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German Pages 477 [478] Year 2015
Wassili Stepanowitsch Christoforow, Wladimir Gennadjewitsch Makarow, Matthias Uhl (Hrsg.) unter Mitarbeit von Daniel Bohse Verhört
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau
Band 6
Wassili Stepanowitsch Christoforow, Wladimir Gennadjewitsch Makarow, Matthias Uhl (Hrsg.) unter Mitarbeit von Daniel Bohse
Verhört
Die Befragungen deutscher Generale und Offiziere durch die sowjetischen Geheimdienste 1945–1952
Gefördert mit Mitteln der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
ISBN 978-3-11-041604-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-021809-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-021806-2 ISSN 0179-0986 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagbild: Haftfoto von Ferdinand Schörner, o. Datum, CA FSB, Akte N-21138 Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellenund ihr Wert für die Geschichtswissenschaft — 1 Der westdeutsche Diskurs — 2 Die in sowjetischen Gefängnissen entstandenen Aufzeichnungen und der Umgang der Geheimdienste der UdSSR mit den deutschen Kriegsgefangenen — 4 Zu Struktur und Aufbau der Geheimdienste der UdSSRund des Kriegsgefangenenwesens in der Sowjetunion 1941–1945 — 4 Zu den generellen Bedingungen der deutschen Kriegsgefangenen in West und Ost — 9 Die Überprüfung deutscher Kriegsgefangener durch die Smerschund die Überstellung ausgewählter Personen an Untersuchungsbehörden der sowjetischen Geheimdienste — 12 Schau- und Geheimprozesse gegen Kriegsverbrecherunter Federführung des NKWD und NKGB — 17 Zum Inhalt der Verhöre deutscher Militärs und Beamterdurch die sowjetischen Geheimdienste — 22 Die Einschätzung des Oberbefehlshabers — 33 Verbrechen und Verbrecher — 36 Die Instrumentalisierung der Häftlinge — 39 Die Überlieferung im Vergleich — 41 Bemerkungen zur Edition — 43 1
Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg) — 47 1.1 Mitteilung des Bevollmächtigten des NKWD der UdSSR bei der 1. Belorussischen Frontüber die Verhöre der deutschen Generale, die sich bei den Alliierten befinden, Berlin, 25. Juni 1945 — 48 1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 — 57 1.3 Sowjetisches Verhörprotokoll des Reichsmarschall Hermann Göring, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 — 78 1.4 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 — 95 1.5 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Alfred Jodl, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 — 121 1.6 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von General der Artillerie Walter Warlimont, Kurort Mondorf, Luxemburg, 18. Juni 1945 — 133 1.7 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Georg Lindemann, Kurort Mondorf, Luxemburg, 18. Juni 1945 — 139
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Inhalt
1.8 Auskunftsschreiben der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSRüber die Ergebnisse der Befragung von Generalfeldmarschall Albert Kesselring, 24. Juni 1945 — 143 2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure — 145 2.1 Aussage von Generalleutnant Hans Piekenbrock– ehemaliger Leiter der Abteilung Abwehr-1 „Nachrichtenbeschaffung“ des Amtes Ausland/ Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 12. Dezember 1945 — 145 2.2 Eigenhändige Zeugenaussage des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner, Moskau, 15. Dezember 1945 — 148 2.3 Aussage von Oberst Erwin Stolze– ehemaliger stellvertretender Leiter der Abteilung Abwehr-2 „Sonderdienst“ des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 25. Dezember 1945 — 153 2.4 Aussage von Generalleutnant Franz Bentivegni– ehemaliger Leiter der Abteilung Abwehr-3 „Abwehr“ des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 28. Dezember 1945 — 157 2.5 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 12. Januar 1948 [Auszug] — 160 2.6 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen, Moskau, 29. August 1951 — 167 3
Der Krieg in der Sowjetunion: Die zweite Hälfte des Krieges — 171 3.1 Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 20. August 1945 — 171 3.2 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 3. Januar 1946 — 178 3.3 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Mühlhausen, Deutschland, 27. Dezember 1947 — 183 3.4 Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist„Militäroperationen an der Südfront (1941–1944)“, Moskau, 23. Februar 1951 — 188 3.5 Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 17. August 1951 — 206 3.6 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 21. November 1951 — 208
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Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik — 219 4.1 Eigenhändige Zeugenaussage des Generalleutnants Rainer Stahel „Aufstand in Warschau“, Moskau, 28. April 1945 — 219 4.2 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 25. August 1945 [Auszug] — 226
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4.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 13. Dezember 1945 — 233 4.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945 — 239 4.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945 — 245 4.6 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 29. Dezember 1945 — 251 4.7 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945 — 256 4.8 Vernehmungsprotokoll des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 2. Januar 1946 — 260 4.9 Vernehmungsprotokoll des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 2. Januar 1946 — 264 4.10 Schreiben der Hauptverwaltung des Volkskommissariats für Staatssicherheitder UdSSR zum Kampf gegen das Banditentum zur Übergabe der Anklageschrift an den Angeklagten Friedrich Jeckeln, Riga, 3. Januar 1946 — 268 4.11 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 2. April 1948 — 270 4.12 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 19. September 1951 — 283 4.13 Abschließende Anklage der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der UdSSR gegen den Generalleutnant der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 4. Dezember 1951 — 287 4.14 Eigenhändig verfasste Ausführungen des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 10. Januar 1946 — 291 4.15 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen, Moskau, 12. April 1948 [Auszug] — 293 4.16 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 26. Oktober 1951 — 295 4.17 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 23. November 1951 — 297 4.18 Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 28. November 1951 — 299 4.19 Anklageschrift in der Strafsache Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 7. Dezember 1951 — 301 4.20 Abschließende Anklageschrift in der Strafsache Nr. 5125gegen den General der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 11. Dezember 1951 — 308 4.21 Anklage im UntersuchungsvorgangNr. 5089 gegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 12. Dezember 1951 — 311
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Inhalt
4.22 Protokoll der geheimen Gerichtsverhandlung des Militärkollegiumsdes Obersten Gerichts der UdSSR gegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 11. Februar 1952 — 316 4.23 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSRgegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 11. Februar 1952 — 328 4.24 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSRgegen Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 21. Februar 1952 — 330 4.25 Berufungsklage des verurteilten Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 29. Februar 1952 — 332 4.26 Gerichtsbeschluss Nr. SP-0077/51 des Militärkollegiums des Obersten Gerichtsder UdSSR im Fall Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 9. April 1945 — 332 4.27 Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSRüber die Begnadigung des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner, Moskau, 12. April 1952 — 333 4.28 Richterspruch Nr. SP-0078/51 des Militärkollegiums des Obersten Gerichtsder UdSSR in der Strafsache gegen Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 17. April 1952 — 334 4.29 Gutachten der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Streitkräfteder Russischen Föderation Nr. 5ud-1758–95 zur Ablehnung der Rehabilitierung von Helmuth Weidling, Moskau, 16. April 1996 — 335 5 Judenmord — 339 5.1 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richter über die Lösung der Judenfrage in Deutschland, Moskau, 10. Oktober 1944 — 339 5.2 Schriftliche Aussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richterüber die Lösung der Judenfrage in Europa, Moskau, 12. Oktober 1944 — 344 5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945 — 347 5.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 21. Dezember 1945 — 356 5.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945 — 365 5.6 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richterüber die jüdische Militärorganisation „Irgun“ in Palästina und im Nahen Osten, Moskau, 10. April 1947 — 369 5.7 Protokoll des Verhörs von SS-Sturmbannführer Gustav Richter, Moskau, 5. Oktober 1947 — 372
Inhalt
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit — 381 6.1 Vorschläge von Generalleutnant Eberhard von Kurowskizur militärischen Besetzung Deutschlands, Gebiet Iwanowo, 16. Februar 1945 — 381 6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburgüber das deutsche Chemiewaffenprogramm, 10. März 1945 — 395 6.3 Schreiben von Generalleutnant Fritz Franek an die sowjetische Regierung zur Aufstellung österreichischer Verbände, bei Moskau, 28. März 1945 — 406 6.4 Schriftstück von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner über Adolf Hitler, Moskau, 25. August 1945 — 408 6.5 Eigenhändige Selbstaussage von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 15. September 1945 — 408 6.6 Informationen des Generalarztes Walter Schreiberüber deutsche Forschungen zu bakteriologischen Waffen, 10. April 1946 — 410 6.7 Schreiben von Oberstleutnant Gerhard Westerburg an die sowjetische Regierungüber das deutsche Chemiewaffenprogramm, 26. Juni 1946 — 418 6.8 Begnadigungsgesuch von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 6. Februar 1952 — 426
Anhang 7
Kurzbiographien der Vernommenen — 433 7.1 Bentivegni, Franz-Eccard von — 433 7.2 Dönitz, Karl — 433 7.3 Franek, Friedrich — 434 7.4 Göring, Hermann — 435 7.5 Hansen, Erik — 436 7.6 Jeckeln, Friedrich — 437 7.7 Jodl, Alfred — 437 7.8 Keitel, Wilhelm — 438 7.9 Kesselring, Albert — 439 7.10 Kleist, Ewald von — 440 7.11 Kurowski, Eberhard von — 441 7.12 Lindemann, Georg — 441 7.13 Piekenbrock, Hans — 442 7.14 Richter, Gustav — 443 7.15 Schmidt, Rudolf — 443 7.16 Schörner, Ferdinand — 444 7.17 Schreiber, Walter — 445 7.18 Stahel, Rainer — 446
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Inhalt
7.19 7.20 7.21 7.22
Stolze, Erwin — 447 Warlimont, Walter — 447 Weidling, Helmuth — 448 Westerburg, Gerhard — 449
Abkürzungsverzeichnis — 451 Literatur (Auswahl) — 455 Register — 461
Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen und ihr Wert für die Geschichtswissenschaft Während des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit gerieten viele hochrangige deutsche Militärs in sowjetische Gefangenschaft. Die in diesem Buch vorgestellten Dokumente bieten erstmals einen Einblick in die Überlieferung der russischen Archive, die aus den Verhörprotokollen, Selbstaussagen und Prozessakten dieser Häftlinge besteht. Die bisherige Wahrnehmung ist asymmetrisch. Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes gelangten zahlreiche hochrangige Militärs, Parteifunktionäre und Wissenschaftler in die Hände der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion. Die Motivation zum Umgang mit den Gefangenen war ursprünglich identisch: Die verantwortlichen Akteure des NS-Regimes abzuurteilen und die Völker der Welt über die Verbrechen der „Hitler-Clique“, so Großbritanniens Premierminister Winston Churchill, aufzuklären. Zugleich verfolgten aber alle Alliierten eigene Interessen. Die an der Prozessvorbereitung beteiligten Mächte hielten Dokumente zurück und lancierten Aussagen von NS-Verbrechern und andere Zeugnisse, die ein schlechtes Licht auf die einstigen Verbündeten werfen sollten.1 Von der britischen Anklage wurden zum Beispiel diplomatische Verhandlungen ausgeklammert, weil sie missverständlich wirken konnten, die russische Anklage hielt Aussagen und Zeugen zurück, weil ein Einblick in innersowjetische Angelegenheiten nicht erwünscht war. Historiker haben inzwischen Quellenbestände erschlossen, die über den Bestand der ursprünglichen Ermittlungen genauere Auskunft geben. So präsentierte Richard Overy2 in dem Band „Verhöre“ zahlreiche im Nürnberger Prozess nicht benutzte Dokumente und legte damit verschüttete Einsichten frei. Sönke Neitzel3 und Felix Römer4 wiesen mit einer Auswahl der Protokolle abgehörter Gespräche nach, dass die deutsche Generalität und Wehrmachtsangehörige sehr wohl detailliert vom Völkermord und deutschen Kriegsverbrechen Kenntnis hatten. Außerdem zeigten sie, dass einzelne Informationen die alliierte Kriegsführung beeinflussten. Über den Umgang der Sowjetunion mit „ihren“ hochrangigen Gefangenen ist bisher nur wenig bekannt. Recherchen der Herausgeber in zuvor nur schwer zugänglichen Archivbeständen der Russischen Föderation zeigen ein bisher vernachlässigtes Faktum: Die Sowjetunion war weit interessierter an der Befragung deutscher
1 Vgl. Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994, S. 162–202. 2 Vgl. Richard Overy, Verhöre. Die NS-Elite in den Händen der Alliierten 1945, München 2002. 3 Vgl. Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generale in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945, Berlin 2005. 4 Vgl. Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München und Zürich 2012.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
Generale und Rüstungswissenschaftler, als bislang angenommen. Sicher, auch die sowjetischen Verhöre waren teils retrospektiv. Auch die sowjetischen Vernehmer wollten Verantwortliche für Kriegsverbrechen feststellen und waren an der Interpretation der deutschen Generalität zum Kriegsverlauf interessiert. Die hier vorgelegten Dokumente zeigen jedoch, dass die Sowjetunion Aussagen deutscher Gefangener als Anlass zu eigenem Handeln nutzte: Die sowjetischen Vernehmer ermittelten militärund sicherheitspolitisch relevante Informationen und klassifizierten die Gefangenen nach ihrer „Nützlichkeit“ für Künftiges. Daher demonstrieren die hier präsentierten Texte der Verhöre, Selbstaussagen und Gerichtsdokumente zweierlei. Zum einen sind sie Aussagen von Tätern, die sowohl für den Kriegsverlauf als auch hinsichtlich der Täter selbst aufschlussreich sind. Zum anderen halfen bestimmte Informationen der Sowjetunion, den Krieg zu gewinnen und ihre Vorherrschaft in Ostmitteleuropa zu festigen.
Der westdeutsche Diskurs Bereits in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichten zahlreiche Akteure des Zweiten Weltkrieges wehrwissenschaftliche Studien und Memoiren. Dabei interessierte vor allem die Frage, warum der Krieg nicht gewonnen werden konnte. Thematisiert wurden immer wieder einzelne Schlachten, bei denen der Oberbefehlshaber Adolf Hitler falsche Befehle gegeben habe, etwa beim Kampf um Stalingrad.5 Untersuchungen zur Rüstung sollten nachweisen, dass die Wehrmacht nahezu unvorbereitet in den Krieg gezogen sei. So erfuhr die Öffentlichkeit aus den Memoiren des Oberbefehlshabers der Marine Erich Raeder von der unzureichenden Flottenrüstung, der Chef des Heereswaffenamtes Emil Leeb äußerte sich zur nicht ausreichenden Panzerproduktion und der General der Jagdflieger Adolf Galland beschrieb die Entwicklung der Strahlflugzeuge als Abfolge von politischen Fehlentscheidungen.6 Die Öffentlichkeit griff das Diktum von den „verlorenen Siegen“ nur zu gern auf. Viele dieser Bücher erreichten hohe Auflagen, waren jedoch oft so apologetisch, dass Historiker inzwischen von einer bewussten Legendenbildung ausgehen.7 In deren Zentrum steht der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, der „Führer“ und Reichskanzler Adolf Hitler. Alle „richtigen“ Entscheidungen habe das Militär gefällt, die „falschen“ seien allein von
5 Vgl. Erich von Manstein, Verlorene Siege, Bonn 1955, S. 303–339. 6 Vgl. Erich Raeder, Mein Leben, Tübingen 1956; Emil Leeb, Aus der Rüstung des Dritten Reiches. (Das Heereswaffenamt 1938–1945). Ein authentischer Bericht des letzten Chefs des Heereswaffenamtes, Frankfurt am Main 1958; Adolf Galland, Die Ersten und die Letzten. Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, Würzburg 2012, S. 375–385. 7 Siehe etwa Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt am Main 2002, S. 225 ff.
