Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten: Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes [1 ed.] 9783428502080, 9783428102082

Seit Hegel gelten die Voraussetzungslosigkeit des Denkens und eine dualistische Anthropologie als Descartes' Beitra

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Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten: Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes [1 ed.]
 9783428502080, 9783428102082

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KARSTEN LAUDIEN

Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band87

Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei Rene Descartes

Von Karsten Laudien

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Laudien, Karsten: Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten : die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei Rene Descartes I Karsten Laudien. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Erfahrung und Denken ; Bd. 87) Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-10208-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10208-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Für Joseph, Sarah und Rahe/

Vorwort Diese Arbeit ist die gekürzte Fassung einer Dissertation, die 1997 von der Theologischen Fakultät der Humboldtuniversität zu Berlin angenommen wurde. Für die Vermittlung der Aufnahme in diese Reihe danke ich Prof. Volker Gerhardt. Dem Verlag danke ich für die freundliche Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank gilt Prof. Richard Schröder. Er hat die Kehrtwendungen der Zielstellungen, die im Verlauf der Arbeit nötig wurden, wohlwollend begleitet und zur Scheidung von Um- und Hauptwegen beigetragen. Die Arbeit schuldet ihm nicht allein die Klärung vieler Details und die Präzisierung von Fragestellungen, sondern sie konnte in einer Atmosphäre geschrieben werden, in der philosophische Ansichten unvoreingenommen traktiert worden sind. Berlin, Sommer 2000

Karsten Laudien

Inhalt A. Epochengründer versus Klassiker - Einleitung und Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Descartesbild in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kant und die Bedeutung Descartes' für die Aufklärung . . . . . . . . . . 2. Die Personifizierung des Epochenbeginns durch Regel . . . . . . . . . . . 3. Die Identifizierung von Epochenbegriff und Descartesinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Weiterwirken und die Konsequenzen der Descartesinterpretation Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Descartes, der Klassiker - Descartes in der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maine de Birans Interpretation des Cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Viktor Cousins Wiederentdeckung Descartes' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Beginn der modernen Descartesforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Stellenwert der Lehre der Erschaffung der ewigen Wahrheiten in der Descartesforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Descartesinterpretation Etienne Gilsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ferdinand Alquie- der Cartesianismus im 20. Jahrhundert . . . . . . . 4. Die Erschaffung der ewigen Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 42 44 47

B. Der Umschlag von mentalistischer zu metaphysischer Gegenstandsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Regulae ad directionem ingenii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kritik der substantiellen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gegenstand der Regulae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Terminusfigura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Terminusfigura als conceptus simplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einfache Begriffe und das ungelöste Problem der Regulae . . . . . . . 4. Der Abbruch der Regulae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Le Monde und die ewigen Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Le Monde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorstellung als Weltstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die metaphysische Erklärung von Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der repräsentative Charakter von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52 57 58 66 70 71 74 79 81 83 87 91 95

11 13 13 16 17 20

25 25 28 30 32

8

Inhalt

C. Die Erschaffung der ewigen Wahrheiten .......... . .................. I. Die Lehre der Erschaffung der ewigen Wahrheiten als Bestreitung einer anthropomorphen Schöpfungsvorstellung . .. .... .. .... . ........ 1. Der Terminus causa totalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die logisch-theologischen Voraussetzungen der Lehre . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Logik und Ontologie und der Ort der ewigen Wahrheiten . . ................ . . . ............ . . .... b) Schöpfung und Wahrheit im aristotelischen Thomismus . . . . . . . c) Franz von Suarez und die Eröffnung der Fragestellung nach den ewigen Wahrheiten .... . ... . ..... . . ................... 3. Die Auflösung der scholastischen Kausalitätsvorstellung ......... II. Die Identität von göttlichem Verstand und Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begreifen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Möglichkeit der Dekretänderung und die göttliche Indifferenz .. . . 1. Das Begründungsverhältnis von Metaphysik und Naturphilosophie 2. Die Indifferenz der göttlichen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die göttliche Freiheit ..... . . . ..... . ... .. ........... . ... .. . b) Die göttliche Indifferenz .............. .. .................. V. Der konzeptionelle Charakter von Widersprüchlichem ............... 1. Das vollkommene Sein und die Allmacht Gottes .... . ...... . . .. . 2. Die immutabilitas dei ... . ... .. ........... . ................... 3. lmmutabilitas dei, begrifflicher Widerspruch und göttliche Allmacht ... . . . . . ....... . ... . ..... . ........ .. .......... . ....... D. Der Discours de Ia Methode und die systematische Verträglichkeit cartesischer Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehungsgeschichte des Discours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der biographische Rahmen ............... .. .......... .. ...... 2. Der ursprüngliche Text des Discours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Terminus Methode im Discours ....... .. .. .. . .. .... .. .. .. . 4. Der Anspruch der algebraischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Verhältnis von Discours IV und Discours II ....... .. ....... a) Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik . . . . . . . . . . . . . b) Die systematisch ungeklärte Verbindung von Regeln und Cogito ........... . . . .... . .......... ... ......... . ........ c) Der Terminus Gewißheit . . .. .......... . .... .. . . ........... 6. Die metaphysischen Aussagen des Discours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die systematisch ungeklärte Verbindung von premier principe und Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die systematisch ungeklärte Verbindung von Cogito und Weltexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Abfassungsgrund für Discours IV ..... . ................... 8. Der Grund für die Abfassung der provisorischen Moral . ......... 9. Das Problem der Moral für die systematische Einheit des Discours .... . ........ ... .... ... . .. .............. . . ............

104 109 113 116 117 123 126 129 132 135 141 141 144 149 153 158 159 161 165 176 178 182 184 186 194 199 199 201 203 205 205 207 209 213 214

Inhalt 10. Discours IV und die Meditationen ... ..... .. ......... . ... ... .. . II. Die Umwandlung der erkenntnistheoretischen Fragestellung . . . . . . . . . . 1. Die Heterogenität der Fragestellungen im Discours . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Zusammenhang des Cogito mit der Lehre der Erschaffung der ewigen Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Der Dualismus. Die Einheit von Seele und Leib. Der Gottesbeweis und das Cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Dualismus und die Einheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Status des Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einheit von Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Seele als causa movens des Leibes und die Ausdehnung der mens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erkenntnis der unio substantialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Zurücknahme des provisorischen Status' der Moral ...... . 3. Die sinnliche Empfindung als Organ der Weltlichkeit des Menschen . ... . .... . ... . ....... . . ....... . . .. . .... . .... . ......... a) Die facultas sentiendi in Meditation VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die facultas sentiendi als nicht-intentionaler modus im modo cognoscendi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Differenz von 1641/2-1647 ... ..... ............... .. ... d) Der Terminus natura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Gottesbeweis in Meditation III und das Cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beweisbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das ens rationis und der Ideebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Natur des Verstandes und das aktual Unendliche ... . ..... c) Der Ausschluß der Zeit aus der Beweisgrundlage .... . ....... 2. Die Geschaffenheit des Verstandes und der Sinn von actualitas . . . a) Die Priorität des Unendlichen und der menschliche Wille als imago dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gottesidee und das Ich . .. .. . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . c) Das Ich und die Gottesidee . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . .. . . . 3. Das Cogito und der Gottesbeweis ..... ... . . ..... . ............ . a) Die metaphysische und lebensweltliche Begründung der Täuscherthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auflösung des Subjekts in den Zweifel .. . . . . ...... . .. ... 4. Die wechselseitige Interpretation von Cogito und Gottesidee . . . . .

