die von Macdonald vorgebrachte Wertung, derzufolge Abaelard „der menschlichen Vernunft misstraute“181, zu pauschal. Im Römerbriefkommentar geht Abaelard explizit auf den Zusammenhang zwischen der Vernunftbegabung des Menschen auf der einen und der Gottesbezogenheit der Vernunft auf der anderen Seite ein. Gott habe sich den Heiden „von sich aus durch die Vernunft, das heißt durch das natürliche Gesetz und durch seine sichtbaren Werke, kundgetan.“182 Der Intellekt des Menschen ist also von Gott gegeben und in seiner Verwiesenheit auf die sinnliche Welt auch auf Gott als deren Summi Boni zunächst ein Cicerozitat folgt, wird in Th. Chr. 1,54 (Ed. Buytaert 94, 708-713) direkt im Anschluss Paulus mit Röm 1,20 zitiert. Dies entspricht der Intention Abaelards, in der zweiten Fassung seines theologischen Projekts stärker auf genuin christliche Autoritäten, also die Schrift oder die Kirchenväter, zu rekurrieren. Sachlich gesehen hat sich in der Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis jedoch keine Verschiebung ergeben. Die Modifikationen wurden auch in th. sch. 101 (Ed. Buytaert 442, 1223f.) sowie in Th. Sch. 1,94 (Ed. Buytaert/Mews 356, 1059f.) beibehalten. 178 Auf die Hinzufügung und die interpretatorische Relevanz des „in“ in der Th. Chr. ist an anderer Stelle einzugehen. Vgl. hierzu Fidora, Die Verse des Römerbrief, 81f. 179 Jolivet, Arts du langage, 256. 180 Th. Sum. 2,20 (Ed. Buytaert/Mews 121, 179f.), Th. Chr. 3,36 (Ed. Buytaert 209, 439f.): „Nisi enim seipse deus manifestet, nec tunc natura nostra eum uidere sufficiet”. 181 Macdonald, Authority and Reason in the Early Middle Ages, 126: „Like Kant and Barth, in contrast with Hegel, Abelard distrusted human reason, and exposing its weakness by its own weapons, laid stress on revelation.“ 182 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 67, 700-704): „Quam quidem excusationem manifeste retundit, ostendens etiam sine scripto a gentibus per naturalem legem Deum antea notum fuisse, ipso eis de se ipso per rationem quam dederat, hoc est legem naturalem, ac per uisibilia sua opera notitiam conferente.“

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Ursprung und seinen eigenen Erkenntnisgrund ausgerichtet. Dabei bleibt Gott der Initiator des auf ihn gerichteten menschlichen Erkenntnisaktes. Er ruht im Verborgenen („in latebris“) und wird nur von denjenigen erkannt, denen er sich offenbart; diese Offenbarung hat Gott selbst zu ihrem Wirkgrund, ist aber nicht ohne Anstrengung des Menschen zu erreichen, der sich Gott unter Schwierigkeiten „erarbeiten“ muss und sich selbst dadurch ein Verdienst (meritum) erwirbt.183 Langs neuscholastisch geprägte Einschätzung, Abaelard gefährde „bedenklich die Verdienstlichkeit und Übernatürlichkeit des Glaubensaktes“184 erscheint dabei als zu kurz gegriffen: Den beschriebenen Erkenntnisprozess als rein ‚natürlichen’ zu bezeichnen ist insofern problematisch, als er trotz menschlicher Beteiligung keine genuine Eigenleistung des Subjekts darstellt. Stattdessen soll im Folgenden von ‚vermittelter’ Gotteserkenntnis gesprochen werden, mittels derer sich Gott manifestiert. Dieser Interpretationsbegriff dient dazu, (1) die genannten Einsichten gegen eine „kanonisch“ ergangene und für Christen wie auch Juden verbindliche Offenbarung, wie sie sich etwa im alttestamentlichen Gesetz oder bei den Propheten findet, abzugrenzen, (2) sie aber auch nicht in den alleinigen Einzugsbereich der menschlichen Vernunft einzuordnen. Die sich jenseits der kanonischen Offenbarung der Heiligen Schrift befindende Gotteserkenntnis, der Abaelard zufolge einige Philosophen teilhaftig geworden sind, hat ihre epistemische Wurzel nicht in einer Glaubenshaltung, sondern in der Vernunft des Menschen.185 Es ist aber – so die Position der Theologia Summa Boni – letztlich ein Vermittlungsakt Gottes, nämlich die manifestatio,186 die der Vernunft die Kenntnis des Göttlichen zuteilt. In der Theologia Christiana spricht Abaelard sogar mehrfach davon, dass den Philosophen die Trinität „offenbart“ worden sei (revelare).187 Simonis interpretiert diese Aussagen Abaelards zu unpräzise, wenn er lediglich behauptet, das „göttliche Schenken und Offenbaren schließ[e] das rationale Erkennen der Philosophen nicht aus“188. Eine solche These verkennt die innere Spannung, die sich zwischen Abaelards Erkenntnis183

Vgl. Th. Sum. 1,39 (Ed. Buytaert/Mews 100, 373-376): „Quasi enim in latebris dominus quiescere gaudet ut, quo magis se occultat, gratior fit illis quibus se manifestat, et quo magis ex difficultate scripture laboratur, meritum lectoris augeatur.” Vgl. Th. Chr. 1,100 (Ed. Buytaert 113, 1294-1297) sowie Th. Sch. 1,160 (Ed. Buytaert/Mews 384, 1856-1859) mit einer leichten Modifikation zu Satzanfang. 184 Lang, Die Wege der Glaubensbegründung, 3. 185 Vgl. Jolivet, Doctrines et figures de philosophes, 106. 186 Beobachtungen zur unterschiedlichen Verwendung der Begriffe „manifestatio“ und „illuminatio“ finden sich bei Klitzsch, Die ‚Theologien’, 37-39. 260-262. 416f. 187 Vgl. Th. Chr., cap. libr. 2. 1,121. 2,15. 2,43 (Ed. Buytaert 71, 15f. 123, 1623f. 139, 244f. 149, 601f.). 188 Simonis, Trinität und Vernunft, 44.

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begriff auf der einen und seiner Offenbarungstheologie auf der anderen Seite eröffnet. Kann es im theologischen Bereich überhaupt eine eigenständige Erkenntnistheorie, die nicht an ein revelatorisches Moment zurück gekoppelt ist, geben? Perkams stellt in diesem Zusammenhang fest, „dass Abaelard mit zwei unterschiedlichen Offenbarungsbegriffen arbeitet, obwohl er diesen Unterscheid nirgendwo explizit diskutiert“189. Es gibt auf der einen Seite die biblische, kanonische Offenbarung, die das mitteilt, was die Vernunft grundsätzlich nicht einsehen kann, es besteht auf der anderen Seite aber auch die Einsicht der bewährten Philosophen in das Wesen Gottes, die nicht auf deren eigene spontane Verstandestätigkeit zurückzuführen ist, sondern auf einen mediatorischen Akt Gottes, den Abaelard ebenfalls als Offenbarung bezeichnet, ohne ihn terminologisch von der biblisch ergangenen revelatio zu unterscheiden. Hinzu kommt der Umstand, dass ein möglicher Komplementärbegriff zu revelatio, nämlich die ratio, von Abaelard nicht präzise definiert wird.190 Es lässt sich also, um einen terminologischen Vorschlag Gilsons aus anderem Kontext aufzugreifen, nicht eindeutig feststellen, ob Abaelard von einer „primacy of faith“ oder einer „primacy of reason“ ausgeht, weshalb auch schwer zu sagen ist, ob eine „harmony of reason and revelation“191 besteht. Die Quellensammlung Landgrafs zur „Lehre von der Gotteserkenntnis in der Frühscholastik“ zeigt jedoch, dass diese konzeptionelle Uneinheitlichkeit – auch für Abaelards Zeitgenossen – keine Seltenheit darstellt, sondern ein häufig anzutreffendes Phänomen ist.192 Um die verschiedenen Zugangsweisen Abaelards zum Problem der erkenntnis- oder offenbarungsgestützten Gotteserkenntnis zu ordnen, ist es gerechtfertigt, in Bezug auf die der Vernunft zugänglichen Eigenschaften Gottes von einer ‚vermittelten’ statt von einer ‚natürlichen’ Gotteserkenntnis zu sprechen. Diese Vermittlung sieht Abaelard jedoch nicht als defizienten Modus der Kognition an; sie ist vielmehr protologisch verortet. Auch im paradiesischen Urzustand habe sich, so vermutet Abaelard zurückhaltend, der unsichtbare Gott nicht unmittelbar, sondern in Form einer sichtbaren, aber sein Wesen nicht erschöpfenden species193 offenbart.194 Es ist also nötig, den Begriff der ‚ver-

189

Perkams, Theologia Scholarium, 17. Ähnlich ist auch die Einschätzung von Heyder, Auctoritas scripturae, 244: „An keiner Stelle des Abaelardschen Oeuvres erfolgt eine systematische Darstellung von Offenbarung und Inspiration.“ 190 Vgl. Deutsch, Peter Abälard, 121: „Der Begriff, den Abälard mit dem Worte ratio verbindet, ist ein sehr weiter.“ 191 Gilson, Reason and Revelation in the Middle Ages, 3. 37. 67. 192 Vgl. Landgraf, Zur Lehre von der Gotteserkenntnis in der Frühscholastik, 261-288. 193 Der species-Begriff wird hier in seiner epistemologischen Bedeutung verwendet, derzufolge er einen sinnlichen (species sensibilis) oder intelligiblen Gehalt (species intelligibilis) bezeichnet. Eine klassifikatorische Deutung als Unterbegriff zu genus bietet sich in diesem Kontext nicht an. Vgl. Decorte, Art. Intentio(n), 464.

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mittelten’ Gotteserkenntnis, der den Unschärfen des Konzepts einer cognitio naturalis entkommt, aber auch kein Produkt der fides revelata ist, näherhin als eine indirekte Offenbarung zu charakterisieren, die nur als diffuse, unbemerkte Form einer athematischen und fragmentarischen Kenntnisgabe gedacht werden kann, weshalb sie – anders als die kanonischen Schriften, die Zeugnis der biblischen Offenbarung sind – keinerlei Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt.195 Als Arbeitsbegrifflichkeit soll die ‚vermittelte’ Kognition, durch die Gott dem Menschen von sich selbst Kenntnis gibt, weiter differenziert werden: (1) Es gibt eine ‚vermittelte Erkenntnis zweiter Ordnung’: Darunter wird die Einwirkung Gottes auf die nach ihm forschende menschliche Vernunft verstanden, so dass sie in die Lage versetzt wird, ihn (bruchstückhaft) zu erkennen. In der Theologia Christiana wird dieser Vorgang ausdrücklich als revelatio im Sinne einer punktuellen Erleuchtung gedeutet.196 Betzendörfer beschreibt den Prozess als „interna inspiratio Gottes“197. Abaelard klärt nicht, wie dieser Vorgang epistemisch verläuft, so dass es in Anlehnung an Deutsch bei der allgemein gehaltenen Feststellung bleiben muss, die Offenbarung habe die Vernunft „nicht suspendiert, sondern gesteigert, erleuchtet, erhöht“198. Ein von Sikes vermuteter Rückgriff auf die stoische Lehre des lógos spermatikós und deren Rezeption durch Justin den Märtyrer lässt sich anhand der Primärquellen nicht stichhaltig belegen.199 (2) An wenigen Stellen spricht Abaelard jedoch auch ein Phänomen an, das hier als ‚vermittelte Erkenntnis erster Ordnung’ verstanden wird: Gott zeige sich nicht nur dem schon gegebenen und nach ihm fragenden Intellekt, sondern stelle 194

Vgl. Th. Chr. 5,2 (Ed. Buytaert 347, 22-24): „Et fortassis ita primo factum est, ut in aliqua scilicet uisibili specie, inuisibilis creator ipse homini se reuelaret.“ Th. Sch. 3,2 (Ed. Buytaert/Mews 499, 20-22). 195 Aus zeitgenössisch-theologischer Perspektive ist darauf hinzuweisen, dass Pannenberg die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Offenbarung in die dogmatische Erkenntnislehre der Gegenwart eingebracht hat. Er interpretiert die biblische Offenbarung als eine „indirekte“ Form der Selbsterschließung des geschichtlich handelnden Gottes. In unserem Zusammenhang geht es jedoch auch darum, die vorbegriffliche Gotteserkenntnis einiger Philosophen als „indirekt“ zu charakterisieren, insofern sie ihren Geltungsgrund nicht in „direkten“ Theophanien, sondern in der interpretativ tätigen Verstandesleistung des Menschen findet. Vgl. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, 91. 196 Vgl. Th. Chr. 2,15 (Ed. Buytaert 139, 242-245): „Quomodo enim infidelitati ac damnationi eos omnes deputauerimus, quibus, Apostolo quoque attestante, Deus ipse fidei suae arcana ac profunda Trinitatis mysteria reuelauit“. 197 Betzendörfer, Glauben und Wissen, 47. 198 Deutsch, Peter Abälard, 127. 199 Vgl. Sikes, Peter Abailard, 73: „Possibly, Abailard may have coupled the Stoic idea of the lógos spermatikós with the jus naturale of the Roman lawyer, and, like Justin Martyr, have accounted for the Trinitarian beliefs of pre-Christian thinkers by the presence and operation in man of this innate principle of rationality.“

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diesem auch die methodische Grundausstattung zur Verfügung, durch die er auf das göttliche Wesen reflektieren könne. In der wohl noch vor der Theologia Summi Boni entstandenen Dialectica200 behauptet Abaelard, das Beherrschen des Instrumentariums der Logik beruhe weniger auf dem Erlernen als auf einer angeborenen Begabung (ingenium), die als Ergebnis einer gnadenhaft ergangenen göttlichen Offenbarung verstanden wird und es deshalb dem Menschen ermöglicht, korrekte Prädikationen vorzunehmen.201 Offen bleibt hierbei die Frage Heyders, ob „die Inhalte und Methoden einer scientia oder ars noch allgemein kommunizierbar [sind], wenn sie sich einem Offenbarungsgeschehen verdankt“202. Für den vorliegenden Zusammenhang gilt festzuhalten: Die in der Dialectica vertretene Deutung der Vernunfteinsicht als eine dauerhafte, von Gott gewährte Befähigung der Vernunft, setzt früher ein als die oben beschriebene ‚vermittelte Erkenntnis zweiter Ordnung’, die eher als momenthafte, punktuelle Einsicht verstanden wird. Aus diesem Grund wird die in der Dialectica erwähnte epistemologische Bedeutung von revelare – im Unterschied zu den Ausführungen der Theologia Christiana – als ‚vermittelte Erkenntnis erster Ordnung’ verstanden, da sie nicht einer bereits vorhandenen Vernunftanstrengung des Menschen entgegenkommt (‚zweiter Ordnung’), sondern die vernunftgemäße Begabung, das ingenium, zu allererst konstituiert. Kurzum: Der vielschichtige und uneinheitliche Offenbarungsbegriff, der sich in den Werken Abaelards findet, lässt sich mehrfach differenzieren. Auf einer ersten Ebene ist die kanonisch-verbindliche revelatio der Schrift von einer indirektvermittelten Offenbarung, die sich an die Philosophen richtet, zu unterscheiden. Die letztgenannte Form der aktiven Kundgabe Gottes lässt sich wiederum – je nach dem, an welcher Stelle die Intermediation ansetzt – in eine erste und eine zweite Ordnung untergliedern. Die vermittelte Kundgabe erster Ordnung bezeichnet die gottgegebene Vernunftaussatattung des Menschen, die es ermöglicht, nach dem Schöpfer zu fragen. Die vermittelte Erkenntnis zweiter Ordnung charakterisiert den intermediatorischen Akt, durch den Gott den bereits gegebenen und nach ihm forschenden Intellekt erleuchtet. Dabei ist jedoch zu betonen, dass es sich bei der skizzierten Lösung um den Versuch einer terminologisch präzisen Differenzierung und dadurch auch einer konsistenten Zusammenführung verschiedener, nicht spannungsfrei nebeneinander stehender Gedankengänge Abaelards handelt,203 die nicht vorschnell durch die hermeneutische Annahme von „fließenden Übergänge[n] in der empirischen 200

In der Datierungsfrage wird den Hypothesen von Mews, On dating the works, 78-89. 130, gefolgt. 201 Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 470, 27f.): „At vero perpauci sunt quibus huius scientie secretum, immo sapientie thesaurum, divina revelare gratia dignetur“. 202 Heyder, Auctoritas scripturae, 217. 203 Vgl. Mews, Philosophy and Theology, 172: „Abelard never composed a systematic synthesis of his teaching in the manner of Hugh of St-Victor.“

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Grenzerfahrung von ratio naturalis und intellectus fidei“204 harmonisiert werden dürfen. Von dem durch Reiners diagnostizierten „Konkordanzstreben“ Abaelards, der sich um „ein einheitliches und mit Konsequenz in geistreicher Weise durchgeführtes System“205 bemühe, kann bei der Frage nach der natürlichen Erkennbarkeit Gottes jedenfalls keine Rede sein. Wie ist nun ein indirektrevelatorischer, intramental stattfindender Erkenntnisakt mit Gott als epistemischem Grund präzise zu beschreiben?

4. Gotteserkenntnis durch Erleuchtung: Adaptionen der augustinischen Illuminationslehre Abaelard übernimmt – in Anlehnung an Confessiones VII 9 – nicht nicht nur Augustins Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Glaube,206 sondern macht sich bei der Frage nach dem Erkenntnisgrund auch die Illuminationslehre, wie Augustinus sie in De Magistro entwickelt, zueigen. Dies blieb – bis auf eher allgemein gehaltene Mutmaßungen über den Einfluss Augustins207 – in der Sekundärliteratur fast unbeachtet. Deutsch spricht zwar davon, dass jedem Erkenntnisakt eine „innere Einwirkung“208 Gottes auf den Menschen zugrunde liege, beschreibt die genauere Art dieser Einwirkung jedoch nicht. Gregory betont ebenfalls die Bedeutung, die die Vermittlertätigkeit Gottes in Abaelards Theorie der Erkenntnis einnimmt; er fasst jedoch die Reichweite der illuminativen Tätigkeit Gottes zu weit, wenn er behauptet, l’„aide de Dieu est donc nécessaire à tout discours philosophique qui prétend à la vérité“209. Demgegenüber soll hier folgende Arbeitshypothese vertreten werden: Abaelard wendet die Illuminationslehre, die bei Augustinus eine Antwort auf die Erkenntnis der Universalien gibt, speziell auf die Frage nach der Erkenntnis Gottes an und nimmt dabei eine innertrinitarische Verschiebung der Vermittlertätigkeit vor: Nicht mehr nur Christus, sondern auch der Heilige Geist stellt den formalen Erkenntnisgrund des menschlichen Wissens von Gott dar. Um diese These als zutreffend auszuweisen, sind zwei Beweisgänge von Nöten: In 204

Thomas, Anselms fides quaerens intellectum, 309f. Reiners, Der Nominalismus in der Frühscholastik, 56. 206 Vgl. Th. Sum. 1,59 (Ed. Buytaert/Mews 107f., 598-633), Th. Chr. 1,125 (Ed. Buytaert 124f., 1651-1686), Th. Sch. 1,188 (Ed. Buytaert/Mews 397f., 2242-2276). 207 So stellt etwa Simonis, Trinität und Vernunft, 44, fest, dass Abaelard „ausdrücklich den augustinischen ‚terminus technicus’ vom ‚magister interior’ an[führe]“. Simonis zieht aus dieser Beobachtung jedoch keinerlei systematische Schlussfolgerungen bezüglich einer Rezeption und Weiterentwicklung der Illuminationslehre durch Abaelard. 208 Deutsch, Peter Abälard, 124. 209 Gregory, Abélard et Platon, 47. 205

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einem ersten Schritt ist aufzuzeigen, dass Abaelard überhaupt eine Theorie der Illumination (innerhalb seiner Theologien) vertritt. Danach muss die innertrinitarische Verortung des epistemischen Erleuchtungsprozesses untersucht werden. Zunächst zur Illumination im Allgemeinen. In der Theologia Summi Boni findet sich eine in ihren Anspielungen voraussetzungsreiche Frage: „Warum ist es so, dass die Worte eines Lehrers verschiedene Ohren gleichermaßen erreichen, diese aber nicht gleichermaßen von ihnen verstanden werden, wenn nicht gewissen der innere Lehrer beiseite steht, der sogar ohne ein Wort lehrt, was er will, 210 anderen aber nicht?“

Der doctor und magister, von dem hier die Rede ist, erinnert an Augustins Theorie des magister interior, des inneren Lehrers. Diese versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es möglich ist, dass unterschiedliche Menschen „intersubjektiv im Besitz identischer Bedeutungen“211 sein können. Das Frageinteresse ist dabei nicht auf das Problem der Gotteserkenntnis enggeführt, sondern richtet sich generell auf die Universalien: Der Mensch gelange zur Kenntnis der Allgemeinbegriffe durch die Befragung einer zwar intramental verorteten, aber nicht mit dem Intellekt identischen und über der Seele stehenden Instanz („intus ipsi menti praesidentem“212). Diese wird als innerer Lehrer bezeichnet und mit Christus identifiziert: „Derjenige aber, der befragt wird, ist es, der lehrt; von ihm wird gesagt, dass er im Inneren des Menschen wohne: Christus, das ist die unveränderliche Kraft Gottes und die ewige Weisheit, die jede Vernunftseele befragt213“.

Augustinus konzipiert die Vorstellung des inneren Lehrers als eine Kombination aus Platons Anamnesis-Lehre und dessen Theorie über die Idee des Guten. Die menschlichen Seelen werden bei Platon als präexistente gedacht, die vor ihrer Inkorporierung die Ideen schauen und sich in der materiellen Welt implizitathematisch an die visio erinnern.214 Auf diese Weise können sie von der rein oberflächlichen Sicht der Dinge zu den Washeiten des Seienden vorstoßen und Allgemeinbegriffe bilden. Der Erkenntnisgrund bei der Schau der einzelnen Ideen

210

Th. Sum. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 119f., 148-152): „Quid est enim quod, cum alicuius doctoris uerba equaliter ad aures diuersorum perferuntur, nec tamen equaliter ab eis intelliguntur, nisi quod quibusdam presto est interior magister, quibusdam minime, qui quos uult etiam sine uerbo docet?” 211 Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 414. 212 Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 195, 45). 213 Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-50): „Ille autem, qui consulitur, docet, qui in iteriore homine habitare dictus est Christus, id est incommutabilis dei uirtus atque sempiterna sapientia, quam quidem omnis rationalis anima consulit“. 214 Vgl. Platon, Menon 81c 5 – 81d 5.

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ist aber – so lehren es das Höhlen-215 und Sonnengleichnis216 der Politeia – die Idee des Guten. In der Umformung Augustins nimmt Christus als epistemisches Prinzip, das jedem Menschen unabhängig seiner Glaubensrichtung innewohnt, die Stelle der Idee des Guten ein. Da die Annahme einer Präexistenz der einzelnen menschlichen Seele aus christlich-dogmatischer Perspektive nicht unproblematisch ist,217 wird die Erleuchtung durch Christus von einem vorgeburtlichen Stadium in eine ständige Aktualisierung überführt: Der magister interior wird perpetual befragt und gibt beständig Auskunft. Diese ist – in Anlehnung an die platonische Lichtmetaphorik – als eine Erleuchtung des menschlichen Geistes zu beschreiben. Die Illumination, die ihren Ausgang von Christus nimmt, wird prinzipiell jedem intelligibel tätigen Subjekt – nicht nur den Gläubigen – zuteil: Auch der Verstand desjenigen Menschen, der Gott verneint, ist in der Lage, die Prinzipien korrekt zu erkennen und einen Abstraktbegriff, wie den der Ewigkeit, zu bilden, weil der Intellekt dieses Menschen implizit und unbewusst, aber in jedem kognitiven Akt „daran erinnert wird, dass er sich zum Herrn hin wendet wie auch zu dem Licht, von dem er, selbst als er sich von ihm abwandte, in irgendeiner Weise berührt wurde.“218 Der Akt der Erleuchtung ist jedoch Augustin zufolge – und darauf weist der zweite Teil von Abaelards Anspielung hin („qui […] sine uerbo docet“) – nicht sprachlich verfasst und deshalb nicht mit einem Wort vergleichbar. Augustinus entwickelt nämlich – ebenfalls in De Magistro – die These, dass Worte „lediglich admonitive, d.h. anregende oder erinnernde Funktion“219 haben. „Verbis igitur nisi uerba non discimus, immo sonitum strepitumque verborum“.220 Demnach kann die Mitteilung, die Christus dem nach Erkenntnis suchenden Intellekt vermittelt, nicht als verbal strukturiert, sondern lediglich als die Bereitstellung des formalen Erkenntnisgrundes gedeutet werden. Womöglich hat Abaelard mit seiner Anspielung, die dieses Detail noch syntaktisch betont, auch die spätere Entwicklung Augustins im Blick, in der sich dieser Gedanke noch erweitert. In De trinitate kommt der nach einem conceptus, einem allgemeinen Begriff suchende Intellekt, nur durch die Erleuchtung des göttlichen Lichtes zur Einsicht;221 dieser Prozess wird jedoch nicht mehr als Kommunikation eines verbum, sondern als notitia bezeichnet, um eine allzu

215

Vgl. die Deutung der Sonne bei Platon, Politeia VII 517b 6 – 517c 5. Vgl. die Ausdeutung bei Platon, Politeia VI 508e 1 – 509b 10. 217 Dies wird dogmengeschichtlich anhand des origenischen Streits deutlich. Vgl. Heimann, Erwähltes Schicksal, 263. 218 Augustinus, De trinitate XIV 15,21 (Ed. Mountain 450, 35-37): „Sed commemoratur ut conuertatur ad dominum, tamquam ad eam lucem qua etiam cum ab illo auerteretur quodam modo tangebatur.“ 219 Schulthess, Sprechen, Erkennen und Lehren, 72. 220 Augustinus, De Magistro 11,36 (Ed. Daur 194, 5f.). 221 Vgl. Augustinus, De trinitate IX 7,12 (Ed. Mountain 303f., 1-6). 216

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sprachtheoretische Konnotation abzuwenden.222 Möglicherweise zielt Abaelard mit seiner Anspielung nicht nur auf Augustinus selbst, sondern – so die Vermutung Nigglis223 – ebenfalls auf Johannes Scottus Eriugena, der die augustinische Illuminationslehre stark rezipiert und eine ganz ähnliche Frage stellt, wie Abaelard sie auch formuliert: „Quid enim prodest exterior suasio, si non adsit interior illuminatio?“224 Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass Abaelard mit der von Augustinus herkommenden Tradition der Illuminationstheorie vertraut ist und ihr – noch unspezifisch formuliert – einen positiven Stellenwert einräumt. Hierbei muss jedoch zwischen Abaelards theologischer Erkenntnistheorie und seiner philosophischen Ansicht über das Lernen bzw. das Erfassen der Universalien unterschieden werden. Jolivet spricht in diesem Zusammenhang von „zwei Atmsophären“: Die theologische sei von einer Illuminationslehre „d’esprit augustinien“225 geprägt. Diese These kann jedoch nicht auf die logischen Schriften Abaelards angewendet werden, weil er dort eine andere Theorie über das Zustandekommen der Allgemeinbegriffe vertritt.226 Hierauf wird noch einzugehen sein. Zunächst bleibt festzuhalten: Zugespitzt auf die Gotteslehre scheint die Illuminationstheorie an mehreren epistemologisch relevanten Stellen eine zumindest implizite Rolle zu spielen. Dies ist eine Folge der bereits vorgetragenen These, derzufolge Abaelard eine vermeintliche cognitio dei naturalis nur als eine von Gott ‚vermittelte’ Erkenntnis konstruiert. Er schwankt jedoch bei der Frage, wie die Vermittlertätigkeit Gottes trinitarisch zu deuten ist: Kommt Christus, wie bei Augustinus, oder dem Heiligen Geist die Rolle des Lehrers der Geschöpfe zu? Für beide Ansätze lassen sich Belegstellen finden. Klitzsch beobachtet, dass das Verb revelare vor allem in Bezug auf den Heiligen Geist verwendet wird, wohingegen die illuminatio eng „mit der incarnatio des Sohnes bzw. des verbum dei“227 verbunden ist. Zunächst zur Rolle Christi. In den Theologien bemüht sich Abaelard um den Nachweis, dass die paganen Philosophen ein implizit-athematisches Wissen über die Dreifaltigkeit hatten; sie konnten sich durch involucra und integumenta den göttlichen Geheimnissen annähern, waren aber nicht in der Lage, diese begrifflich präzise zu erfassen. Jenes explizit-prinzipielle Wissen, das über eine Ahnung hinaus geht, habe erst Christus gebracht:

222

Vgl. Augustinus, De trinitate IX 12,17 (Ed. Mountain 308, 1-25). Vgl. Niggli, Theologia Summi boni, 76. 224 Johannes Scottus Eriugena, De divisione naturae I 3,11 (PL 122, 656 D). 225 Jolivet, Arts du langage, 244, Anm. 51. 226 Vgl. Tweedale, Abailard on Universals, 174-179. Jolivet, Abélard ou la philosophie dans le langage, 64-67. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 162-173. 227 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 38. 223

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Grund der Gotteserkenntnis und Möglichkeit des Irrtums „Dies nämlich in rechter Weise zu lehren, war der sich inkarnierenden Weisheit vorbehalten, damit Gott selbst durch sich selbst Kenntnis von sich bringe, da kein Geschöpf in der Lage ist, sich zu seiner Kenntnis zu erheben.“228

An dieser Aussage, die eindeutig auf Augustinus anspielt – die Verbindung zwischen dem Sohn und der notitia Dei sowie der neuplatonische Topos des Aufstiegs zu Gott deuten in diese Richtung – sind zwei Dinge von besonderem Interesse: Der zweite Teil des Satzes zeigt, dass der Mensch trotz seiner Vernunftbegabung nur ein athematisches Wissen von Gott hat; offenbart dieser sich nicht selbst, kann der Mensch auch nicht zu einem begrifflich-reflexiven Wissen über ihn gelangen. Trinitarisch verortet ist es die Aufgabe des Logos, der als Weisheit gedeutet wird, den vernunftbegabten Geschöpfen das explizite Wissen über ihren Schöpfer zu vermitteln. In der Auslegung zu Rom 1,14 werden demnach die Weisen (sapientes) als jene Gruppe definiert, die „schon durch Christus, Gottes Weisheit, erleuchtet“229 wurden. Die soteriologische Relevanz der Sendung des Sohnes konkretisiert sich also – unter anderem – in seiner pädagogischen, erkenntnisstiftenden Rolle, derzufolge „das Licht der göttlichen Weisheit durch diese Inkarnation den Fleischlichen leuchtete“230, denen so „die Lehre wahrer Gerechtigkeit“231 offenbar wurde. Wie der durch den Sohn vermittelte Illuminationsprozess genau vonstatten geht, erläutert Abaelard nicht. Er begründet jedoch die enge Verbindung zwischen der zweiten trinitarischen Person und den Verstandeseinsichten des Menschen in Epistola 13,232 deren Grundthese auch in den Collationes vertreten wird: „Die Logik als kreatürliches Element entstammt dem Logos“233. Dabei handelt es sich um eine auf den Johannesprolog rekurrierende, bereits in der Patristik verwendete Ethymologie, die – wie Georges feststellt – einen engen „Zusammenhang von Christusbezug, Logik und Philosophie“234 impliziert. Diese Verbindung ist keine innovative Leistung Abaelards; sie zeigt lediglich, dass er, verwurzelt in der kirchlichen 228

Th. Sum. 2,64 (Ed. Buytaert/Mews 135, 561-563), Th. Chr. 3,116 (Ed. Buytaert 237, 13601363): „Hoc enim docere recte sophie ipsi incarnande reseruandum erat ut ipse per seipsum sui noticiam afferet dues, cum ad eius noticiam nulla assurgere creatura sufficiat.“ 229 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 64, 582-586): „Sapientibus et insipientibus, hoc est tam fidelibus iam per Christum Dei sapientiam illuminatis, sicut uos estis, quam infidelibus, illis quidem ut eos confirmem, istis uero ut ipsos conuertam.“ 230 Th. Sum. 3,44 (Ed. Buytaert/Mews 176, 545-547), Th. Chr. 4,60 (Ed. Buytaert 291, 867f.): „Hoc enim his uerbis ostenditur cum dicitur ‚filius dei est incarnatus’, lumen diuine sapientie per hanc incarnationem carnalibus effulsisse.“ 231 Th. Sum. 3,45 (Ed. Buytaert/Mews 177, 555f.), Th. Chr. 4,61 (Ed. Buytaert 291, 883f.). 232 Ep. 13 (Ed. Smits, 274, 101-103): „Ipsum quippe Dei filium quem nos verbum dicimus, Graeci lógon appellant, hoc est divinae mentis conceptum seu Dei sapientiam vel rationem.“ 233 Thomas, Der philosophisch-theologische Erkenntnisweg Peter Abaelards, 202. Zur Kritik an der Methodik und den Schlussfolgerungen dieses Werkes vgl. Heinzmann, Rez. Thomas, 408. 234 Georges, Christiani, veri philosophi, 97.

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Tradition, die Vermittlung von Wissen und heilsrelevanter Erkenntnis auf Gott zurückführt und – präziser gesprochen – der zweiten trinitarischen Person zuordnet. An anderer Stelle sieht er jedoch das Wissen des Menschen über Gott nicht als christologisch, sondern als pneumatologisch vermittelt an.235 Das Wirken des Geistes geht demnach der Erkenntnis des Menschen voran. Bei der in der Theologia Christiana erweiterten Aufzählung außerchristlicher Orte, an denen die Dreifaltigkeit bekannt ist, wird – in Anlehnung an Hieronymus236 – selbst den Satyren (mythologischen Wesen in der Gefolgschaft des Dionysos), ein trinitarisches Bekenntnis unterstellt. Dieses sei „ganz der Eingebung des Heiligen Geistes“237 zuzuschreiben. Jene Beobachtung allein reicht noch nicht aus, um von einer pneumatologischen Weiterentwicklung der Illuminationslehre zu sprechen; es ist ein gängiger Topos, dass die rechte Gotteserkenntnis von Nicht-Christen auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt wird. Eine explizite Übertragung der Illuminationslehre, wie Augustinus sie entwickelt, auf den Heiligen Geist, ist damit noch nicht gegeben. Sie findet sich jedoch an anderer Stelle in der Theologia Christiana (die auf Augustin verweisenden Schlüsselbegriffe sind kursiv hervorgehoben): „Ita et quae Dei sunt nemo cognouit, nisi Spiritus Dei, praesertim cum nec minimum aliquid doceri quas ualeat, nisi eo nos interius illuminante, qui nisi mentem instruat interius, frustra qui docet aerem uerberat exterius.“238

Hier werden in einem streng epistemologischen Sinne Eigenschaften, die Augustinus dem mit Christus identifizierten inneren Lehrer zuordnet, auf den Heiligen Geist übertragen: Er ist es, der doziert, der innerlich erleuchtet, der die Seele lehrt. Angesichts dieser Aussagen Abaelards erscheint Blackwells Differenzierung zwischen zwei getrennten Arten der epistemischen Einwirkung Gottes auf den Menschen, die innertrinitarisch jeweils nur einer Person zugeordnet seien, als nicht haltbar: Blackwell geht – ohne die Terme präzise von235

Zur Frage nach der praktisch-geistlichen Charismatik Abaelards vgl. Klitzsch, Petrus Abaelardus, 203-227. 236 Vgl. Hieronymus, Vita Sancti Pauli 8 (PL 23, 24A). Abaelard reagiert in der Th. Chr. auf die an seiner Theorie über die Gotteserkenntnis der Philosophen geübte Kritik durch eine Parallelisierung seiner eigenen Situation mit der des Hiernoymus. Vgl. Mews, Un lecteur de Jérôme, 432: „Jérôme nous est présenté dans la Theologia christiana comme un savant, versé dans la philosophie antique et accusé par ses ennemis d’en avoir fait un usage excessif.“ 237 Th. Chr. 2,9 (Ed. Buytaert 136, 149-153), Th. Sch. 2,9 (Ed. Buytaert/Mews 410, 140-144): „Quae quidem confessio tanto fortasse mirabilius gloriam atque potentiam Dei praedicat quanto maiori miraculo est habenda, et tanto uerior eius assertio uidetur quanto a doctrina hominum remotior et tota suggestioni Sancti Spiritus imputanda.“ 238 Th. Chr. 3,30 (Ed. Buytaert 206, 353-356).

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einander zu unterscheiden – davon aus, dass dem Geist die inspiratio zukomme, wohingegen die illuminatio nur dem Sohn vorbehalten bleibe.239 Die zitierte Passage aus der Theologia Christiana zeigt jedoch eindeutig, dass der Begriff der illuminatio auch mit dem Heiligen Geist in Zusammenhang gebracht wird. Aufgrund der wörtlichen Anklänge an Augustins De Magistro lässt sich also berechtigterweise von einer pneumatologischen Erweiterung der Illuminationslehre sprechen. Damit geht jedoch keine Suspendierung des Sohnes vom Vorgang der Erleuchtung des Menschen einher. Im Gegenteil: Die Heilsrelevanz der Inkarnation von Gottes Weisheit wird gerade in ihrer lehrenden und damit Gotteserkenntnis vermittelnden Tätigkeit betrachtet.240 Gibt es – diese Frage schließt sich an – eine konsistente Verbindung zwischen Christus und dem Heiligen Geist in Bezug auf die Erleuchtung der Geschöpfe oder stehen beide in ihrem extratrinitarischen Wirken unvermittelt nebeneinander? Die wirkmächtige Regel, opera trinitatis ad extra sunt indivisa, findet in diesem Zusammenhang eine konsequente Anwendung, ohne ausdrücklich benannt zu werden. In der Theologia Scholarium unternimmt Abaelard den deutlichsten Versuch, die erkenntnisrelevanten Wirkungen von Sohn und Geist miteinander in Beziehung zu setzen. Als Grundlage hierzu dient die Verheißung aus Joh 14,26, wo Christus den Heiligen Geist als denjenigen vorstellt, „der alles lehren wird“. Auch die pneumatologische Erkenntnisvermittlung ist für Abaelard also nicht ohne die inkarnierte Weisheit denkbar; sie stellt den Geist als den magister veritatis explizit vor und erweckt in den Gläubigen ein „sicheres Vertrauen“ (fiducia) in die Zuverlässigkeit seiner Lehre.241 Die explizit-begriffliche Gotteserkenntnis erfolgt also durch eine pneumatische Intervention, die christologisch vermittelt ist. Umgekehrt aber sieht Abaelard auch, dass jede christologische Einsicht nur durch das Wirken des Heiligen Geistes zustande kommt, getreu 1 Kor 12,13: „Nemo possit dicere ‚dominus Ihesus’ nisi in spiritu sancto.“ Die Pneumatologie ist demnach kein Appendix zur Christologie, sondern geht ihr einerseits voraus, indem der Heilige Geist den Boden bereitet, auf dem Jesus als der Christus bekannt werden kann:

239

Vgl. Blackwell, Non-Ontological Constructs, 241. Vgl. Th. Sum. 2,64 (Ed. Buytaert/Mews 135, 561-563), Th. Chr. 3,116 (Ed. Buytaert 237, 1360-1363). 241 Vgl. Th. Sch. 2,58 (Ed. Buytaert/Mews 436, 914-919): „Quod ne forte de ipsis credere presumamus quibus ueritas spiritum sanctum promittens ait: ‚Ille uos docebit omnia, et suggeret uobis omnia quecumque dixero uobis’ (Joh 14,26), audiamus et quantam eis fiduciam de tanto magistro ueritas ipsa reliquerit dicens: ‚Non enim uos estis qui loquimini, sed spiritus patris uestri qui loquitur in uobis’ (Mt 10,20).“

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„Wir verstehen [intelligimus] also durch seine [sc. des Heiligen Geistes] Lehre, wir erörtern durch seine Eingebung, was wir selbst nicht vermögen, sogar die Tiefen Gottes und die Geheimnisse der Dreifaltigkeit.“242

Andererseits bleibt aber die Pneumatologie auf die Christologie verwiesen, weil die inkarnierte Weisheit auch als Vermittlerin des Geistes tätig ist: Sie verheißt ihn den Gläubigen und sendet ihn – unter der Annahme des filioque – gemeinsam mit dem Vater. Die Illumination des Menschen erfolgt also in einer untrennbaren Einheit zwischen Logos und Pneuma, die aufeinander verwiesen bleiben und sich in der logischen oder zeitlichen Reihenfolge der Erkenntnis gegenseitig durchdringen. Dies wird auch an Abaelards Interpretation zu Rom 10,9 deutlich, in dem das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn und der Glaube an seine Auferstehung als Eckpfeiler zur Erlangung des Heiles genannt werden. „Denn tatsächlich sollte der Sohn Gottes vom Himmel kommen und wieder hinaufsteigen, damit er der Welt diese Einsicht spende [intelligentiam ministrare], sowohl durch sich selbst als auch durch den Heiligen Geist, der nach der Himmelfahrt genau 243 hierzu gesandt werden sollte.“

Neben den biblisch orientierten Begründungen, die sich in der Theologia Scholarium sowie in weniger elaborierter Form auch im Römerbriefkommentar finden, entwickelt Abaelard auch eine spekulative Durchdringung des epistemologischen Zusammenhangs zwischen Sohn und Geist, die von seinem noch näher zu untersuchenden trinitätstheologischen Ternar potentia, sapientia, benignitas ausgeht.244 Abaelard greift im dritten Kapitel des dritten Buches der Theologia Summi Boni die bereits von Augustinus gestellte, aber nicht abschließend beantwortete Frage nach dem Unterschied zwischen Zeugung und Hervorgang auf.245 Die Differenz der beiden innergöttlichen Konstitutionsprozesse wird auf die Frage verlegt: Wie kann der affectus benignitatis Dei, als der der Heilige Geist verstanden wird, eine vernünftige Wirkung (rationalis effectus) erzielen, die Gott in seiner Vollkommenheit zukommen muss? Der Effekt, also die Fähigkeit, zu wirken, setze die potentia, die mit dem Vater identi242

Th. Sch. 2,58 (Ed. Buytaert/Mews 437, 925-927): „Hoc igitur docente intelligimus, hoc suggerente disserimus que nos ipsi non possumus, ipsa etiam profunda dei et trinitatis misteria.“ 243 Exp. Rom. 4 (Ed. Buytaert 252, 134-138): „[…], quia reuera Filius Dei de caelo uenturus erat et iterum ascensurus, ut hanc mundo intelligentiam ministraret tam per se ipsum quam per Spiritum Sanctum, post ascensionem ad hoc ipsum mittendum.“ 244 Vgl. Th. Sum. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 87, 21-24): „Tale est ergo deum esse tres personas, hoc est patrem et filium et spiritum sanctum, ac si dicamus diuinam substantiam esse potentem, sapientem, benignam, immo etiam esse ipsam potentiam, ipsam sapientiam, ipsam benignitatem.“ In Th. Chr. 1,4 (Ed. Buytaert 73, 49-55) ergänzt Abaelard die trinitarischen Ursprungsrelationen und spricht von der zeugenden Macht, der gezeugten Weisheit sowie der hervorgehenden Güte. 245 Vgl. Augustinus, De trinitate XV 27,48 (Ed. Mountain 529, 1-8).

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fiziert wird, voraus. Vernünftig werde die Wirkung allerdings nur durch die vorhersehende Tätigkeit der Weisheit (providentia sapientiae), welche dem Sohn entspricht.246 Zwei Aspekte fallen auf: Bei Platon stehen sich die Begriffe Affekt und Vernunft gegenüber. Das Beispiel des Wagenlenkers aus dem Phaidros zeigt, dass die Leidenschaften mit dem rationalen Seelenteil in Konflikt geraten; gerechtes und rationales Handeln kommt nur dort zustande, wo die Vernunft über die Affekte herrscht und die Zügel in der Hand hält.247 Vor diesem Hintergrund erscheint Abaelards Deutung des Heiligen Geistes als eine contradictio in adiecto: Der Geist soll affekthaft und rational zugleich sein, wodurch die Gegensätze, die beim Menschen auftreten, in der höheren Einheit des perfekten Wesens, von dem her Abaelard seinen Ternar konstruiert, aufgelöst werden. Entscheidend ist dabei, dass der Heilige Geist seine Rationalität nur vom Sohn, der Weisheit, empfängt. Da das Pneuma für Abaelard Ausdruck der Zuneigung (affectus) der drei göttlichen Personen zueinander und des einen Gottes zu den Geschöpfen ist,248 hat der Geist die Aufgabe, jene erkenntnisschaffende Leuchtkraft, die er durch den Sohn erhalten hat, zu den Menschen zu tragen, deren innerer Lehrer er ist. Eine andere innertrinitarische Relation, die auch epistemologische Relevanz besitzt, ist das Verhältnis zwischen Sohn und Geist mit Blick auf die Inkarnation. Das Geschehen der Menschwerdung deutet Abaelard nämlich im erkenntnistheoretischen Sinn: Die Rede von der Weisheit Gottes „im Fleisch“ wird als illuminativer Akt mit soteriologischer Folgewirkung verstanden, weil „die Fleischlichen, das heißt die Menschen, durch diese Inkarnation das Licht der wahren Weisheit empfangen haben“249. Der Wirkgrund dieses Ereignisses sei – wie Abaelard in einem Einwand formuliert – nicht in den menschlichen Verdiensten, sondern in der „höchsten und alleinigen Gnade der göttlichen Barmherzigkeit“250 zu suchen. Das Bild des gnädigen, den Menschen zugewandten Gottes entspricht innerhalb des von Abaelard eingeführten Ternars am 246

Vgl. Th. Sum. 3,89 (Ed. Buytaert/Mews 196, 1212-1217): „Tale est autem spiritum a patre et a filio procedere ac si dicamus ipsum affectum benignitatis dei in effectum prodire ex potentia moderante ratione. Si enim potentia que efficiat desit, nullus effectus sequetur affectum. Quod si affectum nulla prouidentia sapientie gerat atque conducat, non est rationalis effectus.” 247 Vgl. Platon, Phaidros 253c 7 – 256e 2. 248 Im Hintergrund steht die durch Wilhelm von Champeaux entwickelte Lehre über die trinitarischen Relationen. Vgl. Wilhelm von Champeaux, Sententiae 236 (Ed. Lottin 193, 158163): „Sic ergo ab utroque procedit et unus; sicut enim, ut superius dictum est, unum Verbum sufficiens erat per quod et Pater et omnia cogitarentur, sic et unus sufficit amor quo et Pater et se et Filium et Filius et se et Patrem diligat et omnia etiam a se creata diligat. Hic ergo affectus, siue amor, siue caritas, Spiritus sanctus uocantur.“ 249 Th. Sum. 3,46 (Ed. Buytaert/Mews 177, 557-559): „Sapientiam itaque dei in carne esse, tale est : carnales, id est homines, hac incarnatione uere sapientie lumen suscepisse.“ 250 Th. Sum. 3,47 (Ed. Buytaert/Mews 177, 560f.), Th. Chr. 4,64 (Ed. Buytaert 293, 926f.).

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ehesten der benignitas, also jener Eigenschaft, mit der versucht wird, den Geist ansatzhaft zu bezeichnen. Insofern ist der Geist – obwohl er sich selbst nicht inkarniert – aufs engste mit dem Geschehen der Menschwerdung verbunden, wie die von Abaelard zitierte Wendung aus dem Apostolicum „conceptus ex [in der Theologia Christiana: ‚de’] spiritu sancto“251 zeigt. Verbindet man diesen Gedankengang mit der vornehmlich erkenntnisstiftenden Deutung des Inkarnationsgeschehens als Illumination der Geschöpfe, so lässt sich sagen, dass Christus und der Geist zwar zwei unterscheidbare, nicht modalistisch zu verwechselnde Größen sind, beide aber bei der Erleuchtung des Menschen aufs engste miteinander verbunden bleiben. Insofern ist zwar zu konstatieren, dass Abaelard bei der Adaption der augustinischen Illuminationslehre schwankt, ob der Geist oder der Sohn als magister interior zu fungieren hat; diese Uneindeutigkeit ist jedoch vor dem Hintergrund der engen soteriologischen Verbindung, die die Ternarglieder sapientia und benignitas eingehen, zu verstehen: Aus Güte (Geist) heraus schenkt Gott dem Menschen seine Weisheit (Sohn). Während Augustinus die gnoseologische Mittlerschaft der zweiten Person vorbehält, dehnt Abaelard die Theorie des inneren Lehrers auf den Heiligen Geist aus. Klitzsch spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „pneumatologischen Erkenntnisprogramm“252. Fasst man Abaelards Gebrauch der Illuminationslehre zusammen, so ergeben sich zwei Besonderheiten: (1) Das Movens für die Entwicklung der Illuminationstheorie Augustins liegt in der Frage nach der Erkenntnis der Prinzipien durch den menschlichen Geist begründet: Warum sind verschiedene Menschen „intersubjektiv im Besitz identischer Bedeutungen“253, auf deren Grundlage eine Verständigung über die Deutung der Wirklichkeit ermöglicht wird? Abaelard hat diese genuin philosophische Fragestellung in einen theologischen Kontext umgebettet: Wie gelangen Menschen mit begrenzter intellektueller Auffassungsfähigkeit – oder allgemein gesagt: Menschen, die sich wesenhaft durch das Merkmal endlicher Erkenntnis auszeichnen – zu einer Erkenntnis Gottes, der sich in epistemischer 251

Th. Sum. 3,47 (Ed. Buytaert/Mews 177, 563f.). Die drei damals geläufigen Glaubensbekenntnisse – das Apostolicum, das Nicaeno-Constantinopolitanum und das PseudoAthanasianum – enthalten die Wendung nicht in der angeführten Weise. Das Symbolon Apostolorum spricht auch im Hochmittelalter von „conceptus est de spiritu sancto“ (DH 30; zum mittelalterlichen Textbefund vgl. Andrieu, Les Ordines Romani II, 435); das NicaenoConstantinopolitanum enthält die Wendung „incarnatus est de spiritu sancto“ (DH 150 sowie Andrieu, Les Ordines Romani II, 434f.), das Symbolum Quicumque macht hierzu keine Angaben. Die Präposition „e/ex“ ist in den beiden erstgenannten Bekenntnissen der Jungfrau Maria zugeordnet, wohingegen vom Geist nur mit „de“ die Rede ist. In Th. Chr. 4,64 (Ed. Buytaert 293, 930) ist demnach auch die Rede von „conceptus de spiritu sancto“. 252 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 55-57. 270-274. 253 Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 414.

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Hinsicht der Verwiesenheit des Menschen auf die Endlichkeit entzieht? Damit ist eine entscheidende Verschiebung der Problemstellung verbunden: Augustinus geht es um die Kenntnis der Universalien, Abaelard hingegen fragt nicht nach Allgemeinbegriffen, sondern nur nach Gott im Speziellen. (2) Die Theologisierung der augustinischen Epistemologie hat auch eine weitere trinitätstheologische Ausarbeitung der Illuminationslehre zur Folge. Das Verhältnis zwischen Sohn und Geist gerät in den Blick: Beide sind durch ihre von Abaelard postulierten Veranschaulichungen – der Sohn als Weisheit und der Geist als gütige Bezogenheit Gottes auf die Geschöpfe – an der Erkenntnistätigkeit des Menschen beteiligt. Bei Abaelard lässt sich, vor allem mit Blick auf die Theologia Christiana, im Vergleich zu Augustinus von einer pneumatologischen Erweiterung der Illuminationslehre sprechen. Diese hat – wie die einschlägigen Textpassagen gezeigt haben – für Abaelards theologische Erkenntnislehre ein systembildendes Gewicht und ist nicht nur, wie Simonis vorschlägt,254 als kontextuelles Eingehen auf theologische Gegner zu deuten. Die „zentrale Rolle Augustins“255, die Klitzsch mit Blick auf Abaelards Autoritätsbezüge feststellt, kann daher genauer benannt werden: Abaelard rezipiert die Illuminationslehre und transformiert sie zugleich, indem er ihre Grundaussage (Erkenntnis durch Erleuchtung) in einen anderen Kontext einbindet (Gotteserkenntnis durch Erleuchtung des Heiligen Geistes). Zu klären bleibt die Frage nach dem Ursprung des Irrtums: Sowohl Abaelard als auch Augustinus sind mit einer doppelten vorwissenschaftlichen Intuition konfrontiert. Erstens ist es für beide evident, dass es korrekte Erkenntnis gibt, die bis hin zu ihrer höchsten Form, der des Wissens, also der rechten Erkenntnis bei gleichzeitiger Gewissheit darüber, dass diese auch wahr ist, aufsteigen kann. Eine antiskeptische Epistemologie hat also nachzuweisen, warum dies so ist. Die Illuminationslehre tut dies durch die Einführung einer gewaltigen Hilfshypothese: Die Menschen können korrekt erkennen, weil Gott den formalen Erkenntnisgrund darstellt. Daran schließt sich jedoch die zweite, ebenso offensichtliche Alltagsbeobachtung an: Es gibt auch menschliche Fehlerkenntnis, die falsche Schlüsse zu Tage bringt. Wie ist dies aber zu erklären, wenn Gott den epistemischen Grund des Menschen konstituiert? Kann der innere Lehrer – anachronistisch mit den Worten Descartes’ gesprochen – auch ein genius malignus sein, der falsche Wahrheiten vortäuscht? Für ein christliches Gottesbild scheint dieser Weg ausgeschlossen. Abaelard entwickelt stattdessen eine moralphilosophische Theorie des Irrtums, die nach der ethischen Rechtfertigung der Wissenschaft überhaupt fragt. 254

Vgl. Simonis, Trinität und Vernunft, 44: „Aus der Kontroverse mit seinen theologischen Gegnern ist es verständlich, wenn er [sc. Abaelard] gerade in der Theologia Christiana ganz besonders betont, daß alles Wissen und Erkennen, also auch das der heidnischen Philosophen von Gott selber kommt.“ 255 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 590.

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5. Das Ethos des Wissenschaftlers: Zum Verhältnis von theoretischer Vernunft und praktischer Rationalität 5.1. Moralität als Ausgangspunkt der Gotteserkenntnis Die Möglichkeit einer aufgrund der Metaphysik gegebenen, partiellen Gotteserkenntnis impliziert für Abaelard den Imperativ zu einem Bekenntnisakt, der der philosophischen Einsicht in das Wesen Gottes auch existentiell gerecht wird. Dies gilt zunächst für den Monotheismus im allgemeinen Sinne, „weil die Heiden sich nicht mehr durch Unwissenheit über die Erkenntnis des einen Gottes entschuldigen können“256. Die Unentschuldbarkeit, von der Abaelard spricht, bezieht sich aber je nach Zusammenhang auch auf die Ablehnung des Trinitätsglaubens, der durch die Einsicht in die dreigliedrige Struktur des höchsten Gutes nahe gelegt werde: „Weil nämlich der Herr sowohl den Juden durch die Propheten als auch den Heiden durch herausragende Philosophen oder Seher den Lauf des katholischen Glaubens ankündigte, erweisen sich sowohl die Juden als auch die Heiden als unentschuldbar, wenn sie diejenigen, die sie sonst als Lehrer haben, nicht anhören, wenn es um das Heil der 257 Seele, dessen Grund der Glaube ist, geht.“

Der Begriff inexcusabilis bezieht sich zweifelsohne auf einen Fehler oder Irrtum, einen error. Dieser kann jedoch – um eine Arbeitsunterscheidung einzuführen – (1) als Erkenntnisfehler auf der Ebene der theoretischen Vernunft verstanden werden, oder aber (2) als moralische Verfehlung der praktischen Vernunft. Die Interpretationsbegriffe eröffnen weitere Fragen: Ist die Ablehnung des Trinitätsglaubens für Abaelard ein ethischer Lapsus als Verfehlung des Guten (bonum) oder eine theoretische Fehleinschätzung als Vorbeigehen am Wahren (verum)? Welche Verhältnisbestimmung zwischen theoretischer und praktischer Rationalität liegt dem zu Grunde? Folgende These soll hierzu vertreten werden: In der Gotteslehre Abaelards stehen praktisches Handeln und theoretische Erkenntnis in einer wechselseitigen Abhängigkeit; moralisch schlechte Taten sind demnach die

256

Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 71, 822-825): „Ita ut sint inexcusabiles, id est iam non possint se gentiles per ignorantiam excusare, de notitia scilicet unius Dei, quamuis legem scriptam non habuerint.“ 257 Th. Sum. 1,63 (Ed. Buytaert/Mews 110, 671-675): „Cum itaque dominus et per prophetas iudeis et per prestantes philosophos seu uates gentibus catholice fidei tenorem annunciauerit, inexcusabiles redduntur tam iudei quam gentes si, cum hos in ceteris doctores habeant, in salutem anime, cuius fundamentum est fides, ipsos non audiant.“ Vgl. Th. Chr. 1,136 (Ed. Buytaert 130, 1843-1848), Th. Sch. 1,201 (Ed. Buytaert/Mews 405, 2455-2459).

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Konsequenz eines Erkenntnisproblems, falsches Erkennen liegt im Gegenzug in einem sittlichen Defizit begründet. Abaelard lehnt sich an das von Augustinus in De Civitate Dei VIII gezeichnete Bild des Sokrates an: Dieser habe nicht gewollt, dass „die durch irdische Begierden verunreinigte Seele versucht, sich zum Göttlichen zu erheben.“258 Die ersten Ursachen der Dinge seien nur durch eine puritas intelligentiae, eine Reinigung des Verstandes, zu erfassen. Hieraus kann ex negativo geschlossen werden: Eine falsche Lebensführung behindert die Erkenntnis der höchsten Dinge. Stattdessen ist der Weg des intellektuellen Aufstiegs hin zu den „causae omnium factarum naturarum“259 nur durch eine sittliche Reifung des Geistes zu erlangen. An dieser Stelle übernimmt Abaelard – bewusst oder ungewollt – mit der augustinischen Position auch platonische und neuplatonische Elemente, die sich vermischen: (1) Mit den ersten Ursachen aller geschaffenen Dinge sind bei Platon die Ideen gemeint. Sie befinden sich in einem rein intelligiblen, immateriellen, ewigen sowie ungeschaffenen Kosmos und sind insofern der Seinsgrund aller sichtbaren Dinge, als sie diese durch Teilhabe (participatio) verursachen und von ihnen wiederum nachgeahmt werden (imitatio).260 Auf Abaelards Verhältnis zur Ideenlehre ist noch an anderer Stelle einzugehen. (2) Die Dialektik des Aufstiegs hat Platon in seinem Höhlengleichnis beschrieben.261 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Abaelard – durch Vermittlung Augustins – die Erhebung des Geistes zum Einen hin, wie Plotin sie beschreibt, vor Augen hat.262 (3) Dieser Aufstieg kann nur durch eine Weltverneinung, eine Abkehr von den sinnlichen Dingen geschehen. Abaelard bezeichnet dies als contemptus mundi263, der sich auf der theoretischen Ebene als eine Rückwendung des Geistes zu sich selbst vollzieht, aber auch im praktischen Sinne eine Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Glücksgütern der Welt zur Voraussetzung hat: Nur der Tugendhafte, der seine innere beatitudo nicht von den vielen bona abhängig macht, sondern im 258

Th. Sum. 1,67 (Ed. Buytaert/Mews 111, 707f.), Th. Chr 2,32 (Ed. Buytaert 145, 152f.), Th. Sch 1,108 (Ed. Buytaert/Mews 360, 1179-1181): „Nolebat inmundos terrenis cupiditatibus animos se extendere in diuina conari.” Th. Chr 2,32 (Ed. Buytaert 145, 152f.). Das Zitat bezieht sich auf Augustinus, De Civitate Dei VIII 3 (Ed. Dombart/Kalb 218, 10f.). 259 Th. Sum. 1,67 (Ed. Buytaert/Mews 111, 714f.), Th. Chr. 2,32 (Ed. Buytaert 145, 460), Th. Sch. 1,108 (Ed. Buytaert/Mews 360, 1187f.). 260 Vgl. Schäfer, Art. Idee, 160-164. 261 Vgl. die Gleichniserzählung in Platon, Politeia VII 514a 1 – 517a 7 sowie die Deutung und die Schlussfolgerung in Politeia VII 517a 8 – 519b 5. 262 Vgl. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, 41-51. Die christliche Rezeption des Gedankens wird bei Dörrie, Emanation, 137-141 nachgezeichnet. 263 Vgl. Th. Sum. 1,66 (Ed. Buytaert/Mews 111, 695) sowie in anderem Zusammenhang Th. Chr. 2,68 (Ed. Buytaert 161, 965).

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Besitz des einem summum bonum ist, worüber hinaus er nichts benötigt, ist zur theoretischen Erkenntnis der höchsten Dinge in der Lage. Auffallend am Begriff contemptus ist, dass Abaelard ihn auf dem Gebiet der Epistemologie als positive Voraussetzung der Gotteserkenntnis benennt, die nur zustande komme, wenn die Zerstreuungen der Welt gering geachtet würden. Gilt diese Geringschätzung jedoch nicht der Welt, sondern Gott als ihrem Schöpfer, so handelt es sich um eine Sünde: Wenn wir dem zustimmen, was sich nicht gebührt, begehen wir – so Abaelard in Scito te ipsum – eine Sünde. „Was aber ist diese Zustimmung anderes als eine Geringeschätzung Gottes und dessen Beleidigung?“264 Contemptus ist also per se kein negativer, sondern ein ambivalenter Terminus. Erliegt der Mensch der Attraktion der sinnlichen Welt, missachtet er den Schöpfer und begeht – in der bewussten Zustimmung zu dieser Tat – eine Sünde. Umgekehrt ist aber die praktische Abwendung von den sinnlichen Reizen eine Voraussetzung der Gotteserkenntnis. Theoretische Erkenntnis ist also nicht nur von der reinen Vernunft abhängig, sondern baut auf einer guten Lebensführung auf, welche wiederum eine rechte Ausrichtung der praktischen Rationalität zur Bedingung hat. Man kann also von zwei unterscheidbaren, aber nicht trennbaren Erkenntnisarten sprechen. Die Philosophen sind demnach, so Abaelard, durch „die Nüchternheit ihres höchst enthaltsamen Lebens“265 zur Erkenntnis Gottes gelangt. Diese Verschränkung zwischen philosophischer Ethik und spekulativer Durchdringung der ersten Prinzipien überträgt Abaelard auf die christliche Lebensführung und ihre Bedeutung für die Gotteserkenntnis: Er nennt sie die regula verae religionis.266 In diesem Terminus verbinden sich die rechte Erkenntnis Gottes (vera religio) mit dem Leben nach einer rechten Ordnung (regula),267 welche die Prinzipien der Enthaltsamkeit (continentia) und Weltabkehr (contemptus mundi) von der Vorstellung des antiken Weisen auf das christliche Mönchtum – so die Konnotation des Begriffs „Regel“268 – überträgt. Dennoch ist die Ethik kein gesondertes „theologisches Unternehmen“269 Abaelards, sondern die Grundlage jeder korrekten theoretischen Erkenntnis überhaupt. Den Schnittpunkt zwischen 264

Scito I 3,2 (Ed. Ilgner 3, 60f.): „Quid est enim hic consensus nisi dei contemptus et offense illius?“ 265 Th. Chr. 1,54 (Ed. Buytaert 94, 713f.): „Tum ipsa continentissimae uitae sobrietas quodam eius merito ad ipsis acquisiuit.“ Vgl. auch Th. Sch. 1,94 (Ed. Buytaert/Mews 356, 1060f.). 266 Vgl. Th. Sum. 1,69 (Ed. Buytaert/Mews 112, 731). 267 Vgl. Luscombe, Pierre Abélard et le monachisme, 274-276. 268 Abaelard hat sich mit der Literatur zum mönchischen Leben sowie den diesbezüglichen Weisungen der Kirchenväter ausführlich auseinandergesetzt und auf Bitte Heloisas eine neue Regel erarbeitet, die er auf der monastischen Tradition aufbaut, aber auf die Bedürfnisse von Frauen zuschneidet. Vgl. Ep. 8 (Ed. McLaughlin 242f.). Vgl. Leclerq, Ad ipsam sophiam Christum, 190-193 sowie Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 286-296. 269 Georges, Quam nos divinitatem nominare consuevimus, 261.

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praktisch ausgerichteter und spekulativ fragender Vernunft bildet der Begriff des „höchsten Gutes“: Er ist als Gottesprädikat270 einerseits das höchste Formalobjekt der sich auf das Wahre richtenden reinen Vernunft, andererseits aber auch – wie der Christ als Gesprächsteilnehmer in den Collationes behauptet271 – das Ziel aller moralischen Handlungen, da diese sich letztlich am höchsten Gut ausrichten und es erstreben, um es um seiner selbst willen zu genießen.272 Welche Folgen hat diese Verschränkung für die Gotteslehre Abaelards? Im fünften Buch der Theologia Christiana erörtert er die Rationalität des Schöpfungsglaubens samt der Frage, ob nur von einem einzigen Schöpfer, den die Monotheisten als Gott bekennen, oder von mehreren Demiurgen auszugehen sei. In diesem Zusammenhang wird das Argument entwickelt, dass die Welt von Gott bestmöglich geleitet wird. Bei Abaelard ist diese These die zweite Prämisse eines Syllogismus: „Es ist sicher, dass alles mit umso größerer Eintracht geleitet wird, je weniger mit der Aufgabe der Leitung betraut sind. Es steht fest, dass nichts besser oder mit größerer Eintracht geleitet wird, als die gesamte Welt […]. 273 Also ist ihre Leitung nur einem einzigen anvertraut.“

Interessanter als das Argument und seine logischen Voraussetzungen erscheint hier eine Hilfshypothese Abaelards, die das Gesagte plausibiliseren soll. Dazu wird zwischen notwendigen Vernunftgründen (rationes necessariae) und solchen, die sich auf moralische Evidenz (rationes ad honestatem) beziehen, unterschieden. Beide sind dadurch verbunden, „dass derjenige Grund, der sich auf ein moralisches Verdienst bezieht, immer stärker ist, als derjenige, der zum Notwendigen neigt, besonders weil die Dinge, die verdienstreich sind, durch sich selbst gefallen, und uns sofort aus einer bestimmten, ihnen 274 eigenen Kraft zu sich ziehen.“

270

Vgl. Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-6), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-4). Vgl. Coll. 2,67 (Ed. Marenbon/Orlandi 84): „Huius, ut arbitror, discipline in hoc tota colligitur summa, ut quid summum sit bonum et qua illuc uia nobis sit perueniendum aperiat.“ 272 Vgl. Augustinus, De doctrina christiana III 16 (Ed. Martin 87, 32f.) sowie Luscombe, The Ethics of Abelard, 80f. und Georges, Die Verwurzelung von Abaelards Ethik, 9-30. 273 Th. Chr. 5,9 CT (Ed. Buytaert 350f., 140-149): „Certum quippe est omnia tanto maiori concordia regi, quanto paucioribus cura regiminis eorum commissa est. Nihil autem melius aut maiori concordia regi quam mundum constat uniuersum, sicut supra Tulliana exposuit ratio. Vni igitur eius regimen subiectum est.” Die Übersetzung verzichtet auf die Wiedergabe einiger Konjunktionen, um die syllogistische Struktur des Arguments deutlicher zu konturieren. 274 Th. Chr. 5,15 (Ed. Buytaert 353, 233-139): „Magis autem honestis quam necessariis rationibus nitimur, quoniam apud bonos id semper praecipuum statuitur quod ex honestate amplius commendatur, et ea semper potior est ratio quae ad honestatem amplius quam ad 271

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Der Begriff der honestas bereitet an dieser Stelle einige übersetzerische Schwierigkeiten. Ausgehend von der Grundbedeutung ‚Ehre, Ansehen, Anstand’ hat der Terminus bereits in Ciceros Schrift De finibus bonorum et malorum die ethische Konnotation von ‚moralischer Würde’ erhalten.275 In den Collationes definiert Abaelard das honestum als etwas, „das durch sich selbst gefällt und um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen, erstrebt werden muss“276. Dies deckt sich mit dem Sprachgebrauch Anselms von Canterbury, der im Monologion zwei Objekte menschlichen Strebens benennt: Es gebe Güter, die „propter utilitatem“ aufgrund ihrer Nützlichkeit zum Erreichen eines außerhalb ihrer selbst liegenden Ziels gewollt werden, und solche, die „propter honestatem“277 – als Beispiel nennt Anselm die Schönheit – um ihrer selbst, nicht um eines anderen Gutes willen, zu erstreben sind. Abaelard bindet diese Spielart der Unterscheidung von uti und frui in den Kontext der Handlungstheorie, innerhalb derer Augustinus sie einführt,278 zurück: Eine Handlung ist als sittlich zu bezeichnen, wenn sie „eine interessenlose Zuwendung zum in sich selbst Guten (honestum)“279 darstellt. In diesem Sinne erscheint die obige Deutung, die die rationes ad honestatem als auf moralische Evidenz zielende Gründe interpretiert, gerechtfertigt.280 Perkams spricht in seiner Übersetzung der Theologia Scholarium von einem „Vernunftgrund, […] der eher zur moralischen Einsicht […] neigt“281, Jolivet überträgt ins Französische mit „raisons de convenance“282, Cottiaux sieht in den rationes ad honestatem erbauliche Gründe („raisons édifiantes“283) und verwässert damit die spezifische Bedeutung von honestas. Die inhaltliche Spitze liegt nämlich darin, dass für eine Frage der necessitudinem uergit, praesertim cum quae honesta sunt, per se placeant atque nos statim ad se sua ui quadam alliciant.“ Vgl. auch Th. Sch. 3,15 (Ed. Buytaert/Mews 506, 217-223). 275 Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum II 15,48 (Ed. Madvig 225, 3-5). 276 Coll. 2,90 (Ed. Marenbon/Orlandi 110): „Honestum quippe dicitis quod per se ipsum placet ac propter se ipsum non propter aliud est appetendum“. 277 Anselm von Canterbury, Monologion 1 (Ed. Schmitt I 14, 25-28): „Et quidem nihil solet putari bonum nisi aut propter aliquam ultilitatem, ut bona dicitur salus et quae saluti prosunt, aut propter quamlibet honestatem, sicut pulchritudo aestimatur bona et quae pulchritudinem iuvant.“ 278 Vgl. Augustinus, De doctrina christiana III 10,16 (Ed. Martin 87, 32-35) sowie De Civitate Dei XI 25 (Ed. Dombart/Kalb 344f., 20-34). 279 Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 53. 280 Zudem ist anzuführen, dass es gleich nach dem zitierten Satz um die ethischen Folgen des Glaubens an einen einzigen Schöpfergott geht. Abaelard fragt in Th. Chr. 5,15 (Ed. Buytaert 353, 243-245): „Quae enim sollicitudo bonorum nobis operum inesset, si quem nec amore nec timore ueneremur, Deum, penitus ignoraremus“? Vgl. auch Th. Sch. 3,15 (Ed. Buytaert/Mews 506, 226-228). 281 Perkams, Theologia Scholarium, 425. 282 Jolivet, Arts du langage, 320. 283 Cottiaux, La conception de la théologie, 275.