Der westdeutsche Diskurs
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ihm getroffen worden.8 Das Publikum erfuhr nichts von der Hybris, die auch die hohe Generalität befallen hatte. „Es ist also wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte“, so schrieb Generalstabschef Franz Halder zwölf Tage nach dem Beginn des Angriffes auf die Sowjetunion in seinem Tagebuch, „dass der Feldzug gegen Russland innerhalb von 14 Tagen gewonnen wurde.“9 Zur Schlüsselfigur dieser Geschichtspolitik wurde gleichfalls Halder, der sich 1945 der United States Army zur Verfügung stellte und von ihr zum Leiter der deutschen Abteilung der amerikanischen „Historical Division“ ernannt wurde. Während seiner Amtszeit entstanden in den Kriegsgefangenenund Internierungslagern mehr als 2500 Studien zum Zweiten Weltkrieg, auf die er massiv Einfluss nahm, indem er die Verfasser anhielt, Befehlsketten zu verschleiern und vorsätzlich für Ungenauigkeiten und Widersprüche zu sorgen.10 Umso mehr galt dies für die Verbrechen, die während des Weltkrieges verübt wurden. Die Kriegsverbrechen der Wehrmacht wurden entweder mit der Härte des Kampfes entschuldigt, oder mit den Umständen erklärt, etwa die extrem hohe Sterblichkeit unter den sowjetischen Kriegsgefangenen.11 Im Hinblick auf den millionenfachen Judenmord griffen die Militärs die von Hitler angewiesene Trennung zwischen den Operationsgebieten des Heeres und den Gebieten unter Zivilverwaltung auf: Verbrechen, so die Legende, habe allein die SS verübt. Die Selbstzeugnisse der Generale reduzierten ihr Handeln auf eine Befehlskette, die sie selbst entlastete und die Deutschen insgesamt von jeder Verantwortung freisprach. Die Sicht der Akteure wurde von der Geschichtswissenschaft oft ausdrücklich widerlegt, etwa beim Streit um die sogenannte „Blitzkriegslegende“.12 Die Erinnerungsliteratur hinterließ jedoch auch in der seriösen Forschung deutliche Spuren.13 Das ist nicht allein mit der Nachlässigkeit von Historikern und Publizisten zu begründen. Auf Grund der Vernichtung von Archivmaterial musste bislang auf die in britischer oder amerikanischer Kriegsgefangenschaft angefertigten Erinnerungen zurückgegriffen werden.14 Nun gibt es eine weitere wesentliche Sammlung von Zeugnissen.
8 Vgl. Franz Halder, Hitler als Feldherr. Der ehemalige Chef des Generalstabes berichtet die Wahrheit, München 1949 S. 45 ff. 9 Zitiert nach: Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen, München 1970, S. 396. 10 Christian Hartmann, Halder. Generalstabschef Hitlers 1938–1942, Paderborn u. a. 2010, S. 18 f.; Henrik Eberle, Hitlers Weltkriege. Wie aus dem Gefreiten der Feldherr wurde, Hamburg 2014, S. 13 ff. 11 Vgl. Hannes Heer, „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2008; präzisierend Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt am Main 2011. 12 Vgl. Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 2005. 13 So mehrfach bei Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Hitlers militärische Elite, 68 Lebensläufe, Darmstadt 2011. 14 Vgl. George Henry Bennett/Roy Bennett, Hitlers Admirale 1939–1945, Hamburg u. a. 2009, S. 16 ff.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
Die in sowjetischen Gefängnissen entstandenen Aufzeichnungen und der Umgang der Geheimdienste der UdSSR mit den deutschen Kriegsgefangenen Die in dem vorliegenden Band versammelten Aussagen hochrangiger Militärs stellen einen ähnlichen Quellenkorpus dar. Wie die Amerikaner und Briten waren auch die sowjetischen Behörden an Informationen über den zurückliegenden Krieg interessiert. Analog zu den in westlicher Internierung angefertigten Aufzeichnungen sind sie nicht frei von Widersprüchen oder Ungenauigkeiten. Auch in ihnen findet sich das vorsätzliche Verschleiern von belastenden Sachverhalten. Sie sind jedoch frei von den Mustern des Rechtfertigungsdiskurses der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit, weil die Protagonisten von ihm ausgeschlossen waren. Gerieten deutsche Offiziere in sowjetische Gefangenschaft, was in den Jahren 1941 und 1942 seltener, dann aber immer häufiger der Fall war, wurden sie zunächst von Offizieren der militärischen Abwehr „Smersch“15 befragt. Innerhalb kurzer Zeit entschieden dann die Vernehmer, ob der Kriegsgefangene „uninteressant“ war und in eines der zahlreichen Lager überstellt wurde, oder ob er über wichtige Informationen verfügen könnte. Um diese nutzbar zu machen, übergab die „Smersch“ solche Gefangenen in die Obhut des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, bzw. des NKGB, des Volkskommissariats für Staatssicherheit. Es gab dabei allerdings keine nachvollziehbaren Kriterien, nach welchen die kriegsgefangenen Militärs zwischen dem NKWD und dem NKGB aufgeteilt wurden. Vielmehr konkurrierten beide Sicherheitsministerien darum, prominente Gefangene in ihre Hände zu bekommen, um Josef W. Stalin spektakuläre Informationen vorlegen zu können. Es scheint jedoch, dass es dem NKGB gelang, der „operativ“ interessanteren Personen habhaft zu werden.16
Zu Struktur und Aufbau der Geheimdienste der UdSSRund des Kriegsgefangenenwesens in der Sowjetunion 1941–1945 Im Frühjahr 1941, noch vor Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, hatte Stalin eine tiefgreifende Reform der Strukturen der sowjetischen Sicherheitsdienste durchführen lassen. Auf Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR war am 3. Februar 1941 das NKWD in zwei Volkskommissariate aufgeteilt worden – das für Innere Angelegenheiten, an dessen Spitze Volkskommissar Lawrenti P. Berija stand, und das Volkskommissariat für Staatssicherheit unter der Führung von Wse-
15 „Smersch“ [Smerš]: Abkürzung für die russische Parole „Smert‘… špionam“ = „Tod den Spionen“. 16 Andreas Hilger/Ute Schmidt/Günther Wagenlehner (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln u. a. 2001, S. 10.
Zu Struktur und Aufbau der Geheimdienste der UdSSR
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wolod N. Merkulow. Das neu geschaffene NKGB übernahm die bisherigen Aufgaben des NKWD in den Bereichen Spionage, Spionageabwehr und politische Überwachung.17 Nur wenige Tage später, am 8. Februar, wurde auch die militärische Spionageabwehr aus dem NKWD ausgegliedert. An die Stelle der hierfür bislang zuständigen Sonderabteilung der Hauptverwaltung für Staatssicherheit des NKWD traten die sogenannten Dritten Verwaltungen beim Volkskommissariat für Verteidigung (NKO) und beim Volkskommissariat für die Seekriegsflotte (NKWMF). Die bisherigen Sonderabteilungen für Spionageabwehr des NKWD bei den Militärbezirken, Armeen, Flotten sowie den Truppenverbänden und Flottillen wurden unter die Verwaltung der Roten Armee gestellt.18 Im Sommer 1941, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wurden diese Änderungen – unter dem Eindruck des stürmischen Vormarschs der Wehrmacht – zunächst wieder rückgängig gemacht, da die gesamte sowjetische Staatsmaschinerie auf Kriegsbedingungen umgestellt werden musste. Der überstürzte Rückzug der Roten Armee, die teilweise Desorganisation der sowjetischen Streitkräfte und der stellenweise Verlust der Führung der Truppen führten dazu, dass mit den Verfügungen des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 17. Juli 1941 und 10. Januar 1942 die Organe der Spionageabwehr der Volkskommissariate für Verteidigung und für die Seekriegsflotte zur Verwaltung der Sonderabteilungen beim NKWD zusammengefasst wurden, die unter der Leitung von Wiktor S. Abakumow stand. Zudem traf die sowjetische Führung im Juli 1941 wichtige organisatorische Maßnahmen, die darauf ausgerichtet waren, die Zentralisierung der jeweiligen Behörden für Staatssicherheit und Innere Angelegenheiten zu verstärken. Hierfür wurden am 20. Juli 1941 per Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets das NKWD und das NKGB erneut zum Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR vereinigt. Die erfolgreichen Offensiven der Roten Armee an allen Fronten ab 1943 wirkten sich auch auf die Tätigkeit der sowjetischen Staatssicherheitsorgane aus. Seit dem Frühjahr 1943 übernahmen die Sicherheits- und Repressionsorgane neue Aufgaben in den befreiten Gebieten der Sowjetunion, und sie verstärkten die nachrichtendienstlichen Ermittlungen an der Front. Zeitgleich führte die zunehmende Zahl der Kriegsgefangenen zum Umbau der bisherigen Organisationsstrukturen und Tätigkeitsbereiche der sowjetischen Geheimdienstbehörden. Am 14. April 1943 wurde deshalb abermals das NKWD in das Volks-
17 Vgl. V. I. Voroncov/Vladimir F. Nekrasov, Organy i vojska MVD Rossii. Kratkij istoričeskij očerk, Moskva 1996, S. 206. 18 Vgl. Aleksandr I. Kokurin/Nikita V. Petrov, Lubjanka. VČK-OGPU-NKVD-NKGB-MGB-MVD-KGB 1917–1960. Spravočnik, Moskva 1997, S. 26; Sergej Sacharowitsch Ostrjakow, Militärtschekisten, Berlin 1985, S. 134 f.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
kommissariat für Staatssicherheit und Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten aufgeteilt. An der Spitze des NKGB stand erneut Volkskommissar Merkulow.19 Jetzt reorganisierte die sowjetische Führung auch die militärische Spionageabwehr radikal. Entsprechend dem Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 19. April 1943 wurde die sogenannte Verwaltung der Sonderabteilungen des NKWD dem Volkskommissariat für Verteidigung übergeben und zur Hauptverwaltung für Spionageabwehr „Smersch“ umgestaltet. Die für die Marine verantwortliche 9. Abteilung der Verwaltung der Sonderabteilungen des NKWD wurde zur Verwaltung für Spionageabwehr „Smersch“ beim Volkskommissariat für die Seekriegsflotte umgebildet, während die für die Truppen des NKWD verantwortliche 6. Abteilung im System des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten verblieb und dort als Abteilung Spionageabwehr des NKWD „Smersch“ tätig war. Damit wurden folglich drei Organe der militärischen Spionageabwehr geschaffen, die unter gleichem Namen firmierten und drei verschiedenen Behörden (NKO, NKWMF, NKWD) unterstanden.20 Leiter der Spionageabwehr des NKO wurde erneut Abakumow. Unter seiner Leitung suchte die „Smersch“ nach ausländischen Agenten innerhalb der Roten Armee, ferner war sie für die politische Zuverlässigkeit aller Militärangehörigen und die Suche nach Kriegsverbrechern zuständig. Gegen Kriegsende übernahmen die Smersch-Abteilungen zunehmend operative „Aufklärungsaufgaben“, so dass sich die Zusammenarbeit mit dem NKWD/NKGB wieder verstärkte. Wirklich getrennt von den sowjetischen Staatssicherheitsorganen war die „Smersch“ jedoch nie. Zwar unterstand sie formal der militärischen Befehlsgewalt, doch blieben Verantwortlichkeit und die Stellung der zumeist aus dem NKWD stammenden Mitarbeiter unverändert. Abakumow behielt beispielsweise trotz seiner Versetzung in das Verteidigungsministerium sein altes Büro in der Lubjanka. Unter seiner Leitung wurde die „Smersch“ von einem reinen Spionageabwehrorgan zu einem einflussreichen Nachrichten- und Gegenspionagedienst.21 Das Kriegsende bewirkte eine erneute Änderung der bisherigen Sicherheitsstruktur der Sowjetunion, da im Frühjahr 1946 von der sowjetischen Partei- und Staatsführung die Frage des Zusammenschlusses der zahlreichen Staatssicherheitsbehörden erneut auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde im Rahmen der Umbildung der bisherigen Volkskommissariate zu Ministerien aus dem Volkskommissariat für Staatssicherheit das Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR (MGB), dem die Auslandsaufklärung sowie die zentralen und territorialen Organe der Staatssicherheit unterstanden.
19 Vgl. Velikaja Otečestvennaja vojna 1941–1945 godov. V 12 t. T. 6: Tajnaja vojna. Razvedka i kontrrazvedka v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskva 2013, S. 434–441. 20 Vgl. Aleksandr G. Bezverchnij, Smerš. Istoričeskie očerki i archivnye dokumenty, Moskva 2003, S. 15–19; 64–77. 21 Aleksandr N. Jakovlev (Red.), Lubjanka. Organy VČK-OGPU-NKVD-NKGB-MGB-MVD-KGB. Spravočnik, Moskva 2003, S. 79–85; Smerš. Istoričeskie očerki i archivnye dokumenty, S. 64–97.