9

218 224 224 228 231 235 235 244 248 254 261 267 269 273 280 284 290 293 293 301 304 307 308 311 313 315 318 321 323

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Namenregister ...... . .... . .. . ...... . .......... .... ........ . ... .. ...... 343

A. Epochengründer versus Klassiker Einleitung und Forschungsgeschichte Der Name Descartes dient zur Kennzeichnung einer philosophischen Lehre, die auf verbreitete Kenntnis rechnen kann und deren Bestandteile in beinahe jeder Art Abhandlung begegnen können. Die Voraussetzungslosigkeit des Denkens - "als ob man in eine andere Welt einträte"' - ist ihr Hauptelement Sie beruht auf einem methodisch genannten Zweifel, als dessen Überwindung ein Subjekt gewonnen wird, in dessen Besitz sich eine Idee findet, die von einem Wesen stammt, das den Zweifel dadurch widerlegt, daß es den Dualismus festschreibt. Diese Lehre hat sich im Verlaufe ihrer bis in die Gegenwart reichenden Wirkung zu einem Bild gefügt, dessen Teile sich gegenseitig stützen und das deshalb den Eindruck vermittelt, das Proprium cartesischer Philosophie bestehe aus der Verbindung dieser Elemente. Bevor diese Einleitung einen Eindruck von der Interpretationsgeschichte vermitteln wird, ist sie um den Nachweis bemüht, daß dieses vor allem das deutsche Descartesverständnis stark beeindruckende Bild sich einem Erfordernis begelseher Philosophie verdankt. Dieser Nachweis wäre von erheblichem Gewicht für die Descartesforschung, denn sie ist bis in die Gegenwart von der hegelschen Auffassung geleitet, nach der sich in der Position Descartes' das Signum und Hauptcharakteristikum dessen ausspricht, woraus die Neuzeit ihr eigenes Selbstverständnis bezieht. Kaum eine Kritik der Neuzeit kommt deshalb ohne eine Stellungnahme zu Descartes aus. Vor allem in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurde seiner Philosophie die Verantwortung für Krisen und Fehlentwicklungen real- oder seinsgeschichtlicher Art angelastet. Man meinte, mit ihr eine geschichtliche Herkunft benennen zu können, deren Größe zugleich auch das Ausmaß der Verfehlung erklärt. Aus diesem Grunde schienen die Auslegungsmaßstäbe von dem Interesse geleitet, die in der Neuzeit freigelegten Enttäuschungen philosophischer Sinnerwartungen als nur erfundene aufzufassen. Es war ein Erfinder nötig, gegen den sich zu wenden schon die Versicherung seiner Überwindbarkeit zu hoffen erlaubt. Descartes ist zum Begründer der modernen Epoche erklärt worden. In Frankreich dagegen wird Descartes weniger als Gründerfigur, sondern eher als Klassiker gelesen. Die Querelle des Anciens et des Modemes, die 1

Jaspers, Discours, S. 5.

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A. Epochengründer versus Klassiker

in Frankreich zum Ausdruck des Epochenwandels geworden ist, läßt sich vorsichtig zum frühen Beleg einer anderen Bewertungstradition anführen. Der Ende des 17. Jahrhunderts ausbrechende Streit kann als Vorstufe des Historismus aufgefaßt werden. Der Terminus parallele erscheint in dieser Kontroverse als bevorzugter Buchtitel, weil der Vergleich von antiker und gegenwärtiger Kunst die den Epochen genuinen Eigenarten entdeckte, statt sie am Maß eines geschichtsübergreifenden Begriffs des Vollkommenen einander über- oder unterzuordnen. Dieser Leitgedanke von Charles Perraults' "Parallele des Anciens et des Modemes" (1688-1697) trat nicht für die Bevorzugung, sondern zunächst für die Gleichwertung der Gegenwart angesichts einer als Norm geltenden Antike ein. Für die Annäherung an die Philosophie Descartes' kann der Hinweis nicht unwichtig sein, daß dieser ein halbes Jahrhundert zuvor ein Selbstverständnis entwickelt, für das derselbe Gedanke bestimmend ist: et enfin notre siecle me semblait aussi fleurissant, et aussi fertile en bons esprits, qu 'ait ete aucun des precedents (AT VI 5)2 • Die Gegenüberstellung von Epochengründer und Klassiker soll die Beobachtung auslegen, daß im Gegensatz zum Großteil der deutschen Descartesliteratur in der französischen Forschung die Rolle Descartes' weniger eindeutig bestimmbar ist. Die Kennzeichnung als Klassiker legt sich dadurch nahe, daß Descartes in Frankreich seit der Enzyklopädie als eine Art Nationalereignis angesehen wurde. Die bis heute maßgebliche Werkausgabe ist am Ende des 19. Jahrhunderts vom französischen Bildungsministerium in Auftrag gegeben worden. Ihr Herausgeber entdeckt in der Philosophie des Franzosen den vortrefflich ausgedrückten Charakter der Nation. Milhaud befindet 30 Jahre später, daß eine Art cartesianische Mystik herrscht und zur 350sten Jahresfeier des Discours konnte 1987 ein Buch eines sehr bekannten Autors erscheinen, unter dessen Titel - Descartes, c' est la France - der Leser sehr viel über den französischen Geist erfährt, während er sich hin und wieder fragen muß, weshalb gerade dieser Eigenname auf dem Titelblatt stehe. In einem Klassiker drückt sich eben unspezifisch das 2 Non est quod Antiquis muJtum tribuamus propter Antiquitatem; sed nos potius iis antiquiores dicendi. Jam enim senior est mundus quam tune, majoremque habemus rerum experientiam (überliefert von Baillet, Vie, vol. 2, 531, en marge, aufgenommen in: AT X 204). 3 Sa philosophie a Ja fran~aise fut Ja premiere qui n!pondit p1einement aux instinct de notre race (Ch. Adam, Vie, in: AT Suppl. 2, p. 559). II existe en France une sorte de mystique cartesienne qui fait de notre homme Je ,heros de 1a nation'. NuJ phiJosophe, nu1 ecrivain, nuJ ingenieur, nul administrateur ne commence a penser, a agir sans faire a Descartes l'hommage d'une pensee, Je sacrifice d'une methode (Milhaud, Descartes vu par Ia generation contemporaine, in: Rev. de Synthese 14, 1939, zitiert aus: Fetscher, Descartesbild, S. 130). Andre Glucksmann, Descartes, c'est Ia France, Paris 1987.

I. Das Descartesbild in Deutschland

13

"Vorzügliche und Musterhafte"4 aus. Er ist ein Ereignis im Reich des Geistes und weniger in dem der Geschichte. Er wird deshalb auch in Hinblick auf die Verantwortung für seine vermeintliche Wirkungsgeschichte nachsichtiger beurteilt. Im Folgenden soll gezeigt werden, daß diese Differenzen bis heute die unterschiedlichen Tendenzen der Descartesforschung prägen.