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reinen Vernunft, nämlich die nach der auf den Schöpfer zurückgehenden Kausalität in der Welt, ein moralisches Argument stärker gewichtet wird als eines, das aus theoretischer Perspektive apodiktischen und damit notwendig geltenden Charakter besitzt. Perkams zufolge muss diese Position Abaelards in Abgrenzung zu Anselm von Canterbury gelesen werden: Abaelard habe „als erster auf die grundlegenden Mängel von Anselms Methode“284 hingewiesen. Letzterem ging es darum, die Vernunftgemäßheit des christlichen Glaubens durch rationes necessariae, welche „die Klarheit der Wahrheit deutlich zeigen“285, darzulegen. Bei diesen rationes handelt es sich um „zwingende Begründungen“286, die von einer grundsätzlichen und apodiktischen Einsehbarkeit der Glaubensinhalte ausgehen. Dabei geraten nicht nur Aspekte in den Blick, die sich im Schnittpunkt zwischen Offenbarung und Metaphysik bewegen, wie etwa die triadische Struktur Gottes, sondern auch heilsgeschichtliche Ereignisse. In Cur Deus homo zeichnet Anselm die Notwendigkeit der Inkarnation und die Deutung des Sühnetodes Jesu durch die Nennung rationaler Gründe nach, denen – so sein Ziel – jede korrekt deduzierende Vernunft, auch die des Nichtchristen, zustimmen müsse.287 Allerdings wäre es verkürzt, Anselm in schematisierender Weise als Rationalisten zu zeichnen, da auch er die Grenzen der menschlichen Vernunftanstrengungen deutlich erkennt: Er konzipiert die ratio humana „ausdrücklich als eine endliche Kraft“288 und stellt ihr überdies die Autorität als erkenntnisleitende Instanz zur Seite.289 Es geht der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht um eine konsistente Interpretation der Methodologie Anselms, sondern um die Wirkung, die diese – sei es auch durch eine einseitige und verkürzte Rezeption – auf Abaelard ausgeübt hat. Abaelard war mit dem Werk des Erzbischofs von Canterbury nachweislich vertraut; er erwähnt ihn namentlich in der Theologia Christiana und der Theologia Scholarium, wo er sich mit der von Anselm eingeführten trinitätstheo284

Vgl. Perkams, Rationes necessariae, 147. Anselm von Canterbury, Monologion, prol. (Ed. Schmitt I 7, 7-11): „Quatenus auctoritate scripturae penitus nihil in ea persuaderetur, sed quidquid per singulas investigationes finis assereret, id ita esse plano stilo et vulgaribus argumentis simplicique disputatione et rationis necessitas breviter cogeret et veritatis claritas patenter ostenderet.“ 286 Scherb, Anselms philosophische Theologie, 26f. 287 Vgl. Anselm von Canterbury, Cur Deus homo 2,16 (Ed. Schmitt II 117,1 – 118,3). 288 Schönberger, Die Rationalität des Glaubens, 54. 289 Vgl. McCord Adams, Anselm on faith and reason, 39-44. Prägnant wird geschlussfolgert: “Anselm is no theological skeptic, because […] he finds in authority compass and astrolabe, tutor and guide” (53). Bonannis Gegenüberstellung von Anselm und Abaelard greift zu kurz, weil er den Autoritätsbezug Anselms zu gering einschätzt. Vgl. Bonanni, Anselmo e Abelardo, 485: “E così, al cuore della dialettica anselmiana c’è un confronto del pensiero con su stesso […]; al cuore della dialettica abelardiana, come costitutiva di quella che sta cominciando a chiamarsi teologia, c’è un piuttosto un confronto con le fonti”. 285

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logischen Analogie von Quelle, Bach und Teich auseinandersetzt,290 sowie in einem Brief an Gilbert, den Bischof von Paris.291 Die These Perkams’, wonach Abaelard mit seiner Kritik an den rationes necessariae ein Gegenkonzept zur theologischen Methodenlehre Anselms entwerfen will, erscheint plausibel. Abaelard sieht die Überforderung der theoretischen Rationalität des Menschen, die mit dem Anspruch Anselms verbunden ist und sucht stattdessen mit seinen rationes honestae – trotz des bereits erwähnten, eng an Anselm angelehnten Begriff des honestum – nach einem alternativen Argumentationsmodell. Dieses findet er, indem er „auf die philosophischen Voraussetzungen der eigenen moralischen Praxis, in der die Existenz Gottes stillschweigend vorausgesetzt wird“292, reflektiert. Die praktische Rationalität erstreckt sich für Abaelard also nicht nur auf den Bereich des Handelns im engeren Sinne, sondern besitzt auch eine erkenntnisgebende Relevanz für die spekulative Durchdringung der Wirklichkeit, in der sich der Mensch als moralfähiges Subjekt wieder findet. In diesem Zusammenhang wird auch Abaelards Rede von der Vernunft des Gewissens, der „ratio conscientiae“293 verständlich: Die innere moralische Instanz des Menschen ist nicht nur Richterin über seine Intentionen und Handlungen, sondern Teil einer Weltdeutung im umfassenden Sinne, die sich auch theoretischen Fragen zuwendet. Abaelard versucht also nicht, den Glauben durch eine deduzierende Methodik, die apodiktisch geltende Sätze hervorbringt, zu beweisen, sondern ihn durch einen Rekurs auf die „Verfasstheit als selbstverantwortliches ethisches Subjekt, als das sich jeder Mensch in seinem Gewissen erfährt“294, zu plausibilisieren. Es geht nicht darum, die theoretische Vernunft zu bezwingen (cogere), sondern die praktische Vernunft auf ihre impliziten Voraussetzungen zu befragen und den Glauben an Gott als dasjenige auszuweisen, das athematisch mitbejaht wird, wenn der Mensch versucht, sittlich zu handeln. Aus der Ablehnung von Anselms zwingendem Anspruch gegenüber der theoretischen Vernunft folgert Abaelard also nicht, dass die Existenz Gottes aus dem Bereich des rational Erfassbaren ausgeschlossen wird. Die Frage nach Gott ist ‚vernunftfähig’ und rational diskutierbar; sie ist dies allerdings auch auf der Ebene der praktischen Vernunft, die nach dem sittlich Gebotenen und nicht nach dem apodiktisch Notwendigen fragt. Blackwell chrakterisiert dies als Verbindung einer 290

Vgl. Th. Chr. 4,83 (Ed. Buytaert 304, 1206f.), Th. Sch. 2,120 (Ed. Buytaert/Mews 467, 1802). Zum Ternar von Quelle, Bach und Teich vgl. Anselm von Canterbury, Epistola de incarnatione verbi 14 (Ed. Schmitt I 33, 5-8): „Si enim rivus per fistulam currat a fonte usque ad lacum: nonne solus rivus, quamvis non alius Nilus quam fons et lacus, ut ita dicam infistulatus est, sicut solus filius incarnatus est, licet non alius deus quam pater et spiritus sanctus?“ 291 Vgl. Ep. 14 (Ed. Smits 280). 292 Perkams, Rationes necessariae, 151. 293 Th. Chr. 5,15 (Ed. Buytaert 353, 242), Th. Sch. 3,15 (Ed. Buytaert/Mews 506, 226). 294 Perkams, Theologia Scholarium, 13.

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„sokratischen Moralität (exemplo operum) mit dem Intellekt (doctrina pradeicationis [sic])“295. Dies ist eine zutreffende Umschreibung, da Abaelard den paganen Philosophen zustimmend in den Mund legt: „Gotteserkenntnis wird nicht durch Überlegung erreicht, sondern durch gute Lebensführung“296. Auch hier drängt sich – wie bei der Anwendung einer transzendentalen Methodik zur Bestimmung des Glaubensbegriffs – ein Seitenblick zu Kant auf. Dieser wurde für den Bereich der Moralphilosophie schon von mehreren Autoren gezogen: Bereits Dahmen führt in seiner Studie der „Abälardschen Ethik“ eine „Gegenüberstellung mit Lessing und Kant“297 auf; neuerdings setzten sich Enders und Perkams differenziert mit Abaelards Begriff der intentio auseinander, kamen dabei jedoch zu unterschiedlichen Resultaten.298 Ein epochenüberschreitender Vergleich ist nur mit aller Vorsicht zu unternehmen, da es – wie bereits ausgeführt – nicht darum gehen kann, spätere Entwicklungen in die Texte Abaelards hineinzulegen. Dennoch lassen sich argumentative Parallelen zwischen Abaelards Verbindung von rationes honestae und dem Gottesbegriff auf der einen, sowie Kants Postulatenlehre auf der anderen Seite darlegen. Darauf weist auch Perkams hin.299 Das Ziel von Kants „Ethikotheologie“300 besteht darin, Gott als ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft auszuweisen und so die Frage nach dem letzten Zweck sittlichen Handelns zu beantworten. Hierzu wird vom Begriff des „höchsten Gutes“ ausgegangen, das jedoch – anders als bei Abaelard – kein Gottesprädikat ist, sondern die Koinzidenz von einer sich aus der Moralität ergebenden Glückswürdigkeit mit einer faktischen Glückseligkeit bezeichnet.301 Angesichts der Erfahrung, dass der Tugendhafte nicht immer auch der Glückliche ist, stellt sich der praktischen Vernunft die Frage nach dem Sinn menschlichen Handelns. Um dieses nicht in die Absurdität abgleiten zu lassen, benennt Kant – 295

Blackwell, Non-Ontological Constructs, 242: „The theological element which links Socratic morality (exemplo operum) with the intellect (doctrina pradeicationis [sic]) in Abelard originates in Augustine.“ 296 Th. Sum. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 120, 155f.): „Quod nec ipsos latuit philosophos, qui noticiam dei non ratiocinando, sed bene uiuendo acquirendam censebant”. Vgl. mit leichten Modifikationen zu Beginn des Satzes Th. Chr. 3,33 (Ed. Buytaert 207, 386-388). 297 Dahmen, Darstellung der Abälardschen Ethik, 59. 298 Nach Enders, Abälards ‚intentionalistische’ Ethik, 156-158, besteht die Gemeinsamkeit zwischen Abaelard und Kant darin, dass die Intention, aus der heraus eine Handlung vollzogen wird, auch ihrer moralischen Wertung zugrunde liegen müsse. Der Differenzpunkt beider Denker liege jedoch im Verständnis des Autonomiebegriffs: Abaelards Vorstellung, der gute Wille des Menschen zeige sich in seiner Bereitschaft, den Willen Gottes zu tun, bedeute für Kant eine heteronome Ausrichtung. Dieser Deutung widerspricht Perkams, Autonomie und Gottesglaube, 131. 144-147. 299 Vgl. Perkams, Rationes necessariae, 153. Dort wird behauptet, dass „Abaelards Ergebnis vielleicht eher an Kant erinnert als an Anselm“. 300 Kant, Kritik der Urtheilskraft, B 410 (AA V 442). 301 Vgl. Sullivan, Immanuel Kant’s Moral Theory, 262f.

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neben der Freiheit, die hier nicht näher untersucht werden kann – noch zwei Postulate, die nicht nur unverbindliche Hypothesen, sondern denknotwendig sind,302 um die faktische Erreichbarkeit des höchsten Gutes zu sichern: die Unsterblichkeit der Seele303 und die Existenz Gottes. Gott ist nämlich jenes Wesen, das aufgrund seiner Allwissenheit, Allmacht und Heiligkeit in der Lage ist, dem Glückswürdigen das Glück auch tatsächlich zuzuteilen. Damit ist Gott zwar kein möglicher Erkenntnisgegenstand der theoretischen Vernunft mehr, wohl aber eine notwendige Voraussetzung der praktischen Vernunft, sofern diese die Annahme eines letzten Ziels ihres Handelns nicht aufgeben will.304 Wie bei Abaelard stößt der Mensch also auf die Frage nach Gott, wenn er nach den sittlichen Maßstäben seines eigenen Handelns fragt. Kant schlussfolgert: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen kann sein und soll.“305

Das Kant und Abaelard gemeinsame Argumentationsmuster darf jedoch nicht über die bleibenden Unterschiede zwischen beiden Denkern hinwegtäuschen. Der von Kant vorgenommene Ausschluss der Gotteserkenntnis aus dem Bereich der theoretischen Vernunft ist mit Abaelards epistemischer Bewertung der Gotteslehre nicht vereinbar. Auch die kantische Vorstellung einer Unsterblichkeit der Seele lässt sich von einem christlich-dogmatischen Standpunkt nicht vereinnahmen: Kant verlängert nämlich den Prozess der moralischen Vervollkommung in das Jenseits hinein; auch dort habe sich der Mensch um die Autonomie seines Handelns zu bemühen und den Versuchen, seinen eigenen Neigungen zu folgen, zu widerstehen.306 Diese Thesen sind Abaelard fremd. Eine Gemeinsamkeit mit Kant besteht jedoch bei der Verortung der Gottesfrage innerhalb der Rationalität des Menschen: Dieser gelangt zu korrekten Einsichten, wenn er mit den Fähigkeiten seiner praktischen Vernunft sein eigenes sittliches Handeln hinterfragt und auf seine Voraussetzungen sowie seine Aporien hin untersucht.

302

Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft 257 (AA V 142, 4-6): „Ein Bedürfniß der reinen Vernunft in ihrem speculativen Gebrauche führt nur auf Hypothesen, das der reinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten“. 303 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft 219f. (AA V 122). 304 Vgl. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 259. 305 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI 6, 8-11). 306 Vgl. Broad, Kant, 140.

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5.2. Die ontologische Gutheit jeder Wissenschaft und die Apologie der Dialektik durch ihren rechten Gebrauch Die beschriebene Verhältnisbestimmung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft hat Folgen für die Wahl des methodischen Instrumentariums, auf dessen Grundlage Abaelard seine Theologie betreibt. Hierbei nimmt die Dialektik als ars sermonicalis, der es um die Bedeutung von Termen und eine Reflexion auf die Regeln korrekter Prädikation geht, eine hervorgehobene Stellung ein.307 Der Begriff der Dialektik wird als Synonym zu ‚Logik’ verwendet;308 terminologische Überdehnungen, wie etwa Thomas sie vornimmt, wenn er Abaelards Methode der Collationes als „meditative Dialektik“309 beschreibt, sind dabei nicht hilfreich. In den Glossulae super Porphyrium grenzt Abaelard die Logik von der Topik ab und definiert erstere – unter Bezugnahme auf Cicero und Boethius – als „Denkweise der Erörterung, das heißt eine Unterscheidung der Argumente, durch die etwas erörtert beziehungsweise diskutiert wird. Die Logik ist dabei keine Wissenschaft über den Gebrauch von Argumenten oder deren Zusammensetzung, sondern über ihre Unterscheidung und wahrheitsgetreue Beurteilung, wodurch nämlich die einen [als] 310 gültig, die anderen [als] ungültig“

erkannt werden. Warum – so ist zu fragen – hat Abaelard ein vornehmlich sprachtheoretisches Interesse an der Theologie, das auf die Klärung der Gültigkeit von Termen abzielt? Ex negativo lässt sich sagen, dass es ihm bei der Anwendung der Dialektik nicht um eine vollständige rationale Entschlüsselung des Glaubens durch zwingende Argumente geht, sondern um – wie Cottiaux betont – eine intelligentia fidei im Sinne eines Verständnisses „des grammatikalischen Sinnes der Offenbarungsaussagen“311. Die Verstehensbemühungen Abaelards sind also wesentlich sprachlicher Art, weshalb theologische Lehrsätze aus der Perspektive einer ars sermonicalis untersucht werden müssen. Unter dem Begriff der Dialektik ist dabei jene Art der Logik zu verstehen, die Teil des Triviums innerhalb der artes liberales ist und sich – als logica vetus – an sieben kanonischen Schriften antiker Autoren, näherhin Aristoteles, Porphyrios und 307

Vgl. Tweedale, Abelard and the culmination of the old logic, 143. Vgl. Luscombe, Peter Abelard, 282f.: Abelard „uses both terms indifferently“. 309 Thomas, Die meditative Dialektik im ‚Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum’, 99. 310 Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 506, 24-28): „Est autem logica Tulli auctoritate diligens ratio disserendi, idest discretio argumentorum, per quae disseritur, idest disputatur. Non enim est logica scientia utendi argumentis sive componendi ea, sed discernendi et diiudicandi veraciter de eis, quare scilicet haec valeant, illa infirma sint.“ Vgl. auch Boethius, In Topica Ciceronis I (PL 64, 1045A). 311 Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f.: Abélard „ramène l’intelligentia fidei aux proportions d’une connaissance indirecte de l’objet de la foi ou d’une compréhension du sens grammatical des énoncés de la révélation“.

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Boethius, orientiert.312 Für Abaelard ist die Dialektik deshalb von herausgehobener methodischer Bedeutung, weil ihr „jede Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit derart untersteht, dass sie als Führerin den Vorrang in der gesamten Philosophie und die Herrschaft über sämtliche Lehre besitzt.“313 Die Dialektik ist also keine Einzelwissenschaft, die mit ihrer fachspezifischen Methodik einen Teilbereich der Wirklichkeit vernunftgemäß untersucht. Sie ist stattdessen eine universale Wissenschaft, da sie sich mit den apriorisch gültigen und notwendigen Regeln des menschlichen Denkens auseinandersetzt. Sie wendet deshalb die Maßstäbe der Rationalität nicht – wie die anderen Wissenschaften – auf ein bestimmtes Formalobjekt an, sondern setzt diese Maßstäbe selbst. Sie erhebt allgemeine Regeln korrekten Denkens und Schlussfolgerns. Daher ist sie einerseits Wissenschaft im höchsten Sinn (nämlich die Wissenschaft der Wissenschaften), aber auch wiederum keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, die den anderen Disziplinen ihr Können zur Verfügung stellt.314 Vor diesem Hintergrund ist nach der Bedeutung der Logik als dux universae doctrinae für die Theologie zu fragen. Greifen ihre Distinktionen und Beweisverfahren auch auf das Problem der Gotteserkenntnis? Vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen den so genannten Dialektikern und Antidialektikern „über die Reichweite der diskursiven Rationalität“315 erscheint diese Frage als besonders strittig.316 Abaelard entwickelt in der Theologia Christiana zwei Argumentationsstrategien, die die Anwendung der septem artes liberales auch für die Theologie rechtfertigen: (1) Zunächst wird eine pragmatische Lösung der umstrittenen Frage favorisiert, ob das Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) Teil der christlichen Erziehung sein sollte: Dies wird ausdrücklich bejaht,317 wobei – in Anlehnung an Ciceros Vorgehen – nicht auf zu analysierende Beispielsätze aus der paganen, fiktionalen Literatur zurückzugreifen sei.318 Auf den mit den Methoden des Triviums zu erzielenden Erkenntnisgewinn, den sich auch Augustinus zueigen machte,319 solle 312

Vgl. Ebbesen, Ancient Scholastic Logic, 105f. sowie Dialect. 2,1 (Ed. De Rijk 146, 11-20) Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 470, 4-6): „Hec autem est dialectica, cui quidem omnis veritatis seu falsitatis discretio ita subiecta est, ut omnis philosophie principatum dux universae doctrine atque regimen possideat.“ 314 Vgl. Jacobi, Dialetica est ars artium, 307-328. 315 Dreyer/Seit/Vollet, Diesseits und jenseits des allgemein Zugänglichen, 370. 316 Vgl. Wöhler, Dialektik in der mittelalterlichen Philosophie, 53-55, sowie überblickshaft Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, 142, Nr. 246-253 und Oeing-Hanhoff, Art. Dialektik, 175-178. 317 Vgl. Th. Chr. 2,128 (Ed. Buytaert 192, 1959-1962): „Quod si in breui assequi iuuat Christianos lectores tam genera constructionum quam ornatus uerborum, plene id percipient ex ipsis artibus quae ista ex integro et aperte tradunt, grammatica scilicet, dialectica, rhetorica“. 318 Zu Abaelards Verständnis der Rhetorik vgl. Fredborg, Abelard on Rhetoric, 55-80. 319 Vgl. Fuhrer, Augustinus’ frühes Bildungskonzept, 19f. 313

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nicht verzichtet werden. Die ars sermonicalis wird herangezogen, um „Obskuritäten im Sprachgebrauch zu erhellen“320. Die bloßen Erfindungen der Dichter hingegen sind nicht Teil des Curriculums. Daraus ergibt sich für Abaelard auch eine Abstufung der drei Disziplinen des Triviums: Nur die Dialektik, die die Bedeutung von Termen klärt, ist eine Wissenschaft im strengen Sinne, wohingegen Grammatik und Rhetorik lediglich als Künste fungieren, deren Resultate zwar nützlich seien, aber – anders als logische Schlussfolgerungen – keine apodiktische Geltung für sich beanspruchen könnten.321 (2) Diesem Pragmatismus in Bezug auf das Trivium steht eine religiöse Überformung des Quadriviums gegenüber. Einsichten aus der Arithmetik, der Harmonielehre und der Astronomie (die Geometrie findet in der Theologia Christiana keine Exemplifizierung322) werden mit dogmatischen Glaubensinhalten in Beziehung gesetzt und gelten als göttlich inspiriert. Dies zeigt sich etwa an der Deutung der Harmonielehre: „Deshalb schreiben die Philosophen zurecht, oder vielmehr der Herr durch sie, die es vielleicht nicht wissen, der Weltseele wie auch den höheren Teilen des Firmamentes eine übermäßige und besonders hohe Süße des harmonischen Gesangs zu“ aus dem ersichtlich wird, „wie einträchtig die göttliche Güte, die jene als Weltseele bezeichnen, die die Wahrheit aber Heiliger Geist nennt, alles in der Welt ordnet.“323 Abaelards Strategie zur Rechtfertigung der artes liberales324 als Hilfswissenschaften der Gotteslehre besteht also darin, entweder deren apologetische Nützlichkeit für die Verteidigung des Glaubens zu betonen (Trivium),325 oder aber eine inhaltliche Konformität zwischen philosophischer Einsicht (Quadrivium) und der christlichen Glaubenslehre aufzuweisen. Beide Argumente sind jedoch nicht im engeren Sinne epistemologisch fundiert. Das Ausnutzen der artes zu apologetischen Zwecken ist eher eine Frage der Klugheit (also prudentieller Art), der Verweis auf die Kompatibilität zwischen den freien Künsten und der Gottes320

Evans, Old Arts and New Theology, 85: „Abelard’s intention is to clear up obscurity in the use of language, in the hope that if he removes ambiguity of expression the paradox will disappear, too.“ 321 Vgl. Mews, Peter Abelard on Dialectic, Rhetoric and the Principles of Argument, 46. 322 Das Fehlen von Ausführungen zur Geometrie in der Th. Chr. könnte auch dadurch erklärt werden, dass „die Zahl der artes im Mittelalter keineswegs unbestritten oder unberührt feststand“ (Dolch, Lehrplanfragen in der Frühscholastik, 434). 323 Th. Chr. 1,84 (Ed. Buytaert 106f., 1117-1124): „Bene itaque philosophi, immo Dominus per eos id forsitan ignorantes, tam ipsi animae mundi quam superioribus firmamenti partibus nimiam ac summam harmonicae modulationis suauitatem assignant, ut quanta pace, quanta fruantur concordia, quam diligentius possent exprimerent, et quam concorditer cuncta in mundo diuina disponat bonitas; quam illi animam mundi, Veritas Spiritum Sanctum, ut dictum est, nominat.“ Vgl. auch Th. Sch. 1,141 (Ed. Buytaert/Mews 377, 1660-1666). 324 Vgl. McLaughlin, Abelard’s conceptions of the liberal arts, 524. 325 In Th. Chr. 3,14 (Ed. Buytaert 201, 178-199) zeigt sich im Vergleich zur Th. Sum. der Versuch, die apologetische Bedeutung der Dialektik stärker durch Bibelzitate auszuweisen.

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lehre ist eher beschwichtigend und nivellierender Natur. In der Dialectica gibt Abaelard eine grundsätzlichere Auskunft. Er nimmt Stellung zu dem Vorwurf, dass „es einem Christen nicht erlaubt sei, Dinge abzuhandeln, die nicht zum Glauben gehören“326, denn: Die Logik zerstöre den Glauben. Um diese These nicht nur durch gegenläufige Plausibilisierungen in Frage zu stellen, sondern sie im strengen Sinne zu widerlegen, muss Abaelard eine epistemologisch ausweisbare Verbdindung zwischen der Logik als Wissenschaft und dem christlichen Glauben, zwischen scientia und fides finden. Dies gelingt ihm durch den Begriff der Weisheit. Die sapientia sei einerseits eine Unterart (species) der Wissenschaft, der Glaube wiederum „besteht in“327 der Weisheit. Das Streben nach Weisheit ist also eine Erscheinungsform der Wissenschaft, aber auch eine Qualität des Glaubens, der sich – zumindest in seiner ethischen Dimension – an dem ausrichtet, was „durch sich selbst gefällt und um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen, erstrebt werden muss“328 Die sapientia bildet eine epistemologische Brücke zwischen Wissenschaft und Glaube; beide könnten sich also nicht widersprechen. Hierin zeigt sich erneut die augustinische Prägung von Abaelards Verhältnisbestimmung zwischen Glaubensaussagen und Vernunfteinsichten. Auch der Bischof von Hippo bemüht sich darum, „den Glauben als Gestalt des Weisheitsstrebens und der damit verbundenen Lebensform auszuweisen.“329 Der beschriebene Gedankengang der Dialectica mag zwar in sich konsistent sein, er birgt aber weitreichende Konsequenzen. Die Rede von der Weisheit als species evoziert eine hierarchische Stufung: Eine Art ist ihrer Gattung, dem genus proximum, untergeordnet. Wenn der Glaube in der species ‚Weisheit’ besteht, die Weisheit aber dem genus ‚Wissenschaft’ zugeordnet ist, dann ist der Glaube eine Unterform der Wissenschaft. Die scientia jedoch strebt nicht nur nach Erkenntnis, sondern auch nach Gewissheit – also wahrer Erkenntnis in ihrer sichersten Weise. Eine derart positiv zu fassende Gewisseit aber kann die fides per definitionem nicht bieten. Sie ist – wie die Bestimmung aus den erst später entstandenen Recensiones breviores zur Theologia Scholarium formuliert – eine „existimatio rerum non apparentium“330 und kann deshalb ihrem 326

Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 5-9): „Novam accusationis calumniam adversum me de arte dialectica scriptitantem aemuli mei novissime excogitaverunt, affirmantes quidem de his quae ad fidem non attinent, christiano tractare non licere. Hanc autem scientiam non solum nos ad fidem non instruere dicunt, verum fidem ipsam suarum implicamentis argumentationum destruere.“ 327 Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15-17): „Est enim scientia veritatis rerum comprehensio, cuius species est sapientia, in qua fides consistit. Haec autem est honestatis sive utilitatis discretio; veritas autem veritati non adversa.” 328

Coll. 2,90 (Ed. Marenbon/Orlandi 110): „Honestum quippe dicitis quod per se ipsum placet ac propter se ipsum non propter aliud est appetendum“. 329

330

Honnefelder, Weisheit durch den Weg der Wissenschaft, 68f. th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.).

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epistemischen Status nach keine certitudo hervorbringen. Abaelard kann also mit dem Begriff fides nicht die propositional gefassten Glaubenssätze meinen. Das beschriebene Dilemma lässt sich nur dann lösen, wenn Abaelards Rede vom Glauben als eine Art der Wissenschaft in einen ethischen Zusammenhang gestellt wird. Die Abwägungen der praktischen Vernunft über das, was im wirksamen Glauben zu tun oder zu unterlassen, zu erstreben oder zu meiden ist, trägt durchaus wissenschaftliche Züge. Abaelard präzisiert deshalb seine Verhältnisbestimmung zwischen den drei Größen fides, sapientia und scientia dahingehend, dass der Glaube die „Unterscheidung des in sich Guten oder Nützlichen“331 bezeichne. Der Konnex zwischen Wissenschaft und Gotteslehre liegt für Abaelard also auf dem Feld der Ethik. Dieses Grundmotiv entfaltet sich in einer moralphilosophischen Rechtfertigung für den theologischen Gebrauch der Logik. Zunächst ist festzustellen: Keine Wissenschaft ist schlecht in sich selbst (also inhonestum332), da jede Wissenschaft, auch wenn sie von moralisch verwerflichen Dingen handelt, die Erkenntnis fördert.333 Erkenntnissteigerung wiederum ist ein Gut an sich, das keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Dieser Gedankengang leuchtet erst ein, wenn man sich den Wissenschaftsbegriff, der ihm zu Grunde liegt, vergegenwärtigt: „Scientia […] est comprehensio ueritatis rerum que sunt“334. Hierbei durchdringen sich – wie bereits skizziert – ein propositionales und ein ontologisches Wahrheitsverständnis. „Wahr sein“ im ontologischen Sinne bedeutet, eine Was-Bestimmtheit zu besitzen. „Sein“ ist in diesem Zusammenhang als Kopula (So-Sein) zu verstehen. Die veritas rerum ist die Grundeigenschaft jedes Gegenstandes, eine Bestimmbarkeit oder eine Washeit (quidditas) zu besitzen. Der ontologischen Bestimmung der natura eines Gegenstandes korrespondiert die propositionale Wahrheit, die dasjenige sprachlich in die Form einer Proposition bringt, was ontologisch betrachtet bereits vorhanden ist.335 Ausgehend von diesem Verständnis ist jede Wissenschaft zumindest als neutral einzustufen, weil sie nur das zu Tage fördert, was bereits in der Struktur der Wirklichkeit angelegt ist.336 Dies gilt auch für die Behandlung moralisch verwerflicher Dinge, die im ontologischen Sinne nicht schlecht sein können, sondern an einem Mangel an 331

Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 16f.): „Haec [fides] autem est honestatis sive utilitatis discretio; veritas autem veritati non adversa.” 332 Vgl. Coll. 2,90 (Ed. Marenbon/Orlandi 110): Inhonestum est „quod ex propria turpitudine est fugiendum.” 333 Vgl. Th. Sum. 2,8 (Ed. Buytaert/Mews 117, 90f.): „Ex his itaque liquidum est nullam aut scientiam aut potestatem malam esse”. Vgl. Th. Chr. 3,7 (Ed. Buytaert 197, 83f.), Th. Sch. 2,30 (Ed. Buytaert/Mews 422, 459f.). 334 Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 117, 78f.), Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 70f.), Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 447). 335 Vgl. De Rijk, Peter Abelard’s Semantics and His Doctrine of Being, 123f. 336 Vgl. Lewis, Determinate Truth in Abelard, 87f.

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Gutem (privatio boni) leiden. Sie können metaphysisch gesehen aber nicht schlecht sein, weil sie ontologisch betrachtet allein aufgrund der Tatsache, dass es sie gibt, bereits gut sind. Mit einigem Pathos formuliert Abaelard: „Denn niemals gestehen wir zu, dass irgendeine Wissenschaft schlecht sei, auch nicht jene, die vom Schlechten handelt“337! Erkenntnis ist also ein Gut an sich, weil sie offen legt, was dem Sein nach bereits gegeben ist. Die cognitio ist ihrer Definition nach – wie Abaelard in der Dialectica betont – gar nicht in der Lage, das Prädikat „malum“ zugesprochen zu bekommen,338 da sich Schlechtes nur auf eine Handlung, also auf die praktische Anwendung von Erkenntnis, nicht aber auf die Erkenntnis selbst, bezieht.339 Ernst weist in diesem Zusammenhang auch auf eine Differenzierung hin,340 die Abaelard in den Collationes vornimmt. Dort unterscheidet er zwischen einer Prädikation von „gut“, die sich auf die Sachen selbst („ad res ipsas“341) oder auf den Gebrauch einer Sache („ad eventum rei“342) bezieht.343 Im erstgenannten Sinn kann auch gesagt werden, dass „Gott jede Wissenschaft zuteilt“344. Auf die Logik als apriorische Wissenschaft angewendet, in der „sich die Vernunft zeigt und eröffnet, was sie ist“345, bedeutet dies, dass sie als disciplina displinarum Grundstrukturen des Denkens und seiner sprachlichen Verfasstheit offen legt. Insofern fördert sie theologische Erkenntnis, wenn es etwa um die Auslegung widersprüchlicher Bibelzitate – hierauf weist Abaelard in 337

Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 116, 68f.): „Sed neque ullam scientiam malam esse concedimus, etiam illam que de malo est.” Vgl. Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 60f.) sowie leicht modifiziert Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 436-438). 338 Zum semantischen Hintergrund der akzidentellen Prädikation vgl. Marenbon, Abélard, la prédication et le verbe ‚être’, 205-213. 339 Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 22-25): „Cuius itaque mala est actio, bona potest esse cognitio, ut, cum malum sit peccare, bonum est tamen peccatum cognoscere, quod aliter non possumus vitare.“ 340 Vgl. Ernst, Bloße Gesinnungsethik?, 38f. 341 Coll. 2,202 (Ed. Marenbon/Orlandi 204): „Nec solum ad res ipsas, uerum etiam ad ea que de rebus dicuntur, hoc est ad ipsa propositionum dicta, sic nonnumquam boni uocabulum applicamus, ut etiam dicamus quia bonum est malum esse, quamuis minime concedamus bonum malum esse.“ 342 Coll. 2,223 (Ed. Marenbon/Orlandi 220): „Aliud quippe est dicere ‚malum est bonum’, aliud dicere ‚malum esse est bonum’: ibi enim ad rem malam, hic ad rem malam esse applicatur ‚bonum’, hoc est, ibi ad rem, hic ad euentum rei.“ 343 Zum Begriff der Gutheit vgl. Marenbon, Abelard’s Ethical Theory, 311-314. 344 Th. Sum. 2,8 (Ed. Buytaert/Mews 117, 90-93): „Ex his itaque liquidum est nullam aut scientiam aut potestatem malam esse, quantumcumque mala sint exercitia ipsarum, cum et deus omnem tribuat scientiam et omnem ordinet potestatem.” Vgl. Th. Chr. 3,7 (Ed. Buytaert 197, 83-86), Th. Sch. 2,30 (Ed. Buytaert/Mews 422, 459-462). 345 Th. Sum. 2,5 (Ed. Buytaert/Mews 115, 38-40): „Hec [sc. Logica, disciplina disciplinarum] docet docere, hec docet discere. In hac seipsa ratio demonstrat atque aperit quid sit”. Vgl. in etwas veränderten Zusammenhängen auch Th. Chr. 2,117 (Ed. Buytaert 184f., 1785-1787), Th. Sch 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 415, 262-264).

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der Theologia Scholarium eigens hin346 – oder das Verständnis des trinitarischen Glaubens geht. Diese Erkenntnis, die Gott zu ihrem Gegenstand hat, ist in sich gut. Aus diesem Grund ist die Dialektik als Methode, genauer gesagt als Hilfsdisziplin der Theologie, gerechtfertigt.347 Sie ist als „eine der größten Gaben Gottes, die je auf der Erde erblühten“348 eine Dienerin (deserva) theologischer Wissenschaft. In dieser spezifischen Hinsicht kann Hödls These, „Abailard programmierte die Gottesaussage im Dialektischen“349, zugestimmt werden. Geht man jedoch – um auf die zitierte Unterscheidung aus den Collationes zurückzukommen – von der res ipsa zum eventum rei, so ist sich Abaelard der ambivalenten Gebrauchsmöglichkeit der Wissenschaften bewusst. „Es verhält sich deshalb mit der Philosophie wie mit einem besonders scharfen Schwert, das der Tyrann zum Verderben, der Fürst hingegen zur Verteidigung verwendet, und das je nach der Absicht des Benutzers genauso viel nutzen wie schaden kann.“350

Die intentio bildet hierbei einen Schlüsselbegriff,351 insofern es durch sie ermöglicht wird, eine Handlung nicht nur als äußeren Ablauf, sondern – wie Ernst definiert – „in Relation auf das sie begründende Ziel“352 zu bewerten. Die Verwendungsabsicht des Dialektikers – nicht die Dialektik an sich – ist dafür verantwortlich, ob diese Wissenschaft zum Nutzen der rechten Gotteserkenntnis oder zum Fall in die Häresie gebraucht wird. Die Dialektik selbst ist moralisch indifferent – ebenso wie eine äußere Handlung, die Abaelard zufolge ihre sittliche Qualität erst durch die intentio, in der sie vollbracht wurde, erhält: „Die Werke, die […] den Verworfenen wie den Erwählten gemeinsam sind, sind nämlich alle

346

Vgl. Th. Sch. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 414, 258f.). Dieser theoretische Sachverhalt findet einen poetischen Ausdruck in Carm. (Ed. RubinghBoscher 129, 425): „Ex hominis uicio ne culpes illius artem“. 348 Th. Chr. 2,119 (Ed. Buytaert 186, 1818-1824): „Nouerat itaque iste ecclesiasticorum maximus doctorum et a philosophia olim gentili ad ueram, quae Christus est, sophiam conuersus, quae in philosophicis de Deo legerat scriptis, et quam indignum esset philosophicas quoque disciplinas, quae inter maxima dona Dei simper in terris effloruerunt, auctorem suum atque omnium non agnoscere et ei quoque cui obtemperant omnia non deseruire.” Vgl. Th. Sch. 2,21 (Ed. Buytaert/Mews 416, 301-307). 349 Hödl, Die dialektische Theologie des 12. Jahrhunderts, 142. 350 Th. Sum. 2,6 (Ed. Buytaert/Mews 116, 55-58), Th. Chr. 3,5 (Ed. Buytaert 196, 46-49): „Tenet itaque hec philosophia acutissimi gladii instar, quo tirannus ad perniciem, princeps utitur ad defensionem, ac pro intentione utentium, sicut plurimum prodesse, ita et plurimum nocere potest.“ 351 Vgl. Luscombe, The Ethics of Abelard. Some Further Considerations, 80-84. 352 Ernst, Ethische Vernunft und christlicher Glaube, 127. 347

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in sich indifferent und dürfen nur angesichts der Absicht des Handelnden gut oder böse genannt werden“353. Wieder ist die praktische Vernunft erkenntnisleitend für eine theoretische Fragestellung. Ohne die rechte Gesinnung führt auch die apriorische Vernunftwissenschaft der Logik zu falschen Konklusionen. Abaelard bezeichnet diese als Sophismata. Darunter sind „falsche Schlussfolgerungen der Vernunft [zu verstehen], die die wahren meist so nachahmen, dass sie nicht nur die Langsamen, sondern auch sogar die Scharfsinnigen täuschen.“354 Durch diese, dem Werk Augustins entnommene Aussage,355 bettet Abaelard die Lehre der sechs fallaciae, die die Logica vetus in Anlehnung an Boethius kennt,356 in einen ethischen Kontext ein. Die so genannten Sophismata haben zwei zentrale Merkmale: (1) Sie sind logische Fehlschlüsse, die (2) durch eine falsche Gesinnung zu Stande kommen. Die Logik bleibt für Abaelard – darin ist er der antiken Tradition verbunden – eine reine Vernunftwissenschaft, die sich mit den apriorischen Gesetzen des Denkens sowie der korrekten Verwendung der Sprache auseinandersetzt und dadurch Strukturen des Seienden offen legt; insofern ist sie „die einzige Wissenschaft“357 im strengen, prinzipiellen Sinne. Die Innovation des abaelardschen Ansatzes besteht jedoch darin, dass er die Logik nicht nur im idealen Raum des denkerisch Notwendigen konstruiert, sondern auch erkenntnisverzerrende Faktoren mit einbezieht. Sie werden sogar zum entscheidenden Kriterium für die Anwendung der Dialektik: Diese erscheint als Hilfswissenschaft der Theologie gerechtfertigt, wenn ihr Gebrauch mit einer recta intentio verbunden ist. Praktisches Handeln und theoretische Erkenntnis stehen also in einer wechselseitigen, sogar zirkulären Abhängigkeit zueinander: Moralisch schlechte Taten sind die Folge eines Erkenntnisproblems, da der kognitive Akt der discretio dem sittlichen Handeln vorausgeht; das Böse kann, wie Abaelard in Anlehnung an Boethius formuliert, nur dann gemieden werden kann, wenn es zuvor erkannt

353

Scito I 30,1 (Ed. Ilgner 30, 779-781): „Opera quippe, quae, ut supra diximus, eque reprobis ut electis communia sunt, omnia in se indifferentia nec nisi pro intencione agentis bona uel mala dicenda sunt“. 354 Th. Sum. 2,5 (Ed. Buytaert/Mews 116, 49-52): „Sunt enim multa que uocantur sophismata, false conclusiones rationum et plerumque ita ueras imitantes ut non solum tardos, sed ingeniosos etiam decipiant.“ Vgl. Th. Sch. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 415, 278-280). 355 Vgl. Augustinus, De doctrina christiana II 31,48 (Ed. Martin 66, 7-10). 356 Vgl. Pinborg, Logik und Semantik im Mittelalter, 66f. Bei De Rijk, Logica Modernorum I, 49 findet sich eine Auflistung der von Abaelard analysierten logischen Fehlschlüsse. 357 Th. Chr. 2,17 (Ed. Buytaert 184, 1781-1784): „Vnde nobis praecipue tam dialecticam quam arithmeticam beatus commemorat Augustinus, qui adeo in secundo libro De ordine dialecticam commendare ausus est, ut eam solam esse scientiam profiteri uideatur“. Vgl. in anderem Satzzusammenhang Th. Sch. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 415, 261).

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worden ist.358 Falsches Erkennen liegt im Gegenzug in einem moralischen Defizit begründet, wie Abaelards Definition der Sophismata zeigt. Eine korrekte Erfassung des Guten (bonum) ist Voraussetzung für die Einsicht in das Wahre (verum); die theoretische Wahrheit hingegen ist auf der praktischen Ebene die Voraussetzung für eine sittliche Handlung. Dadurch tritt das Einheitsmoment der menschlichen Vernunft deutlich zum Vorschein. Das Kennzeichen der einen Vernunft ist es, „alles Sinnliche zu übersteigen und das aufzuspüren, was das Sinnliche nicht zu erreichen vermag“359. Diesen Transcensus leistet die Vernunft in zwei Kontexten: Als theoretische übersteigt sie das Körperliche hin zu einem intelligiblen Erkennen, als praktische übersteigt sie das Handeln hin zu einer ethischen Reflexion. Dabei bleibt sie jedoch die eine Vernunft, die sich lediglich in zwei Anwendungsbereiche untergliedert. Das einheitsstiftende Moment tritt bei Abaelard dadurch besonders hervor, dass er auch die beiden Applikationsbezirke – das Erkennen und die Frage nach der Moralität – miteinander verzahnt: Eine korrekte cognitio auf der theoretischen Ebene bedarf der sittlichen Praxis; diese ist wiederum auf einen durch die Vernunft zu leistenden Akt der Unterscheidung angewiesen. Liegt hier ein Zirkelschluss vor?

6. Die Phänomenologie des Irrtums 6.1. Der Zusammenhang von superbia und caecitas Die dargelegte Verbindung zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Rationalität zeigt an, dass Abaelard den error nicht nur auf der Ebene der Wissenschaften als Erkenntnisfehler deutet, sondern eine theoretische Fehleinschätzung in einer falschen moralischen Ausrichtung begründet sieht. Eine tragende Rolle bei der Genese des Irrtums spielt für ihn die kardinale Untugend der superbia: „Es gibt aber ein der Wissenschaft immer sehr vertrautes Ge-

358

Vgl. Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 116, 68-72): „Sed neque ullam scientiam malam esse concedimus, etiam illam que de malo est; que iusto homini deesse non potest, non ut malum agat, sed ut a malo precogita sibi prouideat, quod nisi cognitum, test Boetio, uitare non posset.“ Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 60-63), mit leichten Modifikationen auch Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 436-440). 359 Th. Chr. 5,3 (Ed. Buytaert 347, 25-30): „Si tamen ipsam uim rationis diligentius attendamus, cuius proprium est omnem transcendere sensum et ea uestigare quae sensus non ualet attingere, profecto quanto quaeque res subtilioris est naturae et a sensu remotior, tanto rectius rationis se committit iudicio et maius in se rationis studium prouocare debet.“ Th. Sch. 3,3 (Ed. Buytaert/Mews 499, 22-27).

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brechen, nämlich der ihr von Natur aus zukommende Hochmut“360. Den Begriff der superbia präzisiert Abaelard in doppelter Ausrichtung. Er bezeichnet (1) ein „Streben nach eigener Ehre“361, einen selbstbezogenen Geltungsdrang, der „sich aufgrund irgendeiner Neuheit einen Namen zu verschaffen wünscht“362. Auf dem Gebiet der Theologie zeige sich dies durch das Aufstellen innovativ und originell erscheinender Thesen, die in Wahrheit allerdings Häresien seien. (2) In einem allgemeineren Sinne wird auch die epistemologische Gottvergessenheit als Hochmut bezeichnet. Die intelligible Begabung des Menschen sei das größte Geschenk („maximum donum“363) des Schöpfers an sein Geschöpf. Wer bei dem Gebrauch dieses Erkenntnisvermögens dessen Ursprung leugne, verfalle dem Irrtum. Abaelard leitet die superbia sogar geschichtstheologisch her, indem er behauptet, sie markiere den „Anfang aller Sünde“ (Eccl. 10,15), weil der gefallene Engel aufgrund dieser Eigenschaft von der Schau (visio) des Schöpfers ausgeschlossen wurde.364 An dieser Stelle wird der Einfluss Augustins sichtbar, der den Hochmut in De Civitate Dei – unter Bezugnahme auf dieselbe Bibelstelle – als „peruersae celsitudinis appetitus“365 definiert. Abaelard überträgt diesen Gedankengang auf die Erkenntnistheorie: Der Begriff der visio erlangt somit die platonisch geprägte Bedeutung einer Schau der Prinzipien, der Ideen. Erst durch sie kann das Wesen der materiellen Dinge erfasst und gedeutet werden. Wer von dieser Schau ausgeschlossen bleibt, ist nicht mehr in der Lage, die Washeit der Gegenstände zu erfassen; er verbleibt beim oberflächlichen Schein. Rückgewendet auf die Gotteserkenntnis heißt dies: Die Überheblichkeit versperrt auch den Blick auf Gott als Gegenstand der Theologie. „Stetig widersetzt er sich den Hochmütigen“, so be-

360

Th. Sum. 2,9 (Ed. Buytaert/Mews 117, 97-99): „Est autem familiarissimum semper scientie uicium et quasi naturaliter adherens ac proprium superbia“. 361 Th. Chr. 5,50 (Ed. Buytaert 369, 707f.): „Non est itaque recta superbiae definitio ‚amor propriae gloriae’, sed ‚ambitio propriae gloriae.’“ 362 Th. Sum. 2,10 (Ed. Buytaert Mews. 118, 103-107), Th. Chr. 3,17 (Ed. Buytaert 202, 229234): „Non enim ignorantia hereticum facit sed superbia, cum quis uidelicet, ex nouitate aliqua nomen sibi comparare desiderans, aliquid inusitatum proferre gloriatur, quod aduersus omnes defendere nititur, ut superior omnibus uideatur, aut ne confutata sententia sua inferior ceteris habeatur.” 363 Th. Sum. 2,12 (Ed. Buytaert/Mews 118, 115f.), Th. Chr. 3,21 (Ed. Buytaert 203f., 266f.). 364 Vgl. Th. Sum. 2,10 (Ed. Buytaert/Mews 118, 100-103), Th. Chr. 3,17 (Ed. Buytaert 202, 226-229). 365 Augustinus, De Civitate Dei XIV 13 (Ed. Dombart/Kalb 434, 3-6): „Porro malae uoluntatis initium quae potuit esse nisi superbia? Initium enim omnis peccati superbia est (Eccl. 10,15). Quid est autem superbia nisi peruersae celsitudinis appetitus?“

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hauptet Abaelard in Anlehnung an 1 Petr 5,5 – „und den Demütigen schenkt er Gnade.“366 Der Überhebliche hingegen verfällt in Sophismata,367 also scheinbare Wahrheiten, kann aber nicht zum Grund der Wirklichkeit vorstoßen, weil er – wie Augustin formuliert – nicht mehr Gott als sein Prinzip anerkenne, sondern sich selbst zum principium geworden sei.368 Anstelle der Schau der Ideen tritt dann für Abaelard die „caecitas“, jene intellektuelle Blindheit gegenüber den ersten Prinzipien, die Folge und Begleiterin der superbia sei: „Der Hochmut begleitet nämlich die Wissenschaft, die Blindheit begleitet den Hochmut“369. Im Römerbriefkommentar beschreibt Abaelard dies als eine Verdunkelung der Vernunft: Die Menschen, über die laut Rom 1,18-21 der Zorn Gottes wegen der Eitelkeit ihrer Gedanken entbrennt, schreiben sich selbst das ihnen angeborene Erkenntnisvermögen zu. Dadurch verlieren sie Gott als den Grund sowie das Objekt ihrer intelligiblen Fähigkeiten aus dem Blick; „daher ist verdientermaßen ihr Herz ‚verfinstert’ und selbst die natürliche Vernunft in ihnen verdunkelt worden.“370 Den Gegenbegriff zur superbia bildet die simplicitas, welche den irrtumsanfälligen Stolzen verloren gegangen sei, die Abaelard aber für die Rechtgläubigen in Anspruch nimmt. Er erklärt es als sein Ziel, durch eine Widerlegung der Einwände, die die ‚Pseudo-Dialektiker’ gegen den Glauben vorbringen, die simplicitas fidelium, also die Geisteshaltung derjenigen, die in einer demütigen und orthodoxen, aber unreflektierten Weise glauben, zu schützen.371 Angesichts dieses fast pastoral zu nennenden Anliegens372 erscheint die von Gössmann vertretene These, „Abaelard erkennt keine ‚simplices’ an“373, als unzutreffend. Abaelard rechnet sich sogar selbst zu den Einfachen, wenn er dagegen angehen

366

Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 320f.), Th. Sch. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 138-140): „Ideoque ad eius notitiam minime assurgunt qui superbis resistit semper et humilibus dat gratiam.” 367 Vgl. Pinborg, Logik und Semantik im Mittelalter, 66f. 368 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei XIV 13 (Ed. Dombart/Kalb 434, 6-8): „Peruersa enim est celsitudo deserto eo, cui debet animus inhaerere, principio sibi quodam modo fieri atque esse principium.“ 369 Vgl. Th. Sum. 2,12 (Ed. Buytaert/Mews 118, 114f.), Th. Chr. 3,21 (Ed. Buytaert 203, 265f.): „Scientiam quippe superbia, superbiam cecitas comitatur”. 370 Exp. Rom. 1 (Ed. Buytaert 71, 841f.): „Unde merito est cor ‚obscuratum’ et ipsa in eis naturalis ratio obtenebrata.” 371 Vgl. Th. Sum. 2,13. 2,25 (Ed. Buytaert/Mews 119, 129f. 122, 224f.), Th. Chr. 3,2. 3,25 (Ed. Buytaert 194, 17-19. 205, 310f.), Th. Sch. 2,17 (Ed. Buytaert/Mews 414, 235f.). 372 Vgl. Buytaert, Abelard’s Trinitarian Doctrine, 129: „The Theologia ‚Summi boni’, just like the Theologia Christiana and the Theologia ‚Scholarium’ afterwards, has been written with pastoral intentions“. 373 Gössmann, Zur Auseinandersetzung, 239.

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will, dass „die Geschwätzigkeit der Feinde Christi unserer Einfachheit spottet“374. Abaelards dialektische Bemühungen richten sich nicht gegen die einfach Gesinnten, sondern dienen – im Gegenteil – ihrem Schutz gegenüber den hochmütigen, aber fehlerhaft argumentierenden Häretikern. Irrtümer auf dem Gebiet des Theoretischen sind also nicht nur Unwissenheit, sondern auch – und vor allem – die Folge einer mala intentio, nämlich der sich selbst suchenden Überheblichkeit: „Nicht die Ignoranz macht den Häretiker, sondern der Hochmut“375. Abaelard entwickelt also eine ethisch fundierte Phänomenologie des Irrtums: Errores der reinen Vernunft, also das Verfehlen des Wahren, sind das Ergebnis einer falschen Ausrichtung der praktischen Rationalität, die das Gute als das Ziel ihres Strebens nicht mehr verfolgt. Stattdessen ist sie durch den Hochmut korrumpiert. Die superbia manifestiert sich in doppelter Weise: Sie zeigt sich in einem Geltungsdrang, der durch eine scheinbare Originalität des Intellekts das Wahre nicht um seiner selbst willen sucht, sondern zur Steigerung des eigenen Ansehens. Aus einer grundsätzlicheren Perspektive heraus lässt sich sagen, dass der Hochmütige Gott nicht mehr als formale Ursache sowie Formalobjekt seiner Erkenntnis im Blick hat. Dadurch wendet er sich jedoch von den ersten, immer gültigen Prinzipien der Wirklichkeit ab; er verfällt in die Blindheit und vermag – um in der platonischen Metaphorik von visio und caecitas zu bleiben – mit seinem Forschen nur mehr den Schein der Gegenstände zu treffen, aber keine korrekte Wissenschaft mehr zu betreiben, der es um die veritas rerum, die Wahrheit der Dinge, geht.

374

Th. Sum. 2,2 (Ed. Buytaert/Mews 114, 5-10), Th. Chr. 3,2 (Ed. Buytaert 194, 18f.), Th. Sch. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 413, 215f.): „Vnde peropportunum nobis uisum est ex scriptis precellentium sapientium ad nostre fidei firmamentum auctoritates contulisse, et insuper ipsas auctoritate rationibus fulcire in his in quibus non irrationabiliter uidentur oppugnari, maxime ideo ne uerbositas inimicorum Christi nostre insultet simplicitati.“ Interessant ist, dass Abaelard – nach dem Zeugnis Peters des Ehrwürdigen – seinen Lebensabend in jener existentiellen simplicitas verbracht hat, die er zuvor intellektuell verteidigen wollte. Vgl. Petrus Venerabilis, Epistola 115 (Ed. Constable 307): „Mens eius, lingua eius, opus eius, semper diuina, semper philosophica, semper erudotoria meditabatur, docebat, fatebatur. Tali nobiscum uir simplex et rectus, timens deum, et recedens a malo, tali inquam per aliquantum temporis conuersatione, ultimos uitae suae dies consecrans deo, pausandi gratia, nam plus solito, scabie et quibusdam corporis incommoditatibus grauabatur, a me Cabilonem missus est.“ Zur Gattung ist anzumerken, dass es sich um eine Lobrede auf den verstorbenen Abaelard handelt, die – aus Ehrfurcht vor dem Toten und Pietät vor der über den Tod Abaelards zu unterrichtenden Adressatin Heloisa – keinerlei kritische Bemerkungen macht. 375 Th. Sum. 2,10 (Ed. Buytaert/Mews 118, 103f.): „Non enim ignorantia hereticum facit sed superbia”. Vgl. Th. Chr. 3,17 (Ed. Buytaert 202, 229f.).

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6.2. Irrtum trotz Illumination? Ein Problem und seine Lösung In welcher Beziehung steht diese Phänomenologie des Irrtums zu der von Abaelard in modifizierter Weise vertretenen Illuminationslehre? Augustinus schlägt in De Magistro eine Brücke zwischen der theoretischen Erkenntnis und der praktischen, also handlungsbezogenen Rationalität. Als Klammer dient ihm hierzu der Willensbegriff: Die Qualität und Richtigkeit der intellektuellen Einsicht, die der menschlichen Seele zuteil wird, wird daran gemessen, „wie viel sie aufgrund ihres eigenen schlechten oder guten Willens erfassen kann.“376 Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen Intellekt und Willen. Während ersterer die Fähigkeit des Menschen zur Erfassung der Was-Bestimmtheit des Seienden bezeichnet, ist letzterer „eine Bewegung der Seele, die sich ohne Zwang auf etwas richtet, das sie nicht loslassen oder aber erwerben will.“377 Dieser grundsätzlichen Definition aus seiner frühen Schaffensphase bleibt Augustinus auch bei den späteren Modifikationen seiner Willenslehre treu.378 Die voluntas ist jene Instanz, die darüber befindet, welche inneren Strebungen und Wünsche handlungseffektiv werden und welche unterdrückt bleiben. Wenn Augustinus, wie gerade skizziert, in De Magistro 11,38 behauptet, das Maß der Einsicht, das jeder Seele zugeteilt wird, hänge von ihrer voluntativen Ausrichtung ab, so postuliert er eine Abhängigkeit der theoretischen Erkenntnis, welcher an sich noch kein eigener Aktionsimpetus innewohnt, von einer moralischen Komponente, nämlich dem Willen. Dieser Konnex sei jedoch aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen gestört, so dass die Moralität des Subjekts und seine spekulative Erkenntnisfähigkeit in einem korrumpierten Entsprechungszusammenhang stehen. Damit ist ein entscheidendes Problem der Illuminationslehre gelöst. Diese wurde entwickelt um – in antiskeptischer Absicht – den gelungenen Erwerb des Wissens zu erklären, indem er in Gott verankert wird. Welche Rolle aber spielt der göttliche Prinzipiengeber beim Zustandekommen falscher Einsichten? Hierfür könnte man drei Erklärungen anführen: (1) Der innere Lehre ist selbst fehlbar (theoretisches Defizit: falsa cognitio), (2) er ist ein Lügner (moralisches Defizit: mala intentio) oder

376

Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-51): „Ille autem, qui consulitur, docet, qui in iteriore homine habitare dictus est Christus, id est incommutabilis dei virtus atque sempiterna sapientia, quam quidem omnis rationalis anima consulit, sed tantum cuique panditur, quantum capere propter propriam siue malam siue bonam uoluntatem potest.“ 377 Augustinus, De duabus animabus XIV (Ed. Zycha 68, 23-25): „Definitur itaque isto modo: Voluntas est animi motus cogente nullo ad aliquid vel non amittendum vel adipiscendum.” 378 Vgl. Horn, Augustinus, 136.

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(3) er ist ein launischer Begleiter, der – wie Abaelard allerdings ohne sichtbares Problembewusstsein formuliert – gewissen beiseite steht, anderen hingegen nicht.379 Für Augustinus wie für Abaelard erscheinen alle drei Lösungen als nicht akzeptabel, weil sie die göttliche Vermittlungsinstanz, also Christus oder (bei Abaelard) auch den Heiligen Geist, als unvollkommene Entitäten zeichnen. Die Ursache für gelungene Erkenntnis liegt bei Gott, diejenige für fehlerhaftes Erkennen hingegen beim Menschen, näherhin in seiner fehlgeleiteten moralischen Ausrichtung, die Augustinus als mala voluntas deutet und die Abaelard (zumindest in der Theologia) tugendethisch mit der superbia in Verbindung bringt, welche zum Ausschluss von der visio der Prinzipien und damit zur theoretischen Blindheit, der caecitas, führt.380 Der göttliche Erkenntnisgrund, der die intelligible Einsichtsfähigkeit des Menschen erst begründet, ist von dem Verdacht der Mangelhaftigkeit entlastet. „Und wenn [die Seele] irren sollte, ist dies nicht der Fehler der befragten Wahrheit, so wie es auch nicht der Fehler des äußeren Lichtes ist, dass die körperlichen Augen oft getäuscht werden.“381 Diese Fehleranalyse Augustins, die von der mala voluntas des Menschen ausgeht, ist inhaltlich mit Abaelards Phänomenologie des Irrtums, die bei der superbia ansetzt, kompatibel. Abaelard konstruiert dabei ein komplexes Verhältnis zwischen Erkennen und Handeln, so dass – zur Erhellung seiner Position – die wechselseitige Beeinflussung der beiden Größen auch von beiden Seiten zu betrachten ist. Zunächst zum dem Handeln vorausliegenden Erkenntnisakt. Der Mensch müsse – so gibt Abaelard aus De differentiis topicis wieder – das Böse erkennen, „nicht, damit er übel handelt, sondern damit er sich vor dem zuvor erkannten Übel vorsehe, das – wie Boethius sagt – nicht gemieden werden kann, wenn es nicht erkannt wurde.“382 Umgekehrt heißt dies: Der moralisch schlechten Handlung liegt ein Erkenntnisdefizit zu Grunde. Der Übeltäter handelt deshalb schlecht, weil er das Gute nicht richtig erkannt hat. Es gilt jedoch kein Auto379

Vgl. Th. Sum. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 119f., 148-152): „Quid est enim quod, cum alicuius doctoris uerba equaliter ad aures diuersorum perferuntur, nec tamen equaliter ab eis intelliguntur, nisi quod quibusdam presto est interior magister, quibusdam minime, qui quos uult etiam sine uerbo docet?” 380 Vgl. Vgl. Th. Sum. 2,12 (Ed. Buytaert/Mews 118, 114f.), Th. Chr. 3,21 (Ed. Buytaert 203, 265f.): „Scientiam quippe superbia, superbiam cecitas comitatur”. 381 Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 51-54): „Et si quando fallitur, non fit uitio consultae ueritatis, ut neque huius, quae foris est, lucis uitium est, quod corporei oculi saepe falluntur“. 382 Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 116, 68-72), Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 60-63): „Sed neque ullam scientiam malam esse concedimus, etiam illam que de malo est; que iusto homini deesse non potest, non ut malum agat, sed ut a malo precogita sibi prouideat, quod nisi cognitum, teste Boetio, uitare non posset.“ Vgl. mit leichten Modifikationen auch Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 436-440). Der Bezugstext ist Boethius, De differentiis topicis II (PL 64, 1184B).

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matismus, der einen notwendigen Folgezusammenhang zwischen rechter Erkenntnis und rechter Tat unterstellt. An dieser Stelle setzt Abaelard sich von der platonischen Tradition ab. Die von Platon vertretene These, der Übles Tuende leide lediglich an einem gnoseologischen Defizit, steht in Spannung zur augustinischen Theorie des gespaltenen Willens. Auch wenn Abaelard den Dialog Protagoras, in dem Platon das Problem der akrasia abhandelt (von den Lateinern als incontinentia bezeichnet), nicht kennt, erscheint ihm doch, wie Müller formuliert, „die antike akrasia-Problematik als zentrale Herausforderung, und zwar sowohl hinsichtlich der Frage nach ihrer theoretischen Erklärbarkeit als auch hinsichtlich ihrer praktischen Lösbarkeit“383. Platon stellt die Frage: Ist es denkbar, dass ein Mensch wider besseres Wissen handelt? Anders gesagt: Ist es möglich, dass jemand handelt im sicheren Wissen und im vollen Bewusstsein darüber, dass die begangene Tat schlecht ist? Platons Sokrates setzt sich kritisch mit der Position auseinander, der zu Folge „es oft genug vorkomme, dass der Mensch die Erkenntnis zwar besitze, dass aber nicht sie über ihn die Herrschaft ausübe, sondern irgendetwas anderes, mal Zorn, mal Lust, mal Unlust“384. Diese These wird im Verlauf des Dialogs als „lächerlich“385 und selbstwidersprüchlich entlarvt.386 Es sei nicht denkbar, dass ein Mensch das Gute nicht tut, obwohl er es erkannt hat. Stattdessen leidet der Übeltäter an einem Verlust des Maßes (mensura): Er ergreift das nächstliegende Gut, etwa die kurzfristige Lustempfindung, und verliert das übergeordnete, aber weiter entfernte bonum aus den Augen. Er hat somit ein intellektuelles Problem: Seine Messkunst ist beeinträchtigt, weshalb er nicht zur rechten Erkenntnis des Guten gelangen kann. Unwissenheit (ignorantia) ist also die Wurzel des Übels, so wie umgekehrt „nichts mächtiger ist als das Wissen“387. Aus der rechten Erkenntnis folgt in Platons Protagoras mit Notwendigkeit die rechte Tat. Ein derartiges Entsprechungsverhältnis besteht für Abaelard zwischen Vernunft und Handeln nicht. Er betont zwar in Anlehnung an Boethius, dass das korrekte Erkennen dem guten Handeln notwendigerweise vorgeordnet sei,388 konstatiert jedoch einen bisweilen gestörten Entsprechungszusammenhang zwischen dem, was die Vernunft als gut anerkennt und dem, was zu einer tatsächlich handlungswirksamen Strebung wird. Kurzum: Der Zusammenhang zwischen approbatio und actio innerhalb des menschlichen Willens ist gestört, so dass 383

Müller, Das Problem der Willensschwäche, 144. Platon, Protagoras 352b 5-7. Da es nicht darum geht, eine direkte textuelle Abhängigkeit Abaelards nachzuweisen, wäre es irreführend, Plato latinus zu zitieren. 385 Platon, Protagoras 355b 4. 386 Eine hilfreiche Formalisierung der Argumentation Platons findet sich bei Müller, Willensschwäche in Antike und Mittelalter, 68. 387 Platon, Protagoras 357c 2f. 388 Vgl. Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 116, 68-72), Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 60-63), mit leichten Modifikationen auch Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 436-440). 384

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selbst das moralisch verwerfliche Handeln „aus einer willentlichen Entscheidung folgt, nicht nur aus einem intellektuellen Mißverständnis“389. Hierbei ist der prägende Einfluss Augustins auf die Theoriebildung Abaelards deutlich zu erkennen. Dihle vertritt in seiner Untersuchung über „Die Vorstellung vom Willen in der Antike“ die Ansicht, dass „die Griechen bei den vielen Versuchen, menschliches Handeln zu analysieren und zu bewerten, nicht einen distinkten Willensbegriff entwickelten.“390 Dies sei erst durch Augustinus geschehen. In den Confessiones berichtet der Kirchenvater retrospektiv von der Selbsterfahrung innerer Zerrissenheit. Er unterscheidet dabei die intellektuelle Belehrung von einer voluntativen Bekehrung: „Und schon gab es jene Entschuldigung nicht mehr, aufgrund derer es mir schien, dass ich der Welt noch nicht entsagt habe um dir zu dienen, weil mir die Erkenntnis der Wahrheit ungewiss sei. Denn nunmehr war sie mir schon gewiss. Ich aber, noch immer der Erde verpflichtet, weigerte mich, dir den Kriegsdienst zu leisten“391.

Damit bejaht Augustinus das, was Platon noch als lächerlich abgetan hatte, nämlich dass ein Mensch zeitgleich zu seiner rechten Erkenntnis die Möglichkeit hat, bewusst nicht das Rechte zu tun. Dies wird durch die zusammenhängenden, aber unterscheidbaren Theorien der Willensspaltung auf der einen, und der Willensschwäche auf der anderen Seite erklärbar. Zunächst zum Problem der Spaltung: Augustin konzipiert den Willen als zweistufige intramentale Instanz. An erster Stelle sind dabei die voluntates zu nennen, die vielen inneren Strebungen, die teilweise im Gegensatz zueinander stehen und parallel zueinander auftreten können. Sie sind eine noch ungeordnete Ansammlung von Neigungen,392 die noch nicht in die Tat umgesetzt wurden. „Die Neuartigkeit der Auffassung Augustins liegt darin, dass er diesen voluntates nochmals eine voluntas überordnet. Die voluntas bestimmt über die voluntates, indem sie diese approbiert oder verwirft“393. Als zweite Instanz neben den Strebungen gibt es also ein Entscheidungsvermögen, das liberum arbitrium, das in der Lage ist, zu bestimmen, welche der vielen Absichten handlungswirksam werden und welche unterdrückt bleiben. Abaelard differenziert dieses von Augustinus entwickelte Modell weiter aus. Er unterscheidet die voluntas nocheinmal von dem, was „durch den Willen 389

Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 315. Dihle, Die Vorstellung vom Willen, 79. Vgl. auch Horn, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, 113-132. 391 Augustinus, Confessiones VIII 5,11 (Ed. Verheijen 120, 27-32): „Et non erat iam illa excusatio, qua uideri mihi solebam propterea me nondum contempto saeculo seruire tibi, quia incerta mihi esset perceptio ueritatis: iam enim et ipsa certa erat. Ego autem adhuc terra obligatus militare tibi recusabam et impedimentis omnibus sic timebam expediri, quemadmodum impediri timendum est“. 392 Vgl. Den Bok, Freedom of the Will, 239. 393 Brachtendorf, Augustins Confessiones, 165. 390

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begangen“ wird („per uoluntatem committitur“394). In Abaelards Ethik wird dem liberum arbitrium, wie Augustinus es entwirft, noch eine weitere Instanz übergeordnet. Der Wille ist bei Abaelard, so die Deutung Ilgners, „das natürliche, dem Urteil der Vernunft unterworfene Streben“395. Damit der Wille handlungseffektiv – und damit moralisch zurechenbar wird – befarf es zuerst eines consensus. Erst diese Zustimmung besitzt eine sittliche Qualität.396 Der Zusammenhang zwischen Einsicht, Handlungsstrebung, Wille und Zustimmung ist jedoch gestört. Nocheinmal Augustinus: Die Willensspaltung besteht in einem vertikalen und einem horizontalen Sinne: Horizontal auf der Ebene der voluntates ist der Wille durch die Heterogenität der Neigungen gespalten; einige tendieren zum Guten, andere zum Bösen. Aber auch vertikal – was das Verhältnis der richterlichen Instanz zu den vielen Strebungen angeht – besteht eine Teilung: Es gibt gleichzeitig einen bösen Willen im Menschen, der die bösen Neigungen weiterhin durchsetzt, und einen guten Willen, der versucht, die guten voluntates handlungswirksam werden zu lassen. „So stritten in mir zwei Willen miteinander, ein alter und ein neuer, jener fleischlich, der andere geistig, und durch ihren Zwist zerrissen sie meine Seele“397. Abaelard spricht von einem Kampf (pugna) gegen den widerspenstigen bösen Willen.398 Aus der Diagnose der Willensspaltung wird dann auch das Phänomen der Willensschwäche erklärbar: Der neue, bekehrte und auf das Gute gerichtete Wille ist nicht stark genug, um sich in der intravoluntativen Auseinandersetzung um die Handlungswirksamkeit konkurrierender Strebungen gegen den alten, nicht bekehrten Willen durchzusetzen. Abaelard spricht von einer „infirmitas iam necessaria“399. Es gibt also eine Unterscheidung zwischen einer Belehrung (dem Wissen um das Rechte) und einer Bekehrung (dem Tun des als richtig Erkannten). Damit aus ersterer auch letztere resultieren kann, ist der Mensch nach Augustinus auf die Gnade Gottes

394

Scito I 10,1 (Ed. Ilgner 9f., 236-241): „Cum autem uoluntas peccatum non sit et nonnumquam inuiti, ut diximus, peccata committamus, nonnulli tamen omne peccatum esse uoluntarium dicunt. In quo et quandam differenciam peccati a uoluntate inueniunt, cum aliud uoluntas aliud uoluntarium dicatur, hoc est aliud uoluntas aliud, quod per uoluntatem committitur.“ 395 Ilgner, In nostra consensione peccamus, 22. 396 Vgl. Müller, Das Problem der Willensschwäche, 145. Zur Bedeutung von „consensus“ für Augustins Handlungstheorie vgl. Ilgner, ‚Consensio’, 251-256. 397 Augustinus, Confessiones VIII 5,10 (Ed. Verheijen 120, 18-20): „Ita duae uoluntates meae, una uetus, alia noua, illa carnalis, illa spiritalis, confligebant inter se atque discordando dissipabant animam meam.“ 398 Vgl. Scito I 7,4f. (Ed. Ilgner 7, 180-182): „Vt uero pugna sit, hostem esse conuenit, qui resistat, non qui prorsus deficiat. Hic uero est nostra mala uoluntas“. 399 Scito I 4,3 (Ed. Ilgner 4, 88).