Zu Struktur und Aufbau der Geheimdienste der UdSSR
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Am 4. Mai 1946 wurde auch die „Smersch“ in die Struktur des MGB eingegliedert. Innerhalb des neu geschaffenen Ministeriums bildete sie die 3. Hauptverwaltung, die jetzt für die militärische Spionageabwehr zuständig war. Zur neuen Kernkompetenz der 3. Hauptverwaltung gehörten aber auch die Ermittlungen gegen prominente deutsche Kriegsgefangene. Offiziell als „Organ der militärischen Spionageabwehr des Ministeriums für Staatssicherheit“ bezeichnet, wurde die Bezeichnung „Smersch“ seither zum historischen Begriff. Demgegenüber war das Ministerium des Inneren (MWD) nun vor allem für die Überwachung und Betreuung der zahlreichen Gefangenen- und Zwangsarbeitslager, einschließlich derer für die Kriegsgefangenen, zuständig.22 Bereits in den ersten Tagen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion unternahm das NKWD den Versuch, 30 Empfangspunkte für Kriegsgefangene aufzubauen. Obgleich die vorhandenen Kapazitäten nur für 19 Lager reichten, standen diese leer, denn statt wie geplant auf gegnerischem Territorium zu kämpfen, mussten dem Feind täglich neue Städte und Dörfer der Sowjetunion überlassen werden. Gleichwohl bestätigte am 1. Juli 1941 der Rat der Volkskommissare der UdSSR eine „Verordnung über Kriegsgefangene“, deren wichtigsten Punkte der Genfer Konvention über die Behandlung der Kriegsgefangenen aus dem Jahr 1929 entsprachen und die den Kriegsgefangenen persönliche Unversehrtheit, eine notwendige medizinische Versorgung, ja sogar das Recht auf Erholung garantieren sollte.23 Allerdings blieb diese Anweisung, wie auch die vorausgegangenen Befehle des NKWD Nr. 0308 vom 19. September 1939 über die Errichtung von Kriegsgefangenenlagern24 und Nr. 00248 vom 26. Februar 1940, der den Einsatz der Kriegsgefangenen in sowjetischen Industriebetrieben regelte25, zunächst ohne Wirkung, da kaum Gefangene gemacht wurden. Demgegenüber befanden sich bereits Ende August 1941 mehr als 1,5 Millionen sowjetische Soldaten im deutschen Gewahrsam. Diese wurden auf Grund ideologischer Voreingenommenheit in der Wehrmacht nicht als gleichwertige Kombattanten behandelt.26 Kennzeichnend für die Mentalität der Truppenkommandeure ist ein Tagesbe-
22 Vgl. Renat N. Bajguzin (Red.), Gosudarstvennaja bezopasnost‘ Rossii. Istorija i sovremennost‘, Moskva 2004, S. 594–597; Aleksandr I. Kolpakidi, Ėnciklopedija sekretnych služb Rossii, Moskva 2004, S. 251 f. 23 Vgl. Beschluss des Rats der Volkskommissare der UdSSR Nr. 1798–800s über die Bestätigung einer Verordnung über Kriegsgefangene, 1. 7. 1941, Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii – Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), Bestand 9401, Findbuch 1, Akte Nr. 619, Bl. 297–299. 24 Vgl. Befehl Nr. 0308 des NKVD „Über die Organisation von Kriegsgefangenenlagern“, 19. 9. 1939, GARF, Bestand 9401, Findbuch 1, Akte Nr. 524, Bl. 432–437. 25 Vgl. Befehl Nr. 00248 des NKVD „Über Maßnahmen zur Regelung der Arbeit von Kriegsgefangenen in den Betrieben des Volkskommissariats für Schwarzmetallurgie der UdSSR“, 26. 2. 1940, GARF, Bestand 9401, Findbuch 1, Akte Nr. 551, Bl. 320. 26 Zu den Richtlinien für die Truppe vgl. Gerd R. Ueberschär, Dokumente zum „Unternehmen Barbarossa“ als Vernichtungskrieg im Osten, in: Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt am Main 2011, S. 258. Zur Genese und Intention der verbrecherischen Befehle und Weisungen vgl. Eberle, Hitlers Weltkriege, S. 237–241.
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fehl des Generalfeldmarschalls Walter von Reichenau, in dem es hieß: „Das Verpflegen von Landeseinwohnern und Kriegsgefangenen […] an Truppenküchen ist eine ebenso missverstandene Menschlichkeit wie das Verschenken von Zigaretten und Brot.“27 Da die deutsche Wehrmacht die große Zahl der sowjetischen Soldaten, die im Westen der Sowjetunion stationiert waren, nur unzureichend aufgeklärt hatte, war sie auch nicht auf die enorme Zahl von Gefangenen vorbereitet.28 Daher traten in Gefangenlagern Epidemien auf, gegen die Wehrmachtsärzte oft erfolglos kämpften. Der Hunger in den Kriegsgefangenenlagern war vor allem ein logistisches Problem. Nicht überall waren Brot und sauberes Trinkwasser erhältlich, was wieder zu Tausenden von Hungertoten und zu Epidemien führte. Das mag unvermeidlich gewesen sein, die Mehrzahl der Menschenopfer des Jahres 1941 war es hingegen nicht, wie Hannes Heer feststellte. Denn viele russische Soldaten erreichten nicht einmal die Sammellager für die Gefangenen. So startete ein Gefangenenzug mit 65 000 Menschen, von denen nur 43 000 im Kriegsgefangenen-Durchgangslager in Smolensk ankamen. 10 000 russische Soldaten marschierten in Wjasma ab, lediglich 3480 erreichten den Zielort Smolensk. Die Berechnungen von Heer legen nahe, dass von den 2,4 Millionen gefangen genommenen Soldaten etwa ein Drittel auf dem Weg zu den Sammelplätzen verhungerte, verdurstete oder ermordet wurde. Die Behandlung der Gefangenen erschien sogar dem Kommandeur eines Panzerkorps als „skandalös“, weshalb er Proteste der Bevölkerung befürchtete.29 Die oberste Wehrmachtsspitze sah das anders. Obwohl in allen Lagern Hunger herrschte, wurden die Rationen für „nichtarbeitende Russen“ im Oktober 1941 noch einmal um 27 Prozent gekürzt. Da man für die Mehrzahl der Kriegsgefangenen keine Beschäftigung gefunden hatte, war das nichts anderes als Massenmord. Generalquartiermeister Eduard Wagner notierte beiläufig: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu verhungern.“30 Erst nach einem Befehl Hitlers vom 24. Dezember 1941 steuerte die Wehrmachtsspitze um. Nunmehr lautete die Vorgabe, „eine ausreichende Ernährung“ zu gewährleisten, um der Heimat möglichst viele Kriegsgefangene zuführen. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) änderte daraufhin seine Strategie der Massentötungen durch Hunger oder der Vernichtung durch Arbeit insbesondere beim Stellungsbau.31
27 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005, S. 199. 28 Vgl. Magnus Pahl, Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin 2012, S. 72–89. 29 Vgl. Heer, Hitler war’s, S. 252 f. Der protestierende General des XXXXVII. Panzerkorps Joachim Lemelsen machte sich in Italien aller Wahrscheinlichkeit nach Kriegsverbrechen schuldig. 30 Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2013, S. 190. 31 Keitel leitete den Befehl vom 24. 12. 1941 mit den Worten ein: „Der Führer hat daher befohlen“. Vgl. Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv – Russisches Staatliches Militärarchiv (RGVA), Bestand 1232, Findbuch 1, Akte Nr. 10, Bl. 53.
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Ab Herbst 1941 mussten die Truppen der Wehrmacht an der Ostfront erste empfindliche militärische Niederlagen hinnehmen, die Strategie des „Blitzkriegs“ war gescheitert. Jetzt gerieten nicht nur deutsche Soldaten, sondern erstmals auch Offiziere in Gefangenschaft. Bis zum 1. Januar 1942 befanden sich mehr als 9000 deutsche Kriegsgefangene im Gewahrsam des NKWD.32 Am 3. August 1942 wurde per Befehl Nr. 001603 des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten ein überarbeitetes Statut der Verwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten des NKWD der UdSSR erlassen. Zu den Aufgaben der Verwaltung gehörten nun: die Aufnahme, Registrierung und Verteilung der Kriegsgefangenen und Internierten, die Organisation ihrer Bewachung, Ernährung, medizinischen Versorgung und Betreuung sowie ihres Arbeitseinsatzes.33 Bis Ende 1942 waren durch die Empfangspunkte der Verwaltung für das Kriegsgefangenenwesen bereits rund 80 000 gegnerische Soldaten registriert worden. Als die Schlacht um Stalingrad im Februar 1943 mit der Liquidierung eines gewaltigen Kessels endete, in den die 6. Armee der Wehrmacht geraten war, gingen allein dort 151 246 Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Insgesamt nahmen die sowjetischen Truppen zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 8. Mai 1945 rund 4,377 Millionen feindliche Soldaten gefangen. Gleichwohl wurden nicht alle Gefangengenommenen in Kriegsgefangenenlager überstellt. In der letzten Phase des Krieges wurde ein bedeutender Teil dieser Gefangenen nach einer kurzen Überprüfung in ihre Heimat repatriiert. Insgesamt kehrten aus den frontnahen Kriegsgefangenensammelstellen der Roten Armee mehr als 680 000 ehemalige Wehrmachtsangehörige nach Hause zurück.34 Für die Unterbringung der Kriegsgefangenen waren auf dem Territorium der UdSSR und der angrenzenden Staaten neben 24 Front-Annahme- und Transportlagern 72 Divisions- und Armeekriegsgefangenensammelpunkte eingerichtet worden, hinzu kamen mehr als 500 stationäre Lager für Kriegsgefangene, 214 Kriegsgefangenenlazarette, 421 Arbeitsbataillone und 322 Lager für die Repatriierung von Kriegsgefangenen, Internierten und ausländischen Staatsangehörigen.
Zu den generellen Bedingungen der deutschen Kriegsgefangenen in West und Ost Obgleich mit der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung die Bedingungen für die Kriegsgefangenschaft insgesamt vorgegeben waren, unterschieden
32 Vgl. Maksim M. Zagorul’ko, Voennoplennye v SSSR. Dokumenty i materialy, Moskva 2000, S. 29. 33 Vgl. Befehl Nr. 001603 des NKVD „Verordnung über die Verwaltung des NKVD der UdSSR für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten, 3. 8. 1942, GARF, Bestand 9401, Findbuch 1, Akte Nr. 641, Bl. 307–314. 34 Vgl. Bezverchnij, Smerš. Istoričeskie očerki i archivnye dokumenty, S. 213 f.
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sich die Lebensbedingungen der ehemaligen Soldaten doch beträchtlich, da jede Siegermacht eine eigene Politik verfolgte. Genauso entscheidend war allerdings auch die persönliche Lebenssituation jedes einzelnen Gefangenen, in der er den Lageralltag und die damit nicht selten verbundenen Begleiterscheinungen wie Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit bewältigen musste. Hatte sich nicht schon bei der Gefangennahme eine gewisse Gruppensolidarität entwickelt, wie sie etwa bei geschlossen in Kriegsgefangenschaft geratenen Einheiten vorhanden war, standen die Soldaten im täglichen Kampf „jeder gegen jeden“ allein. Die britischen Streitkräfte hielten sich während des Zweiten Weltkrieges und auch danach grundsätzlich an die völkerrechtlichen Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen. Die Briten töteten in der Regel keine Soldaten bei der Gefangennahme und erfüllten alle bestehenden Vorschriften hinsichtlich Ernährung, Arbeitseinsatz und medizinischer Versorgung. Die Organisation des Lagerlebens überließen die Engländer weitgehend der Selbstverwaltung der Kriegsgefangenen. Die amerikanische Gewahrsamspolitik glich der britischen. Die USA setzten in den Lagern nur wenig eigenes Personal ein, woraus der deutschen Lagerleitung ein verhältnismäßig großer Handlungsspielraum erwuchs. Die gute Verpflegung sorgte gleichfalls für eine außerordentlich geringe Zahl von Konflikten. Geradezu üppig war das Angebot an Weiterbildung und kultureller Beschäftigung. Ab Herbst 1944 standen zudem Demokratisierungsprogramme zur Verfügung. Ein Arbeitseinsatz erfolgte für die Masse der Gefangenen nur selten und nie über längere Zeit, da die USA kein besonderes Interesse an Arbeitskräften hatten. Damit verblieben die Soldaten zumeist geschlossen im Lager. Selbst wenn die Kriegsgefangenen relativ isoliert vom gesellschaftlichen Leben in den USA waren, bekamen sie dennoch einen Eindruck vom amerikanischen Alltag. So waren nicht wenige auf der einen Seite fasziniert vom materiellen Überfluss, nahmen gleichwohl aber auch die im Vergleich zu Europa größere Kluft zwischen Arm und Reich zur Kenntnis. Allerdings zeigt das Beispiel der „Rheinwiesenlager“, wo Tausende Kriegsgefangene an Hunger und Krankheit starben, dass selbst die bestens ausgestatteten und versorgten amerikanischen Truppen mit der Betreuung von Kriegsgefangenen kurzzeitig überfordert sein konnten, wenn deren Zahl sprunghaft anstieg.35 Auf eine andere Situation trafen die rund 765 000 ehemaligen deutschen Soldaten, die zumeist von Amerikanern und Briten an die Franzosen übergeben worden waren, denn nur ein Drittel ihrer Kriegsgefangenen hatten die französischen Streitkräfte selbst gefangen genommen. Bedingt durch die schweren Kriegszerstörungen
35 Vgl. Rüdiger Overmans, „Ein untergeordneter Eintrag im Leidensbuch der jüngeren Geschichte“. Die Rheinwiesenlager 1945, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, S. 259–291; Arthur L. Smith, Die „vermißte Million“. Zum Schicksal deutscher Kriegsgefangener nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1992, S. 24–49.