I. Das Descartesbild in Deutschland 1. Kant und die Bedeutung Descartes' für die Aufklärung

Die These der hegetsehen Herkunft der vor allem in Deutschland dominierende Sicht auf Descartes verlangt den Nachweis, daß sie vor Hegel nicht vorhanden war. Ein Blick auf Kant wird zeigen, daß dieser weder den Zusammenhang der oben angedeuteten Elemente kennt, noch daß er Descartes als Gründer neuzeitlicher Philosophie versteht. Kant versteht die Abfolge der philosophischen Denker als Positionen, deren zeitliches Erscheinen keine Auskunft über deren Abhängigkeiten und Beziehungen zu Vor- und Nachläufern erteilt. Sein Blick auf die Philosophiegeschichte folgt dem seit Diogenes Laertios gebräuchlichen Typus der Beschreibung berühmter Heroen und Meinungen, deren Bewertungskriterium für Kant in der unableitbaren Bürgerschaft in der intelligiblen Welt besteht. Menschliches und göttliches Wirken liegen auf verschiedenen Ebenen. Die Begriffe "Naturabsicht", "Vorsehung", "Endzweck" sind auf den Fortschritt moralischer Selbstbestimmung bezogen, deren Unableitbarkeit das empirische Vorkommen zwar nicht ausschließt, so doch aussagt. Dies ist im Zeitbegriff der transzendentalen Ästhetik begründet. Da Zeit die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bezeichnet, ist eine in der Zeit stattfindende Entwicklung zwar für das Feld von Handlungsqualitäten freigegeben, aber ein Fortschreiten der Wahrheit selbst wäre identisch mit der Unmöglichkeit ihrer Feststellung. Kants Äußerungen zur Philosophiegeschichtsschreibung sind spärlich und beiläufig5 . In den "Lose(n) Blätter(n) zu den Fortschritten der Metaphysik", wird neben einer empirischen auch eine apriorische Geschichte der Philosophie für notwendig erachtet. "Alle historische Erkenntnis ist empirisch und also Erkenntnis der Dinge wie sie sind (... ). Eine historische Vorstellung der Philosophie erzählt also wie man und in welcher Ordnung bisher philosophiert hat". Aber "eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, son4

5

Allemann, (Art.) Klassische, Sp. 853. Siehe dazu Lübbe, Philosophiegeschichte.

A. Epochengründer versus Klassiker

14

dem rational d. i. apriori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie"6 • Die Philosophiegeschichte ist keine "Geschichte der Meinungen, die zufällig hier oder da aufsteigen, sondern der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft". Wie grundsätzlich dies aber von der hegetsehen Auffassung verschieden ist, zeigt sich in der Trennung von Philosophie und ihrer Geschichte: "Welche Fortschritte die Philosophie gemacht haben möge, so ist doch die Geschichte derselben von der Philosophie selbst unterschieden oder diese muß ein bloßes Ideal seyn von einer in der Menschenvernunft liegenden Quelle der Philosophie der reinen Vernunft, deren Entwicklung auch ihre Regel in der menschlichen Natur hat"7 • Bei Heget wird Philosophie als "System der Entwicklung" aufgefaßt, das ihre Geschichte integriert, weil "die Aufeinanderfolge der Systeme der Geschichte der Philosophie" dieselbe ist wie "die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Grundbestimmung der Idee"8• Kant dagegen erscheint die Frage: "wie ist es aber möglich, eine Geschichte in ein Vernunftsystem zu bringen, welches Ableitung des Zufälligen aus einem Prinzip" enthält, weder lösbar noch abweisbar. "Ob sich ein Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori entwerfen lasse, mit welchen Epochen die Meynungen der Philosophen aus den Vorhandenen Nachrichten so zusammentreffen, als ob sie dieses Schema selbst vor Augen gehabt und darnach in der Kenntnis derselben fortgeschritten wären", kann in der Geschichte nicht bestätigt werden, es ist aber "in der Seele obgleich nur embryonisch vorgezeichnet"9 • Das Verhältnis dieses apriorischen Zusammenhangs zur Geschichte wird analog dem Verhältnis von Willensmaxime und empirischer Tat bestimmt 10 • Es kann daher nach Kant keine Geschichtsphilosophie geben, sondern eine Konstruktion a priori als Klassifikation derjenigen Positionen, die denkbar sind, weil deren ,,Zeitordnung (... ) in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegründet" ist 11 . Wie die Unableitbarkeit der moralischen Maxime die autonome Willensbestimmung bedeutet, so hat auch der Wahrheitsbezug philosophischer Gedanken im Reich des empirischen Fortschritts keine Stütze zu suchen. Kant kennt deshalb keinen Epochenhiatus, außer den mit dem Aufkommen des Christentums bezeichneten. Er erkennt eine Verbesserung der Philosophie in der "neueren Zeit"

Kant, Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik, Akad. Bd. 19, S. 340. Kant, Blätter, Akad. Bd. 19, S. 343. 8 Heget, Vorlesungen, Jub. Bd. 17, S. 58 f. 9 Kant, Blätter, Akad. Bd. 19, S. 342. 1 Kant, Blätter, Akad. Bd. 19, S. 324. 11 Kant, Fortschritte, Akad. Bd. 7, S. 264; cf. KrV, Akad. Bd. 3, S. 55(}-552. 6

1

°

I. Das Descartesbild in Deutschland

15

und sieht dies - wie die Aufklärung - im Studium der Natur und der Verbindung von Mathematik und Naturwissenschaft begründet. In der Aufklärung ist das Interesse an Descartes vor allem naturwissenschaftlicher Art. Voltaire hebt seine Geometrie hervor und erklärt den Rest zum roman ingenieux 12. Der Artikel "Cartesianisme" der Enzyklopädie ordnet Descartes in die Reihe der Naturwissenschaftler ein. Das erste Gut seiner Philosophie sei die Allgemeinverständlichkeit der Methode, deren Anwendung ihn bedeutende Dinge traktieren ließ. Dies gilt als ouverture, nicht etwa für die neue, sondern a la vraie Philosophie. Die Inhaltsangaben der Werke sichten den Ertrag für die Naturwissenschaften 13 • Das Interesse der Enzyklopädisten richtet sich darauf, einen Franzosen zum Vordenker derenglischen Naturwissenschaftler Newton und Locke zu benennen. Auch D' Alembert erwähnt im Discours preliminaire nicht die Ergebnisse cartesischen Denkens, sondern rühmt die Methode 14 • Kant urteilt nicht anders. Weil er keine Epochen der Philosophiegeschichte kennt, sondern typologisch verfährt, ist bei ihm ein grundsätzlicher Neuanfang nicht als philosophische Leistung festgestellt oder begreifbar. Es ist Baco von Verulam, der große Naturforscher, dem das Lob für die Verbesserung der neueren Philosophie zukommt. Was Kant neben den physikalischen Auffassungen Descartes' für erwähnenswert befindet, ist weniger das Cogito, das er wie Leibniz als empirischen Satz auffaßt 15, sondern daß er sich "durch sein aufgestelltes Kriterium der Wahrheit, das er in die Klarheit und Evidenz der Erkenntnis setzte" 16, Verdienste für das spekulative Denken erwarb.

12 La Geometrie etait un guide que lui-meme avait en quelque fa~on forme, et qui l'aurait conduit sfuement dans sa Physique; cependant il abandonna a la fin le guide, et se livra a l'esprit de systeme. Alors sa Philosophie ne fut plus qu'un roman ingenieux, et tout au plus vraisemblable pour les Philosophes ignorants de meme temps. II se trompa sur la nature de l'ame, sur !es lois du mouvement, sur Ia nature de Ia lumiere. II admit des idees innees, il inventa de nouveaux elements, il crea un Monde, il fit l'homme a sa mode, et on dit avec raison que l'homme de Descartes n'est en effet que celui de Descartes, fort eloigne de l'homme veritable. Insbesondere die Lehre der Erschaffung der ewigen Wahrheiten zählt er zu den erreurs metaphysiques (Voltaire, Descartes, pp. 173 sq.). Zum Verhältnis Descartes' zum französischen Sensualismus siehe Buzon, Descartes; Leduc-Fayette, La Mettrie. 13 Pestre, (Art.) Cartesianisme, p. 717-724. 14 D'Alembert, Disc. Prel. 15 Kant, KrV, Akad. Bd. 3, S. 190; Leibniz, Essais, IV, VII, § 7, Phil. Schriften, Bd. 3. 2, S. 366. l6 Kant, Logik, Akad. Bd. 9, S. 32.