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angewiesen.400 Epistemologisch ist dieser Gedankengang deshalb bedeutsam, weil das Entsprechungsverhältnis zwischen Intellekt und Willen oder Einsicht und Handlung in zweierlei Richtung präzisiert wird: (1) Zwischen intellektueller Einsicht und voluntativer Umsetzung besteht keine unmittelbare, mechanisch eintretende Verbindung. Beide können sich disparat voneinander entwickeln, ohne zur Deckungsgleichheit zu gelangen. (2) Umgekehrt – und dies ist die bereits skizzierte These aus De Magistro – kann ein schlechter Wille die theoretische Erkenntniskraft behindern, da der nach Wissen strebenden Seele des Menschen nur so viel Erkenntnis gewährt wird, „wie sie aufgrund ihres eigenen schlechten oder guten Willens erfassen kann.“401 Durch diese Verbindung zwischen Epistemologie und Willenskonzeption gelingt Augustinus eine differenzierte Analyse des theoretischen Irrtums; er liegt in der mala voluntas begründet. Damit kann nicht nur die Beobachtung erklärt werden, dass einige Menschen korrekt erkennen, andere hingegen nicht, sondern auch die Erfahrung, dass ein und dieselbe Person bisweilen richtige, bisweilen falsche Erkenntnisse zu Tage bringt. Die Unterscheidung zwischen bona und mala voluntas ist nämlich keine Trennung, die zwischen mehreren Menschen gezogen wird; sie markiert durch das Konzept der Willensspaltung vielmehr eine Scheidelinie, die innerhalb jedes Individuums verläuft, das somit einem intramentalen Konflikt zwischen seinen guten und seinen bösen Strebungen ausgesetzt ist. Abaelard fragt – wie bereits zitiert – in der Theologia Summi Boni: „Warum ist es so, dass die Worte eines Lehrers verschiedene Ohren gleichermaßen erreichen, diese aber nicht gleichermaßen von ihnen verstanden werden, wenn nicht gewissen der innere Lehrer beiseite steht, der sogar ohne ein Wort lehrt, was er will, 402 anderen aber nicht?“

Er beantwortet dies mit einem biblischen Verweis, demzufolge „die Weisheit nicht in eine Übel wollende [malivolam] Seele eintreten wird“403 (Sap. 9,15). Die „notitia Dei“ – auch diese Wendung verweist auf Augustin – sei „nicht durch

400

Die sich an diese These anschließende Frage nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Determination bzw. deren Kompatibilität kann hier nicht näher verfolgt werden. Aus historischer Sicht sei dazu auf Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, 240-250, verwiesen. Aus systematischer Perspektive vgl. Brachtendorf, Augustinus – De libero arbitrio, 44-63, sowie ders., Augustins Confessiones, 182-188, und ders., Augustine’s Notion of Freedom, 219-231. 401 Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-51). 402 Th. Sum. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 119f., 148-152), Th. Chr. 3,30 (Ed. Buytaert 206f., 356460). 403 Th. Sum. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 120, 152-154): „De huius quidem magistri sapientia scriptum est: In maliuolam animam non introibit sapientia nec habitabit in corpore subdito peccatis.“

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Überlegen, sondern durch gutes Leben“404 zu erreichen. Die mala voluntas wird also von Abaelard als Fehlerquelle identifiziert. Er scheint jedoch in der zitierten Passage der Theologia (nicht jedoch in Scito te ipsum) davon auszugehen, dass es Menschen mit einem guten und solche, mit einem schlechten Willen gibt; erstere erkennen korrekt, letztere hingegen fehlerhaft. Dass jede Person – wie Augustinus erläutert – zugleich eine gute und eine schlechte voluntas in sich trägt und deshalb das eine Mal richtig, das andere Mal falsch erkennt, wird von Abaelard in den Theologiae nicht weiter ausgeführt. Diese Zurückhaltung erscheint erstaunlich, da der Römerbriefkommentar sowie Scito te ipsum eine Theorie der Willensschwäche entwickeln.405 Paulus berichtet in Rom 7,18-20: „Ich weiß nämlich, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nicht das Gute wohnt. Denn das Wollen liegt mir nahe, das Gute aber zu bewirken, finde ich nicht. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern ich vollbringe das Schlechte, das ich nicht will.“

Für Augustinus ist dies der biblische locus classicus, auf dessen Grundlage er seine anti-dualistische und damit auch anti-manichäische Willenslehre entwickelt: Innerhalb der einen Seele gibt es zwei Willensausrichtungen, die beide dem Menschen selbst und keinem ihm gegenüberstehenden Prinzip zugerechnet werden dürfen.406 Abaelard macht sich dies zueigen, indem er Paulus interpretierend in den Mund legt: „Aus mir selbst heraus und durch meine eigene Schöpfung [gemeint ist: durch meine Verfassung als Geschöpf] habe ich die Vernunft, durch die ich anerkenne, dass das Gute getan werden muss. Aber aus mir selbst heraus vermag ich es nicht zu voll407 bringen“ .

Diese Auslegung löst den in Platons Protagoras angenommenen, notwendigen Konnex zwischen rechter Erkenntnis und rechter Handlung auf. Abaelard stellt fest: „Das Joch falscher Gewohnheit“ – in der Terminologie Augustins die mala voluntas – „behindert den guten Willen“408, die bona voluntas. Dieser Problemzusammenhang wird in Scito te ipsum weiter entfaltet: Die Willensschwäche

404

Th. Sum. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 120, 155f.): „Quod nec ipsos latuit philosophos, qui noticiam dei non ratiocinando, sed bene uiuendo acquirendam censebant“. Vgl. mit leichten Modifikationen Th. Chr. 3,33 (Ed. Buytaert 207, 387f.). 405 Zur Einordnung der Problematik von Willensschwäche und Willensspaltung in die moralphilosophische Gesamtkonzeption Abaelards vgl. Müller, Willensschwäche in Antike und Mittelalter, 444-449. 406 Vgl. Horn, Augustinus, 136. 407 Exp. Rom. 3 (Ed. Buytaert 208, 718-721): „[…] quia ex me ipso et propria creatione rationem habeo, per quam bonum faciendum esse approbo, sed ex me illud perficere non habeo“. 408 Exp. Rom. 3 (Ed. Buytaert 209, 738f.): „[…] prauae consuetudinis iugo premor quae bonam impedit uoluntatem.“

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kommt dort im Zusammenhang mit der Bestimmung der Sünde409 zum Tragen. Zu sündigen heißt in einem allgemeinen Sinn, den Schöpfer gering zu schätzen („contempnere creatorem“) und aufgrund dieser Missachtung „das keineswegs um seiner selbst willen zu tun, von dem wir glauben, dass es um seiner selbst willen von uns getan werden muss, oder das nicht um seiner selbst willen 410 zu unterlassen, von dem wir glauben, dass es unterlassen werden muss.“

Wendet man diese negativ gefasste, an einer Unterlassungshandlung orientierte Definition (etwas ‚nicht um seiner selbst willen tun’, etwas ‚nicht um seiner selbst willen unterlassen’) in die positiv formulierte Bestimmung der Sünde, ergibt sich folgendes Bild: Sünde ist die approbierende Zustimmung zum bösen Willen.411 Diese Zustimmung beruht nicht auf einem Missverständnis, sondern auf einer Störung des Konnexes zwischen der rechten Einsicht und ihrer Umsetzung in Form einer rechten Handlung. Müller definiert demnach das „Paradigma moralischer Willensschwäche“ bei Abaelard wie folgt: „Der Handelnde agiert im Widerspruch zu dem, was er aufgrund der Maßstäbe seiner eigenen Sittlichkeit für moralisch geboten hält.“412 In enger Anlehnung an Augustins Analysen der inneren Zerrissenheit, für die Abaelard – wie Saarinen betont – ein besonderes Interesse zeigt,413 wird der Konflikt zwischen der mala und der bona voluntas, den Augustinus beschreibt, auf eine Auseinandersetzung zwischen einem „evaluativen“ und einem „appetitiven“ Wollen zugespitzt.414 Ersterem gehe es um die ethische Bewertung einer Handlung sowie deren Einstufung als gebotene oder als zu unterlassende, letzteres hingegen sucht den momentanen Lustgewinn. Auf die theoretische Erkenntnis zugespitzt, könnte man vom evaluativen Wollen als einer voluntas rationis sprechen (so Müller415), die – durch Vernunft geleitet – am Guten als ihrem Formalobjekt interessiert ist. Dadurch bildet sie auch die Grundlage für die 409

Einen knappen Überblick zu Abaelards Konzeption der Sünde bietet Beonio-Brocchieri, Introduzione a Abelardo, 79-81. 410 Scito I 3,3 (Ed. Ilgner 3, 64-68): „Peccatum itaque nostrum creatoris est contemptus, et peccare est creatorem contempnere, hoc est id nequaquam facere propter ipsum, quod credimus propter ipsum a nobis esse faciendum, uel non dimittere propter ipsum, quod credimus esse dimittendum.” 411 Vgl. Doutre, Abaelard, 584, demzufolge „erst die Zustimmung zu einem bösen Willen […] genau genommen die Sünde aus[mache], nicht schon der Wille, Böses zu tun.“ 412 Müller, Das Problem der Willensschwäche, 124. 413 Vgl. Saarinen, Weakness of Will, 52: „Abelard, while developping his theory, extensively analyzes the Augustinian situations of moral conflict“. 414 Vgl. Müller, Das Problem der Willensschwäche, 130. 415 Das systematisierende Begriffspaar „voluntas rationis – voluntas sensualitatis“ findet sich erst nach Abaelard, sei aber – so Müller, Das Problem der Willensschwäche, 130 – der Sache nach aber bereits bei Abaelard angelegt. Vgl. auch Saarinen, Weakness of Will, 6066.

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Erkenntnis des Wahren auf dem Gebiet der praktischen Vernunft, gemäß der These, „Gotteserkenntnis wird nicht durch Überlegung erreicht, sondern durch gute Lebensführung“416. Umgekehrt lässt sich für eine Phänomenologie des Irrtums schlussfolgern: Das appetitive Wollen verbleibt als voluntas sensualitatis im Bereich des Sinnlichen; es kann sich nicht zum Geistigen erheben, weil es in seinem Streben nach dem bloß Angenehmen das bene vivere, das Abaelard der notitia Dei voranstellt, verfehlt, und damit als praktische Fehlausrichtung zum Irrtum im Bereich des Theoretischen führt.417 Abaelard knüpft also durch seinen mehrgliedrigen Begriff der voluntas an Augustins Konzept der Willensschwäche an,418 erweitert es aber zugleich. Augustinus selbst hat es bereits auf den Bereich der Epistemologie übertragen, indem er das Maß der korrekten Erkenntnis, die eine Seele durch Vermittlung des inneren Lehrers erlangen kann, daran festmacht, „wie viel sie aufgrund ihres eigenen schlechten oder guten Willens erfassen kann.“419 Der Irrtum auf dem Gebiet des Theoretischen liegt also in einer mala voluntas auf der praktischen Ebene begründet. Abaelard übernimmt diese Analyse und spitzt sie – wie zuvor auch die Illuminationslehre – auf den Bereich der Gotteserkenntnis zu: Die Häretiker unterliegen einer falsa cognitio, weil sie aufgrund ihrer superbia eine falsche moralische Ausrichtung besitzen und deshalb den Gott, der sich „den Hochmütigen stetig widersetzt, und den Demütigen Gnade schenkt“420 nicht mehr adäquat erfassen können; sie verfallen aufgrund ihrer praktischen Korrumpiertheit auch einer theoretischen Fehleinschätzung und werden im epistemischen 416

Th. Sum. 2,19 (Ed. Buytaert/Mews 120, 155f.): „Quod nec ipsos latuit philosophos, qui noticiam dei non ratiocinando, sed bene uiuendo acquirendam censebant”. Vgl. mit leichten Modifikationen zu Beginn des Satzes Th. Chr. 3,33 (Ed. Buytaert 207, 386-388). 417 In der Studie von Evans, Getting it wrong, 71. 203f., wird Abaelards moralphilosophische Grundlegung der theoretischen Erkenntnis – und damit auch des theoretischen Irrtums – marginal thematisiert. 418 Vgl. Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 314: „Hier zeigt sich Abaelards mehrdeutige Verwendung des Wortes voluntas und seiner verbalen Entsprechung, die freilich bei Augustinus bereits vorgegeben ist; es ist Abaelards Schriften anzumerken, daß er diese Mehrdeutigkeit erkannte und terminologisch in den Griff zu bekommen suchte.“ Bei Dihle, Die Vorstellung vom Willen, 138, findet sich die weit gefasste und allgemein formulierte These, „daß der Willensbegriff, wie er als Mittel theologischer und philosophischer Analyse von der frühen Scholastik bis zu Schopenhauer und Nietzsche in den verschiedensten Zusammenhängen Verwendung gefunden hat, von Augustin entwickelt wurde.“ Der maximalistische Impetus, mit dem diese Ansicht vorgetragen wird, macht es schwer, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Bei der Willenskonzeption Abaelards und ihrer epistemologischen Anwendung kann jedoch zweifelsohne eine enge Anlehnung an Augustinus konstatiert werden. 419 Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-51). 420 Es handelt sich um ein Zitat aus 1 Petr 5,5: Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 320f.), Th. Sch. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 138-140): „Ideoque ad eius notitiam minime assurgunt qui superbis resistit semper et humilibus dat gratiam.”

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Sinne blind: „Der Hochmut begleitet nämlich die Wissenschaft, die Blindheit begleitet den Hochmut“421. Christus oder der Heilige Geist, die für Abaelard die Funktion des die Seele erleuchtenden inneren Lehrers ausüben, ermöglichen durch ihre gnadenhafte Zuwendung eine korrekte Gotteserkenntnis, sind aber für die bleibende Irrtumsanfälligkeit des Menschen nicht verantwortlich.

7. Zusammenschau: Die Subjektivität und ihre Grenzen Ein Leitmotiv im Denken Abaelards ist – um es mit einem neuzeitlich geprägten Interpretationsbegriff zu charakterisieren – die Betonung der subjektiven Bedingtheit des Glaubens. Betrachtet man Abaelards Definition der fides als „existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“422 im Vergleich zu der im Hebräerbrief vorgenommenen Bestimmung („Fides est substantia sperandarum rerum, argumentum non apparentium“, Hebr 11,1), so sind zwei Veränderungen festzustellen: Argumentum wird durch existimatio ersetzt und der Substanzbegriff entfällt. Beide Modifikationen lassen sich durch einen ‚methodischen Subjektivismus’ erklären: (1) Abaelard interpretiert die Bibel durch sein eigenes, der Dialektik entnommenes Begriffsverständnis. In der Tradition des Boethius bezeichnet ein argumentum „etwas Gewisses, durch das etwas Zweifelhaftem Glaubwürdigkeit verliehen wird“423. Vor dem Hintergund dieser Bestimmung bedeutet ein argumentum rerum non apparentium den formalen Geltungsgrund der geglaubten Sätze. Der mentale Akt des Menschen, der glaubt, gerät dabei nicht in den Blick. Diese Lücke versucht Abaelard durch den Begriff der existimatio, der dem scholastischen Lehrbetrieb entnommen ist, zu schließen: Der Mensch gesteht durch eine existimatio den nicht sinnenfälligen Dingen einen positiven Wahrheitswert zu und glaubt damit im Sinne eines propositionalen Für-Wahr-Haltens (credere Deo) an sie. (2) Ein zweites subjektives Element zeigt sich darin, dass die Bestimmung der fides als existimatio für Abaelard nicht nur einen Teilaspekt des Glaubens beschreibt, sondern seine vollständige Defintion angibt: „Est […] fides existimatio“424. Abaelards epistemologisches Anliegen wird jedoch durch den Begriff der Subjektivität allein nur unzureichend bestimmt. Das Subjekt bildet einerseits den 421

Vgl. Th. Sum. 2,12 (Ed. Buytaert/Mews 118, 114f.), Th. Chr. 3,21 (Ed. Buytaert 203, 265f.). 422 th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114-116), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5f.). 423 Sup. Top. (Ed. Dal Pra 205, 8f.). Vgl. Boethius, In Topica Ciceronis I (PL 64, 1048B). 424 th. sch. 12 (Ed. Buytaert 404, 114), Th. Sch. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 318, 5).

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hermeneutischen Ausgangspunkt der Gotteserkenntnis, da der Glaube als Wirklichkeitszugang nur von dem mentalen Akt her, den der Einzelne vollzieht, begriffen werden kann. Andererseits geht Abaelard davon aus, dass der Erkenntnisgrund, auf den jede Einsicht in das Wesen Gottes verwiesen bleibt, nicht subjektiv ist: Der Mensch bedarf eines inneren Lehreres, da, „wenn Gott sich nicht selbst offenbart, auch unsere Natur nicht ausreichen wird, um ihn zu sehen“425. Der mentale Akt einer auf Gott zielenden Ausrichtung ist also eine unhintergehbare, aber keine absolute, eine notwendige, aber keine hinreichende epistemologische Voraussetzung der Gotteslehre Abaelards. Zur gelungenen Gotteserkenntnis muss vielmehr ein subjektives Moment, die existimatio, mit einem objektiven, der illuminatio, zusammenkommen. Die Vorstellung des inneren Lehrers, der den Geschöpfen die Gotteserkenntnis vermittelt, entwickelt Abaelard in Anlehnung an Augustinus.426 Er gibt den Theoremen des Bischofs von Hippo jedoch eine spezifisch prinzipientheologische Wendung. Es geht ihm nicht um die Universalienproblematik, die das Zustandekommen intersubjektiver Bedeutungen klärt, sondern um die Angabe des formalen Erkenntnisgrunds einer über Gott getroffenen Aussage: Diese kommt nur durch die vermittelnde Tätigkeit des mit Christus oder dem Heiligen Geist identifizierten magister interior zustande.427 Das Subjekt bleibt in seinem Erkenntnis- wie auch in seinem Glaubensakt auf eine äußere Instanz – nämlich Gott – verwiesen, der sich selbst kundtut. Aus diesem Grund erscheint der Begriff der cognitio dei naturalis problematisch. Treffender ist es, von einer ‚vermittelten Gotteserkenntnis’ zu sprechen, deren subjektive Bedingtheit darin besteht, dass der Einzelne seine theoretische Vernunft auf das Wahre ausrichtet und seiner praktischen Rationalität gemäß das Gute erstrebt. Die kognitive Tätigkeit und der moralische Lebenwandel des Subjekts stellen die notwendige Voraussetzung der Gotteserkenntnis dar, nicht aber ihren hinreichenden Grund. Abaelard setzt sich in seiner theologischen Erkenntnislehre – so das Leitmotiv dieser Zusammenschau – kritisch mit der Subjektivität und ihren Grenzen auseinander.

425

Th. Sum. 2,20 (Ed. Buytaert/Mews 121, 179f.), Th. Chr. 3,36 (Ed. Buytaert 209, 439f.). Vgl. Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-50). 427 Vgl. Th. Chr. 3,30 (Ed. Buytaert 206, 353-356). 426

III.Die Methoden theologischer Erkenntnisgewinnung und der epistemische Status dogmatischer Aussagen

1. Similitudo als methodischer Leitbegriff 1.1. Zur Bedeutung von Ähnlichkeiten innerhalb der Universalientheorie: Eine terminologische Klärung Da Abaelard – werkbiographisch betrachtet – zunächst Logiker war und sich erst im Anschluss mit der Theologie beschäftigt hat,1 bedarf es besonderer Sorgfalt bei der Analyse von Begriffen, die termini technici der Dialektik sind und gleichzeitig eine herausragende Bedeutung für die Theologie entfalten. Dies ist mit Blick auf die similitudo-Vorstellung der Fall. Aus diesem Grund ist die Ähnlichkeitsproblematik zuerst aus der Perspektive der logischen Schriften Abaelards zu entfalten, innerhalb derer sie die Funktion eines Verbindungsgliedes zwischen der Universalienfrage und der Kognitionstheorie hat.2 Zunächst zu den Thesen des frühen Abaelard, wie sie sich in der Logica Ingredientibus, genauer gesagt in den Glossen zu Porphyrios, niederschlagen. Ausgehend von der klassischen Definition eines Allgemeinbegriffs als „quod de pluribus natum est aptum praedicari“3 wird gefragt, ob es sich bei den Uni1

2 3

Vgl. Hist. Cal. (Ed. Monfrin 69, 199-221) sowie Marenbon, Life, milieu and intellectual contexts, 15. Das Urteil Hofmeiers, für ein adäquates Verständnis Abaelards sei es „notwendig, sich bewußt zu bleiben, daß er primär Philosoph ist“ (Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo von St. Viktor, 28) erscheint zu allgemein und wird dem Wandel, den Abaelard in der Hist. Cal. beschreibt, nicht gerecht. Vgl. Guilfoy, Mind and cognition, 202. Jolivet, Abélard ou la philosophie dans le langage, 50-64. Sup. Por. (Ed. Geyer 9, 19). Es handelt sich um ein leicht abgewandeltes Zitat aus Boethius, In librum Aristotelis Peri ermeneias (Ed. Meiser II 135, 23). Dort wird das „universale“ als „quod in pluribus natum est praedicari“ definiert. Zum Einfluss des Boethius auf Abaelards Begriffsbildung vgl. Martin, Logic, 159-166.

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Methoden der Erkenntnisgewinnung und epistemischer Status

versalien um Dinge (res) oder um Wörter (voces) handelt. Angesichts der Tatsache, dass die philosophischen Autoritäten, namentlich Aristoteles, Porphyrios und Boethius das Problem nicht eindeutig geklärt haben, listet Abaelard in einem ersten Schritt Zeugnisse der besagten Autoren auf, die eine sachhafte Deutung der Allgemeinbegriffe nahe legen. Diese Ansicht wird jedoch in Widersprüche verwickelt4 (die hier nicht zu untersuchen sind5), weshalb für Abaelard – so das Ergebnis – nichts anderes „übrig bleibt, als dass wir das Allgemeine nur den Wörtern [vocibus] zuschreiben.“6 Damit wird ausgesagt, dass die Universalien nicht als subsistierende, gegenständlich gedachte Substanzen existieren, sondern nur als Wörter. Im Hintergrund steht die in-voce-Tradition, die Abaelard, so die These Marenbons,7 bereits von seinen Lehrern übernommen hat und derzufolge es der Logik nicht um eine Analyse der Dinge, sondern der Sprache, nämlich der voces, geht. Eine vox ist, nach der Definition Priscians, „ein gepresster, besonders feiner Luftzug“8. In seiner grundsätzlichen Bedeutung handelt es sich also um ein Lautgebilde, wie es in der Übersetzung ‚Stimme’ zum Ausdruck kommt. Im übertragenen Sinne ist eine vox jedoch ein Bedeutungsträger, der durch menschliche Einsetzung (impositio) etwas bezeichnet.9 Da sich die Universalien der Logica Ingredientibus zufolge auf voces und nicht auf res beziehen, lässt sich die Position des frühen Abaelard mit einem von Jolivet eingeführten Begriff auch als „non-réalisme“10 bezeichnen. Hier setzt jedoch ein semantisches Problem der Universalienlehre an,11 das Abaelard als eine besonders drängende Anfrage an die Plausibilität seiner Theorie betrachtet: Angesichts der ontologischen Grundentscheidung, dass nur den Einzeldingen eine gegenständlich gedachte Subsistenzweise zukommt, während die sie klassifizierenden Universalia Laute sind, die etwas oder genauer gesagt ‚mehrere etwas’ bezeichnen, erscheint es erklärungsbedürftig, wie eine non-reale Sache ihrer Wirkung nach dafür sorgt, dass das denkende Individuum die Gegenstände der Wirklichkeit intellekuell erfassen und sie nach Gattung und Art einordnen kann.12 Anders gesagt: Wie ist die von den voces ausgehende significatio zu präzisieren und wie konstituiert sich dabei 4 5 6

7 8 9 10 11 12

Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 10,17-16,18). Vgl. Tweedale, Abailard on Universals, 98-107. Sup. Por. (Ed. Geyer 16, 19-22): „Nunc autem ostensis rationibus quibus neque res singillatim neque collectim acceptae universales dici possunt in eo quod de pluribus praedicantur, restat ut huiusmodi universalitatem solis vocibus adscribamus.“ Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 108-111. Priscian, Institutiones Grammaticae I (Ed. Hertz 5,1): „Philosophi definiunt vocem esse aerem tenuissimum ictum vel suum sensibile aurium, id est quod proprie auribus accedit.“ Vgl. Sup. Praed. (Ed. Geyer 112, 11-17) sowie Dialect. 5,1 (Ed. De Rijk 576, 34-37). Jolivet, Non-réalisme et platonisme chez Abélard, 175. Vgl. De Rijk, The Semantical Impact of Abailard’s Solution, 144-149. Zum Problem der significatio intellectus vgl. Beonio-Brocchieri Fumagalli, The logic of Abelard, 30f.

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„ein gesunder Begriff [intellectus sanus]“13? Nach Spade besteht im lateinischen Mittelalter eine weitgehend einheitliche Auffassung des Terminus significare, die sich an die Definition des Aristoteles anlehnt, derzufolge ein Verb etwas bedeutet, wenn es einen „intellectus“14, also einen Begriff oder ein Verstehen, bewirkt.15 Spade formuliert um: „’To signify x (to a person)’ is thus ‚to establish an understanding of x (in that person)’, which is to say that ‚to cause a mental act of understanding x to arise (in that person)’“16 Der erste Teil von Spades Definition ist prägnant und hilfreich, der letzte hingegen, der von der Kausalität eines mentalen Aktes ausgeht, erscheint anachronistisch, weil er den Kausalitätsbegriff des englischen Empirismus in die Frühscholastik hinein transportiert.17 Stattdessen lässt sich sagen: Eine Universalie bezeichnet eine reale Sache, wenn sie einer Person das intellektuelle Erfassen dieser Sache ermöglicht.18 Bei dem Prozess der Begriffsbildung, welcher dem geistigen Verstehen dient, wird das Konzept der similitudo, der Ähnlichkeit zwischen zwei Aspekten im Unterschied zu einem Identitätsverhältnis auf der einen und einer totalen Differenz auf der anderen Seite, relevant. Zunächst zur Differenz: Abaelard unterscheidet den Begriff, den sich der menschliche Geist von einem Gegenstand bildet, von dem Gegenstand selbst, wie er an sich und in sich ist: „Wie aber eine Sinneswahrnehmung nicht die wahrgenommene Sache ist, auf die sie sich richtet, so ist auch der Intellekt nicht mit der Form der Sache identisch, die er aufnimmt“19. Eine Form zu besitzen bedeutet innerhalb des hylemorphistischen Denkrahmens, im Besitz einer Was-Bestimmtheit zu sein, die das Wesen eines Gegenstandes angibt; die Form zeigt an, was etwas ist, die Materie, woraus etwas besteht. Diese Was-heit oder quidditas wird von Abaelard aus zwei Perspektiven betrachtet: als an-sich-seiende (forma rei) und als geistig durch einen Intellekt aufgenommene (forma concepta). Beide Größen können nicht identisch sein, da das die Form denkende Subjekt und der durch die Form bestimmte Gegenstand nicht ineins 13

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Sup. Por. (Ed. Geyer 18, 6-9): „De quibus universalibus positae fuerant quaestiones, quia maxime de earum significatione dubitatur, cum neque rem subiectam aliquam videantur habere nec de aliquo intellectum sanum constituere.“ Aristoteles Latinus (Transl. Boethius), De interpretatione III 16b 20f. (Ed. Minio-Paluello 7, 14-16): „Ipsa quidem secundum se dicta verba nomina sunt et significant aliquid – constituit enim qui dicit intellectum, et qui audit quiescit – sed si est vel non est nondum significat.“ Vgl. Dal Pra, Logica e Realtà, 20. Spade, Rez. Tweedale, 480. Aus der Untersuchung von De Rijk, La signification de la proposition, 547-555, geht hervor, dass die Vorstellung der von Spade bemühten causa efficiens nicht auf Abaelards Bedeutungslehre angwendet werden kann. Vgl. auch Jolivet, Abélard ou la philosophie dans le langage, 67-70. Wenin, La signification des universaux, 414-447. Sup. Por. (Ed. Geyer 20, 28-30): „Sicut autem sensus non est res sentita, in quam dirigitur, sic nec intellectus forma est rei quam concipit“.

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fallen: „alius modus est intelligendi quam subsistendi“20. Will man jedoch – wie Abaelard dies tut – einen strengen Skeptizismus vermeiden und weiterhin an der Möglichkeit rechter Erkenntnis, die die Grundlage des Erwerbs von Wissen und jeder Wissenschaft ist, festhalten, so muss trotz des bleibenden Unterschieds zwischen Denkendem und Gedachtem auch weiterhin ein Moment der Übereinstimmung bestehen. Die Distinktion Abaelards verlangt also notwendigerweise nach einem mittleren Modus, der sich zwischen Identität und Differenz bewegt: Diese Bedingung erfüllt der Begriff der similitudo. Daher wird er zum Verbindungsglied zwischen der Sache als solcher und der Sache als gedachter: „Wir bezeichnen das Bild [imago] als Ähnlichkeit [similitudo] des Gegenstandes.“21 Abaelard macht sich den boethianischen Sprachgebrauch zueigen.22 Boethius geht in seinem Kommentar zu De interpretatione davon aus, dass die passiones animae, von denen Aristoteles spricht, um die Einwirkung der Gegenstände auf die Vorstellungskraft des Menschen zu bezeichnen,23 als Bilder (imagines) zu deuten sind: Die durch die Sinne wahrgenommenen Dinge hinterlassen in der Vorstellungskraft des Menschen ein Bild, auf das der Intellekt zurückgreifen muss, um den sensitiv erfassten Gegenstand auch intellektuell einordnen zu können.24 Aus der Perspektive des denkenden Subjekts formuliert: Die realen Dinge wirken auf die Vorstellungskraft (imaginatio oder phantasia) des Geistes derart ein, dass diese die Gegenstände passiv erleidet (passio) und sich ein bleibendes Abbild von ihnen bewahrt. Das Bild stellt dem intelligiblen Seelenteil das sinnliche Material (species sensibilis) für den Prozess der Abstraktion bereit, durch den der Geist den intelligiblen Gehalt (species intelligibilis) eines Gegenstandes erfassen kann.25 Abaelard greift diesen Gedankengang auf und stellt – wie zitiert – fest, dass die imagines, von denen Boethius spricht, als Ähnlichkeiten der Dinge aufzufassen sind. Welche Rolle dieser similitudo innerhalb des Abstraktionsprozesses zukommt, wird anhand eines Beispiels veranschaulicht: „Wenn ich aber ‚Sokrates’ höre, steigt eine gewisse Form in der Seele auf, die eine Ähnlichkeit

20 21 22 23

24 25

Sup. Por. (Ed. Geyer 25, 31f.). Sup. Por. (Ed. Geyer 21, 6): „Nos autem imaginem similitudinem rei dicimus.“ Vgl. Lewry, Boethian Logic in the Medieval West, 104-109. Vgl. Aristoteles Latinus (Transl. Boethius), De interpretatione 16a 2-8 (Ed. Minio-Paluello 5, 4-9): „Sunt ergo ea quae sunt in voce earum quae sunt in anima passionum notae, et ea quae scribuntur eorum quae sunt in voce. Et quemadmodum nec litterae omnibus eaedem, sic nec eaedem voces; quorum autem hae primorum notae, eaedem omnibus passiones animae sunt, et quorum hae similitudines, res etiam eaedem.” Vgl. Boethius, In librum Aristotelis Peri ermeneias 16a 2-8 (Ed. Meiser I 29, 1-10). Zu den Veränderungen des Abstraktionsbegriffs vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 189f.

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zu dieser bestimmten Person ausdrückt.“26 Damit ist die Frage nach der significatio der Allgemeinbegriffe beantwortet;27 die Universalien, die ihrem ontologischen Status nach eine non-reale vox sind, bezeichnen eine Eigenkonstruktion des menschlichen Geistes, die dem Objekt, auf das er sich richtet, ähnlich ist. Es gibt also einen Unterschied zwischen der Form des Sokrates selbst, die diesem seine Was-Bestimmtheit und dadurch auch seine grundsätzliche Erkennbarkeit verleiht, und jener Form, die nur im Geist des intelligibel tätigen Menschen besteht, auch wenn Sokrates nicht anwesend ist. Beide Formen stehen zueinander in einer Relation der Ähnlichkeit, so dass der Akt des Denkens und das Objekt, auf das er intentional bezogen ist, nicht auseinander fallen (Identität innerhalb der Ähnlichkeit), aber dennoch weiterhin unterschieden bleiben (Differenz innerhalb der Ähnlichkeit). Es ist also nicht das Wesen des Sokrates selbst, das geistig erfasst wird, sondern eine vorgestellte Sache (res ficta), die der Form des Sokrates so ‚ähnlich’ ist, dass zutreffende prädikatorische Aussagen über ihn getroffen werden können.28 Der skizzierte Gedankengang entspricht der Haltung des jungen Abaelard, wie sie in der Logica Ingredientibus ihren Niederschlag gefunden hat. Im Laufe seiner weiteren Entwicklung, vor allem in den logischen Spätwerken (den Glossulae super Porphyrium, die Teil der Logica „Nostrorum petitioni sociorum“ sind, und im Traktat De intellectibus) verschiebt sich die Bedeutung des Ähnlichkeitsbegriffs für die Kognitionstheorie deutlich.29 Die Allgemeinbegriffe bezeichnen bereits in Abaelards Auslegung zu De interpretatione nicht mehr eine intramental vorgestellte Sache, die dem realen Gegenstand ähnlich ist, sondern sie ermöglichen es dem Geist, das Wesen der Dinge selbst zu erfassen: „Denn nicht aufgrund der Ähnlichkeiten der Dinge oder aufgrund der Ähnlichkeit des Gedankens [intellectus] wurden die Worte [voces] erfunden, sondern vielmehr um der Dinge selbst und der Gedanken selbst willen, damit diese nämlich eine Lehre über das Wesen [natura] der Dinge errichten, nicht über irgendwelche Vorstellungen, und ein 30 Verständnis der Dinge, nicht der Vorstellungen, bilden“ .

26 27

28

29 30

Sup. Por. (Ed. Geyer 21, 35f.): „Cum autem audio ‚Socrates’, forma quaedam in animo surgit, quae certae personae similitudinem exprimit.“ Vgl. Libera, Abélard et le dictisme, 64: La „distinction entre nommer et dire paraît très éclairante quand on songe que ‘signifier’ a deux sens chez Abélard, le sens pragmatique de production d’une intellection dans l’âme de l’auditeur et le sens sémantique de dénotation des choses extérieures à l’âme du locuteur.“ Vgl. Vanni Rovighi, Intentionnel et universel chez Abélard, 24: L’intellection „est une action de l’âme […], c’est-à-dire quelque chose de réel, tandis que l’objet connu est ‚res imaginaria quaedam et ficta’, c’est-à-dire un être non réel“. Vgl. Jolivet, Non-réalisme et platonisme chez Abélard, 175-195. Sup. Per. (Ed. Geyer 315, 28-32): „Non enim propter similitudines rerum vel propter intellectus similitudinem voces repertae sunt, sed magis propter ipsas res et earum intellectus, ut

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Auf die erkenntnistheoretischen Implikationen dieser These kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht näher eingegangen werden. Es genügt festzuhalten: Die similitudo, die eine Vermittlungsinstanz zwischen dem denkendem Subjekt und der Außenwelt darstellt, auf die sich der kognitive Akt des Individuums richtet, verliert im Laufe der Entwicklung von Abaelards Universalientheorie an Bedeutung. Welcher Gewinn lässt sich aus den skizzierten Überlegungen für die spezifisch theologische Erkenntnislehre ziehen, also jene Disziplin, die nach der Möglichkeit der Gotteserkenntnis und ihren Methoden fragt? (1) Es wurde bereits festgestellt, dass Abaelard das Zustandekommen wahrer Aussagen über das Wesen Gottes durch einen Rekurs auf die Illuminationslehre erklärt: Christus oder der Heilige Geist erleuchten den Verstand des Menschen.31 Schlägt man von dort aus die Brücke zu Augustinus, der den Prototyp der Illuminationstheorie entwickelt hat,32 so fällt ein entscheidender, bereits erwähnter Unterschied ins Auge: Augustin geht es um eine Theorie der Kognition im Allgemeinen, während Abaelard nur auf die Gotteserkenntnis im Besonderen abzielt. Abaelards eigene Universalienlehre ist ein entscheidendes Interpretament, das diese Diskrepanz erklärt. Weder die frühe Logica Ingredientibus noch die spätere Logica Nostrorum Petitioni Sociorum benötigen den magister interior, um das Zustandekommen von Allgemeinbegriffen zu erklären, weil dies innerhalb des Denkrahmens der aristotelisch-boethianischen Logik geschieht. Durch das Konzept der similitudo wird expliziert, welche Beziehung die Universalien, die ihrem ontologischen Status nach voces sind, zum menschlichen Geist auf der einen und zu den realen Gegenständen der Welt auf der anderen Seite haben. Die Eigentätigkeit des menschlichen Intellekts lässt die Frage nach einer übergeordneten Instanz, die dem Geist die Prinzipien ‚zeigt’, erst gar nicht aufkommen. Da Abaelards allgemeine Kognitionstheorie von den Vorgaben einer aristotelischen (wenn auch neuplatonisch gefärbten33) Seelenlehre ausgeht, ist die Hilfshypothese des inneren Lehrers nicht von Nöten. Dennoch reicht dieser universalientheoretische Denkrahmen für Abaelard nicht aus, um die epistemologischen Voraussetzungen seiner Gotteslehre zu klären und um das Konzept, welches vorangehend als „vermittelte Gotteserkenntnis“ bezeichnet wurde, hinreichend zu umschreiben. Hierzu wird der magister interior herangezogen. Diese Beobachtung birgt eine methodische und eine inhaltliche Relevanz: a. Auf der formalen Ebene stellt das gerade skizzierte Phänomen eine Rechtfertigung des thematischen Zuschnitts der vorliegenden Untersuchung dar. Es ist

31 32 33

videlicet de rerum naturis doctrinam facerent, non de huiusmodi figmentis, et intellectus de rebus constituerent, non de figmentis.“ Vgl. z. B. Th. Chr. 3,30 (Ed. Buytaert 206, 353-356). Vgl. Augustinus, De Magistro 11,38 (Ed. Daur 196, 46-50). Vgl. Libera, Der Universalienstreit, 38f.

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berechtigt, mit Blick auf das Werk Abaelards zwischen einer speziell theologischen Erkenntnislehre zu sprechen, der es um die gnoseologischen Voraussetzungen der Gotteserkenntnis geht und die sich von der allgemeinen Kognitionstheorie unterscheidet. b. Inhaltlich tritt damit das Problem der konzeptionellen Uneinheitlichkeit des Werkes Abaelards, wie etwa Jolivet oder Wieland sie diagnostizieren,34 auf den Plan: Stehen die theologische und die allgemeine Epistemologie im Werk Abaelards unverbunden nebeneinander? Diese Frage ist am Ende der Untersuchung des Ähnlichkeitsbegriffes zu erörtern. (2) Ein weiterer Ertrag der dargestellten Überlegungen zu den logischen Schriften Abaelards liegt in einer begrifflichen Präzisierung dessen, was er unter ‚Ähnlichkeit’ versteht. Dem weiteren Gang dieser Untersuchung wird folgende Arbeitsdefinition zugrunde gelegt: Similitudo als tertium comparationis zwischen Identität und Differenz ist ein intermediatorischer Terminus, der zwischen einem Denkendem und einem Gedachten vermittelt und einen Erkenntnisgewinn ermöglicht, indem er dem Denkendem die quidditas des Gedachten zugänglich macht. Diese Bestimmung ist auch für die theologische Epistemologie von entscheidender Bedeutung, obwohl es dort nicht um die Vermittlung zwischen einem intelligibel tätigen Subjekt und einem erfassten Gegenstand geht, sondern um eine Verhältnisbestimmung zwischen dem sich auf Gott hin ausrichtenden menschlichen Geist auf der einen und dem die endliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen übersteigenden Gott auf der anderen Seite.

1.2. Die Analyse von Ähnlichkeitsrelationen in den Theologiae: Zur Entwicklung einer Erkenntnismethodik In der Kognitionstheorie der frühen logischen Schriften Abaelards nimmt der Ähnlichkeitsbegriff – wie skizziert – eine erkenntnisvermittelnde Stellung ein, indem er es dem Intellekt ermöglicht, die Washeit der Dinge zu erfassen. Für den Bereich der theologischen Wissenschaft wird die similitudo aus ihrer Verwobenheit mit der Universalienproblematik heraus gelöst und auf die Erkenntnis Gottes angewendet.35 Nach der allgemeinen Definition von Ähnlichkeit, die den logischen Schriften Abaelards entnommen wurde, ist nun nach der spezifisch theologischen Verwendungsweise des Begriffs zu fragen. In den verschiedenen Redaktionsstufen der Theologia benennt Abaelard unterschiedliche Modi, auf die sich die Bezeichnungen „selbig“ (idem) und „ver34

35

Vgl. Jolivet, Abélard ou la philosophie dans le langage, 95f. sowie Wieland, Art. Abaelard, 10: „Aufs Ganze gesehen, hat Abaelard eine kohärente theologische Doktrin nicht vorgelegt.“ Vgl. Pinel, La similitude dans la Theologia Summi Boni, 521-524.

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schieden“ (diversum) beziehen können.36 Das Movens für die Einführung dieser Unterscheidungen ist das grundsätzliche Problem jeder christlichen Gottesehre, das Abaelard als summa omnium quaestionum, die höchste aller Fragen, bezeichnet: „Wie betrachten wir die Verschiedenheit der Personen in einer derart unteilbaren und gänzlich reinen Substanz“37? Die Distinktionen Abaelards – oder anders gesagt: deren Zählung – entwickeln sich innerhalb der Theologiae. Die Theologia Summi Boni kennt sechs Weisen, nach denen zwei Dinge als identisch oder als unterschiedlich bezeichnet werden können: der essentia, der Zahl, der Definition, der Ähnlichkeit, der Unveränderlichkeit und der Wirkung nach. Die Theologia Christiana modifiziert diese Analyse, indem sie idem/diversum secundum effectum fallen lässt und den Aspekt secundum numerum der essentiellen Identität beziehungsweise Differenz unterordnet; ein neuer Gesichtspunkt – das Moment der Proprietät als Kriterium der Unterscheidung – wird hinzugefügt. In der Theologia Scholarium bleiben nur noch drei der ursprünglich eingeführten Modi übrig: essentia, similitudo und proprietas. Neben den Theologien äußert Abaelard seine Überlegungen zu idem und diversum auch in den Glossae secundum vocales und den Glossulae super Porphyrium.38 Marenbon ordnet beide Schriften – anders als Mews in seiner grundlegenden Studie zur Datierung der Werke Abaelards39 – chronologisch nach der Theologia Summi Boni ein, da sie im Vergleich zur ersten Fassung der Theologie keine inhaltlichen Neuerungen enthalten, ihre Überlegungen dafür jedoch wesentlich geraffter und komprimierter vorgetragen werden; die Theologia Christiana hingegen sei zeitlich nach den Glossae secundum vocales und den Glossulae super Porphyrium entstanden, weil sie bereits eine modifizierte Form von Abaelards ursprünglicher Theorie über Identität und Differenz spiegele.40 In der philosophisch ausgerichteten Forschungsliteratur haben diese Entwicklungen bereits breite Beachtung gefunden; es sei exemplarisch auf die neueren Studien von King, Marenbon und Wilks verwiesen.41 Auffällig ist jedoch, dass die einschlägigen Untersuchungen zu dem Thema fast alle von einem rein sprachtheoretischen Interesse geleitet sind. Die theologischen Studien 36

37

38 39 40 41

Vgl. Th. Sum. 2,82-2,102 (Ed. Buytaert/Mews 142, 746 – 150, 959), Th. Chr. 3,138-3,163 (Ed. Buytaert 247, 1677 – 255, 1970), Th. Sch. 2,95-2,100 (Ed. Buytaert/Mews 454, 1411 – 456, 1487). Th. Sum. 2,63 (Ed. Buytaert/Mews 134, 541-543), Th. Chr. 3,115 (Ed. Buytaert 236, 13401342): „Summa, ut arbitror, omnium quaestionum hec est: quomodo scilicet in tanta unitate indiuidue ac penitus mere substantie diuersitatem personarum consideremus“? Vgl. Mews, A neglected gloss on the ‚Isagoge’, 38-42. Vgl. Mews, On Dating the Works, 51-55. Vgl. Marenbon, Abelard’s Changing Thoughts, 232, sowie Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 150. Vgl. King, Metahphysics, 85-92. Marenbon, Abelard’s Changing Thoughts, 229-250. Wilks, Peter Abelard and the Metaphysics, 356-385.

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zu Abaelard hingegen zeigen meist – obwohl der Kontext, in dem die Modi von idem und diversum unterschieden werden, ein dezidiert trinitätstheologischer ist – entweder gar kein oder nur ein verkürztes Interesse an den um Präzision bemühten Überlegungen: Bonanni skizziert – der Zielsetzung seiner Arbeit entsprechend – lediglich den in der Theologia Scholarium vorgelegten letzten Entwurf Abaelards,42 Klitzsch nimmt die Modifikationen der verschiedenen Redaktionsstufen zwar ausführlich zur Kenntnis, zieht daraus aber kaum analytische Schlussfolgerungen für das trinitätstheologische Gesamtprojekt Abaelards. Die beschriebenen Forschungstendenzen sind umso erstaunlicher, da – wie Klitzsch selbst feststellt – Abaelards „trinitätstheologisches Denken zu einer Weiterentwicklung des vorhandenen logischen Instrumentariums geführt zu haben“43 scheint. Abaelard gibt nämlich an, durch seine Reflexion auf die Gotteslehre eine sprachphilosophische ‚Forschungslücke’ schließen zu wollen, „weil vermutlich kein von den Philosophen unterschiedener Modus der Differenz das bezeichnen kann, wodurch die Unterschiedenheit der Personen gezeigt zu werden vermag.“44 Einzig Brower nimmt eine komprimierte, sowohl sprachphilosophisch fundierte als auch theologisch scharfsinnige Untersuchung der Distinktionen Abaelards über idem und diversum vor. Brower versucht dabei in einer analytischen Herangehensweise, die methodisch völlig anders ausgerichtet ist als die Studie Klitzschs, die Überlegungen Abaelards durch das Aufstellen syllogistisch geordneter Thesen zu veranschaulichen.45 Der Ertrag dieser Herangehensweise liegt darin, dass Abaelards Gesamtanliegen zum Vorschein kommt, wobei jedoch die „kontextgebundene[n] und von da her gleichsam programmatische[n] Umakzentuierungen“46, die Abaelard beständig an seinen Entwürfen vornimmt und auf deren Bedeutsamkeit Klitzsch zurecht Wert legt, in den Hintergrund treten. Nachfolgend geht es – im Zusammenhang der Erkenntnis- und Prinzipienlehre Abaelards – um den modus secundum similitudine, weil sich durch seine Analyse eine theologisch relevante Definition dessen gewinnen lässt, was Jolivet als methodisches Herzstück der Gotteslehre Abaelards ausmacht.47 Abaelard nähert sich dem Begriff der Ähnlichkeit aus einer doppelten Perspektive: Zunächst wird angegeben, welche Bedingungen zu erfüllen sind, damit über zwei Dinge (res) ausgesagt werden kann, dass sie in einer Ähnlichkeitsrelation stehen. 42 43 44

45 46 47

Vgl. Bonanni, Parlare della trinità, 145-153. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 154. Th. Sum. 2,63 (Ed. Buytaert/Mews 134, 543-545), Th. Chr. 3,115 (Ed. Buytaert 236, 13401342): „[…] cum nullus differentie modus a philosophis distinctus uideatur hic posse assignari secundum quem diuersitas personarum ualeat ostendi.“ Vgl. Brower, Trinity, 226-238. 243. 249. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 16. Vgl. Jolivet, La théologie d’Abélard, 36: „Cette méthode de la similitudo est plus proprement abélardienne; qu’elle se poursuit d’une Théologie à l’autre et que celle qui figure dans la dernière sera condamnée au concile de Sens.”

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(1) Sie müssen „essentialiter“48 verschieden sein. Um dies adäquat zu erfassen, ist zunächst Abaelards Verständnis von essentia, das in seinen logischen Schriften entfaltet wird, zu skizzieren.49 Grundsätzlich gilt, dass essentia die Washeit eines Gegenstandes bezeichnet, also das, was ihn zu dem macht, was er wesenhaft ist; ein Synonym hierfür ist „natura“50. Abaelard unterscheidet – mit neoplatonischem Impetus – die essentia eines Gegenstandes von dessen tatsächlichem Vorhandensein, seiner existentia. Ein existierendes Objekt verlangt zwar nach einer Essenz, weil es – sofern es existiert – notwendig eine Wesensbestimmung haben muss („existentia […] exigat essentiam“51); die Frage, ob jede denkbare Washeit auch einer tatsächliche Existenz bedarf, ist aber ein Problem der Universalientheorie: Geht man davon aus, dass die universalia nur in den Dingen, deren Wesen sie bezeichnen, vorhanden sind, so fordert auch jede essentia eine existentia. Eine universalia ante rem-Position hingegen erlaubt auch die Annahme essentieller Bestimmungen, die nicht gegenständlich existieren. Abaelard bleibt – trotz seiner Kritik an einem dinghaften Realismus, den er Wilhelm von Champeaux vorwirft – in dieser Frage uneindeutig. Jolivet stellt daher fest: La „signification du mot essentia varie de celle de eidos à celle de matière, pour ne citer que les plus différentes.“52 Im Folgenden sollen unter dem Begriff der essentia – trotz teminologischer Unschärfen Abaelards – die individuellen Wesensmerkmale, die nur den Einzeldingen zukommen, oder kurz gesagt jene Eigenschaften, die die Dinge „ausmachen“53, verstanden werden. Daraus folgt: Wenn zwei Gegenstände essentialiter differieren, so heißt dies ontologisch betrachtet, dass es sich um zwei verschiedene Substanzen handelt, denen unterschiedliche Washeiten zugrunde liegen und die auf der epistemischen Ebene auch als differente Entitäten erfasst werden können. (2) Zwei sich in dieser Weise unterscheidende Gegenstände werden als ‚einander ähnlich’ bezeichnet, wenn sie in irgendeiner Eigenschaft übereinkommen, deren Extension die Essenz der genannten Gegenstände nicht völlig abdeckt (da es sich ansonsten um eine Identität handeln müsste). Similitudo drückt also eine Relation zwischen zwei Dingen aus, die in einer bestimmten Hinsicht identisch sind („idem sunt siue unum“54), deren substantielle Wesensbestimmung sich jedoch 48 49 50

51 52 53 54

Th. Sum. 2,86 (Ed. Buytaert/Mews 144, 812f.): „Idem uero similitudine dicuntur quelibet dicreta essentialiter, que in aliquo inuicem similia sunt”. Vgl. Jolivet, Lexicographie abélardienne, 538-543. Dialect. 1,3 (Ed. De Rijk 85,36 – 86,2): „Que vero generalissima sunt genera, cum suprema sint et prima principia, sibi supponi nequeunt, sed ita in discretione proprie nature disiuncta, ut numquam eiusdem essentie possint esse.“ Dialect. 3,1 (Ed. De Rijk 346, 17f.). Jolivet, Lexicographie abélardienne, 540. Marenbon, Abelard’s Changing Thoughts, 234. Abaelards Verwendung des Essenz-Begriffs wird wie folgt erklärt: „He means just what makes them [sc. the things] up“. Th. Sum 2,86 (Ed. Buytaert/Mews 144, 814).

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nicht in dieser gemeinsamen Identität erschöpft, sondern einen individuellen Überschuss in sich birgt, der das Moment der essentialen Differenz begründet. Als Beispiel nennt Abaelard das Verhältnis zweier Arten (species) zueinander. Sie können darin übereinkommen, dass sie zur gleichen Gattung (genus) gehören, unterscheiden sich aber weiterhin durch die unterschiedlichen individuellen Substanzen, die der species zugeordnet sind, so dass sich zwar eine Schnittmenge zwischen beiden, aber keine Kongruenz ergibt. Insofern lässt sich, um die Definition der similitudo zu ergänzen, ex negativo sagen, dass zwei Dinge im Verhältnis der Unähnlichkeit zueinander stehen, wenn sie (1) sowohl essentiell verschieden sind, als auch (2) mit Blick auf eine bestimmte Eigenschaft nicht übereinkommen.55 Der sich hier zeigenden Struktur des Ähnlichkeitsbegriffes bleibt Abaelard trotz der Veränderungen, die er in den verschiedenen Redaktionsstufen der Theologia an den Modi von idem und diversum vornimmt, treu. In der Theologia Christiana, wo das Problem von Identität und Unterschiedenheit am ausführlichsten zur Sprache kommt, werden nur noch fünf Unterscheidungsweisen eingeführt; allein die Aussagen zur Ähnlichkeit bleiben inhaltlich unverändert.56 Innerhalb der Sekundärliteratur zu identitas und diversitas hat die Rolle der similitudo nur geringe Beachtung gefunden. Marenbon attestiert den bisherigen Forschungsarbeiten zu diesem Thema einen Mangel an textlicher Breite: Man habe sich zu sehr auf die ausführlichen Passagen in der Theologia Christiana konzentriert, ohne die früheren Einlassungen Abaelards und den Abschluss seiner Entwicklung in der Theologia Scholarium ausreichend zur Kenntnis zu nehmen; zudem sei der spezifisch trinitätstheologische Rahmen, innerhalb dessen die Überlegungen bezüglich der Einheit und Unterschiedenheit zum Tragen kommen, vernachlässigt worden.57 Auch wenn Marenbons Kritik berechtigt ist, bleibt sein eigener Ansatz nicht frei von Einseitigkeiten. Er vernachlässigt den Ähnlichkeitsbegriff, indem er seine Verwendung innerhalb der Theologia Summi Boni nur kurz skizziert und feststellt: „It is not here, however, that Abelard’s main interest lies“58. Angesichts der hervorgehobenen methodischen Stellung, die die similitudo innerhalb der Theologie Abaelards einnimmt (Jolivet bezeichnet sie als „proprement abélardienne“59), erscheint diese Feststellung als fragwürdig. Hinzu kommt die Beobachtung, dass die Ähnlichkeitsrelation der einzige Modus von Identität und Differenz ist, der in den Theologien Abaelards konstant bleibt:60 55 56 57 58 59 60

Vgl. Th. Sum. 2,99 (Ed. Buytaert/Mews 149, 932f.). Vgl. Th. Chr. 3,145. 3,159 (Ed. Buytaert 145, 1788-1794. 254, 1927-1929). Vgl. Marenbon, Abelard’s Changing Thoughts, 229. Marenbon, Abelard’s Changing Thoughts, 234. Jolivet, La théologie d’Abélard, 36. Vgl. Th. Sum. 2,86 (Ed. Buytaert/Mews 144, 812-817), Th. Chr. 3,145 (Ed. Buytaert 250, 1788-1794).

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Selbst in den stark komprimierten Ausführungen der Theologia Scholarium ist die similitudo im Vergleich zu den vorangehenden Stadien der Theologia ihrem inhaltlichen Zuschnitt nach unverändert; neuartig ist jedoch die Exemplifizierung: Wurde das Wechselspiel zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zuvor durch die Dreierkette individuum – species – genus präzise veranschaulicht, so verschwimmt nun der Unterschied zwischen Selbigkeit, Gleichheit und Ähnlichkeit. Wenn mit freiem Verweis auf Aristoteles behauptet wird, „dieselben Dinge seien bei allen, wie auch die Verstandesbegriffe […], und wir sagen, dass dieselben Waren in dieser und in jener Stadt gefunden“61 werden, so greift Abaelard letztlich auf umgangssprachliche Wendungen zurück, die den Unterschied zwischen Identität und Ähnlichkeit nicht mehr derart genau zum Ausdruck bringen, wie es das genannte Beispiel aus der Theologia Summi Boni tut. Es sind faktisch nicht ‚dieselben’ Dinge, die sich im Geist jedes Menschen finden, sondern nur einander ähnliche Ähnlichkeiten, und ‚dieselben’ Waren können nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, sondern nur einander ‚ähnliche’, aber letztlich differente Güter. Das Moment der zwar partiellen, aber dennoch in einem Teilaspekt wahrhaftig vorhandenen Deckungsgleichheit, wie es sich bei unterschiedlichen species ein und desselben genus findet, kommt nicht mehr präzise zum Ausdruck. Trotz der Veränderungen, die die anderen Modi von idem und diversum erfahren haben, und der explikatorischen Ungenauigkeiten, mit denen Abaelard die similitudo-Vorstellung erläutert, ist nicht davon auszugehen, dass sich der Ähnlichkeitsbegriff von der Theologia Summi Boni hin zur Theologia Scholarium verändert hat. Seine methodische Bedeutung und kontextuelle Verwendung mag differieren, für den Terminus selbst lässt sich jedoch das folgende konstante Muster ausmachen. Er bezeichnet immer eine Relation im doppelten Sinne: (1) Zunächst ist die Beziehung zwischen den Gegenständen zu nennen, die als einander ‚ähnlich’ bezeichnet werden und die – wie bereits dargelegt – essentiell verschieden sein müssen, „denn es gibt keine Ähnlichkeit außer zwischen verschiedenen Dingen“62, da sie andernfalls nicht nur einander ähnlich, sondern identisch wären. (2) Darüber hinaus wird similitudo immer auf ein Worauf-hin, eine bestimmte Eigenschaft, unter gleichzeitigem Absehen von anderen Eigenschaften, ausgesagt. „Jede Ähnlichkeit wird nämlich durch irgendeinen Teil eingeführt, und keine Ähnlichkeit erfasst alle Teile, weil jedes Ähnliche in irgendetwas unähnlich

61

62

Th. Sch. 2,95 (Ed. Buytaert/Mews 454, 1413-1415): „Idem similitudine, cum easdem res apud omnes esse sicut et intellectus Aristotiles asserit, et nos easdem merces in hac et in illa ciuitate reperiri dicimus.“ Th. Sum. 2,49 (Ed. Buytaert/Mews 130, 430f.): „Omne quippe simile in aliquo dissmile est, et nulla est nisi in discretis rebus similitudo.” Vgl. Th. Chr. 3,95 (Ed. Buytaert 231, 1181f.).

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sein muss.“63 Aus diesem Grund ist similitudo nicht nur eine Relation zwischen zwei essentiell getrennten Gegenständen, sondern – präziser formuliert – eine Beziehung zwischen zwei Teilaspekten dieser Gegenstände. Die Ähnlichkeit kann also nur dort korrekt von zwei Dingen prädiziert werden, wo das Woraufhin, also die gemeinsame Eigenschaft, die die Ähnlichkeit konstituiert, korrekt angegeben wird. Ein Erkenntnisgewinn kommt zustande, wenn bei einer noch unbekannten, also einer noch nicht vollständig intelligibel eingeordneten Entität, eine bestimmte Beschaffenheit festgestellt wird, die auch bei einer bereits bekannten – und dadurch begrifflich schon erfassten – Seiendheit vorliegt, so dass aufgrund dieser zwischen beiden bestehenden Ähnlichkeit von Bekanntem auf Unbekanntes geschlossen werden kann. Im Folgenden wird dieses Verfahren als ‚similitudoMethode’ bezeichnet und die ihr zugrunde liegende logische Operation als ‚Ähnlichkeitsschluss’. Dabei handelt es sich um interpretative Termini, die sich nicht wörtlich bei Abaelard finden, aber dennoch treffend wiedergeben, was er unter noticia ex similitudine versteht.64 Begrifflich ist hierbei zwischen dem erkenntnisvermittelnden Verfahren – also der gerade skizzierten ‚similitudo-Methode’ – auf der einen, und einer konkreten similitudo im Sinne eines Beispiels oder einer Veranschaulichung auf der anderen Seite, zu unterscheiden.65 In dieser Untersuchung soll es nur um die Methode gehen, nicht hingegen um die konkreten similitudines, die Abaelard benennt, um etwa die Trinität – zumindest aspekthaft – zu erfassen.

1.3. Ontologische Fundierung und Rechtfertigung der similitudo-Methode Wenn Abaelard logische Argumentationsmuster in die theologische Auseinandersetzung einbringt, so sieht er sich bei der Frage nach der Legitimität eines solchen Verfahrens widersprüchlichen Aussagen von Seiten der maßgeblichen Autoritäten gegenüber. Dieses Problem wird explizit in Sic et Non behandelt, findet seinen Niederschlag allerdings auch in den Theologien. Hier hat sich Abaelard mit der ambivalenten Haltung der paulinischen Schule gegenüber der paganen Philosophie auseinanderzusetzen. Die Mahnung aus dem Kolosserbrief, „Gebt acht, dass euch niemand durch eine nichtige Philosophie gemäß den 63

64 65

Th. Sum. 3,71 (Ed. Buytaert/Mews 187, 909-911): „Omnis quippe similitudo aliqua ex parte inducitur et nulla similitudo per omnia discurrit, quia omne simile in aliquo dissimile esse necesse est.“ Vgl. Th. Sum. 3,67 (Ed. Buytaert/Mews 186, 854-856). Zum Wachsbild und dem Bronzesiegel, den beiden konkreten similitudines, die Abaelard zur Veranschaulichung der trinitarischen Interrelationen anführt, vgl. Allegro, L’analogia nei trattati trinitari di Pietro Abelardo, 321-324.

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Elementen der Welt täuscht“ (Col 2,8), wird von Abaelard auf die similitudoMethode hin gedeutet: Es handle sich um eine Warnung vor denen, „die es sich anmaßen, über die einzigartige und unkörperliche Natur der Gottheit durch eine Ähnlichkeit [ad similitudinem] zu den aus Elementen bestehenden Körpern nachzusinnen“66. Verurteilt Abaelard hier die Methodik, von einem bereits erfassten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand zu einem intelligiblen, noch unbekannten Objekt vorzustoßen? Obwohl dies auf den ersten Blick zu vermuten wäre, zeigen seine weiteren Ausführungen, dass der Angriff auf die similitudo-Methode sich in deren vorsichtige Rechtfertigung wandelt. Gewarnt wird in der gerade zitierten Stelle vor den Fehlschlüssen, die sich aus der Anwendung des Ähnlichkeitsschlusses ergeben. Die im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchte Phänomenologie des Irrtums hat dargelegt, dass Abaelard eine theoretische Fehlerkenntnis vor allem in einer falschen Ausrichtung der praktischen Vernunft, einer mala intentio, begründet sieht.67 Dieser Grundgedanke kommt auch hier zum Tragen: Die Anmaßung der in Col 2,8 benannten Irrlehrer bestehe nicht in der bloßen Anwendung der similitudo-Methode, sondern darin, dass sie sich dieses Erkenntnisinstrumentes „nicht so sehr zum Erfassen der Wahrheit [pro percipienda veritate] als vielmehr zur Schaustellung ihrer Philosophie“68 bedienen. Damit verfehlen sie durch ihre moralische Korrumpiertheit das Ziel der Wissenschaft, die bei korrekter Anwendung eine „veritatis rerum comprehensio“69 ist, der es um die korrekte Erfassung der Wasbestimmtheit aller seienden Dinge geht. Der Grund für die Fehlerkenntnis liegt also nicht in der similitudo-Methode selbst, die – wie jede Wissenschaft – grundsätzlich gut ist,70 sondern in der Tatsache, dass die Häretiker, die sich ihrer bedienen, nicht Gott, sondern ihren eigenen Ruhm suchen:

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Th. Sum. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 135-137), Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 316318): „Prouidete ab argumentis eorum qui de singulari et incorporea diuinitatis natura ad similitudinem corporum ex elementis constantium ratiocinari presumunt“. Vgl. Th. Sum. 2,12 (Ed. Buytaert/Mews 118, 114f.), Th. Chr. 3,21 (Ed. Buytaert 203, 265f.): „Scientiam quippe superbia, superbiam cecitas comitatur”. Th. Sum. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 137f.), Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 318-320): „qui […] ratiocinari presumunt, non tam pro percipienda ueritate quam pro philosophie sue ostentatione”. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15f.). Vgl. Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 116, 68f.): „Sed neque ullam scientiam malam esse concedimus, etiam illam que de malo est.” Vgl. Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 60f.) sowie leicht modifiziert Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 436-438).

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„Deshalb [aufgrund der ostentatio philosophie sue] erheben sie sich überhaupt nicht zur Bekanntschaft mit demjenigen, der ‚den Hochmütigen’ immer widersteht ‚und den Demütigen Gnade schenkt’ (1 Petr 5,5)“71.

Die verfehlte Gotteserkenntnis der Irrlehrer liegt also nicht zwingend in der Wahl des falschen Instrumentariums begründet, sondern in der epistemischen Widerspenstigkeit des Gottes, der sich den Hochmütigen entzieht und nur jenen eine „vermittelte“ Erkenntnis seiner selbst zuteil werden lässt, die moralisch dazu disponiert sind. Die Warnung Abaelards vor der Anwendung des Ähnlichkeitsschlusses, der von den materiellen Dingen auf die Sphäre des Intelligiblen schließt, ist also vor dem Hintergrund seiner moralphilosophischen Grundlegung des Irrtums zu verstehen und nicht als grundsätzliche Ablehnung dieser Methodik zu werten. Die unter Bezugnahme auf den Kolosserbrief formulierte Kritik an der similitudo ist vielmehr ein rhetorisch durchdachter Versuch Abaelards, einen möglichen, gegen die eigene Epistemologie gerichteten Einwand aufzugreifen und ihn zu entkräften. Wie aber lässt sich der Ähnlichkeitsschluss positiv legitimieren? Zunächst steht die Befragung von Autoritäten, unter denen wiederum Paulus eine besondere Stellung einnimmt, im Vordergrund. Abaelard wendet die klassische Formulierung in Rom 1,20, nach der die geistigen und damit unsichtbaren Eigenschaften Gottes durch Vermittlung der körperlichen, geschaffenen Dinge („per ea quae facta sunt“) erkannt werden können, auf die similitudo-Methode an: „Weil nämlich jede menschliche Erkenntnis bei den Sinnen anhebt, erkundet die Vernunft die Natur der unsichtbaren Dinge durch deren Ähnlichkeit mit den sichtbaren Dingen“72. An dieser Aussage sind zwei Aspekte bemerkenswert: (1) Es wird ein positiver Entsprechungszusammenhang zwischen der materiellen, sichtbaren Welt auf der einen und dem Bereich des Geistigen auf der anderen Seite vorausgesetzt. Dies ist eine fundamental-ontologische, noch keine erkenntnistheoretische Einlassung. (2) Aus epistemologischer Sicht gilt, dass die menschliche ratio – in welchem Umfang bleibt offen – in der Lage ist, Einsicht in die metaphysisch gegebene Ähnlichkeitsstruktur zwischen sinnlicher und intelligibler Welt zu erhalten. Dadurch ist sie prinzipiell fähig, wahre Aussagen über die invisibilia dei,73 die unsichtbaren Eigenschaften Gottes, zu treffen. Hugo von Sankt-Viktor identi71

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Th. Sum. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 138-140), Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 320f.): „Ideoque ad eius noticiam minime assurgunt qui ‚superbis resistit’ simper ‚et humilibus dat gratiam’ (1 Petr 5,5).” Th. Sum. 3,67 (Ed. Buytaert/Mews 186, 854-856): „[…], quia omnis noticia humana a sensibus surgat, ex rerum uisibilium similitudine inuisibilium naturam ratio uestigauit“. Zur theologiegeschichtlichen Bedeutung des Begriffs der „invisibilia dei“ vgl. die Analyse eines gleichnamigen anonymen Traktates bei Valente, Scholastic Theology in the 12th Century, 63-65. 70-76.

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fiziert diese invisibilia gar mit dem Ternar potentia, sapientia, benignitas, durch den auch Abaelard das höchste Gute – Gott – umschrieben sieht.74 Die beiden Aspekte sind insofern miteinander verbunden, als der zweite notwendigerweise auf dem ersten aufbaut: Der menschliche Geist kann nur das erkennen, was der Wirklichkeit nach bereits angelegt ist, indem er von ihm bekannten, realiter existierenden, korporalen Gegenständen auf ebenfalls wirkliche, aber noch unbekannte intelligible Dinge schließt. Dieses Vorgehen ist nur aufgrund eines ontologischen Zusammenhangs zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt möglich. Die similitudo-Methode beruht also auf einer metaphysischen Voraussetzung: Trotz des Abstandes zwischen Schöpfer und Geschöpf „hat Gott irgendeine Ähnlichkeit zu allen Kreaturen“75. Simonis stellt fest: „Im Grunde hat Abaelard damit nichts Geringeres begriffen, als das Prinzip der Analogie“76. Auch wenn diese Deutung inhaltlich zutreffend ist, darf keine allzu direkte Traditionslinie zwischen Abaelard und der analogia entis-Lehre des dreizehnten Jahrhunderts gezogen werden. Der Einfluss Abaelards, der – wie Wieland, Mews und Grane behaupten – „meist mit Schweigen übergangen worden“77 ist, lässt sich anhand der Quellen nicht nachweisen, da weder das Vierte Lateranum selbst (1215), noch die es denkerisch vorbereitenden Theologen in seinem Umkreis Abaelard namentlich erwähnen. Dennoch steht die Behauptung des Konzils, „inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda“78, der Ähnlichkeitsvorstellung Abaelards nahe. Im vorliegenden Zusammenhang betont er jedoch den Aspekt der similitudo gegenüber dem der dissimilitudo, obwohl sich beide Momente – als tertium datur zwischen Identität und Differenz – gegenseitig bedingen. Dabei verbindet sich die spekulative Entfaltung des Schöpfungsglaubens mit platonischen und neuplatonischen Elementen. Das Axiom, wonach jedes Wirkende ein ihm Ähnliches hervorbringt („omne agens agit sibi simile“) und das Abaelard wohl durch die Vermittlung Augustins kannte,79 markiert den ontologischen Rahmen, auf dem die similitudo-Methode beruht. In der Theologia Christiana wird zudem eine Aussage Platons besonders betont: In der TimaiosÜbersetzung des Calcidius heißt es, Gott „wollte, dass alles ihm ähnlich gemacht 74

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Vgl. Hugo von Sankt Viktor, De tribus diebus 1 (Ed. Poirel 3f., 5-7): „Inuisibilia enim ipsius a creatura mundi per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur. Tria sunt inuisibilia Dei: potentia, sapientia, benignitas.“ Th. Sum. 3,72 (Ed. Buytaert/Mews 188, 923-925): „Quid ergo mirum si, cum ad omnes creaturas aliquam habeat deus similitudinem atque ex his quoque inducatur similitudo que aperte ad uicium spectant“. Simonis, Trinität und Vernunft, 60. Wieland, Abaelard – Denker des Glaubens, 32. Vgl. auch Mews, Orality, Literacy, and Authority, 489, sowie Grane, Peter Abaelard, 180. DH 806. Vgl. Rosemann, Omne agens, 110-115.

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werde, soweit die jeweilige Natur zur Glückseligkeit fähig war“80. Der Schöpfer ist also bestrebt, seinen Kreaturen durch die Herstellung einer Ähnlichkeitsrelation Anteil an sich selbst zu geben. Dieser Wunsch Gottes ist ein Ausdruck seiner vollkommenen Gutheit (bonitas) im moralischen wie auch im metaphysischen Sinne. Aus diesem Grund ist das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Gott und den Geschöpfen für letztere mit einer Empfindung der Glückseligkeit (beatitudo) verbunden, weil sie – wenn auch in stark verminderter Weise – Anteil an der Vollkommenheit des höchsten Prinzips haben. Auf die Tatsache, dass das Wirken des als Handwerker (artifex) gedachten Schöpfers laut Platon darin begrenzt ist, dass die verschiedenen Geschöpfe nur graduell abgestuft – je nach ihrem Ort innerhalb der Seinshierarchie – in der Lage sind, die genannte beatitudo auch tatsächlich zu empfangen, reflektiert Abaelard nicht. Für den vorliegenden Zusammenhang bleibt festzuhalten: Ontologisch gesehen steht jede Entität in einer nicht näher spezifizierten Ähnlichkeit zu Gott als ihrem Ursprung, da dieser ihr Anteil an sich und seinem Sein gewährt (participatio) und von ihr wiederum nachgeahmt wird (imitatio). Dies drückt sich im platonischen Denkrahmen durch ein Urbild-Abbild-Verhältnis aus, das zwischen der Idee und dem sinnlichen Gegenstand, der an ihr teilhat, besteht. Abaelard kennt zwar keine elaborierte Ideenlehre, überträgt jedoch die von Platon herkommende Verhältnisbestimmung zwischen intelligibler und materieller Welt auf die Schöpfungstheologie, indem er behauptet, dass Gott „in allem, was er schuf, irgendein Bild von sich zurückließ, damit der Handwerker selbst aus seinen Werken und durch die Ähnlichkeit zu den Geschöpfen bekannt werde, so dass dasjenige, was über ihn zurecht geglaubt wird, in gültiger Weise verteidigt und 81 bestimmt werde.“

Die platonischen Einflüsse, die sich eindeutig in der ‚theologischen Ontologie’ Abaelards nachweisen lassen, sind erstaunlich, da die Logica Ingredientibus noch ein gänzlich anderes Bild zeichnet. Dort werden Platons Thesen, vor allem die Ideenlehre, die eine extreme universalia ante rem-Position nach sich zieht, „bestenfalls“ – wie Marenbon feststellt – als „eine interessante Merkwürdigkeit, fernab von [Abaelards] eigener Denkweise“82 angesehen. Dennoch ist Platon eine 80

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Das Calcidiuszitat findet sich drei Mal in der Th. Chr., nämlich in 1,3. 2,29. 5,35 (Ed. Buytaert 73, 38-40. 144, 418f. 361, 502f.): „Optimus […] cuncta sui similia, prout cuiusque natura capax beatitudinis esse poterat, effici uoluit“. Vgl. Plato Latinus (Transl. Calcidius), Timaeus 28a f. (Ed. Waszink 20,22-21,3). Th. Sum. 3,73 (Ed. Buytaert/Mews 188, 950-953): „[…] qui uniuersis que condidit aliquam sui reliquit imaginem, ut ex operibus suis artifex ipse innotesceret, et per similitudinem creaturarum, quod de eo recte creditur, defendi atque assignari ualeret.“ Marenbon, The Platonisms of Peter Abelard, 118: „In short, Plato’s remark on universals struck Abelard the logician in much the same way as the other doctrines of Plato he mentions in his logical work – at best, an interesting curiosity, distant from his own way of thinking“.