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gelang es der französischen Regierung trotz aller Bemühungen zunächst nicht, die notwendigen Ressourcen für die Ernährung und Unterbringung der zahlreichen Gefangenen bereit zu stellen. So blieb, trotz des persönlichen Eingreifens von General Charles de Gaulle und amerikanischer Hilfslieferungen, bis zum Herbst 1946 die Versorgungssituation prekär, eine generell ausreichende Ernährung war erst ab 1947 gegeben. Beim Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen galt der Grundsatz der Regierung de Gaulle, dass das Ziel nicht Rache oder Umerziehung sei, sondern eine maximale Arbeitsleistung, um die erlittenen Kriegsschäden zu beseitigen. Durch die Politik des Einsatzes der Kriegsgefangenen als Reparations-Zwangsarbeiter kam es jedoch teilweise zu absurden Entscheidungen. So schickten die Franzosen die Mehrzahl der Offiziere, selbst wenn diese in Verdacht gestanden hatten, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein, bereits nach kurzer Zeit nach Hause, während die Mannschaften oft jahrelang in Frankreich Zwangsarbeit verrichten mussten. Die Ursache hierfür lag darin, dass Offiziere nach der Genfer Konvention nicht zum Arbeitseinsatz herangezogen werden durften, von den Franzosen aber hätten verpflegt werden müssen. Von den über elf Millionen deutschen Kriegsgefangenen hatten die mehr als drei Millionen Soldaten, die in sowjetische Lager verbracht wurden, das wohl härteste Schicksal getroffen. Dort unterschieden sich die Lebensumstände grundsätzlich von denen im Westen. Doch nicht nur deshalb hatten die Wehrmachts- und SS-Angehörigen zum Teil panische Angst vor der Gefangennahme durch sowjetische Truppen. Auch die NS-Propaganda und weit verbreitete Gräuelnachrichten über die Zustände in den sowjetischen Lagern trugen dazu bei, dass nicht wenige Soldaten versuchten, sich der Gefangennahme durch Selbsttötung zu entziehen. Wer schließlich in den Lagern der Hauptverwaltung des NKWD/MWD für Kriegsgefangene und Internierte (GUPWI) landete, konnte nicht sicher sein, dass er die Strapazen der Gefangenschaft überleben würde. Denn obwohl sich die Sowjetunion bemühte, die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zumindest in Grundzügen einzuhalten, waren die Bedingungen für die Gefangenen im Wesentlichen vom Mangel geprägt. Hinzu kamen die extremen Klima- und Arbeitsbedingungen, die in den GUPWI-Lagern herrschten. Vor allem in den ersten Kriegsjahren kamen zahlreiche deutsche Soldaten bedingt durch ihre schlechte körperliche Verfassung und die kaum versorgten Transporte durch die unendlichen Weiten des Landes ums Leben. Gleichwohl lässt sich nicht behaupten, die Sowjetunion hätte ihre Kriegsgefangenen willentlich umkommen lassen. Denn nicht nur die Kriegsgefangenen erlitten Hunger und Mangel. Auch die ausreichende Versorgung der eigenen Bevölkerung konnte von der sowjetischen Regierung nicht sichergestellt werden. Im Krieg waren nicht nur Millionen von Gebäuden zerstört worden. Die Infrastruktur war ebenfalls schwer beschädigt, weil praktisch alle Brücken neu gebaut werden mussten. Die Zerstörungen betrafen auch zehntausende Fabriken, etwa in der Lebensmittelindustrie, und Betriebe der Landwirtschaft. Erst nach dem Ende des Krieges war die Sowjetunion in der Lage, die Gefangenen überall in entsprechenden Baracken unterzubringen. Bei der Verteilung der
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Nahrungsmittel machte die Führung des GUPWI zudem einen Unterschied, der in der Wehrmacht unbekannt gewesen war: Den Offizieren wurden höhere Rationen zugestanden als den Unteroffizieren und Soldaten. Noch besser war die Verpflegung der Generale, die kaum etwas entbehren mussten. Während den Mannschaften auf dem Papier pro Tag 600 g Roggenbrot, die gleiche Menge an Kartoffeln, 30 g Fleisch, 100 g Fisch und 300 g Gemüse, zumeist Kohl zustanden, erhielten die Offiziere bereits 300 g Weißbrot und die gleiche Menge an Roggenbrot, 75 g Fleisch, 80 g Fisch, 200 g frisches Gemüse und 15 Zigaretten. Generale stand die Norm Nr. 4 zu, die sich gleichfalls aus 300 g Weißbrot und 300 g Roggenbrot, dann aber bereits 120 g Fleisch, 50 g Fisch, 20 g Käse, 200 g frisches Gemüse und 20 Zigaretten zusammensetzte. In der Sowjetunion war das Verhalten der Kriegsgefangenen zum Land und seinen Bewohnern zunächst von der NS-Propaganda geprägt. Erst allmählich erkannten die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, dass es der russischen Bevölkerung auch nicht besser ging als ihnen selbst, und sie legten ihre bisherigen Vorurteile ab.36
Die Überprüfung deutscher Kriegsgefangener durch die Smersch und die Überstellung ausgewählter Personen an Untersuchungsbehörden der sowjetischen Geheimdienste Die erste vorläufige Registrierung und Beurteilung der Kriegsgefangenen – Filtrierung genannt – erfolgte an den Divisions- bzw. Armeesammelpunkten, die sich im rückwärtigen Gebiet der jeweiligen eingesetzten Armee befanden und 30 bis 40 Kilometer hinter der Frontlinie lagen. Danach übernahmen die Frontlager, die 150 bis 200 Kilometer von der Hauptkampflinie entfernt lagen, die eigentliche Überprüfung der gefangen genommenen Soldaten und Offiziere. In diesen Lagern waren die Kriegsgefangenen einer allseitigen und umfassenden Kontrolle durch die Organe der „Smersch“ unterworfen. Hierfür wurden alle dem Geheimdienst zur Verfügung stehenden operativen Möglichkeiten genutzt, um Kriegsverbrecher und ehemalige Mitarbeiter von NS-Geheim- und Nachrichtendiensten zu ermitteln. Die Gefangenen wurden verhört, wobei sich die Befrager auf standardisierte Fragekataloge stützten, um die für den Geheimdienst nötigen Informationen möglichst rasch zu bekommen. Vor allem interessierten dabei Angaben zum deutschen Militär- und Rüstungspotential, Standorte von Wehrmachtsverbänden, neue Waffen sowie andere „staatliche, militärische und diplomatische Geheimnisse“.37 Nicht selten wurden sie auch sogenannten Agenturmaßnahmen unterzogen, was bedeutete, dass in ihre Zellen Spitzel eingeschleust wurden, die
36 Rüdiger Overmans, Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2000, S. 108 f. 37 Vgl. Velikaja Otečestvennaja vojna, t. 6, S. 463.
Die Überprüfung deutscher Kriegsgefangener durch die Smersch
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Berichte über ihre Mithäftlinge verfassten.38 Dass dieses Netz relativ eng geknüpft war und kaum Schlupflöcher offenließ, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass von rund 50 000 deutschen Kriegsgefangenen, die die 1. Belorussische Front während der Weichsel-Oder-Operation in Gewahrsam genommen hatte, mehr als 7000 ehemalige Soldaten und Offiziere der Wehrmacht durch Offiziere der „Smersch“-Verwaltung befragt worden waren.39 Die Hauptlast der Ermittlungen trugen die Mitarbeiter der 2. Abteilung der Hauptverwaltung „Smersch“, die im Moskauer Zentralapparat der Militärabwehr für die Beurteilung der Kriegsgefangenen („Filtrierung“) verantwortlich waren. Sie koordinierten die Tätigkeit der bei den Fronten bestehenden „Smersch“-Verwaltungen, versorgten diese mit den Ergebnissen geheimpolizeilicher Untersuchungen und zogen persönlich Ermittlungen an sich, sobald diese aus politischen oder geheimdienstlichen Gründen von einem übergeordneten Interesse waren.40 Die entsprechenden Personen wurden in der Regel nach Moskau überstellt und verloren, als sie in den Untersuchungsgefängnissen des Geheimdienstes eintrafen, faktisch ihren Kriegsgefangenenstatus und wurden wie gewöhnliche sowjetische Inhaftierte behandelt. Nach dem Ende des Krieges wurden hochgestellte deutsche Offiziere und Generale von den Mitarbeitern der für Spionageabwehr zuständigen 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR verhört. Zu den Aufgaben dieser Abteilung gehörte zudem die „Bearbeitung“ der Kriegsgefangenen, „die für die Organe der militärischen Spionageabwehr“ von „Interesse“ waren. Ab Beginn der 1950er Jahre wurden die Ermittlungen und Verhöre von den Mitarbeitern der Untersuchungsabteilung der für Spionageabwehr zuständigen 2. Hauptverwaltung des MGB sowie von der Sonderermittlungseinheit des MGB der UdSSR fortgeführt41. Nicht wenige der kriegsgefangenen Generale und Generalstabsoffiziere ließ die „Smersch“ nach Moskau bringen, um sie dort in den Untersuchungsgefängnissen der sowjetischen Geheimdienste – der berüchtigten „Lubjanka“ oder der weniger bekannten „Butyrka“ – zu befragen. Hier wurden sie immer wieder von geschulten Verhöroffizieren zu den verschiedensten Fragen vernommen. Einige Gefangene brachen bereits zusammen, als ihnen klar wurde, dass man sie nicht als einstige Kombattanten betrachtete, sondern ihnen Uniform, Dienstrangabzeichen und Orden abnahm, sie in gewöhnliche Anstaltskleider steckte und wie einfache Häftlinge behandelte. Oberst Theodor von Dufving, als Stabschef des Berliner Stadtkommandanten Helmuth Weidling in Gefangenschaft geraten, war entsetzt, als er bei seiner Ankunft in der Lubjanka aufgefordert wurde, sich nackt auszuziehen.
38 Vgl. Direktive des NKVD der UdSSR Nr. 489 über die Agenturarbeit unter den Kriegsgefangenen, 7. 10. 1943, GARF, Bestand 9401, Findbuch 1, Akte Nr. 686, Bl. 59–64. 39 Vgl. Сentral’nyj archiv FSB – Zentralarchiv des FSB (CA FSB), Bestand 14, Findbuch 5, Akte Nr. 846, Bl. 176 f. 40 Vgl. Bezverchnij, Smerš. Istoričeskie očerki i archivnye dokumenty, S. 69–73. 41 Vgl. Petrov, Kto rukovodil organami, S. 51.
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Dann leerten die Aufseher die Taschen seiner Kleidung, breiteten den Inhalt seines Rucksacks auf einem Tisch aus und selektierten, was er behalten durfte. Auch sein Vorgesetzter Weidling protestierte: „Dufving, was tun die? Was geht hier vor? Das ist unerhört!“42 Weidling störte sich auch später an dieser Behandlung und beschwerte sich am 27. Dezember 1948 beim Kommandanten der „Lubjanka“ über die brachiale Durchsuchung seiner Zelle am zweiten Weihnachtsfeiertag, bei der ein Schachspiel, Toilettenpapier und persönliche Dinge beschlagnahmt worden waren und der General, als er dagegen lautstark protestierte, von den Aufsehern in eine Arrestzelle verbracht wurde.43 Von den Inhaftierten wurde nicht nur absoluter Gehorsam, sondern bereitwillige Zusammenarbeit erwartet. Waren sie dazu nicht bereit, konnten die Untersuchungsorgane eine ganze Reihe von abgestimmten Maßnahmen durchführen, um den Druck allmählich zu erhöhen. Wie Geheimdienstchef Abakumow Stalin 1947 mitteilte, waren folgende Mittel erlaubt: „a) Die Überführung in ein Gefängnis mit einem härteren Regime, wo die Schlafstunden begrenzt und die Lebensbedingungen hinsichtlich Ernährung und anderer Bedürfnisse verschlechtert sind; b) Verlegung in eine Einzelzelle; c) Verweigerung des Hofganges, Verbot des Empfangs von Lebensmitteln und des Lesens von Büchern; d) Verlegung für die Dauer von 20 Tagen in die Arrestzelle“. In den Arrestzellen gab es außer einem am Boden verschraubten Hocker und einem Klappbett ohne Matratze und Bettzeug kein weiteres Inventar. Das Bett wurde täglich für 6 Stunden Schlaf abgeklappt, der Inhaftierte erhielt pro Tag 300 g Brot und abgekochtes Wasser. Lediglich alle drei Tage gab es eine warme Mahlzeit, das Rauchen in der Arrestzelle war verboten.44 Auf den Gefangenen durfte entsprechend einer am 10. Januar 1939 erlassenen Anweisung des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auch „physisch eingewirkt“ werden, was Stalin als „gänzlich richtige und sinnvolle Methode“ betrachtete.45
42 Zit. nach: Vasilij S. Christoforov/Vladimir G. Makarov, Generaly i oficery vermachta rasskazyvajut… 1944–1951. Dokumenty iz sledstvennych del nemeckich voennoplennych, Moskva 2009, S. 12. 43 Vgl. Schreiben von Weidling an den Kommandanten der Lubjanka, 27. 12. 1948, RGVA, Akte Nr. 463P/654, Bl. 97–99. 44 Sondermitteilung von Geheimdienstchef Viktor S. Abakumov an Stalin über die Untersuchungsarbeit im Ministerium für Staatssicherheit, 17. 7. 1947, in: Vladimir N. Chaustov/Viktor P. Naumov/Nadežda S. Plotnikova (Red.), Lubjanka. Stalin i MGB SSSR. Mart 1946–mart 1953, Moskva 2009, S. 54. 45 Chiffretelegramm von Stalin an die Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen und die Führung des NKVD-UNKVD zur Anwendung von Maßnahmen physischer Gewalt gegen „Volksfeinde“, 10. 1. 1939, in: Vladimir N. Chaustov/Viktor P. Naumov/Nadežda S. Plotnikova (Red.), Lubjanka Stalin i NKVDNKGB-GUKR „Smerš“. 1939–mart 1946: Dokumenty vysšich organov partijnoj i gosudarstvennoj vlasti, Moskva 2006, S. 14 f. Bis in die Mitte der 1930er Jahre galt die „Anwendung physischer Mittel“ beim NKVD und seinen Vorgängerorganisationen als offiziell verboten, obgleich es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen kam. Im Zuge der „Großen Säuberung“ sanktionierte 1937 das ZK der VKP(b) die „physische Einwirkung“ gegen Volksfeinde. Auch in späteren Schreiben an die NKVD-Führung bestand die politische Führung auf die Anwendung von Gewalt und Stalin persönlich befahl mehr-
Die Überprüfung deutscher Kriegsgefangener durch die Smersch
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Aus den Akten geht jedoch eindeutig hervor, dass solche physischen Mittel nicht angewendet wurden, um von den hochrangigen deutschen Offizieren die gewünschten Aussagen zu erhalten. Es reichte aus, dass die Aufseher mit allen Mitteln die harte Gefängnisordnung durchsetzten und willkürlich Gefälligkeiten erwiesen, etwa Streichhölzer verteilten und so das Rauchen erlaubten oder Nähzeug zum Flicken der abgenutzten Bekleidung ausgaben.46 Zur Zermürbung der Häftlinge trugen zudem die trostlose Unterbringung, die notdürftige medizinische Versorgung und die kaum ausreichende Ernährung bei. Einer von Hitlers bevorzugten Kommandeuren, der nationalsozialistische Fanatiker und letzte Oberbefehlshaber des Heeres Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner verfasste bereits zu Beginn seiner Haft in der Butyrka im Sommer 1945 eine antifaschistische Schrift mit dem Titel „Faschismus heißt Krieg“.47 Was ihn dazu brachte, beschrieb er später: „Die Erniedrigungen trugen einen asiatisch feinen und ausgeklügelten Charakter. Geprügelt wurde ich freilich nicht. Folterungen und Erniedrigungen verfolgten das Ziel, die Häftlinge zu demoralisieren und moralisch und seelisch zu demütigen. Dazu gehörten: a) Oft durchgeführte Leibesvisitationen, besonders in der Butyrka. Schon der geringste Ungehorsam zog die Einweisung in eine kleine Box für einen halben Tag nach sich. b) Die Versetzung in die Boxen erfolgte auch ohne sichtbare Gründe, offenbar war der Untersuchungsrichter mit den Aussagen des Häftlings unzufrieden. Außerdem konnte man auch in den Keller geraten. Nicht selten wurde man mitten in der Nacht zum Verhör beim Untersuchungsrichter vorgeladen […] c) Besonders schwer wirkte sich auf unsere ohnehin zerrüttete Gesundheit die Verfügung aus, die Toiletten nur morgens und abends zu benutzen […] Natürlich mussten wir die Toiletten selber reinigen […] Und das sind nur einige wenige Beispiele der ‚humanen und korrekten Behandlung‘ der Häftlinge.“48 Derselbe Schörner, der sich hier über die harten Bedingungen in der sowjetischen Haft beschwerte, hatte allerdings wie folgt mit kriegsgefangenen Soldaten der Roten Armee verfahren lassen: „Mitte Dezember 1941 wurden in der Nähe der Stadt Barkino bei extremer Kälte sowjetische Kriegsgefangene erschossen… Die Erschießungen leitete General Schörner selbst… Kurz vor Sonnenaufgang erteilte Schörner den Befehl, den Gefangenen in die Brust zu schießen und diejenigen, die dann noch
fach schriftlich bestimmte Gefangene „zu schlagen“. Siehe hierzu beispielsweise: Anweisung Stalins über Verhöre, 13. 3. 1938, in: Vladimir N. Chaustov/Viktor P. Naumov/Nadežda S. Plotnikova (Red.), Lubjanka Stalin i Glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD. Archiv Stalina. Dokumenty vysšich organov partijnoj i gosudarstvennoj vlasti. 1937–1938, Moskva 2004, S. 49. 46 Vgl. Viktor S. Konasov, Sud’by nemeckich voennoplennych v SSSR. Diplomatičeskie, pravovye i političeskie aspekty problemy. Očerki i dokumenty, Vologda 1996, S. 287 f. 47 Abgedruckt in: Boris Chavkin/Vasilij Christoforov/Vladimir Makarov, Das Lubjanka-Dossier von Generalfeldmarschall Schörner. Nach Materialien des Zentralarchivs des FSB Russlands, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 13 (2009), Heft 2, S. 191–214. 48 Vgl. Roland Kaltenegger, Schörner: Feldmarschall der letzten Stunde, München 2002, S. 326.