A. Epochengründer versus Klassiker

16

2. Die Personifizierung des Epochenbeginns durch Hegel

Nach Kant hat sich eine grundlegende Wende in der Betrachtungsweise philosophischer Tradition vollzogen. Die herausragende Stellung, die Descartes als Begründer neuzeitlicher Philosophie in der Meinung der Lehrbücher und darüber hinaus bis heute genießt, ist in Hegels Geschichtsphilosophie begründet. Mit ihrem Niedergang ist zwar das Vertrauen in die systematische Ableitbarkeit philosophischer Positionen erschüttert worden. Das Einteilungsprinzip der Philosophiegeschichte selbst hat jedoch überlebt. Hegel wird hier nicht kritisiert, es soll aber auf die Verbindung von Systemphilosophie und Philosophiegeschichte hingewiesen werden, um ihre Bedeutung für die Interpretation der Philosophie Descartes' nachzuweisen. Der Philosophiegeschichtsschreibung ist von Hegel eine ihr vorher unbekannte Leistungsanforderung zugeschrieben worden. Sie sollte die geschichtliche Abfolge philosophischer Positionen aus einem systematischen Zusammenhang herleiten, der selbst aus dem inneren Zusammenhang dieser Geschichte hergeleitet war. Dies konnte nur ein Reflexionsdenken einlösen, das sich den Anspruch vorgab, die Denken und Sein in eins setzende Parmenidesthese zu historisieren. Sollte die Einheit des Systematischen und des Geschichtlichen gelingen, war ein System zu entwickeln, das zur Rechtfertigung seines Wahrheitsgehaltes seine philosophiehistorische Eigenermöglichung in sich zu integrieren vermochte. Es mußte die Geschichte seines Gegenstandes in seinen Gegenstand selbst verlegen. Das System sollte das Begreifen als Moment seiner selbst verstehen und in diesem Begreifen entwickeln, wovon es selbst Moment war. Hegel trat für den Gedanken ein, daß das begriffene System sich durch diesen Akt als ein System begreift, das diesen Akt ermöglicht. Es mußte daher einen Gedankengang entfalten, indem es sich als das Ergebnis desselben darstellte. Bedeutsam ist nun die Funktion, die Hegel Descartes innerhalb einer Theorie der Neuzeit bestimmt. Es wird nämlich zum Zweck ihrer historischen Belegbarkeit eine Position benötigt, die den Anfang dieser Epoche darstellt. Es gibt zwar bereits seit Tennemann die Parteiung des Empiristen Bacon und des Rationalisten Descartes 17• Ihre systematische Rechtfertigung hat sie jedoch von Hegel erfahren, um sich daraufhin durchzusetzen. Der Beginn der Neuzeit wird realgeschichtlich faßbar durch die Personifizierung einer philosophischen Alternative. "Das Prinzip der neueren Philosophie ist daher nicht das unbefangene Denken, sondern hat den Gegensatz des Denkens und der Natur vor sich, Geist und Natur, Denken und Seyn sind die beiden unendlichen Seiten der Idee" 18 • Deshalb beginne mit Descartes "die eigentliche Philosophie dieser Zeit" 19; "Cartesius ist einer von den Men17

18

Tennemann, Manuelle, vol. 2, pp. 54. 89 sq. Hege/, Vorlesungen, Jub. Bd. 19, S. 269.

I. Das Descartesbild in Deutschland

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sehen, die wieder mit Allem von vorn angefangen haben"20. Mit den Elementen Dualismus und Neubegründung ist Hegels Interpretation entworfen. Der Gedanke muß mit sich selbst anfangen und setzt einen "absoluten Anfang". Dieser Anfang ist mit dem Prinzip de omnibus dubitare ausgesprochen. Das zweite Element besteht aus der Gewißheit des Denkens. Das Dritte besteht im Übergang zur Wahrheit, der "auf dem Beweis des Daseins Gottes" beruht. "Mit dem Erweis des Daseyns Gottes wird zugleich die Evidenz aller Wahrheit in ihrem Ursprunge und in ihrer Gültigkeit begründet". Damit wird zum vierten Element übergeleitet: "was uns von Gott geoffenbart ist, müssen wir glauben, ob wir es gleich nicht begreifen" 21 • Das Denken ist von Descartes zum "Prinzip gemacht"22 und wird damit von seinem geschichtlichen Ort auf denjenigen des Systems transportiert. "Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft: so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe" und "umgekehrt den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen'm. Dieser Satz rechtfertigt Hegels Komplementäransetzung des Neuzeitbeginns und dessen, was er als die Hauptleistung Descartes' herausstellt. Das Denken wird sich selbst durchsichtig, "das reine Beziehen auf sich selbst"24, und fängt, wie die Neuzeit mit Descartes, mit sich selbst "ganz von vorne" an25 . Die Descartesinterpretation wird nach den Bedürfnissen der Epochenkonstruktion entworfen und dies ist in Hegels Philosophieverständnis als System legitim. 3. Die Identifizierung von Epochenbegriff und Descartesinterpretation

Hegel selbst hat die Entfaltung seiner Philosophie nicht ausdrücklich in Form ihrer Geschichte geschrieben. Er hat zwar - in der Phänomenologie die Möglichkeit nahegelegt, die Etappen der Selbstbildung des Geistes mittels historischer Positionen zu erkennen. Und er hat in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Stichpunkte der Descartesinterpre19 20

21 22

23 24 25

Hegel, Hegel, Hegel, Hegel, Hege/, Hegel, Hege/,

2 Laudien

Vorlesungen, Vorlesungen, Vorlesungen, Vorlesungen, Vorlesungen, Vorlesungen, Vorlesungen,

Jub. Jub. Jub. Jub. Jub. Jub. Jub.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

19, S. 274. 19, S. 329. 19, S. 334-352. 19, S. 331. 17, S. 59. 19, S. 343. 19, S. 331, 334, 335, 336, 337.

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tation entwickelt. Aber die Ineinssetzung von cartesischer Philosophie und ihrer Systemfunktion ist ein Resultat der Hegelschule. Dies läßt sich bei Erdmann, ihrem ersten großen Philosophiehistoriker, belegen. Erdmann führt exemplarisch vor, wie die Descartesinterpretation und die Epochenbzw. Periodeneinteilung Hegels zu identifizieren ist. Der letzte Satz seiner Darstellung feiert Descartes dafür, "dass er das Denken (... ) als die Substanz des Geistes auffasste; und so ehren wir in ihm den Anfänger und Vater der neuen Philosophie". Dieses Ergebnis ist in der Prämisse des Werkes vorbereitet. "Die Geschichte ist die Entwicklung des allgemeinen Geistes in der zeitlichen Erscheinung"26• Sie ist kein "Aggregat von disparaten Einzelheiten", sondern "Entwicklung, d. h. die Einheit des Anderswerdens"27 , in der der Geist "selbst seine Momente expliziert"28 . Erdmann scheidet Epoche von Periode. Erstere liegt dort, "wo (... ) ein neues Princip sich geltend macht". Letzte bezeichnet den "Zeitraum, welcher dazu dient, dies selbe Princip zu realisieren". Epoche ist, "wo der Geist auf einer höheren Stufe erscheint". Eine "Periode ist nichts anderes als ein Kreis", insofern das am Beginn unvermittelt Auftretende an seinem Ende als Vermitteltes erscheint. Die Realisierung des Prinzips beendet die Periode29 . Erdmanns Anspruch "eine Darstellung des ganzen Verlaufs der Geschichte" zu bieten30 meint ein systematisches Ganzes. Die Epocheneinschnitte können deshalb deduziert werden. Nur deshalb wird die "Eintheilung der Geschichte objective Gültigkeit haben". Ihre Objektivität erhält die Darstellung, weil sie vom Begriff des Geistes ausgehe 1• Eine korrekte Deduktion ist allerdings nur dann gegeben, wenn sie "rein aus dem Begriff des Geistes heraus die ganze Entwicklung bis zu diesem Punkte darstellt, und dann gezeigt würde, wie der in dieser wissenschaftlichen Deduction erreichte Punkt dasselbe enthalte wie die vorausgesetzte Hypothese"32. Jedes System der neuen Philosophie muß zwei Momente enthalten: Bewußtsein und Dasein33 . Diese Anforderung wird aus dem Begriff des die Neuzeit bestimmenden Protestantismus deduziert. Der protestierende Geist hat nicht allein seinen Gegenstand im anderen, er protestiert zugleich gegen den Protest. Das Ergebnis ist das negierte Negieren oder das "Product des 26 27 28