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Autorität; seine stark realistische Position kann auch bei der Entwicklung einer in-voce-Universalientheorie, derzufolge „jene gemeinsamen Ideen, die [Platon] in den Nous platziert, Gattungen und Arten“83 sind, nicht übergangen werden. Abaelard bemüht sich in irenischer Absicht um eine Kompatibilität zwischen Aristoteles und Platon, indem er die Vorstellung einer extra-real subsistierenden Idee mit der aristotelischen Lehre der substantiellen Beständigkeit (auch bei akzidentellen Veränderungen) identifiziert.84 Betrachtet man die ontologischen Ähnlichkeitsrelationen, die Abaelard in den Theologiae zieht und die starke Anleihen bei der platonischen oder neuplatonischen Philosophie machen – wie sich am Urbild-Abbild-Verhältnis oder dem Teilhabegedanken zeigt – so liegt es nahe, von einer Entwicklung Abaelards bezüglich der Bewertung Platons auszugehen. Diese These kann durch einen vergleichenden Blick auf die Dialectica und die Theologia Summi Boni nachgewiesen werden, wobei die Dialectica – wie Mews darlegt85 und Marenbon bestätigt86 – als zeitlich früher anzusetzen ist. Dort greift Abaelard im Zusammenhang seiner Kommentierung von Boethius’ De divisionibus die Frage auf, wie die platonische Lehre von der anima mundi, die ihm aus der TimaoisÜbersetzung des Calcidius bekannt ist, mit der christlichen Glaubenslehre in Verbindung zu bringen sei. Abaelard weist eine Deutung der anima mundi, die auf den Heiligen Geist als dritte Person der Trinität zielt, als „in die Irre gehend“87 (erroneus) zurück, da die anima mundi geschaffen sei und einen Anfang habe, wohingegen der Heilige Geist ungeschaffen und ewig ist. In der Theologia Summi Boni hingegen wird die Weltseele Platons – in ausführlichen Erläuterungen – als involucrum, das auf den Heiligen Geist verweist, gedeutet.88 Marenbon versucht diesen Positionswechsel durch eine vertiefte Textkenntnis 83 84

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Sup. Por. (Ed. Geyer 24, 2-4): „In qua etiam sententia Platonem fuisse quidam autumant, ut videlicet illas ideas communes, quas in noy ponit, genera vel species appellaret.” Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 24, 14-22): „Potest et aliter solvi quod ait Platonem putare universalia extra sensibilia subsistere, ut nulla philosophorum sit sententiae controversia. Quod enim ait Aristoteles universalia in sensibilibus semper subsistere, quantum ad actum dixit, quia scilicet natura illa quae animal est, quae universali nomine designatur ac secundum hoc per translationem quandam universalis dicitur, nusquam nisi in sensibili re actualiter reperitur, quam tamen Plato naturaliter subsistere in se sic putat, ut esse suum retineret non subiecta sensui, secundum quod esse naturale universali nomine appellatur.” Vgl. Mews, On Dating the Works, 130f. Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 46. Dialect. 5,1 (Ed. De Rijk 558,36-559,2): „Sed hec quidem fides Platonica ex eo erronea esse convincitur quod illam quam mundi Animam vocat, non coeternam Deo, sed a Deo more creaturarum originem habere concedit.” Vgl. Th. Sum. 1,37 (Ed. Buytaert/Mews 99, 361-364): „De hac autem anima, si diligentius discutiuntur ea que dicuntur tam ab hoc philosopho quam a ceteris, nulli rei poterunt aptari, nisi spiritui sancto per pulcherrimam inuolucri figuram assignentur.“ Vgl. auch Th. Chr. 1,97 (Ed. Buytaert 112, 1273f.), Th. Sch. 1,157 (Ed. Buytaert/Mews 383, 1835f.).

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und eine intensivere Beschäftigung Abaelards mit dem Timaios zu erklären: Der Eintritt in das Kloster von Saint Denis bei Paris eröffne Abaelard den Zugang zu einer umfangreichen Bibliothek, so dass er „den Timaios und andere philosophische Texte zum ersten Mal sorgfältig gelesen zu haben“89 scheint. Die skizzierten Ausführungen zur similitudo erlauben es, diese These zu ergänzen: In den Theologiae hat Abaelard ein spezifisch gnoseologisches Interesse, das in den Schriften zur Dialektik nicht in gleicher Form zum Tragen kommt. Geht es letzteren um Struktur und Erkennbarkeit der Universalbegriffe, so fragt die Theologia in den verschiedenen Stadien ihrer Redaktion nach der Möglichkeit korrekter Gotteserkenntnis. Dabei wird eine ontologische Fundierung der Epistemologie nötig: Es ist die Frage zu klären, in welchem seinsmäßigen Verhältnis der Mensch zu seinem Schöpfer, auf den er sich nach Erkenntnis suchend ausrichtet, stehen muss, damit eine zumindest partielle Gotteserkenntnis ermöglicht wird. Die Ähnlichkeitsvorstellung, wie sie im platonischen Gedanken von Urbild und Abbild, von Teilhabe und Nachahmung, zum Tragen kommt, löst dieses Problem, indem sie einem epistemischen Akt (der Anwendung der similitudo-Methodik) eine metaphysische Fundierung (die seinsmäßige Ähnlichkeit) zur Seite stellt. Abaelards Neubewertung der platonischen Philosophie ist also nicht nur auf eine fundiertere Auseinandersetzung mit den Quellentexten zurückzuführen; stattdessen muss auch die prinzipientheologische Fragestellung nach der Möglichkeit gelungener Gotteserkenntnis als Movens einer (in ihrem genauen Textbezug jedoch diffus bleibenden90) Annäherung an Platon in den Blick geraten. Die vorgetragene Deutung, die davon ausgeht, dass Abaelards Verhältnis zum Platonismus sich durch das Aufkommen epistemologischer Probleme innerhalb der Theologia positiv entwickelt hat, stützt auch die von Mews und Marenbon vertretene Frühdatierung der Dialectica: Beide Autoren gehen von einer Entstehung vor der Theologia Summi Boni aus. Jenseits der Diskussion um genaue Jahreszahlen91 deutet Abaelards platonisch imprägnierte Ontologie der Ähnlichkeit, die sich in allen Redaktionen der Theologia findet, darauf hin, dass die Theologia Summi Boni tatsächlich nach der Dialectica ent89 90

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Marenbon, Platonismus im 12. Jahrhundert, 107f. So konstatiert etwa Heyder, Auctoritas scripturae, 434: „Die Betonung der göttlichen Vorsehung, die Rede vom mundus sensibilis und mundus intelligibilis, die Erweiterung des Begriffes rationabiliter um die Adverbien (nihil) subito/temere und provide spiegeln platonische Motive, ohne dass sich die Rezeption einer konkreten Passage des platonischen Timaeus benennen ließe.“ In der Studie von Mews, On Dating the Works, 130f. wird von einem Entstehungsdatum zwischen 1117 und 1121 ausgegangen. Marenbon setzt die Dialectica in The Philosophy of Peter Abelard, 46, sogar noch früher auf die Jahre 1115/1116, keinesfalls aber später als 1118/1119 an. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 113, Anm. 271, fasst die Diskussion mit der Aussage zusammen, dass sich „die Frühdatierung [der Dialectica] gegenüber der vorher üblichen Spätdatierung […] prinzipiell durchgesetzt“ hat.

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standen ist. Wäre es umgekehrt, könnte keine konsistente Entwicklung von Abaelards Verhältnis zum Platonismus aufgezeigt, sondern lediglich eine uneinheitliche und schwankende Haltung diagnostiziert werden. Zu einer solchen Interpretation sieht sich Ott, der noch von einer Spätdatierung der Dialectica ausgeht, gezwungen. Er behauptet, dass Abaelard auf den Druck Bernhards von Clairvaux „die Deutung der Weltseele auf den Heiligen Geist aufgegeben“92 habe. Dies ist jedoch nicht überzeugend. Stattdessen gilt es festzuhalten: Abaelard steht in seinen Theologiae vor der Notwendigkeit, die Methoden der theologischen Epistemologie (Wie gelingt Gotteserkenntnis?) ontologisch zu fundieren und bedient sich dabei einer platonisch geprägten Theorie der metaphysischen Ähnlichkeit zwischen intelligibler und materieller Welt oder – in den Kontext der Schöpfungstheologie übertragen – zwischen Schöpfer und Geschöpf: „Gott hat zu allen Geschöpfen irgendeine Ähnlichkeit.“93 Auf epistemischer Ebene besitzt die kreatürliche Welt deshalb eine zeichenhafte Verweisfunktion auf ihren Schöpfer. Der menschliche Geist ist durch seine Vernunftbegabung wiederum in der Lage, diesen deiktischen Charakter der materiellen Gegenstände zu erfassen und von ihnen (durch die Anwendung der similitudo-Methodik) auf Gott als den Urgrund aller Dinge zu schließen. Wie aber muss die menschliche Vernunft strukturiert sein, um auf epistemischer Ebene zu korrekten Einsichten in diesen ontologischen Zusammenhang zu gelangen? Auch bei dieser Fragestellung spielt der Ähnlichkeitsbegriff, den Abaelard anthropologisch gesehen in Anlehnung an die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit entwickelt, eine zentrale Rolle.94 Diese wird jedoch in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung unterschiedlich stark akzentuiert. Eine spekulative Ausformung findet sich ab der Theologia Christiana, wo die Ähnlichkeitsrelation zwischen Gott und dem Menschen nicht nur allgemein als ein Urbild-AbbildVerhältnis im platonischen Sinne verstanden wird, sondern die Gottebenbildlichkeit eine spezifisch trinitätstheologische Konkretisierung erhält. Hierbei steht wiederum Augustins De Trinitate im Hintergrund: In den Büchern V bis VII analysiert der Bischof von Hippo „die ontologischen Grundbestimmungen der göttlichen Dreifaltigkeit“, in Buch IX versucht er, „die gleichen Grundbestimmungen in der mens humana nachzuweisen.“95 Abaelard macht sich dieses Vorgehen zueigen: Ausgehend von seinem im dritten Teil dieser Arbeit noch näher zu untersuchenden Ternar potentia, sapientia und benignitas, der Gott als 92 93

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Ott, Die platonische Weltseele in der Frühscholastik, 314. Th. Sum. 3,72 (Ed. Buytaert/Mews 188, 923-925): „Quid ergo mirum si, cum ad omnes creaturas aliquam habeat deus similitudinem atque ex his quoque inducatur similitudo que aperte ad uicium spectant“. Vgl. Kucia, Die Anthropologie bei Peter Abaelard, 227. Brachtendorf, Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes, 156f. Vgl. auch Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes, 126-133.

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das höchste Gut und vollkommene Wesen umschreiben soll,96 wird die Ausstattung des Menschen mit einer der drei genannten Eigenschaften als Ähnlichkeitsrelation zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur gedeutet.97 Der Mensch steht „in einer gewissen Ähnlichkeit zu den drei Personen“, indem „er den Vater durch die Macht, die er über die anderen Geschöpfe erhalten hat, nachahmt, den Sohn durch die Vernunft und den Geist durch die Güte der Unschuld, die er bald darauf durch die Schuld verlor.“98

Der Mensch besitzt also aufgrund seiner ontologischen similitudo zu den drei Personen jene Eigenschaften in vermindertem, aber dennoch benennbarem Maße, die Gott als das vollkommene Wesen auszeichnen. Insbesondere der Sohn, dem die Weisheit mit besonderer Betonung zukommt, spiegelt sich in der ratio des Menschen. Dieses Vermögen, das den Menschen von den anderen Kreaturen, die nur sinnlich wahrnehmen, aber nicht intelligibel erfassen, unterscheidet, wird in einer Nebenbemerkung des Römerbriefkommentars sogar zum alleinigen Schlüssel der Gottebenbildlichkeit. Die Aufforderung des Paulus zum ehrbaren Lebenswandel und zum Meiden von „Gelagen und Sauferei“ (Rom 13,13) deutet Abaelard so, dass „durch die Trunkenheit das Bild Gottes, das heißt die Vernunft, ausgelöscht“99 werde. An dieser kurzen Anmerkung, die lediglich eine Parenthese innerhalb eines anderen Gedankengangs bildet, sind im Vergleich zur Theologia Christiana zwei Unterschiede festzustellen: (1) Zunächst ist eine ausschließliche Zuspitzung der Gottebenbildlichkeit auf die Rationalität des Menschen zu konstatieren. Dies wird durch die Konstruktion ‚imago Dei, id est ratio’ deutlich, die eine Identitätsrelation (id est) zwischen dem Bild Gottes und der Vernunft herstellt. Von der Nachahmung der Macht des Vaters oder der durch den Sündenfall verlorenen Unschuld der Güte, die dem Geist zugeordnet wird, ist keine Rede, obwohl sich der letztgenannte Aspekt

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Vgl. Th. Sum. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 87, 21-24): „Tale est ergo deum esse tres personas, hoc est patrem et filium et spiritum sanctum, ac si dicamus diuinam substantiam esse potentem, sapientem, benignam, immo etiam esse ipsam potentiam, ipsam sapientiam, ipsam benignitatem.“ Auffallend ist, dass diese methodische Parallele zwischen Augustins und Abaelards Seelenlehre in der Sekundärliteratur noch nicht explizit thematisiert wurde. Bei, Karfíková, Zur Rezeption Augustins bei Abaelard, 72-75, bleibt der genannte Aspekt völlig unerwähnt. Th. Chr. 1,12 (Ed. Buytaert 76, 147-152), th. sch. 80 (Ed. Buytaert 433f., 963-968), Th. Sch. 1,73 (Ed. Buytaert/Mews 347, 811-816): „Bene autem ad imaginem et similitudinem Trinitatis, hoc est ad expressam quamdam similitudinem trium personarum, homo fieri dicitur qui et Patrem per potestatem, quam in ceteras creaturas accepit, imitatur, et Filium per rationem et Spiritum per innocentiae benignitatem, quam postmodum per culpam amisit.“ Exp. Rom. 4 (Ed. Buytaert 295, 308-311): „Cubilia proprie ferarum sunt uel irrationalium animalium, quibus ebriorum lecti comparantur, in quibus, imagine Dei, id est ratione, per ebrietatem extincta, facti sunt ‚sicut equus et mulus, quibus non est intellectus’.“

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aufgrund seiner Verwobenheit mit der Erbsündenproblematik ebenfalls anbieten würde, im Rahmen eines Lasterkatalogs zur Sprache zu kommen. (2) Darüber hinaus wird die ontologisch-statische Weise, in der die Theologia Christiana die Gottebenbildlichkeit interpretiert, um ein dynamisches Moment ergänzt: Der Mensch ist ein Bild Gottes, wenn er die damit verbundenen Eigenschaften aktualiter vollzieht. Tut er dies nicht, wie es etwa bei der Suspension der Vernunft im Zustand der Trunkenheit der Fall ist, so erlischt seine bildhafte Ähnlichkeit zu Gott. Trotz der skizzierten Unterschiede zwischen der Theologia Christiana und dem Römerbriefkommentar gilt es als bleibende Position Abaelards festzuhalten: Es besteht auf ontologischer Ebene ein positiver Entsprechungszuammenhang zwischen Gott und dem Menschen, der näherhin als Ähnlichkeitsrelation bestimmt wird. Ausgehend von dieser Überlegung, die – wie Klitzsch diagnostiziert – von Abaelard nicht auf „weitergehende theologische Konsequenzen“100 hin untersucht wird, lässt sich eine Brücke zwischen der epistemologischen und der ontologischen similitudo schlagen: Die gesamte sichtbare Welt der geschaffenen Dinge steht im metaphysischen Sinne in einem Ähnlichkeitsverhältnis zur Sphäre des Intelligiblen, allen voran zum „höchsten Prinzip, das Gott ist“101. Bei den nicht belebten Gegenständen sowie den bloß vegetativ und sensitiv begabten Lebewesen äußert sich dies in einer Urbild-Abbild-Relation; der Mensch zeichnet sich jedoch durch eine Gottebenbildlichkeit im engeren Sinne aus. Er ahmt in seinem Existenzvollzug jene Eigenschaften bruchstückhaft nach, die Gott als dem höchsten Gut und dem vollkommenen Wesen schlechthin in absoluter Weise zukommen.102 In den Recensiones breviores zur Theologia Scholarium findet sich diese, bisher in Bezug auf alle Menschen geltende Ansicht sogar als geschlechterspezifisch differenziert. Abaelard gliedert – in der Tradition der Schriftauslegung Anselms von Laon103 – die Wendung aus Gen 1,26 („Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram“) in zwei Teile und wendet sie unterschiedlich auf Mann und Frau an: Der Mann sei im engeren Sinne imago dei, weil er die Frau an Macht, Weisheit und Liebe (amor) überrage. Die Frau stehe hingegen in einer doppelten Relation: Sie sei nicht imago dei, sondern imago viri und befinde ich zu Gott nicht in einem direkten Abbild-, sondern in einem Ähnlichkeitsverhältnis; die Frau sei ad similitudinem dei (so der zweite Teil des Genesiszitats) erschaffen.104 Abaelard bedenkt die weiteren 100

Klitzsch, Die ‚Theologien’, 369, Anm. 59. Th. Sum. 3,74 (Ed. Buytaert/Mews 189, 958-961): „Cum itaque omnia ex aliqua similitudine summum principium, quod Deus est, aspiciant ideoque mutuo ipsorum uocabula ad alterutrum transferantur”. 102 Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 55. 103 Vgl. Anselm von Laon, Sententiae 29 (Ed. Lottin 30, 10-20). 104 Vgl. th. sch. 45f. (Ed. Buytaert 418, 499-518), Th. Sch. 1,38f. (Ed. Buytaert/Mews 333f., 416-434): „Vir quippe, iuxta Apostolum, imago est Dei, non mulier; sed sicut uir imago est 101

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Konseuquenzen dieses Gedankengangs nicht. Wenn die Rationalität eines Menschen in seinem imago-dei-Sein begründet liegt, diese Eigenschaft der Frau aber nicht zukäme, so würde dies eine verminderte Vernunftbegabung und damit eine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit des weiblichen Geschlechts nach sich ziehen. Abaelard schreckt jedoch vor dieser epistemologischen Folge seiner ontologischen Unterscheidung zwischen Mann (imago dei) und Frau (imago viri und nur similitudo dei) zurück. Stattdessen formuliert er für beide Geschlechter der species Mensch gleichermaßen: Die Ähnlichkeitsrelation auf der ontologischen Ebene ermöglicht es epistemologisch gesehen mit Hilfe der similitudo-Methodik, Einblick in die metaphysischen Entsprechungen zwischen Gott und der Welt zu erhalten und damit zu wahren Aussagen über Gott zu gelangen. Dadurch ist die erkenntnistheoretische Gültigkeit des Ähnlichkeitsschlusses sowohl durch einen Rekurs auf die Schrift (Rom 1,20) als auch durch den Entwurf einer platonisch geprägten Ontologie der Ähnlichkeit legitimiert. Besonders der letztgenannte Aspekt hat in der Sekundärliteratur geringe Beachtung gefunden: Gregory105 beschränkt sich weitgehend auf die Rezeption der von Platon her kommenden anima mundi-Vorstellung durch Abaelard; auch die ausführliche Studie Moonans106 nimmt die Ontologie nur marginal in den Blick. In Anlehnung an die skizzierten Ausführungen ließe sich jedoch – in Ergänzung zu Marenbons Zählweise, die den genannten Aspekt nicht enthält107 – von einem ‚ontologischen Platonismus’ in den Theologien Abaelards sprechen.

1.4. Richtlinien zur Anwendung: Die Stufen der Analytik Bisher wurde skizziert, was unter der similitudo-Methode zu verstehen ist und auf welchen ontologischen und epistemischen Grundlagen sie beruht. Nun geht es um ihre Anwendung im engeren Sinne. Wie ist dieses Instrumentarium korrekt zu gebrauchen, um zu wahren Einsichten zu gelangen? Hierzu legt Abaelard in der Theologia Summi Boni eine kurze, von der Sekundärliteratur gänzlich unbeachtete Theorie über die Stufen der Analytik vor. Anlass dafür sind die scheinbar kontradiktorischen Aussagen Platons über die metaphysischen Eigenschaften der anima mundi. Diese sei nämlich zugleich eine teilbare sowie eine unteilbare Substanz und bestehe sowohl aus Gleichem als

Dei, ita et mulier imago dicitur uiri. Imago quippe expressa alicuius similitudo uocatur; similitudo autem dici potest, etsi non multum id cuius similitudo est exprimat.” 105 Vgl. Gregory, Abélard et Platon, 38-64. 106 Vgl. Moonan, Abelard’s use of the Timaeus, 7-90. 107 In Marenbon, The Platonisms of Peter Abelard, 110. 119. 122, werden drei Spielarten des Platonismus genannt (ein logischer, ein an den Timaios und ein an die Politeia angelehnter). Die ontologische Komponente wird nicht erwähnt.

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auch aus Verschiedenem.108 Auf die Intention, die Platon ursprünglich mit dieser These verband und die sich anschließenden, neuplatonisch gefärbten Deutungen von Calcidius und Macrobius kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.109 Als Ausgangspunkt der Überlegungen Abaelards ist lediglich festzuhalten, dass sie dem Widerspruchsprinzip Rechnung zu tragen haben, da von einer Substanz nicht in derselben Hinsicht ausgesagt werden kann, dass sie zugleich teilbar und unteilbar sei, aus Identischem und Diversem bestehe. Um der Gefahr des Kontradiktorischen zu entgehen, rekurriert Abaelard auf die göttliche Vollkommenheit des Heiligen Geistes, der als perfektes Wesen in der Lage sei, jeden Gegenstand vollständig und ohne Restpotential zu erkennen. Für die vorliegende Fragestellung von Belang sind die Stufen der Analytik, die dabei unterschieden werden: „Jede Betrachtung einer beliebigen zu erkennenden Sache besteht nämlich aus diesen vier Momenten“110, die sich wiederum in zwei grobe Untersuchungsschritte gliedern lassen: (1) Zunächst wird eine Sache an sich selbst („secundum propriam essentiam“) betrachtet. Hierbei kann festgestellt werden, ob es sich um eine einfache Substanz (eine reine forma) oder ein ens compositum handelt, ein aus Form und Materie zusammengesetztes Seiendes. Die beiden Momente der Teilbarkeit bzw. des Zusammengesetztseins auf der einen, und der Unteilbarkeit bzw. Einfachheit auf der anderen Seite sind also metaphysische Grundeigenschaften, die durch die alleinige Analyse der Sache selbst zu erkunden sind, „weshalb wir sie zuerst in sich selbst betrachten“111. (2) Um das Wesen einer res vollständig zu erfassen, reicht es Abaelard zufolge jedoch nicht, diese nur isoliert, als an und für sich seiende zu analysieren. Sie muss darüber hinaus „im Vergleich zu anderen Gegenständen“ untersucht werden, damit offenkundig wird, worin sie „den anderen Dingen selbig oder verschieden, das heißt ihnen ähnlich oder unähnlich“112 ist. Ähnlichkeit ist also dasjenige relationale Strukturmerkmal eines Gegenstandes O1, das zur vollständigen Erfassung seiner essentia notwendig ist, aber nur in der vergleichenden Betrachtung mit einem anderen Gegenstand O2 begriffen werden 108

Vgl. Plato Latinus (Transl. Calcidius), Timaeus 35a (Ed. Waszink 27). Vgl. Schedler, Die Philosophie des Macrobius und ihr Einfluss, 117, sowie Reis, Im Spiegel der Weltseele, 83-113. 110 Th. Sum. 1,56 (Ed. Buytaert/Mews 106, 553-557): „Tota quippe deliberatio cuiuslibet rei cognoscende in his quatuor consistit, secundum que integre queque res tam in seipsa quidem, dum eam secundum propriam essentiam aut simplicem aut compositam respicimus, hoc est indiuiduam siue diuiduam“. 111 Th. Sum. 1,56 (Ed. Buytaert/Mews 106, 557-560): „Et hec est prima naturaliter consideratio de quacumque re ad eius naturam uestigandam, ut uidelicet primum ipsam in se consideremus, an ipsa eius substantia simplex sit an non”. 112 Th. Sum. 1,56 (Ed. Buytaert/Mews 106, 560-562): „Deinde in comparatione aliarum, in quo scilicet cum aliis rebus eadem sit uel diversa, hoc est similis uel dissimilis.“ 109

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kann. Um O1 zu verstehen, muss also auch O2 – zwar nicht erschöpfend, aber dennoch aspekthaft – analysiert werden, um Ähnlichkeiten sowie Unähnlichkeiten zu O1 feststellen zu können. Die menschliche Vernunft schreitet also bei der „vollständigen Betrachtung“ („tota deliberatio“) einer Sache vergleichend voran, indem sie Eigenschaften eines bereits bekannten Objekts O2 zu Proprietäten eines noch unbekannten Objektes O1 in Beziehung setzt. Daraus ergibt sich folgende anwendungsbezogene Präzisierung der similitudo-Methodik: Sie ist ein komparatistisch ausgerichtetes Instrumentarium, das durch die Setzung einer Relation zwischen zwei Gegenständen einen Erkenntnisgewinn ermöglicht, indem sie offen legt, inwieweit sich diese ähnlich oder unähnlich sind. Damit bei diesem Verfahren kein regressus ad infinitum entsteht, bei dem unendlich viele Eigenschaften auf ihr Vorhandensein bei O1, O2 und ON überprüft werden, muss die vergleichende similitudo-Methodik sich beschränken: Sie erhält ihre erkenntnisfördernde Funktion nur dort, wo sie mit Blick auf einen bestimmten Aspekt unter Ausblendung vieler anderer zur Anwendung kommt. Aus diesem Grund ist „eine Ähnlichkeit nur in Bezug auf denjenigen Aspekt anzunehmen, für den sie herangezogen wurde“, was insbesondere für die theologische Erkenntnislehre zu gelten hat, da in Bezug auf Gott „nur mangelhafte Ähnlichkeiten gefunden werden, weil die Natur der Gottheit bei weitem von ihren Geschöpfen verschieden ist“113. Die vergleichend voranschreitende Vernunft des Menschen bedarf also zur vollständigen Erfassung eines Gegenstandes zweier Bezugspunkte, nämlich des Gegenstandes selbst sowie eines weiteren Objekts, das zum Vergleich herangezogen wird. Dieser zwischen zwei Objekten oszillierende Erkenntnisvorgang ist für die theologische Epistemologie von zentraler Bedeutung, da er die Gewinnung dogmatischer Aussagen ermöglicht: Auf der Grundlage der similitudoMethodik „übertragen wir irgendeine Bezeichnung vermittels Ähnlichkeit von den Geschöpfen auf den Schöpfer“114. Dadurch werden – voranschreitend vom Bekannten zum Unbekannten – Aussagen über Gott ermöglicht, so dass seine Spuren auch im Raum der Immanenz, innerhalb dessen sich die menschliche Vernunft bewegt, feststellbar sind: Die Eigenschaften der Gottheit können zwar nicht an und für sich („non in ipso“) erfasst werden, sind der menschlichen ratio aber durch eine Analyse der kreatürlichen Welt zumindest ansatzweise („in creaturis quoquo modo“115) zugänglich. Die durch die similitudo gewonnene 113

Th. Sum. 3,71 (Ed. Buytaert/Mews 187, 911-914): „Si qua ergo similitudo in eo tantum est accipienda ad quod affertur, maxime in deo, ad quem, ut dictum est, minus plene similitudines inueniuntur, cum longe a creaturis suis natura diuinitatis diuersa sit.“ 114 Th. Sum. 2,77 (Ed. Buytaert/Mews 140, 699f.), Th. Chr. (Ed. Buytaert 245, 1626f.), Th. Sch. 2,90 (Ed. Buytaert/Mews 452, 1358f.): „De quo si quid dicitur, aliqua similitudine de creaturis ad creatorem uocabula transferimus”. 115 Th. Sum. 2,65 (Ed. Buytaert/Mews 135f., 572-576), Th. Chr. 3,118 (Ed. Buytaert 238, 1385-1391): „De qua si quid forte philosophi dicere animati sunt, ad similitudines et exem-

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Einsicht ist also keine diffus-athematische, sondern eine begrifflich präzise zu fassende, die allerdings unter dem methodischen Vorbehalt der Unähnlichkeit steht, die einen notwendigen Teil jeder Ähnlichkeitsrelation bildet. Abaelard wehrt sich jedoch dagegen, dass diese bleibende Unschärfe der similitudoMethode mit mythologischen Elementen in Verbindung gebracht wird. Bezogen auf Gott sei die Verwendung von „Fabelhaftem“ („fabulosum“116) nicht angemessen. Die kreatürlichen Vergleichsobjekte, die zur Gewinnung von Aussagen über Gott herangezogen werden, müssten stattdessen angemessen sein, so wie etwa Platons Darlegung der Idee des Guten anhand der Sonne.117 Die Anleitungen Abaelards zur Anwendung der similitudo-Methode lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wahre Aussagen über das Wesen Gottes kommen dann zustande, wenn die menschliche Vernunft sich innerhalb der für sie erfassbaren, geschaffenen Welt, einen angemessenen Gegenstand sucht, aus dem sie einige besondere Proprietäten herauslöst und diese – in freilich gebrochener Form – zur Veranschaulichung bestimmter Eigenschaften Gottes heranzieht. Die Beschaffenheit eines Gegenstandes und die daraus geschlossenen Eigenschaften Gottes können jedoch nicht in univoker Weise miteinander identifiziert werden, da sie nur durch den Modus der Ähnlichkeit prädizierbar sind. Sie ergeben kein abgeschlossenes, erschöpfend umrissenes Bild Gottes. Abaelard grenzt vor diesem Hintergrund die similitudo von einem simulacrum, einem Götzenbild, ab. Die similitudo erhält ihre erkenntnisstiftende Wirkung nur, wenn die Unähnlichkeit als Moment der Differenz mitgedacht wird, wohingegen das simulacrum ein ungebrochenes Entsprechungsverhältnis suggeriert, das demjenigen, der „über der Seele“ und „über der Natur“118 steht, nicht gerecht wird.

pla se contulerunt, quasi presumptionem suam uelantes, ne de ineffabili fari uiderentur, cuius gloriam in creaturis quoquo modo, non in ipso, uestigabant atque per ipsas assignabant.” 116 Th. Sum. 1,42 (Ed. Buytaert/Mews 101, 406), Th. Chr. 1,104 (Ed. Buytaert 114, 1337), Th. Sch. 1,164 (Ed. Buytaert/Mews 385, 1895). 117 Vgl. Th. Sum. 1,42 (Ed. Buytaert/Mews 101, 409-414), Th. Chr. 1,104 (Ed. Buytaert 114f., 1340-1345), Th. Sch. 1,164 (Ed. Buytaert/Mews 385, 1898-1903). 118 Vgl. Th. Sum. 1,42 (Ed. Buytaert/Mews 101, 414-417), Th. Chr. 1,104 (Ed. Buytaert 115, 1345-1348), Th. Sch. 1,164 (Ed. Buytaert/Mews 385f., 1903-1906): „Ideo et nullum eius simulacrum, cum diis aliis constituerentur, finxit antiquitas; quia summus deus et nata ex eo mens, sicut ultra animam, ita sunt supra naturam, quo nichil fas est de fabulosis peruenire.“

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1.5. Die Grenzen: Seinsmäßige Unähnlichkeit und sprachliche Unzulänglichkeit Bei der skizzierten ‚Gebrauchsanweisung’ der similitudo-Methodik wurden deren Grenzen bereits angedeutet. Sie liegen – ebenso wie ihre Ermöglichung – auf den Gebieten der Ontologie und der Sprachlogik begründet. Der Ähnlichkeitsschluss innerhalb der theologischen Erkenntnislehre ist ein Versuch, zu Erkenntnissen über Gott zu gelangen und diese sprachlich zu artikulieren, obwohl ein tiefer Graben zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht. Aus diesem Grund besitzt jede in Bezug auf Gott eingeführte Ähnlichkeit notwendigerweise einen defizitären Charakter. In der Theologia Summi Boni bezeichnet Abaelard den grundsätzlichen Mangel, der jedem Sprechen von Gott eigen ist, als „vitium“119. Zu Beginn von Scito te ipsum wird dieser Begriff näher beschrieben; er lässt sich nach zwei Gesichtspunkten gliedern: Es gebe – so Abaelard – vitia des Geistes und vitia des Leibes. Letztgenannte erteilen – jenseits einer moralischen Wertung – Auskunft über die köperliche Konstitution, die Gebrechen eines Menschen (etwa seine Gangart oder seine Sehkraft). Die Mängel des Geistes sind hingegen nach ihrer sittlichen Qualität zu klassifizieren. Moralische Relevanz besitzen die „animi uicia uel uirtutes“120, wenn sie einen Handlungsimpetus enthalten, der zu guten oder bösen Taten führt; indifferent sind sie hingegen, wenn sie wertneutrale Zustände beschreiben, die keine sittliche Qualifikation beinhalten. Als Beispiel – und dies ist für die epistemologische Verwendung des Begriffs vitium in der Theologia von Bedeutung – nennt Abaelard „Wissen oder Unwissen“121. Das jede menschliche Rede von Gott kennzeichnende vitium ist nicht Ergebnis einer böswillig vollbrachten Handlung, sondern eine Naturgegebenheit des Menschen. Wieder tritt hierbei die enge Verbindung zwischen Epistemologie und Metaphysik zu Tage. Der Konnex, der – wie bereits ausgeführt – die similitudoMethode ermöglicht, weil eine bestimmte Ähnlichkeit zwischen Gott und der kreatürlichen Welt besteht, begrenzt sie zugleich: „Was aber notwendig Sein und deshalb ewig ist, entbehrt jedweden Ursprungs, von dem her es Sein bezieht“122. 119

Th. Sum. 3,71 (Ed. Buytaert/Mews 187, 914-917): „Quas tamen deus ex aliqua respicit similitudine, cum in pluribus ex eis disiuncta sit, et frequenter etiam ex his similitudines ad eum inducuntur, in quibus est uicium manifestum”. 120 Scito I 1,1f. (Ed. Ilgner 1, 1-5): „Mores dicimus animi uicia uel uirtutes, quae nos ad bona uel mala opera pronos efficiunt. Sunt autem uicia seu bona non tantum animi set eciam corporis, ut debilitas corporis uel fortitudo, quam uires appellamus, pigredo uel uelocitas, claudicacio uel rectitudo, cecitas uel uisio.“ 121 Scito I 1,5 (Ed. Ilgner 1, 10-14): „Sunt animi quoque nonnulla uicia seu bona, quae a moribus disiuncta sunt nec uitiam humanam uituperio uel laude dignam efficient, ut hebitudo animi uel uelocitas ingenii, obliuiosum uel memorem esse, ignorancia uel scientia.“ 122 Th. Sum. 3,72 (Ed. Buytaert/Mews 188, 931f.): „Quod uero necesse est esse atque ideo eternum, omnino caret principio a quo esse contrahat“.

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Gott ist also jenes nicht kontingente, sondern mit Notwendigkeit seiende Wesen, das selbst keinen Ursprung hat und in nichts anderem gründet, als in sich selbst. Dieses Wesen kann durch den Menschen, der sich als kontingent Seiender durch seine Verwiesenheit auf Gott als Prinzip jeder Wirklichkeit auszeichnet, nicht adäquat erfasst oder zu Sprache gebracht werden. Jede dogmatische Aussage über Gott ist deshalb mit einem grundsätzlichen epistemischen vitium behaftet, das in der ontologischen Differenz zwischen Gott und Mensch gründet. Eine perfecta Dei notitia ist – so die kritische Anfrage Walters von Mortagne – Abaelard zufolge nicht möglich.123 Dieser Mangel schlägt sich auch im Fassungsvermögen der Sprache nieder. „Als nämlich der Mensch die Laute [voces] erfand, um seine Einsichten [intellectus] auszudrücken, Gott aber keineswegs erkennen konnte, wagte er es zurecht nicht, jenes unaussprechliche Gut beim Namen zu nennen. Daher scheint in Bezug auf Gott kein Wort [vocabulum] eine eigene Erfindung zu bewahren, sondern alles, was von ihm gesagt wird, ist eingehüllt in Übersetzungen und gleichnishafte Rätsel und wird durch irgendeine Ähnlichkeit untersucht“124.

Abaelard sieht die Sprache als das Ergebnis menschlicher Setzung an, die dazu dient, die durch Abstraktion gewonnene Erkenntnis über die kreatürliche Welt auch sprachlich zu artikulieren. An dieser Stelle zeigt sich die enge Verbindung zwischen Abaelards semantischem und seinem theologischen Projekt. Der Gebrauch prädikatorischer Aussagen, in denen „Sein“ als Kopula verwendet wird,125 verdankt sich nämlich dem Akt der impositio.126 Die impositio bezeichnet die ursprünglich durch einen (protologisch verorteten127) Sprecher vorgenommene Zuordnung eines Lautes zu einem Gegenstand. Abaelard unterscheidet in der Logica Ingredientibus, bei den Glossen zur Kategorienschrift, zwei Stufen der Einsetzung: (1) In einem ersten Akt wurde eine Relation zwischen der Bezeichnung der Dinge („significatio rerum“, „designatio rerum“) und einem bestimmten Laut (vox) 123

Vgl. Walter von Mortagne, Epsitola ad Petrum Abaelardum (Ed. Ostlender 38, 20). Th. Sum. 2,78 (Ed. Buytaert/Mews 141, 703-709): „Cum itaque homo uoces inuenerit ad suos intellectus manifestandos, deum autem minime intelligere potuerit, recte illud ineffabile bonum effari nomine non est ausus. Vnde in deo nullum propriam inuentionem uocabulum seruare uidetur, sed omnia que de eo dicuntur, translationibus et parabolicis enigmatibus inuoluta sunt et per similitudinem aliquam uestigantur”. Vgl. Th. Chr. 3,134 (Ed. Buytaert 245, 1632-1638), Th. Sch 2,90 (Ed. Buytaert/Mews 452, 1362-1367). 125 Zur vis copulandi vgl. Rosier-Catach, Abélard et les grammairiens, 187-189. 126 Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 181-184. 127 Vgl. Exp. Hex. 436-438 (Ed. Romig/Luscombe 98, 2608-2625). Adam habe in einem längere Zeit andauernden Prozess die Sprache eingesetzt. Diese „inventio linguae“ sei sogar die Grundlage für die Kommunikation mit Gott; nur durch das Vorhandensein von Wörtern hätte Adam das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, verstehen können. Zur Deutung vgl. Heyder, Auctoritas scripturae, 631-634. 124

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hergestellt, so dass eine bestimmte Gruppe von Gegenständen fortan mit einem bestimmten Lautgebilde bezeichnet wurde.128 Man könnte diese erste, als naturaliter bezeichnete Einsetzung als einen semantischen Gründungsakt charakterisieren, insofern dieser die Beziehung zwischen dem Wort als Zeichen, und dem, was es bezeichnet, herstellt.129 Im modernen Sinne ließe sich die impositio prima als die Einrichtung der Objektsprache deuten: Wörter bezeichnen Dinge. (2) Die „impositio secunda“130 besteht in einer grammatikalischen Präzisierung und Klassifizierung der ersten, ursprünglichen Einsetzung. Fortan wird innerhalb der voces zwischen verschiedenen Wortarten (Nomina, Verben etc.) unterschieden. Zur bereits vorhandenen Objektsprache tritt also eine weitere Ebene, die Metasprache: Wörter bezeichnen Wörter. Der Akt der impositio ist ein Versuch des Menschen, die Wirklichkeit, die er intelligibel erfasst, auch sprachlich zu strukturieren. Dabei stößt er jedoch an seine Grenzen. Der menschliche Geist ist zwar in der Lage, korrekte Prädikationen vorzunehmen, er kann jedoch nicht alle spezifischen Differenzen eines Gegenstandes erkennen, den er benennt: Die impositio beruht auf einer fragmentarischen Kenntnis der Welt, die jedoch trotz ihrer Beschränktheit ausreicht, um wahre Aussagen treffen zu können.131 Verbindet man die in den Theologiae formulierte These, kein vom Menschen erfundenes Wort könne eine Einsicht über das Wesen Gottes adäquat zur Sprache bringen, mit den Überlegungen zur impositio, wie sie sich in den logischen Schriften finden, so ergibt sich folgendes Bild: Der Mensch ist nicht in der Lage, das Wesen Gottes zu ‚bezeichnen’. Die Grenzen, an die der denkende Mensch (so die Dialectica) bereits bei der geistigen Erfassung der kreatürlichen Welt stößt, potenziert sich mit Blick auf den Schöpfer: „Was verwundert es daher, wenn Gott, weil er alles unaussprechlich übersteigt, jede Rede [sermo], die sich menschlicher Einsetzung verdankt, überragt? Und weil sich seine Vorzüglichkeit bei weitem über jede Einsicht [intellectus] erhebt, die Worte

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Vgl. Shimizu, From Vocalism to Nominalism, 15-46. Vgl. Sup. Praed. (Ed. Geyer 112, 11-14): „Est namque duplex vocum impositio, una quidem quae prima est naturaliter, quando scilicet ad significationem rerum voces institutae fuerunt, ut videlicet haec rerum vocaretur homo, illa equus.” Vgl. auch Dialect. 5,1 (Ed. De Rijk 576, 34-37). 130 Sup. Praed. (Ed. Geyer 112, 14-17): „Est autem alia impositio secunda, quando videlicet voces iam in rerum designationem inventae aliis iterum nominibus sunt appellatae, veluti cum hae nomina, illae verba vocatae sunt.” 131 Vgl. Dialect. 5,2 (Ed. De Rijk 595, 25-28): „Licet autem impositor non distincte omnes intellexerit hominis differentias, secundum omnes tamen quecumque essent, tamquam ipsas confuse conciperet, vocabulum accipi voluit.“

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[voces] aber um der Einsichten willen eingesetzt wurden, was verwundert es, wenn er die Wirkungen übersteigt, da er auch die Ursachen übersteigt?“132

Grundsätzlich gilt also: Es kann nicht angemessen von Gott gesprochen werden. Das Verfahren der impositio, durch das der Mensch sich die intelligibel erfasste Welt auch sprachlich ordnet und sie – gemäß ihrer zumindest partiell einsehbaren ontologischen Beschaffenheit – semantisch strukturiert, ist nicht auf Gott anwendbar. An dieser Stelle kommt wiederum die similitudo-Methode zum Tragen. Wenn auch keine durch Imposition ermöglichten prädikatorischen Aussagen im strengen Sinne getroffen werden können, so ist es dennoch möglich, in Form von Ähnlichkeiten über Gott zu sprechen, weil diese ein bleibendes Moment der Differenz (nämlich die Unähnlichkeit) in sich tragen, und damit jener grundsätzlich defizitäre Charakter der Gottesrede zum Ausdruck kommt, der bei einer Prädikation im strengen Sinne verdeckt würde.

1.6. Similitudo und illuminatio: Zwei konkurrierende epistemische Modelle? Im vorangegangen Teil dieser Arbeit wurde die These formuliert, dass Abaelard speziell für den Bereich der Gotteserkenntnis eine Modifikation der augustinischen Illuminationslehre vorgelegt hat. Die Analysen zur similitudoMethode könnten die Annahme einer Theorie der Illumination jedoch in Bedrängnis bringen, da durch den Ähnlichkeitsschluss – innerhalb der skizzierten Grenzen – Aussagen über Gott gewonnen werden, deren Zustandekommen ohne Rekurs auf eine von Gott initiierte Erleuchtung der menschlichen Vernunft erklärbar scheint. Aus systematischer Perspektive ist es also notwendig, das Verhältnis zwischen der similitudo-Methode auf der einen und der Rolle des magister interior auf der anderen Seite zu klären. Handelt es sich um zwei konkurrierende gnoseologische Modelle, die sich gegenseitig ausschließen? Diese Frage wurde in der Sekundärliteratur bisher noch nicht diskutiert. Dies liegt darin begründet, dass die Rezeption und Adaptation der Illuminationslehre innerhalb der theologischen Epistemologie Abaelards nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wurden, so dass sich das hier aufzuwerfende Problem gar nicht erst gestellt hat. Abaelard geht in der zweiten und dritten Redaktion seiner Theologia Christiana (CT), die bereits Vorstufen der Theologia Scholarium sind,133 auf die 132

Th. Sum. 2,73 (Ed. Buytaert/Mews 139, 661-665), Th. Chr. 3,128 (Ed. Buytaert 243, 15381542), Th. Sch. 2,87 (Ed. Buytaert/Mews 450, 1305-1309): „Quid itaque mirum si, cum omnia ineffabiliter transcendat deus, omnem institutionis humane sermonem excedat? Et cum eius excellentia omnem longe exsuperet intellectum, propter intellectus autem uoces institute sint, quid mirum si effectus transcendit qui transcendit et causas?“ 133 Vgl. Buytaert, Petri Abaelardi Theologia Christiana – Introduction, 32f.

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genannte Fragestellung ein. Er gibt die Ausführungen des Paulus aus Rom 1,1920 in einer veränderten Fassung wieder: „Quod notum est Dei, manifestum est in illis“. Die Einfügung des in, die sich neben den genannten Redaktionen der Theologia Christiana (C und T) nur im Kommentar zum Römerbrief findet,134 bezieht Abaelard auf die Gotteserkenntnis der Philosophen. Das von Gott Bekannte sei „nicht nur ‚ihnen’ bekannt, sondern wahrhaft ‚in ihnen’, das heißt durch sie und ihre Schriften auch anderen“135. Durch die Ergänzung des in wird nicht nur die Möglichkeit einer jenseits der biblischen Offenbarung liegenden, auf den Prinzipien der Vernunft beruhenden Gotteserkenntnis bejaht; die Philosophen werden sogar zu einem eigenen Subjekt der Verkündigung stilisiert. Durch ihre Schriften verbreiten sie die Erkenntnis Gottes auch unter den Lesern. Dies ist jedoch nicht als eine ‚natürliche Gotteserkenntnis‘ im strengen Sinne, also unter reiner Anwendung der Vernunft und unter Ausschluss jedes revelatorischen Momentes, zu verstehen. Abaelard bringt stattdessen das bereits mit dem Interpretationsbegriff der ‚vermittelten’ Erkenntnis charakterisierte Konzept ins Spiel. Hier liegt der Schnittpunkt zwischen der Illuminationslehre und der similitudo-Methodik. „‚Gott hat es ihnen nämlich offenbart’ (Rom 1,19), indem er ihre Vernunft erleuchtet [eorum illuminando rationem], damit sie durch die Ähnlichkeit [ex similitudine] der körperlichen oder sichtbaren Dinge zur unkörperlichen und unsichtbaren Natur der 136 Gottheit betrachtend aufsteigen.“

In diesem Zitat stehen die Illuminationstheorie und die similitudo-Methode in einem unmittelbaren Wirkzusammenhang. Nur weil Gott als innerer Lehrer den Intellekt erleuchtet, ist der Mensch in der Lage, aufgrund des Ähnlichkeitsschlusses von den materiellen Gegenständen zu einer ‚vermittelten’ Einsicht in die Wesenszüge Gottes zu gelangen. Die Illumination der Seele ist für Abaelard somit die epistemische Voraussetzung dafür, dass der Mensch zu einer rechten Anwendung des similitudo-Instrumentariums gelangt und damit – durchaus im platonischen Sinne – einen erkenntnisgeleiteten Aufstieg von der sinnlichen Welt zur Sphäre des Intelligiblen, an deren Spitze Gott steht, vollbringen kann. Erkenntnis durch Erleuchtung und Erkenntnis durch Ähnlichkeit sind also keine konkurrierenden gnoseologischen Modelle, weil sie nicht unterschiedliche

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Vgl. Fidora, Die Verse des Römerbrief, 81. Fidora erklärt die Einfügung des ‚in’ „mit einem Wechsel von Abaelards Bibelvorlage.“ 135 Th. Chr. 4,85 CT (Ed. Buytaert 305, 1256-1260): „’Quod notum est Dei, manifestum est in illis’ (Rom 1,19), hoc est non solum illis, uerum etiam in illis, hoc est per illos et eorum scripta aliis.“ 136 Th. Chr. 4,85 CT (Ed. Buytaert 305, 1260-1266): „’Deus enim illis reuelauit’ (Rom 1,19), eorum scilicet illuminando rationem, ut ex similitudine corporalium seu uisibilium rerum ad incorpoream atque inuisibilem diuinitatis naturam contemplandam assurgerent.“

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Antworten auf dieselbe Frage geben, sondern unterschiedliche Antworten auf unterschiedliche Fragen formulieren: (1) In den speziell theologischen Adaptationen der Illuminationstheorie geht es Abaelard um die Klärung des folgenden Sachverhaltes: Woher kommt die Erkenntnis über Gott? Es handelt sich dabei um die Suche nach dem epistemischen Grund der Gotteserkenntnis. (2) Die similitudo-Methode versucht hingegen die Frage zu beantworten: Wie oder auf welche Weise kommt Gotteserkenntnis zustande? Hier geht es nicht um den Grund, sondern um die Methode. Erleuchtung und Ähnlichkeit stehen sich also nicht als zwei Paradigmen von nicht miteinander kompatiblen Epistemologien gegenüber; sie sind komplementär aufeinander bezogen, insofern die illuminatio den Erkenntnisgrund, die similitudo hingegen eine Erkenntnismethode beschreibt. Die analysierte Stelle entstammt der Theologia Christiana CT; dies ist der einzige Ort, an dem Abaelard explizit und in konsistenter Weise auf das Zueinander der beiden gnoseologischen Konzepte eingeht. Mews zufolge handelt es sich bei diesen Handschriften um eine redaktionelle Vorstufe der Theologia Scholarium. „The extensive additions made to the text of Theologia Christiana in (CT) compared to R, become quite comprehensible if (CT) is seen as Abelard’s draft copy for a new Theologia. Fortunately observable through two independent copies, the draft records how Abelard marked out the existing material he wished to use again in a new Theologia, as well as how he wrote in many new ideas he would either incorporate or expand. The draft thus gives us a unique insight into the creation of Abelard’s most important work, the Theologia ‘Scholarium’ and enables us to see not only how he worked, but what 137 ideas he wanted to discard and which develop for a major new work.“

Eine weitere Entfaltung dieser Thematik, etwa in der Theologia Scholarium, findet sich jedoch nicht.138 Die Dialectica, die deutlich früher als die Theologia Christiana entstanden ist, gibt aber bereits einen versteckten Hinweis auf die Frage nach dem Zueinander von Woher und Wie der theologischen Erkenntnis, indem sie auf den Lernprozess reflektiert, durch den es jemandem gelingt, sich Kenntnisse aus dem Bereich der Logik zu erwerben: Das Wissen um die apriorischen Gesetze des Denkens gehe auf ein individuelles „ingenium“139 zurück, dass sich einer göttlichen Vermittlung, näherhin einem Akt der gnadenhaften Offenbarung, verdankt.140 Es findet sich keine explizite Nennung der 137

Mews, The development of the Theologia of Peter Abelard, Aufs., 189. Vgl. Mews, Peter Abelard’s (Theologia Christiana) and (Theologia Scholarium) reexamined, 137: „Not all additions or corrections in TChr CT appear in TSch.“ 139 Dialect. 4,1 prol. (Ed. De Rijk 471, 2f.): „Que quidem sola id in excellentia sua privilegium tenet, ut non eam exercitum, sed potius conferat ingenium.“ Vgl. Seit, At vero perpauci, 229-254. 140 Vgl. Dialect. 4,1 prol. (Ed. De Rijk 470, 27f.): „At vero perpauci sunt quibus huius scientie secretum, immo sapientie thesaurum, divina revelare gratia dignetur“.

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Illuminationslehre; dennoch wird deutlich: Auch die ohne Rekurs auf eine perpetuale, von Gott ausgehende Erleuchtung zu denkende Anwendung der dialektischen Methode ist ihrer Wurzel, dem ingenium nach, in Gott verankert. Die Illuminationslehre stellt in der Fassung, in der Augustinus sie entwickelt und Abaelard sie rezipiert, eine christlich geprägte Umformung der platonischen Anamnesis-Lehre sowie des Konzeptes der Idee des Guten dar. Die menschlichen Seelen werden bei Platon als präexistente gedacht, die vor ihrer Einkörperung den Ideenkosmos schauen und sich später, in der materiellen Welt, implizitathematisch an ihn erinnern.141 Auf diese Weise kann der Mensch einen epistemischen Aufstieg vollziehen und von der bloß oberflächlichen Wahrnehmung zum Wesen der Dinge vorstoßen. Für Platon stellt die Idee des Guten den Erkenntnisgrund für die Schau der einzelnen Ideen dar – so das Höhlen-142 und Sonnengleichnis143 der Politeia. In der Umformung Abaelards nehmen der Heilige Geist oder Christus die Rolle des epistemischen Prinzips ein; sie treten an die Stelle der idea idearum. Da die platonische These einer Präexistenz der Seele aus christlicher Perspektive zu dogmatischen Schwierigkeiten führt – wie die Origenischen Streitigkeiten gezeigt haben – wird die Erleuchtung von einem vorgeburtlichen Stadium in eine perpetuale, fast habituelle Aktualisierung umgeformt. Diese, einer platonisch-augustinischen Tradition entspringende Erkenntnislehre, verbindet Abaelard mit dem eher aristotelisch-boethianisch geprägten Konzept des Ähnlichkeitsschlusses. Der geistige Aufstieg zum höchsten Prinzip, von dem Platon spricht, wird nun mit der similitudo in Verbindung gebracht: Gott erleuchte die ratio der Menschen, „ut ex similitudine […] ad diuinitatis naturam contemplandam assurgerent“144. Abaelard vollbringt somit – ohne explizit darauf zu reflektieren – eine originelle Syntheseleistung, indem er sich bei der Frage nach dem Grund, dem Woher der Erkenntnis, auf platonischaugustinische Elemente stützt, wohingegen das Problem der Methodik, das Wie der Erkenntnis, mit Mitteln der logica vetus tradiert wird und damit einem aristotelisch-boethianischen Denkrahmen entnommen ist. Abaelard entkommt hierdurch – anders als Lang behauptet – einem „latenten Rationalismus“145. Vor diesem Hintergrund ist auch die allgemein gehaltene These Jolivets, die similitudines seien „corrélatives d’une méthode et d’une philosophie d’inspiration augustinienne indépendantes de la dialectique“146 dahingehend zu präzisieren, dass illuminatio und similitudo im Verhältnis einer funktionalen Komplementarität, keiner antithetischen Rivalität, zueinander stehen: Beide gehen Hand in Hand 141

Vgl. Platon, Menon 81c 5 – 81d 5: „Denn das Suchen und das Lernen ist gänzlich Erinnerung.“ (81d 4f.). 142 Vgl. die Deutung der Sonne bei Platon, Politeia VII 517b 6 – 517c 5. 143 Vgl. die Ausdeutung bei Platon, Politeia VI 508e 1 – 509b 10. 144 Vgl. Th. Chr. 4,85 CT (Ed. Buytaert 305, 1260-1266). 145 Lang, Die Entfaltung des apologetischen Problems in der Scholastik, 36. 146 Jolivet, Arts du langage, 264.

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und sind Bausteine einer kohärenten theologischen Erkenntnislehre, die sowohl eine Antwort auf die Frage nach dem Woher (Illumination) als auch nach dem Wie (Ähnlichkeit) geben muss. Weingart versteht dies als „a synthesis of Platonic exaltation of the soul and Aristotelian empiricism.“147 Ist die hier vorgetragene, sich vor allem auf die Theologia Christiana CT stützende Deutung, die eine Unterscheidung zwischen Grund und Methode der Erkenntnis trifft und dadurch die aristotelisch-boethianischen Momente in der theologischen Erkenntnislehre Abaelards mit den platonisch-augustinischen verbinden kann, aus einem zu sehr neuzeitlich-systematisierenden Blickwinkel heraus getroffen worden? Um diesem Einwand zu begegnen soll ein – lediglich Parallelen aufzeigender – Blick auf die Epistemologie Bonaventuras geworfen werden. Wie schon bei den Ausführungen zu Kant gilt es auch hier zu betonen, dass es nicht um die Feststellung genetischer Abhängigkeiten oder gedanklicher Sukzessionslinien geht, sondern lediglich um die Offenlegung ähnlicher Argumentationsmuster. Dadurch wird ersichtlich, dass die Distinktion zwischen dem Grund und der Methode eines Erkenntnisvorgangs keine übersystematisierende, von Außen herangetragene Unterscheidung ist. Bonaventura benennt explizit, etwa ein Jahrhundert nach Abaelard, was dieser bereits angedeutet hatte. In den Quaestiones disputatae de scientia Christi geht es Bonaventura um eine Rezeption der augustinischen Illuminationslehre, wobei er „die aristotelischen Argumente im Grunde nicht verwirft, sondern in seine Erkenntnistheorie zu integrieren sucht“148. Hierzu werden zwei Erkenntnisordnungen, eine ratio aeterna und eine ratio creata, unterschieden. Diese sind jedoch nicht in den neuscholastischen Kategorien von natürlicher und übernatürlicher Ordnung zu interpretieren, da Bonaventura davon ausgeht, dass beide rationes bei jedem intelligiblen Akt des Menschen zusammen wirken müssen,149 so dass Guardini zurecht von einem „Hineinragen des Absoluten in jeden Erkenntnisvorgang“150 spricht. Was jedoch bezeichnen die genannten rationes präzise? Durch Augustinuszitate wird deutlich, dass die ratio aeterna mit der Illuminationslehre in Verbindung gebracht wird: Das ewige, ungeschaffene Licht

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Weingart, The Logic of Divine Love, 39. Speer, Quaestiones disputatae de scientia Christi – Einleitung, XXXV. Zur Aristotelesrezeption Bonaventuras und dem Problem, ob oder ab wann sich antiaristotelische Momente in seinem Denken finden vgl. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, 121-131. 140-144. 148. 149 Vgl. Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi, q. 4 concl. (Ed. Operum V, 23b): „Et ideo est tertius modus intelligendi, quasi medium tenens inter utramque viam, scilicet quod ad certitudinalem cognitionem necessario requiritur ratio aeterna ut regulans et ratio motiva, non quidem ut sola et in sua omnimoda claritate, sed cum ratione creata, et ut ex parte a nobis contuita secundum statum viae.” 150 Guardini, Systembildende Elemente in der Theologie Bonaventuras, 6.

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erleuchtet den Intellekt des Menschen, „es gibt ihm Unfehlbarkeit“151 (infallibilitas), weshalb dieser über die reine Sinneswahrnehmung hinaus in die Sphäre des Intelligiblen vorstoßen und die Washeit der Gegenstände erkennen kann.152 Schließt diese Illuminationsthese nicht den aristotelischen Gedanken einer Abstraktion der species intelligibilis aus, die durch ein tätiges Prinzip (den intellectus agens) vorgenommen, und einem erleidenden Prinzip (dem intellectus possibilis) vorgestellt werden?153 Bonaventura ist sich des Problems bewusst und artikuliert es in den obiectiones zur vierten Quaestion: „Diese beiden [sc. der tätige und der mögliche Intellekt] genügen zur vollständigen Erkenntnis. Also bedarf es keines Beistandes einer ewigen Ordnung.“154 Die Aussage benennt dieselbe Schwierigkeit, die sich auch bei einer Untersuchung der theologischen Erkenntnislehre Abaelards stellt: Kann die Annahme eines inneren Lehrers mit dem Ähnlichkeitsschluss, der cognitio qua similitudine, in Einklang gebracht werden oder ist schlicht von einer Inkonsistenz innerhalb des Denkens Abaelards auszugehen? Die in der Theologia Christiana CT skizzierte Lösung, derzufolge zwischen der Illumination als Erkenntnisgrund und dem Ähnlichkeitsschluss als Erkenntnismethode zu unterscheiden sei (Gott erleuchtet die Vernunft, damit sie durch Ähnlichkeiten erkennen kann)155, weist deutliche Parallelen zum Ansatz Bonaventuras auf, der folgende These vertritt: „Wie die intrinsischen Prinzipien des Seienden nicht ohne jenes äußere, erste Prinzip, das Gott ist, zum Sein genügen, so genügen sie auch nicht zum vollen Erkennen. Daher ist es möglich, dass jene [sc. intrinsischen] Prinzipien auf irgendeine Weise eine Erkenntnisordnung bilden, ohne dass sie deshalb die erste [sc. äußere] Erkenntnisordnung 156 von unserer Erkenntnis ausschließen.“

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Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi, q. 4 concl. (Ed. Operum V, 23b): „Necesse est, quod in huiusmodi cognitione recurratur ad artem supernam ut ad lucem et veritatem: lucem, inquam dantem infallibilitatem scienti, et veritatem dantem immutabilitatem scibili.“ 152 Zu den weiterführenden Konsequenzen vgl. Speer, Triplex Veritas, 74-82. 153 Vgl. Aristoteles, De anima III 5, 430a 10-25. Bonaventura bezieht sich wohl auf die genannte Stelle aus De anima. Abaelard hatte jedoch zu dieser Schrift noch keinen Zugang und bezog sein Wissen über die aristotelische Erkenntnislehre aus den kanonischen Texten der logica vetus. Vgl. Ebbesen, Ancient Scholastic Logic, 105f. 154 Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi, q. 4 opp. 8 (Ed. Operum V, 21b): „Sed haec sufficiunt ad perfectam cognitionem: ergo non est opus adminiculo rationis aeternae.“ 155 Vgl. Th. Chr. 4,85 CT (Ed. Buytaert 305, 1260-1266). 156 Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi, q. 4 ad 14 (Ed. Operum V, 25b): „Sicut principia essendi intrinseca non sufficiunt sine illo primo principio extra, quod est Deus, ad esse, sic nec ad plenum cognoscere. Unde licet illa principia sint aliquo modo ratio cognoscendi, non propter hoc excludunt illam rationem cognoscendi primam a nostra cognitione”.

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Bonaventura verbindet hier ein immanentes Moment der Erkenntnis – das in Bezug auf Abaelard als similitudo-Methode bezeichnet wurde – mit einem transzendenten, von Außen zur intelligiblen Tätigkeit des menschlichen Geistes hinzutretenden Prinzip, das Abaelard mit dem magister interior identifiziert. Ähnlichkeitsschluss und Erleuchtung bilden also nicht zwangsläufig zwei konkurrierende gnoseologische Modelle, sondern können auch als komplementäre Theorien, die unterschiedliche Antworten auf unterschiedliche Fragen geben, betrachtet werden: Die Erleuchtung erklärt das Woher, der Ähnlichkeitsschluss das Wie gelungener Gotteserkenntnis.

2. Die translatio als Sprachmodus der Gotteslehre 2.1. Die Subtilität der göttlichen Substanz als Krise der Prädikation Die similitudo wurde bisher von zwei Seiten her, nämlich als methodische und als ontologische Grundlage der theologischen Epistemologie beleuchtet. Nun gilt es, die Frage nach den sprachlogischen Konsequenzen, die der Ähnlichkeitsbegriff birgt, in den Blick zu nehmen. Mit den Worten Abaelards lässt sich dieses Vorhaben folgendermaßen umschreiben: Es geht um die sprachtheoretischen Folgen der Tatsache, dass „jene Natur der Gottheit, weil sie einzigartig ist, auch eine einzigartige Weise der Besprechung [modus loquendi] beansprucht“157. Diese Feststellung ist nicht der Ausdruck einer diffus-apophatischen Haltung; sie lässt sich vielmehr präzise mit den Mitteln der Dialektik begründen:158 Das bereits erwähnte Verfahren der impositio, durch das der Mensch versucht, die von ihm bereits vorgefundene Wirklichkeit sprachlich zu ordnen, indem er bestimmten Dingen oder Sachverhalten einen Laut zuordnet (prima impositio) und diese Laute wiederum nach unterschiedlichen Klassen (Substantive, Verben usw.) differenziert (impositio secunda),159 ist nicht auf Gott anwendbar, weil es auf dem Schema der zehn Kategorien beruht: Jede Prädikation fußt ontologisch auf dem Substanzbegriff, auch wenn das Bezeichnete, das significatum, keine dinghafte Sache, sondern eine „quasi-res“160 ist. Dadurch können kreatürliche Phänomene beschrieben werden, nicht aber das göttliche Wesen. Lässt sich demnach überhaupt nichts über die Seinsweise Gottes sagen? 157

Th. Sum. 2,64 (Ed. Buytaert/Mews 135, 547-549), Th. Chr. 3,116 (Ed. Buytaert 13461348): „Ad quod illud primum respondendum esse arbitror quod mirabile non debet uideri, si illa diuinitatis natura, sicut singularis est, ita singularem modum loquendi habeat.” 158 Zum Begriff des modus loquendi vgl. Pinzani, The Logical Grammar of Peter Abelard, 54. 159 Vgl. Sup. Praed. (Ed. Geyer 112, 11-14) und Dialect. 5,1 (Ed. De Rijk 576, 34-37) sowie die Ausführungen bei Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 181-184. 160 De Rijk, La signification de la proposition, 549.

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Die Unzulänglichkeit der Kategorienlehre mit Blick auf die Erfassung Gottes kann in doppelter Weise begründet werden: Entweder ist Gott gar keine Substanz oder er ist eine Substanz im ganz besonderen, absoluten Sinne. Abaelard entscheidet sich für die letztgenannte Möglichkeit. Gott zeichne sich dadurch aus, dass er (in Anlehnung an Joh 4,24) eine geistige Substanz (substantia spiritualis) sei, die sich in keiner Weise mit dem Materiellen vermische. Aus diesem Grund komme ihr eine ganz besondere Feinheit (subtilitas) zu;161 diese unterscheide sie von anderen unkörperlichen Substanzen und übersteige das Fassungsvermögen des Menschen, dessen Erkenntnisfähigkeit an das Sinnliche gebunden bleibt. Epistemisch gesehen ist Gott also in einem derart gesteigerten Maße als Substanz zu bezeichnen, dass der Mensch – dessen intelligible Erkenntnis ihren Ausgang bei den species sensibilis nimmt – ihn nicht mehr korrekt erfassen kann. Dies gilt nicht nur für die subtile Beschaffenheit des göttlichen Wesens, sondern auch für eine weitere ontische Grundeigenschaft: Klassischerweise wird eine Substanz als dasjenige definiert, das aus sich selbst heraus bestehen kann, während Akzidentien immer nur an einer Substanz vorkommen, nie aber in einem totalen Eigenstand.162 Das Aus-sich-selbst-Sein ist jedoch eine Eigenschaft, so Abaelard in den Glossulae super Porphyrium, die Gott in absolutem Sinne zukommt; er ist die „res per se existens“163 schlechthin. Alle anderen Substanzen verdanken vielmehr – gemäß des platonischen Teilhabegedankens – ihr Sein der ersten, aus sich selbst heraus subsistierenden. Auf die Erkenntnis des Menschen gewendet heißt dies: Gott ist ontologisch gesehen in einem derart eminenten Maße Substanz, dass er jeden Begriff, der der menschlichen Erkenntnis zugrunde liegt, übersteigt und sich damit der sprachlichen Artikulation (zunächst) entzieht. Das epistemische Problem für den Menschen liegt dabei nicht in der NonSubstantialität Gottes begründet, sondern in seiner bis zum Unfasslichen gesteigerten Super-Substantialität. Die von Klitzsch mit Blick auf die Theologia Summi Boni vorgetragene Deutung, „dass selbst der Substanzbegriff, der in Bezug auf Gott noch am ehesten greifen könnte, unangemessen für Gott sei“164, ist also nicht im Sinne einer Ablehnung der Substanzkategorie zu verstehen, sondern als Transzendierung derselben. Abaelard stellt eindeutig fest: „diuinitas 161

Vgl. Th. Sum. 2,64 (Ed. Buytaert/Mews 135, 565-570), Th. Chr. 3,116 (Ed. Buytaert 237, 1365-1370): „Diuinitas spiritualis substantia est, non corporalis. At uero sicut in corporibus alia aliis subtiliora sunt, utpote aqua quam terra, et aer quam aqua, et ignis quam aer, ita longe et inexcogitabili modo omnium spirituum naturam ita proprie sinceritatis subtilitate diuinitas transcendit“. 162 Vgl. die Definition bei Boethius, De differentiis topicis II (PL 64, 1187 C): „Substantia est quae omnibus accidentibus possit esse subjectum“. 163 Vgl. Gl. sup. Por. (Ed. Geyer 516, 21-24): „Si quis vero diligenter substantiae diffinitionem consideraverit, videbit nihil rectius posse dici substantiam, quam deum, cum ipse sit vero res per se existens, qui nullo alio eget.“ 164 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 150.

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spiritualis substantia est“165. Spiritualis ist dabei eine nähere Qualifikation und zugleich eine Relativierung des Substanzseins Gottes. Es findet sich nämlich – isoliert betrachtet – die Aussage, Gott sei keine Substanz;166 diese ist in einen Konditionalsatz eingebunden, in dem ein falsches Verständnis des auf Gott angewandten Kategorienbegriffs zum Ausdruck kommt. Die Substantialität Gottes kann nicht als komplementär zu möglichen Akzidentien gedacht werden. Gott hat keine akzidentellen Eigenschaften, sondern ist mit seinen Attributen wesensidentisch. Insofern ist er weder eine gewöhnliche, noch gar keine, sondern eine besondere Substanz. In der Theologia Scholarium wird in diesem Zusammenhang Augustinus zitiert, der in De Trinitate V die Anwendung der Kategorienlehre auf Gott diskutiert und trotz einiger Reserviertheit und seiner eigenen Vorliebe für den Essenzbegriff feststellt: „Er ist trotzdem ohne Zweifel eine Substanz“167. Die Präferenz Augustins zugunsten der Bezeichnung essentia greift Abaelard nicht auf. Da Klitzsch die Position Abaelards jedoch eher in Richtung der NonSubstantialität Gottes deutet, diagnostiziert er eine Spannung zwischen den ersten beiden Fassungen der Theologia auf der einen, und den Glossulae super Porphyrium auf der anderen Seite;168 vor dem Hintergrund der hier vertretenen Interpretation besteht diese nicht. Der ontische Charakter Gottes als einmalige und unvergleichbare Substanz führt auf der Ebene der Aussagenlogik zu einer Krise der Prädikation, sofern darunter die „Verknüpfung von Subjekt- und Prädikatterm durch die Kopula“169 verstanden wird. Normalerweise werden bestimmte Eigenschaften auf einen Gegenstand hin ausgesagt, die diesem entweder substantiell, also wesenhaft und notwendig, oder akzidentiell, somit veränderbar und kontingent, zukommen. „Was aber verwundert es, wenn Gott, der alles in unaussprechlicher Weise übersteigt, auch jede von Menschen eingesetzte Rede [sermo] überschreitet?“170 Anders gesagt: Die vom Menschen eingesetzten sermones sind Träger einer Bedeutung,171 die auf eine res innerhalb der Wirklichkeit verweist; jede korrekte Redeweise besitzt ontologisch gesehen ein ihr Zugrundeliegendes und ist deshalb 165

Th. Sum. 2,64 (Ed. Buytaert/Mews 135, 565f.), Th. Chr. 3,116 (Ed. Buytaert 237, 1365). Vgl. Th. Sum. 2,68 (Ed. Buytaert/Mews 137, 616-618), Th. Chr. 3,122 (Ed. Buytaert 240, 1448-1450), Th. Sch. 2,80 (Ed. Buytaert/Mews 447, 1223-1226): „Nec rursus substantia est, si usitatam nominis substantie appellationem sequamur, cum uidelicet accidentibus subiectus esse non possit.“ 167 Augustinus, De Trinitate V 2,3 (Ed. Mountain 207, 47f.): „Est tamen sine dubitatione substantia uel si melius hoc appellatur essentia, quam graeci ousian uocant.” 168 Vgl. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 150, Anm. 5. 169 Jacobi, Diskussionen über Prädikationstheorie, 166. 170 Th. Sum. 2,73 (Ed. Buytaert/Mews 139, 661f.), Th. Chr. 3,128 (Ed. Buytaert 243, 15381540), Th. Sch. 2,87 (Ed. Buytaert/Mews 450, 1305f.): „Quid itaque mirum si, cum omnia ineffabiliter transcendat deus, omnem institutionis humane sermonem excedat?“ 171 Vgl. Gombocz, Abaelards Bedeutungslehre, 158f.