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lebten, mit einem Kopfschuss zu erledigen… Die Zahl der Getöteten lag zwischen 140 und 160 Personen…“ (Dokument 4.21). Eine Analyse der Verhörthemen, mit denen sich die kriegsgefangenen deutschen Generale und Soldaten in den Selbstauskünften und Ermittlungen konfrontiert sahen, zeigt, dass sich die sowjetischen Vernehmer für einen breiten Kreis von Fragen interessierten. Es ist verständlich, dass sich die Befragungen zunächst mit den biografischen Angaben der Inhaftierten befassten, besonders um ihre Beteiligung am Krieg gegen die UdSSR und die anderen europäischen Staaten sowie die Umstände ihrer Gefangennahme zu ermitteln. Ein bedeutender Teil der Selbstaussagen und Verhörprotokolle ist dem Kriegsgeschehen an der sowjetisch-deutschen Front gewidmet. Zu den wichtigsten Fragen, die die Verhöroffiziere immer wieder stellten, gehörten u. a. die Vorbereitung des deutschen Angriffes auf die UdSSR, die deutschen Pläne bei Kriegsende für einen Untergrundkampf im Rücken der Front und die Tätigkeit des sogenannten „Werwolfs“, persönliche Kontakte zu Hitler und anderen führenden Politikern und Beamten des Deutschen Reiches, Versuche der westlichen Alliierten einen Separatfrieden mit Deutschland abzuschließen, die Zusammenarbeit mit der Abwehr und anderen deutschen Geheimdiensten, die Beteiligung an Vergeltungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete, das Vorgehen gegen sowjetische Partisanen und die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener. Die Vernehmer interessierten sich aber auch für die Kriegskameraden der Inhaftierten und deren Einsatz an der Ostfront. Einige Protokolle sind zudem politischen Ereignissen der Weimarer Republik gewidmet, an denen die Verhafteten damals beteiligt gewesen waren49. Einige der Angeklagten – wie Ewald von Kleist oder Schörner – waren der Sowjetunion von den westlichen Alliierten übergeben worden. In Verbindung damit interessierten sich die Vernehmer natürlich auch dafür, welche Fragen ihnen die Vertreter der amerikanischen und britischen Militärbehörden gestellt hatten. Die lange Dauer der Haft und das beharrliche Nachbohren der sowjetischen Vernehmer erbrachten sehr detaillierte Aussagen zum Kampfgeschehen an der Ostfront. In diese Kategorie fallen z. B. die Aussagen der Feldmarschälle Kleist50 und Schörner51. Aber auch die Einschätzungen Weidlings, die er in seiner Selbstaussage vom 10. Januar 1946 gab, sind von besonderem Wert. Er urteilte, dass sich in der Truppe gegen den völkerrechtswidrigen Kommissarbefehl „ein Widerstreben“ erst „mehr und mehr geltend machte“ (Dokumente 4.13). Damit widersprach er nicht nur der insgesamt widerlegten Legende von der „sauberen Wehrmacht“. Diese Einschätzung zeigt, dass die Offiziere indoktriniert in den Krieg gegen die Sowjetunion zogen, dann aber angesichts des Schreckens, den sie verbreiteten, begannen, sich von der national-
49 Ein Teil dieser Fragen wird im zweiten Band der Edition behandelt werden. 50 CA FSB, Akte Nr. N-21135 – Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, 3 Bde. 51 Ebd., Akte Nr. N-21138 – Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, 2 Bde.
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sozialistischen Ideologie zu lösen. Weidling traf diese Einschätzung nicht für sich, sondern für das gesamte Ostheer.52
Schau- und Geheimprozesse gegen Kriegsverbrecherunter Federführung des NKWD und NKGB Bei einigen Häftlingen zogen sich die Vernehmungen über Jahre hin, andere wurden sehr rasch beendet. Das war z. B. bei dem Höheren SS- und Polizeiführer für das Ostland Friedrich Jeckeln der Fall, dessen Verhöre innerhalb weniger Wochen zu einem Prozess führten. Die Untersuchung gegen den ehemaligen SS-Obergruppenführer dauerte kaum einen Monat, vom Dezember 1945 bis zum Januar 1946, dann wurde die Angelegenheit dem Gericht übergeben. Bereits am 23. August 1945 hatte der Leiter der Operativen Verwaltung der Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten des NKWD der UdSSR, Amajak S. Kobulow, ein Schreiben an seinen vorgesetzten Volkskommissar Berija mit den Namen von deutschen Generalen gesandt, die in der Sowjetunion schwere Kriegsverbrechen begangen hatten. Darunter war auch der Name des SS-Obergruppenführers gewesen. Kurz darauf wurde diese Kriegsverbrecherliste in der sowjetischen Presse veröffentlicht. Am 25. Oktober 1945 wandten sich die Leiter der verschiedenen Sicherheitsbehörden und die Staatsanwaltschaft an NKWD-Chef Berija mit dem Vorschlag, Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, die von einer umfangreichen Pressearbeit begleitet werden sollten. Am 2. November 1945 wies Berija schließlich Merkulow, Abakumow und Kobulow an, „die Angelegenheit zu prüfen und die wichtigsten Verbrecher auszuwählen“. Insgesamt waren acht Prozesse vorgesehen, wobei die Zahlen der zu verurteilenden Kriegsverbrecher wie folgt geplant waren: Leningrad – zehn Personen, Smolensk – zehn, Welikie Luki – neun, Kiew – fünfzehn, Nikolajew – zehn, Minsk – siebzehn, Riga – zehn und ergänzend Brjansk – vier. Gleichzeitig übernahm eine Sonderkommission, an deren Spitze der Volkskommissar für Justiz Nikolaj M. Rytschkow stand, die Vorbereitung und Durchführung der Prozesse. Weitere Kommissionsmitglieder waren der Stellvertretende NKWD-Chef Sergej N. Kruglow, „Smersch“-Chef Abakumow, der Hauptmilitärstaatsanwalt der Roten Armee Generalleutnant Nikolaj P. Afanasjew und der Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR Iwan T. Goljakow. Sie arbeiteten das Szenario für die großen Schauprozesse gegen die kriegsgefangenen Wehrmachts- und SS-Angehörigen in den genannten Städten aus. Zugleich ließen sie eine 39köpfige Sonderermittlungsgruppe aus Offizieren des NKWD, NKGB und der „Smersch“ bilden, die die örtlichen Sicher-
52 Vgl. Eigenhändige Selbstaussage von Helmuth Weidling, 10. 1. 1946, CA FSB, Akte Nr. N-21146, Bd. 1, Bl. 131; Zum Kommissarbefehl generell siehe: Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront, Paderborn 2008.
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heitsorgane bei den Ermittlungen und den nachfolgenden Prozessen unterstützen sollten53. Damit wollten die Geheimdienste kurze Untersuchungen und rasche Urteile erreichen. Folglich wurde Jeckeln, im Gegensatz zu den anderen NKWD-Inhaftierten, beispielsweise im Zeitraum vom 13. Dezember 1945 bis zum 21. Januar 1946 insgesamt 22-mal verhört, und er hatte an sechs Gegenüberstellungen mit anderen Angeklagten teilzunehmen. Stellenweise fanden sogar zwei Verhöre pro Tag statt, die für gewöhnlich zwischen zwei bis fünf Stunden andauerten. Bereits am 23. Januar 1946 wurde Jeckeln die Anklageschrift übermittelt. Zunächst konzentrierten sich die ersten Vernehmungen Jeckelns auf dessen Karriere und liefen offenbar in einer lockeren Gesprächsatmosphäre ab. Erst als Jeckeln stundenlangen nächtlichen Verhören unterzogen wurde, brach er zusammen und gestand seine Rolle bei den Massenmorden in den besetzten sowjetischen Gebieten. Warum die sowjetischen Vernehmer der frühen Karriere eine solche Aufmerksamkeit widmeten, ist unklar. Diesem Teil des Verhörs verdanken wir allerdings eine sehr interessante Aussage zum sogenannten Röhmputsch. Es ist unstrittig, dass Reichswehr und SS den Mord an der SA-Führung am 30. Juni 1934 gemeinsam planten. SD-Chef Reinhard Heydrich und Walter von Reichenau, Chef des Wehrmachtamts im Reichswehrministerium, konferierten vorher mehrfach, wobei sie Zeitplan und logistische Durchführung der Mordaktion abstimmten. Von Zeitzeugen wurde berichtet und von SPIEGEL-Reportern kolportiert, dass Reichswehrminister Werner von Blomberg ultimativ forderte, den inneren Frieden im Reich wiederherzustellen, für „Radikalinskis“ sei im neuen Deutschland kein Platz mehr.54 Es ging den Spitzen der Reichswehr jedoch nicht um den inneren Frieden im Reich, sondern um den Kurs in der Aufrüstung. Die Reichswehr plädierte für ein professionalisiertes Heer und den Revanchekrieg, Röhm für ein Milizheer und eine Annäherung an Frankreich. Gerade die Aufrüstung sei ein „Ding der Unmöglichkeit“, verkündete Röhm im Dezember 1933 vor den Pressevertretern des Auslands. Deutschland sei „sich der Ungunst seiner militärgeographischen Lage bewusst“ und habe „deshalb das größte Interesse an der Aufrechterhaltung eines ehrlichen Friedens“.55 Acht Tage nach dem Mord an der SAFührung gab Hitler in der Reichskanzlei ein Festessen für die SS-Führer, die bei der Aktion eine maßgebliche Rolle gespielt hatten. Dabei benannte er als entscheidenden Grund für die Beseitigung des SA-Chefs den Umstand, so sagte Jeckeln aus, dass Röhm sich den „Kriegsvorbereitungen“ entgegengestellt habe.56
53 Vgl. Bezverchnij, Smerš. Istoričeskie očerki i archivnye dokumenty, S. 320 f. 54 Vgl. Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf, München 1978, S. 100 f. 55 Vgl. Immo von Fallois, Kalkül und Illusion. Der Machtkampf zwischen Reichswehr und SA während der Röhm-Krise 1934, Berlin 1994, S. 134 f.; RGVA, Bestand 503, Vorgang 1, Akte Nr. 622, Bl. 193–196. 56 Vgl. Ausforschungsprotokoll Jeckeln, 13. 12. 1945, CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 21.
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Erst nach diesen lockeren Fragerunden wurde entschieden, nach Jeckelns Verantwortlichkeit für Verbrechen zu fragen. So berichtete Jeckeln über die Liquidierung des Rigaer Ghettos (Dokument 5.3), über das Unternehmen „Sumpffieber“ und die Operation „Winterzauber“ (Dokument 4.4). Allein beim Unternehmen „Sumpffieber“, das vom 21. August bis zum 21. September 1942 unter der Führung von Jeckeln durchgeführt wurde, ermordeten deutsche Polizeikräfte und lettische Schutzmannschaften mehr als 10 000 Menschen, unter ihnen 8350 Juden. Der Anti-Partisanenoperation „Winterzauber“ vom Frühjahr 1943, die gleichfalls unter dem Kommando des Höheren SS- und Polizeiführers Ostland gestanden hatte, fielen mehr als 1000 Personen zum Opfer.57 Die Verhöre wurden in der Nacht geführt, um den Willen des vom Schlafentzug erschöpften Häftlings zu brechen. Es war ihm offenbar nicht erlaubt, selbst Fragen zu stellen. Nach dem Verhör wurde er aufgefordert, das Protokoll zu unterschreiben. Jeckeln tat dies widerspruchslos, allenfalls um genaue Begriffsbezeichnungen gab es gelegentlich Auseinandersetzungen.58 Das von der neuen Regierung der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland eingesetzte Gericht tagte vom 26. Januar bis 3. Februar 1946. Jeckeln wurde mit den anderen Angeklagten zum Tode geurteilt und an der Düna-Promenade im Beisein von mehreren tausend Zuschauern gehenkt. Wie der SS-Mann Jeckeln zeigten sich auch die geschlagenen Wehrmachtsgenerale und -offiziere, genau wie bei den Befragungen in Nürnberg59, weder trotzig, noch behinderten sie offen den Verlauf der sowjetischen Untersuchungen. Vielmehr offenbarten alle Befragten – und hier bilden selbst eingefleischte Nationalsozialisten keine Ausnahme – einen hohen Grad an Willfährigkeit. Der ebenfalls an Massenmorden und Deportationen von Juden beteiligte Polizeiattaché in Rumänien, SS-Sturmbannführer Gustav Richter, wurde hingegen nicht sofort verurteilt. Seinen schriftlichen Aussagen aus dem Jahr 1944, in denen er sich zum Mord an den Juden nur allgemein äußerte (Dokumente 5.1 und 5.2), folgte eine weitere im Jahr 1947. Hierin äußerte sich Richter zu Details seiner nachrichtendienstlichen Netze, weil die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter jetzt auf Anweisung Stalins selbst Ermittlungen gegen Juden führten (Dokument 5.6).60 Am 19. Januar
57 Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1942, 2. Auflage, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, S. 712–727; Vjačeslav D. Selemenev, „Zimnee volšebstvo“. Nacistskaja karatel’naja operacija v belorussko-latvijkovm pogranič’e, fevral‘–mart 1943 g. Dokumenty i materialy, Moskva 2013. 58 Siehe hierzu beispielsweise Ausforschungsprotokoll Jeckeln, 13. 12. 1945, CA FSB, Akte Nr. N-18313. Der SS-Obergruppenführer ließ im Protokoll u. a. die Worte „Regiment“ durch „Standarte“ und „Abteilung“ durch „Abschnitt“ ersetzen. 59 Siehe hierzu: Richard Overy, Verhöre. Die NS-Elite in den Händen der Alliierten 1945, Berlin 2005. 60 Vgl. Jonathan Brent/Vladimir Naumov, Stalin’s Last Crime. The Plot Against the Jewish Doctors, 1948–1953, New York 2003; zum außenpolitischen Kontext vgl. Geoffrey Roberts, Stalins Kriege. Vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg, Düsseldorf 2008, S. 362–391.