29 30 31

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33

Erdmann, Erdmann, Erdmann, Erdmann, Erdmann, Erdmann, Erdmann, Erdmann,

Geschichte, Geschichte, Geschichte, Geschichte, Geschichte, Geschichte, Geschichte, Geschichte,

S. 336. u. 1. S. 3. S. 12. S. 84, 85, 86. S. 95. S. 87-89. S. 97 f. S. 121.

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doppelten Negativen" als Affirmatives34• Dem denkenden Geist erscheint alles Sein als das andere seiner selbst. Dieses andere ist nicht vom Geist, sondern ihm vorausgesetzt und muß deshalb negiert werden. Denn "das Princip des Protestantismus ist in sofern die Forderung, sich von jeder Voraussetzung zu befrein, und nur gelten zu lassen den Geist, und was er selbst, als frei seyend, setzt"35 . Die beiden den Momenten entsprechenden Prinzipien sind also: "das Seyende ist nicht, und: Das Seyende ist dennoch"; oder: "das was der Geist verwirft, weil er rein protestierend ist, nennen wir das Wirkliche, das, was er als das allein Gültige behauptet, sein eignes Wesen, ist das Vernünftige", daher gilt "a) Das Wirkliche ist nicht, weil nur das Vernünftige ist. b) Das Wirkliche ist"36. Die Synthese dieser Entgegensetzung muß den Übergang von Wirklichkeit und Vernünftigkeit als Einheit begreifen und zu dem Ergebnis gelangen, daß "das Wirkliche (... ) vernünftig und das Vernünftige (...) wirklich" ise7 . Es ist dieser Interpretationsschlüssel, der die historische Aufmerksamkeit determinieren muß. Erdmann legt deshalb in den letzten Paragraphen der "Allgemeinen Einleitung" sowohl den Inhalt als auch die Reihenfolge der philosophischen Systeme der neueren Philosophie fest. "Jedes System in dem Verlauf der Geschichte der neueren Philosophie muss enthalten die beiden oben deducierten, sich entgegengesetzten Momente, die man mit den Worten Bewusstseyn und Daseyn bezeichnen kann, und den Versuch ihrer Vermittlung"38 . Damit ist deduziert, daß eine dualistische Position die neuere Philosophie einleitet, ihr Beginn also dort anhebt, wo "beide Momente in ihrer weitesten Entfernung von einander, d. h. als empirisch vorgefundene, gegeneinander selbständige, und von einander verschiedene Substanzen" stehen39 . Da andererseits zum Prinzip des Protestantismus auch die Vermittlung jenes Gegensatzes gehört, muß sie als "isoliertes Postulat" Bestandteil des Systems sein und sein ungelöstes Problem darstellen40. Da dieses Postulat dem System zwar äußerlich ist, das philosophierende Subjekt aber die Überzeugung hat, "es sey die Wahrheit", muß ein Einfluß auf das System bestehen. Dieser Einfluß wirkt sich auf die Stellung der Momente aus. Beide sind zwar gleichempirisch, aber dasjenige, welches dem Prinzip des Protestantismus am nahesten steht, ist das Erdmann, Geschichte, S. 99 f. Erdmann, Geschichte, S. 108 f. 36 Erdmann, Geschichte, S. 109 f. 37 Erdmann, Geschichte, S. 115. 38 Erdmann, Geschichte, S. 121. "Andernfalls man entweder die Voraussetzungen aufzugeben habe oder bestreiten muß, daß es ein philosophischen System sei" (Erdmann, Geschichte, S. 122). 39 Erdmann, Geschichte, S. 130 f. 40 Erdmann, Geschichte, S. 137 u. 141. 34

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Bewußtsein, ehe es sich seines Protestes gegen sich selbst bewußt ist. Dem Subjekt erscheint sein Wissen daher als dasjenige, "was das Gewissere ist, und so wird also, da von dem philosophierenden Subject jenes Grundprincip der ganzen Periode, als das zu lösende Problem aufgestellt ist, der Einfluss auf das Verhältnis beider, sich entgegengesetzter Momente dieser seyn, dass die Seite des Bewusstseyns die, dem Philosophirenden subjectiv höhere, d. h. die gewissere ist"41 . Die Einleitung mündet in das Fazit, daß hiermit das erste System der neueren Philosophie bestimmt wurde, und daß dieses System dasjenige des Descartes' ist. Ersteres ist durch das bereits Ausgeführte bewiesen. Daß dies für die zweite Behauptung nicht gelten, sondern sich erst durch die Darlegung des cartesischen Systems beweisen soll42, zeigt den Anspruch, die Wahrheit des Systematischen als das Geschehen im Zeitlichen entwikkeln zu können. Es zeigt aber nicht mehr als diesen Anspruch. Denn Erdmanns Interpretation Descartes' ist in der Tat die Illustrierung seiner systematischen Vorgaben43 . In den abschließenden "Kritischen Bemerkungen" wird die Brücke zur "Allgemeinen Einleitung" geschlagen, indem die Unschärfe der Äußerungen Descartes' gereinigt wird, um zu zeigen, "was der eigentliche Sinn jenes Systems sey, d.h. seine eigentliche Bedeutung, und dass diese mit dem oben Deducierten übereinstimmt"44. 4. Das Weiterwirken und die Konsequenzen der Descartesinterpretation Hegels Das Descartesverständnis Hegels hat die Elemente hervorgebracht, die bis heute in Deutschland seiner Interpretation als bevorzugte Orientierungsdaten dienen. Es ist durch die sich ihm anschließende Philosophiegeschichtsschreibung in eine Form gebracht worden, die bis heute die Organisation des Stoffes der Lehrbücher bestimmt. Die Nötigung, die historische Darstellung durch eine nicht nur chronologische, sondern sachliche Abfolge darzubieten, verschaffte dem hegelschen Konzept einen Vorteil, insofern

Erdmann, Geschichte, S. 141-143. Erdmann, Geschichte, S. 152. 43 Sie läßt sich kurz folgendennaßen zusammenfassen. Aus dem Zweifel folgt das erste Prinzip (S. 155-162), aus diesem die Existenz Gottes (S. 166-174), aus seiner Definition die Widerlegung des Zweifels (174-177), aus der Bestimmung des Substanzbegriffs ihre gegenseitige Negation, was in der Anthropologie zur Bestimmung des Körpers als einer künstlichen, von Gott konstruierten Maschine führt (S. 177-182, 201). Es folgt die durch die Widerlegung des Zweifels gerechtfertigte Naturphilosophie, sowie Anthropologie und Psychologie. 44 Erdmann, Geschichte, S. 266. 41