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auf den Substanzbegriff als potentiellen Träger von Eigenschaften angewiesen. Gott entzieht sich diesem Schema jedoch durch die für den Menschen nicht mehr erfassbare Feinheit (subtilitas) seiner Substanz. Aus diesem Grund ist alles, was über Gott ausgesagt wird, in „Übertragungen [translationes] und gleichnisartige Rätsel eingehüllt“172. Auf den Begriff der Hüllrede (involucrum) ist an anderer Stelle zurückzukehren. Zunächst soll die translatio als Methode im Schnittpunkt zwischen Theologie und Logik betrachtet werden.

2.2. Modi und Ebenen der Übertragung Unter einer translatio ist – allgemein gesprochen – eine übertragene, uneigentliche Redeweise zu verstehen.173 Diese Rahmendefinition verbleibt jedoch nicht im Diffusen, sondern wird von Abaelard innerhalb seiner logischen Schriften präzise ausgearbeitet und differenziert. Dabei ergeben sich Parallelen zu dem von Aristoteles entwickelten Begriff der Metapher: Diese bezeichnet für den Stagiriten eine übertragene Redeweise – Abaelard würde von tranlsatio sprechen – die auf einer Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Gegenständen – im Sprachduktus Abaelards: auf einer similitudo – gegründet ist.174 Allerdings hatte Abaelard weder Zugang zur Rhetorik noch zur Poetik des Aristoteles. Er konnte sich – was sprachtheoretische Überlegungen angeht – lediglich auf die Kategorienschrift und die auf Boethius zurückgehende Übersetzung von De interpretatione beziehen. Es ist jedoch möglich, dass Abaelard über eine mittelbare Kenntnis der aristotelischen Theorie der Metapher verfügte, die er aus Ciceros Schrift De inventione bezog. Die von Rosier-Catach vorgetragene Behauptung, die translatio käme in der Dialectica noch nicht vor, sondern werde von Abaelard erst später entwickelt,175 ist auf der terminologischen Ebene zutreffend. Materialter erscheint jedoch sowohl die inhaltliche Problematik, der die translatio entstammt, als auch der Lösungsweg, den sie weist, bereits in der Dialectica angelegt – was sich auch aus den Untersuchungen Rosier-Catachs selbst ergibt. Abaelard stellt, wie bereits skizziert, das Verhältnis zwischen beschreibender Sprache und beschriebener Wirklichkeit durch den Akt der impositio prima her: Der Mensch verfügt, 172

Th. Sum. 2,78 (Ed. Buytaert/Mews 141, 706-708), Th. Chr. 3,134 (Ed. Buytaert 245, 16341637), Th. Sch. 2,91 (Ed. Buytaert/Mews 452, 1364-1367): „Vnde in deo nullum propriam inuentionem uocabulum seruare uidetur, sed omnia que de eo dicuntur, translationibus et parabolicis enigmatibus inuoluta sunt“. 173 Vgl. Pinzani, The Logical Grammar of Peter Abelard, 171-174. 174 Vgl. Aristoteles, De arte poetica XXI 1457 b 7. Zur Erläuterung vgl. Coenen, Analogie und Metapher, 108f. 175 Rosier-Catach, La notion de translatio, 125f: La „notion de translatio, notion absente de la Dialectica, est introduite dans ses Théologies et dans la Logica Ingredientibus”.

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welcher Laut welchem Gegenstand zugeordnet wird.176 Dadurch definiert er den regulären usus, also die Verwendungsweise eines Wortes oder eines Redeinhaltes, durch den eine überindividuelle Kommunikation entsteht. Der usus besitzt einen normativen Charakter, weil er verbindlich festlegt, in welcher Weise ein Terminus zu gebrauchen ist und damit als gültig angesehen werden kann. Abweichungen sind entweder illegitim und damit ungültig, oder aber sie stellen eine „figurative atque improprie“177 vorgetragene Redeweise dar. Eine prädikative Aussage wird von Abaelard als „figurativ und uneigentlich“ bezeichnet, wenn sich „ihr Sinn nicht aus der Bedeutung der einzelnen Teile“178, aus denen sie zusammengesetzt ist, ergibt. Ein Hörer kann also die einzelnen, noch nicht kontextuell verwobenen Teile eines Terms begreifen, ohne dadurch den Zusammenhang zu erfassen, in dem sie stehen, weil auf das Ganze hin betrachtet, eine Übertragung – eine translatio, wie Abaelard später sagen wird – stattgefunden hat. Die Dialectica bereitet dieser sprachlogischen Methodik, die in Bezug auf Gott zur Anwendung kommt, bereits den Boden, indem sie die Bedingungen der translatio benennt: Sie ist geprägt „durch einen Verstoß gegen das Prinzip der Kompositionalität“179, also jene Regel, durch die es dem Hörer ermöglicht wird, einen Satz im Ganzen durch das Erfassen seiner Einzelteile zu verstehen. Seiner empirisch-syntaktischen Struktur nach bleibt der Satz ein aus Gliedern Zusammengesetztes, seinem intelligiblen Sinngehalt nach übersteigt er jedoch diese vorgegebene Struktur. Welchen Ertrag bieten diese Überlegungen für die theologische Erkenntnislehre Abaelards? Überträgt man das Modell der Dialectica auf die in der Theologia Summi Boni eingeführte Behauptung, dass die Begriffe potentia, sapientia und bonus affectus, sofern sie auf die Trinität angewendet werden, „von ihren gewöhnlichen Bedeutungen übertragen [translata]“180 werden, so lässt sich dies sprachlogisch präzise erklären: Selbst wenn jemand alle Einzelglieder der Aussage ‚Der Vater ist mächtig’ versteht, also weiß, was ein Vater ist, was ‚mächtig’ bedeutet und wie ‚sein’ als Kopula verwendet wird,181 so hat er damit noch nicht die significatio der vorliegenden

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Vgl. Sup. Praed. (Ed. Geyer 112, 11-14) und Dialect. 5,1 (Ed. De Rijk 576, 34-37). Dialect. 1,2 (Ed. De Rijk 63, 14). 178 Dialect. 5,2 (Ed. De Rijk 586, 19-21): „Ideoque figurative atque impoprie tota simul diffinitio accipitur, cum non constituitur sensus eius secundum partium singularum significationem.” Vgl. auch Dialect. 3,3 (Ed. De Rijk 136, 25f.). 179 Rosier-Catach, La notion de translatio, 128: „En d’autres termes, est impropre ou figuré toute infraction au principe de compositionalité, infraction qui concerne l’interprétation, donc l’auditeur et la manière dont il se forme une intellection en entendant une phrase.” 180 Th. Sum. 1,5 (Ed. Buytaert/Mews 88, 52-54), Th. Chr. 1,7 (Ed. Buytaert 74, 90-92): „Causas autem horum nominum in sequentibus assignabimus, quare uidelicet hec nomina ad hec distinguenda in deo translata sint a consuetis significationibus suis.“ 181 Vgl. Rosier-Catach, Abélard et les grammairiens, 187-189. 177

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Gesamtaussage verstanden, da sich diese – aufgrund ihres uneigentlichen Gebrauches – verschoben hat. Die in der Dialectica formulierte Möglichkeit einer prädikativen improprietas wird in der Logica Ingredientibus und der Theologia Summi Boni systematisch entfaltet und zum Konzept der translatio erweitert. Im Folgenden wird – was die relative Chronologie der Schriften Abaelards anbelangt – mit Mews und Marenbon davon ausgegangen, dass die Logica Ingredientibus kurz vor oder fast zeitgleich mit der ersten Fassung der Theologia anzusiedeln ist.182 Aus diesem Grund kann die in den beiden Schriften vertretene Konzeption der translatio als thematische Einheit untersucht werden, da es keine sukzessiven Entwicklungen Abaelards gibt, die sich zwischen den beiden Werken abgespielt haben und diese voneinander trennen. Zugespitzt auf die theologische Erkenntnislehre sind zwei Leitfragen zu klären: (1) Warum kommt die translatio bei der Rede von Gott zum Einsatz und welche modi translationis gibt es? (2) Welche Ebenen der translatio lassen sich unterscheiden? Abaelard zufolge kann eine übertragene Redeweise legitimerweise in zwei Fällen angewandt werden: Entweder umschreibt die translatio einen Gegenstand, der durch kein ‚eigentliches’, ihm durch eine impositio zukommendes Wort bezeichnet werden kann („propter necessitatem significandae rei“), oder sie wird als ein stilistisches Mittel verwendet, um einen Sachverhalt vornehm und nicht vulgär zur Sprache zu bringen („secundum ornatum“183). Mit Blick auf die Gottesrede liegen beide Fälle vor. Die Pietät gebietet es bisweilen, bestimmte Aussagen nicht wörtlich, sondern übertragen, und damit improprie in einem positiven Sinne, zu verstehen. Abaelard nennt das Ubiquitätsprädikat als Beispiel: Trotz des wahren Gehaltes der Aussage ‚Gott ist überall’ erscheine es als unangebracht, dies dahingehend zu präzisieren, dass Gott auch in der Latrine wohne, denn „es ziemt sich, dass nicht alle Dinge, die wahr sind, ausgesprochen werden […], wenn die Worte den Anschein haben, seiner [sc. Gottes] unaussprechlichen Würde in irgend184 einer Weise etwas abzusprechen“ . 182

Während es Mews, On Dating the Works, 130f., auch für möglich hält, dass die Logica Ingredientibus im Jahr 1121 und damit kurz nach der auf 1120 datierten Theologia Summi Boni entstanden ist, scheinen die von Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 48-50, zusammen getragenen Indizien für einen zeitlichen Vorrang der Logica zu sprechen. 183 Sup. Praed. (Ed. Geyer 121, 3-5): „Duobus namque modis translatio fit aut secundum ornatum aut propter necessitatem significandae rei, cum videlicet ipsa nomen non habet per quod designetur.“ 184 Th. Sum. 3,79 (Ed. Buytaert/Mews 191, 1042f. 1050-1054): „Sed neque omnia que uera sunt dici conuenit […]. Quod si propria uerba tunc commutamus cum ex aliqua offenduntur turpitudine etiam in creaturis, quanto magis id abhorrendum est in deo, cum eius ineffabili dignitati derogare in aliquo uerba uidentur.“

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Neben dieser translatio secundum ornatum ist die Theologie aufgrund der ontologischen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf auf die übertragene Redeweise angewiesen. Die Sprache der Theologie leidet, wie es der Kategorienkommentar der Logica Ingredientibus für den profanen Bereich formuliert, an einer extremen „Knappheit der Namen“ (penuria nominum),185 die auf Gott anwendbar wären, so dass er „nahezu mit den Namen aller Dinge nicht unpassend bezeichnet wird“186 – ein Gedanke, der in der mystischen Tradition im Ausgang von Dionysios Areopagita eine bedeutende Rolle spielt und Abaelard zufolge eine epistemische Grundgegebenheit der Theologie darstellt,187 weil das Verfahren der impositio in Bezug auf Gott keine ausreichende Anwendung finden kann. Die Feststellung, die sacra doctrina sei mit Blick auf Gott, ihren Gegenstand, nur imstande, uneigentliche Aussagen (impropria) zu treffen, wird durch Wilhelm von Saint Thierry als häretisch kiritisiert.188 Für Abaelard ist sie im Wesen Gottes begründet. Dies einzugestehen ist ihm zufolge notwendiger Bestandteil einer methodischen Grundlagenreflexion, in der die Gotteslehre gezwungen wird, auch ihre Grenzen anzuerkennen. Denn „jede Wissenschaft und jede beliebige Erörterung einer Kunst benutzt ihre eigenen Worte, und jede Lehre erfreut sich ihrer eigenen Rede“189. Die sprachliche Eigentümlichkeit der Theologie, ihre propria locutio, besteht in der translatio. Abaelard präzisiert unterschiedliche Ebenen,190 auf denen sich eine übertragene Redeweise manifestiert: (1) Bereits erwähnt wurde die translatio significationis. Dabei ändert ein Nomen seine angestammte Bedeutung, um entweder einen Gegenstand zu bezeichnen, zu dessen Beschreibung kein anderes Wort vorhanden ist, oder um eine stilistische Korrektur gegenüber einem unangebrachten Ausdruck vorzunehmen. (2) Eine translatio ist jedoch nicht auf Nomina beschränkt; sie kann sich auch auf ein Verb beziehen. Die entscheidenden Charakteristika des Verbs bestehen in seiner Temporalität und seiner Modalität. Innerhalb des Satzes gibt ein Verb als Prädikat oder Kopula (im Fall von ‚sein’) an, ob sich ein beschriebener Sachver185

Vgl. Sup. Praed. (Ed. Geyer 121, 6). Th. Sum. 3,73 (Ed. Buytaert/Mews 188, 949f.): „[…] et fere rerum omnium nominibus non incongrue designatur, qui uniuersis que condidit aliquam sui reliquit imaginem“. 187 Zur argumentativen Bedeutung der Schriften des Dionysios Areopagita für Abaelard sowie seine Gegner vgl. Carra de Vaux Saint Cyr, Disputatio catholicorum patrum, 211. 188 Vgl. Wilhelm von Saint Thierry, Disputatio adversus Petrum Abaelardum 2 (PL 180, 251B): „Dicit nomina Patris et Filii et Spiritus sancti impropria esse in Deo“. 189 Th. Sum. 2,77 (Ed. Buytaert/Mews 140, 689-692): „Recogita tecum ac diligenter considera quoniam unaqueque scientia atque cuiuslibet artis tractatus propriis utitur uerbis, et unaqueque doctrina propriis locutionibus gaudet“. In der Th. Chr. 3,133 (Ed. Buytaert 245, 1616f.) finden sich zwei Fassungen dieser Aussage. R ist wortidentisch mit der Th. Sum., wohingegen CT – wie auch später Th. Sch. 2,90 (Ed. Buytaert/Mews 452, 1345) – den Satz mit „certum quippe est“ einleitet. 190 Vgl. Jolivet, Arts du langage, 280.

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halt in der Gegenwart, der Vergangenheit, der Zukunft oder (etwa beim Infinitiv) zu einem unbestimmten Zeitpunkt abspielt.191 Die modale Bestimmtheit des Verbs zeigt an, ob ein beschriebener Sachverhalt wirklich stattgefunden hat (Indikativ) oder ob er sich im Status der Möglichkeit (Konjunktiv) befindet. Beide Aspekte – der temporale wie der modale – greifen jedoch nicht in Bezug auf das Wesen Gottes. Die Zeit ist ein kreatürliches Phänomen, das erst mit der Schöpfung ins Dasein tritt. Eine Aussage wie ‚Gott war früher als die Schöpfung’ ist also im eigentlichen Sinne (proprie) gar nicht möglich, da die zeitliche Indikation des Verbs etwas bezeichnet, das es seiner Extension nach gar nicht bezeichnen kann.192 Jede Formulierung, die einen zeitlichen Bezug aufweist, sei sie zwischen Gott und den Geschöpfen oder als Konstitutionsrelation zwischen den trinitarischen Personen angesiedelt, ist nur aufgrund einer translatio möglich. Gleiches gilt für modale Bestimmungen: Gott vollzieht sein Wesen in jeder Handlung; bei der vollständigen Aktuierung bleibt kein nicht umgesetztes Restpotential, dessen Existenz die Grundlage für den Möglichkeitsmodus, den Konjunktiv, bildet. Diese Überlegung gilt es an anderer Stelle – wenn das Handeln Gottes in den Blick gerät – zu vertiefen. (3) Die translatio findet sich nicht nur bei Nomen und Verb, sondern auch in der Verbindung zwischen beiden sowie in den logischen Schlussfolgerungen, die aus diesem Konnex zu ziehen sind. Abaelard spricht hierbei von einer translatio „in constructione“193 und führt als Beispiel eine innertrinitarische Differenzierung an: Wenn es heißt, „der Vater ist nicht der Sohn“ und „der Sohn ist Gott“, so darf daraus nicht „der Vater ist nicht Gott“ geschlussfolgert werden, da sich die erste Aussage auf die Proprietäten, die zweite hingegen auf die gemeinsame Essenz beziehe. Darüber hinaus wird in der Theologia Christiana eigens betont, dass die Bezeichnungen ‚Vater’ und ‚Sohn’ selbst translative Elemente sind, die „von den Geschöpfen auf Gott übertragen werden“194 und deshalb in jeder constructio, die 191

Zur Rolle des Verbs innerhalb eines Satzgefüges vgl. Priscian, Institutiones grammaticae 17,12 (Ed. Keil 2,116) sowie die Analyse bei Rosier-Catach, Abélard et les grammairiens, 187-189. 192 Vgl. Th. Sum. 2,70 (Ed. Buytaert/Mews 138, 632f. 637-641). Der kritische Apparat gibt versehentlich die falsche Parallelstelle für die Th. Chr. an; richtig lautet sie: Th. Chr. 3,125 (Ed. Buytaert 242, 1510-1520), Th. Sch. 2,84 (Ed. Buytaert/Mews 449, 1278-1287): „Hec quippe dictio temporis designatiua est, quod incepit a mundo. […] Vnde cum dicimus deum priorem esse mundo siue exstitisse ante tempora, quis sensus in his uerbis uerus esse potest de precessione dei ac successione istorum, si hec uerba ad hominum institutionem accipiamus secundum ipsam temporis significationem”? 193 Th. Sum. 3,36 (Ed. Buytaert/Mews 173, 456), Th. Chr. 4,44 (Ed. Buytaert 285, 652). 194 Th. Chr. 4,46 (Ed. Buytaert 285, 672-676): „Quid etiam mirum si uoces, cum a creaturis ad Deum transferuntur, significationem uarient, utpote hoc nomen ‚pater’ uel ‚filius’, constructionis quoque uim commutent, cum illae etiam id faciant quae significationem nullatenus mutare uidentur?”

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von den trinitarischen Personen und ihren Beziehungen handelt (vor allem was den Begriff der Zeugung angeht195), ihre Bedeutung ändern. (4) Jolivet belässt es bei der Aufzählung der genannten drei Arten der translatio.196 Damit ist seine Analyse jedoch unvollständig, da Abaelard auch eine translatio, die „ex adiunctis“ oder „ex appositis“197 vorgenommen wird, kennt. Diese bezeichnet ein Verfahren, bei dem „Worte durch ein Hinzugefügtes von ihrer eigenen Bedeutung zu einer anderen“198 gelangen. Zur Veranschaulichung dient die Wendung deum de deo, lumen de lumine aus dem NicaenoConstantinopolitanum. Diese sei nicht modalistisch zu verstehen, sondern wahre – obwohl beide Male unterschiedslos von deus und lumen die Rede ist – die Unterschiedenheit der Personen durch das de, das eine Abstammungsbeziehung angebe. Die Proprietäten blieben demnach gewahrt. Wie sich diese Erklärung der translatio ex adiunctis allerdings zu einer in der Logica Ingredientibus, genauer gesagt bei den Glossen zu De interpretatione, getroffenen Aussage verhält, wonach eine translatio immer akzidentell sei und nicht die Proprietät einer Sache betreffe,199 bleibt ungeklärt. Auch wenn die skizzierten Differenzierungen sowohl sprachtheoretisch als auch theologisch gesehen eine Eigenleistung Abaelards darstellen, so ist dennoch festzuhalten, dass bereits sein Lehrer Wilhelm von Champeaux auf die theologische Bedeutung der translatio reflektiert hat. Dies betont Mews: „William distinguishes between the way words are used in ordinary language, and what happens when they are transferred to theology.“200 Als Beispiele dienen die Begriffe der Gerechtigkeit (iustitia) und Frömmigkeit oder Milde (pietas), die – je nach dem, ob sie auf einen Menschen oder auf Gott hin ausgesagt werden – zwei unterschiedliche Arten der Prädikation implizieren:201 Der Mensch hat diese Eigenschaften, Gott hingegen ist seine Eigenschaften, das heißt er ist akzidenzfrei und mit sich selbst wesensidentisch. Der nachhaltige Einfluss, den sein Lehrer in dieser Frage auf Abaelard ausgeübt hat, wird auch daran deutlich, dass die Theologia Christiana eines der Beispiele, die Wilhelm in seinen Sentenzen an195

Vgl. Th. Chr. 4,111 (Ed. Buytaert 320, 1770-1776). Den Begriff der Zeugung, der die innertrinitarische Konstituierung des Sohnes umschreibt, deutet Abaelard als translatio, die vom menschlichen Zeugungsvorgang ausgeht. 196 Vgl. Jolivet, Arts du langage, 280. 197 Th. Sum. 3,65 (Ed. Buytaert/Mews 185, 825. 828f.). 198 Th. Sum. 3,62 (Ed. Buytaert/Mews 184, 782f.): „Sepe autem uoces ex adiunctis a propria significatione euocantur ad aliam, sicut alias de translationibus tractantes ostendimus.” 199 Vgl. Sup. Per. (Ed. Geyer 364, 33f.). 200 Mews, Saint Anselm and the Development of Philosophical Theology, 207. 201 Vgl. Wilhelm von Champeaux, Sententiae 236 (Ed. Lottin 191, 42-45): „Cum enim homines pietatem, iustitiam habeant, non autem ipsi pietas, iustitia sint, illos in quibus pietatis, iustitie opus uidemus, pios, iustos predicamus, ita ut hec sumpta uocabula et subiecta eos nominent, et qualitates eis adiacentes significent.”

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führt, nämlich das der göttlichen Gerechtigkeit, explizit erwähnt.202 Der Einfluss von Abaelards Theoriebildung auf die Nachwelt scheint eher gering zu sein. Die drei Arten der translatio, die Alanus de Insulis benennt,203 weisen jedenfalls keine direkte Verwandtschaft mit den Ausführungen der Theologia auf. Da die translatio eine Verschiebung der Bedeutung auf vier Ebenen mit sich bringt, ist sie – sofern sie nicht in methodisch reflektiertem Rahmen zur Anwendung kommt – eine häufige Ursache für Missverständnisse und Fehldeutungen, wenn „nicht ausreichend zwischen der Eigenheit der Benennung eines Namens oder dem übergebührlichen Gebrauch [abusio] einer Übertragung unterschieden“204 wird. Die Aufgabe der Logik, die die Gesetze des Denkens und der Sprache analysiert, besteht deshalb darin, eine translative Wendung zu erkennen und richtig zu deuten. Für Abaelard ist eine translatio nicht illegitim, sondern bisweilen sogar geboten, aber sie bleibt rechtfertigungsbedürftig, da sie in jedem Fall gegen eine Norm, nämlich die des durch eine impositio vereinheitlichten Sprachgebrauchs, verstößt. Ist ein solcher Verstoß nicht gerechtfertigt, liegt eine abusio, ein überdehnter Gebrauch (den die griechische Rhetorik als Katachrese bezeichnet), vor. Für die Theologie ist dies angesichts ihrer ohnehin prekären sprachlichen Lage – sie kann von Gott nicht in eindeutig prädikativer Weise sprechen – besonders problematisch, da es ihr nicht nur um die Feststellung logischer Wertigkeiten geht, sondern um die Unterscheidung zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Kurzum: Es geht ihr nicht nur um „sana intelligentia“, sondern auch um „uerba catholica“205. Es kann also Übertragungen geben, die inhaltlich gesehen etwas Treffendes zum Ausdruck bringen, aber dennoch nicht gerechtfertigt sind. Wer aber entscheidet über legitime und illegitime translationes, oder – aus moderner Perspektive gefragt: Welche Instanz legt in der Kommunikationsgemeinschaft gültige und ungültige Terme fest? Abaelard nennt zwei Kriterien, an denen sich eine translatio messen lassen muss: die kirchliche Autorität und den normalen Gebrauch eines Begriffs.206 Zunächst zu Letzterem: Die impositio ist zwar ein anfänglicher, willkürlicher Akt der Zuordnung von Laut und Gegenstand, der jedoch in der Folge eine bindende Wirkung entfaltet, indem er definiert, was ein korrekter (usus) und was ein falscher Gebrauch (abusio) eines Wortes ist. Die Autoritäten im Bereich der 202

Vgl. Th. Chr. 4,77 (Ed. Buytaert 301, 1113-1115). Vgl. Niederberger, Von der Unmöglichkeit der ‚translatio’, 198. 204 Sup. Por. (Ed. Geyer 30, 23-26): „Unde maxime tractatus tam logicae quam grammaticae ex translationibus nominum ambiguus multos in errorem induxit non bene distinguentes aut proprietatem impositionis nominum aut abusionem translationis.” Vgl. auch Sup. Top. (Ed. Dal Pra 270, 2-4). 205 Th. Sum. 3,33 (Ed. Buytaert/Mews 171, 420f.), Th. Chr. 4,41 (Ed. Buytaert 283, 606f.). 206 Vgl. Th. Sum. 3,36 (Ed. Buytaert/Mews 173, 457f.), Th. Chr. 4,44 (Ed. Buytaert 285, 652654): „Preterea, non oportet figuratiuas et improprias locutiones porrigi ultra hoc quod auctoritas uel usus habet”. 203

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Theologie – allen voran die biblischen Schriftsteller und die Kirchenväter – können jedoch von diesem usus abweichen, wenn er ihnen als nicht geeignet erscheint, um zutreffende Aussagen über Gott zu formulieren. Die Interpretation der Autoritäten unterliegt jedoch eigenen, an der Dialektik und der Rhetorik orientierten Regeln, auf die im Zusammenhang mit Sic et Non einzugehen ist. Hier bleibt mit Blick auf den locus ab auctoritate festzuhalten: Er legitimiert einerseits die Möglichkeit der uneigentlichen Redeweise, indem er maßvoll von ihr Gebrauch macht,207 entzieht andererseits aber auch die Sprache der willkürlichen Verfügung des Einzelnen: „Es gibt kein Recht für irgendjemanden, eine Rede [sermo] in ihrer gewöhnlichen Bedeutung zu verändern“208.

3. Die erkenntnisleitende Funktion der Autorität 3.1. Zur Interpretation der christlichen Quellen: Schrift und Kirchenväter Die Stellungnahme der Autoritäten spielt, wie skizziert, eine bedeutende Rolle bei der Beurteilung, ob eine translatio gerechtfertigt ist oder nicht. Diesen Gedankengang gilt es nun zu vertiefen: Inwiefern kommt der auctoritas eine erkenntnisleitende Funktion zu? Zunächst zum Begriff: Häring benennt fünf verschiedene Bedeutungen von auctoritas: „Im klassischen Latein kann als auctoritas bezeichnet werden 1. die Gültigkeit eines Besitzes, einer Behauptung, einer Verbürgung, auch Muster und Vorbild; 2. Die Förderung eines Entschlusses, einer Handlung, also Mitwirkung, Unterstützung oder Rat; 3. Die geltend gemachte Willensmeinung, daher Ausspruch, Erklärung, Wille oder authentische Ansicht, auch der schriftlich aufgezeichnete Ausspruch und der Wille des Volkes (auctoritas publica); 4. Eine Autorisierung, Vollmacht, Ermächtigung, daher auch Macht, Gewalt, Machtgebot, Befehl, Geheiß; 209 5. Eine angesehene Person.“

Folgende interpretative, nicht von Abaelard selbst formulierte, aber auf seine Gotteslehre anwendbare Arbeitsdefinition liegt dem weiteren Gang der Untersuchung zugrunde: Unter einer Autorität wird ein Autor im Allgemeinen oder ein 207

Vgl. Th. Chr. 4,44 (Ed. Buytaert 285, 667-669). Th. Sum. 3,37 (Ed. Buytaert/Mews 173, 459f. Die Parallelstelle in der Th. Chr. ist dort falsch angegeben), vgl. Th. Chr. 4,45 (Ed. Buytaert 285, 669f.): „Nec fas est cuiquam a consueta significatione sermonem commutare”. 209 Häring, Auctoritas in der sozialen und intellektuellen Struktur, 517.

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einzelnes Werk im Besonderen verstanden, dessen Aussagen nicht nur als beliebige Beiträge innerhalb eines Diskurses gelten; die spezifische Differenz der von einer Autorität vertretenen Thesen liegt darin, dass ihnen noch vor der Prüfung ihrer inhaltlichen Stimmigkeit ein positiver Wahrheitswert zugestanden wird.210 Aus diesem Grund besitzt die Befragung der auctoritas eine wichtige Funktion bei der Gewinnung von Wissen, also von Erkenntnissen bei gleichzeitiger Gewissheit, dass diese auch wahr sind. Will man zutreffende Einsichten über einen Sachverhalt gewinnen, so ist die spontan-kreative Eigenleistung des Subjekts auf die Vorgegebenheit der als gültig erachteten Autorität verwiesen, die es zu interpretieren gilt. Innerhalb des Werkes Abaelards wird dies sowohl in seinem logischen als auch in seinem theologischen Schaffen deutlich. Die Dialektik betrachtet zwar die apriorischen Gesetze des Denkens und der Sprache, tut dies jedoch nicht nur in einer eigentätig räsonierenden Weise, sondern als autoritätsgebundene Wissenschaft;211 es geht der logica vetus, wie Abaelard sie betreibt, um eine konsistente Auslegung der Schriften des Aristoteles, Porphyrios und Boethius sowie um die Anwendung der darin geäußerten Ansichten auf Probleme der zeitgenössischen Semantik und Logik. Auch innerhalb der Gotteslehre ist der Autoritätsbezug evident:212 Er liegt in der Bindung an die Heilige Schrift und die Tradition, allen voran die Kirchenväter, begründet. Für beide Bereiche – die Logik wie die Theologie – lässt sich allgemein sagen: Eine Autorität ist der bereits vorgegebene Ort, von dem her angemessene Sprachregelungen, gültige Argumentationen und wahre Aussagen gewonnen werden können. Dies gilt sowohl für den induktiven als auch für den deduktiven Erkenntnisweg:213 (1) Bei einem induktiven Vorgehen wird eine Problemstellung formuliert, zu der ein autoritativer Text befragt wird, dessen Lösung sich der Forschende zueigen macht, weil er der Autorität eine erkenntnisvermittelnde Rolle zugesteht. Es lässt sich deshalb mit Jolivet sagen, „dass die Stärke eines Autoritätsargumentes aus derjenigen der Autorität selbst erwächst“214. Die von einer auctoritas geäußerte Ansicht ist also kein beliebiger Diskursbeitrag, sondern sie besitzt aus sich heraus 210

Zum Verhältnis von Autorität und Epistemologie vgl. Evans, Exegesis and Authority, 9396. 211 Vgl. Ebbesen, Ancient Scholastic Logic, 105f. 212 Vgl. Th. Chr. 3,1 (Ed. Buytaert 194, 2-6): „Cum omnis controuersiae discussio aut in scripto aut in ratione uersetur et in eisdem terminetur, si huiusmodi est quae findem accipiat, primo nobis necessarium duximus ex scriptis praecellentium sapientum ad nostrae fidei firmamentum auctoritates conferre.“ 213 Die zwei Weisen, einen Text zu deuten, die hier durch die Begriffe induktiv und deduktiv unterschieden werden, könnten auch als Spielarten der von Sweeney, Rewriting the Narrative of Scripture, 3, eingeführten Distinktion zwischen einer Tradierung biblischer Texte in der Form der lectio (induktiv) oder der disputatio (deduktiv) aufgefasst werden. 214 Jolivet, Arts du langage, 246: „Ce lieu est surtout probable (maxime in probabilitate consistit); mais on voit que la force d’un argument d’autorité lui vient de celle de cette autorité elle-même.“

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einen erhöhten Anspruch auf Geltung und eine größere Wahrscheinlichkeit, Zutreffendes auszusagen, als andere, nicht mit der nötigen Autorität versehene Propositionen. (2) Abaelard benennt in der Dialectica auch die Möglichkeit einer deduktiven Auswertung der auctoritates. Dabei wird – zeitlich prioritär – eine eigene Theorie entwickelt, zu deren Abstützung und Bestätigung erst danach die Aussagen eines kanonischen Autors angeführt werden. Eine Autorität wäre demnach der Ort, „durch den wir das bestätigen, was wir aufzeigen wollen“215. Der Autoritätsbezug der Wissenschaft ist für Abaelard von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund ist die von McCabe vorgetragene These „[t]here are two Abélards“216, nämlich der junge, kühne Zerstörer der auctoritas auf der einen, und der alt gewordene, ängstliche Theologe auf der anderen Seite, nicht nur überspitzt formuliert, sondern unhaltbar. Abaelards kritische Analyse der wechselseitigen Beziehungen von auctoritates in Sic et Non ist nur aus der zentralen epistemologischen Bedeutung, die diese Autoritäten in seinem Denken einnehmen, verständlich. Aus diesem Grund bereitet ihm folgende Beobachtung methodische Probleme: Da eine Vielzahl von Autoritäten zu einer Vielzahl von Problemen Stellung nimmt, ist es möglich, dass die befragten auctoritates nicht nur unterschiedliche („ab inuicem diversa“), sondern auch gegensätzliche Antworten geben („etiam inuicem adversa“217). Um den Lösungsansatz Abaelards zu verstehen, muss zunächst die in den beiden zitierten Wendungen komprimierte Diagnose präzisiert werden:218 (1) Der Begriff diversum bezeichnet eine mangelnde Kongruenz zwischen zwei Aussagen. Er tut dies jedoch in einem derart allgemeinen Sinne, dass er nicht notwendigerweise einen Widerspruch zwischen beiden impliziert; es wird nicht näher ausgeführt, worin sich zwei Propositionen unterscheiden. Treffen diese unterschiedliche Aussagen über zwei verschiedene Sachverhalte oder über einen identischen Sachverhalt, aber in unterschiedlicher Hinsicht, so besteht kein kontradiktorisches Verhältnis zwischen beiden. Formalisiert heißt dies: Die Richitigkeit von a impliziert nicht notwendigerweise die Falschheit von b, so wie

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Dialect. 3,2 (Ed. De Rijk 439, 3-5): „Rei autem iudicium sive auctoritas verba auctoris authentica designant per que id confirmamus quod ostendere volumus.“ 216 McCabe, Peter Abélard: „There are two Abélards. The older theologian who is ever watchful to arrest his thoughts when they approach clear, fundamental dogmas, is not the natural development of the freethinking author of the Sic et Non.“ 217 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89, 1-3): „Cum in tanta uerborum multitudine nonnulla etiam sanctorum dicta non solum ab inuicem diuersa uerum etiam inuicem aduersa uideantur, non est temere de eis iudicandum per quos mundus ipse iudicandus est“. 218 Zur Vorgeschichte und exegetischen Bedeutung der Formel vgl. Ghellinck, Le mouvement théologique, 517-523, sowie die ausführlicheren Untersuchungen von Lubac, A propos de la formule, 27-40 und Silvestre, Diversi, sed non adversi, 124-132.

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b nicht den Wahrheitsanspruch von a verneint. Also: a und b sind zugleich denkbar. (2) Adversum hingegen drückt einen Gegensatz aus: Zwei Sätze sind nur dann als invicem adversa zu bezeichnen, wenn sie sich ausschließende Aussagen in derselben Hinsicht über einen identischen Sachverhalt treffen. Beide Propositionen können nicht zugleich wahr sein. Die mangelnde Kongruenz zwischen beiden wird zu einem logischen Problem, weil sie sich ihre Wertigkeit gegenseitig absprechen: Wenn a wahr ist, dann ist b notwendigerweise falsch. Wenn also a, dann nicht b. Umgekehrt gilt: Wenn b, dann nicht a. Also: a oder b. Ein adversatives Verhältnis zwischen zwei Aussagen, die von zwei als gültig anerkannten Autoritäten getroffen werden, ist deshalb problematisch, weil einer auctoritas nach der oben genannten Definition zugestanden wird, wahre Einsichten zu Tage zu bringen. Wie ist damit umzugehen, wenn ein expliziter Widerspruch, eine adversitas, zwischen zwei Autoritäten besteht? Dies ist die Grundfrage des Prologs von Sic et Non, der Jolivet zufolge einen „véritable traité de méthode“219 darstellt. Die von Abaelard entwickelte Strategie lässt sich in drei Aspekte gliedern: Zunächst benennt er die Grundhaltung, mit der sich der Rezipient einem Text annähern soll, um eine Fehldeutung von Seiten des Interpretierenden auszuschließen. Danach gibt er mehrere inhaltliche Richtlinien vor, die dazu dienen, scheinbare Widersprüche zu lösen. Abschließend geht er darauf ein, wie zu verfahren sei, wenn sich das kontradiktorische Moment nicht durch die ersten beiden methodischen Schritte lösen lässt. Die in Sic et Non entwickelten Prinzipien der Texthermeneutik haben in der Sekundärliteratur breite Beachtung gefunden: Aus theologischer Perspektive ist vor allem auf die Studien Jolivets zu verweisen; neuere Untersuchungen wurden von Pranger und Rizek-Pfister vorgelegt.220 Rieger stellt eingehend das Problem der contradictio, des theoretisch-spekulativen und praktisch-hermeneutischen Umgangs mit Widersprüchen in der Theologie des Mittelalters dar.221 Heyder geht in ihrer Studie „Auctoritas scripturae“ in origineller Weise über den Befund von Sic et Non hinaus: Gemäß ihrer Grundthese, dass der ‚Sitz im Leben’ von Abaelards Bibelhermeneutik die Liturgie und das geistliche Leben im von Heloisas Konvent bewohnten Oratorium „Paraklet“ sei, untersucht Heyder die Hymnen Abaelards sowie den Briefwechsel, in dem er als geistlicher Mentor fungiert und Instruktionen über die rechte Art der Schriftlesung gibt. „Das Verständnis der göttlichen Offenbarung, wie sie im Alten und Neuen Testament enthalten ist, stiftet zu den Lobgesängen an, d.h. es begründet erst die Liturgie. Und es 219

Jolivet, Le traitement des autorités contraires, 270. Vgl. Jolivet, Arts du langage, 238-250. Jolivet, Le traitement des autorités contraires, 267280. Pranger, ‚Sic et Non’, 165-193. Rizek-Pfister, Die hermeneutischen Prinzipien, 484501. 221 Vgl. Rieger, Contradictio, z.B. 337f.

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ist ein gestuftes Verständnis: historischer und mystischer Sinn der Schrift finden ihre Vollendung im moralischen Sinn. Diese Sichtweise entspricht exakt Abaelards Ausführungen am Ende von Brief 8, wo er als Bedingung richtigen Tuns das Verständnis der göttlichen Worte genannt hatte, das damit konstitutiv für das ethisch gute Handeln ist. Aus dieser Begründungsfunktion der Schrift für Liturgie und Tun der Nonnen resultiert ein besonderes Interesse am authentischen Text der Schrift und an der Exegese des Alten wie des Neuen Testaments.“222

Im Folgenden soll es nicht um die exegetische Methodik an sich gehen, sondern um das epistemologische Grundproblem, das im Prolog von Sic et Non implizit thematisiert wird: Die ratio bedarf der auctoritas als erkenntnisleitendem Prinzip, die auctoritas wiederum bedarf der ratio, da die Quellen sich nicht selbst auslegen, sondern ihre erkenntnisstiftende Wirkung nur durch eine vernunftgemäße Interpretation entfalten können. In welchem Verhältnis also steht die spontane Vernunftanstrengung des Menschen zur rezeptiven Autoritätsdeutung? Entsprechend der moralphilosophischen Fundierung des Erkenntnisvorgangs setzt Abaelard bei der inneren Haltung des Rezipienten an, der einen Widerspruch zwischen zwei Autoritäten zu erkennen glaubt. Der Leser müsse demütig genug sein, um einen Text nicht vorschnell der Irrtumshaftigkeit zu bezichtigen. Bevor anerkannten Autoritäten ein Fehler unterstellt wird, sei damit zu rechnen, dass dem sie Interpretierenden „eher die Gnade beim Verstehen fehle, als ihnen beim Schreiben“223. Als methodische Grundannahme ist zunächst von einem widerspruchsfreien Verhältnis der auctoritates zueinander auszugehen. Mögliche Divergenzen sind genau darauf zu prüfen, ob sie nur diverse oder tatsächlich adverse bestehen. Als Maxime könnte man formulieren: in dubio pro auctoritate. Diese Regel konkretisiert sich in einer doppelten Weise: Auf der einen Seite fordert Abaelard eine Selbstbescheidung des Interpreten, auf der anderen Seite gibt er Anweisungen, durch welche hermeneutischen Instrumente ein harmonisches Nebeneinander unterschiedlicher Aussagen ermöglicht wird. Der Rezipient hat eher mit seiner eigenen Irrtumsanfälligkeit als mit der des Textes, den er deutet, zu rechnen. Diese Haltung, die eine rechte Erkenntnis im Bereich der theoretischen Vernunft ermöglicht, wurzelt in der Demut.224 Ebenso wie in der Theologia ist auch für Sic et Non die korrekte Disposition auf der praktischen Ebene eine notwendige Voraussetzung der Verstandeseinsichten. Die These, dass die größere Irrtumsanfälligkeit auf der Seite des Rezipienten, nicht auf der des Autors steht, ist für Abaelard kein bloßer Topos der Höflichkeit; er begründet sie 222

Heyder, Auctoritas scripturae, 65. Hervorhebungen im Original. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89, 6-8): „Ad nostram itaque recurrentes imbecillitatem nobis potius gratiam in intelligendo deesse quam eis in scribendo defuisse credamus“. 224 Vgl. Th. Chr. 3,26 (Ed. Buytaert 205, 320f.), Th. Sch. 2,15 (Ed. Buytaert/Mews 119, 138140).: „Ideoque ad eius notitiam minime assurgunt qui ‚superbis resistit’ semper ‚et humilibus dat gratiam’ (1 Petr 5,5).” 223

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vielmehr pneumatologisch durch die Annahme einer abgestuften Inspiration.225 Die Schriften der Bibel und der Kirchenväter gelten deshalb als maßgebend und verbindlich, weil sie unter dem – in seiner Wirkweise hier nicht näher spezifizierten – Beistand des Heiligen Geistes zustande gekommen sind. Die kanonischen Schriftsteller sind demnach in einem höheren Maße inspiriert als die sie Interpretierenden.226 Aus diesem Grund ist es „fromm, der Demut gemäß und der Liebe geschuldet, die alles glaubt, alles erhofft, alles erträgt“227, dass eine autoritative Schrift im Zweifelsfall von jedem Irrtum freigesprochen wird. Auf der Ebene der Texthermeneutik – dies ist der zweite Schritt – betont Abaelard, dass vor der endgültigen Konstatierung eines Widerspruches zuerst alle Möglichkeiten einer harmonischen Deutung geprüft werden müssten. Hierbei solle sich der Interpret der Tatsache bewusst sein, dass sich etwa die Kirchenväter als Stilmittel ungebräuchlicher Redeweisen bedienten („inusitatus locutionis modus“228), um ihre Aussageabsicht je nach Adressat und Gegenstand möglichst präzise vermitteln zu können. Die oben skizzierte translatio spielt in diesem Kontext eine Rolle: Abaelard konzipiert die significatio eines Gegenstandes,229 also den Gedanken, der durch ein Objekt hervorgerufen wird, als kontextbezogen: Die Bedeutung variiere je nach dem Zusammenhang, in den ein Wort gestellt werde.230 Eine angemessene Interpretation der Autoritäten kann sich demnach nicht in einer bloßen Gegenüberstellung von Wörtern (voces) erschöpfen, sondern muss nach der Intention und den Umständen, in die hinein sie gesprochen wurden, fragen: „Um welchen Sprechakt oder Illokutionstyp handelt es sich?“231 Abaelard postuliert eine Priorität des Praktischen: Die Einsicht in den 225

Vgl. Heyder, Auctoritas scripturae, 244: „Für Abaelards Verständnis der Schrift- und Vätertexte ist schließlich der Inspirationsgedanke entscheidend […]. Inspiration ist Abaelard zufolge nicht auf die Autoren beschränkt, sondern wird auch den Interpreten der heiligen Texte zuteil. Es ist der Geist selbst, der die Vielfalt ihres Sinnes eröffnet, wenn sie mit dem richtigen habitus gelesen werden.“ 226 Vgl. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89, 9-11): „Quid itaque mirum si absente nobis spiritu ipso, per quem ea et scripta sunt et dictata atque ipso quoque sciptoribus intimata, ipsorum nobis desit intelligentia?“ 227 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 92, 80-85): „Si itaque aliquid a ueritate absonum in scriptis sanctorum forte uideatur, pium est et humilitati congruum atque caritati debitum, quae ‚omnia credit, omnia sperat, omnia sustinet’ nec facile uitia eorum quos amplecitur suspicatur, ut aut eum scripturae locum non fideliter interpretatum aut corruptum esse credamus, aut nos eum non intelligere profiteamur.“ 228 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89, 12). 229 Zur Entwicklung der Signifikationstheorie vgl. Shimizu, From Vocalism to Nominalism, 15-46. 230 Vgl. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89, 11-13): „Ad quam nos maxime peruenire impedit inusitatus locutionis modus ac plerumque earundem uocum significatio diuersa, cum modo in hac modo in illa significatione uox eadem sit posita.“ 231 Rizek-Pfister, Die hermeneutischen Prinzipien, 484.

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Nutzen (usus) einer Redeweise stehe über der Erkenntnis ihrer genauen, eigentümlichen Bedeutung (proprietas).232 Durch diese Vorgehensweise, die die strengen Schlussfolgerungen einer logischen, an reiner Begrifflichkeit orientierten Textanalyse relativiert, versucht Abaelard möglichst viele, scheinbar widersprüchliche Aussagen in dem Bereich des lediglich Diversen zu belassen. Selbst wenn der Gegenstand und die Wortwahl zweier entgegen gesetzter Propositionen identisch sind, ist es denkbar, dass der Kontext, allen voran die an den Adressatenkreis geknüpfte pädagogische Absicht, variiert, so dass nicht von einer Adversität im strengen Sinne gesprochen werden kann. Dieser Schritt offenbart Abaelards ambivalentes hermeneutisches Grundanliegen: (1) Er rechnet mit der Möglichkeit, dass sich verschiedene Autoritäten widersprechen und erachtet deshalb eine kritische Hinterfragung derselben als unentbehrlich für die Wahrheitsfindung. Der Erkenntnisweg verläuft dabei wie folgt: „Durch das Zweifeln kommen ja wir zur Untersuchung; durch das Untersuchen erfassen wir die Wahrheit.“233 Eine naive Rezeption vorgegebener Meinungen ist also nicht ausreichend. Die Autoritäten müssen sich vielmehr einer kritischen Befragung durch die Dialektik stellen. Dies zeigt sich daran, dass Abaelard in einem theologischen Kontext eine Wendung gebraucht, die sich – sprachlich leicht variiert – auch in der Logica Ingredientibus findet, genauer gesagt in den Glossen zur Kategorienschrift. Dort wird die Nützlichkeit des Zweifelns betont; „durch den Zweifel kommt man nämlich zur Untersuchung, durch die Untersuchung reicht man an die Wahrheit heran.“234 (2) Trotz dieser starken Betonung der Notwendigkeit des Zweifelns und der kritischen Prüfung sieht Abaelard es als einen defizitären Zustand an, wenn zwei Autoritäten in einem adversativen Verhältnis zueinander stehen. Aus diesem Grund müssen die interpretativen Anstrengungen, welche die inquisitio verlangt, mit der Zielrichtung einer harmonischen Deutung zum Einsatz gelangen. Abaelard will dabei ein negatives Urteil über „Sinn und Einsicht“235 der als autoritativ gültig anerkannten Autoren vermeiden. Es geht ihm nicht um eine Destruktion der Autorität oder um die Verneinung von deren epistemologischer Relevanz, sondern – im Gegenteil – um die Entwicklung eines Instrumentariums, das die auctoritas zu einem befragbaren Erkenntnisort macht.

232

Vgl. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 89f., 20-22): „Quibus quidem si ad doctrinam, ut oportet, loqui uolumus, magis eorum usus quam proprietas sermonis aemulandus est“. 233 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 103, 338f.): „Dubitando quippe ad inquisitionem uenimus; inquirendo ueritatem percipimus.“ 234 Sup. Praed. (Ed. Geyer 223, 16f.): „Sed utile est dubitare potius, quippe per dubitationem venitur ad inquisitionem, per inquisitionem pertingitur ad veritatem.“ 235 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 90f., 44f.): „Quam sit etiam temerarium de sensu et intelligentia alterius alterum iudicare, quis non uideat cum soli Deo corda et cognitiones pateant?“

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Bleibt ein Widerspruch zwischen zwei Werken trotz ihrer kontextuellen Betrachtung bestehen, sind diese – so der dritte Schritt – einer Untersuchung zu unterziehen, die Jolivet in eine externe und eine interne Kritik unterteilt.236 Aus der Perspektive einer externen Betrachtungsweise, der es noch vor einer inhaltlichen Bewertung des Textes um die Klärung der Einleitungsfragen geht, ist das Problem der Textverderbtheit auf der einen und der Pseudepigraphie auf der anderen Seite zu beleuchten, so dass „wir nicht durch falsche Titelüberschriften oder die Verderbtheit der Schrift selbst getäuscht werden“237. Eine solche Verfahrenweise dient nicht der Bestreitung von Autoritätsverhältnissen, sondern der Unterscheidung zwischen einer berechtigt vorhandenen und einer nur vorgegebenen Autorität. Abaelard ist sich dabei des Phänomens der Pseudepigraphie, also der Inanspruchnahme eines falschen Namens, um einer Schrift größere Geltung zu verschaffen, bewusst: Die meisten apokryphen Schriften seien mit den Namen von Heiligen versehen, „um Autorität zu gewinnen“238. Die von Abaelard formulierte externe Kritik hat den Schritt der Autoritätsanmaßung durch das Gegenmittel der kritischen Autoritätsreduktion zu entlarven. Neben dieser formalen Prüfung der von einer Schrift erhobenen oder der ihr zugeschriebenen Geltungsansprüche ist auch in materialer Hinsicht die Gültigkeit einer Aussage zu hinterfragen, indem sie in einer doppelten Weise kontextualisiert wird.239 Zwei Hauptaspekte lassen sich dabei unterscheiden: (1) In welchem Zusammenhang steht ein isolierter Satz innerhalb einer einzelnen Schrift? Gibt er die Meinung des Verfassers wieder oder handelt es sich um ein Referat über eine andere Ansicht, vielleicht sogar eine Häresie? Die Kirchenväter geben – so Abaelard – oft diejenigen heterodoxen Positionen ausführlich wieder, die sie bekämpfen. (2) Über die Analyse des Einzelwerks hinaus ist nach dessen Stellung innerhalb des Gesamtopus eines Autors zu fragen: Hat der Schriftsteller sich entwickelt oder sich gar von eigenen Aussagen distanziert? Als Kronzeuge für die hermeneutische Bedeutung dieser Frage dient Augustinus, der in den Confessiones kritisch auf seinen eigenen intellektuellen Werdegang reflektiert und sein Werk in den Retractationes rückblickend bewertet. Der Deutungsschlüssel zum rechten Verständnis der Autoritäten liegt für Abaelard in der präzisen Analyse ihrer Redeweisen, die durch similitudines und translationes geprägt sind; es besteht kein univoker Zusammenhang mehr zwischen einem Wort (verbum) und seiner Bedeutung (significatio), da „die236

Vgl. Jolivet, Arts du langage, 242. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 91, 54-56): „Illud quoque diligenter attendi conuenit ne, dum aliqua nobis ex dictis sanctorum obiciuntur tamquam sint opposita uel a ueritate aliena, falsa tituli inscriptione uel scripturae ipsius corruptione fallamur.“ 238 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 91, 56f.): „Pleraque enim apocrypha ex sanctorum nominibus, ut auctoritatem haberent, intitulata sunt“. 239 Vgl. hierzu Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 92f.). 237

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selben Wörter in unterschiedlichen Bedeutungen von unterschiedlichen Autoren“240 verwendet werden. Lässt sich der Widerspruch nicht mit den Mitteln der Dialektik, der es um die Klärung der Terme geht, auflösen, so ist Abaelard zufolge eine Hierarchisierung der Autoritäten untereinander vorzunehmen. Für diese Abstufung sind zwei Kriterien maßgebend: testimonium und confirmatio. Derjenigen Autorität, die über die „bessere Bezeugung“ und die „größere Zustimmung“241 verfügt, ist im Konfliktfall der Vorzug zu geben. (1) Das testimonium ist eine externe und keine systematisch-theologische, sondern eine philologische Prüfinstanz. Es geht hierbei um die Qualität der Überlieferung, die durch Übersetzungs- oder Kopistenfehler getrübt sein kann. (2) Die confirmatio dagegen ist nur durch eine Reflexion auf die Anerkennung bestimmter Texte innerhalb der Theologie zu untersuchen. An erster Stelle steht dabei die Heilige Schrift, die in sich wiederum Binnendifferenzierungen aufweist (Evangelien und Briefe an erster Stelle, danach erst das Alte Testament). Nach der Bibel sind die Kirchenväter als authentische Ausleger des kirchlichen Glaubens zu nennen. Die Stufung der Autoritäten setzt sich bis hin zu den Zeitgenossen Abaelards (Papst, Bischöfe und theologische Lehrer) fort. Dogmatisch interessant ist die Begründung, mit der Abaelard erklärt, dass Autoritäten erkenntnisleitend und irrtumsanfällig zugleich sind. Dies geschieht durch eine Reflexion auf das Wesen der Offenbarung: Der Geist Gottes, der – ausgehend von den Propheten des Alten Testamentes – als Vermittler jedes revelatorischen Aktes fungiert, offenbart einem menschlichen Träger, dessen Verstand sich per definitionem durch endliches Denken auszeichnet, niemals alles.242 Jeder Adressat einer Mitteilung Gottes ist aufgrund seiner eigenen Begrenztheit nur in der Lage, Gottes Wesen in begrenzter Weise zu erfassen. Die revelatio, bei der Gott seine Fülle mitteilt, bleibt auf den einzelnen Empfänger hin immer partiell, da sie dessen Aufnahmekapazität notwendigerweise überschreitet. Aus diesem Grund ist jede Offenbarung zugleich eine Verschleierung, jeder Enthüllung ist das Moment der Verhüllung inhärent.243 Anders formuliert: Dem Gedanken der Inspiration ist „eine Offenheit für Bedeutungen zu eigen […], die den Verfassern selbst noch nicht bewusst waren“; es entsteht „ein inspirierter

240

Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 96, 185-187): „Facilis autem plerumque controuersiarum solutio reperietur si eadem uerba in diuersis significationibus a diuersis auctoribus posita defendere poterimus.“ 241 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 96, 189-191): „Quod si forte adeo manifesta sit controuersia ut nulla possit absolui ratione, conferendae sunt auctoritates, et quae potioris est testimonii et maioris confirmationis potissimum retinenda.“ 242 Vgl. Weingart, The Logic of Divine Love, 9. 243 Vgl. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 97, 199-201): „Qui etiam cum habetur, sicut non omnia uni confert dona ita nec de omnibus mentem eius quem replet, illuminat sed modo hoc modo illud reuelat, et cum unum aperit alterum occultat.“

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Sinnüberschuss“244. Deshalb sind Falschprophetien oder das fehlerhafte Zeugnis eines Kirchenvaters nicht mit der moralischen Wertung des Lügens zu verwechseln: Mentiri und errare gleichen sich nur darin, dass beide Akte falsche Propositionen zu Tage bringen; das entscheidende Differenzkriterium liegt jedoch in der intentio,245 die – so Abaelard – maßgeblich für das Urteil Gottes über eine Tat sei.246 Der Prolog von Sic et Non schließt mit einer grundsätzlichen Überlegung zum rechten Umgang mit autoritativen Vorgaben; sie wird von der Absicht der Schreiber selbst hergeleitet: Diese seien sich der Tatsache, dass einige ihrer Thesen der Korrektur bedürfen, bewusst gewesen, so dass sie „den Späteren die Erlaubnis gaben, zu verbessern oder nicht zu folgen“247. Daraus schlussfolgert Abaelard in Anlehnung an Augustinus: „Diese literarische Gattung [sc. das Schrifttum der Kirchenväter] braucht nicht mit der Notwendigkeit, zu glauben, gelesen zu werden, sondern mit der Freiheit, zu beurteilen.“248 Das genus litterarum, von dem hier die Rede ist, umfasst alle theologischen Schriften bis auf die Bibel selbst. Ihr ordnet Abaelard eine unbedingte Inerranz zu. Innerbiblische Widersprüche gingen auf falsche Übersetzungen oder Abschriften zurück, zumeist aber auf die begrenzte Auffassungsgabe des Rezipienten angesichts des in jedem Falle inspirierten Wortes der Schrift. Die Rolle, die Abaelard den christlichen Autoritäten für die Gewinnung theologisch relevanter Erkenntnisse zuschreibt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Theologie ist – ebenso wie die Dialektik als Teildisziplin der Philosophie – eine autoritätsgebundene Wissenschaft. Sie hat von der Vorgegebenheit wahrer Erkenntnisse in verbindlichen Texten auszugehen und ist deshalb eine textdeutende Disziplin, deren Wissenschaftlichkeit darin besteht, nachvollziehbare Interpretationsregeln zu entwickeln und korrekt anzuwenden. Erkenntnistheoretisch impliziert dies einerseits, wie Pranger ausführt, die Annahme „einer Einheit des logischen und linguistischen Raums, in dem Probleme und Inkonsistenzen“249 unterschiedlicher, sich adversativ zueinander verhaltender 244

Heyder, Auctoritas scripturae, 199. Vgl. Ernst, Ethische Vernunft und christlicher Glaube, 127. 246 Vgl. Scito I 30,1-5 (Ed. Ilgner 30f., 779-800) sowie Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 99, 246-248): „Aliud itaque est mentiri, aliud est errare loquentem et a ueritate in uerbis per errorem non per malitiam recedere.“ 247 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 99, 251-254): „Hoc et ipsi ecclesiastici doctores diligenter attendentes et nonnulla in suis operibus corrigenda esse credentes, posteris euis emendandi uel non sequendi licentiam concesserunt, si qua illis retractare et corrigere non licuit.“ 248 Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 101, 278f.): „Quod genus litterarum non cum credendi necessitate sed cum iudicandi libertate legendum est.“ Vgl. Augustinus, Ennarationes in psalmos CIII 1,18 (Ed. Dekkers/Fraipont 1490, 18-40). 249 Pranger, Sic et Non, 171. 245

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Texte gelöst werden können. Andererseits müssen die Texte, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen, kontextualisiert und – bei bleibendem Widerspruch – hierarchisiert werden. Diese Art des Umgangs mit vorgegebenen Texten zeigt: Autoritäten sind für die theologische Epistemologie unentbehrlich. Betzendörfer verneint zurecht, „daß Abälard mit der Gegenüberstellung einander widersprechender Väterzitate in der Schrift ‚Sic et Non’ eine skeptische Tendenz verfolgte und die Autorität der Väter zerstören wollte“250. Der Autoritätsbezug der Theologie wird methodisch durchreflektiert, aber nicht generell in Zweifel gezogen. Davon, dass Abaelard – wie Bernhard von Clairvaux ihm vorwirft – die Kirchenlehrer nicht anerkenne,251 oder die Philosophen zur Verspottung der Kirchenväter heranziehe,252 kann keine Rede sein. Abaelard versteht seine Bindung an die Autorität der Väter jedoch nicht im Sinne eines naiven Nachbuchstabierens; er betont mit den Worten Augustins die libertas iudicandi vor der necessitas credendi. Wieland formuliert: „Wir unterliegen also nicht blind dem Gewicht der Autorität; Autorität kann nur gelten, wenn sie sich als einsichtig und vernünftig erweist.“253 Die Textinterpretation bedarf eines beurteilenden Abstandes zwischen dem Deutenden auf der einen und dem zu Deutenden auf der anderen Seite. Die Theologie ist in methodischer Hinsicht auf die Vorgegebenheit des Autoritativen ebenso wie auf die Reflexionsleistung des Subjekts angewiesen, das die Glaubwürdigkeit254 und die Notwendigkeit255 der Autoritätsargumente kritisch zu prüfen hat.

250

Betzendörfer, Glauben und Wissen, 52. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 5,13 (Ed. Leclerq/Rochais 27, 16f.): „Sed qui venerunt post Apostolos, Doctores non recipis, homo qui super omnes docentes te intellexisti.“ 252 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 189, 3 (Ed. Leclerq/Rochais 14, 11-14): „Denique in suggilationem Doctorum Ecclesiae, magnis effert laudibus philosophos, adinventiones illorum et suas novitates catholicorum Patrum doctrinae et fidei praefert, et, cum omnes fugiant a facie eius, me omnium minimum expetit ad singulare certamen.“ 253 Wieland, Abaelard – Denker des Glaubens, 31. 254 Abaelard versteht unter einer discretio argumentorum die Prüfung der Glaubwürdigkeit eines Argumentes. Vgl. Sup. Top. (Ed. Dal Pra 205, 8f.): „Est itaque argumentum ratio rei dubiae faciens fidem, hoc est aliquid certum per quod fit fides alicui dubio.“ 255 Unter dem Begriff der necessitas wird der Wahrheitsgehalt einer Aussage verstanden. Ist ein Satz wahr, so gilt er mit Notwendigkeit. Umgekehrt heißt dies: Gilt ein Satz mit Notwendigkeit, so muss er auch wahr sein. Vgl. Dialect. 3,1 (Ed. De Rijk 273, 31-33): „Cum enim omne argumentum in inferentia consistat, inferentia vero in consecutione maneat, idem est veritas argumenti quantum ad inferendum conclusionem quod ipsius necessitas.“ 251

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3.2. Involucrum und integumentum als Deutungsschlüssel paganer Texte Wird eine auctoritas – wie zuvor definiert – in topischer Weise als ein Ort (etwa ein vorgegebenes Werk oder ein Autor) verstanden, dessen rechte Deutung wahre Einsichten zu Tage bringt, so sind innerhalb der theologischen Methodenlehre Abaelards nicht nur die Schrift und die Kirchenväter als Bezeugungsinstanzen des christlichen Glaubens zu nennen, sondern – anachronistisch mit Melchior Cano formuliert – auch die paganen Philosophen als erkenntnisrelevante loci alieni. Schreiter spricht „von den Schriften der heidnischen Weisen“ als „der dritten Autorität, die Abälard kennt“256. Hierbei nehmen Platon und Aristoteles eine besondere Stellung ein. Teilt man das Wirken Abaelards holzschnittartig in ein philosophisches und ein theologisches, so lassen sich zwei unterschiedliche Akzentsetzungen beobachten: Für den Bereich der Dialektik besitzt der „alles ganz besonders durchschauende“257 Aristoteles eine überragende Geltung, wohingegen für den Bereich der Theologie Platon, „der höchste der Philosophen“258, als maßgeblich erscheint. Während Abaelards Interesse an den aristotelischen Schriften eher logischer und semantischer Natur ist, wird Platon, näherhin die Timaios-Übertragung des Calcidius,259 als dogmatisch bedeutsam eingestuft. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Platon, „der sich nach dem Zeugnis der heiligen Väter vor den anderen Philosophen der Heiden dem christlichen Glauben näherte, die gesamte Summe der Trinität“260 lehrte. In ihrer platonischen Ausprägung stößt die Philosophie also bis an die äußerste Grenze dessen vor, was rational einsehbar ist. Abaelards methodisches Problem besteht darin, dass es nicht möglich ist, die sich im Timaios findenden Ausführungen ungebrochen auf die christliche Glaubenslehre anzuwenden. Es bedarf einer spezifischen Interpretationsweise, die den Maßstäben der Orthodoxie gerecht wird, ohne Platon einer Fehlaussage zu beschuldigen und damit seine Autorität in Frage zu stellen.261 Abaelard findet in den bereits vorhandenen, nicht durch ihn 256

Schreiter, Peter Abälards Anschauungen, 21. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 103, 335): „[…] philosophus ille omnium perspicacissimus Aristoteles […]“. 258 Vgl. Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 101, 430), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 1365), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1922). 259 Zur textlichen Grundlage, die Abaelard bei seiner Platondeutung zur Verfügung stand, vgl. Klibansky, The Continuity of the Platonic Tradition, 27-29. 260 Th. Sum. 1,36 (Ed. Buytaert/Mews 98f., 348-351): „Reuoluatur et ille maximus philosophorum Plato, qui testimonia sanctorum patrum pre ceteris gentium philosophis fidei christiane accedens, totius trinitatis summam post prophetas patenter edocuit”. Vgl. auch Th. Chr. 1,68 (Ed. Buytaert 100, 887-900), th. sch. 121 (Ed. Buytaert 450, 1459-1462), Th. Sch. 1,123 (Ed. Buytaert/Mews 368, 1411-1414). 261 Zu Abaelards Platonbild vgl. Marenbon, Twelfth-Century Platonism, 9-11. 257

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selbst entwickelten Theoremen von involucrum und integumentum einen geeigneten methodischen Schlüssel, um Platons Rede von der anima mundi in rechtgläubiger Weise und in Termen einer dogmatisch korrekten Sprache zu interpretieren.262 Zunächst zu den Begriffen und ihrer Definition: Abaelard spricht wesentlich häufiger von involucrum als von integumentum. Beide Bezeichnungen werden weder explizit noch durch eine divergente Verwendungsweise voneinander unterschieden; sie sind Synonyme.263 Vermutlich hat Abaelard die beiden Begriffe aus dem Werk Ciceros übernommen, den er des Öfteren zitiert, ihn jedoch in diesem Zusammenhang nicht als Quelle anführt. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass Ciceros Gebrauch von involucrum und integumentum die Wortwahl Abaelards – und sei es nur indirekt durch die Vermittlung anderer Autoren – beeinflusst.264 In Ciceros Schrift De oratore wird ebenfalls nicht präzise zwischen involucrum und integumentum unterschieden: Der Gesprächsteilnehmer Cotta behauptet, er habe die Ausführungen des Crassus bewundernd zur Kenntnis genommen, sie aber nicht recht verstanden, sondern die in ihnen enthaltenen Reichtümer nur „per quaedam involucra atque integumenta“265 erblickt. Cotta weiß also, dass sich hinter der Rede des Crassus etwas Sinnvolles und Wahres verbirgt, kann dieses aber nicht begrifflich-explizit erfassen. „Deshalb kann ich nicht sagen, ich wisse überhaupt nicht, was er besitzt, aber auch nicht, dass ich es vollends kenne und gesehen habe.“266 Diese Bestimmung wird trotz aller Unschärfe, die sie enthält, zu einem bestimmungsrelevanten Merkmal des Begriffs, so dass definiert werden kann: Involucrum bezeichnet dem Wortlaut nach etwas Eingehülltes, also einen Gegenstand oder einen Sachverhalt, der zwar vorhanden, aber der Vernunft des Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist, weil ihn eine Hülle umgibt, die ihn vor unmittelbaren Zugriffen schützt. Dronke hat nachgewiesen, dass Augustinus eine bedeutende Vermittlerrolle bei der Tradierung des involucrum-Konzeptes spielt;267 als antiker Rhetor und christlicher Gelehrter bildet er den Brückenkopf zwischen Cicero und den späteren Autoren des lateinischen Mittelalters. 262

Vgl. Krewitt, Art. Allegorese außerchristlicher Texte, 284-290 und Brinkmann, Verhüllung (‚integumentum’) als literarische Darstellungsform, 314-339. 263 In der Th. Sum. ist acht, in der Th. Chr. neun und in der Th. Sch. wiederum acht Mal die Rede von involucrum. Integumentum kommt in der Th. Sum. nur an einer sowie in der Th. Chr. und der Th. Sch. je an zwei Stellen vor. Die synonyme Verwendung beider Begriffe wird eindeutig ersichtlich bei Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 101, 428-433), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 1363-1368), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1920-1925): „Ex hac itaque Macrobii traditione clarum est ea que a philosophis de anima mundi dicuntur, per inuolucrum accipienda esse. […]. Quid enim magis ridiculosum quam mundum totum arbitrari unum esse animal rationale, nisi hoc per integumentum sit prolatum?“ 264 Zur Bedeutung Ciceros für Abaelards Sprachlogik vgl. Fredborg, Abelard on Rhetoric, 56. 265 Cicero, De oratore I 35,161 (Ed. Kumaniecki 60, 21). 266 Cicero, De oratore I 35,161 (Ed. Kumaniecki 61, 1-3). 267 Vgl. Dronke, Fabula, 4. 56f., Anm. 2.