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1952 wurde Richter per Beschluss der Sonderversammlung beim MGB der UdSSR „für aktive faschistische Tätigkeit und Spionage gegen die Sowjetunion“ zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, als Beginn der Haftzeit wurde der 30. Juli 1951 festgesetzt. 1955 übergab die sowjetische Seite Richter der Bundesrepublik. Am Anfang einer Vernehmung standen zunächst die kurzen biografischen Fragebögen, die die Gefangenen auszufüllen hatten. Nach Fragen der Ermittler zu Leben und Familie folgen in den Akten zumeist die sogenannten schriftlich zu verfassenden Selbstzeugnisse bzw. eigenhändigen Aussagen. In diesen für die Geschichtswissenschaft sehr aufschlussreichen Texten äußerten sich die Gefangenen zu verschiedenen Themen. Fast alle verfassten eine Autobiographie, Offiziere äußerten sich zu Kampfhandlungen, Nachrichtendienstler über ihre Tätigkeit. Zwar wurden diese Schriften von den Autoren auch zur Selbstdarstellung genutzt oder sind als Versuch zu werten, eigene Schuld auf andere abzuwälzen. In der Rückschau erscheinen solche subjektiven Darstellungen jedoch als wertvoll, eben weil sie die Sicht des Verfassers wiedergeben. So äußerte sich z. B. der Stadtkommandant von Warschau Rainer Stahel sehr nüchtern über die Erfolgsaussichten der Aufständischen Warschaus im Sommer 1944 (Dokument 4.1). Die Selbstaussagen wurden detailliert von den Ermittlern analysiert und zu diesem Zweck ins Russische übersetzt. Aufbauend auf den Selbstaussagen fanden dann die ersten Verhöre statt, die zumeist Widersprüche in den Aussagen aufdecken sollten. Ziel der Vernehmer war es aber vor allem, gerichtsverwertbare Angaben zu erlangen sowie die Beteiligung weiterer Personen an Kriegsverbrechen aufzudecken. In einem zweiten Schritt gingen die Vernehmer dann dazu über, von den Betroffenen Aussagen über Personen zu erhalten, die mit ihnen während des Krieges dienstlichen oder privaten Kontakt hatten. In der Regel saßen diese Kameraden, zu denen die Verhörenden Fragen stellten – für den Vernommenen zumeist unbekannt – im gleichen Untersuchungsgefängnis des Geheimdienstes wie er selbst ein. Ziel dieser Befragungen war es, Material zu sammeln, in dem sich die Inhaftierten gegenseitig belasteten. In einer dritten Stufe folgte eine Art Kreuzverhör, bei der die Gefangenen mit den Aussagen ihrer ehemaligen Kameraden konfrontiert wurden. Als abschließenden Schritt erstellten die Geheimdienstoffiziere dann je nach Lage der Dinge eine entsprechende Anklage und übergaben diese der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft. Deren Vertreter verlasen dann mit Hilfe eines Übersetzers dieses Schriftstück dem beschuldigten Angeklagten, worüber ein entsprechendes Protokoll ausgefertigt wurde. Einer der wenigen, die sich weigerten, ein solches Papier zu unterzeichnen, war Kleist. Deshalb sahen sich die Ermittler der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB im Sommer 1951 gezwungen, ein Dokument folgenden Inhalts aufzusetzen: „Der Angeklagte Ewald von Kleist hat nach dem Verlesen des Verhörprotokolls zur Anklage vom 17. 8. 1951, das in deutscher Sprache erfolgte, erklärt, dass seine Aussagen in dem Protokoll richtig niedergeschrieben sind, er weigert sich aber, das Verhörprotokoll zu unterschreiben, und forderte, dass Unterlagen des Nürnberger Prozesses angefordert werden sollen, die als Beweis
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für seine Unschuld dienen können. Hierüber wurde die entsprechende Aktennotiz angefertigt.“61 Als Grundlage für die Anklage verwendeten die Untersuchungsführer zumeist Vergehen gegen den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 194362 sowie Verstöße gegen das Gesetz des Alliierten Kontrollrates für Deutschland Nr. 10 zur Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten. Der zuständige Militärstaatsanwalt bestätigte schließlich die vom Geheimdienst vorformulierte Anklageschrift und leitete das entsprechende Verfahren vor einem Militärtribunal ein, durch das die Aburteilung erfolgte. Bei den hochrangigen ehemaligen deutschen Offizieren und Generalen, die durch den Staatssicherheitsdienst festgehalten wurden, war dies zumeist das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR. Die Tribunale setzten sich in der Regel bei der Hauptverhandlung aus dem Vorsitzenden sowie zwei Beisitzern zusammen, wobei der Vorsitzende zugleich als Ankläger und Richter fungierte. Da aufgrund der als hinreichend angenommenen Beweislage ein entsprechender staatlicher Anklagevertreter nicht von Nöten war, stand dem Beschuldigten auch kein Verteidiger zu. Die Verhandlungen dauerten bis zu mehreren Stunden und bemühten sich, zumindest formale juristische Grundsätze, wie zum Beispiel das Recht auf ein Schlusswort des Angeklagten, einzuhalten (Dokument 4.22).63 Nach Ende der Verhandlung zog sich das Tribunal kurz zur Beratung zurück und verkündete dann das Urteil, das zumeist auf 25 Jahre Zwangsarbeitslager lautete. Gegen die Urteile des Tribunals konnten in der Regel keine Rechtsmittel eingelegt werden (Dokument 4.24). Erfolgten in Ausnahmefällen dennoch Berufungsklagen, so wurde diese zumeist abgelehnt (Dokument 4.25).64 In einigen Fällen richteten die Angeklagten nach der Verkündigung des Urteils Gnadengesuche an die übergeordneten Justizbehörden oder das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR. So wandte sich im April 1952 Generalfeldmarschall Schörner, der am 11. Februar zu 25 Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt worden war, mit einem entsprechenden Schreiben an den Obersten Sowjet. Dieser prüfte das Ersuchen, senkte die Haftzeit auf zwölfeinhalb Jahre und hob zudem die Beschlagnahme seines Eigentums auf (Dokument 4.27). Generaloberst Rudolf Schmidt schrieb am
61 Aktennotiz der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB zur Bekanntgabe der Anklageschrift gegen Ewald von Kleist, 17. 8. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 2, Bl. 8. 62 Vgl. Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner, Der „Ukaz 43“. Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943, in: Andreas Hilger/Ute Schmidt/Günther Wagenlehner (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale, Bd. 1, Köln 2001, S. 177–209. 63 Vgl. Vasilij S. Christoforov, Feldmaršaly Klejst i Šerner v sovetskom plenu, in: Vasilij S. Christforov (Hrsg.), Istorija strany v dokumentach archivov FSB Rossii, Moskva 2013, S. 643–650. 64 Vgl. Friedrich-Christian Schroeder, Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale, in: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 37–58.
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6. Februar 1952 sogar an den „Großen Generalissimus Stalin“ persönlich, um darum zu bitten, „durch eine Begnadigung meine Strafe zu mildern, um erneut das Licht der Freiheit erblicken zu können“ (Dokument 6.8). Stalin wie auch andere sowjetische Stellen ließen den Brief des Deutschen jedoch unbeantwortet.
Zum Inhalt der Verhöre deutscher Militärs und Beamterdurch die sowjetischen Geheimdienste Insgesamt zeigt sich, dass die sowjetischen Geheimdienste weit interessierter an der Befragung von Wehrmachtsangehörigen waren, als bislang angenommen. Die Vernehmer wollten allerdings nicht allein Verantwortliche für Kriegsverbrechen feststellen. Sie waren auch an der historischen Interpretation der deutschen Generalität zum Kriegsverlauf interessiert. Die sowjetischen Verhörprotokolle unterscheiden sich merklich von vergleichbaren westlichen Dokumenten, weil sich die befragten Kriegsgefangenen immer in einer existentiellen, unmittelbar lebensbedrohenden Situation befanden, denn bis zum April 1947 wurde in der Sowjetunion die Todesstrafe verhängt. Vom 19. April 1947 bis zum 12. Januar 1950 galten dann 25 Jahre Zwangsarbeitslager oder Gefängnis als Höchststrafe, danach konnte die sowjetische Justiz Beschuldigte erneut zum Tod verurteilten. In westlichen Lagern wurden Verhörmethoden, die den sowjetischen ähnlich waren, nur anfangs angewandt, etwa bei der Befragung von U-Boot-Besatzungen im amerikanischen Lager Fort Hunt. Interessant ist dabei die Tatsache, dass sich die amerikanischen Verhöroffiziere als NKWD-Kommissare verkleideten und den Gefangenen mit russischem Akzent die Verbringung in ein sowjetisches Kriegsgefangenenlager androhten, sollten diese nicht aussagen.65 Hier wird noch einmal deutlich, welches Bild selbst bei den westlichen Alliierten vom sowjetischen Kriegsgefangenengewahrsam herrschte und wie gezielt die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen damit unter Druck gesetzt wurden. Effektiver erschien vor allem den britischen Ermittlern die Gewinnung von Informationen durch das Abhören der Gespräche, die Gefangene untereinander führten, oder durch freundliche Befragungen.66 In sowjetischer Haft führten falsche oder auch nur unpräzise Auskünfte in der Regel zu verschärften Haftbedingungen. Außerdem konnten die Gefangenen, da sie zunächst meist in Einzelhaft saßen, weder ihre Aussagen noch ihre Verteidigungsstrategie abstimmen, ein Rechtsbeistand fehlte völlig. Die Vernehmer ihrerseits versuchten während der mitunter über Jahre geführten Verhöre, memorierte Ungenauigkeiten aufzuspüren, und befragten die Inhaftierten immer wieder aufs Neue zu ein und den-
65 Vgl. Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München und Zürich 2012, S. 47 f. 66 Vgl. Neitzel, Abgehört, S. 16 f.
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selben Vorgängen. Wie stark die Inhaftierten den Druck der möglichen Hinrichtung empfanden, zeigt ein Protokoll der Vernehmung von Erik Hansen aus dem Jahr 1951 (Dokument 2.6). Hansen sagte in der Vernehmung, mehrfach missverstanden worden zu sein. Das Verhör bezog sich auf Aussagen von 1945 und 1948 und zeigt ein beharrliches Feilschen um Formulierungen, die entweder zu lebenslanger Haft oder zu einer befristeten Strafe führen konnten. Für die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg enthält das Verhör keine nutzbaren Informationen, das Wortprotokoll zeigt jedoch anschaulich die Art und Weise des Umgangs mit den Gefangenen. Beträchtliches Interesse zeigte der sowjetische Geheimdienst auch an der Tätigkeit der Nachrichtendienste des Deutschen Reiches. Die Verhöre der Abwehr-Offiziere Franz Eccard von Bentivegni, Hans Piekenbrock und Erwin Stolze sind in diesen Zusammenhang einzuordnen. Der sowjetische Geheimdienst betrieb damit eine Art Fehleranalyse. Wenn Fragen nach der Kriegsvorbereitung in den Jahren 1939/40 gestellt wurden, zeigt das, dass die sowjetischen Dienste glaubten, darüber nicht genug zu wissen. Die deutschen Offiziere gaben mit ihren Auskünften den Vernehmern nicht selten Material für weiterreichende Recherchen in die Hand. Diese führten dann zur Aufklärung antisowjetischer Netzwerke und zur Aburteilung anderer Beschuldigter.67 Die Vernehmer ermittelten militärisch und sicherheitspolitisch relevante Informationen und klassifizierten die Gefangenen danach. Nichtinstrumentalisierbare Inhaftierte, das heißt insbesondere Kriegsgefangene, die trotz gemachter Aussagen eine politische oder geheimdienstliche Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden verweigerten, wurden hingerichtet oder zu 25 Jahren Haft verurteilt. Nützliche Minderbelastete wurden entlassen oder „auf Eis gelegt“, besonders wertvolle Häftlinge zu „Kadern“ erzogen und für spätere Verwendungen vorgesehen.68
Deutsche Einschätzungen über die Gefährlichkeit des Gegners Bereits am 30. Juni 1945 wurden Stalin die ersten Erkenntnisse sowjetischer Vernehmer mitgeteilt, die diese im zum „Camp Ashcan“ umfunktionierten Palace Hotel in Bad Mondorf (Luxemburg) bei den Vernehmungen der politischen und militärischen Spitze des untergegangenen Deutschen Reiches gesammelt hatten. Neben allgemeinen Informationen erfragten sie bei den Führern von NS-Staat und Wehrmacht auch den Grund für den Krieg gegen die Sowjetunion. „Die Hohen Generale“ seien „überzeugt“ gewesen, so der Ermittler, „dass die Sowjetunion Deutschland zum Krieg gezwungen habe, da sie an den Grenzen in großem Umfang militärische Operationen vorbereitet habe.“ Lediglich Hermann Göring, Wilhelm Keitel und Walter Warlimont
67 Eine systematische Erforschung dieser Zusammenhänge ist noch nicht möglich. Aber Verhaftungen, die in der SBZ vorgenommen wurden, können mit diesen in Zusammenhang stehen. 68 Einige dieser Fälle werden im zweiten Band dieser Edition vorgestellt.