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es auf eine wechselseitige Bestätigung von Philosophiegeschichtsperiodisierung und Descartesdarstellung hinauslief. Diese Elemente sind Explikationen eines Gedankens, der für das System ebenso notwendig wie nicht in ihm begründbar ist. Es ist der voraussetzungslose Anfang im Cogito. Daß dieser Anspruch das philosophische Anliegen Descartes' adäquat zum Ausdruck bringt, ist allgemein - auch von denen, die andere Epocheneinteilungen vornehmen45 - akzeptiert worden. Es ist dagegen wenig beachtet worden, in welchem Mißverhältnis die Bedeutung dieses Anspruches zu seinem Vorkommen bei Descartes steht46. Die anknüpfungslose Form, in der Descartes seine Gedanken präsentierte, wird erst, wenn man sie der Notwendigkeit aussetzt, die Epoche zu begründen, zu derjenigen Anforderung, die man gewohnt ist, für das philosophische Zentralproblem Descartes' zu halten. An die Voraussetzungslosigkeit lassen sich nicht allein mühelos die weiteren vom Idealismus bevorzugten Elemente der Descartesinterpretation anreihen, insofern aus dem Zweifel das Cogito, aus diesem das Gottesbewußtsein, aus diesem die Weltdaseinsgarantie folgt. Sondern das Resultat der von diesem Beginn ausgehenden Bewegung bestätigt auch den Abstand von Epochenbeginn und Ende. Denn weil der im Bewußtsein entdeckte Gott wegen seiner Vollkommenheit nicht täuschen kann, ist der Zweifel zwar als fehlinvestierte Bemühung erwiesen, aber damit zugleich der systematische Zusammenhang preisgegeben. Weil der Zweifel "nur am Angange gültig ist, und im Verlauf aufgegeben ist, so steht er ganz isoliert von dem Fortgange da, zwar als Forderung, deren Nichterfüllung aber der, der sie stellt, selbst eingeständig ist. (... ) mit diesem Aufgeben nimmt er das vorher Weggeworfene, ebenso wie es früher war, wieder auf.47 . Das wird 45 Z. B. Fischer, Logik, S. 17 f.; ders., Geschichte, S. 154 f.; Fichte, Beiträge, S. 432; Rosenkranz, Geschichte, S. 5 f. 46 Descartes kann immerhin versichern: addo etiam, quod forte videtur esse paradoxum, nihil in ea Philosophia esse, quatenus censetur Peripatetica, et ab aliis diversa, quod non sit novum, nihilque in mea, quod non sit vetus (AT VII 580). Hic non repeto quod supra dixit meam Philosophiam esse omnium antiquissimam, nihilque ab ea diversum esse in vulgari, quod non sit novum (AT VII 596). Die von Heidegger unterstellte Formel fundamenturn inconcussum (Heidegger, Satz, S. 29) findet sich nicht bei Descartes, sondern bei Spinoza im Prolog seiner Descartesdarstellung: firma et inconcussa fundamenta scientiarum (Spinoza, Principia, Prol., Op. I, p. 22). Bei Descartes findet man: a primis fundamentis denuo inchoandum, si aliquid aliquando firmum et mansurum; quid invenero quod certurn sit et inconcussum; a1iquid certi atque indubitati (AT VII 17. 20. 24). 47 Erdmann, Geschichte, S. 273 f. Schelling interpretiert nicht anders. Weil im Cogito Gott als "Bürge für die Wahrheit seiner Vorstellungen von Außendingen" erscheint, fungiert dieser als "deus ex machina" und markiert den Abstand zur Reflexionsphilosophie. "Es h~tte dem Cartesius ganz nahe gelegen, schon zum völligen Idealismus fortzugehen, d. h. zu dem System, welches behauptet, daß die Dinge

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von Erdmann nicht als Kritik verstanden, denn seine Interpretation erfüllt damit ein Postulat der Phänomenologie des Geistes: "es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist"48 . Da das Prinzip der Selbstvergewisserung nur für das Selbst gelten kann, ist in seiner metaphysischen Konstitution der Substanzendualismus eingeschlossen und damit das zweite Element der Versöhnung am Beginn der Periode bereitgestellt. Mit diesem Befund hat Erdmann die Philosophie Descartes' zum Anwendungsfall des hegelschen Epochenbegriffs gemacht. Dies ist eine die Neuzeit einleitende Leistung, die wesentlich verborgen bleiben mußte49 . Das Interesse am voraussetzungslosen Anfang ist das Interesse der reflexiven Systemphilosophie an sich selbst: den Beginn des Prozesses selbst nochmals unter der Begründungsleistung des Prozesses · selbst zu begreifen. Obwohl in Deutschland durch Dilthey eine neue Weise des historischen Interesses, das die Einheitsforderung von systematischer und historischer Darlegung hinter sich ließ, gebildet wurde, sind deren Stichpunkte auch in der Phänomenologie übernommen worden. Husserl sieht Descartes sowohl als "urstiftende(n) Genius der gesamten neueren Philosophie"50 als auch als ihren "eigentlichen Erzvater" an51 . Scheler bestimmt den Substanzendualismus als "pure metaphysische Konstruktion ohne jede phänomenale Voruntersuchung"52 und als die für die Neuzeit "klassische Theorie des Menschen"53. Er erklärt Descartes' "von der Gemeinschaft gelöste(s) Denken" als Haupthindernis "für den kulturellen Wiederaufbau Europas"54 . Auch Heideggers im Rahmen der Kritik der Substanzontologie vorgenommene Descartesinterpretation folgt den Vorgaben Hegels. Hege! bestimmte die Modernität Descartes' aufgrund des neuen Substanzbegriffes, den er als reines Selbstbewußtsein bestimmt. Zur Überwindung der in der Aufklärung unvermittelten Positionen von Materialismus und Idealismus beruft er sich auf die ,,Begriffe der Cartesianischen Metaphysik ( ...), daß nicht objektiv außer uns, sondern nur in unsem, wenn gleich nothwendigen Vorstellungen existiren" (Schelling, Geschichte, S. 83 u. 93). 48 Hegel, Phänomenologie, Jub. Bd. 2, S. 24. 49 "Der, welcher das System aufstellte, kann, wie öfter gezeigt ist, seine wahre Stelle im Ganzen nicht so richtig erkennen, als der, für den es schon aufgehobnes Moment geworden ist, und so muss man sagen, dass die Nachwelt den Philosophen besser versteht, als er sich selbst" (Erdmann, Geschichte, S. 266). so Husserl, Krisis, S. 75. SI Husserl, Meditationen, S. 3. S2 Scheler, Selbsterkenntnis, S. 229. s3 Scheler, Stellung, S. 56. S4 Scheler, Menschen, S. 389 u. 447.