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Augustin konkretisiert die gerade skizzierte, allgemeine Definition des Begriffs: Für ihn ist auch das Kreuzesgeschehen ein involucrum,268 also ein Ereignis, das eine Heilswirkung entfaltet, die jedoch zunächst nicht offensichtlich und unmittelbar einsehbar ist. Vor dem Hintergrund dieser eindeutig positiv besetzten Verwendungsweise Augustins erscheint die von Chenu vorgetragene Behauptung, involucrum werde durch die christlichen Autoren – anders als bei den paganen – in abschätziger Weise („péjoratif“269) verwendet, als nicht haltbar. Chenu scheint sich der Bedeutung des Begriffs im Werk Augustins nicht bewusst gewesen zu sein; er führt keine einzige Belegstelle aus dem Werk des Bischofs von Hippo an. Dronke zufolge erklärt sich die polemische Haltung gegenüber dem Begriff involucrum, die sich etwa bei Wilhelm von Saint Thierry findet, durch die spezifische Ablehnung, die er Abaelards Deutung der anima mundi entgegenbringt und nicht durch „irgendeine geläufige, umfassende Feindseligkeit gegenüber dem Begriff“270. Wie verhält sich die Rede von einem integumentum zu der oben genannten Rahmendefinition von involucrum? Es wurde bereits erwähnt, dass Abaelard die Begriffe nicht unterscheidet. Will man dennoch eine geordnete Beziehung zwischen beiden herstellen, so könnte man ein integumentum als eine Sonderform des involucrum bestimmen. Dies legt auch eine zeitlich kurz nach Abaelards Theologien anzusiedelnde Wendung bei Alanus de Insulis nahe, der integumentum als eine Präzisierung von involucrum versteht, wenn er von „auctores sub integumentali involucro aenigmatum“271 spricht. Unter einem integumentum kann demnach, um mit den Worten Bezners zu sprechen, eine „Art ‚didaktischer Hüllrede’, ein philosophisch fruchtbares Bild, eine sinnvolle Fiktion“272 verstanden werden. Auffällig ist, dass Abaelard die beiden Begriffe involucrum und integumentum nur zur Deutung der platonischen Lehre von der Weltseele heranzieht. Er geht davon aus, dass die sich in der Timaios-Übertragung des Calcidius findende Rede von der anima mundi eine Hüllrede auf den Heiligen Geist sei. Um diese These zu plausibilisieren, steht Abaelard in der Pflicht, das platonische Gedankengut in einer Weise zu deuten, die es mit der christlichen Glaubenslehre, näherhin mit der westkirchlichen Pneumatologie, kompatibel macht. Dieses Verfahren ist für eine Untersuchung der theologischen Methodenlehre Abaelards deshalb von Belang, weil es exemplarisch deutlich macht, mit welchem interpretativen 268

Vgl. Augustinus, Sermo 160,3 (PL 38, 874f.). Chenu, Involucrum, 79. 270 Dronke, Fabula, 56, Anm. 2: „For this, Chenu adduces, in his article, no evidence other than William of Saint-Thierry’s attack on Abelard – where the pejorative connotations of involucrum are surely due more to the Cistercian’s animosity towards Abelard than to any current widespread hostility to the term“. 271 Alanus de Insulis, De planctu naturae 298 (PL 210, 454 C). 272 Bezner, Vela Veritatis, 34. 269

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Instrumentarium er pagane Autoren in einen dogmatischen Rahmen integriert und sie für die christliche Glaubenslehre fruchtbar macht. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Abaelard – trotz der definitorischen Offenheiten und nebulösen Konnotationen, die mit der Vorstellung des „Eingehüllten“ verbunden sind – von der rationalen Notwendigkeit ausgeht, bestimmte Thesen „per inuolucrum“273 aufzufassen, da sie „ansonsten keiner Sache angepasst werden können“274. Die Annahme, dass eine Lehre die Wahrheit in verhüllter Weise oder gleichnishaft enthalte, ist demnach keine Abkehr von dem Anspruch einer vernunftgemäßen Deutung, sondern – im Gegenteil – der Versuch, rational begründbare Schlussfolgerungen aus nicht unmittelbar verstehbaren Aussagen zu ziehen. Es besteht also, wie Bezner mit Blick auf Abaelards Schüler Johannes von Salisbury feststellt, eine „Dialektik zwischen Verborgenheit und Wahrheit, zwischen oberflächlichem Trug und wahrem inneren Sinn“275. Ein wörtliches Verständnis von Platons Timaios würde Abaelard zufolge in einer doppelten Weise zu kurz greifen: Es entspricht auf der einen Seite nicht der Intention Platons, der bei einer litteralen Auslegung „der höchste der Dummen“ anstatt der „höchste der Philosophen“ sei. Auf der anderen Seite ist es auch für die menschliche Vernunft, der es um die Gewinnung wahrer Einsichten geht, unzureichend, sich mit Unverständlichem und daher „Lächerlichem“276 zu beschäftigen. Die Notwendigkeit einer Interpretation ad involucrum ist für Abaelard also nicht mit einer beliebigen oder im Unpräzisen verbleibenden Verwendung der zu deutenden Primärtexte vereinbar; im Gegenteil: Die rechte Auslegung der animamundi-Vorstellung als involucrum oder integumentum verlangt eine philologisch genaue Auseinandersetzung mit dem Timaios. Moonan spricht bezüglich der Zitierweise Abaelards von einer beeindruckenden Genauigkeit.277 Vor diesem Hintergrund wäre es unzutreffend, eine Dichotomie zwischen einer vernunftgemäßen, begrifflich-expliziten Redeweise und einem mythologischen, die Grenzen des Rationalen verlassenden genus loquendi aufzubauen. Stattdessen 273

Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 101, 429), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 1364f.), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1921f.). 274 Th. Sum. 1,37 (Ed. Buytaert/Mews 99, 361-364): „De hac autem anima, si diligentius discutiuntur ea que dicuntur tam ab hoc philosopho quam a ceteris, nulli rei poterunt aptari, nisi spiritui sancto per pulcherrimam inuolucri figuram assignentur.“ Vgl. auch Th. Chr. 1,97 (Ed. Buytaert 112, 1273f.), Th. Sch. 1,157 (Ed. Buytaert/Mews 383, 1835f.). 275 Bezner, Vela Veritatis, 34. Die Beobachtung Bezners passt zu der von Sweeney, Logic, Theology and Poetry, 63f. vertretenen These, dass Abaelards Denken von dem Ziel geprägt sei, mittels der Sprache „die Lücke zwischen Oberfläche und Tiefe“ zu schließen. 276 Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 101, 430-433), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 13651368), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1922-1925): „Alioquin summum philosophorum Platonem summum stultorum esse deprehenderemus. Quid enim magis ridiculosum quam mundum totum arbitrari unum esse animal rationale, nisi hoc per integumentum sit prolatum?” 277 Vgl. Moonan, Abelard’s use of the Timaeus, 76: „Abelard’s accuracy is impressive.“

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bedingen sich beide gegenseitig: Die paganen Autoren müssen gleichnishaft ausgelegt werden, damit ihre Ansichten einer Leserschaft, die von der Wahrheit der christlichen Glaubensinhalte ausgeht, als rational gerechtfertigt und plausibel erscheinen. Die Methodik einer Enthüllung des Verkleideten entspringt also dem Bemühen um eine vernunftgemäße Deutung und steht ihr nicht entgegen. Die Interpretation von Platons Weltseele als „eingehüllte Wahrheit“ ist somit Teil jenes sich im zwölften Jahrhundert verstärkenden Prozesses, den Wieland als „Rationalisierung und Verinnerlichung“278 charakterisiert; er stellt eine subtile Untergruppe dieses Paradigmas, keine Gegenbewegung dar. Der Maßstab der rationalen Interpretation ist das Dogma, so dass sich in methodischer Hinsicht zwei Eckpfeiler der Hermeneutik Abaelards benennen lassen: Er muss dem zu deutenden Text auf der einen, und dem die Deutung lenkenden und begrenzenden theologischen Rahmen auf der anderen Seite gerecht werden. Kurzum: Sein Ziel ist es, „alles vernünftig aufzufassen, aber nicht von dem Inhalt des heiligen Glaubens abzuweichen“279. Um diese Methodik, die einen Brückenschlag zwischen paganer Philosophie und christlicher Theologie leisten soll, zu rechtfertigen, verweist Abaelard darauf, dass sich die Verhüllung der eigentlichen Aussageabsicht sowohl bei den Propheten als auch bei den Philosophen finde, da beide Gruppen Aussagen über Gott treffen; die Propheten tun dies als Empfänger einer geheimen Offenbarung, die Philosophen haben Gott zu ihrem Gegenstand, sofern sie explizit im Rahmen einer metaphysischen Theologie nach ihm fragen oder implizit auf ihn reflektieren, wenn es um das grundlegende Prinzip der Wirklichkeit geht. An dieser Stelle findet sich erneut ein bereits skizziertes Problem: Abaelard versäumt es, präzise „zwischen Inspiration auf der einen, und poetischer Technik sowie philosophischer Intuition auf der anderen Seite“280 zu unterscheiden. Auch wenn die genauen Erkenntnisquellen von Philosophen und Propheten im Dunkeln bleiben, lässt sich von beiden sagen, dass sie „gewöhnliche Worte“281 vermeiden, weil diese dem Gegenstand, den sie beschreiben sollen, nicht angemessen wären. Der besondere Sprachmodus erlaubt es, gewisse Einsichten so zu verhüllen, dass sie ihren Zeitgenossen nicht un278

Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung, 61. Th. Sum. 1,44 (Ed. Buytaert/Mews 103, 468-470), Th. Chr. 1,197 (Ed. Buytaert 117, 14041407), Th. Sch. 1,167 (Ed. Buytaert/Mews 387, 1960-1963): „Quod si ad inuolucrum deflectamus ea que de anima mundi magnus philosophorum astruit, facile est rationabiliter cuncta accipi nec a sacre fidei tenore exorbitare.“ 280 Wetherbee, Platonism and Poetry, 40: „Nowhere in his work is the general relationship between inspiration, on the one hand, and poetic technique and philosophical intuition on the other, made clear.“ 281 Th. Sum. 1,38 (Ed. Buytaert/Mews 99, 364-367), Th. Chr. 1,98 (Ed. Buytaert 112, 12751277), Th. Sch. 1,158 (Ed. Buytaert/Mews 383, 1837-1840): „Hoc quippe loquendi genus philosophis sicut prophetis familiarissimum est, ut uidelicet, cum ad archana prophetie peruenerint, nichil uulgaribus uerbis efferant“.

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mittelbar verständlich erscheinen, sondern nur aus der Retrospektive sinnvoll gedeutet werden können. Dies trifft Abaelard zufolge auf die Schriften Platons, aber auch auf das Alte Testament im Ganzen zu, welches er zwar als Hüllrede auf die Trinität hin auslegt, aber nicht explizit durch den Begriff involucrum charakterisiert, wie dies wenig später etwa Herbert von Boseham tut.282 Grundsätzlich ist zu fragen: Warum ist eine verhüllte Artikulation des als wahr Erkannten notwendig? Wie bereits bei den Ausführungen zur translatio skizziert, bedarf die Einzigartigkeit Gottes auch eines einzigartigen modus loquendi283, einer besonderen Redeweise. Durch sie soll sprachlich ausgedrückt werden, was in grundsätzlicher Weise für Gottes Verhältnis zur Welt gilt: Er ist der sinnlichen Erfahrung des Menschen und seiner intellektuellen Anstrengung nicht unmittelbar zugänglich, sondern bleibt im Verborgenen. „Der Herr erfreut sich nämlich daran, im Schlupfwinkel [in latebris] zu ruhen“284. Abaelard setzt einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit und der Sprache voraus, bei dem die Sprache die Wirklichkeit beschreibt und interpretiert, weshalb sie notwendigerweise an sie gebunden bleibt. Wenn es Gottes Modus der Gegenwart in der Welt entspricht, dass er sich verbirgt und nur jenen ansatzhaft zeigt, die dazu moralisch disponiert sind und sich intellektuell um seine Erkenntnis bemühen, so muss dies auch Folgen für die sprachliche Artikulation der Einsichten des Menschen über Gott haben. Abaelard geht davon aus, dass das trinitarische Dogma erst mit dem Christusereignis in begrifflich präziser Weise fassbar wurde, da – so der Beginn der Theologia Summi Boni – erst „Christus, die inkarnierte Weisheit Gottes selbst, die Vollendung des höchsten Gutes, das Gott ist, dadurch sorgfältig unterschied, dass er drei Namen beschrieb“285. Vorher war das dreifaltige Wesen Gottes verborgen, so dass es nur implizit und unbegrifflich von den Propheten und den Philosophen antizipiert werden konnte. Der grundsätzlichen Verhülltheit Gottes auf der ontologischen Ebene entspricht deshalb seine Einhüllung auf der sprachlichen. Gott als das höchste Gut, das summum bonum schlechthin, ist auch innerhalb der menschlichen Rede zu verbergen, um es vor beliebigen Zugriffen zu schützen. Dabei ist die gleichnishafte und metaphorische Redeweise trotz ihres begrifflich unpräzisen Charakters nicht mit einer Beliebig282

Vgl. Herbert von Boseham, Liber melorum III (PL 190, 1371 D): „Tum quia sicut in Testamento Veteri singulis fere paginis commendatur unitas, sic pene singulis Novi Testamenti syllabis praedicatur unitatis trinitas, tum etiam quia multo magis quam in unitate, in unitatis trinitate, fidei magis implicitum involucrum est.“ 283 Vgl. Pinzani, The Logical Grammar of Peter Abelard, 54. 284 Th. Sum. 1,39 (Ed. Buytaert/Mews 100, 373), Th. Chr. 1,100 (Ed. Buytaert 113, 1294), Th. Sch. 1,160 (Ed. Buytaert/Mews 384, 1856): „Quasi enim in latebris dominus quiescere gaudet“. 285 Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-6), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-4): “Summi boni perfectionem quod deus est, ipsa dei sapientia incarnata Christus dominus describendo tribus nominibus diligenter distinxit”.

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keit zu verwechseln. Abaelard zufolge gibt es auch für den Bereich des involucrum, der stilistisch durch similitudines und translationes geprägt ist, feste Regeln, die über die Angemessenheit der Verhüllung entscheiden. Hierzu übernimmt er die Kriteriologie des Cicero-Kommentators Macrobius.286 Dieser unterscheidet – neben der allgemeinen Forderung nach pietas und honestas – zwei Arten der figürlichen Rede, die jeweils in ihrer Stellung zu Fabelelementen (fabulosa) differieren: In Bezug auf die anima mundi sei eine auf Fabulöses zurückgreifende Darstellungsweise gerechtfertigt, nicht jedoch, wenn es um den „höchsten Gott und die mens“ gehe; bei der Behandlung von letzterem seien nur „Ähnlichkeiten und Beispiele“287 sprachlich angemessene Mittel der Tradierung. Um diese Aussagen des Macrobius zu verstehen, sind zwei Klärungen von Nöten: Zunächst ist zu bestimmen, was unter „fabula“ zu verstehen ist; anschließend muss der von Macrobius getroffene und von Abaelard übernommene Unterschied zwischen anima und mens – beides kann mit „Seele“ übersetzt werden – erläutert werden. Der Terminus fabula, der seiner Grundbedeutung nach eine Sage, eine Rede oder auch – in abschätziger Konnotation – „Gerede“ bezeichnet, ist in seiner theologischen Verwendungsweise eng mit „Mythos“ verbunden. Es ist davon auszugehen, dass Abaelard, der den Begriff nicht ausdrücklich definiert, eine Erklärung Augustins aus De Civitate Dei VI voraussetzt: „A fabulis enim mythicon dictum est, quoniam mythos Graece fabula dicitur.“288 Laut Dronke war diese Deutung schulbildend für die Verwendungsweise der frühscholastischen Autoren, die unter einem Mythos eine Erzählung verstanden, deren Inhalt zwar vorzeitlich verortet, aber überzeitlich relevant ist, weil er in narrativer Weise gleich bleibende Grundgegebenheiten der Wirklichkeit deutet.289 Wenn Macrobius und in seiner Gefolgschaft auch Abaelard behaupten, dass das Medium des Mythos eine angemessene Weise der Umschreibung für die anima mundi sei, nicht aber für das höchste Prinzip selbst und die mens, so liegt dem eine Kombination aus platonischem und neuplatonischem Gedankengut zugrunde. Mens wird als lateinische Übersetzung des

286

Vgl. Macrobius, Commentarium in Somnium Scipionis I 2,11 sowie I 2,13-18 (Ed. Willis 6f.). Zur Bedeutung des Macrobius für Abaelards Denken vgl. Schedler, Die Philosophie des Macrobius und ihr Einfluss, 114-119. 287 Th. Sum. 1,42 (Ed. Buytaert/Mews 101, 405-409), Th. Chr. 1,104 (Ed. Buytaert 114, 13361340), Th. Sch. 1,164 (Ed. Buytaert/Mews 385, 1894-1898): „Cum de his, inquam, loquuntur summo deo et mente, nichil fabulosum penitus attingunt. Sed si quid de his assignare conantur que non sermonem tantummodo, sed cogitationem quoque superant humanam, ad similitudines et exempla confugiunt.“ 288 Augustinus, De Civitate Dei VI 5 (Ed. Dombart/Kalb 170f., 5f.). 289 Zur mittelalterlichen Verwendung des Begriffs vgl. Dronke, Fabula, 5: „Fabula itself is often used by the twelfth-century thinkers to mean ‚myth’, though it can also extend more widely, to fiction and animal-fable“.

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griechischen Terminus nous eingeführt.290 Der höchste Gott und die aus ihm emanierende mens sind als das Eine und der von ihm abstammende nous die ersten Prinzipien der Wirklichkeit.291 Die sich in Platons Timaios findende Rede von der anima mundi wird von Macrobius nicht mit dem Nous, sondern mit dem dritten Emanat der Neuplatoniker, der psyche, identifiziert. Diese ist zwar göttlichen Ursprungs, steht aber auch in enger Verbindung zur kreatürlichen Welt, die sie durchwaltet. Dadurch unterscheidet sie sich ontologisch von dem Einen und der ersten Emanationsstufe, dem Nous. Diese seinsmäßige Differenz überträgt Macrobius auch auf die Form der sprachlichen Darstellung: Das unum und die mens sind jenseits der Zeit, weshalb sie nicht mit fabulösen, das heißt mythischen Mitteln, umschrieben werden können, sondern nur durch adäquate similitudines – wie sie etwa Platon mit der Sonne zur Veranschaulichung der Idee des Guten geprägt hat. Die anima mundi hingegen durchwaltet die Geschichte und kann deshalb durch die fabula ansatzweise, aber nicht gänzlich erfasst werden. Auffallend ist, dass Abaelard sich die skizzierte Unterscheidung des Macrobius zueigen macht, indem er sie ausführlich zitiert, sie aber danach nicht mehr aufgreift und auch keine konsequente Durchführung der Differenzierung zwischen fabula auf der einen und similitudines et exempla auf der anderen Seite erkennen lässt. Das Verhältnis der genannten Begriffe zum Schlüsselkonzept des involucrum, auf das er beständig im Zusammenhang mit der Weltseele hinweist, bleibt ungeklärt.292 Hierbei ist Abaelard terminologisch nicht stringent – anders etwa als sein Zeitgenosse Bernhard von Silvestris, der die zentralen Terme involucrum, integumentum und fabula miteinander verbindet und präzise definiert: „Integumentum est genus demonstrationis sub fabulosa narratione, veritatis involvens intellectum; unde et involucrum dicitur“293. Vor dem Hintergrund der sich bei Abaelard findenden begrifflichen Unschärfen erscheint es als fragwürdig, ob er tatsächlich „eine gewisse Unterordnung des Heiligen Geistes in Kauf nimmt“294, da er diesen mit der anima mundi identifiziert, welche dem höchsten Gott und dem Nous subordiniert sei. Eine solche Deutung greift in doppelter Hinsicht zu kurz: Sie unterliegt erstens einem begrifflichen Harmonisierungsdrang, da sie das ungeklärte Zueinander von figmentum, fabula, similitudo, exemplum und involucrum in den Schriften Abaelards nicht zur Kenntnis nimmt. Sie geht zweitens davon aus, dass Abaelard die Unterscheidung des Macrobius konsequent anwendet und sie konsistent in sein eigenes Theoriegebäude integriert; beides ist nicht der Fall. Abaelard strebt danach seine Theologie an verba catholica auszurichten; diese stehen jedoch nicht dort im Vorder290

Vgl. Th. Sum. 1,42 (Ed. Buytaert/Mews 101, 403-405), Th. Chr. 1,104 (Ed. Buytaert 114, 1333-1336), Th. Sch. 1,164 (Ed. Buytaert/Mews 385, 1892-1894). 291 Vgl. Dörrie, Emanation, 135-141. 292 Vgl. Moos, Literary Aesthetics in the Latin Middle Ages, 90. 293 Bernhard von Silvestris, Super sex libros Eneidos (Ed. Jones 3, 14f.). 294 Klitzsch, Die ‚Theologien’, 161.

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grund, wo er den Cicero-Kommentator Macrobius als philosophische Autorität zur bildhaften Deutung platonischer Texte heranzieht. Wie gestaltet sich Abaelards eigene Vorgehensweise, nachdem er festgestellt hat, dass das, „was über die Weltseele gesagt wird, als Einhüllung [ad inuolucrum] aufzufassen ist“295? Sein Ziel besteht, wie bereits dargestellt, darin, den Anspruch der eigenen Rationalität zu wahren und den Texten Platons einen für den christlichen Leser plausibel erscheinenden Sinn zu geben. Dieses Bemühen Abaelards lässt sich präzise in vier aufeinander aufbauende, von der Forschung noch unbeachtete Arbeitsschritte gliedern: (1) Zunächst wird anhand der Ausführungen Platons eine These formuliert. Zum Beispiel: „Platon sagt, dass die ganze Welt in Wahrheit ein einziges Lebewesen sei.“296 (2) Diese Aussage (1), die noch keine terminologischen Differenzierungen enthält, wird in einem zweiten Schritt einer begrifflichen Analytik (2) unterzogen, indem gängige Definitionen – in diesem Fall aus der Isagoge des Porphyrios – zur Anwendung gelangen. Konkret: „Ein Lebewesen kann [die Welt] freilich nicht sein, wenn sie nicht zur Sinneswahrnehmung fähig ist, da die bekannte Bestimmung des Lebewesens lautet: ‚eine beseelte, zur Sinneswahrnehmung fähige Substanz’.“297 (3) Der Extrapolation einer These (1) und der Anwendung von Definitionen auf ihre Begriffe (2) folgt eine Auswertung, die die Problematik einer wörtlichen, non-integumentalen Hermeneutik298 aufzeigt (3). Dies geschieht durch eine Reihe von Fragen, die den aporetischen Charakter einer ausschließlich am Literalsinn orientierten Interpretation verdeutlichen. Wenn die Definition eines Lebewesens die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung mit einschließt (2), so ergibt sich mit 295

Th. Sum. 1,44 (Ed. Buytaert/Mews 103, 468-470), Th. Chr. 1,197 (Ed. Buytaert 117, 14041407), Th. Sch. 1,167 (Ed. Buytaert/Mews 387, 1960-1963): „Quod si ad inuolucrum deflectamus ea que de anima mundi magnus philosophorum astruit, facile est rationabiliter cuncta accipi nec a sacre fidei tenore exorbitare.“ 296 Th. Sum. 1,48 (Ed. Buytaert/Mews 104, 496f.), Th. Chr. 1,88 (Ed. Buytaert 108, 1167), Th. Sch. 1,145 (Ed. Buytaert/Mews 378, 1706f.): „Quod uero totum mundum unum animal Plato dicit”. Das Zitat bezieht sich auf Platon (Transl. Calcidius), Timaeus 30D (Ed. Waszink 23, 16-20): „Ergo intellegibili substantiae praecellenti principalique naturae omnifariam quoque perfectae deus opifex gigni simile uolens sensibile animal unum et uisibile constituit, naturae suae conuenientia cuncta quae uita fruuntur intra conseptum et limitem suum continens.” 297 Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 101f., 433-435), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 1368-1370), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1925-1927): „Animal quippe esse non potest nisi sensibile sit, cum sit nota diffinitio animalis: ‚substantia animate sensibilis’.” Die genannte Definition des Lebewesens findet sich bei Porphyrios (Transl. Boethius), Isagoge 10,12 (Ed. Minio-Paluello 16). 298 Bezner, Vela Veritatis, 99. 162. 179, prägt den Begriff der „integumentalen Hermeneutik“ um die Methodologie Abaelards zu charakterisieren.

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Blick auf (1) folgendes Problem (3): „Welcher der fünf Sinne aber könnte der Welt einwohnen, außer vielleicht der Tastsinn, der allen Lebewesen gemein ist?“299 Die Frage (3) offenbart, dass die gegebene Definition (2) auf die extrapolierte These (1) nicht im strengen Sinne angewendet werden kann. (4) Dieser Befund wird durch einen Rückbezug auf den zu deutenden Text selbst abgesichert: „Nach dem Zeugnis Platons fehlen ihr [der Welt] nämlich die Werkzeuge der anderen Sinne“300. Durch diese vier Schritte kann Abaelard aufzeigen: Es entspricht der Intention Platons, dem Anspruch der Vernunft und der christlichen Glaubenslehre, die Aussagen des Timaios als involucrum zu deuten. Diese Kriterien sind für Abaelard maßgeblich. „Wenn wir das zu einem involucrum abändern, was ein bedeutender unter den Philosophen über die Weltseele behauptet hat, ist es leicht, dass alles vernunftgemäß aufgefasst wird, ohne von dem Inhalt des heiligen Glaubens abzuweichen“301.

Die Deutung einer paganen Autorität mittels eines involucrum oder integumentum bietet Abaelard die Möglichkeit, diese in Einklang mit der christlichen Dogmatik zu bringen. Dabei beschreitet er einen Mittelweg zwischen einer begrifflich-analytischen Explikation auf der einen und der negativen Theologie auf der anderen Seite. Letzterer entspricht die Einsicht, dass die in den Texten der Platoniker liegende Wahrheit nicht offen zu Tage tritt, sondern nur als verhüllte, gleichnishafte und negativ determinierbare zugänglich ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie sich affirmativen Aussagen gänzlich entzieht: Begriffe und ihre Definitionen müssen vielmehr in strenger Weise auf sie angewendet werden, um ihren verborgenen Gehalt vernunftgemäß zu entschlüsseln. Durch eine methodisch nachvollziehbare Auslegung paganer Quellen gelangt die Theologie somit zu vertieften Einsichten über Gott als ihren Untersuchungsgegenstand.

299

Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 102, 435-437), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 13701372), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1927-1929): „Quis autem ex quinque sensibus mundo inesse poterit nisi forte tactus, qui omnibus est communis animalibus?” 300 Th. Sum. 1,43 (Ed. Buytaert/Mews 102, 437f.), Th. Chr. 1,106 (Ed. Buytaert 116, 1372f.), Th. Sch. 1,166 (Ed. Buytaert/Mews 386, 1929f.): „Desunt quippe ei ceterorum sensuum intrumenta, ipso attestante Platone”. Vgl. Platon (Transl. Calcidius), Timaeus 30C (Ed. Waszink 26, 1-5). 301 Th. Sum. 1,44 (Ed. Buytaert/Mews 103, 468-470), Th. Chr. 1,107 (Ed. Buytaert 117, 14041407), Th. Sch. 1,167 (Ed. Buytaert/Mews 387, 1960-1963): „Quod si ad inuolucrum deflectamus ea que de anima mundi magnus philosophorum astruit, facile est rationabiliter cuncta accipi nec a sacre fidei tenore exorbitare.“

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4. Verisimilitudo als epistemischer Status dogmatischer Aussagen 4.1. Eine kognitionstheoretische Betrachtungsweise Bisher wurde herausgestellt, dass die similitudo-Methodik, die – in der skizzierten Ausprägung – als „proprement abélardienne“302 anzusehen ist, die Erkenntnis eines unbekannten Gegenstandes dadurch ermöglicht, dass sie sowohl seine Identität (‚immerhin’ ähnlich, also nicht völlig ungleich) als auch seine Differenz (‚nur’ ähnlich, also nicht identisch) im Vergleich zu einer bereits bekannten res herausstellt. Sprachlogisch erfolgt dies durch eine übertragene Redeweise (translatio), die entweder ihrer Bedeutung, ihrer Konstruktion oder ihrem Beigefügten nach einen neuen Sinnzusammenhang eröffnet. Der oszillierende Erkenntnisweg zieht die Frage nach dem Erkenntnisstatus nach sich: Welche epistemische Geltung können theologische Aussagen beanspruchen, die durch einen Ähnlichkeitsschluss zustande kommen? Sind sie im strengen Sinne als „wahr“ zu bezeichnen? Um dies zu klären, muss zunächst der zugrunde liegende Wahrheitsbegriff näher bestimmt werden. Wahrheit ist für Abaelard das Ziel jedes kognitiven Aktes, jeder Wissenschaft und jeder Kunst, ganz gleich ob es sich dabei um die Gotteslehre oder die artes liberales handelt. Aus diesem Grund wird sowohl in den logischen als auch in den theologischen Schriften dieselbe Definition vorgetragen. Die Dialectica stellt fest, „est enim scientia veritatis rerum comprehensio“303, in allen Redaktionsstufen der Theologia ist demgemäß von einer „comprehensio ueritatis rerum que sunt“304 die Rede. Diese Aussagen implizieren eine propositionale und eine ontologische Dimension dessen, was Abaelard unter „Wahrheit“ versteht: (1) Zunächst zum sprachlichen Aspekt: Wahrheit als erkannte und artikulierte hat die Form einer Aussage, die etwas auf einen Gegenstand hin prädiziert.305 Eine Tätigkeit (aktiv), ein Erleiden (passiv) oder eine Eigenschaft (deskriptiv) werden einem Gegenstand, sei es in notwendiger, sei es in kontingenter Weise, zugeordnet. Die so entstehende Proposition erhebt den Anspruch, die Wirklichkeit zu beschreiben; sie stellt einen Sachverhalt dar. Jedem Sachverhalt aber ist ein Wahrheitswert zugeordnet. Seine Affirmation ist entweder wahr oder falsch, seine Negation ist demnach ebenfalls entweder wahr oder falsch.306 302

Jolivet, La théologie d’Abélard, 36. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15f.). 304 Th. Sum. 2,7 (Ed. Buytaert/Mews 117, 78f.), Th. Chr. 3,6 (Ed. Buytaert 196, 70f.), Th. Sch. 2,29 (Ed. Buytaert/Mews 421, 447). 305 Vgl. Jacobi, Diskussionen über Prädikationstheorie, 166. 306 Vgl. Dialect. 2,2 (Ed. De Rijk 213, 33-35): „Cum enim omnium affirmationem vel negationum, cuiuscumque sint temporis, necesse est esse alteram veram, alteram autem falsam.” 303

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(2) Die Prädikationen als sprachliche Konstrukte erhalten ihren logischen Wert als wahr oder falsch durch ihr Verhältnis zur Ontologie.307 Eine Aussage ist „wahr, wenn sie sagt, was in der Wirklichkeit ist, und falsch, wenn sie sagt, was in der Wirklichkeit nicht ist.“308 Hier bezeichnet der Wahrheitsbegriff die quidditas oder die Wasbestimmtheit eines Gegenstandes, nicht jedoch den Gegenstand selbst; es geht Abaelard nicht um die res, die einfach und unhintergehbar ‚ist’, sondern um eine an die konkrete res gebundene Beschaffenheit, die intelligibel erfasst werden kann;309 sie wird in der Dialectica als „modus habendi“310 bezeichnet. Insofern jede res irgendeine ihr zukommende Eigenschaft, eine Wasbestimmtheit besitzt, hat sie auch eine ihr innewohnende veritas. Eine Proposition ist auf logischer Ebene wahr, wenn sie sprachlich korrekt artikuliert, was ontologisch gesehen wahr ist. Anders gesagt: Eine Prädikation ist wahr, wenn sie die tatsächlich vorhandene Wasbestimmtheit des Gegenstandes, über den sie eine Aussage trifft, korrekt benennt. Wie aber kann der Intellekt die Wasbestimmtheit eines Gegenstandes – und damit seine Wahrheit – erfassen? Bei dieser Frage fällt dem Ähnlichkeitsbegriff, wie Abaelard ihn in den Porphyriosglossen der Logica Ingredientibus entwickelt, wieder eine entscheidende Rolle zu: Die zu erkennende res hinterlässt in der imaginatio des Menschen ein Bild, das der res ähnlich, aber nicht mir ihr identisch ist.311 Auf dieses Bild greift der Geist zu, wenn ein Gegenstand nicht nur sinnlich wahrgenommen, sondern intelligibel erfasst werden soll. Das eigentliche Objekt der Erkenntnis ist nicht die Form der zu erkennenden Sache selbst, sondern ihre similitudo, wie sie sich als Abdruck in der Vorstellungskraft findet. Der Geist richtet sich nicht auf die forma rei, sondern auf die forma concepta, die in einer Ähnlichkeitsrelation zur forma rei steht.312 Es ist also festzuhalten: Streng genommen erkennt der Geist nicht die Sache an sich (res in se), sondern die Sache als vorgestellte (res ficta) und damit eine Ähnlichkeit der Sache.313 Er erkennt – um diese Einsicht auf die verisimilitudo zuzuspitzen – nicht die Wahrheit selbst, sondern eine Ähnlichkeit der Wahrheit. Wenn Abaelard also behauptet, er wolle als Theologe nicht die Wahrheit, also die Was-Bestimmtheit oder quidditas selbst, sondern nur „etwas Wahrheitsähnliches und der mensch307

Vgl. De Rijk, Peter Abelard’s Semantics and His Doctrine of Being, 123f. Ernst, Petrus Abaelardus, 50. Vgl. auch Jolivet, Abélard ou la philosophie dans le langage, 80. 309 Vgl. Lewis, Determinate Truth in Abelard, 87f. 310 Dialect. 2,1 (Ed. De Rijk 160, 35f.): „Unde quasi quidam rerum modus habendi se per propositiones exprimitur, non res alique designantur.” 311 Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 21, 6): „Nos autem imaginem similitudinem rei dicimus.“ 312 Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 20, 28-30): „Sicut autem sensus non est res sentita, in quam dirigitur, sic nec intellectus forma est rei quam concipit“. 313 Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 21, 35f.): „Cum autem audio ‚Socrates’, forma quaedam in animo surgit, quae certae personae similitudinem exprimit.“ 308

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lichen Vernunft Benachbartes“314 lehren, so nähert er sich der Theologie mit einem der Logik entnommenen Begriffsverständnis, das sich folgendermaßen formalisieren lässt: Ein Gegenstand O kann nicht als O erfasst werden, sondern nur als eine Ähnlichkeit seiner selbst, als SO. Ebenso gilt: Die Wahrheit V kann nicht als V erfasst werden, sondern nur als Ähnlichkeit SV. Die Ähnlichkeit SO steht demnach der unmittelbaren Erkenntnis von O, die unmöglich ist, nicht im Wege, sondern stellt – im Gegenteil – den einzigen Weg dar, etwas Zutreffendes über O sagen zu können. Auf die verisimilitudo (SV) angewendet heißt dies: Wahrheitsähnlichkeit ist keine Minderung der Wahrheitserkenntnis, sondern ihre gnoseologische Voraussetzung und damit der einzig gangbare Weg, um überhaupt etwas über die Wahrheit aussagen zu können. Der Begriff verisimilitudo bringt also in komprimierter Weise die epistemologischen Voraussetzungen von Abaelards Gotteslehre zum Ausdruck, indem er die Möglichkeitsbedingung benennt, unter der überhaupt etwas von Gott erkannt und ausgesagt werden kann. Aufgrund dieser qualitativen Verdichtung, die den Terminus verisimilitudo auszeichnet, nicht wegen seiner quantitativ häufigen Erwähnung, eignet er sich, um Abaelards theologische Erkenntnislehre prägnant zu charakterisieren. Deshalb dient er der vorliegenden Studie als Titel.

4.2. Theologische Beweisgänge: Wahrheit und ihre Erfassbarkeit Bernhard von Clairvaux erhebt den Vorwurf, Abaelard lasse nichts im Himmel und auf Erden unerforscht, ihm sei einzig die Aussage „ich weiß es nicht“ fremd („nihil, praeter solum ‚nescio‘, nescire dignatur“315). Dies wirft die Frage nach dem epistemischen Status dogmatischer Aussagen auf. Hat Abaelard wirklich den Anspruch, Theologie im erkenntnismäßigen Modus des reinen und sicheren Wissens, der scientia, zu treiben? Die Wahrheit Gottes – seine ontische Was-Bestimmtheit – lässt sich, so Abaelard, nicht in die Form derjenigen Aussagen bringen, die für die geschöpf-

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Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 233-236): „[…], sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinum nec sacre scripture contrarium proponere libet aduersus eos qui humanis rationibus fidem se inpugnare gloriantur“. 315 Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 1,1 (Ed. Leclerq/Rochais 17,20-18,4): „Qui dum omnium quae sunt in caelo sursum et, quae sunt in terra deorsum, nihil, praeter solum ‚Nescio’, nescire dignatur, ponit in caelum os suum et scrutatur alta Dei, rediensque ad nos refert verba ineffabilia, quae non licet homini loqui; et dum paratus est de omnibus reddere rationem, etiam quae sunt supra rationem, et contra rationem praesumit, et contra fidem.“

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lichen Dinge verwendet werden; auf Gott hin ist nichts „quidditative“316 prädizierbar. Dies ist eine Grundeinsicht Abaelards, durch die er den epistemischen Status seiner theologischen Überlegungen kennzeichnet: Er könne nicht versprechen, „die Wahrheit zu lehren, von der feststeht, dass weder wir noch irgendein Sterblicher sie weiß“317. Das Erheben eines univoken Wahrheitsanspruchs auf dogmatische Aussagen, die das Wesen Gottes betreffen, ist also epistemologisch nicht gerechtfertigt. An dieser Stelle tritt ein skeptisches Moment im Denken Abaelards auf; die Möglichkeit rechter Erkenntnis wird zwar nicht verneint, aber relativiert. Er ist von einem „durchdringenden und unabänderlichen“318 Zweifel geprägt: Die Wahrheit Gottes, seine quidditas, ist dem menschlichen Intellekt nicht einsehbar, so dass der Mensch über Gott kein Wissen im strengen Sinne, also eine Erkenntnis bei gleichzeitiger Gewissheit, dass diese auch wahr ist, erwerben kann. Dogmatische Aussagen stellen keine simplen Identitäten durch den Gebrauch einer Kopula her, sondern müssen sich – um gnoseologisch verantwortbar zu bleiben – ständig des Momentes der Differenz bewusst sein. Neben diesem erkenntnistheoretischen Argument wird auch ein auf den Glauben rekurrierendes eingeführt. Dies zeigt sich an einer leichten Modifikation des Wortlautes im Laufe der Überarbeitungen, die die Theologia Christiana erfahren hat. Sie sind bezeugt in den Handschriften C und T.319 In beiden Manuskripten wird der bereits zitierte Satz, Abaelard maße es sich nicht an, die Wahrheit selbst zu lehren, weil kein Sterblicher sie erkennen könne, nicht mehr als einfach feststehende Tatsache eingeführt („constat“), sondern als dem Glaubensgut („credimus“320) zugehörig. Es ist also nicht nur von Seiten der metaphysischen Erkenntnistheorie, sondern auch aus der Perspektive des Glaubens problematisch, für dogmatische Aussagen schlicht das Wahrheitsprädikat zu beanspruchen, zumal Abaelard des Öfteren – in Anlehnung an Joh 14,6 – Christus selbst als „die Wahrheit“ bezeichnet.321 Wenn dogmatische Aussagen aufgrund der Unfasslichkeit ihres Gegenstandes keinen Anspruch auf Wahrheit im strengen Sinne erheben können, sie aber dennoch nicht als falsch, 316

Rózycki, Doctrina Petri Abaelardi de Trinitate I, 86. Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 232f.): „De quo quidem nos docere ueritatem non promittimus, quam neque nos neque aliquem mortalium scire constat”. 318 Sweeney, Rewriting the Narrative of Scripture, 4: „His doubt is so pervasive and irremediable that it makes inquiry impossible.“ 319 Zum Handschriftenbefund vgl. Mews, Peter Abelard’s (Theologia Christiana) and (Theologia Scholarium) re-examined, 137f. 320 Th. Chr. 3,54 CT (Ed. Buytaert 217, 693-697), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 414, 240242): „De quo quidem nos docere ueritatem non promittimus, ad quam neque nos neque aliquem mortalium sufficere credimus“. In der Th. Chr. R findet sich weiterhin die Rede von „constat”. 321 Vgl. zum Beispiel die Wendung in Th. Sum. 1,33 (Ed. Buytaert/Mews 97, 318f.), die ein Zitat des Jesuswortes aus Mt 7,22f. mit „die Wahrheit sagt im Evangelium“ (ueritas in euangelio) einleitet. 317

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das heißt dem Wesen Gottes widersprechend, zu bezeichnen sind, so muss die Frage nach ihrem epistemischen Status jenseits der logischen Wertigkeiten von ‚wahr’ und ‚falsch’ bestimmt werden. Hierzu verwendet Abaelard erneut den Ähnlichkeitsbegriff. Trotz der Tatsache, dass die Wahrheit von Seiten des Menschen nicht intelligibel erfasst und sprachlich ausgedrückt werden kann, „ist es dennoch erlaubt, etwas Wahrheitsähnliches [uerisimile] und der menschlichen Vernunft Benachbartes, der heiligen Schrift aber nicht Entgegengesetztes gegen diejenigen vorzutragen, die sich rühmen, den Glauben mit menschlichen Vernunftgründen anzugreifen“322.

Hier tritt Abaelards apologetisches Bemühen und sein bereits skizziertes Konzept der ‚defensiven Rationalität’ deutlich zu Tage. Da der Glaube von rationalistischer Seite attackiert wird, muss ein epistemischer Status der Entgegnung gefunden werden, der es ermöglicht, in affirmativer Weise von Gott zu sprechen. Für die Gültigkeit solcher Aussagen nennt Abaelard in der zitierten Passage drei Kriterien: (1) Die sich auf eine rationale Argumentation einlassende Apologetik darf nicht denselben Kurzschluss begehen wie die Häretiker, gegen die sie vorgeht. Sie ist nicht mit einem absoluten epistemischen Wahrheitsanspruch ausgestattet, sondern kann dem, was ihre Gegner als veritas verkünden, lediglich in Form der verisimilitudo entgegen treten. Eine adäquate Übersetzung dieses Begriffs erscheint schwierig: Während sich den modernen romanischen Sprachen und dem Englischen dieses Problem nicht stellt, erscheint eine Übertragung ins Deutsche, die von „Wahrscheinlichkeit“ spricht,323 als defizitär, weil die heutige Auffassung von „Wahrscheinlichkeit“ stark von den modernen Naturwissenschaften geprägt ist: Ein Ereignis ist diesem Verständnis nach als wahrscheinlich zu bezeichnen, wenn die Gründe, die für sein Eintreten sprechen, stärker zu gewichten sind (nach welcher Maßzahl oder Einheit, ist jeweils zu präzisieren) als die Gründe, die dagegen sprechen. Dennoch tritt das Ereignis nicht mit Notwendigkeit ein, sondern könnte auch nicht eintreffen. Dieses Verständnis des Begriffs wird auch als Ereignis-Wahrscheinlichkeit oder Propensität bezeichnet.324 Überträgt man die genannte Definition auf den epistemischen Status einer Aussage, so hieße dies, dass es zwar gute Gründe gibt um anzunehmen, dass eine Aussage wahr ist, sie aber gleichzeitig (wenn auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit) falsch sein könnte. Dies entspricht jedoch nicht der Intention Abaelards, dem es um die Feststellung geht, dass eine dogmatische Aussage über Gott nie im absoluten Sinne 322

Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 233-236): „[…], sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinum nec sacre scripture contrarium proponere libet aduersus eos qui humanis rationibus fidem se inpugnare gloriantur“. 323 Sowohl Niggli, Theologia Summi boni, 83, als auch Perkams, Theologia Scholarium, 255, übersetzen „verisimilitudo“ mit „Wahrscheinlichkeit“. 324 Vgl. Knebel, Art. Wahrscheinlichkeit – Scholastik, 260.

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wahr ist, weil sie auf propositionaler Ebene nicht die ontische Beschaffenheit Gottes adäquat ausdrückt; sie ist andererseits aber auch nicht falsch, weil der Mensch aufgrund der similitudo-Methode durchaus in der Lage ist, Zutreffendes über Gott auszusagen. Verisimilitudo ist also kein Synonym zu probabilitas. Erstere drückt nämlich nicht im Sinne einer Wahrscheinlichkeitskalkulation die Alternative zwischen ‚möglicherweise wahr’ und ‚möglicherweise falsch’ aus, sondern bezeichnet zugleich Identität (‚immerhin’ der Wahrheit ähnlich) und Differenz (der Wahrheit ‚nur’ ähnlich). Probabilitas hingegen, die dem deutschen Begriff ‚Wahrscheinlichkeit’ am nächsten kommt, bezeichnet – in der Sprache Abaelards – eine gewisse Einschätzung über das Eintreffen eines noch indeterminierten, zukünftigen Ereignisses. Dieses contingens futurum, wie es in der Dialectica umschrieben wird, „neigt nicht mehr zum Sein als zum Nicht-Sein, sondern gleichermaßen zu beiden.“325 Ein solches Verständnis der durch Wahrscheinlichkeitskalkulationen einkreisbaren kontingenten Zukunft lässt sich mit dem in der Theologia eingeführten Begriff der verisimilitudo nicht verbinden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint die Einführung des Neologismus „Wahrheitsähnlichkeit“ als deutsches Synonym zu verisimilitudo – trotz seines Kunstwortcharakters – gerechtfertigt. (2) Versucht man aus dem Begriff der verisimilitudo einen Rückschluss auf den Erkenntnisradius der menschlichen Vernunft zu ziehen, so zeigt sich, dass diese zwar nicht in der Lage ist, das Wesen Gottes vollständig zu erfassen, aber dennoch die Fähigkeit besitzt, gültige Aussagen über ihn zu treffen. Abaelard bezeichnet die auf Gott bezogenen Propositionen als „etwas der menschlichen Vernunft Benachbartes [humane rationi uicinum]“326. Dogmatische Aussagen entziehen sich also – trotz ihres limitierten Wahrheitsanspruches – nicht der kritischen Prüfung durch die menschliche Vernunft. Sie müssen sich vielmehr vor der ratio bewähren, die zwar das An-und-für-sich Gottes nicht erkennen kann, wohl aber in der Lage ist zu prüfen, „was wahrheitsähnlich und in Bezug auf die philosophischen Argumente, mit denen wir angegriffen werden, besonders zutreffend ist“327. Von einem Relativismus Abaelards kann demnach keine Rede sein, da das Konzept der verisimilitudo erstens von dem tatsächlichen Vorhandensein einer Wahrheit ausgeht und diese zweitens auch als intelligibel zugänglich ansieht – wenn auch nur im Modus der Ähnlichkeit. Mit Blick auf die 325

Dialect. 2,2 (Ed. De Rijk 211, 18-22): „Futuri quoque due rursus dicuntur species, naturale scilicet et contingens futurum. Contingens autem futurum appellant quod ad utrumlibet se habet, idest quod non magis ad esse se habet quam ad non esse, sed equaliter ad utrumque, ut me hodie pransurum esse vel lecturum.“ 326 Vgl. Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 234), Th. Chr. 3,54 (Ed. Buytaert 217, 698), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 414, 242f.). 327 Th. Sum. 2,27 (Ed. Buytaert/Mews 123, 244-246), Th. Chr. 3,57 (Ed. Buytaert 218, 745f.): „[…] quid uerisimile sit ac maxime philosophicis consentaneum rationibus quibus impetimur, dicturum me arbitror”.

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Untersuchungsmethode rekurriert Abaelard auf die Dialektik, um die Häretiker, die sich ebenfalls dieses Instrumentariums bedienen, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Tatsache, dass der Logik eine Ambivalenz innewohnt, die sowohl für als auch gegen die Glaubenslehre genutzt werden kann, ist für Abaelard kein Argument, um diese ars von der Theologie fernzuhalten. In der Theologia Christiana wird dieser Aspekt – als Reaktion auf innerkirchliche Kritik – besonders betont. Ein pragmatischer und ein dogmatischer Grund sprechen für einen Einsatz der Dialektik innerhalb der Theologie: Zum einen stellt eine Entgegnung mit den Mitteln der Logik die einzige Möglichkeit dar, den Häretikern wirksam Einhalt zu gebieten, zum anderen ist es – ganz im Sinne der ethischen Rechtfertigung jeder Wissenschaft – Gott selbst, der „alle artes, die seine Gaben sind“328, ordnet und sie zum Nutzen des Glaubens einsetzbar macht. (3) Die dialektische Argumentation hat sich jedoch, sofern sie den Bereich der Gotteslehre betritt, an den loci des Glaubens zu orientieren: Die Theologia Summi Boni formuliert, dass die aus apologetischem Antrieb vorgetragenen Vernunftgründe der Schrift nicht widersprechen dürften („nec sacre scripture contrarium“329), ab der Theologia Christiana wird hingegen das gesamte Glaubensgut („nec sacrae fidei contrarium“330) als Richtschnur benannt; Abaelard gibt dabei keine spezifische Bezeugungsinstanz für den Glauben an. Der Mensch ist also – hierin ist Abaelard im erkenntnistheoretischen Sinne ein „Dogmatiker“ – in der Lage, Zutreffendes über Gott auszusagen. Er kann dies jedoch nicht – darin ist Abaelard „Skeptiker“ – im epistemischen Modus des Wissens tun, da ihm die volle Einsicht in die Wahrheit verwehrt bleibt: „Was wahr ist, wird der Herr wissen“331, weil er – offenbarungstheologisch mit Blick auf den Sohn zugespitzt – selbst die Wahrheit ist (Joh 14,6) und weil er – der Fähigkeit des göttlichen Intellekts entsprechend – in der Lage ist, die Wasbestimmtheit jedes Gegenstandes vollständig, ohne ein nicht aktuiertes Restpotential, zu erfassen. Um diese absolute und erschöpfende Kognitionskraft von derjenigen des Menschen abzugrenzen, präzisiert Abaelard den epistemischen Status menschlicher Aussagen durch Antithesen: Der Mensch könne nur „einen Schatten, nicht die Wahrheit“ an sich („umbram, non ueritatem“) zur Sprache bringen und treffe damit „eine gewisse Ähnlichkeit, nicht die Sache“ selbst

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Th. Chr. 3,54 (Ed. Buytaert 217, 706-710), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 250-254): „Absit enim hoc ut credamus Deum, qui malis quoque ipsis bene utitur, non bene etiam omnes artes quae eius dona sunt ordinare, ut hae quoque eius maiestati deseruiant, quantumcumque male his abutantur peruersi!“ 329 Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 234f.). 330 Th. Chr. 3,54 (Ed. Buytaert 217, 699), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 414, 243). 331 Th. Sum. 2,27 (Ed. Buytaert/Mews 123, 244), Th. Chr. 3,57 (Ed. Buytaert 218, 742): „Quid uerum sit, nouerit dominus”.

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(„similitudinem quandam, non rem“332). Die Gegenüberstellung ‚Wahrheit versus Schatten’ sowie ‚Gegenstand selbst versus Ähnlichkeit zu einem Gegenstand’ zeigt auffällige Parallelen zur platonischen Erkenntnismetaphysik, womit in Ergänzung zu Marenbons Zählung333 eine weitere Spielart von Abaelards komplexem Verhältnis zum Platonismus gefunden wäre. Im Höhlengleichnis etwa erfassen die am Boden Festgeketteten nur die Schatten der hinter ihnen vorbei getragenen Dinge, nicht aber die Wahrheit der Dinge im Sinne ihrer quidditas; die Höhlenbewohner müssen sich deshalb mit einer bloßen Ähnlichkeit zufrieden geben, ohne zur Anschauung der Sache selbst zu gelangen.334 Methodisch ist an dieser Stelle anzumerken, dass Abaelard keine direkte Kenntnis von Platons Politeia hatte; ihm stand lediglich die Timaios-Übersetzung des Calcidius zur Verfügung. Dennoch war er durch neuplatonischen Autoren, allen voran Macrobius, sowie durch die Ausführungen des Boethius mit der Lichtmetaphorik vertraut, derer sich Platon bedient, um Prozesse der Erkenntnis zu erläutern.335 Die abaelardschen Antithesen lassen für die Frage nach dem epistemischen Status der menschlichen Aussagen über Gott folgenden Rückschluss zu: Ihnen kommt keine Wahrheit im strengen Sinne zu, weil dieser Terminus die vollständige Erfassung eines Gegenstandes impliziert, der nach genus und species klassifiziert wird. Da Gott als unendliches Wesen einerseits die Kognitionskraft des Menschen übersteigt und sich nicht auf einen Verstandesbegriff bringen sowie nach Kategorien einordnen lässt, andererseits aber der ratio humana auch nicht völlig entzogen ist, sondern sich ihr in vermittelter Weise zeigt, sind dogmatische Aussagen ihrem erkenntnistheoretischen Status nach als wahrheitsähnlich, als verisimile, zu bezeichnen.

5. Zusammenschau: Die Logik und ihre Grenzen Die Untersuchung der Methoden, die Abaelard seiner Gotteslehre zugrunde legt, hat gezeigt: Die von der Sprachlogik bereitgestellten Instrumente – similitudo, 332

Th. Sum. 2,27 (Ed. Buytaert/Mews 123, 241-244), Th. Chr. 3,57 (Ed. Buytaert 218, 742744): „Quicquid itaque de hac altissima philosophia disseremus, umbram, non ueritatem esse profitemur, et quasi similitudinem quandam, non rem.“ 333 Vgl. Marenbon, The Platonisms of Peter Abelard, 110. 119. 122, 334 Vgl. Platon, Politeia VII 514a 1 – 517a 7. 335 Bei Niggli, Theologia Summi boni, 317, findet sich die Behauptung, Abaelard nehme häufig in indirekter Weise Bezug auf Johannes Scottus Eriugena. Dieser wird jedoch namentlich an keiner Stelle erwähnt. Dronke, Fabula, 60, erklärt dies damit, dass Eriugena im zwölften Jahrhundert als Häretiker galt und eine explizite Erwähnung Zweifel an Abaelards Rechtgläubigkeit genährt hätte. Falls die These Nigglis und Dronkes zutrifft, wäre damit ein weiterer neuplatonischer Autor benannt, auf den Abaelard Bezug nehmen konnte.

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translatio sowie die Regeln sakraler und paganer Texthermeneutik – nehmen eine herausgehobene Stellung ein. Abaelards Methodologie lässt sich deshalb mit dem Interpretationsbegriff der Theo-Logik im wörtlichen Sinne umschreiben: Es geht ihm um eine Gewinnung theologischer Erkenntnisse durch die Anwendung der Logik, die die Gesetze des Denkens und Sprechens untersucht. Diese Einsicht muss jedoch spezifiziert werden: Der Glaube ist vernunftgemäß analysierbar, nicht aber von der Vernunft her konstruierbar. Die Arbeitsunterscheidung zwischen Konstruktion und Analyse benennt zwei Ebenen, auf denen die Dialektik zur Anwendung kommen kann: (1) Wenn Glaubenssaussagen das Ergebnis einer reflexiven Anstrengung des Subjekts sind, so werden diese nicht als gegeben betrachtet, sondern von der Rationalität des Einzelnen her konstituiert. Demnach wäre es der intelligbel tätige Geist des Menschen, der den Glauben konstruiert. Diese Sichtweise lehnt Abaelard ab; er bezeichnet ihre Anhänger als „Pseudo-Dialektiker“ und „PseudoChristen“336. (2) Abaelards eigene Theo-Logik setzt nicht bei der rationalen Konstruktion von Glaubensaussagen, sondern bei der Analyse bereits gegebener, auf Gott bezogener Propositionen an. Den Ausgangspunkt dieser Bemühung bildet das Datum der fides, auf das erst im Nachhinein die Methoden der Logik angewendet werden, um zu verstehen und rational zu verteidigen, was der Christ bereits glaubend voraussetzt. Stand die Zusammenfassung des zweiten Teils dieser Studie, der es um den Grund der Gotteserkenntnis ging, unter dem Leitmotiv ‚Subjektivität und ihre Grenzen’, so zeigt sich in Abaelards Methodenlehre die Bedeutung der ‚Logik und ihrer Grenzen’: Das Wie der Erkenntnis, also die Art und Weise, epistemologisch relevantes Material zu ordnen, geschieht nach den Regeln der Dialektik;337 das Material selbst wird jedoch nicht spontan-kreativ durch die Logik hervorgebracht, sondern ist von ihr rezeptiv-interpretierend hinzunehmen. Similitudo, translatio und die Regeln der Textdeutung sind nicht der Ausgangspunkt der fides, sondern der Ansatzpunkt ihres reflexiven Verstehens, der intelligentia fidei.338 Während der Glaube sich auf die Wahrheit selbst richtet, die in Anlehnung an Joh 14,6 mit Jesus Christus identifiziert wird,339 bringt die mit den Mitteln der Logik zu erfolgende Reflexion lediglich „etwas

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Vgl. Epist. 14 (Ed. Smits 280, 41). Roscelin von Compiègne wird als „pseudo-dialecticus […] et pseudo-christianus“ bezeichnet. 337 Vgl. Th. Chr. 4,85 CT (Ed. Buytaert 305, 1260-1266). 338 Vgl. th. sch. 19 FH und T (Ed. Buytaert 407, 187-189), Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 322, 125f.). 339 Vgl. zum Beispiel Th. Sum. 1,33 (Ed. Buytaert/Mews 97, 318f.).

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Wahrheitsähnliches und der menschlichen Vernunft Benachbartes“340 hervor. Durch die Verbindung der Begriffe veritas und similitudo fasst Abaelard die Möglichkeiten wie auch die Grenzen der Logik paradigmatisch zusammen: Der Mensch kann Zutreffendes über Gott sagen, aber nicht im strengen prädikatorischen Sinne als veritas, sondern nur im Status der similitudo, weil Gott sowohl das Denken als auch die Sprache übersteigt. Die vis copulandi des Verbs esse, das dazu dient, Identitätsrelationen herzustellen, kann Gottes quidditas nicht erfassen; umgekehrt besteht aber keine völlige Differenz zwischen Gott und dem Menschen, weil beide in einer seinsmäßigen Ähnlichkeitsrelation zueinander stehen, die es erkenntnismäßig ermöglicht, positive Aussagen über Gott im Status der verisimilitudo zu treffen. Abaelard veranschaulicht dies durch eine platonische Metaphorik: Der Mensch erkennt – wie die Angeketteten in Platons Höhlengleichnis341 – nur einen Schatten, nicht die Wahrheit selbst, nur eine Ähnlichkeit, nicht den Gegenstand an sich.342 Das Schauen der Wahrheit (cognoscere), die Christus selbst ist – oder in der Bildsprache Platons: der Übergang vom Schatten zum Licht – bleibt der Vollendung, der visio vorbehalten,343 die sich jenseits der Logik und ihrer Grenzen bewegt, mit denen sich der Geist des irdischen Menschen begnügen muss.

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Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 233-236): „[…], sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinum nec sacre scripture contrarium proponere libet aduersus eos qui humanis rationibus fidem se inpugnare gloriantur“. 341 Vgl. Platon, Politeia VII 514a 1 – 517a 7. 342 Vgl. Th. Sum. 2,27 (Ed. Buytaert/Mews 123, 241-244), Th. Chr. 3,57 (Ed. Buytaert 218, 742-744): „Quicquid itaque de hac altissima philosophia disseremus, umbram, non ueritatem esse profitemur, et quasi similitudinem quandam, non rem.“ 343 Vgl. th. sch. 19 (Ed. Buytaert 409, 227f.), Th. Sch. 1,12 (Ed. Buytaert/Mews 323, 150f.) sowie Augustinus, Tractatus in Evangelium Iohannis 40,9 (Ed. Willems 355).

IV. Reichweite und Grenzen des rational Einsehbaren: Das höchste Gut und Gottes Handeln in der Welt

1. Die perfectio summi boni als propädeutischer Zugang zur Gotteslehre 1.1. Abaelards methodisches Vorgehen: Von der Sprache zum Sein Der zentrale Begriff, den Abaelard zur Umschreibung Gottes heranzieht, ist der des summum bonum: Der Terminus findet sich – syntaktisch vorangestellt und dadurch betont – zu Beginn der ersten beiden Bearbeitungsstufen der Theologia: „Die Vollkommenheit des höchsten Gutes, das Gott ist, unterschied Christus, der Herr, Gottes fleischgewordene Weisheit selbst, sorgfältig, indem er drei Namen beschrieb“1: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Zu Beginn seiner eigenen spekulativen Ausführungen beruft sich Abaelard auf den modus loquendi2 Jesu. Er beginnt seine Untersuchung des höchsten Gutes mit einer Analyse der Sprache: Jesus habe unterschieden (distinguere), indem er beschrieben habe (describere). Auch wenn diese Beobachtung zunächst simpel erscheinen mag, drückt sie doch – wie Jolivet betont – ein bestimmtes Verhältnis zwischen Sprache und Sein aus: Abélard „aura donc commencé par se placer au plan du langage avant de passer à celui de l’être.“3 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine Aussage wahr ist, wenn sie Eigenschaften, die einem Gegenstand onto-

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Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-8), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-6): „Summi boni perfectionem quod deus est, ipsa dei sapientia incarnata Christus dominus describendo tribus nominibus diligenter distinxit, cum unicam et singularem, indiuiduam penitus ac simplicem substantiam diuinam patrem et filium et spiritum sanctum tribus de causis appellauerit.“ Vgl. Pinzani, The Logical Grammar of Peter Abelard, 54. Jolivet, Arts du langage, 278.

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logisch zukommen, auch propositional korrekt prädiziert.4 Der Wahrheitsgehalt eines Satzes ist also abhängig von der Struktur derjenigen res, über die er eine Aussage trifft. Es besteht ein Entsprechungszusammenhang zwischen Sprache und Sein: Die Ebene der Sprache erhält ihren propositionalen Wahrheitswert durch die Ebene des Seins und deren ontologische Wahrheit. Die Bindung der Sprache an das Sein lässt aber auch einen Rückschluss von erstgenannter auf das letzteres zu: Wird eine Aussage als wahr anerkannt, so bedeutet dies, dass sie die Struktur der Wirklichkeit korrekt beschreibt und dadurch intelligibel erfassbar macht. Von welcher Aussage aber kann mit Sicherheit gelten, dass sie wahr ist? Bei dieser Frage rückt der Autoritätsbezug der Theologie wieder in den Blick: Die Heilige Schrift, allen voran die in den Evangelien überlieferten Worte Jesu, zeichnen sich für Abaelard durch Inerranz aus und stehen in der Hierarchie der auctoritates an oberster Stelle; sie genießen die höchste confirmatio5 und sind vonseiten der Theologie notwendig als wahr zu erachten. Aus der skizzierten Verschränkung zwischen der Sprachlogik auf der einen und der dogmatischen Prinzipienlehre auf der anderen Seite wird verständlich, warum Abaelards Trinitätstheologie – wie Jolivet zutreffend beobachtet – „au plan du langage“6 beginnt: Da die Aussagen Jesu und damit auch seine Lehren (distinctiones und descriptiones) über Gott notwendigerweise als wahr angesehen werden, bieten sie eine sichere propositionale Grundlage, von der aus ontologische Rückschlüsse auf das Sein Gottes ermöglicht werden. Innerhalb dieses Referenzrahmens ist es für Thesen darüber, wie Gott ist, unentbehrlich, darauf zu hören, was Christus über ihn aussagt. Abaelard bemüht sich aus diesem Grund, seine Lehre über Gott als das summum bonum bereits in der Verkündigung Jesu nachzuweisen und sie dadurch argumentativ abzusichern. Weil die Sprache das Sein Gottes aber nicht im umfassenden Sinne „bezeichnen“7 kann – das esse ipsum übersteigt die signifikativen Fähigkeiten jedes Wortes – öffnet sich eine Kluft zwischen der Wirklichkeit auf der einen und ihrer sprachlichen Artikulation auf der anderen Seite. Diese Problematik thematisiert Sweeney bei ihrem Versuch, eine hermeneutische Leitperpektive zur kohärenten Interpretation von Abaelards Gesamtwerk zu entwickeln: Es bestehe ein tiefer Graben zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Die Sprache diene dazu, diese Lücke ansatzweise zu überbrücken, ohne sie

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Vgl. Dialect. 2,1 (Ed. De Rijk 156, 22-30) sowie Dialect. 2,2 (Ed. De Rijk 204, 33f.): „Inde enim vera dicitur quia illum generat de re aliqua intellectum vel quia dicit illud quod in re est.” Vgl. Sic et Non, prol. (Ed. Boyer/McKeon 96, 189-191): „Quod si forte adeo manifesta sit controuersia ut nulla possit absolui ratione, conferendae sunt auctoritates, et quae potioris est testimonii et maioris confirmationis potissimum retinenda.“ Jolivet, Arts du langage, 278. Vgl. De Rijk, La signification de la proposition, 547-555.

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jedoch schließen zu können.8 Da die Sprache jedoch die einzige Möglichkeit des Menschen sei, seine intelligiblen Erkenntnisse in Form prädikativer Aussagen miteinander in Beziehung zu setzen und so die Welt, die ihn umgibt, zu deuten, sei die Sprache, so Sweeney, auch das einzige Medium, um Erkenntnisse über Gott – zumindest bruchstückhaft – zu Tage zu fördern. Aufgrund dieser Deutung lässt sich die eingangs getroffene Feststellung konkretisieren, derzufolge Abaelard zuerst auf der Ebene der Sprache ansetzt, um danach auf die des Seins vorzustoßen: Es kann sich dabei nicht um eine rein zeitliche Abstufung zweier nacheinander zu untersuchender Gegenstände handeln (erst die Sprache, dann das Sein). Abaelard gesteht vielmehr der Sprachanalytik eine gnoseologische Priorität zu: durch die Sprache zum Sein. Die Ontologie betreibt also – methodisch betrachtet – die Analyse von Termen. Auf die Theologie angwendet lässt sich sagen: Gottes Sein wird – im Rahmen der menschlichen Begrenztheiten – bruchstückhaft erfassbar, wenn Propositionen untersucht werden, die dieses Sein beschreiben (describere) und unterscheiden (distinguere) – was Jesus selbst mit göttlicher Autorität getan hat. Dieser Ansatz greift auf die von Augustinus in De doctrina christiana entwickelte Zeichentheorie zurück. Dem Bischof von Hippo zu Folge bezieht sich jede Lehre entweder auf Zeichen (signa) oder auf Dinge (res):9 Aufgabe der signa ist es, die Dinge zu bezeichnen, ihnen eine significatio zuzuordnen. Betrachtet man die Gotteslehre unter dieser semiotischen Prämisse, so nimmt jedes innerweltliche Ding die Funktion eines Zeichens ein, das auf Gott als einzige res im absoluten Sinne verweist, die nur genossen werden kann (frui), nicht aber als hintergehbares Zeichen einer anderen Wirklichkeit zu gebrauchen ist (uti).10 Durch die dogmengeschichtliche Einordnung wird Abaelards sprachanalytische Methode der Gotteslehre verständlicher: (1) Jede Untersuchung eines Gegenstandes kann nur durch die Untersuchung von Zeichen gelingen,11 weshalb jede intelligentia fidei bei einem Verständnis der Glaubenssätze ihren Ausgang nimmt. Es geht Abaelard um „ein Verstehen des grammatischen Sinnes der Offenbarungsaussagen“12. Umgekehrt ist jede Fehler8

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Vgl. Sweeney, Logic, Theology and Poetry, 63f.: „First, the gap between word and meaning is for him [sc. Abelard] a version of the gap between surface and depth; second, language becomes the medium for dealing with that gap.“ Vgl. Augustinus, De doctrina christiana I 2,2 (Ed. Martin 7, 22f.): „Omnis doctrina uel rerum est uel signorum, sed res per signa discuntur.” Vgl. Augustinus, De doctrina christiana I 5,5 (Ed. Martin 9, 1-4): „Res igitur, quibus fruendum est, pater et filius et spiritus sanctus eademque trinitas, una quaedam summa res communisque omnibus fruentibus ea, si tamen res et non rerum omnium causa, sit tamen et causa.” Vgl. Sweeney, Hugh of St. Victor, 70-73. Cottiaux, La conception de la théologie chez Abélard, 548f.: Abélard „ramène l’intelligentia fidei aux proportions d’une connaissance indirecte de l’objet de la foi ou d’une compréhension du sens grammatical des énoncés de la révélation“.

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kenntnis auf formaler, nicht auf kausaler Ebene, das Ergebnis einer Missdeutung von Zeichen. (2) Da Gott einerseits das einzige Wesen ist, das eine absolute, nicht semiotisch relativierbare res darstellt, Gott andererseits aber auch nicht adäquat zu bezeichnen ist, ergibt sich die Tatsache, dass wir – so Sweeneys Deutung – „auf den Bereich von Zeichen beschränkt sind, die versuchen, das Bezeichnete zu erreichen (und dabei immer zu einem gewissen Grad versagen)“13. Die Sprache ist also zugleich Möglichkeit und Grenze der Gotteserkenntnis: Die Untersuchung von Gottes Sein muss methodisch bei der Untersuchung von Propositionen ansetzen, auch wenn Gott durch die Sprache nicht adäquat bezeichnet werden kann. Die Theologie Abaelards steht vor dem Dilemma, das ihrem methodischen Müssen, welches in der Verwiesenheit auf die Sprache besteht, kein adäquates inhaltliches Können gegenüber steht, weil Gott jede vis significativa übersteigt. Aus diesem Grund kommt dogmatischen Aussagen der epistemische Status der verisimilitudo, nicht der veritas im strengen Sinne zu – der Leitbegriff, der den Titel der vorliegenden Arbeit bildet, kommt auch in diesem Zusammenhang zum Tragen. Abaelard setzt bei einer Analyse der Verkündigung Jesu Christi an, weil das Sein Gottes am treffendsten in der Sprache des fleischgewordenen Wortes zum Ausdruck kommt, dessen Sendung sich darin konkretisiert, dass „das Licht der göttlichen Weisheit durch diese Inkarnation den Fleischlichen leuchtete“14. Demnach ist der Ansatz bei der biblischen Autorität kein beliebiger unter vielen, sondern innerhalb des ontologischen und sprachtheoretischen Referenzrahmens Abaelards der einzig mögliche.

1.2. Der Begriff des summum bonum Welche positiven Aussagen lassen sich über Gott treffen? Ausgehend von dem Befund, dass Jesus von Gott als dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist spricht, bringt Abaelard die Eigennamen mit gewissen Eigenschaften in Verbindung: Er identifiziert den Vater mit der Macht (potentia), den Sohn mit der Weisheit (sapientia) und den Heiligen Geist mit der Güte15 (benignitas).

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Sweeney, Logic, Theology and Poetry, 1: Since „God is the thing which cannot be expressed, we are confined within the realm of signs trying (and always to some degree failing) to reach the signified, inhabiting a world of words/signs in the absence of things.“ Th. Sum. 3,44 (Ed. Buytaert/Mews 176, 545-547), Th. Chr. 4,60 (Ed. Buytaert 291, 867f.): „Hoc enim his uerbis ostenditur cum dicitur ‚filius dei est incarnatus’, lumen diuine sapientie per hanc incarnationem carnalibus effulsisse.“ Der Begriff „benignitas“ ist nicht eindeutig zu übersetzen. Während Niggli, Theologia Summi boni, 5, ihn als „Güte“ interpretiert, bevorzugt Perkams, Theologia Scholarium, 61, die Rede von „Wohlwollen“.