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hätten 1941 versucht, „den Krieg gegen Russland hinauszuschieben“, weil sie eine Niederlage vorausgesehen hätten (Dokument 1.1). In den Einzelaussagen wurden dann die Anschauungen der Verhörten ausführlicher wiedergegeben. Der Chef des Wehrmachtführungsstabs Warlimont stützte Keitels Annahme, dass Deutschland einen Präventivkrieg habe führen müssen. Er habe im Juli 1940 durch Generaloberst Alfred Jodl von den Kriegsplänen im Osten erfahren. Die Rote Armee habe viele Streitkräfte am Bug, an der Weichsel und am San konzentriert, was Hitler mitgeteilt worden sei. Genauere Angaben habe Warlimont im November 1940 erhalten, nach einer Besprechung zwischen Jodl und Hitler, worauf hin er schließlich erste operative Richtlinien ausgearbeitet habe. Dass er von diesem Vorhaben „buchstäblich erschüttert“ gewesen sei, wie er den sowjetischen Vernehmern mitteilte, ist seinen später in der Bundesrepublik publizierten Memoiren nicht anzumerken. Er schrieb auch nicht, dass er sich von „diesem moralischen Schock“ nie wieder habe „erholen können“ und ebenfalls nicht, dass er damals schon die Führung eines Krieges mit der Sowjetunion „als tödlich für Deutschland“ eingeschätzt habe. Auf die Frage, ob Warlimont seine Zweifel hinsichtlich des Erfolges eines Krieges gegen die Sowjetunion jemandem mitgeteilt habe, antwortete er, dass er seine Bedenken nicht mit irgendjemanden habe teilen können, weil ihm die Personen seiner Umgebung zu „fremd“ gewesen seien, zudem habe es ihm seine „Pflicht als Soldat“ verboten, „Zweifel an den Handlungen des Oberkommandos zu äußern“ (Dokument 1.6). Dieselbe Frage stellten sowjetische Vernehmer dem seit Juli 1945 in sowjetischer Haft befindlichen Generalfeldmarschall Schörner. Er habe vom Reichsführer SS Heinrich Himmler schon im November 1939, also unmittelbar nach dem Sieg über Polen erfahren, dass der Russland-Vertrag nur eine „taktische Maßnahme“ gewesen sei, „zeitlich bedingt“. Der Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 28. September 1939 habe also, wie Schörner sich erinnerte, „keinesfalls einen endgültigen Verzicht“ auf den Kampf gegen die Sowjetunion bedeutet. Ihm sei klar gewesen, „dass schon im Augenblick der Unterschrift des Vertrags die bewusste und klare Absicht bestand, diesen Vertrag nicht zu halten.“ Er fragte bei Himmler nach und erhielt zur Antwort, dass dies die Auffassung Hitlers sei. Einige Sätze später distanzierte sich Schörner von diesem „Betrug“ Hitlers und meinte damit wohl indirekt, dass auch er betrogen worden sei (Dokument 2.2). Aufschlussreich sind jedoch nicht nur solche Selbstauskünfte, sondern auch Zeugnisse über andere. So kommt Jodls absolute Hörigkeit gegenüber Hitler bei einer Fehleinschätzung zum Ausdruck, die der in der Abwehr beschäftigte Abteilungsleiter Piekenbrock den sowjetischen Vernehmern mitteilte. Hitler sei der Meinung, so Jodl bei einem Vortrag bei der Abwehr, „dass die Sowjetunion nach einigen erfolgreichen Gefechten gegen die Rote Armee wie eine Seifenblase zerplatzen würde“.69 Jodl habe
69 Aussage von Generalleutnant Piekenbrock, ehemaliger Leiter der Abteilung Abwehr-1 „Nachrichtenbeschaffung“ des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, 12. 12. 1945, CA FSB, Bestand K1, Findbuch 4, Akte Nr. 18, Bl. 321–325.
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dies als Arbeitsanweisung gemeint, präzisierte er weiter. Die Frage, ob Hitler 1940 tatsächlich dieser Meinung war, kann mit einer solchen Aussage jedoch nicht beantwortet werden. Es ist möglich, dass er lediglich Optimismus verbreiten wollte, zumal ihm Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow im November 1940 recht unverblümt die militärische und wirtschaftliche Stärke der Sowjetunion vor Augen führte.70 Sie bestätigen allerdings Hitlers ideologisch geprägte Weltsicht. Bereits in seinem Buch „Mein Kampf“ hatte er den Bolschewismus in Russland als ernsthafte Bedrohung für Deutschland dargestellt. Die „Regenten“ Russlands seien „blutbefleckte, gemeine Verbrecher“, „Abschaum der Menschheit“, schon deshalb könne man mit ihnen keinen Bund eingehen, meinte er 1926.71 Den jüdischen Machthabern in Russland werde es aber unmöglich sein, das „mächtige Reich auf Dauer zu erhalten.“ Mehr noch, es sei „reif zum Zusammenbruch“, weshalb er forderte, den „ewigen Germanenzug“ nach Süden zu stoppen und nach Osten umzuleiten.72
Die Beurteilung des Krieges Die Aussagen anderer hochrangiger Offiziere sind eher unpolitisch, aber im Hinblick auf die Bewertung des Kriegsverlaufs aufschlussreich. Erstaunlich lakonisch erscheint in der Rückschau die Selbstbiografie des Generalfeldmarschalls Kleist, die er 1951, drei Jahre vor seinem Tod, in der Butyrka aufzeichnete. Kleist war in westalliierte Gefangenschaft geraten und an Jugoslawien ausgeliefert worden. Dort befand man den Berufsmilitär für Kriegsverbrechen schuldig und verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft. Anschließend ließ der jugoslawische Partei- und Staatschef Josip Broz Tito den ehemaligen Generalfeldmarschall in die Sowjetunion überstellen.73 Zumindest Kleists Bild vom Gegner war ein anderes als das Hitlers und anderer Offiziere 1940, vielleicht spricht seine Aussage auch für einen raschen Wandel der Anschauungen im Heer. „Wir waren der Meinung“, formulierte er, dass die Rote Armee im Winter 1941/42 „über zwei bis dreimal so viele Kräfte wie wir verfügte. Sie besaß außerdem hervorragende Ausrüstungen und Waffen.“74
70 Vgl. Andreas Hillgruber (Hrsg.), Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939–1941, Frankfurt am Main 1967, S. 304– 319, besonders S. 309. 71 Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1940, S. 750. 72 Vgl. ebd., S. 742 f. 73 Vgl. Friedrich-Christian Stahl, Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Hitlers militärische Elite. Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende. Bd. 2., Darmstadt 1998, S. 100–106. 74 Eigenhändig verfasste Aussage von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist: „Militäroperationen an der Südfront (1941–1944)“, 23. 2. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 1, Bl. 235.
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Eine der Schlüsselstellen der Erinnerungen Kleists betrifft die Fehlentscheidung, den Krieg im Oktober 1941 mit der Stoßrichtung auf Moskau fortzusetzen. Feldmarschall von Rundstedt habe vorgeschlagen, „sich nach den Kämpfen am Ostufer des Dnjepr entlang des Flußlaufes zu verschanzen, starke Stellungen zu errichten und nur die Brückenköpfe am Ostufer zu halten.“ Der Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch habe ebenfalls daran gedacht, an der Ostfront im Winter zum Stellungskrieg überzugehen. Hitler sei nach den Kämpfen Anfang Oktober im Abschnitt der Heeresgruppe Mitte aber davon überzeugt gewesen, die Rote Armee wäre zerschlagen. Ohne Rücksicht auf die beginnende Winterzeit habe er befohlen, Moskau anzugreifen und den Gegner an der gesamten Front bis zum letzten Atemzug zu verfolgen. Daher sei auch seine Heeresgruppe Süd in Richtung Charkow vorgedrungen. Die Geschichtswissenschaft ist inzwischen sicher, dass Hitler zu diesem Entschluss von Generaloberst Halder, dem Generalstabschef des Heeres, gedrängt wurde.75 Der Wert von Kleists Aussagen liegt daher eher auf der anschaulichen Schilderung der Schwierigkeiten, vor der seine Panzergruppe stand (Dokument 3.4). Die Wortwahl wirft dabei ein bezeichnendes Licht auf ihn selbst, etwa im Hinblick auf die mangelnde Ausrüstung der einfachen Soldaten: „Die Winteruniformen, die das deutsche Oberkommando vorher bereitgestellt hatte, konnten bei solchen langen Angriffsoperationen und Märschen nicht angeliefert werden, denn es war vorrangig, Munition, Treibstoff und Verpflegung zu transportieren.“76 Zu den Entscheidungen im Herbst 1941 – Angriff auf Moskau oder Leningrad bzw. Stellungskrieg – wurde auch Generaloberst Schmidt befragt, damals Kommandierender General des zur Heeresgruppe Nord gehörenden XXXIX. Armeekorps (mot.). Ob denn nicht von Anfang an entschieden worden sei, Leningrad oder Moskau einzunehmen, wollten die Vernehmer wissen. Bis Mitte Juli 1941 hätten dazu zwei Meinungen existiert, antwortete Schmidt. Die Auffassung Hitlers, Keitels und Jodls sei darauf hinausgelaufen, „dass mit den Hauptkräften der Angriff auf Moskau fortgesetzt werden sollte, während gleichzeitig ein anderer Teil vorher Leningrad einnehmen sollte“. Halder und Brauchitsch seien anderer Meinung gewesen, sie hätten alle Kräfte für die Einnahme von Moskau einsetzen gewollt (Dokument 2.5).77 Gelegentlich schwingt auch Unverständnis über die Strategie zur Fortsetzung des Krieges mit, etwa bei von Kleist für den Sommer 1942, als mit der Offensive „Fall Blau“ versucht wurde, eine strategische Entscheidung am Südabschnitt der Ostfront zu erzwingen78: „Es gab keine operativen Ziele“, schrieb der ehemalige Generalfeldmar-
75 Vgl. Hartmann, Halder, S. 289–296. 76 Vgl. Verhörprotokoll des Generalobersten Rudolf Schmidt, 12. 1. 1948, CA FSB, Akte Nr. N-21139, Bd. 1, Bl. 165. 77 Zur Diskussion der deutschen Strategie gegenüber Leningrad siehe auch: Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad, in: VfZ 49 (2001). H. 3, S. 390–400. 78 Zu „Blau“ siehe u. a.: David M. Glantz/Jonathan M. House, The Stalingrad Triology. Volume 1: To the Gates of Stalingrad. Soviet-German Combat Operations, April-August 1942, Lawrence 2009.
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schall, „denn die russische Armee manövrierte sich geschickt aus Kämpfen heraus und die Deutschen konnten ihr keinen vernichtenden Schlag versetzen.“79 Professionelle Distanz des Militärs wird auch bei der Bewertung des anschließenden Vorstoßes der Heeresgruppen A und B in den Süden der Sowjetunion deutlich. Kleist notiert rückschauend, dass der Kaukasus „offensichtlich nicht das eigentliche Ziel der Operation“ gewesen sei. Dann spielte er Alternativen durch: „Wenn es der 17. Armee gelungen wäre, das östliche Ufer des Schwarzen Meeres bis nach Batumi unter ihre Gewalt zu bringen, hätte sie ein operatives Ziel erfüllt. Dann hätte die russische Schwarzmeerflotte ihren letzten Hafen verloren.“ Aber stattdessen seien die Kräfte zersplittert worden, dadurch sei die 1. Panzerarmee für „eigenständige Operationen mit eigenen operativen Zielen … nutzlos“ geworden. Ein Angriff auf Baku, „über den übrigens niemand sprach“, so Kleist, „war damit unmöglich“. Und weiter: „Sie müssen sich vorstellen, dass die Heeresgruppe mit einer Armee versuchte, in Richtung Südwesten vorzudringen und mit der anderen Armee in Richtung Südosten – also Baku. Das ist unglaublich!“80
Stalingrad. Reaktionen und der Aufstieg von General Stahel Bei ihren Vernehmungen wollten die sowjetischen Befrager natürlich auch Informationen über die deutsche Einschätzung des weiteren Kriegsverlaufes und vor allem über die blutige Schlacht um Stalingrad erhalten. Keitel schilderte am 17. Juni 1945 im luxemburgischen Mondorf gegenüber seinen sowjetischen Vernehmungsoffizieren zunächst die Entstehung der Schlacht an der Wolga wie folgt (Dokument 1.4): 1942 habe das OKW, da die Kräfte für eine Offensive auf der gesamten Länge der Front nicht mehr ausreichten, beschlossen, den Angriff im Süden zu führen. Ziel sei es gewesen, „den Donbass aus dem rüstungswirtschaftlichen Potential Russlands herauszunehmen, den Öltransport auf der Wolga abzuschneiden und die wichtigsten Ölquellen zu besetzen, die sich nach unserer Ansicht in Maikop und Grosny befanden. Ein breiter Vorstoß zur Wolga war zunächst nicht sofort geplant, es wurde davon ausgegangen, zunächst an einer Stelle zur Wolga zu kommen, um nachfolgend das wichtige strategische Zentrum – Stalingrad – zu nehmen. Weiterhin war für den Fall eines Erfolges vorgesehen, Moskau von Süden her zu isolieren und mit starken Kräften einen Vorstoß nach Norden zu unternehmen (vorausgesetzt, unsere Verbündeten hätten den Don besetzen können). Es fällt mir schwer, irgendwelche Fristen für die Durchführung dieser Operation zu nennen. Die gesamte Operation im südlichen Bereich sollte mit einer großangelegten Umfassung der gesamten südwestlichen und südli-
79 Vgl. Eigenhändig verfasste Aussage von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist: „Militäroperationen an der Südfront (1941–1944)“, 23. 2. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 1, Bl. 246. 80 Vgl. ebd., Bl. 252.