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an sich Sein und Denken dasselbe ist (...), daß Sein, reines Sein nicht ein konkretes Wirkliches ist, sondern die reine Abstraktion; und umgekehrt das reine Denken, die Sichselbstgleichheit oder das Wesen, teils das Negative des Selbstbewußtseins und hiemit Sein, teils als unmittelbare Einfachheit ebenso nichts anderes als Sein ist; das Denken ist Dingheit, oder Dingheit ist Denken"55 • Wird die im Cogito befundene Identität von Dingheit und Denken aber nicht als empirischer Satz (Leibniz, Kant), sondern als Substanz (Regel) gefaßt, wird also mehr als die empirische Tatsache der Existenz des Ego beansprucht zu klären, dann hat Descartes dieses Wesen unthematisiert gelassen: "Mit dem ,cogito sum' beansprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren Boden beizusteHen. Was er aber bei diesem ,radikalen' Anfange unbestimmt läßt, ist die Seinsweise der res cogitans, genauer den Seinssinn des ,sum"'56• Diese Bestimmungsvakanz führt dazu, daß "das Sein des ,Daseins' aber, zu dessen Grundverfassung das In-der-Welt-sein gehört", von "Descartes in derselben Weise wie das Sein der res extensa, als Substanz", aufgefaßt wird57 . Die im deutschen Idealismus vollzogene Identifizierung des voraussetzungslosen Beginns der Neuzeit mit der cartesischen Philosophie trägt Descartes den Titel Vater des europäischen Nihilismus ein58 . Der Dualismus von Ich und Welt wird zur Ursache der Krisis der europäischen Wissenschaften erklärt59 . Der Mensch erscheint als weltloses Subjekt, das zur Lebenswelt in ein Verhältnis technischer Verfügbarkeit tritt und seine Subjektivität an diese Welt verliert60. Die in sich selbst begründete SubjektiviHegel, Phänomenologie, Jub. Bd. 2, S. 445. Heidegger, SuZ § 6, S. 24. "Descartes ist hinsichtlich der ontologischen Durcharbeitung des Problems, weit hinter der Scholastik zurückgeblieben", so daß er den "in der Idee der Substantialität beschlossenen Sinn von Sein unerörtert" ließ (ders., Wegmarken, GA XI, S. 89, cf. ders., SuZ § 20, S. 93). Auch Blumenberg kommt zum selben Resultat: ,,Descartes hatte noch geglaubt und glauben machen können, es komme alles darauf an zu beweisen, daß die Außenwelt mit dem identischen Prädikat der Existenz versehen werden könne, wie dieses seine Bedeutung von der Selbstgewißheit des Ich bin zugeführt erhalte. Er hatte nicht danach geforscht, wie im Cogito sum erfaßt werden könne, an welcher Existenz zuvor gezweifelt worden war" (Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 368). 57 Heidegger, SuZ § 6, S. 24, cf. § 10, S. 93. 58 Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, S. 187-192. 59 Husserl, Krisis, S. 75. 60 Heidegger sah sich im 2. Trisemester 1940 - die Niederlage Frankreichs vor Augen - zu einer Bemerkung veranlaßt, die den militärischen Mißerfolg trotz der nationalgewordenen Nutzungsmöglichkeit der cartesianischen Metaphysik ("Descartes' Deutung des Seins als Vor-gestelltheit ist die metaphysische Möglichkeit des Kraftmaschinentechnik", Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, S. 204) durch das Fehlen des neuen Menschentums erklärt: "In diesen Tagen sind wir selbst Zeugen eines geheimnisvollen Gesetzes der Geschichte, daß ein Volk eines Tages der Metaphysik, die aus seiner eigenen Geschichte entsprungen, nicht mehr gewachsen ist in dem 55

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tät versteht sich aus einer an ihrer Konstituierung nicht beteiligten Außenwelt und muß sich als ein Vorkommnis dieser Welt begreifen61 . Wird diese Interpretation zu Ende gedacht, dann erweist sie ein philosophisches Paradox. Die Ermöglichung des sich selbst begründenden Selbstbewußtseins nimmt einen nicht ableitbaren Freiheitsakt in Anspruch, der in dem allein in diesem Akte konstituierten Selbstbewußtsein nicht mehr nachgewiesen werden kann. Das Selbstbewußtsein entdeckt seine Freiheit nur, um sie einzubüßen62. Die Quelle dieser Aussage ist wiederum Hegel, "das Prinzip der Freiheit ist (bei Descartes, Zus. d.Vf.) als solches nicht herausgehoben"63. Augenblick, da diese Metaphysik sich in das Unbedingte gewandelt hat. Jetzt zeigt sich, was Nietzsche bereits metaphysisch erkannte, daß die neuzeitliche ,machinale Ökonomie', die maschinenmäßige Durchrechnung alles Handeins und Planens in ihrer unbedingten Gestalt ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können; es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges jenseits von Nutzen und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem und zu beliebigen Zwecken brauchbar. Es bedarf eines Menschentums, das von Grund auf dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d.h. sich vom Wesen der Technik ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen. Der unbedingten ,machinalen Ökonomie' ist nur der Übermensch gemäß. Dieser bedarf jener zur Einrichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde. Aber das Tor in den Wesensbezirk dieser metaphysisch verstandenen Herrschaft hat Descartes mit dem Satz cogito sum aufgestoßen" (Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, S. 205). Hier wird nicht gegen Descartes die dem Dualismus vorangehende Erfahrung der ursprünglichen Erschlossenheit des Daseins angeführt, sondern das sich in der Verfallenheit ausübende Erfassen des "einzigartigen Grundwesens der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit". Heidegger hat diese Passage in der nach dem Krieg herausgegebenen Gesamtausgabe unverändert gelassen. 61 Für Heidegger ist Descartes ein Repräsentant dieses Befundes (cf. "Das traditionelle Überspringen der Frage nach der Weltlichkeit der Welt am Beispiel Descartes'", Kapitelüberschrift aus: Prolegomena, S. 321), der in der Seinstendenz des Daseins selbst begründen liegt. Das Dasein hat "gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz" ( .. .) "das eigene Sein aus dem Seienden zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält" (Heidegger, SuZ S. 15, cf. ders., Einführung, S. 130-157; cf. ders., Prolegomena, S. 231 u. 251). 62 Krüger, Herkunft, S. 4. 63 "Es ist das Interesse der Freiheit, was zum Grunde liegt; was als wahr anerkannt wird, soll die Geltung haben, daß unsere Freiheit darin enthalten ist, daß wir denken. Hier in der cartesianischen Form ist das Princip der Freiheit als solches nicht herausgehoben, sondern es sind mehr populare Gründe: weil man irren könnte u. s. f., darum soll man keine Voraussetzungen machen" (Hegel, Vorlesungen, Jub. Bd. 19, S. 338).

II. Descartes, der Klassiker

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Die Integration der an den Namen Descartes gebundenen philosophischen Aussagen in ein Sein und Denken ineinander reflektierendes System ist der latente Grund, weshalb die in der Analyse der Neuzeit sich zeigenden Fehlentwicklungen der Wirklichkeit als Wirkung eines Denkens erwiesen werden können. Die Sinnentäuschungen und Desillusioniel}lngen der Neuzeit können nur als vermeidbar eingestuft werden, wenn deren Gründer nicht allein die Urheberschaft seiner Gedanken, sondern zugleich die Täterschaft der Konstituierung seines Gegenstandes übernehmen kann. Das parmenideische Einssein von Sein und Denken verwandelt sich in Hegels Systemdenken zu einem Metaphernrealismus: "die konstitutive Verwechslung der Wirklichkeit mit der Art, wie sie aufgefaßt wird"64. Es übergeht die wesentliche Heterogenität von Begriff und Realität und macht aus dieser Not eine Tugend, indem es deren kategoriale Unterschiedenheil zum Anlaß ihrer Überwindung nimmt und dies durch den Ausdruck Dialektik angibt. Es ist von der Enttäuschung bestimmt, "daß die Leichtigkeit, mit der der Mensch die Geschichte seiner Welterkenntnis ,macht', wenig oder nichts für das Machen der Geschichte in jedem anderen Sinne hergibt ( ... )"65 . Der in Deutschland herrschende moralisierende Umgang mit Descartes unterstellt, daß seine theoretischen Ergebnisse das Verderben des Wünschbaren betreiben. Wo dieses Interesse nicht auszumachen ist, hat die Descartesinterpretation andere Wege eingeschlagen.