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„So bedeutet also, Gott sei drei Personen, das heißt Vater, Sohn und Heiliger Geist, als ob wir sagen würden, die göttliche Substanz sei mächtig, weise und gütig, ja vielmehr die Macht selbst, die Weisheit selbst und die Güte selbst.“16

Der Ternar potentia, sapientia und benignitas stellt eine Konstante in den trinitätstheologischen Bemühungen Abaelards dar. Inwiefern er der alleinige Urheber ist, bleibt umstritten;17 sein etwas jüngere Zeitgenosse Hugo von Sankt Viktor verwendet die Trias ebenfalls.18 Sie gehört aber nicht zum Gemeingut der Zeit, da Bernhard von Clairvaux sie polemisch referiert und heftig kritisiert; sie sei schlichtweg „falsch“, weil das „proprium singolorum“ und das „commune amborum“19 von Vater und Sohn miteinander vermischt würden. Abaelard verwendet und kontextualisiert den Ternar in den verschiedenen Bearbeitungsstufen der Theologia unterschiedlich, verändert ihn im Grundsätzlichen jedoch nicht. Die Theologia Christiana fügt schon bei der ersten Nennung der drei Eigenschaften die trinitarischen Ursprungsrelationen bei,20 bleibt aber – was die Ternarglieder selbst angeht – dem Entwurf der Theologia Summi Boni treu. Nach Marenbon geht die Zuschreibung der Eigenschaften Macht, Weisheit und Güte von dem Begriff eines perfect being aus: Denke man sich ein vollendetes Wesen, dem in ontologischer Hinsicht nichts fehlt, das moralisch vollkommen ist sowie jede getroffene Willensentscheidung auch tatsächlich ausführen kann, so gelange man zu den drei genannten Attributen.21 Die These Marenbons lässt sich anhand der Theologiae verifizieren: Abaelard versucht dort nachzuweisen, dass 16

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Th. Sum. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 87, 21-24): „Tale est ergo deum esse tres personas, hoc est patrem et filium et spiritum sanctum, ac si dicamus diuinam substantiam esse potentem, sapientem, benignam, immo etiam esse ipsam potentiam, ipsam sapientiam, ipsam benignitatem.“ Vgl. auch Th. Chr. 1,4 (Ed. Buytaert 73, 49-55). Zu Herkunft und dogmengeschichtlichem Hintergrund vgl. Perkams, The origins of the Trinitarian attributes, 25-41. Eine stärkere Konturierung der Rolle Hugos von Sankt Viktor bietet: Poirel, Livre de la nature, 368-383. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 63, Anm. 19, schlägt zurecht vor, „auf der Basis unserer insgesamt doch eher geringen Kenntnis der Diskussionslage die ausschließliche Zuschreibung dieser Einführung an eine einzelne Person eher zugunsten einer Betonung der Vernetzung der trinitätstheologischen Diskussion zu Beginn des 12. Jahrhunderts hinten an zu stellen.“ Vgl. Hugo von Sankt Viktor, De tribus diebus 1 (Ed. Poirel 3f., 6f.): „Tria sunt inuisibilia Dei: potentia, sapientia, benignitas.“ Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 3,5 (Ed. Leclerq/Rochais 21, 22-25): „Dicit proprie et specialiter ad Patrem potentiam, ad Filium sapientiam pertinere, quod quidem falsum. Nam et Pater sapientia, et Filius potentia verissime sunt sanissimeque dicuntur, et quod est commune amborum non erit proprium singolorum.“ Vgl. Th. Chr. 1,4 (Ed. Buytaert 73, 49-55), wo von der zeugenden Macht, der gezeugten Weisheit und der hervorgehenden Güte die Rede ist. Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 55: „None the less, Abelard does clearly make the claim that in using the terms ‚Father’, ‚Son’ and ‚Holy Spirit’, we are saying that God is power, wisdom and benignity, and that it is precisely these attributes which rational reflection tells us we must attribute in their highest form to a being who is perfect.“

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die „gesamte Vollkommenheit des Guten“22 im Besitz von Macht, Weisheit und Güte besteht. Er bedient sich also (durch die spekulative Ausfaltung des Begriffs „gut“) nicht nur offenbarungstheologischer, sondern auch metaphysischer Denkmuster: Gott ist die Gutheit selbst. Dennoch wäre es verfehlt, wenn Abaelards Gottesverständnis „nicht theologisch dargestellt, sondern vielmehr vor dem Hintergrund eines umfassenden Seinsbegriffs erarbeitet“23 würde. Diesen Weg versucht Kranich-Strötz einzuschlagen. Die Autorin verliert dabei das für Abaelard selbstverständliche Dependenzverhältnis, welches das Sein auf Gott verweist, aus den Augen: Das Seinsverständnis entfaltet sich vom durch den Glauben bezeugten und durch die Vernunft reflektierten Gottesbegriff her, nicht umgekehrt. Gott entspringt keinem abstrakten esse, sondern ist – als Gott – das absolute esse selbst. Die von Kranich-Strötz vorgelegte historische Fehleinschätzung führt zu systematischen Kurzschlüssen. Die Autorin bescheinigt Abaelard – in der pejorativen, aus ihrem Zusammenhang entfernten Terminologie Heideggers24 – ein „ontotheologisches“ Seinsverständnis, dessen Konsequenz „eine Einheit von Seins- und Gotteslehre“25 sei. Dies geht an Abaelards Absicht vorbei. Sein Anliegen lässt sich als apologetisches charakterisieren: Es wird – zur Plausibiliserung der Offenbarung, und gerade deshalb auch ohne explizitargumentativen Bezug auf sie – versucht, einen idealen Begriff des höchsten und vollkommenen Wesens zu konstruieren. Die Anstrengung der Vernunft besteht darin, diesem drei Attribute zuzuordnen, die es essentialiter als perfektes Wesen auszeichnen: „Von demjenigen, in dem diese drei derart zusammenkommen, dass er erfüllen kann, was er wollte, und der gut will, da er gütig ist, und nicht aus Torheit das Maß der Vernunft übertritt – von dem steht wirklich fest, dass er wahrhaft gut und in allem voll26 kommen ist.“

Es besteht eine noch näher zu untersuchende Komplementarität zwischen der Redeweise Jesu, der die perfectio summi boni als Vater, Sohn und Geist beschreibt,27 und der philosophischen Reflexion, die dem vollkommenen Wesen

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Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 24-26), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 59f.): „In his autem tribus, potentia scilicet, sapientia, benignitate, tota boni perfectio consistit“. Kranich-Strötz, Selbstbewusstsein und Gewissen, 188. Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 20. Kranich-Strötz, Selbstbewusstsein und Gewissen, 197 sowie 193. Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 34-37), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 68-72): „In quo autem hec tria concurrunt, ut uidelicet et possit implere quod uoluerit, et bene uelit utpote benignus, nec ex insipientia modum rationis excedat; eum profecto uere bonum esse et in omnibus oerfectum constat.“ Vgl. Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-8), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-6): „Summi boni perfectionem quod deus est, ipsa dei sapientia incarnata Christus dominus describendo tribus nominibus diligenter distinxit, cum unicam et singularem, indiuiduam peni-

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schlechthin Macht, Weisheit und Güte zuordnet. Abaelard versteht die Macht als Fähigkeit, jede gewollte Handlung auch tatsächlich in der geplanten Weise mit den vorhergesehenen Wirkungen ausführen zu können. Interessant ist der explikatorische Zusammenhang, den er zwischen Macht und Allmacht herstellt: Die omnipotentia dient als Explanans für die potentia, die als Grundeigenschaft Gottes zu klären ist (Explanandum).28 Der von Abaelard gewählte Erkenntnisweg, die Macht Gottes vom nur schwer vorstellbaren Begriff der Allmacht her zu deuten, steht der vorwissenschaftlichen Intuition entgegen, die den umgekehrten Pfad einschlägt, indem sie ‚Allmacht’ als ins Unermessliche gesteigerte Macht beschreiben würde. Dieses Vorgehen ist aber nicht mit Abaelards Intention kompatibel, da er ein Gott zugeordnetes Attribut – in diesem Fall die Macht – nicht in eine vergleichende Reihung und damit in eine Relation stellt; stattdessen wird jede Eigenschaft, die von Gott ausgesagt wird, in absoluter Weise prädiziert: Gott hat nicht nur Macht, er ist die Mächtigkeit selbst und deshalb allmächtig. Allmacht ist demnach die spezifische Weise, in der sich Gottes Mächtigkeit von der einer Kreatur zugeschriebenen Macht unterscheidet. Von diesem Gedankengang her erscheint es nachvollziehbar, die Macht Gottes (Explanandum) durch den Begriff der omnipotentia (Explanans) zu charakterisieren. Die Macht allein reicht jedoch nicht aus, um das vollkommene Wesen zu umschreiben. Denn jede potentia, also die Fähigkeit, eine Möglichkeit auch in die Wirklichkeit umzusetzen, bleibt eine rein formale Bestimmung, solange die Möglichkeit nicht inhaltlich determiniert wird und dadurch ihre spezifische Ausrichtung erhält.29 Jedem faktischen Handeln geht eine Unterscheidung voraus, die aus verschiedenen Alternativen die bestmögliche auswählt; dieser Akt bedarf der Weisheit,30 die deshalb als zweite Eigenschaft des perfekten Wesens postuliert wird. Das summum bonum zeichnet sich jedoch nicht nur durch die Fähigkeit, alles zu wissen und die Kompetenz, alles tun zu können, aus, sondern ist – wie der Begriff des bonum selbst anzeigt – auch in höchstem Sinn gut. Es kann nicht gedacht werden, dass das in allem vollkommene Wesen moralisch böse ist oder metaphysisch gesehen an einer privatio boni leidet, da der Begriff des Mangels in Widerspruch zu dem der perfectio steht; ein summum bonum privatum boni wäre eine contradictio in adiecto. Wie konkretisieren sich die auf der Ebene des

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tus ac simplicem substantiam diuinam patrem et filium et spiritum sanctum tribus de causis appellauerit.“ Vgl. Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 11-12), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 7-9): „Patrem quidem secundum illam unicam maiestatis sue potentiam, que est omnipotentia, qua scilicet efficere potest quicquid uult, cum nichil ei resistere queat“. Vgl. Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 27f.), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 61-63): „Qui enim potens est, si id quod potest iuxta modum rationis conducere nescit, exicialis est ac perniciosa eius potentia.“ Vgl. Dialect. 4,1 (Ed. De Rijk 469, 15f.): „Est enim scientia veritatis rerum comprehensio, cuius species est sapientia.”

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Idealen konstruierten Eigenschaften des vollkommenen Wesens, das durch einen – nun explizit werdenden – Rückgriff auf die Verkündigung Jesu mit Gott identifiziert wird, für den Menschen? Anders formuliert: Wie ist das Verhältnis der idea (Gottes notwendigen, essentiell prädizierten Attributen) zur Heilsgeschichte (Gottes Handeln in der Welt) zu bestimmen? Als Ausdruck der Zuwendung Gottes gegenüber seinen Geschöpfen führt Abaelard den Begriff der benignitas ein, der sich aus der postulierten bonitas des vollkommenen Wesens ableitet. Die benignitas Dei bezeichnet Gottes wohlwollende Bezogenheit auf die Schöpfung und begründet diese in seiner essentiellen bonitas: Gott ist in sich – anachronistisch formuliert: immanent – „wahrhaft gut“ und „in allem vollendet“31; aus diesem Grund handelt er heilsökonomisch betrachtet gütig. Mit Perkams lässt sich sagen, dass Abaelard bei der Koppelung von bonitas und benignitas Gottes Handeln „als Ganzes im Blick [hat], in seiner sittlichen Güte wie seiner sachlichen Angemessenheit“32. Abaelards Zeitgenosse Hugo von Sankt Viktor bringt das Ineinander und Zueinander der drei Ternarglieder prägnant zum Ausdruck. Er verbindet sie grammatikalisch, indem er sie wechselseitig als Subjekt, AkkusativObjekt (nach per) und adverbiale Bestimmung aufeinander bezieht: „Die Macht schafft weise durch die Güte, die Weisheit lenkt gütig durch die Macht, die Güte erhält machtvoll durch die Weisheit.“33 Aus der Herleitung dreier Eigenschaften, die das höchste Gut essentialiter auszeichnen, lässt sich Abaelards Begriff des summum bonum präziser bestimmen. Der Terminus ‚Gut’ begegnet in zwei voneinander zu unterscheidenden Kontexten: (1) In der Moralphilosophie bezeichnet ein Gut dasjenige, worauf sich eine Handlung positiv ausrichtet; es wird also erstrebt. Das Gegenteil eines Gutes ist das zu Meidende, das Übel. Innerhalb der Teleologie menschlichen Handelns gibt es eine Hierarchie der Güter. Augustinus verdeutlicht dies anhand des Begriffspaares uti und frui,34 das bereits in seiner semiotischen Kontextualisierung (signa und res), aber noch nicht in seiner ethischen Verwendung eingeführt wurde. Das menschliche Handeln setzt sich Ziele, die um eines anderen Ziels willen erstrebt werden. Sie sind also kein Selbstzweck, sondern dienen als Mittel dem Erreichen eines als höher angesehenen, nicht mit ihnen selbst identischen Gutes; sie werden in diesem Sinne gebraucht. Demgegenüber gibt es auch dasjenige, das um seiner 31

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Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 34-37), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 68-74): „In quo autem hec tria concurrunt […]eum profecto uere bonum esse et in omnibus perfectum constat.” Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 34. Hugo von Sankt Viktor, De tribus diebus 1 (Ed. Poirel 4, 11-13): „Potentia per benignitatem sapienter creat, sapientia per potentiam benigne gubernat, benignitas per sapientiam potenter conseruat.“ Vgl. Augustinus, De doctrina christiana III 10,16 (Ed. Martin 87, 32-35) und De Civitate Dei XI 25 (Ed. Dombart/Kalb 344f., 20-34).

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selbst willen gewollt wird und bei dem das menschliche Streben zur Ruhe gelangt, weil es keines anderen Gutes, das Anreiz für eine Handlung sein könnte, mehr bedarf. Der Endzweck menschlichen Handelns, der nichts Höherem mehr dient, sondern um seiner selbst willen gewollt und deshalb genossen wird, ist als summum bonum bezeichnet worden.35 (2) Der moralphilosophischen Konnotation liegt eine metaphysische Deutung zugrunde. Spaemann zufolge war die Rede vom summum bonum in der Scholastik „kein Begriff der praktischen Philosophie, sondern der Metaphysik“36. Neben der sittlichen Gutheit gibt es auch ein ontologisches Gut-Sein, das jedem Gegenstand zukommt, insofern er ist.37 Jedes Seiende besitzt eine ihm inhärente Anlage, nach deren Verwirklichung es strebt und deren aktuale Realisierung ein zu erreichendes bonum jenseits moralischer Wertigkeiten darstellt. Das summum bonum wäre in diesem Zusammenhang das Bemühen um die volle, aktuelle Entfaltung einer potentiell bereits angelegten Eigenschaft. Diese Theorie entspricht in ihren Grundzügen der Entelechie-Lehre des Aristoteles, zu der Abaelard zwar keinen direkten Zugriff hatte, da ihm die Metaphysik nicht vorlag, mit der er aber durch die Ausführungen Augustins („bonum est, quidquid aliquo modo est“38) zumindest rudimentär vertraut war. In Abaelards Verwendungsweise des summum bonum verbinden sich – wahrscheinlich durch den Einfluss des Boethius39 – sowohl das moralphilosophische als auch das metaphysische Moment. Dies wird an den Collationes sowie an den Ausführungen der Ethica, dem Werk Scito te ipsum, deutlich: „Weil Gott in sich gut ist und unzählige Güter schafft, die weder Sein hätten noch gut wären, wenn sie es nicht durch ihn hätten, ist die Gutheit durch ihn in vielem, so dass die Zahl der guten Dinge größer ist; dennoch kann keine Gutheit seiner Gutheit gleichgesetzt oder vorgezogen werden. Gutheit ist zwar im Menschen und Gutheit ist in Gott, und weil die Substanzen und Naturen, in denen die Gutheit ist, unterschiedlich sind, kann die Gutheit keiner Sache der göttlichen gleichgesetzt oder vorgezogen werden

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Vgl. Guth, Religionsgespräche im Mittelalter, 141f. Spaemann, Art. Gut, höchstes, 973. Die These „ens et bonum convertuntur“ ist eine Grundaussage der erst nach Abaelard, allen voran durch Philipp den Kanzler (vgl. Wicki, Die Philosophie Philipps des Kanzlers, 49-53) systematisch entwickelten Transzendentalienlehre. Marenbon versucht jedoch nachzuweisen, dass sich in den logischen Schriften Abaelards bereits transzendentale Bestimmungen des Seienden, allen voran der Einheitsaspekt, finden. Vgl. Marenbon, Abelard, ens and Unity, 152-155. Augustinus, Confessiones XIII 31,46 (Ed. Verheijen 269f., 25-27). Vgl. Schönberger, Art. Summum bonum, 593: Boethius verbinde „nach neuplatonischem Vorbild den praktischen und den metaphysischen Aspekt“, den der Begriff des summum bonum enthält. Vgl. auch Wiltshire, Boethius and the summum bonum, 210-220.

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sowie darf dadurch nichts besser, das heißt in höherem Maße gut oder gleich gut genannt werden wie Gott.“40

Die subjektive Wertung Sikes, Abaelards Trinitätskonzeption mangele es an „metaphysical greatness“41 erscheint als problematisch, weil die Reflexionen auf das höchste Gut einen unabweisbar metaphysischen Charakter besitzen: Der essentiellen Bestimmung Gottes als mächtig, weise und gütig liegt sprachlogisch eine metaphysische Prädikation zugrunde.42 Der Ternar potentia, sapientia, benignitas ist aber nicht nur ein möglicher Erkenntnisgegenstand der theoretischen Vernunft des Menschen, sondern hat auch Auswirkungen auf sein praktisches Handeln, das Abaelard in diesem Zusammenhang als „cultus divini“ bezeichnet. Der cultus ist aber nicht nur ein liturgisches Unterfangen, sondern umfasst in einem weiteren Sinn die in Furcht und Liebe gründende Gott-Untertänigkeit („deo esse subiectos“43): Während die Weisheit Gottes als das Wissen um jede Sünde und die Macht als die Fähigkeit, jede Sünde zu bestrafen, den Menschen aus Angst zu guten Taten animiert, ermöglicht die göttliche Güte eine liebende Hinwendung des Menschen zu Gott. Insofern wird die benignitas Gottes, die die menschliche Liebe als Antwort evoziert, zu einem „Ausgangspunkt der menschlichen Sittlichkeit“44, weil der Einzelne als Liebender bestrebt ist, nicht nur dem metaphysisch, sondern auch dem moralisch vollkommen Guten – Gott – ähnlich zu werden. Die benignitas dei ist das (im moralischen Sinne) höchste Gut, dem der Mensch um seiner selbst willen ähnlich werden will und das er nicht zum Erreichen eines weiteren Ziels anstrebt. Anzumerken ist allerdings, dass die benignitas – aufgrund ihres affekthaften Charakters – nichr nur den Grund des liebenden, sondern auch des vergeltenden Handelns Gottes darstellt. Sie wird als quasi-emotionale Seite an Gott einerseits mit der Bereitschaft zur Versöhnung, andererseits aber auch mit dem Verlangen 40

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Scito I 33,6f. (Ed. Ilgner 34, 876-884): „Sic et cum in se deus bonus sit et innumerabilia creet bona, quae nec esse nec bona esse nisi per illum habent, bonitas per eum in pluribus est, ut maior sit numerus bonarum rerum, nulla tamen bonitas eius bonitati adequari uel preferri potest. Bonitas quidem in homine et bonitas in deo est, et cum diuersae sint substanciae uel naturae, quibus bonitatis inest, nullius tamen rei bonitas diuine preferri uel equari potest, ac per hoc nichil melius, hoc est magis bonum, quam deus uel eque bonum dicendum est.“ Sikes, Peter Abailard, 149. Vgl. Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 34-37), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 68-72). Th. Sum. 1,4 (Ed. Buytaert/Mews 87f., 37-40. 41-43), Th. Chr. 1,6 (Ed. Buytaert 74, 75-77. 79-81), th. sch. 41 (Ed. Buytaert 416, 445-448. 450f.), Th. Sch. 1,34 (Ed. Buytaert/Mews 331f., 363-366. 368f.): „Nec solum hec trinitatis distinctio ad summi boni perfectionem describendam conuenit, uerum et ad persuadendam hominibus diuini cultus religionem plurimum proficit. […] Duo quippe sunt que nos omnino deo subiectos efficiunt, timor uidelicet atque amor.” Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 38.

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nach Strafe gegenüber jeder sie zurückweisenden Unfrömmigkeit (impietas) in Verbindung gebracht.45 Zusammenfassend lässt sich sagen: Abaelard deutet die perfectio summi boni in zwei Richtungen aus. Er rekurriert einerseits offenbarungsbezogen darauf, dass Jesus von Vater, Sohn und Geist gesprochen habe. Andererseits geht Abaelard vom idealen Begriff eines vollkommenen Wesens aus und leitet daraus drei Eigenschaften ab, die diesem Wesen in absoluter Weise zukommen und es so ontologisch wie auch – daraus folgend – ethisch zum summum bonum machen. Dabei tritt ein systematisches Problem zutage, das Wilhelm von Saint Thierry zwar mit Blick auf Wilhelm von Conches benennt, dem sich aber auch Abaelard stellen muss: Warum sind es gerade drei Eigenschaften, die Gott zugeordnet werden? Warum nicht zwei oder vier? Was ist mit den anderen Attributen, wie Kraft (virtus), Wahrheit (veritas), Liebe (caritas), Gutheit (bonitas) oder Gerechtigkeit (iustitia), die Gott traditioneller Weise zukommen?46 Wilhelm benennt – systematisch formuliert – das Problem des regressus ad infinitum. Abaelard löst dies durch einen autoritativen Bezug auf die Lehre Jesu: Dieser habe von Gott in drei Namen (Vater, Sohn, Geist) gesprochen;47 die Dreizahl ist der Vernunft von daher vorgegeben; sie hat sie aber inhaltlich zu füllen. Die drei Charakteristika des vollkommenen Wesens werden – nahezu stillschweigend – auf die christliche Gotteslehre übertragen: Das spezifische Merkmal des Vaters bestehe in seiner potentia, das des Sohnes in der sapientia, das des Geistes in der benignitas. Nun ist zu klären: Welches Verhältnis von rationaler und offenbarungsgestützter Einsicht liegt der Verbindung zugrunde, die Abaelard zwischen den Attributen des summum bonum und den Proprietäten der göttlichen Personen herstellt?

1.3. Von den Eigenschaften des höchsten Gutes zu den Proprietäten der drei Personen Wenn die Theologia Summi Boni davon ausgeht, die Feststellung, Gott sei „drei Personen, das heißt Vater, Sohn und Heiliger Geist“, verhalte sich synonym („ac 45

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Vgl. Th. Sum. 2,113 (Ed. Buytaert/Mews 154, 1070-1072), Th. Chr. 3,182 (Ed. Buytaert 263, 2243-2245): „Hoc autem ex benignitatis affectu descendit, quia sicut impium est non uindicare mala, ita econtrario pium est illatas ulcisci iniurias”. Vgl. auch Th. Sum. 1,4 (Ed. Buytaert/Mews 88, 46f.), Th. Chr. 1,6 (Ed. Buytaert 74, 84f.), th. sch. 41 (Ed. Buytaert 417, 456), Th. Sch. 1,34 (Ed. Buytaert/Mews 332, 374f.): „Ex qua etiam certum est eum impietatem ulcisci uelle”. Vgl. Wilhelm von Saint Thierry, De erroribus Guillelmi de Conchis 3 (Ed. Leclerq 385, 105-107): „Quaeramus quomodo sint in Deo non solum potentia, sapientia et voluntas, sed et virtus Dei, veritas, caritas, bonitas, iustitia et caetera his similia.“ Vgl. Th. Sum. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 87, 21-24), Th. Chr. 1,4 (Ed. Buytaert 73, 49-55).

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si dicamus“) zu der Aussage, „die göttliche Substanz sei mächtig, weise und gütig, ja vielmehr die Macht selbst, die Weisheit selbst und die Güte selbst“48, so verbindet sie die heilsgeschichtlich vermittelte, durch Christus gelehrte Gottesrede (Vater, Sohn, Heiliger Geist) mit einer metaphysisch-idealen Reflexion auf das summum bonum (Macht, Weisheit, Güte). Dieser Überstieg ist begründungsbedürftig: Auf welcher epistemologischen Grundlage besteht eine Identitätsrelation zwischen den Proprietäten der drei göttlichen Personen und den Attributen eines vollkommenen Wesens? Anders gesagt: Abaelard muss ausweisen, wie er von den Begriffen Macht, Weisheit und Güte zu den Namen Vater, Sohn und Heiliger Geist gelangt. Dies geschieht – so die im Folgenden zu explizierende Deutung – nicht durch die bloße Anstrengung der Vernunft, da diese zwar die triadische Struktur des höchsten Gutes, nicht aber die trinitarische Verfasstheit des einen Gottes erfassen kann. Zunächst sind die Arbeitsbegriffe ‚triadisch’ und ‚trinitarisch’ zu definieren; sie werden auch von Poirel verwendet.49 Die Triade bezeichnet eine Dreigliedrigkeit im allgemeinen Sinne, die Trinität hingegen das lebendige Miteinander und Zueinander der drei göttlichen Personen, die eine Substanz sind, aber gleichzeitig unterschiedliche Proprietäten besitzen. Diese terminologische Distinktion ermöglicht es, Abaelards Spekulationen über die dreigliedrige Struktur des summum bonum (Triade) und seine Reflexionen auf Eigenarten und Gemeinsamkeiten der göttlichen Personen (Trinität) zu unterscheiden. Dadurch wird auch der in den logischen Schriften vorgenommenen Unterscheidung zwischen proprium und proprietas Rechnung getragen. In den Glossen zur Isagoge des Porphyrios definiert Abaelard ein proprium als das, was einem einzelnen Gegenstand – und keinem anderen – zukommt.50 Der kategorialen Einordnung nach handelt es sich dabei aber um eine akzidentelle Bestimmung,51 die – wie Jolivet anmerkt – nicht ausreicht, um die proprietas einer trinitarischen Person zu kennzeichnen.52 Dies legt nahe, dass Abaelard zwei Ebenen unterscheidet; sie werden hier durch die Begriffe ‚Trinität‘ und ‚Triade‘ gekennzeichnet. An die von Simonis vorgetragene These, Abaelard lege einen rationalen „Trinitätsbeweis“53 vor, ist von daher eine Rückfrage zu stellen: Geht es Abaelard 48

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Th. Sum. 1,2 (Ed. Buytaert/Mews 87, 21-24): „Tale est ergo deum esse tres personas, hoc est patrem et filium et spiritum sanctum, ac si dicamus diuinam substantiam esse potentem, sapientem, benignam, immo etiam esse ipsam potentiam, ipsam sapientiam, ipsam benignitatem.“ Vgl. Th. Chr. 1,4 (Ed. Buytaert 73, 49-55). Vgl. Poirel, Livre de la nature, 283. Eine abgrenzende Definition zwischen „triade“ und „trinité“ fehlt. Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 108, 33): „Propria dicit quae uni conveniunt et non alteri.“ Vgl. auch Dialect. 1,2 (Ed. De Rijk 52, 27-30). Vgl. Sup. Por. (Ed. Geyer 88, 2). Vgl. Jolivet, Arts du langage, 298-300, v.a. Anm. 273. Simonis, Trinität und Vernunft, 35. 57.

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um einen positiven Beweis der Trinität oder um einen rationalen Nachweis der triadischen Struktur des höchsten Gutes? Die eingeführten Arbeitsbsbegriffe ermöglichen eine präzise Bestimmung der Reichweite menschlicher Vernunftanstrengung: (1) Abaelard geht von der rationalen Einsehbarkeit der triadischen Struktur des höchsten Gutes aus, insofern Macht, Weisheit und Güte – so die Deutung Marenbons – „diejenigen Attribute sind, die jede vernunftbegabte Person einem vollkommenen Wesen zuordnet.“54 (2) Die rationale Kapazität des Menschen gerät jedoch an ihre Grenzen, wenn sie zu begründen hat, in welcher Weise die vernunftgemäß erfassbare triadische Struktur auf das trinitarische Wesen Gottes übertragen werden kann. Es bedarf hierzu eines Rekurses auf die Offenbarung, die durch die Autorität, welche sie für die Gläubigen hat, die Identifizierung der drei Eigenschaften des höchsten Gutes (Trias) mit den Proprietäten der drei göttlichen Personen (Trinität) legitimiert. Abaelards Vorgehen beruht auf der bereits skizzierten harmonischen Zuordnung von Theologie und Philosophie: Erstere greift auf eine Offenbarung zurück, letztere auf die Vernunft als Grund ihrer Erkenntnis; beide sagen jedoch – wie Brachtendorf mit Blick auf Augustinus formuliert – in einem „inhaltlichen Überlappungsbereich“55 Gleiches aus. Die drei Eigenschaften Macht, Weisheit und Güte sind für Abaelard Teil des Bezirks, in denen Übereinstimmung zwischen rational vermittelter und revelatorisch gestützter Erkenntnis besteht. Der spezifische Überschuss der Theologie zeigt sich darin, dass sie – mit Blick auf die Verkündigung Jesu, dem Abaelard seinen Ternar in den Mund legt – aussagen kann, welche Eigenschaft welcher Person als Proprietät zukommt, so dass die Trias von potentia, sapientia und benignitas – anachronistisch gesprochen – nicht nur eine allgemein-appropriative Trinitätserkenntnis ermöglicht, sondern Einsichten in die jeweils nur einer Person zukommenden Eigenarten bietet. Diese spezifisch trinitätstheologische Anwendung ist ohne einen Rekurs auf die Offenbarung argumentativ nicht begründbar. Die Differenzierung zwischen Triade und Trinität wurde in der Sekundärliteratur – wie die kritische Auseinandersetzung mit ausgewählten Studien zeigt – nicht ausreichend beachtet. Simonis ist in doppelter Hinsicht unpräzise, wenn er davon ausgeht, dass „nach Abaelard die Erkenntnis der Trinität zu den natürlichen Möglichkeiten der menschlichen Vernunft“56 gehört; es wird weder die triadische Struktur des höchsten Gutes vom dreifaltigen Sein Gottes unterschieden, noch hinreichend definiert, was unter den „natürlichen Möglichkeiten“ 54

55 56

Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 56: „Moreover, since for God to be the Trinity is for him [sc. Abelard] to be powerful, wise and benign, and these are the attributes which any intelligent person gives to a perfect being, no one, Jew or Gentile, is without faith in the Trinity.“ Brachtendorf, Augustins Confessiones, 131. Simonis, Trinität und Vernunft, 46.

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der Vernunft zu verstehen ist. Treffender wäre es, die Vernunfttätigkeit durch den Begriff der ‚vermittelten Erkenntnis’ zu charakterisieren. Abaelard lehrt, dass „wenn Gott sich nicht selbst offenbart, auch unsere Natur nicht ausreichen wird, um ihn zu sehen“57. Die menschliche Vernunft ist einer partiellen Gotteserkenntnis fähig, ohne auf die biblische Offenbarung als Quelle zu rekkurieren. Die ratio humana bedarf allerdings eines von Gott ausgehenden intermediatorischen Aktes, der den Grund ihrer Erkenntnistätigkeit bildet; die erkenntnisvermittelnde Tätigkeit schreibt Abaelard dem inneren Lehrer zu, der mit Christus oder dem Heiligen Geist identifziert wird.58 Mews könnte dieser Deutung zustimmen, unterläuft seine eigene Einsicht aber dadurch, dass er die dreigliedrige Struktur des summum bonum nicht von den Proprietäten der Personen unterscheidet: Er geht einerseits davon aus, that „man gained such knowledge [sc. about God] through his perception of God’s selfrevelation“, schlussfolgert andererseits aber, „man could understand the Trinity by observing the power, the wisdom and above all the goodness which ordered creation“59. Er klärt nicht, wie die drei von ihm genannten Aspekte – das Verstehen der Trinität, die Selbstoffenbarung Gottes und die rational einsehbaren Attribute des höchsten Gutes – zueinander in Beziehung stehen. Während Simonis und stellenweise auch Mews die aktive Rolle der menschlichen Vernunft im Prozess der Gotteserkenntnis betonen, legt Hofmeier eine skeptischere Deutung vor: Er stellt zwar fest, dass „eine komprehensive Erkenntnis des dreifaltigen Gottes dem Menschen nicht möglich“ sei, übersteigert diese Einsicht jedoch durch die Behauptung, die Unterscheidung der Proprietäten sei nur „den göttlichen Personen allein […], nicht aber dem menschlichen Denken“60 zugänglich. Zutreffend daran ist, dass der Mensch die Eigenheiten der Personen innerhalb der Trinität nicht denkend erfassen kann, sie ihm aber sehr wohl durch den Glauben zugänglich sind, da – nach Abaelard – Christus die Kunde des dreifaltigen Gottes gebracht und heilsgeschichtlich vermittelt hat.61 Etwas genauer als Simonis und Hofmeier ist die sich auf eine Untersuchung der Theologia Scholarium beschränkende Studie Bonannis. Dort wird das „progetto generale“ der dritten Fassung von Abaelards Theologia folgendermaßen umschrieben: „ogni uomo può cominciare ad avere notizia intuendolo [sc. Dio] come il Sommo Bene.“62 Bonanni geht zwar nicht von einer natürlichen Trinitätserkenntnis aus, sondern gibt an, dass lediglich das summum bonum innerhalb der Reichweite menschlicher Vernunftanstrengung liege, führt dafür 57 58 59 60 61 62

Th. Sum. 2,20 (Ed. Buytaert/Mews 121, 179f.), Th. Chr. 3,36 (Ed. Buytaert 209, 439f.): „Nisi enim seipse deus manifestet, nec tunc natura nostra eum uidere sufficiet”. Vgl. Th. Chr. 3,30 (Ed. Buytaert 206, 353-356). Mews, Man’s knowledge of God according to Peter Abelard, 426. Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo von St. Viktor, 67. Vgl. Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-6), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-4). Bonanni, Parlare della Trinità, 96.

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aber einen neuen Begriff ein, ohne ihn zu klären: Was ist unter einer „Intuition“ zu verstehen? Und was heißt es, dass der Mensch eine anfanghafte Erkenntnis Gottes erlangen kann, indem er ihn mit seiner Intuition über das höchste Gut in Verbindung bringt? Bonanni wirft diese Fragen auf, ohne sie zu beantworten. Er vernachlässigt die terminologische Präzision, da es ihm um eine geistlichmeditative Lektüre der Theologia Scholarium geht, die er – trotz ihres frühscholastischen Hintergrunds – als einen „complesso […] spirituale“63 versteht. Das methodologische Gegenteil stellt die in lateinischer Sprache verfasste Dissertation Rózyckis dar. Im ersten Band, der die Erkenntnislehre Abaelards behandelt („De cognoscibilitate Dei“) wird zwischen einem sensus fidei, der sich auf die Eigenschaften von Macht, Weisheit und Güte richtet, sowie einer trinitatis distinctio, die speziell die Dreifaltigkeit zum Gegenstand hat, unterschieden: „Abaëlardus constanter docet omnes homines in sensu fidei cum christianis convenire, cum omnes, naturaliter rationis lumine cognoscant Deum esse potentem, sapientem et 64 benignum. Soli tamen christiani ipsam confitentur Trinitatis distinctionem.“

Auch wenn es sich hierbei um neuscholastische Kategorien handelt, deren Anwendung auf Abaelard anachronistisch erscheinen mag, kommt die Unterscheidung Rózyckis dem nahe, was hier als triadische Struktur in Absetzung zum trinitarischen Wesen Gottes bezeichnet wurde. Aus diesem Grund erscheint das Urteil Klitzschs, Rózycki habe seine „Begrifflichkeit bzw. Deutung teilweise von außen an Abaelard herangetragen“65, einerseits nachvollziehbar, andererseits zu pauschal, weil sie nicht scharf genug konturiert, worin der Unterschied zwischen einer „Begrifflichkeit“ und deren „Deutung“ besteht: Rózyckis Terminologie entspricht – darin ist Klitzsch zuzustimmen – nicht der Sprache Abaelards; dennoch ist die Deutung, die Rózyckis Terminologie zu Tage bringt, nicht grundweg abzulehnen, da sie geeignet erscheint, Nuancen in Abaelards Denken zu erfassen und begrifflich präzise wiederzugeben. Die kritische Auseinandersetzung mit den zitierten Studien zeigt, dass eine Unterscheidung zweier Ebenen notwendig ist, um einer petitio principii bei der Interpretation Abaelards zu entgehen. (1) Im Bereich der Ontologie ist es – so Abaelard – rational einsehbar, dass ein vollkommenes Wesen mächtig, weise und gütig sein muss; die Vernunft gelangt selbst zu dem Schluss, dass derjenige, der diese drei Eigenschaften besitzt,

63

64 65

Vgl. Bonanni, Abelardo e il problema della conoscenza di Dio, 97-111 sowie Bonanni, Parlare della Trinità, 357: „Leggendo le pagine della Theologia Scholarium, si apre di fronte ai nostri occhi un complesso universo spirituale”. Rózycki, Doctrina Petri Abaelardi de Trinitate I, 81. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 23, Anm. 36. Folgt man Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo von St. Viktor, 67, so sind einige der Wendungen, die Klitzsch an Rózycki kritisiert, sogar dem Sprachgebrauch Abaelards selbst entnommen.

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„wahrhaft gut und in allem vollkommen“66 ist. Von diesem anonymen „perfect being“67 unmittelbar auf den trinitarischen Gott und seine proprietären Differenzierungen zu schließen, ist jedoch durch die Anstrengung der Vernunft allein nicht möglich. Das Objekt des rational Einsehbaren ist deshalb nicht die Trinität, sondern die triadische Struktur des summum bonum, das zwar mit Gott identifiziert wird, aber drei Eigenschaften aufweist, die nicht vorschnell den drei göttlichen Personen zugeordnet werden dürfen. (2) Um sagen zu können, dass die Macht dem Vater, die Weisheit dem Sohn und die Güte dem Heiligen Geist entspricht, bedarf es des Rekurses auf die Offenbarung, näherhin auf die von Jesus Christus, „Gottes fleischgewordener Weisheit“68 eingeführten distinctiones und descriptiones. Aus diesem Grund erscheint es Abaelard so bedeutsam, seinen Ternar implizit im Alten Testament und explizit in der Verkündigung Jesu zu verankern: Er wurde zwar „nicht von Christus eingeführt, aber offenkundiger und genauer vorgestellt“69. Das heißt: Ein Vernunftakt kann den Menschen zu der Annahme bringen, dass das höchste Gut drei spezifische Eigenschaften besitzt. Dass diese jedoch personalisiert sind durch Vater, Sohn und Geist, ist eine Einsicht, die nur aufgrund der Offenbarung in Christus zustande kommt. Prägnant formuliert: Die Differenz zwischen Philosophie und Theologie bei der Betrachtung des summum bonum liegt in dem Unterschied zwischen Triade und Trinität. Die triadische Struktur Gottes ist Abaelard zufolge rational erkennbar, das trinitarische Wesen hingegen nicht. Die Einschränkung der Vernunfttätigkeit, die als vermittelte Erkenntnis charakterisiert wurde, darf umgekehrt nicht zu einer Überbewertung der Offenbarung führen, wie sie etwa Jolivet vornimmt. Er interpretiert: „D’abord, c’est une référence à la révélation qui amorce l’analyse: les mots qu’on examine ont été transmis par la sagesse même de Dieu; […] l’autorité vient d’abord; la 70 ratio en approfondit ensuite le contenu, mais ce n’est pas elle qui commence.“

Hier liegt eine zu starke Gewichtung des explizit-revelatorischen Momentes im Prozess der Gotteserkenntnis vor. Es ist in Abaelards Deutung der Heilsgeschichte nicht die Autorität der Schrift, die das erste Wort hat, sondern das vernünftige Nachsinnen des Menschen, bei dem Gottes intermediatorische Tätig66

67 68 69

70

Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 34-37), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 68-72): „In quo autem hec tria concurrunt, ut uidelicet et possit implere quod uoluerit, et bene uelit utpote benignus, nec ex insipientia modum rationis excedat; eum profecto uere bonum esse et in omnibus perfectum constat.“ Marenbon, The Philosophy of Peter Abaelard, 56. Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-8), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-6). Th. Sum. 1,5 (Ed. Buytaert/Mews 88, 54-56), Th. Chr. 1,7 (Ed. Buytaert 75, 93-95): „Sed prius hanc diuine trinitatis distinctionem non a Christo inceptam, sed ab ipso apertius ac diligentius traditam esse ostendamus.“ Jolivet, Arts du langage, 278.

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keit ansetzt. Die göttliche Inspiration habe sich nämlich gewürdigt, eine implizite Erkenntnis „sowohl den Juden durch die Propheten als auch den Heiden durch die Philosophen zu offenbaren, damit die erkannte Vollendung des höchsten Gutes selbst [ipsa summi boni perfectio agnita] beide Völker zur Verehrung des einen Gottes einlud“71.

Das Partizip Perfekt (agnitum), welches eine Vorzeitigkeit ausdrückt, zeigt, dass das Zeugnis der Schrift seine Wirksamkeit nur angesichts einer ihm vorausgehenden kongnitiven Tätigkeit des Menschen entfaltet: Das idealiter bereits erfasste, triadisch strukturierte höchte Gut bildet eine Art natürlicher Vorstufe, die sich durch Gottes Selbstkundgabe zu einem expliziten und nicht nur athematischen Glauben an die Trinität entwickeln kann. Der „naturhaft vorhandene Glaube“72 in die triadische Struktur des mit Gott identifizierten höchsten Gutes besitzt für Abaelard heilsgeschichtlich gesehen eine propädeutische Funktion. Der durch die Offenbarung enthüllte „Glaube an die Dreifaltigkeit wurde in der Zeit der Gnade leichter von beiden Völkern [sc. Juden und Heiden] aufgenommen, als sie sahen, dass er auch von den alten Lehrern überliefert wurde.“73 Eine volle Annahme des trinitarischen Gottesglaubens – sowohl in seiner existentiellen als auch in seiner spekulativ-begrifflichen Form – wird erst durch die Inkarnation ermöglicht, mit der heilsgeschichtlich das von Abaelard beschriebene tempus gratiae anbricht. Die rational einsehbare triadische Struktur des höchsten Wesens ist eine provisorische Stufe der Gotteserkenntnis, die der vollen Offenbarung des trinitarischen Wesens durch Christus zeitlich vorgeordnet bleibt, aber erst durch die Lehre Christi, in der „das Licht der göttlichen Weisheit […] den Fleischlichen leuchtete“74, in einen expliziten Glauben an die göttliche Dreifaltigkeit mündet.

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Th. Sum. 1,5 (Ed. Buytaert/Mews 88, 56-59), Th. Chr. 1,7 (Ed. Buytaert 75, 95-98), th. sch. 75 (Ed. Buytaert 432, 908-911), Th. Sch. 1,68 (Ed. Buytaert/Mews 345, 757-760): „Quam quidem diuina inspiratio et per prophetas iudeis et per philosophos gentibus dignata est reuelare, ut utrumque populum ad cultum unius dei ipsa summi boni perfectio agnita inuitaret“. Vgl. Th. Sum., Libr. cap. 3 (Ed. Buytaert/Mews 85, 17f.): “[Liber] continet [...], quod fidem trinitatis omnes homines naturaliter habeant.” In der Theologia Christiana findet sich der gleiche Satz, allerdings im Rahmen einer veränderten Gliederung: Er dient als Inhaltsbeschreibung des vierten Buchs. Vgl. Th. Chr., Cap. libr. 4 (Ed. Buytaert 71, 30f.). Th. Sum. 1,5 (Ed. Buytaert/Mews 88, 60-62), Th. Chr. 1,7 (Ed. Buytaert 75, 999-101), th. sch. 75 (Ed. Buytaert 432, 912-914), Th. Sch. 1,68 (Ed. Buytaert/Mews 345, 760-763): „Et facilius hec fides trinitatis tempore gratie susciperetur ab utroque populo, cum eam a doctoribus quoque antiquis uiderent esse traditam.“ Th. Sum. 3,44 (Ed. Buytaert/Mews 176, 545-547), Th. Chr. 4,60 (Ed. Buytaert 291, 867f.): „Hoc enim his uerbis ostenditur cum dicitur ‚filius dei est incarnatus’, lumen diuine sapientie per hanc incarnationem carnalibus effulsisse.“

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1.4. Die apologetische Zielrichtung der Argumentation Abaelard verfolgt mit seinen Überlegungen zum summum bonum ein apologetisches Anliegen: Es geht ihm darum, auf die Kritik am Trinitätsglauben, wie sie von Seiten der „Pseudodialektiker“ vorgetragen wird, mit einer rational durchgeführten Widerlegung zu antworten.75 Hierbei sind zwei Argumentationsebenen zu unterscheiden: Die Häresien, gegen die Abaelard sich wendet, sind trinitätstheologischer Art; seine eigene Argumentation bewegt sich jedoch meist auf der Ebene des Triadischen, um durch rational erfassbare, das summum bonum betreffende Beweisgänge das nicht-rational Erfassbare – die Trinität – ansatzweise zu plausibilisieren.76 In diesem Zusammenhang bietet sich, wie schon bei der Argumentationsstrategie mit rationes ad honestatem, ein vergleichender Seitenblick auf Anselm von Canterbury an. Ebenso wie Abaelard entwickelt auch Anselm im Proslogion – allerdings in der literarischen Form eines nachsinnenden Betens – den Begriff eines vollkommenen Wesens. Er definiert dieses als „etwas, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“77 Auf dieses höchste Wesen, das zunächst nur ein idealer Begriff innerhalb des menschlichen Verstandes ist, überträgt Anselm – systematisch gesprochen – die Unterscheidung zwischen essentia und existentia: „Aliud enim est rem esse in intellectu, aliud intelligere rem esse.“78 Die essentia bezeichnet eine durch den Intellekt erfasste oder konstruierte Wesenheit (res in intellectu), die existentia trifft eine Aussage über das tatsächliche Vorhandensein dieser Wesenheit (res est). Der entscheidende Schritt der Beweisführung liegt in einer onto-logischen Verschränkung, also einer Verbindung zwischen dem Verstandesbegriff (logos) eines Wesens, über das hinaus nichts gedacht werden kann, mit der seinsmäßigen Wirklichkeit (on) dieses Wesens. Anselm zufolge schließt die bloße Tatsache, dass der Mensch eine Vorstellung von einem höchsten Wesen entwickeln kann, dessen reales Dasein mit ein, da sich ansonsten – ex negativo gesprochen – ein logischer Widerspruch zwischen dem vollkommenen Begriff und der (als Unvollkommenheit ge75 76

77 78

Vgl. Courth, Trinität in der Scholastik, 31. Auffallend ist, dass Abaelard zwar (quantitativ) mehr Einwände gegen die Dreiheit benennt, sich selbst aber ausführlicher mit dem Erweis der Einheit Gottes beschäftigt (vgl. Klitzsch, Die ‚Theologien’, 83). Dies deckt sich mit Ep. 14 (Ed. Smits 279, 9f.), wonach die Th. Sum. sich vor allem gegen den Tritheismus richte. Wirkungsgeschichtlich interessant ist, dass Abaelard jedoch selbst mit dieser Lehre in Verbindung gebracht wurde. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 190 2,4 (Ed. Leclerq/Rochais 20, 14f.): „Videt Sanctitas vestra quomodo, isto non disputante, sed dementante, et Trinitas non cohaeret, et Unitas pendet, nec istud sane absque iniuria maiestatis.“ Anselm von Canterbury, Proslogion 2 (Ed. Schmitt I 101, 4f.): „Et quidem credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit.“ Anselm von Canterbury, Proslogion 2 (Ed. Schmitt I 101, 9f.).

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deuteten) Tatsache seiner Nicht-Existenz auftun würde.79 Kurzum: Die (begriffliche) Essenz eines Wesens, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, schließt dessen (reale) Existenz mit ein, da ein Mangel an Sein dem Begriff des höchsten Wesens, das per definitionem keinen Mangel erleiden kann, nicht entsprechen würde.80 „Gott existiert so wahrhaft, dass nicht einmal (widerspruchsfrei) gedacht werden kann, er existiere nicht.“81 Worin liegt die Parallele zu Abaelard? Ebenso wie der Erzbischof von Canterbury konstruiert er einen Begriff des höchsten Wesens, formuliert diesen jedoch – was für die logischen Implikationen von Bedeutung ist – positiv als perfectio summi boni, wohingegen Anselm ex negativo von einem id, quo nihil maius cogitari possit spricht. Beiden Denkern ist gemein, dass sie durch den idealen Begriff eines Wesens, das keinen Mangel kennt, einen Aspekt des christlichen Gottesbildes in rationaler Weise aufzeigen wollen. Der Unterschied liegt in der Zielrichtung der Argumentation: (1) Während Anselm unabweisbar darlegen will, dass Gott existiert, weil nur ein Tor durch einen logischen Widerspruch behaupten könne, er existiere nicht, setzt (2) Abaelard die faktische Existenz Gottes als Glaubensdatum voraus. Seine Reflexion auf das summum bonum dient nicht dazu, die existentia als notwendige Wesenseigenschaft Gottes zu explizieren, sondern sie will in rationaler Weise gewisse Struktureigenschaften (nämlich die triadische Verfasstheit) des bereits als existent vorausgesetzten Gottes darlegen und dadurch seine Daseinsweise plausibilisieren. Die apologetische Stoßrichtung des von Abaelard vorgestellten Ternars potentia, sapientia, benignitas lässt sich in Abgrenzung zu Anselm genauer beschreiben: Abaelards Argumentation bemüht sich durch eine Analyse der triadischen Struktur des summum bonum um eine Annäherung an das Wie Gottes; sie setzt – anders als der Erzbischof von Canterbury – das Dass Gottes bereits voraus.82 Da die Existenz Gottes von den „Pseudodialektikern“, die Abaelard attackiert, nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde, bedurfte dieser Aspekt auch nicht der 79 80

81 82

Zu den modallogischen Implikationen der Argumentation Anselms vgl. Morscher, Was sind und was sollen die Gottesbeweise?, 64f. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion 3 (Ed. Schmitt I 102,6-103,3): „Quod utique sic vere est, ut nec cogitari possit non esse. Nam potest cogitari esse aliquid, quod non possit cogitari non esse; quod maius est quam quod non esse cogitari potest. Quare si id quo maius nequit cogitari, potest cogitari non esse: id ipsum quo maius cogitari nequit, non est id quo maius cogitari nequit; quod convenire non potest. Sic ergo vere est aliquid quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari possit non esse. Et hoc es tu, Domine Deus noster.“ Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 59. Trotz dieser Abgrenzungen dürfen die Parallelen zwischen Anselm und Abaelard nicht aus dem Blick geraten. Vgl. Vanni Rovighi, Notes sur l’influence de Saint Anselme, 429: „En raison de son goût pour la logique, saint Anselme peut être envisagé comme un précurseur des recherches conduites au XIIe siècle“.

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eigenen Thematisierung. Abaelards Gottesdenken lässt sich demnach als Mittelposition zwischen einem Existenzbeweis und einem Trinitätsbeweis charakterisieren: Ersteren sieht er als nicht nötig, letzteren als nicht möglich an. Vor diesem Hintergrund ist eine von Ottaviano vertretene Ansicht kritisch zu hinterfragen: „All’esistenza di Dio li portò ipsa philosophiae ratio; alla Trinità assursero solo Deo revelante.“83 Dem zweiten Teil des Satzes ist zuzustimmen, dem ersten hingegen nicht. Die rationale Durchdringung der Gotteslehre setzt für Abaelard bereits bei dem Wie-Sein Gottes, der triadischen Struktur des höchsten Gutes, an. Die Möglichkeit, dass Gott überhaupt nicht existieren könnte, erwägt Abaelard an keiner Stelle, so dass auch nicht die Rede davon sein kann, dass sich die Existenz Gottes vernunftgemäß erschließt; sie wird stillschweigend vorausgesetzt. Ausgehend von diesem grundlegenden Glaubensdatum entfaltet sich Abaelards rationale Apologetik, der es – zumindest in den ersten beiden Fassungen der Theologia – nicht um eine grundsätzliche Entkräftung möglicher Einwände gegen den christlichen Glauben im Allgemeinen geht, sondern um eine kontextbezogene Antwort auf tatsächlich vorgetragene Anfragen gegen das trinitarische Dogma. Erst in der Theologia Scholarium erweitert sich dieses defensive Grundanliegen positiv zu einer „Summe der heiligen Unterweisung als eine Art Einführung in die Heilige Schrift“84.

2. Gottes mächtiges, weises und gütiges Handeln in der Welt 2.1. Absolute Handlungsfreiheit und innere Notwendigkeit Eine Besonderheit der theologischen Epistemologie Abaelards besteht darin, dass er aus der rationalen Konstruktion der drei Eigenschaften des summum bonum auch handlungstheoretische Schlussfolgerungen zieht: Ein Wesen, das die Macht, die Weisheit und die Güte selbst sei, agiere auch in einem Modus, der diesen drei Attributen Rechnung trägt. Die Annahme, dass Gott seinem Wesen gemäß handelt, ermöglicht es dem Menschen, dieses Handeln in dem Maß rational einzusehen, in dem er auch Einblick in das Wesen Gottes hat, das sich immer in mächtiger, weiser und gütiger Art vollzieht. Während die Theologia Summi Boni die einzelnen Attribute Gottes zu Beginn aufzählt und im dritten Buch trinitätstheologisch auswertet, gehen die Theologia 83 84

Ottaviano, Pietro Abelardo, 194. th. sch. 1 (Ed. Buytaert 401, 4-6), Th. Sch., pref. 1 (Ed. Buytaert/Mews 313, 1-3): „Scholarium nostrorum petitioni prout possumus satisfacientes, aliquam sacrae eruditionis summam, quasi diuinae Scripturae introductionem, conscripsimus.”

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Christiana CT sowie die Theologia Scholarium ausführlich auf jede einzelne Eigenschaft und ihre handlungstheoretischen Konsequenzen ein. Trinitätstheologisch ist dabei anzumerken, dass Abaelard die Ebene der Betrachtung des Öfteren wechselt und dadurch dogmatische Probleme evoziert: Einerseits versucht er, die drei Ternarglieder als Proprietäten der göttlichen Personen einzuführen, weil „ihnen entsprechend [iuxta quae], wie gesagt worden ist, drei Personen unterschieden werden“85. Andererseits werden die Präzisierungen, die sich im Anschluss an den Begriff der potentia ergeben, auf der Ebene des Appropriativen angesiedelt, das allen Personen gemeinsam und nur einer in besonderer, aber nicht-exklusiver Weise zuzusprechen ist. Die Mächtigkeit kommt daher als erstes Ternarglied propriativ dem Vater zu, bildet in ihren handlungstheoretischen Implikationen jedoch den Ausgangspunkt einer Reflexion auf das Handeln Gottes im Allgemeinen, das als opus ad extra nicht mehr personenspezifisch differenziert wird. Darin offenbart sich die innere Spannung des Ansatzes Abaelards: Er versucht, durch einen Überstieg von den Ternargliedern auf die trinitarischen Personen Gott als Dreifaltigen für den menschlichen Geist zu veranschaulichen, ist sich aber der Tatsache bewusst, dass die drei Eigenschaften Macht, Weisheit und Güte nicht in konsistenter Weise als Proprietäten gedacht werden können. Auf diesen Widerspruch in der Argumentation Abaelards verweist bereits, wenn auch in diffuser Weise, das auf Wilhelm von Saint Thierry zurückgehende erste der neunzehn Capitula Haeresum, das in Sens (1141) verurteilt wurde: Dort wird abgelehnt, „dass der Vater die volle Macht, der Sohn irgendeine Macht, der Heilige Geist gar keine Macht“86 sei. Diese Deutung der Trinitätslehre Abaelards enthält insofern etwas Zutreffendes, als sie die Vermischung der Ebene des Propriativen mit der des Appropriativen kritisiert: Die potentia wird zwar als spezifische Eigenschaft des Vaters eingeführt, kann den anderen Personen allerdings nicht abgesprochen werden. Die Ambivalenz zwischen einer propriativen und einer appropriativen Verwendung der Ternarglieder bleibt bei Abaelard bestehen.87 Sie wird nicht in jene Harmonisierung überführt, welche die Synode von Sens als häretisch verurteilt hat, indem sie Abaelard unterstellte, die Spannung zwischen proprietären und appropriativen Attributen durch eine gestufte Zuordnung lösen zu wollen, derzufolge nur dem Vater die volle Macht, dem Sohn eine verminderte und dem 85

86

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Th. Chr. 5,17 (Ed. Buytaert 354, 269f.), Th. Sch. 3,17 (Ed. Buytaert/Mews 507, 271-273): „[…] de diuina potentia uel sapientia seu benignitate, iuxta quae, ut dictum est, tres distinguuntur personae”. Wilhelm von Saint Thierry, Capitula Haeresum 1 (Ed. Mews 108): „Quod Pater sit plena potentia, Filius quaedam potentia, Spiritus Sanctus nulla potentia.” Zur Entstehung der Capitula vgl. Mews, The List of Heresies, 105f. Zur Apologie Abaelards vgl. Rivière, Les ‘capitula’ d’Abélard, 17-22. Zum Einfluss Wilhelms von Saint Thierry auf die Formeln von Sens vgl. Jolivet, Sur quelques critiques de la théologie d’Abélard, 24. Vgl. Luscombe, The School of Peter Abelard, 116.

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Geist gar keine potentia zukäme. Die Synode erkannte zwar eine im Denken Abaelards tatsächlich vorhandene Inkonsistenz, nämlich das ungeklärte Verhältnis zwischen proprietären Eigenschaften und Appropriationen, deutete diese Schwachstelle jedoch als Abweichung von einer orthodoxen Trinitätstheologie; dies wiederum war nicht die Absicht Abaelards, der – im Gegenteil – den von der Kirche bezeugten Gottesglauben gegen Anfeindungen verteidigen wollte.88 Er löst das ungeklärte Verhältnis zwischen den Eigentümlichkeiten sowie den Gemeinsamkeiten der trinitarischen Personen in keiner Weise auf – weder in einem als orthodox geltenden noch in einem als häretisch zu verurteilenden Sinn. Damit verbleibt er in einer terminologischen Schwebe, die – anders als Hödls Studie nahe legt – nicht durch „die Grenzen des theologischen Sprachgebrauchs“89 zu rechtfertigen ist. Trotz der trinitätstheologischen Schwierigkeiten, die Abaelards Verwendung des Begriffs der potentia mit sich bringt, ermöglicht er es ihm – als nicht personenspezifisch differenzierte Bezeichnung für eine gemeinsame, die eine Substanz des göttlichen Wesens betreffende Eigenschaft – das Können auf der einen, und das Handeln Gottes auf der anderen Seite rational zu durchdringen. Kann Gott – so ist angesichts seiner Vollkommenheit und der Unzulänglichkeit der kreatürlichen Welt zu fragen – anders oder besser handeln, als er es tatsächlich tut? Es geht hierbei um den Zusammenhang zwischen Macht und Können, der sich im Lateinischen noch deutlicher aufdrängt als im Deutschen, da es sich bei posse um eine Verbalisierung von potentia handelt. Um zu klären, welche Implikationen die Rede von der Macht Gottes für dessen Verhältnis zur Welt birgt, ist also das Können Gottes in den Blick zu nehmen. Dies grenzt Abaelard von anthropomorphen Vorstellungen ab, da es sich nur „auf das Vorteilhafte und die Würde“90 beziehe, nicht hingegen auf einen Mangel. Konkret: Der Mensch kann aufgrund seiner körperlichen Verfasstheit bestimmte Handlungen ausführen, die ihm nur deshalb zukommen, weil er ein aus Seele und Leib zusammengesetztes ens compositum ist. Als solches bewegt er sich – im Vergleich zu Gott, der ein vollkommen einfaches, nicht aus Teilen zusammengesetztes, geistiges Wesen ist – auf einer niederen ontologischen Stufe innerhalb der Seinshierarchie. Tätigkeiten, zu deren Ausführung ein Körper benötigt wird, sind Folgeerscheinungen eines Mangels, einer privatio. Bestimmte Fähigkeiten, die der Mensch hat, Gott hingegen nicht, wie (als extremes Beispiel) die Möglichkeit, zu sündigen, sind also kein Aufweis der beschränkten potentia Gottes, sondern – im Gegenteil – ein Ausdruck seiner Vollkommenheit. Abaelard 88 89 90

Vgl. Conf. fid. univ., epil. 1f. (Ed. Burnett 138, 1-13). Hödl, Von der Wirklichkeit und Wirksamkeit des dreieinen Gottes, 28. Th. Chr. 5,18 (Ed. Buytaert 354, 286-289), Th. Sch. 3,18 (Ed. Buytaert/Mews 507, 268271): „Quibus quidem obiectis, id praedicendum arbitror quod iuxta ipsos quoque philosophos et communis sermonis usum, numquam potentia cuiusque rei accipitur, nisi in his quae ad commodum uel dignitatem ipsius rei pertinent.“

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fasst die unterschiedliche Bedeutung von potentia – je nach dem, ob sie von Gott oder einem Menschen ausgesagt wird – prägnant in einer These zusammen, deren erster Teil negativ angibt, worin Gottes Mächtigkeit nicht besteht, und deren zweiter Teil die Richtung vorgibt, in die der Begriff der potentia dei positiv zu entfalten ist: „Deshalb wird gesagt, dass Gott alles kann, nicht, weil er alle Handlungen unternehmen kann, sondern weil in allen Dingen, von denen er will, dass sie geschehen, seinem Willen nichts widerstehen kann.“91

Es ist demnach kein gangbarer Weg, Gottes Macht von den defizienten Möglichkeiten des Menschen her zu bestimmen. Sie muss vielmehr als Fähigkeit, alles Gewollte auch tatsächlich zu verwirklichen, oder – wie Peppermüller mit Blick auf Abaelards Römerbriefkommentar formuliert – als „Kongruenz von göttlichem Können und Tun“92, von zwei anderen Seiten aus analysiert werden: aus der Perspektive der Willensbildung auf der einen, und der Willensumsetzung auf der anderen Seite. Abaelard lehnt sich in seinem Konzept des Willens eng an Augustinus an, den er als Autorität zur Stützung seiner Allmachtsdeutung heranzieht. In Augustins früher Schrift De duabus animabus findet sich die grundlegende Definition des menschlichen Willens als eine „Bewegung der Seele, die sich ohne Zwang auf etwas richtet, das sie nicht loslassen oder aber erwerben will.“93 Diese Bestimmung, die – trotz zahlreicher Entwicklungen in der Gnaden- und Freiheitslehre – eine Konstante im Denken Augustins bildet,94 wird von Abaelard einerseits übernommen, andererseits ergänzt. Perkams zufolge bezeichnet Abaelard „jede geistige Aktivität des Menschen, die sich auf ein Ziel richtet, als Willen, also ein nicht rationales Begehren ebenso wie die positive Beurteilung einer Sache durch die Vernunft, und eine momentane Handlungsabsicht genau so wie eine dauernde Grundhaltung.“95 Abaelard fügt dem Willen, wie Augustin ihn bestimmt, jedoch noch die Ebene des consensus, der Zustimmung, hinzu: „Wollen und den Willen umsetzen ist nicht dasselbe“96. Diese in Scito te ipsum getroffene Unterscheidung zwischen einer Willensstrebung und deren Hand91

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Th. Chr. 5,21 (Ed. Buytaert 356, 344-347), Th. Sch. 3,21 (Ed. Buytaert/Mews 509, 324326): „Posse itaque Deus omnia dicitur, non quod omnes suscipere possit actiones, sed quod in omnibus quae fieri uult, nihil eius uoluntati resistere queat.“ Peppermüller, Abaelards Auslegung des Römerbriefes, 46. Augustinus, De duabus animabus XIV (Ed. Zycha 68, 23-25): „Definitur itaque isto modo: Voluntas est animi motus cogente nullo ad aliquid vel non amittendum vel adipiscendum.” Vgl. Horn, Augustinus, 136, sowie Horn, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, 113-132. Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 101. Scito I 21,1 (Ed. Ilgner 21, 557f.): „Sicut autem non idem est uelle quod uoluntatem implere, ita non idem est peccare quod peccatum perficere.“

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lungseffektivität wendet Abaelard in der Theologia jedoch nicht auf den Willen Gottes an. In Anlehnung an die Definition Augustins lässt sich daher formulieren: Der Wille des dreifaltigen Gottes bezeichnet die Fähigkeit der gemeinsam agierenden Personen, durch einen frei zustande gekommenen und handlungswirksamen Entschluss, einen gegenwärtigen Zustand beizubehalten oder einen noch nicht eingetretenen Zustand herbeizuführen. Betrachtet man die Macht (oder das Können) aus der Perspektive des Willens, so ist unter potentia die Fähigkeit zu verstehen, einen voluntativen Entscheid vollständig umzusetzen. Die potentia eines Wesens bezeichnet also das Maß der Umsetzbarkeit seiner Willensentscheide. Negativ gesprochen: Ein Wesen, das seinen Willen nicht durchsetzen kann, hat nur eine verminderte potentia, wohingegen Gott die Macht selbst ist, die potentia ipsa, dessen Willen – wie bereits zitiert – „nichts widerstehen kann“97. Eine Betrachtung des Könnens aus der Perspektive des Wollens bringt folgende Einsicht zu Tage: Absolute Macht besagt die Absenz einer Transmissionsdifferenz zwischen Wollen und Können, die für den endlichen und postlapsalen Menschen charakteristisch ist, für Gott hingegen nicht. Der neu eingeführte Arbeitsbegriff der Transmissionsdifferenz bezeichnet den Unterschied, der zwischen einem willentlichen Entschluss und seiner faktischen Umsetzung besteht. Da der Mensch ein endliches und zudem noch voluntativ gespaltenes Wesen ist, eröffnet sich ein doppelter Graben: Der Mensch ist erstens innerhalb seines Willens, also bei der Abwägung, welche Strebungen handlungswirksam werden sollen, gespalten, und stößt zweitens auch bei der Realisierung seiner Willensentscheidungen an Grenzen, da er nicht alles vollbringen kann, was er will. Was ist jedoch präzise darunter zu verstehen, dass die Transmissionsdifferenz bei Gott nicht vorhanden ist? In der Theologia Christiana unterscheidet Abaelard zwei Modi des göttlichen Willens:98 (1) velle secundum providentiae ordinationem: Diese Art des Wollens bezeichnet Gottes schöpferische Tätigkeit. Als Herr über alle Gewalten legt er fest und ordnet an, was geschehen soll. Seine potentia zeigt sich darin, dass alle Anordnungen ohne die beschriebene Transmissionsdifferenz umgesetzt werden. (2) velle secundum adhortationem vel approbationem: Der Wille als Entschluss, durch eine Handlung einen gegebenen Zustand zu bewahren oder einen noch nicht erreichten Zustand zu realisieren, kann auch außerhalb des Handlungs97 98

Th. Chr. 5,21 (Ed. Buytaert 356, 344-347), Th. Sch. 3,21 (Ed. Buytaert/Mews 509, 324326). Vgl. Th. Chr. 5,26 (Ed. Buytaert 357f., 385-381), Th. Sch. 3,24 (Ed. Buytaert/Mews 510, 350-356): „Velle itaque Deus duobus modis dicitur, aut secundum uidelicet prouidentiae suae ordinationem, secundum quod scilicet aliquid disponit apud se ac deliberat statuitque in sua prouidentia, ut sic postmodum compleat; aut secundum consilii sui adhortationem uel approbationem qua unumquemque ad hoc admonet, quod per gratiam suam remunerare paratus esset.”

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kreises des Wollenden liegen, sofern der Wille eine Erwartung an das Handeln eines Dritten darstellt. Gott will, dass der Mensch bestimmte Taten unterlässt (Verbote), andere hingegen vollzieht (Gebote). Der Mensch gefalle Gott – so Scito te ipsum – indem er seinen Willen an dem ausrichte, was gottgefällig sei.99 Hier liegt die Umsetzung von Gottes Willen (der sich dem Menschen als Gottgefälligkeit zeigt) nicht mehr im Bereich der Durchsetzungskraft Gottes selbst, sondern – da Gott die Freiheit des Menschen als Teil von dessen kreatürlicher Ausstattung achtet – in der Moralität des Subjekts begründet. Der zweite Aspekt ist insofern bemerkenswert, als er trotz des Allmachtsprädikats zugesteht, dass die Realisierung des göttlichen Willens nicht mit zwingender Notwendigkeit geschieht, sondern von der sittlichen Disposition des Menschen abhängt, so dass Gott „von vielen Dingen, die nicht geschehen, will, dass sie geschehen.“100 Umgekehrt heißt dies für die moralphilosophische Frage nach dem Guten: Der Mensch hat die Intentionen seines Handelns, sofern es sittlich gut sein soll, am Willen Gottes auszurichten.101 Hier gilt es – unter Verwendung der neuzeitlichen Interpretationsbegriffe Kognitivismus und Voluntarismus102 – eine präzisere Klärung vorzunehmen: Soll der Mensch den Willen Gottes tun, weil dieser Wille gut ist, oder soll er den Willen Gottes tun, einfach weil es sich um den Willen Gottes handelt? Abaelard lehnt die voluntaristische Deutung des göttlichen Willens ab, bei der – wie er den Satiren des Juvenal entnimmt – „anstelle der Vernunft der Wille“ stehe; stattdessen müsse betont werden, dass Gott „das Einzelne will, damit es geschieht, weil er sah, dass es gut ist, dass es geschieht.“103 Die beschriebene Bindung des göttlichen Handelns an das Gute ist keine Beschränkung der absoluten potentia, sondern ein Ausdruck der All99

Vgl. Scito I 4,2 (Ed. Ilgner 4, 78-82): „Sicut enim uolendo facere, quod deo credimus placere, ipsi placemus, ita uolendo facere, quod deo credimus displicere, ipsi displicemus, et ipsum offendere siue contempnere uidemur.“ 100 Th. Chr. 5,28 (Ed. Buytaert 358, 397-399), Th. Sch. 3,26 (Ed. Buytaert/Mews 511, 361364): „Secundum autem posteriorem modum multa dicitur uelle fieri quae non fiunt, hoc est multa adhortari quae certum est ex gratia eius remunerari, si fierent, - quae minime fiunt.“ 101 Zum Verhältnis zwischen Intention und Willen vgl. die einführende Darstellung von Luscombe, Peter Abelard and twelfth-century Ethics, XXXIVf. 102 Auf die komplexe Entstehungsgeschichte und die Problematik der Unterscheidung zwischen dem Volunatrismus auf der einen und dem Intellektualismus beziehungsweise Kognitivismus auf der anderen Seite kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie dient im vorliegenden Zusammenhang – in Anlehnung an den „Dictionnaire“ von Littré – dazu, das wechselseitige Verhältnis zweier mentaler Akte, nämlich des Verstehens und des Wollens, zu charakterisieren. Eine kognitivistische Position setzt „l’entendement au-dessus de la volonté“, eine voluntaristische postuliert einen Vorrang der „volonté au-dessus de l’entendement“ (Borsche, Art. Intellektualismus, 441). 103 Th. Chr. 5,35d (Ed. Buytaert 363, 45-47), Th. Sch. 3,33 (Ed. Buytaert 514, 465-467): „’Sic uolo, sic iubeo. Sit pro ratione uoluntas.’ Sed magis uelle dicendus est singula ut fiant, quia bonum esse ut forent uidit.“ Das Zitat bezieht sich auf Juvenal, Satyrae 6 (Ed. Clausen 223).