II. Descartes, der Klassiker Descartes in der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts 1. Maine de Birans Interpretation des Cogito Maine de Biran behauptet, daß toutes les discussions du spiritualisme et du materialisme auf einer Verwechslung von Moi und l'Ame beruhen. Es bedarf zur Anerkennung der Bewußtseinstatsache keiner substantiellen Grundlage als Seele, sondern sie ist in einem Akt der inneren W ahmahme unmittelbar gegeben66. Hippolyt Taine hat deshalb Maine de Biran den "Fichte franyais" genannt67 . Ein Titel, der die grundsätzliche Differenz, die aus den verschiedenen philosophischen Traditionen resultiert, nicht verdekken darf. Maine de Biran steht im Gefolge des französischen Sensualismus. D' Alembert schreibt programmatisch ins Vorwort der Enzyklopädie, daß 64 Blumenberg, Genesis, S. 315, das Zitat ist bei Blumenberg nicht auf Hege! bezogen. 65 Blumenberg, Genesis, S. 340. 66 Zitiert aus Grünepütt, (Art.) Spiritualismus, Sp. 1407. 67 Siehe Gouhier, Maine de Biran, p. 9.

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A. Epochengründer versus Klassiker

man zur Sekte der Peripatetiker zurückkehren muß: es ist nichts im Verstand, das nicht vorher in den Sinnen war68 • Condillac beansprucht, in diesem Sinne den Namen psychologie zur Bezeichnung der Untersuchung dieses Verstandesinhaltes erfunden zu haben und meint damit die Wissenschaft, die die Entstehung der Ideen bezeichnet69• Weil in diesem Namen zuviel Substantialität durchklang, ist er kritisiert worden. Destutt de Tracy hat ihn deshalb durch ideologie ersetzt. Er knüpft an Locke und Condillac an und versucht sich an einer description exacte et circonstanciee de nos facultes intellectuelles, de leurs principaux phenomenes, et de leurs circonstances les plus remarquables, en un mot de veritables elements d'ideologie10. Destutt de Tracy will die Konnotation zum Begriff Seele tilgen und er bestimmt das cartesische Cogito als Ia premiere chose dont nous sommes certain. Die Sicherheit gründet nicht auf einem Erkenntnisakt, sondern wird mit der Empfindung identifiziert: parce que nous sentons, par notre sensibilite, ou comme il dit, parce que nous pensons11. Das princip primitif de toutes connaissances, est la conscience de notre propre existence produite par le sentiment de nos perceptions les plus simples, de nos sensations tant internes qu'extemes. ll a dit: Je pense, donc j'existe: il aurait du dire plus exactement: Je sens, donc j'existe12. Das Cogito wird in den Elements d'ideologie aus der Sinnlichkeit des Menschen erhoben. Auch Maine de Biran bezeichnet sich als ideologist, aber in einem anderen Sinn. Er richtet sein Interesse auf das Verhältnis von Wille und Aktion, auf den Aspekt, der vom Sensualismus nicht geklärt werden konnte und dessen Bestimmung als effort-voulu Bergson später zum elan vital entwikkeln wird. Condillac beschreibt die Bildung von Ideen auf der Grundlage der passiven Wahrnehmung. Die Aktivität, die zur Bildung erforderlich ist, wird durch den wahrgenommenen Gegenstand ausgelöst. Maine de Birans fragt nach dem Willen selbst. Er bestimmt - umgekehrt - die Aktivität als Ich. Diese Aktivität wächst dem Ich nicht aus seinen Verhältnis zu Gegenständen zu, sondern ist die Beziehung zu sich selbst. Das Wesen des Ichs ist Aktivität, das Ich ist die Bewegungskraft des Willens. Es ist in jedem 68 Toutes nos connaissances directes se reduisent a celle que nous recevons par les sense (d'Alembert, Discours Pn!J. I, p. II, cf. XXVI). 69 ( ••• ) Ja science qui s'occupe (de l'origine et de Ja generations des idees) n'a pas encore de nom, tant elle est peu ancienne. Je Ia nommerais psychologie, si je connaissais quelque bon ouvrage sous ce titre (Cours d'etudes pour l'instruction du Prince de Parme, 1775, zitiert aus Gouhier, Maine de Biran, p. 176, not. 82). 70 Destutt de Tracy, Projet, vol. l, pref. p. 4. 71 Destutt de Tracy, Projet, vol. 3, pp. 110 sq. 72 Destutt de Tracy, Projet, p. 133.

II. Descartes, der Klassiker

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Wahrnehmungsakt nicht als sein Inhalt, sondern als seine Eigenwahrnahme gewußt; es ist conscience im Wortsinne. Die Differenz zum deutschen Idealismus besteht darin, daß Maine de Biran die Erfahrung des Ichs dieses Willens als den als Leib agierenden Willen versteht. Die Erfahrung der Kraft des Willens basiert auf der Erfahrung einer Widerständigkeit (non-moi). Die Widerständigkeit bedarf nicht der Gegenwart eines Gegenstandes, sondern verklammert die Dynamik der aufeinander angewiesenen Aktionen von Muskel und Gegenmuskel mit der Dialektik des Willens. Schopenhauer erhebt die Klärung dieses Gedankens zum Gegenstand seines Hauptwerkes und spricht ihn Maine de Biran mit Unrecht ab73 • Denn dieser stellt das Cogito Descartes' genau in diesen Kontext: das Ich nimmt sich nicht in dem vom Leib isoliert gedachten Denkakt wahr, sondern im Moment, wo es sich in ihm ausübt. Das Ich ist unkörperlich als das ungegenständliche Innen (un dedans), der Leib als sein object immediat bezeichnet. La veille du moi est constituee par cet etat d'effort immanent (... ). Tant qu'elle subsiste, Ia personne est plus ou moins mais toujours identiquement presente a elle-meme14 • Im Cogito erscheint die Wahmahme meiner selbst als ein unmittelbares Bewußtsein, dessen Analyse n 'est pas capable de repandre le moindre jour sur Ia connaissance de l'ame, hors de ce fait de Ia conscience15 • Der Rückgriff auf Descartes interpretiert dessen Cogito als die Selbsterscheinung meiner selbst in meinen Akten, nicht als die Substanz dieser Akte76. Gouhier hat Maine de Biran die Entdeckung der ontologischen Wurzel der Person zugerechnet77 .

73 "Ich erkenne meinen Willen nicht im Ganzen, nicht als Einheit, nicht vollkommen seinem Wesen nach, sondern ich erkenne ihn allein in seinen einzelnen Akten, also in der Zeit, welche die Form der Erscheinung meines Leibes ist: daher ist der Leib Bedingung der Erkenntnis meines Willens. Diesen Willen ohne meinen Leib kann ich demnach eigentlich nicht vorstellen. (... ) Insofern ich meinen Willen eigentlich als Objekt erkenne, erkenne, ich ihn als Leib. (. ..) Mein Leib ist die Objektivität meines Willens". Die Erkenntnis dieser Identität ist die "unmittelbarste" und daher eine philosophische Erkenntnis eigener Art (Schopenhauer, Werke, Bd. I, S. 159-161). Zu Maine de Biran siehe Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 51 u. Bd. 3, s. 62. 74 Maine de Biran,