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wissenheit, der sapientia, die als Fähigkeit zur Unterscheidung eine Ausprägung der Macht ist und deshalb eine Art Teil („quasi portio“) der Mächtigkeit darstellt.104 Das Gute wird nicht durch den Willen selbst gesetzt,105 sondern durch die Erkenntnis, die dem Willensentschluss vorausgeht, erfasst. Aus diesem Grund ist der gute Wille Gottes ein rationales Vermögen, da ein unvernünftiges Handeln der sapientia, die Gott neben seiner Macht in absoluter Weise zukommt, widersprechen würde. Es ist für Abaelard also „unangebracht, dass Gott das tut, was von jeder Vernunft abweicht.“106 Da Gott die Weisheit selbst ist, handelt er per definitionem vernunftgemäß und gut. Dadurch setzt er wiederum den Maßstab für ein moralisch gutes Handeln des Menschen: Gott zeigt durch sein Tun, was gut und was übel ist. In diesem Sinne lässt sich sogar von einer „Moralität Gottes“107 sprechen. Ob der Mensch selbst jedoch sittlich handelt, ist der unmittelbaren Verfügung durch die Macht Gottes entzogen (velle secundum adhortationem vel approbationem), sondern liegt an der intentio, mit der der Mensch eine Tat vollbringt, nicht an der Tat selbst.108 Dennoch darf der zweite Modus des göttlichen Willens nicht vom ersten, dem velle secundum providentiae ordinationem, getrennt werden, da die kreatürliche Freiheit, mit der der Mensch sich dem moralischen Anruf des göttlichen Willens widersetzen kann, ein Teil der Schöpfungsordnung ist und deshalb eine aus Gottes velle secundum providentiae ordinationem entspringende Fähigkeit darstellt; Gott respektiert diese – gemäß der von ihm eingerichteten Ordnung – auch dann, wenn sie sich gegen ihn richtet. Die potentia dei als Fähigkeit zur unmittelbaren Umsetzung alles Gewollten stößt also bei der Moralität des Menschen an eine von Gott selbst gesetzte Grenze. Aus diesem Grund adaptiert Gott seinen Willen zu einem gewissen Grad an die menschlichen Umstände. Ändert er ihn also? In Scito te ipsum unterscheidet Abaelard in der Tradition Gregors des Großen die vielen (äußeren) sententiae Dei vom einem (inneren) consilium Dei.109 Eine sententia bezeichnet eine satzhaft ausgesprochene Willensäußerung Gottes; als Beispiel kann die an Abraham er104

Vgl. Th. Sum. 3,52 (Ed. Buytaert/Mews179, 619-626). Vgl. Brown, Abelard and the Medieval Origins, 200: „For Abelard, God had to work in accord with the full nature of his goodness.“ 106 Th. Sch. 3,45 (Ed. Buytaert/Mews 519, 612-615): „Si igitur pluuiam nunc facere possit aut uelit, eo utique tempore id facere potest aut etiam uult, in quo id deum facere non oportet quod ab omni dissonat ratione.“ 107 Perkams, Liebe als Zentralbegriff, 146. 108 Vgl. Scito I 30,1 (Ed. Ilgner 30, 779-784). 109 Vgl. Scito I 41,2 (Ed. Ilgner 40, 1041-1046): „‚Deus quippe’, ut beatus meminit Gregorius, ‚nonnumquam sentenciam mutat, consilium numquam’, hoc est ‚quod precipere uel comminari aliqua de causa decreuit, sepe id non implere disponit’. Consilium uero eius fixum permanet, hoc est ‚quod in presciencia sua disponit, ut faciat, numquam efficacia caret’.“ Vgl. Gregor der Große, Moralia in Iob XVI 37,46 (Ed. Adriaen 826f., 53-55) : „Cum ergo exterius mutari uidetur sententia, interius consilium non mutatur, quia de unaquaque re immutabiliter intus constituitur, quicquid foras mutabiliter agitur.“ 105

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gangene Anordnung zur Opferung Isaaks dienen, die im letzten Augenblick zurückgenommen wurde. Consilium hingegen ist der seit Anbeginn feststehende, sich niemals ändernde und sich immer erfüllende Ratschluss Gottes; er entspricht dem velle secundum providentiam.110 Daraus ergibt sich für Abaelard ein Problem: Kann Gott angesichts seiner absoluten Macht, seiner Fähigkeit zur Unterscheidung sowie seiner Güte auf der einen, und der defizitären Welt auf der anderen Seite, nicht anders oder besser handeln, als er es tatsächlich tut? Abaelard verneint dies und vertritt die These, dass Gott (1) immer absolut gut, also – in relationaler Weise aus der Perspektive des Menschen formuliert – bestmöglich handelt, und (2) dass Gott nur das tun kann, was er faktisch auch tut.111 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine Handlungsintention entweder gut oder böse und deshalb entweder zu tun oder zu unterlassen ist, nicht aber beides zugleich. Gott erkennt mit seiner sapientia das Gute wie das Üble und hat durch seine potentia die Fähigkeit, das eine zu tun, das andere hingegen zu unterlassen. Gott handelt also immer gut. Da jedoch kategorisch gilt, dass das aus der rechten Intention stammende Gute immer zu tun und das Böse immer zu meiden ist, Gott aber – wie skizziert – seinem Wesen nach immer gut handelt, kann Gott auch faktisch nicht anderes handeln als er handelt, da er mit innerer Notwendigkeit immer das Gute sucht und dieses niemals unterlässt.112 Die schöpfungstheologischen Implikationen dieser These sind bedeutsam, da die kreatürliche Welt das Ergebnis einer Handlung Gottes ist, die per definitionem immer bestmöglich sein muss.113 Gott hätte demnach – so Abaelards Position in der Theologia Scholarium – „keine bessere Welt machen können, als er machte.“114 Diese Aussage lehnt sich an eine Argumentation an, die sich in Platons Timaios findet:115 Da der Schöpfer „der beste“ oder „besonders gut“ war („optimus erat“) beziehungsweise – im Sprachduktus Abaelards – die Güte selbst ist, strebt er auch danach, alles in bester Weise anzuordnen, so dass die 110

Vgl. Scito I 61,6 (Ed. Ilgner 61, 1588-1592): „Nichil quippe recenter apud se deus statuit uel disponit, set ab aeterno, quaecumque facturus est, in eius propositio consistunt et in eius prouidencia prefixa sunt, tam de condonacione cuiuscumque peccati quam de ceteris, quae fiunt.“ 111 Vgl. Th. Sch. 3,27 (Ed. Buytaert/Mews 511, 381-383): „Constat quippe eum nonnisi bona facere posse, nec nisi ea que ipsum facere conuenit et que bonum est ipsum facere.“ 112 Vgl. Th. Sch. 3,28 (Ed. Buytaert/Mews 512, 390-394): „Si ergo cum bonum sit aliquid fieri, non est bonum ipsum dimitti, nec deus facere uel dimittere potest nisi quod bonum est eum facere uel dimittere, profecto id solum uidetur posse facere uel dimittere quod facit uel dimittit, quia id solum bonum est eum facere uel dimittere.“ 113 Vgl. Brown, Abelard and the Medieval Origins, 203. 114 Th. Sch. 3,30 (Ed. Buytaert/Mews 512, 402): „Hinc est illa Platonis uerissima ratio, qua uidelicet probat deum nullatenus mundum meliorem potuisse facere quam fecerit.“ 115 Vgl. Marenbon, The Platonisms of Peter Abelard, 119f.

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Schöpfung ihm in seiner absoluten Gutheit ähnlich wird. Der „Setzling des Übels“116 stammt nach Platon nicht vom Schöpfer, sondern ist Ausdruck einer verminderten Seinsmächtigkeit der Kreaturen. Die benignitas Gottes leitet also seine kreativ tätige potentia dazu an, alles in bester Weise zu ordnen, weil die Gutheit Gottes in jeder seiner Handlungen nach ihrer vollen Verwirklichung strebt. Würde ein Restpotential an nicht umgesetzter Gutheit bleiben, so wäre die Macht Gottes begrenzt, da er seine potentiell angelegten Fähigkeiten nicht gänzlich aktuieren und somit sein Wesen nur teilweise vollziehen könnte.117 Diese These ist jedoch das Resultat einer Entwicklung im Denken Abaelards. Die Theologia Christiana ist in Bezug auf die schöpfungstheologische Anwendung des Timaios noch etwas zurückhaltender als die Theologia Scholarium: In erstgenannter lehnt Abaelard die Ansicht ab, dass die gesamte Schöpfung – insklusive der menschlichen Natur – so gut wie nur möglich erschaffen worden seien.118 Heißt dies etwa, dass Gott die Schöpfung schlecht eingerichtet hat oder eine Restpotential an Gutheit zurückhielt, das er hätte einsetzen können, um die kreatürliche Welt besser zu gestalten? Marenbon versucht die Zurückhaltung der Theologia Christiana durch einen Verweis auf ethische Folgen zu erklären: Wenn der Mensch ohnehin bestmöglich erschaffen worden sei – wie könnte er sich dann noch um moralische Besserung und sittliche Vervollkommnung bemühen?119 Wenn diese Vermutung tatsächlich die Befürchtungen Abaelards trifft, stellt sich die Frage, warum Abaelard seine Position in der Theologia Scholarium umkehrt, ohne auf seine bisherige Reserviertheit einzugehen und die zu vermeidenden Missverständnisse zu benennen. Heyder versucht sich diesem Problem aus der Perspektive der Expositio in Hexaemeron zu nähern. Sie vertitt (mit Blick auf Marenbon) die These: „Wenn die Schöpfungswerke, wie in der ‚Expositio’ dargestellt, erst in ihrer Gesamtheit ‚sehr gut’ sind, dann ist die von Marenbon […] befürchtete Implikation vermieden.“120 Der Ternar potentia, sapientia, benignitas lässt also folgende Charakterisierung des göttlichen Handelns zu: Gott handelt in seiner potentia 116

Plato Latinus (Transl. Calcidius), Timaeus 29 D f. (Ed. Waszink 22, 18f. 22f.): „Optimus erat, ab optimo porro inuidia longe relegata est. […] Uolens siquidem deus bona quidem omnia prouenire, mali porro nullius, prout eorum quae nascuntur natura fert, relinqui propaginem“. 117 Dieselbe Argumentation ließe sich auch aus der Perspektive der sapientia Gottes formulieren. Vgl. dazu Brown, Abelard and the Medieval Origins, 200: „God’s nature is such that he has thus to create what is wisest and best. The world he actually created must be the best that the most wise God could create. Otherwise, he could have planned in a more wise manner, which is impossible because of his being most wise.“ 118 Vgl. Th. Chr. 5,35f. (Ed. Buytaert 361, 507-511). 119 Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 219, Anm. 13: „Probably what Abelard found objectionable in Plato’s words was the implication that, for instance, God could not have made man better than he is, and so man is so good that he could not be better.“ 120 Heyder, Auctoritas scripturae, 576f., Anm. 834.

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immer gut, weil seine sapientia das Gute irrtumsfrei erkennt und seine benignitas danach strebt, sich selbst in allen schöpferischen Handlungen voll zu verwirklichen, indem sie die potentia dazu anleitet, alle Dinge als gut und damit als Gott ähnlich zu erschaffen. Bei diesem Gedankengang wird der durch Calcidius vermittelte neuplatonische Einfluss deutlich: Abaelard folgt unausgesprochen dem Axiom des „bonum est diffusivum sui“, dem Konzept der metaphysischen Gutheit, die per definitionem keine Missgunst kennt, sondern danach strebt, sich auszubreiten.121 Um dies zu veranschaulichen, wechselt Abaelard erneut die Ebene, ohne es explizit anzugeben. Bei den bisherigen Überlegungen zum notwendig guten Handeln Gottes wurde das Prädikat der potentia nicht in personenspezifischer Weise verwendet, sondern – ganz allgemein – als Mächtigkeit des dreifaltigen Gottes gegenüber seiner Schöpfung entfaltet. Abaelard kehrt jedoch auf die propriative Ebene zurück und spricht von der potentia als alleiniges Merkmal des Vaters, der „den Sohn so gut gezeugt hat, wie er konnte“122. Hier geht es nicht mehr um das gemeinschaftliche Schöpfungshandeln der drei Personen, sondern um die immanente, vorzeitliche Konstituierung des Sohnes durch den Vater. Von der bestmöglichen Zeugung des Sohnes, die nur vom Vater aus geschieht, wird auf die bestmögliche Einrichtung der Schöpfung geschlossen, die das gemeinsame Werk der drei göttlichen Personen ist. Bei der Herstellung dieser Ähnlichkeit werden somit mehrere Ebenen miteinander vermischt: die propriative und die appropriative sowie die innertrinitarische (Zeugung des Sohnes) und die extratrinitarische (Schöpfungshandeln), ohne dass Abaelard dies explizit benennt oder begründet. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Die Rede von Gottes potentia besagt, dass für Gott keine Transmissionsdifferenz zwischen Wollen und Können besteht. Er besitzt eine absolute Handlungsfreiheit. Denkt man die potentia jedoch mit den anderen beiden Ternargliedern zusammen, so ergibt sich aus dem Streben der benignitas, alles so gut wie möglich einzurichten, und aus der Fähigkeit der sapientia, stets die bestmögliche Alternative zu erkennen, dass Gott faktisch nur so handeln kann, wie er es tatsächlich tut. Gott ist aufgrund seiner potentia handlungsfrei. Ist er aber aufgrund der Determinationen, die von der Weisheit und der Güte ausgehen, auch willensfrei?

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Zur Eräuterung des Axioms aus historischer Perspektive vgl. Kremer, Bonum est diffusivum sui, 994-1032. 122 Th. Chr. 5,35 c (Ed. Buytaert 362, 16f.), Th. Sch. 3,31 (Ed. Buytaert/Mews 513, 416-418): „Hac itaque ratione qua conuincitur quia Deus Pater tam bonum genuerit Filium quantum potuit“.

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2.2. Modalität und Temporalität: Gottes naturhaft determinierter Wille Abaelard geht davon aus, dass Gottes Wille durch dessen Natur bestimmt wird, weil Gott sein mächtiges, weises und gütiges Wesen in all seinen Handlungen vollzieht. Dies hat tief greifende Folgen für das Verhältnis des Schöpfers zur kreatürlichen Welt, weil es der Schöpfung nicht nur – wie bereits skizziert – Gutheit, sondern auch eine gewisse Notwendigkeit verleiht. Um den Charakter dieser Notwendigkeit näher zu bestimmen, greift Abaelard auf eine sprachlogische Überlegung zurück: Die Sätze ‚Der Richter bestraft diesen’ und ‚Dieser wird vom Richter bestraft’ beschreiben äußerlich denselben Vorgang, unterscheiden sich jedoch dadurch, dass die erste, aktive Formulierung ein Tun (von Seiten des Richters) bezeichnet, wohingegen die Passivkonstruktion ein Erleiden (durch den Verurteilten) im Blick hat. Dieser perspektivische Unterschied begründet den Umstand, dass eine Stellungnahme, die sich auf einen identischen Akt bezieht, unterschiedliche Aussagen trifft,123 je nach dem, ob sie aktivisch oder passivisch formuliert wird: „Es geschieht nämlich oft, dass ein Richter jemanden nach der Verordnung des Gesetzes bestrafen muss, der aber aufgrund seiner Verdienste ganz und gar nicht von ihm bestraft werden darf“124.

Wenn also der Sachverhalt einer Verurteilung als gerecht bezeichnet wird, so ist zu differenzieren, ob sich diese Wertung auf das Tun des Richters oder das Erleiden durch den Angeklagten bezieht; beides muss nicht ineins fallen, weil es aus der Perspektive des Richters gerecht sein kann, eine Verurteilung auszusprechen (etwa aufgrund glaubwürdiger Zeugenaussagen), es aber dennoch als möglich erscheint, dass das Urteil aus Sicht des passiv Verurteilten ungerecht ist, sofern es auf falschen Zeugenaussagen beruht, die der Richter aber nicht als solche entlarven kann. Ein und dieselbe Bezeichnung – hier das Beispiel ‚gerecht’ – kann also „ihre Bedeutung [significatio] variieren“125, je nach dem, ob sie sich auf ein Tun oder ein Erleiden bezieht. Diesen Gedankengang überträgt Abaelard auf das Problem der Notwendigkeit der Schöpfung, so dass differenzierter zu fragen ist: Bezieht sich ihre Notwendigkeit auf das Tun des Schöpfers, etwas ins Dasein zu rufen, oder auf das Erleiden durch die Schöpfung, 123

Vgl. Rosier-Catach, Abélard et les grammairiens, 147: Le „verbe signifie l’action et la passion, c'est-à-dire que l’action ou la passion inhère en la personne agente.“ 124 Th. Sch. 3,52 (Ed. Buytaert/Mews 522, 710-712): „Sepe itaque contingit ut secundum legis sanctionem iudex debeat aliquem punire, qui tamen nequaquam pro meritis suis debeat ab eo puniri“. Das Beispiel findet sich auch in Scito I 24, 5-7 (Ed. Ilgner 26, 668-678). 125 Th. Sch. 3,52 (Ed. Buytaert/Mews 522, 703-707): „Sed et cum idem sit iudicem punire istum et istum puniri a iudice, non tamen concedi oportet ut si iustum sit iudicem punire istum, iustum etiam sit istum puniri a iudice, cum uidelicet hoc nomen ‚iustum’ sicut et ‚possibile’ in talibus significationem uariet.“

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die ins Dasein gerufen wird? Abaelard zufolge ergibt sich die necessitas creationis aus der Natur des Schöpfers heraus, nicht jedoch vonseiten der Kreaturen selbst, die an ihrer Entstehung nicht aktiv-kausal beteiligt waren, sondern diese passiv ‚erleiden’. Die Willensentscheidung Gottes, einen kreatorischen Akt zu setzen, ist in seinem Wesen begründet, von diesem determiniert und deshalb als notwendig anzusehen: „Oder wenn wir annehmen, dass er [sc. Gott] ohne den Willen, die Welt zu schaffen, oder den Willen, sich zu erbarmen, nicht sein könnte, sind wir dennoch nicht davon zu überzeugen, dass entweder die Welt oder die Dinge, die geschaffen wurden, nicht hätten nicht sein können. Dort nämlich wird ‚möglich’, wie schon bestimmt wurde, auf die Natur Gottes, hier auf die Natur der Geschöpfe hin ausgesagt. Obwohl es notwendig ist, dass Gott aus der eigenen Natur heraus sowohl die Vorsehung der Dinge als auch einen guten Willen mit Blick auf sie hat, weil ihm dies ganz besonders zukommt, ist es dennoch nicht notwendig, dass die Natur der Dinge einfordert, dass sie sind, da sie auch gänzlich nicht sein können.“126

Abaelard leitet eine Notwendigkeit des Schöpfungsaktes aus dem Selbstvollzug des göttlichen Wesens ab: Die sapientia als Vorsehung richtete eine Schöpfung ein, die Gott aus Güte (benignitas) ins Leben rufen wollte und dies aufgrund seiner Macht (potentia) auch tatsächlich tun konnte. Die Kreaturen hingegen haben als abhängig seiende Wesen, die ihre Existenz dem Schöpfergott verdanken, keine ihnen inhärente Notwendigkeit, aus der heraus sie ins Dasein treten müssten. Man könnte also – aus der Perspektive der kreatürlichen Welt – von einer extrinsischen Notwendigkeit der Schöpfung sprechen: Sie muss sein, allerdings nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund eines Wesensvollzugs, der außerhalb ihrer selbst liegt, da es sich um die Naturverwirklichung des transzendenten Gottes handelt, der zwar frei, aber dennoch (aus seiner Perspektive) mit Notwendigkeit auf die Verwirklichung seines eigenen Wesens hin agiert. Bei Gott können also Freiheit und Notwendigkeit, willentlicher Entschluss und Determination zusammen gedacht werden: Die „Notwendigkeit seiner Natur oder seiner Güte sind nämlich weder von seinem Willen getrennt, noch darf man sie einen Zwang nennen, durch den er gegen seinen Willen gezwungen wird, dies zu tun.“127 126

Th. Sch. 3,53 (Ed. Buytaert/Mews 523, 734-743): „Aut si eum sine uoluntate creandi mundum, uel uoluntate miserendi ponamus non potuisse non esse, non ideo cogendi sumus uel mundum uel ea que creata sunt non potuisse deesse. Ibi quippe, sicut iam determinatum est, ad naturam dei, hic ad naturam creaturarum ‚possibile’ sumitur. Vnde necesse non est, ut, cum deus ex propria natura uel prouidentiam rerum uel bonam de eis uoluntatem habere necesse sit, quia hoc uidelicet ei maxime conuenit, non tamen natura rerum ut ipse sint exigit, que omnino non esse possunt.“ 127 Th. Sch. 3,54 (Ed. Buytaert/Mews 523, 747-749): „Hec enim quedam nature uel bonitatis eius necessitas ab eius uoluntate non est separata, nec coactio dicenda est qua etiam nolens id facere cogatur.“

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Der Wille ist also ein Vermögen, das durch das mächtige, weise und gütige Wesen Gottes seine inhaltliche Ausrichtung erhält und nicht als unfrei zu bezeichnen ist, wenn es – augustinisch gesprochen – das nicht loslassen oder erwerben will,128 was der Natur Gottes am meisten entspricht. Der Wille Gottes ist also frei, weil er determiniert ist und dadurch erst zum Willen Gottes wird. Gott will – aufgrund seiner absoluten metaphysischen wie moralischen Gutheit – immer das Gute, das er – durch seine Weisheit – sicher erkennt. Es lässt sich also sagen, dass „diese Notwendigkeit der göttlichen Natur keinesfalls von seinem Willen getrennt ist, weil er auch selbst das sein will, von dem notwendig ist, dass er es ist, das heißt, dass er es nicht nicht sein kann.“129

Der Wille Gottes gründet in seinem Wesen und strebt danach, handlungswirksam umzusetzen, was diesem Wesen angemessen ist. Da Gott jedoch mit der Güte selbst identifiziert wird – sie ihm also substantiell auf der Ebene des Seins, und nicht nur per accidens auf der des Habens zukommt – vollzieht er diese Eigenschaft in jeder seiner Handlungen in höchstem Maße. Sein Handeln ist in diesem Sinne als modal determiniert zu bezeichnen: Er handelt notwendigerweise immer gut und deshalb (superlativistisch gesprochen) in bestmöglicher Weise, weshalb auch die Schöpfung als sein Werk (wie skizziert) bestmöglich eingerichtet ist. Aufgrund der für Abaelard rational einsehbaren Tatsache, dass Gott immer auf ihm angemessene Weise (conveniens),130 also bestmöglich handelt, und es für jede Handlung einen geeigneten sowie einen ungeeigneten Zeitpunkt gibt, wird geschlussfolgert, dass Gottes Handeln nicht nur modal, sondern auch temporal determiniert ist: Er „kann nur das tun oder unterlassen, was er tut oder unterlässt, und dies nur auf die Art und zu der Zeit, zu der er es tut, nicht zu einer anderen.“131 Der Wille Gottes ist also dadurch determiniert, dass er immer bestmöglich und zum richtigen Zeitpunkt handeln muss, um seinem Wesen als perfectio summi boni zu entsprechen. Abaelard setzt erneut die Ternarglieder zueinander in Beziehung: Wenn es für jede Handlung einen angemessenen Zeitpunkt gibt und Gott immer angemessen handelt, heißt dies dann, dass Gottes potentia eingeschränkt ist, weil er zu einem 128

Vgl. Augustinus, De duabus animabus XIV (Ed. Zycha 68, 23-25): „Definitur itaque isto modo: Voluntas est animi motus cogente nullo ad aliquid vel non amittendum vel adipiscendum.” 129 Th. Sch. 3,54 (Ed. Buytaert/Mews 523, 749-753): „Nam et cum ipsum necesse sit immortalem esse uel necessario immortalis dicatur, nequaquam hec diuine nature necessitas ab eius uoluntate disiuncta est, cum et hoc ipse uelit esse quod necesse est ipsum esse, id est quod non potest non esse.“ 130 Vgl. Th. Sch. 3,57 (Ed. Buytaert/Mews 524, 774-779). 131 Th. Sch. 3,56 (Ed. Buytaert/Mews 524, 767-771): „Predictis itaque rationibus uel obiectorum solutionibus, liquere omnibus reor ea solummodo deum posse facere uel dimittere quecumque facit uel dimittit, et eo modo tantum uel illo tempore quo facit, non alio.“

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unangemessenen Zeitpunkt nicht handeln kann? Auch hier kommt – wie bei der Explikation der Notwendigkeit der Schöpfung – eine sprachliche Differenzierung zum Tragen. Abaelard vertritt die These, dass Gott „zu einer Zeit etwas tun kann, was er zu einer anderen Zeit nicht tun kann.“132 Dieser Satz sei jedoch nur dann zutreffend, wenn sich die zeitliche Spezifikation nicht auf das Verb ‚können’, sondern auf ‚tun’ beziehe. Um dies zu veranschaulichen verwendet Abaelard das aristotelische Schema von Akt und Potenz, das ihm nicht durch einen direkten Zugang zur Metaphysik des Stagiriten, sondern wahrscheinlich durch Boethius bekannt ist. Diesem Modell geht es darum, Bewegung und damit – in einem allgemeineren Sinne – jede Art von Veränderung zu erklären, indem zwischen einer der Wirklichkeit nach vollzogenen Handlung (Akt) und einer der Möglichkeit halber ausführbaren Tat (Potenz) unterschieden wird:133 Letztere bedingt die erste, da jede Veränderung die Überführung einer bereits angelegten Potenz in den Akt darstellt. Jeder mögliche Zustand E1, den ein Seiendes aus allen möglichen Zuständen EN tatsächlich (actualiter) erreichen kann, ist bereits in ihm angelegt (potentialiter), selbst wenn sich das bezeichnete Seiende nicht im Zustand E1 befindet. Der Möglichkeit nach ist jedoch jedes für ein Seiendes erreichbare Entwicklungsziel bereits in seinem Wesen grundgelegt, auch wenn diese Anlage zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zur Verwirklichung gelangt. Ein Mensch, der geht, ist der Wirklichkeit nach ein Gehender, der Möglichkeit nach aber ein Sitzender, Stehender, Liegender. Hierbei unterscheidet Aristoteles zwischen einer potentia activa, unter der das zu verstehen ist, „was in dem Möglichen selbst das Prinzip des Entstehens hat“134, und einer potentia passiva, also einer Fähigkeit, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu verwirklichen, sondern auf eine von Außen kommende Aktualisierung, einen Katalysator, angewiesen ist. Abaelard übernimmt den aus diesem Schema sich ergebenden „Möglichkeitsbegriff“135 und wendet ihn auf die bereits zitierte These an, wonach Gott „zu einer Zeit etwas tun kann, was er zu einer anderen Zeit nicht tun kann“136. Formt man diesen Satz modallogisch um,137 so ließe sich sagen: ‚Es ist möglich, dass Gott zu einem Zeitpunkt etwas tun kann, was er zu einem anderen Zeitpunkt nicht tun kann.’ Im Lateinischen wie im Deutschen bleibt der Bezug der temporalen Bestimmung ungeklärt: Man könnte die Proposition entweder im Sinne eines ‚Es ist möglich, jetzt zu können’ oder ‚Es ist möglich, jetzt zu tun’ deuten. Abaelard 132

Th. Sch. 3,59 (Ed. Buytaert/Mews 525, 790f.): Deus „potest facere aliquo tempore quod alio facere non potest.“ 133 Vgl. Aristoteles, Metaphysica IX 6, 1048a 58 - b 7. 134 Aristoteles, Metaphysica IX 7, 1048 a 17. 135 Perkams, Theologia Scholarium, 460, Anm. 476. 136 Th. Sch. 3,59 (Ed. Buytaert/Mews 525, 790f.): Deus „potest facere aliquo tempore quod alio facere non potest.“ 137 Eine formal-logische Analyse des auf Gott angewendeten Möglichkeitsbegriffs findet sich bei Marenbon, Abelard’s Concept of Possibility, 606-608.

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behauptet, die These sei nur dann wahr, wenn man die letztgenannte Variante wählt, so dass sich – mit Blick auf die aristotelische Unterscheidung – folgender Zusammenhang ergibt: Gott kann aufgrund seiner potentia, die ihm wesenhaft zukommt, alles tun. Er besitzt eine absolute potentia activa, die sich selbst in den Akt überführt. Da er sein Wesen voll und in höchstem Maße verwirklicht, bleibt von dem Konglomerat absoluter Möglichkeiten kein unausgeschöpftes Restpotential, das nicht in den Akt überführbar wäre; Gott verwirklicht sich voll und in bester Weise. Dieser Akt des Selbstvollzugs ist jedoch nicht Ausdruck einer blinden Mächtigkeit, sondern wird inhaltlich durch die sapientia und die benignitas ausgerichtet, so dass es sowohl einen – durch die Güte gelenkten und die Weisheit erkannten – geeigneten Zeitpunkt gibt, eine gegebene Potenz in den Akt zu überführen, als auch einen unpassenden – in Weisheit erkannten und aus Güte zu meidenden – an dem eine gewisse Handlung zu unterlassen ist. Gott wäre zwar seiner potentia nach in der Lage, alles zu vollbringen; der willentliche Entschluss, diese Potenz auch in den Akt zu überführen, ist jedoch durch die Natur Gottes, die immer in höchstem Maße angemessen (das heißt zum richtigen Zeitpunkt) handelt, determiniert, so dass nicht jede Potenz zu jedem Zeitpunkt aktuiert werden kann, obwohl Gott potentialiter – nicht actualiter – handeln könnte und somit seiner Allmacht niemals beraubt ist, selbst wenn es sich um eine Macht handelt, die sich lediglich im Modus der Möglichkeit befindet. Gott hat also in seiner absoluten potentia die Fähigkeit, alles zu jedem Zeitpunkt tun, „auch wenn er sie deshalb soeben nicht ausüben kann, weil es ihm nicht zukommt, dass sie jetzt ausgeübt wird. Denn von niemandem wird jemals gesagt, er sei einer Fähigkeit beraubt, von dem sicher ist, dass er sie ausüben könnte, wenn er wollte, und dass niemand seinem Willen widerstehen könnte. Wenn er aber deswegen als allmächtig bezeichnet wird, weil er – wie wir oben bedacht haben – immer das kann, was er will, ist er immer gleich allmächtig, da es immer sicher ist, dass er vollbringen kann, was er 138 will, und dass sein Wille niemals durch irgendein Hindernis gestört werden kann.“

Die Übernahme des aristotelischen Akt-Potenz-Schemas ermöglicht es Abaelard, den Willen Gottes zugleich als absolut frei und als determiniert zu bestimmen: Er ist insofern frei, als er potentiell alles wollen kann, er ist insofern determiniert, als er nicht anders wollen kann, als bestmöglich zu handeln, weshalb er notwendigerweise nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Weise – kurzum: angemessen – handelt. Diese, in seinem eigenen Wesen gründende, sich modal wie temporal manifestierende Bedingtheit des eigenen Willens wird nicht 138

Th. Sch. 3,60 (Ed. Buytaert/Mews 525f., 812-821): „Hac itaque ratione potentia incarnandi deus priuatus non est quam olim exercuit, licet eam exercere modo ideo non possit, quia eam minime nunc exerceri conuenit. Nec quisquam umquam aliqua potentia priuatus dicitur, quem certum sit eam si uellet exercere posse, nec eius uoluntati quemquam resistere ualere. Cum autem inde omnipotens dicatur, ut supra meminimus, quia semper quicquid uelit possit, semper eque omnipotens est, cum semper, quicquid uelit, certum sit eum complere posse, nec eius umquam uoluntatem aliquo impedimento disturbari posse.“

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als Einschränkung gedeutet, weil Gott das zeitlich-sukzessive Empfinden, durch das der menschliche Geist die Abläufe der Welt strukturiert, fremd ist. Bei der Zeit handelt es sich um ein kreatürliches Phänomen: Während der Mensch verschiedene Ereignisse in eine Reihenfolge bringen muss, um sie zu erfassen (jetzt wird diese Handlung ausgeführt, danach eine andere), verläuft Gottes Denken simultan und ist deshalb am ehesten als ‚reine’ Gegenwart zu bezeichnen, der sukzessive Abläufe im Sinne eines ‚früher, jetzt und später’ fern sind.139 Aufgrund der Transtemporalität ist es kein Mangel, dass Gott eine immer und seit Ewigkeit vorhandene Fähigkeit (Potenz) nicht zu jedem Zeitpunkt ausüben kann (Akt).

2.3. Wie lässt sich Gottes Freiheit deuten? Ein Ausblick Um die freiheitstheoretischen Implikationen von Abaelards Theorie des göttlichen Handelns zu erfassen und mit zeitgenössischen Begrifflichkeiten zu veranschaulichen, wird folgende Arbeitshypothese aufgestellt: Die Argumentationsstrategie, durch welche Abaelard versucht, die Freiheit des göttlichen Willens zu erläutern, weist starke Parallelen zu einer in der Gegenwart anzutreffenden Deutung menschlichen Wollens auf, die versucht, Freiheit und Determination zusammen zu denken und deshalb als ‚Kompatibilismus’ bezeichnet wird. Paradigmatisch wird diese Theorie von Harry G. Frankfurt vertreten. Brachtendorf betont den prägenden Einfluss, den Frankfurt auf die Entwicklung der gegenwärtigen kompatibilistischen Ansätze, wie sie sich im deutschsprachigen Raum etwa bei Bieri, Pauen oder Lohmar finden,140 ausübt. „Seine [sc. Frankfurts] Aufsätze seit den 70er Jahren enthalten, oft in knapper Form, fast alle Ideen, die Bieris und Pauens Freiheitskonzept tragen“141. Welche methodischen Grundannahmen liegen einer Betrachtungsweise zugrunde, die argumentative Parallelen zwischen dem modernen Kompatibilismus und Abaelards Theorie der göttlichen Freiheit analysiert? Wie schon bei den Querverweisen zu Kant, geht es auch hier nicht um die Behauptung einer genetischen Abhängigkeit. Stattdessen sollen argumentative Ähnlichkeiten benannt werden, die sich trotz des historischen Grabens ausmachen lassen. Bei diesem Unterfangen wird der Theologie Abaelards eine analytische Auswertbarkeit unterstellt, die davon ausgeht, dass auch solche Positionen, die historisch gesehen unterschiedlichen Epochen angehören, in ein systematisches Gespräch miteinander treten können, weil sie sich mit vergleichbaren Fragestellungen aus139

Vgl. Th. Sch. 3,62-64 (Ed. Buytaert/Mews 526f., 841-884). Vgl. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 54, sowie Pauen, Illusion Freiheit, 184f. und Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit, 321. 141 Brachtendorf, Personalität und Freiheit, 158. 140

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einandersetzen.142 In der Forschungsliteratur ist es nicht unüblich, Frankfurt als zeitgenössischen Referenzautor zu nennen, dessen begriffliche Unterscheidungen zur Erhellung einer historischen Position dienen können: Hopkins143 und Brachtendorf144 haben solche Versuche bereits für Augustins Theorie der menschlichen Freiheit unternommen. Die vorliegende Untersuchung geht erstmals der Frage nach, inwiefern Freiheit und Notwendigkeit des göttlichen Handelns in kompatibilistischen Termen ausgedrückt werden können: Freiheit und Determination würden sich demnach bei der Betrachtung von Gottes Handeln nicht ausschließen, sondern wären miteinander vereinbar und stünden sogar in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Methodisch bietet sich ein Vergleich auf volitionstheoretischer und essenztheoretischer Ebene an. Ersterer geht es um die Beschaffenheit des menschlichen Willens, letzterer um dessen wesensmäßige Grundlagen. Zunächst ist die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Willensfreiheit zu betrachten. Handlungsfrei ist ein Mensch, wenn er in der Lage ist, diejenigen Strebungen, die er handlungseffektiv will, auch tatsächlich umzusetzen: Er kann tun, was er will.145 Der Begriff der Handlungsfreiheit drückt also ein bestimmtes Entsprechungsverhältnis zwischen der intramentalen und der extramentalen Wirklichkeit aus: Ein Entschluss kann – trotz der bleibenden Transmissionsdifferenz zwischen wollen und tun, die durch das begrenzte menschliche Können konstituiert wird – äußerlich umgesetzt werden: Ist das Können, etwas Gewolltes zu tun, vorhanden, so spricht man von Handlungsfreiheit. Ist die Transmission zwischen den drei Größen Können, Wollen und Tun gestört, so ist der Mensch nicht mehr handlungsfrei. Er handelt entweder unfrei, wenn eine andere als die gewollte Strebung handlungseffektiv wird, oder er handelt gar nicht, sondern zeigt nur ein ‚Verhalten’, das zwar von ihm ausgeht, zu dem er sich aber nicht voluntativ entschieden hat (etwa bei reflexhaften Reaktionen). Dihle vertritt die Ansicht, dass sich die antike Freiheitsdiskussion vor allem um eine Klärung des 142

Diese methodische Vorentscheidung ist in ihren Grundzügen mit dem vergleichbar, was Beckermann als „Analytische Einstellung“ bezeichnet. Sie geht davon aus, „daß es zeitunabhängige philosophische Probleme gibt“ sowie dass „Argumente nicht relativ zu einer bestimmten Zeit, Kultur oder einem philosophischen System“ sind (Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, VIIIf. Hervorhebungen im Original). Der letztgenannte Aspekt erscheint – zumindest so pauschal, wie Beckermann ihn formuliert – problematisch. Eine derart zugespitzte These ist jedoch auch nicht erforderlich, um es methodisch zu rechtfertigen, dass unterschiedliche historische Positionen in ein gemeinsames systematisches Gespräch gebracht werden. 143 Vgl. Hopkins, Freedom of the Will, 3-39. 144 Vgl. Brachtendorf, Augustinus – De libero arbitrio, 44-63, ders., Augustins Confessiones, 182-188, und ders., Augustine’s Notion of Freedom, 219-231. 145 Vgl. Steinvorth, Freiheitstheorien in der Philosophie, 301ff. und Kanzian, Gibt es nicht doch Handlungen?, 290-302.

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Begriffs der Handlungsfreiheit bemühte.146 Freiheit wurde dabei als ein wohlgeordnetes Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen intramentalem Wollen und faktischem Können verstanden. Setzt man diese Überlegungen zur Gotteslehre Abaelards in Beziehung, so zeigt sich: Gott ist aufgrund der ihm eigenen potentia, die eine Macht oder ein Können im absoluten Sinne bezeichnet, handlungsfrei, weil er die Fähigkeit besitzt, jeden getroffenen Entschluss, den er zu realisieren sucht und ihn so zu seinem Willen erhebt, auch durchzusetzen.147 Willen und Können sind bei Gott, wie bereits ausgeführt, koextensive Größen, da keine Transmissionsdifferenz zwischen Wollen und Können besteht. Positiv formuliert heißt dies, dass Gott alles kann, was er will, negativ gesprochen lässt sich sagen, dass Gott nichts von dem kann, was er nicht will: „Demnach wird auch besonders zutreffend von Gott gesagt, dass ihm das Können unterworfen ist, wenn er will, so dass beim Tun der einzelnen Dinge sein Können und sein Wille sich so begleiten, dass er keineswegs kann, was er nicht will, und etwas dann nicht tun kann, wenn er nicht will, dass es geschieht.“148

Wollen und Können stehen aufgrund des ersten Ternargliedes in einem perfekten Entsprechungszusammenhang, weil dem Willen Gottes ein absolutes Können entspricht, das weder aufgrund der Begrenztheit der eigenen Natur noch durch die Ausübung fremden Zwangs eingeschränkt wird. Gott ist also – gemäß der Definition von Handlungsfreiheit als ‚tun können, was man will’ – im höchsten Sinne handlungsfrei. Damit ist jedoch die Freiheitsproblematik noch keiner hinreichenden Klärung unterzogen, da der Begriff der Handlungsfreiheit an einer entscheidenden Stelle zu kurz greift: Die intramentale Dimension der Abwägung und Entscheidungsfindung, die erst dazu führt, dass ein Wille zu Stande kommt, gerät nicht in den Blick. Diese Lücke wird durch den Begriff der Willensfreiheit geschlossen:149 Willensfrei ist ein Mensch, wenn er in der Lage ist, konkurrierende Volitionen gegeneinander abzuwägen, sie in ein nach Präferenzen geordnetes Verhältnis zueinander zu setzen und schließlich zu entscheiden, welche Strebung handlungswirksam wird. Ist dies der Fall, kann der Mensch wollen, was er will. Die Willensfreiheit nimmt also – anders als die Handlungsfreiheit – nicht mehr die durch das Können bestimmte Innen-AußenEntsprechung zwischen Wollen und Tun in den Blick, sondern verbleibt auf der Ebene des Wollens, indem sie danach fragt, wie aus den vielen, sich teilweise 146

Vgl. Dihle, Die Vorstellung vom Willen, 79. Vgl. Th. Chr. 5,21 (Ed. Buytaert 356, 344-347), Th. Sch. 3,21 (Ed. Buytaert/Mews 509, 324-326): „Posse itaque Deus omnia dicitur, non quod omnes suscipere possit actiones, sed quod in omnibus quae fieri uult, nihil eius uoluntati resistere queat.“ 148 Th. Sch. 3,45 (Ed. Buytaert/Mews 519, 604-609): „Proinde itaque atque optime de deo dictum est quod subest ei posse, cum uoluerit, ut uidelicet in singulis faciendis ita eius potestas et uoluntas sese comitentur, ut quod non uelit minime possit, nec possit etiam tunc facere quando ut fiat non uult“. 149 Vgl. Keil, Willensfreiheit, 1-14. 147

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widersprechenden Strebungen und Wünschen letztlich der Wille konstituiert wird. An dieser Stelle setzt die Reflexion Frankfurts ein, der versucht, den Freiheitsbegriff durch die Annahme zweier Instanzen des menschlichen Wollens zu klären. Er entwickelt eine „zweistufige Willenstheorie“150, die zunächst zwischen den Akten des Wollens und des Wünschens sowie – in einem zweiten Schritt – zwischen verschiedenen Ebenen des Wünschens differenziert. Wünsche sind noch nicht handlungswirksame Neigungen innerhalb des Subjekts, die danach streben, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen; jeder Mensch verfügt über unzählige, teilweise im Widerstreit zueinander stehende Neigungen, aber nur über einen Willen, der diejenige Neigung bezeichnet, die auch tatsächlich handlungswirksam wird und um deren Realisierung sich der Agierende bemüht. Bei der Abwägung heterogener Strebungen, die der Willensbildung vorausgeht, unterscheidet Frankfurt zwischen „first order desires“ und „second order volitions“.151 Unter den first order desires sind die noch ungeordneten Wünsche zu verstehen, die auf eine Realisierung drängen. Ihnen übergeordnet sind die second order volitions, die eine kritische Sortierung der first order desires vornehmen und angesichts grundlegender Überzeugungen beurteilen, welche der Wünsche erster Ordnung handlungswirksam werden sollen.152 Ist es möglich, die geplante Handlung ohne äußeren Zwang umzusetzen, so ist eine Person frei im Sinne der Handlungsfreiheit. Willensfreiheit hingegen bezeichnet die Fähigkeit, zu entscheiden, welche der vielen first order desires im Licht der sie bewertenden übergeordneten Wünsche, der second order volitions, handlungseffektiv werden sollen. Eine Person ist Frankfurt zufolge als willensfrei zu bezeichnen, wenn sie sich ihren Willen selbst aussuchen kann, das heißt, wenn sie selbst auf der Grundlage ihrer second order volitions entscheidet, welcher first order desire handlungswirksam wird. Frankfurt definiert demnach die Willensfreiheit als einen intakten Steuerungszusammenhang, der „nur das Verhältnis der zweiten Motivationsebene zur ersten betrifft, die Frage nach der Herkunft der Wünsche“153 aber unbeachtet lässt. Anders gesagt: Der Mensch kann zwar entscheiden, welcher Wunsch erster Ordnung handlungswirksam und damit zu seinem Willen wird, er kann jedoch nicht angeben, warum er sich mit einer Volition zweiter Ordnung identifiziert und diese zur Grundlage seines Entscheidens macht.154 Die Herkunft der second order volitions ist also nicht rational einholbar; sie ist der Verfügung der Person entzogen, sofern man einen regressus ad infinitum ablehnt, der beliebig viele, hierarchisch gestufte Wunschebenen annimmt. Die Volitionen zweiter Ordnung müssen vielmehr als gegeben hin150

Kusser, Zwei-Stufen-Theorie und praktische Überlegung, 85. Vgl. Frankfurt, Freedom of the will and the concept of a person, 12. 15. 152 Vgl. Merker, Der Wille, 139-142. 153 Brachtendorf, Personalität und Freiheit, 161. 154 Vgl. Herrmann, Freier Wille ohne Wunschkritik, 155. 151

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genommen werden und sind daher als determiniert zu bezeichnen: Es gebe eine „volitional necessity“155, aus der heraus sich die second order volitions einer Person bilden. Die komplexe Genese dieser Determination kann zwar nicht vernünftig aufgedeckt und ihrer genauen Entstehung nach seziert werden, sie ist jedoch auch keine anonyme Macht, die über eine Person hereinbricht, sondern liegt im Wesen des Handelnden begründet. Durch diesen Gedankengang wird die volitionstheoretische mit der essenztheoretischen Untersuchungsebene verbunden: Frankfurt geht davon aus, dass es bestimmte Wünsche zweiter Ordnung gibt, die einer Person wesenseigen sind: „We can be only what nature and life make us, and that is not so readily up to us.“156 Die bereits festgelegte, weder rational einholbare noch volitional veränderbare Struktur der Wesenseigenschaften einer Person ist Teil der conditio humana. Der Mensch besitzt also ihm inhärente, nicht der freien Wahl unterliegende Anlagen, auf deren Verwirklichung er – wie Frankfurt formuliert – „wholeheartedly“, also mit ganzem Herzen, hinwirkt.157 Das Konzept der ‚wholeheartedness’ darf, so betont Quante, „nicht mit einer bestimmten psychischen Erlebnisqualität verwechselt werden“, sondern ist als „Kohärenz innerhalb des Systems von Wünschen und Volitionen zweiter Stufe“158 aufzufassen. Wholeheartedness bezeichnet eine logische Widerspruchsfreiheit, die sich auch im subjektiven Empfinden durch das Gefühl der Zufriedenheit (satisfaction) oder der Selbst-Zufriedenheit (self-satisfaction) manifestiert.159 Aus seiner Natur heraus, die der Mensch als gegebene und nicht als kreierbare erfährt, ergibt sich nach Frankfurt eine Vorbestimmtheit der Volitionen zweiter Ordnung, die das Handeln inhaltlich determinieren und sich vor allem im „caring“160 niederschlagen, wie Frankfurt in Anlehnung an Heideggers Begriff der Sorge formuliert.161 Aufgrund seiner essentialen Determiniertheit ‚sorgt’ eine Person sich um ihr bedeutsam erscheinende Dinge: Sie verfolgt kontinuierlich, allerdings mit wechselnder Priorität, bestimmte Ziele, die sie zeitweise anderen unterordnen kann, ohne sie dadurch dauerhaft zu suspendieren. Kurzum: Frankfurt vertritt die These, dass Willensfreiheit dann gegeben ist, wenn eine Person ihren Willen insofern selbst bestimmen kann, als sie aufgrund übergeordneter Volitionen ent155

Frankfurt, On the Necessity of Ideals, 111. Frankfurt, The Faintest Passion, 101. 157 Vgl. Frankfurt, The Faintest Passion, 100: „A person is volitionally robust when he is wholehearted in his higher-order attitudes and inclinations, in his preferences and decisions, and in other movements of his will. This unity entails no particular level of excitement or warmth. Wholeheartedness is not a measure of the firmness of a person’s volitional state, or of his enthusiasm. What is at issue is the organization of the will, not its temperature.“ 158 Quante, The things we do for love, 124. 159 Vgl. Frankfurt, The Faintest Passion, 102f. 160 Frankfurt, On Caring, 155f. 161 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §43c. 156

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scheidet, welche Strebung handlungswirksam wird. Die inhaltliche Beschaffenheit der wertenden second order volitions ist jedoch nicht Gegenstand einer möglichen Selbstwahl, sondern durch das faktische Wesen einer Person, ihre Natur, determiniert, die als „unhintergehbare Legitimationsinstanz“162 der übergeordneten Volitionen fungiert. Angesichts dieser Überlegungen drängen sich Parallelen zu Abaelards Konzept von Freiheit und Notwendigkeit des göttlichen Handelns auf. Zunächst ist aber die Frage nach der grundsätzlichen Übertragbarkeit der beim menschlichen Willen ansetzenden Überlegungen Frankfurts auf die Gotteslehre Abaelards zu stellen: Kann das begriffliche Instrumentarium, welches zur Analyse der volitionalen Strukturen des Menschen entwickelt wurde, überhaupt auf Gott angewendet werden, ohne einen fundamentalen Kategorienfehler zu begehen? Formuliert man diese Problemstellung in der Sprache Abaelards, so ließe sich fragen: Ist es angemessen und möglich, den Begriff des liberum arbitrium auf Gott anzuwenden? Abaelard bejaht dies ausdrücklich. Eine freie Entscheidung sei dann vorhanden, „wenn jemand die Fähigkeit besitzt, das, was er aus der Vernunft heraus entschieden hat, willentlich und ohne Zwang umzusetzen. Diese Freiheit des Urteils [liberum arbitrium] wohnt zweifelsohne sowohl Gott, wie auch den Menschen, die der Fähigkeit 163 des rechten Willens nicht beraubt sind, gleichermaßen inne.“

Das arbitrium stellt also jene vernunftgeleitete Instanz dar, die über die Handlungswirksamkeit verschiedener Strebungen befindet. Es ist (1) sowohl beim Menschen als auch bei Gott vorhanden und kann (2) mit den von Frankfurt eingeführten second order volitions verglichen werden,164 die die vielen first order desires sortieren, sie in eine präferentielle Rangfolge bringen und schließlich entscheiden, welcher Wunsch erster Ordnung handlungseffektiv wird. Die beiden Beobachtungen zeigen, dass einer Erläuterung von Abaelards Theorie des göttlichen Handelns mithilfe von kompatibilistischen Termen kein Kategorienfehler zugrunde liegt: Historisch gesehen betont Abaelard, dass der Begriff des liberum arbitrium, der zunächst menschliches Wollen und Handeln erklären soll, auch auf Gott anwendbar ist. Da dies der Theologia Scholarium zufolge weder eine anthropomorphe Vereinfachung noch eine überspekulative Deutung 162

Brachtendorf, Personalität und Freiheit, 163. Th. Sch. 3,90 (Ed. Buytaert/Mews 537, 1200-1204): „Generaliter itaque ac uerissime liberum arbitrium dicitur, cum quislibet quod ex ratione decreuerit, uoluntarie ac sine coactione adimplere ualebit. Que quidem libertas arbitrii tam deo quam hominibus eque indubitanter inest, quicumque recte uoluntatis facultate priuati non sunt“. 164 Eine Verbindung zwischen dem menschlichen liberum arbitrium, wie Augustinus es konzipiert, und den vom Frankfurt eingeführten Begriff der „second order volitions“ findet sich bei Brachtendorf, Augustins Confessiones, 167, Anm. 19.

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darstellt, muss es auch systematisch gestattet sein, das liberum arbitrium Gottes in Arbeitsbegriffen zu umschreiben, die dem Stand der gegenwärtigen Freiheitsdiskussion Rechnung tragen. Besteht ein ungebrochener Konnex zwischen der durch die Volitionen zweiter Ordnung gegebenen Richtschnur und der tatsächlich ausgeführten Handlung, so spricht Frankfurt von Willensfreiheit. Damit wird kein inhaltliches, sondern ein rein formales Kriterium angegeben. Dieses lässt sich einerseits auf Abaelards Theorie anwenden, da sie auch die Entscheidung, Böses zu tun, dem Verfügungsbereich des menschlichen (nicht des göttlichen) liberum arbitrium zuordnet und damit auf der Ebene des Formalen verbleibt. Abaelard benennt aber zudem auch ein materiales Kriterium, durch welches sich ein abgestufter Begriff der Willensfreiheit ergibt: Das böse Handeln ist zwar eine Folge der Willensfreiheit, aber bereits ein Merkmal der eingeschränkten Freiheit des postlapsalen Menschen. Dieser Gedanke erinnert an das Konzept der causa deficiens, durch das Augustinus versucht hat, die Ursache der verfehlten Wahl der Ureltern, die sich zum Bösen hingewandt hatten, zu erklären.165 Der Bischof von Hippo beschreibt die Freiheit Adams als posse non peccare, als die Freiheit, das Böse zu meiden; dem steht das non posse peccare des erlösten Menschen gegenüber, das die Unfähigkeit zur Sünde und ein notwendiges Tun des Guten bezeichnet.166 In der Theologia Scholarium rezipiert Abaelard die Unterscheidung Augustins folgendermaßen: Gott als das Gute selbst sowie der Mensch, der das gute Handeln habitualisiert hat, besitzen eine höhere Form des liberum arbitrium, da derjenige, „der der Sünde entfernter und dem Guten zugeneigter ist, ein desto freieres Urteil bei der Wahl des Guten hat, je weiter er von jener letzten Sklaverei der Sünde entfernt ist, 167 über die geschrieben steht: ‚Wer die Sünde tut, ist ein Sklave der Sünde’ (Joh 8,34).“

Abaelard sieht Willensfreiheit also nicht nur – wie Frankfurt – in einem formal intakten Konnex zwischen den untergeordneten first order desires und den über sie richtenden Voltionen zweiter Ordnung gegeben, sondern ergänzt dieses Ge165

Vgl. Augustinus, De Civitate Dei XII 7 (Ed. Dombart/Kalb 362, 1-4): „Nemo igitur quaerat efficientem causam malae uoluntatis; non enim est efficiens sed deficiens, quia nec illa effectio sed defectio. Deficere namque ab eo, quod summe est, ad id, quod minus est, hoc est incipere habere uoluntatem malam.“ Eine knappe Darstellung des Problems findet sich bei Le Roy Burton, The Problem of Evil, 139-144. 166 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei XXII 30 (Ed. Dombart/Kalb 864, 65-68): „Sicut enim prima inmortalitas fuit, quam peccando Adam perdidit, posse non mori, nouissima erit non posse mori: ita primum liberum arbitrium posse non peccare, nouissimum non posse peccare.“ 167 Th. Sch. 3,89 (Ed. Buytaert/Mews 537, 1196-1199): „Quo enim quisque a peccato remotior est et ad bonum pronior, tanto in eligendo bonum liberius habet iudicium, quanto ab illa ultima seruitute peccati de qua scriptum est: ‚Qui facit peccatum, servus est peccati’ (Joh 8,34), longius absistit.“

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füge noch um eine materiale Komponente: Derjenige, der sich zum Guten entscheidet, ist freier als derjenige, der sich auch zum Bösen entscheiden könnte. Damit ist Gott, der immer das Gute will und dies auch bestmöglich (modal) und zur rechten Zeit (temporal) ausführen kann, im höchsten Maße als willensfrei zu bezeichnen: Gottes Wünsche sind notwendigerweise gut; sie sind darin – in der Sprache Frankfurts – determiniert. Die Bestimmtheit des göttlichen Handelns wird Abaelard zufolge jedoch nicht von Außen an Gott herangetragen, sondern sie entspricht seinem Wesen und zeigt sich in jeder einzelnen Handlung, weil Gott sein Wesen ständig und in vollkommener Weise vollzieht. Damit wechselt die Untersuchungsebene von der volitionstheoretischen auf die essenztheoretische. Frankfurt zufolge sucht sich eine Person ihre second order volitions nicht im Akt der Selbstwahl aus, sondern findet diese als bereits gegeben vor, ohne ihre psychologischen, sozialen oder kulturellen Entstehungsbedingungen zur Gänze ausleuchten zu können. Der Mensch unterliege einer „volitional necessity“168, da er Willensfreiheit nur dann erreichen könne, wenn er seinen determinierten Wünschen zweiter Ordnung folgt, die sich aus seinem Wesen ergeben. Es lässt sich folgende Parallele zwischen Frankfurts Gedankengang und Abaelards Verständnis der göttlichen Freiheit feststellen: Auch Gott handelt immer und notwendigerweise seinem Wesen gemäß; sein Wollen ist deshalb in gewissem Sinne als determiniert zu bezeichnen, weil er – in Frankfurts Terminologie – „mit ganzem Herzen“ (wholehartedly) danach strebt,169 seine eigene Natur durch ein Agieren in Macht, Weisheit und Güte zu verwirklichen; seine Volitionen richten sich also zwingend an seinen essentiellen Eigenschaften aus. „Denn es steht fest, dass er nur Gutes tun kann und nichts außer dem, was ihm zu tun entspricht, und vom dem gut ist, dass er es tut.“170 Der entscheidende Unterscheid zu Frankfurt besteht jedoch in dem Akt der Identifikation mit den second order volitions. Während diese bei Frankfurt einfach als gegeben und als nicht rational durchdringbar anzusehen sind,171 hat Gott in der Theorie Abaelards die Möglichkeit zur freien Selbstwahl. Zugespitzt könnte man formulieren: Die Freiheit des Menschen besteht bei Frankfurt darin, dass der Mensch ist, wie er ist, wohingegen Abaelard die Freiheit Gottes derart bestimmt, dass Gott ist, was er sein will. Gott findet sein So-Sein, welches sein Handeln determiniert, nicht als Gegebenes vor, in das er sich fügen muss, sondern er hat sein Wesen frei gewählt. Deshalb ist die Notwendigkeit, auf deren Grundlage Gott handelt, „keinesfalls von seinem Willen getrennt, weil er auch selbst das sein will, von dem not168

Frankfurt, On the Necessity of Ideals, 111. Vgl. Quante, The things we do for love, 124. 170 Th. Sch. 3,27 (Ed. Buytaert/Mews 511, 381-383): „Constat quippe eum nonnisi bona facere posse, nec nisi ea que ipsum facere conuenit et que, bonum est ipsum facere.“ 171 Vgl. Brachtendorf, Personalität und Freiheit, 166. 169

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wendig ist, dass er es ist, das heißt, dass er es nicht nicht sein kann.“172 Während sich bei Frankfurt die Volitionen zweiter Ordnung aus der individuellen Grundbeschaffenheit des Einzelnen ergeben, sich der Einzelne diese aber nicht aussuchen kann, ist Gott im Denken Abaelards nicht mit einer vorgefundenen Faktizität seines Wesens konfrontiert, sondern besitzt die Möglichkeit der totalen Selbstwahl. Für Gottes Handeln hat dies eine ‚gewollte Determination’ zur Folge: Es geschieht aus Notwendigkeit heraus; diese ist jedoch von Gott selbst für sich selbst gesetzt worden. Insofern könnte man Abaelards Theorie der göttlichen Willensfreiheit als einen ‚theologisch gebrochenen Kompatibilismus’ bezeichnen, da (1) Freiheit und Determination zusammengedacht werden (Kompatibilismus), (1) das deterministische Moment jedoch durch einen Akt der vorgängigen Selbstwahl Gottes hintergangen und aus der Perspektive einer größeren, vorausgehenden Freiheit bestimmt wird (theologischer Bruch). Um die praktischen Konsequenzen, die sich aus den übergeordneten Volitionen ergeben, zu beschreiben, führt Frankfurt den Begriff der Sorge (caring173) ein: Aus der essenztheoretisch begründeten Determination der second order volitions ergeben sich Präferenzen, an denen der Mensch sein Handeln ausrichtet und damit auch Ziele oder Ideale, um die er sich sorgt und die er mit ganzem Herzen (wholehartedly)174 verfolgt. Dies korrespondiert zu der Verhältnisbestimmung, die Abaelard zwischen Gott und der Schöpfung vornimmt. Die Schöpfung besitzt – wie dargelegt – eine extrinsische, nicht in ihr selbst, sondern im Selbstvollzug des Schöpfers begründete Notwendigkeit:175 Aus seiner Güte (benignitas) heraus, die danach strebt, sich zu verbreiten, ruft Gott die Welt ins Dasein, um so sein Wesen zu vollziehen; er ordnet die Welt in Weisheit (sapientia), sorgt sich um sie und erhält sie durch seine Macht (potentia). Dabei gilt es jedoch, den epistemologischen Status theologischer Aussagen nicht aus dem Blick zu verlieren: Abaelard legitimiert zwar die Anwendung des Begriffs eines liberum arbitrium auf Gott;176 es handelt sich dabei weder um einen anthropomorphen Kategorienfehler noch um eine spekulative Überdeutung. Die daraus resultierenden Schlussfolgerungen dürfen für sich aber keine univoke Geltung beanspruchen. Sie sind stattdessen „uerisimile“177, weil die in ihnen 172

Th. Sch. 3,54 (Ed. Buytaert/Mews 523, 749-753): „Nam et cum ipsum necesse sit immortalem esse uel necessario immortalis dicatur, nequaquam hec diuine nature necessitas ab eius uoluntate disiuncta est, cum et hoc ipse uelit esse quod necesse est ipsum esse, id est quod non potest non esse.“ 173 Vgl. Frankfurt, On Caring, 160. 174 Vgl. Frankfurt, The Faintest Passion, 100. 175 Vgl. Th. Sch. 3,53 (Ed. Buytaert/Mews 523, 734-743). 176 Vgl. Th. Sch. 3,90 (Ed. Buytaert/Mews 537, 1200-1204). 177 Th. Sum. 2,26 (Ed. Buytaert/Mews 123, 232-238), Th. Chr. 3,54 R (Ed. Buytaert 217, 693703), Th. Sch. 2,18 (Ed. Buytaert/Mews 414, 240-247): „De quo quidem nos docere ueri-

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verwendeten Terme nur durch eine translatio auf Gott übertragen werden können. Der Einsicht Abaelards, dass sich die Regeln und Gesetze der Philosophen, die versuchen, den Bereich des Kreatürlichen zu deuten, nicht einfach auf die Natur Gottes anwenden lassen,178 trägt auch der hier eingeführte Arbeitsbegriff des ‚theologisch gebrochenen Kompatibilismus’ Rechnung: Er überträgt den modernen Kompatibilismus, der bei einer Analyse der menschlichen Freiheit ansetzt und damit der Anthropologie entstammt, nicht in einer petitio principii auf Gott, sondern spricht ausdrücklich von einem ‚theologischen Bruch’, der dem Unterschied zwischen göttlichem Wesen und conditio humana, zwischen menschlicher Reflexionskraft und göttlicher Wirklichkeit Rechnung trägt.

3. Zusammenschau: Das Verstehen und seine Grenzen Der vierte Teil dieser Studie hat den Begriff des summum bonum und die rational aus ihm ableitbaren Konsequenzen für das Handeln Gottes untersucht. Abaelards Thesen zur Reichweite des vernunftgemäß Erfassbaren lassen sich als eine ‚JaAber-Haltung’ umschreiben: Ja, die triadische Struktur Gottes ist rational erkennbar, aber sein trinitarisches Wesen entzieht sich der vernunftgemäßen Einsicht. Ja, Gottes Handeln ist aufgrund der Eigenschaften, die ihm als summum bonum zukommen, für den menschlichen Intellekt rekonstruierbar, aber Gottes Vorsehung übersteigt jedes Verstehen. Ja, Gott agiert absolut frei, aber sein Handeln ist bedingt und notwendig zugleich. Der Gedankengang Abaelards ist durch drei Wegmarken gekennzeichnet: Von der Sprache des Menschen (1) zum Sein Gottes (2) und von diesem wiederum zum göttlichen Handeln (3): (1) Eine Aussage ist im propositionalen Sinne wahr, wenn sie die ontologische Bestimmtheit eines Gegenstandes korrekt beschreibt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass man durch die Analyse einer als wahr anerkannten Aussage zutreffende Einsichten über die Strukturen der Wirklichkeit gewinnen kann. Die Theologie bezieht demnach ihre Einsichten aus einer Analyse der Sprache. Ihr Erkenntnisweg führt von der Sprache zum Sein oder – genauer gesagt – von der Sprache Jesu zum Sein Gottes, da Jesus Christus als das fleischgewordene Wort Gott am adäquatesten ‚zur Sprache’ gebracht hat: „Christus, der Herr, Gottes fleisch-

tatem non promittimus, quam neque nos neque aliquem mortalium scire constat, sed saltem aliquid uerisimile atque humane rationi uicinium nec sacre scripture contrarium proponere libet aduersus eos qui humanis rationibus fidem se inpugnare gloriantur, nec nisi humanas curant rationes multosque facile assentatores inueniunt, cum fere omnes animales sint homines ac paucissimi spirituales.“ 178 Vgl. Th. Sch. 3,95 (Ed. Buytaert/Mews 539, 1251-1258).

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gewordene Weisheit selbst, unterschied sorgfältig die Vollkommenheit des höchsten Gutes, das Gott ist, indem er drei Namen beschrieb“179. (2) Darüber hinaus ist der Mensch aber auch in der Lage, durch einen idealen Begriff des vollkommenen Wesens, drei Eigenschaften vernunftgemäß zu benennen: Es müsse seinen Willen tatsächlich umsetzen können (potentia), stets aus Vernunft heraus handeln (sapientia) sowie immer das Gute wollen (benignitas).180 Durch diese Attribute kann die ratio humana die triadische Struktur Gottes erfassen. Die Trinität als lebendiges Miteinander der drei göttlichen Personen ist hingegen nicht durch die natürlichen Möglichkeiten der Vernunft, sondern nur durch einen Rückgriff auf die Offenbarung ansatzweise erfassbar.181 (3) Da Gott immer seiner eigenen Natur gemäß agiert, hat der Mensch in dem Maße Einblick in Gottes Handeln, in dem er dessen Wesen erfassen kann. Die vernunftgemäße Einsicht, dass Gott mächtig, weise und gütig ist, bildet die epistemologische Voraussetzung dafür, dass das Handeln Gottes als mächtiges, weises und gütiges durchdacht werden kann. In jeder Tat Gottes zeigt sich seine potentia, seine sapientia und seine benignitas gegenüber der Schöpfung, da Gott sein Sein in jedem seiner Akte vollständig verwirklicht. Gott kann also nur das wollen, was seinem Wesen gemäß ist: Alles, was er tut, geschieht aus Notwendigkeit und in der bestmöglichen Weise. Das deterministische Moment wird jedoch durch die vorausgehende freiheitliche Selbstidentifikation Gottes mit seinem eigenen Wesen durchbrochen. Gerade weil sein Handeln sich in vollkommener Weise an den von ihm selbst bestimmten essentiellen Eigenschaften ausrichtet, ist er in höchstem Maße frei: Gott will „selbst das sein, von dem notwendig ist, dass er es ist, das heißt, dass er es nicht nicht sein kann.“182 Bisher wurden die Subjektivität und ihre Grenzen (II) sowie der Einsatz der Logik samt der Einsicht in ihre Beschränkungen (III) als epistemologische Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards benannt. Der letzte Teil der Untersuchung (IV) steht unter dem Leitmotiv ‚das Verstehen und seine Grenzen’: Abaelard zufolge kann die menschliche Vernunft die triadische Beschaffenheit Gottes sowie sich daraus ableitende Grundstrukturen seines Handeln rational

179

Th. Sum. 1,1 (Ed. Buytaert/Mews 86, 4-6), Th. Chr. 1,1 (Ed. Buytaert 72, 2-4): „Summi boni perfectionem quod deus est, ipsa dei sapientia incarnata Christus dominus describendo tribus nominibus diligenter distinxit“. 180 Vgl. Th. Sum. 1,3 (Ed. Buytaert/Mews 87, 34-37), Th. Chr. 1,5 (Ed. Buytaert 74, 68-72). 181 Vgl. Th. Sum. 3,44 (Ed. Buytaert/Mews 176, 545-547), Th. Chr. 4,60 (Ed. Buytaert 291, 867f.). 182 Th. Sch. 3,54 (Ed. Buytaert/Mews 523, 749-753): „Nam et cum ipsum necesse sit immortalem esse uel necessario immortalis dicatur, nequaquam hec diuine nature necessitas ab eius uoluntate disiuncta est, cum et hoc ipse uelit esse quod necesse est ipsum esse, id est quod non potest non esse.“

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Reichweite und Grenzen des rational Einsehbaren

erfassen. Das mysterium trinitatis hingegen und das heilsgeschichtliche Wirken des dreifaltigen Gottes bleiben der ratio humana jedoch verschlossen.

V. Schlussreflexion: Abaelard, der Synthetiker

Diese Untersuchung hat unterschiedliche „Rücksichten, in denen der Begriff der Erkenntnis thematisch ist“1 sowie theologisch relevant wird, aus dem Werk Abaelards zusammengetragen und interpretiert. Die dadurch gewonnenen Einzelbeobachtungen lassen sich auf zwei Ebenen auswerten: (1) Sie ermöglichen – im Sinne der Themenstellung dieser Arbeit – einen zusammenhängenden Blick auf die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards. Am Ende jedes Kapitels der Studie wurden die analysierten Aspekte unter dieser Leitperspektive geordnet und in Beziehung zueinander gesetzt. (2) Betrachtet man die dabei zu Tage getretenen Resultate in einem weiter gefassten hermeneutischen Kontext, so ist zu fragen: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den erzielten Ergebnissen für eine konsistente Deutung von Abaelards theologischem Schaffen? Die Erkenntnislehre, auf der Abaelard sein Gottesdenken aufbaut, verbindet unterschiedliche Traditionsstränge miteinander: Den aristotelisch-boethianischen Kognitionstheoremen, die den Prozess intelligiblen Erfassens vor allem als Wechselspiel zwischen einem erkennenden Intellekt und einer erkannten Sache deuten, wird die platonisch-augustinische Annahme eines von Außen hinzutretenden, weder mit dem denkenden Subjekt noch mit dem gedachten Gegenstand identischen Erkenntnislichts zur Seite gestellt. Die sprachlogischen Methoden der logica vetus können die Gültigkeit theologischer Aussagen klären, gleichzeitig wird die autoritative Vorgegebenheit dieser Propositionen betont. Gottes triadische Beschaffenheit ist dem Menschen durch eine vernunftgemäße Konstruktion des summum bonum zugänglich, die Trinität bleibt ihm verborgen. Gottes Handeln ist in vollendeter Weise frei, aber auch aufs Höchste determiniert. Wie sind diese Ambivalenzen zu deuten? Wieland sieht die Theologie Abaelards als uneinheitlich an; er schlussfolgert: „Aufs Ganze gesehen, hat Abaelard eine kohärente theologische Doktrin nicht vorgelegt.“2 1 2

Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre, 75. Wieland, Art. Abaelard, 10.

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Schlussreflexion

Hier wurde jedoch – gerade durch die kleingliedrige Suche nach epistemologisch relevanten Aussagen in den Theologiae – ein anderes Bild gezeichnet: Abaelard verbindet oft unzusammenhängend erscheinende Überlegungen zu einem konsistenten Gefüge – als Beispiel sei auf den im zweiten Kapitel untersuchten Konnex zwischen Abstraktion, Illumination und einer ethisch fundierten Phänomenologie des Irrtums verwiesen. Abaelards Denken erweist sich nicht als desintegrierte Ansammlung konkurrierender Modelle, sondern als synthetisches Gebäude. Er versucht, die Methodenlehre der logica vetus mit einer augustinisch geprägten Theologie in Einklang zu bringen. Damit kommt ein zweiter hermeneutischer Kontroverspunkt in den Blick: das Verhältnis zur theologischen Tradition. Abaelard arbeitet kontextuellgegenwartsbezogen, indem er – als Reaktion auf Angriffe und Kritiken – seine Werke beständig weiter entwickelt. Das Movens dieses Schaffens ist es jedoch, die Kompatibilität seines Denkens mit der kirchlichen traditio auszuweisen.3 Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Abaelards gehen in erster Linie auf Augustinus zurück. Von einer Vernachlässigung der Tradition kann keine Rede sein; im Gegenteil: Abaelard unternimmt – zumindest in der Theologia – eine Aktualisierung und Reformulierung augustinischen Denkens, das sich vor den Anfragen der logica vetus neu zu bewähren hatte. Bei diesem Bemühen tritt Abaelard als eigenständiger Synthetiker auf, der – allen voran in der Theologia Summi Boni – die Strategie einer ‚defensiven Rationalität’ verfolgt. Dennoch ist es ein hermeneutischer Kurzschluss, wenn sein Anliegen nur als eine „Theologie aus Widerspruch“4 charakterisiert würde: Er geht nicht bloß defensiv gegen Hyperdialektiker und Antidialektiker vor, sondern versucht in seiner Gotteslehre auch konstruktiv, ein eigenes erkenntnistheoretisches System zu entwickeln. Diese Feststellung impliziert nicht, dass Abaelards Entwurf an allen Stellen hinreichend elaboriert und konsistent ist; die Untersuchung des uneinheitlichen Offenbarungsbegriffs hat gezeigt, dass entscheidende Klärungen an manchen Stellen ausbleiben. Abaelard ist, in der Terminologie Marenbons, ein origineller, nicht bloß ein kritischer Denker.5 Dass dies in der Folgezeit nur wenig rezipiert wurde, lässt sich mit den Worten des Betroffenen selbst erklären: „Vielleicht habe ich aus Irrtum etwas geschrieben, das sich nicht gehört“6. Dieser Studie geht es nicht um die Rechtgläubigkeit oder die Häresien Abaelards. Sie leistet einen anderen Beitrag zum Verstehen seines Werkes: Er ist nicht nur – wie er sich in der Historia 3 4 5 6

Vgl. Jolivet, Arts du langage, 361-363. Rieger, Petrus Abaelard, 61. Vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, 348f. Conf. fid. univ., praef. 2 (Ed. Burnett 132, 8-10): „Scripsi fortassis aliqua per errorem que non oportuit, sed deum testem et iudicem in animam meam invoco quia in his de quibus accusor, nichil per superbiam aut per malitiam presumpsi.“

Schlussreflexion

245

Calamitatum selbst entwirft7 und wie ihn die Nachwelt meistens einordnet – ein polarisierender Polemiker, sondern – mit Blick auf die epistemologischen Voraussetzungen seiner Gotteslehre – auch ein integrierender Synthetiker.

7

Vgl. Hist. Cal. (Ed. Monfrin 68f., 197-221).

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1. Hinweise zu den Abkürzungen Die Werke Abaelards, für die es keine standardisierten Abkürzungen gibt, werden mit den angegebenen Abbreviationen versehen. Die Schriften anderer antiker und mittelalterlicher Autoren bleiben zwecks besserer Lesbarkeit ausgeschrieben. Die verwendeten bibliographischen Kurzformeln richten sich nach: Schwertner, S. M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete/International Glossary of Abbreviations for Theology and Related Subjects (IATG), Berlin 21992.

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