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chen Gruppierung der Roten Armee durch unsere Heeresgruppen A und B beendet werden.“81 Entsprechend diesen Planungen stieß die Heeresgruppe B mit der 6. Armee und der 4. Panzerarmee im Sommer 1942 entlang des Dons zur Wolga vor: „Nach dem Durchbruch durch die Verteidigungslinien der Roten Armee hatte die Heeresgruppe B, die Woronesch nicht unbedingt halten sollte, den Auftrag, scharf nach Süden abzudrehen und entlang des Don zielstrebig auf Stalingrad zu marschieren. Diese Operation gelang vollständig.“ Damit, so Keitel in der Befragung durch den NKWD weiter, „begann die Schlacht um Stalingrad. Auf ihr basierten die wichtigsten strategischen Berechnungen beider Seiten. Das erklärt, dass wir in der Stadt zu viele Kräfte gebunden hatten, und man muss gestehen, dass es der Roten Armee hervorragend gelang, die Lösung dieser für sie wichtigen Aufgabe zu erreichen.“ Zugleich bemerkte der Generalfeldmarschall: „An dieser Stelle muss noch einmal bekannt werden, dass wir die Kraft der Roten Armee bei Stalingrad unterschätzt haben – sonst hätten wir nicht eine Division nach der anderen in die Stadt hineingezogen und so die Front am Don geschwächt. […] Heute kann man sagen, dass die deutsche Kommandoführung weder die Kräfte, noch die Zeit, noch die Angriffsfähigkeit der Streitkräfte berechnet hatte. Zugleich war Stalingrad damals so ein verführerisches Ziel, dass es unmöglich erschien, sich von ihm loszusagen. Wir dachten, wenn wir noch eine Division, noch ein Artillerieregiment, noch ein Pionierbataillon, noch eine Werferabteilung, noch eine Geschützbatterie in die Schlacht werfen, dann wird die Stadt in unseren Händen sein. In Verbindung mit der Unterschätzung und der ungenügenden Kenntnis des Gegners hat all dies zusammen zum Kessel von Stalingrad geführt.“82 An dieser Stelle muss allerdings festgehalten werden, dass die Verstärkung der in Stalingrad kämpfenden deutschen Truppen in keiner Weise die hohen Verluste ersetzten konnte, anders als Keitel zum Protokoll gab. Mitte Oktober 1942 betrug die infanteristische Kampfstärke der 6. Armee gerade einmal noch 25 000 Mann. Die neu herangeschafften Einheiten, wie beispielsweise fünf Sturmpionierbataillone, zur Eroberung der letzten Hallenkomplexe im Industrieviertel eingesetzt, hörten bereits nach nur kürzester Zeit faktisch auf zu existieren. Anfang November 1942 sah sich das Oberkommando der Wehrmacht nicht einmal mehr in der Lage, der 6. Armee einige wenige Infanterieregimenter zuzuführen. Auch Warnungen der für den Nachrichtendienst zuständigen Abteilung Fremde Heere Ost vor einer sowjetischen Offensive wurden von der Wehrmachtsführung missachtet, da sie nicht besonders präzise waren.83
81 Kurze Mitschrift der Befragung von Generalfeldmarschall Keitel, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 431–432. 82 Vgl. ebd., Bl. 432–433. 83 Vgl. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, München 1990, S. 1014‑1018; David M.
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Die Schuld an der nachfolgenden Einkesselung und Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad schob Keitel allein Hitler zu: „Die Vorschläge für einen Rückzug aus Stalingrad waren in entschiedenster Weise vom Führer abgelehnt worden.“ Zugleich betonte der einstige Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der von seinen Militärkameraden wegen seiner bedingungslosen und unterwürfigen Ausführung der Befehle Hitlers den Namen „Lakeitel“ erhalten hatte, den sowjetischen Vernehmern gegenüber: „Falls die Entscheidung über das Schicksal der 6. Armee in meinen Händen gelegen hätte, würde ich mich aus Stalingrad zurückgezogen haben. Doch man muss sagen, dass es jetzt sehr schwer ist, die eigenen Handlungen zu bewerten, weil mir gerade erst jetzt sichtbar ist, mit welchen Ergebnissen unsere Pläne endeten.“84 Insgesamt, so Keitel im Sommer 1945, habe er aus der Schlacht um Stalingrad folgende Rückschlüsse gezogen: „a) der Verlust der 6. Armee wirkte sich außerordentlich schwer auf die gesamte Lage der Ostfront aus; b) doch durfte man den Krieg an der Ostfront nicht für verloren halten, selbst wenn er nicht in kürzerer Zeit mit einem militärischen Sieg gekrönt würde.“85 Wie auch Keitel sah Jodl einen entscheidenden Grund für die Niederlage in der Schlacht um Stalingrad in den fehlenden Informationen über die Konzentration der sowjetischen Truppen für die Durchführung der Operation „Uranus“. Gleichzeitig räumte er ein, dass die Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad für die Wehrmacht einen Schlag dargestellt habe, von dem sie sich nicht habe erholen können: „Ich weiß auch, dass unsere Nachrichtendienste schwere Niederlagen hinnehmen mussten: Der größte Misserfolg ereignete sich im November 1942, als wir vollständig die Konzentration umfangreicher russischer Truppen an der Flanke der 6. Armee übersehen haben. Wir besaßen absolut keine Vorstellung über die Kräfte der russischen Streitkräfte in diesem Gebiet. Früher war hier nichts gewesen und vollkommen unerwartet wurde hier ein Schlag mit großer Kraft geführt, der entscheidende Bedeutung besaß.“ 86 Ebenfalls in Mondorf äußerte sich Göring zu dem Ansinnen Hitlers, den Kessel von Stalingrad aus der Luft zu versorgen. Zunächst stellte er klar, dass sich die Beziehung zu Hitler ab 1941 verschlechtert habe, weil Hitler sich erstmals in den Einsatz
Glantz/Jonathan M. House, The Stalingrad Triology. Volume 2: Armageddon in Stalingrad. SeptemberNovember 1942, Lawrence 2009, S. 648–655. 84 Kurze Mitschrift der Befragung von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 433. 85 Ebd., Bl. 433. 86 Kurze Mitschrift der Befragung von Generaloberst Alfred Jodl, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 454. Zur Einschätzung der Informationen und Prognosen der OKH-Abteilung Fremde Heere Ost unter Reinhard Gehlen während der Schlacht um Stalingrad siehe u. a. Pahl, Fremde Heere Ost, S. 205–210; Hans-Heinrich Wilhelm, Die Prognosen der Abteilung Fremde Heere Ost 1942–1945, in: Hans Rothfels/Theodor Eschenburg (Hrsg.), Zwei Legenden aus dem Dritten Reich, Stuttgart 1974, S. 7–75.
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der Luftwaffe einzumischen begonnen habe. Als sich die Bedingungen bei Stalingrad kritisch entwickelten, habe Hitler ihn zu sich gerufen: „Ich sollte die Frage entscheiden, ob die Armee dort bleiben solle oder ein Rückzug nötig sei.“ Dann habe Hitler gefragt, ob man die Truppen bei Stalingrad am Tag mit 500 Tonnen Ladung beliefern könne. Später habe Hitler die Anforderung auf 300 Tonnen täglich herabgesetzt. Er, Göring, habe geantwortet, „dass das nur möglich wäre, wenn das Wetter die gesamte Zeit über Flüge zuließe und wenn die Truppen bei Stalingrad die Flugplätze halten könnten.“ Wollte man Göring Glauben schenken, müsste ein Großteil der Forschungsliteratur zur Schlacht bei Stalingrad verworfen werden. Die Zahl derer, die sich an ein großspuriges Auftreten Görings in der betreffenden Lagebesprechung erinnerten, ist jedoch nicht gering und ihre Glaubwürdigkeit muss höher bewertet werden.87 Denn für sie bedeutete es keinen Unterschied, ob Hitler oder Göring die Fehlentscheidung trafen, die 6. Armee nicht „umzudrehen“ und den Ausbruch zu wagen. Göring hingegen war durchaus an seinem Bild in der Geschichte interessiert, und so machte er schließlich das Wetter für das Scheitern der Operation verantwortlich: „Es geschah das, was ich am meisten gefürchtet hatte. Die Wetterbedingungen waren extrem schwierig […].“88 Der Blickwinkel eines Akteurs der zweiten Reihe war ein anderer. Als Stahel im Januar 1943 das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen wurde, war er enttäuscht darüber, dass Hitler nicht am Austausch mit einem Frontoffizier interessiert gewesen sei, der gerade noch aus dem Chaos Stalingrads herausgekommen war. Hitler habe „mit ruhiger, weinerlicher Stimme über den Verrat der Italiener und Rumänen“ gesprochen, „was, seiner Meinung nach, zur Niederlage bei Stalingrad geführt habe“. Als Stahel darauf hinwies, dass auch unter den Deutschen „viele Unbegabte seien“, die es nicht mit den Russen aufnehmen könnten, habe Hitler mit einem seiner skurrilen Tobsuchtsanfälle geantwortet. Mit kreischender Stimme und gestikulierend habe er geschrieen: „Sie haben Recht, vollkommen Recht! Ich bin mit den Generalen unzufrieden, unglaublich unzufrieden. Es ist Zeit für einen Wechsel, man muss junges Blut in die Generalität befördern […].“ Aufschlussreich ist die Reaktion von Hitlers Luftwaffenadjutant von Nicolaus von Below, auch er verfasste später vielgelesene Memoiren89, der Stahel erst einmal mit einer Tasse Kaffee beruhigt und dann die angebliche Anschauung Hitlers wiedergegeben habe. Hitler betrachte die Schlacht bei Stalingrad nur als „eine krampfhafte Agonie des Sowjetregimes, das alle seine Reserven an der Wolga konzentriert habe.“ Die Russen würden „bald an der gesamten Front zurückrollen.“90 Stahel ließ
87 Vgl. Torsten Diedrich, Paulus. Das Drama von Stalingrad, Paderborn u. a. 2008, S. 254. 88 Vgl. Kurze Mitschrift der Befragung von Reichsmarschall Hermann Göring, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte 97, Bl. 401. 89 Vgl. Nicolaus von Below, Als Hitlers Adjutant 1937–1945, Mainz 1980. 90 Vgl. Verhörprotokoll des ehemaligen Generalleutnants der deutschen Armee, Rainer Stahel, 21. 11. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 87.
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das unkommentiert, wohl auch, weil ihm Hitler den Eindruck vermittelt hatte, dass er zu dem „jungen Blut“ gehörte, das der Generalität zugeführt werden sollte. Nach erneuten Besuchen im Führerhauptquartier hielt es Stahel nicht mehr für bemerkenswert, dass Hitler über die Leistungen seiner Heerführer klagte. Stahel nahm es jetzt als Auszeichnung, dass Hitler ihm zum „Überprüfen“ an die Front nach Italien schickte. Hitler selbst legte ihm dar, wie seine Aufgaben beim bevorstehenden Einsatz aussehen würden. Der militärische Teil betraf die Luftabwehr, die Stahel neu aufstellte, was die sowjetischen Vernehmer nicht interessierte. Sie notierten jedoch die Phrase der „aktiven Hilfe“ des Vatikans bei der Lähmung des Widerstands der Partisanen. Sie registrierten auch, dass Stahel den Wert des deutschen Verbündeten extrem niedrig einschätzte. Die einzige Macht, die Italien beherrsche, sei der Papst, von Benito Mussolini hielt Stahel nichts, wobei Hitler ihm beigepflichtet habe.91 Die Aussage steht nur scheinbar im Widerspruch zu Hitlers tatsächlicher Politik. Zwar ließ er den Duce von deutschen Fallschirmjägern befreien, aber in der 1943 geschaffenen „Italienischen Sozialrepublik“ wurden alle Schlüsselstellungen von Deutschen beherrscht. Militärisch war Mussolinis Marionettenstaat de facto ein deutsches Protektorat.92 Der Bericht, den Stahel Hitler in der Wolfschanze erstattete, trug mit Sicherheit dazu bei, Hitlers Italienpolitik zu beeinflussen. Nach dem Fall Roms wurde Stahel erneut an die Ostfront versetzt.
Wann war der Krieg verloren? Es war für die Sowjetunion unklar, warum das Deutsche Reich nicht um Frieden nachgesucht hatte, solange die Chance darauf bestand. Bereits seit dem Winter 1942/43 hatte es in Stockholm Verbindungen des NS-Diplomaten und SS-Obersturmbannführer Peter Kleist mit sowjetischen Kontaktpersonen gegeben. Während Kleist davon ausging, die Sowjetunion ersuche Hitler um einen Sonderfrieden, war es in der Tat umgekehrt. Der deutsche Abwehrchef Wilhelm Canaris versuchte über den Diplomaten und damit über Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop zu sondieren, ob die Sowjetunion dazu bereit war. Da es beiden Seiten allerdings nur darum ging, die Kontakte nicht abreißen zulassen, blieben die über den Mittelsmann Edgar Klaus laufenden Gespräche inhaltsleer und ohne greifbares Ergebnis.93 Feldmarschall Kleist urteilte rückblickend, dass es, um an der Ostfront erneut die Initiative übernehmen zu können, nötig gewesen wäre, „andere Kriegsschauplätze
91 Vgl. ebd., Bl. 90. 92 Vgl. Jens Petersen, Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933–1936, Tübingen 1973; Erich Kuby, Verrat auf deutsch: Wie das Dritte Reich Italien ruinierte, Hamburg 1982. 93 Vgl. Ingeborg Fleischhauer, Die Chance eines Sonderfriedens. Deutsch-sowjetische Geheimgespräche 1941–1945, Berlin 1986, S. 108–113.
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zu verlassen und aus Deutschland enorme Mengen an Soldaten und Material – im Umfang von einer Heeresgruppe von 25 bis 30 Divisionen – an die Front zu transportieren“. Bis zur Ankunft dieser Kräfte hätten Gefechte geführt werden sollen, um Zeit zu gewinnen. Hätte sich Hitler zu diesem Schritt entschlossen, wären eigene Kräfte geschont worden. Schließlich meinte Kleist, dass eine Entscheidungsschlacht „an einer guten Position und kurzen Frontlinie ungefähr in Höhe der ehemaligen Grenze“ führbar gewesen wäre. Aber Hitler „befahl, nicht einen Schritt zurückzuweichen und nicht kampflos Territorium aufzugeben“. Damit hätte die Initiative weiterhin bei der Roten Armee gelegen. Auch den Versuch im Sommer 1943 mit den Kämpfen um Kursk erneut die Oberhand zu gewinnen, sah Kleist kritisch, weil dafür das Überraschungsmoment fehlte. Und er betonte: „So sahen wir das, bevor die Kämpfe begannen“ (Dokument 3.4). Sein Dienstvorgesetzter Keitel äußerte sich anders. Auf Frage der sowjetischen Offiziere, wann denn Keitel überhaupt geglaubt habe, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, antwortete dieser gewunden: „Die Lage in groben Zügen bewertend, kann ich sagen, dass das Faktum, dass der Krieg für Deutschland verloren ist, für mich im Sommer 1944 klar wurde. Doch kam die Anerkennung dieser Tatsache nicht sofort, sondern während einer Reihe von Phasen, entsprechend der Lageentwicklung an den Fronten. […] Seit dem Sommer 1944 habe ich verstanden, dass die Militärs ihr Wort bereits gesagt hatten und keine entscheidende Wirkung mehr hatten – jetzt waren die Politiker am Zug.“ Er äußerte sich auch zur rüstungswirtschaftlichen Situation. Selbst 1944/45 sei diese „nicht katastrophal“ gewesen. Die Produktion von Waffen, Panzern und Flugzeugen sei auf „einem ausreichenden Niveau“ gewesen, um die Armee „in einer normalen Lage zu halten“. Die Luftangriffe hätten zwar „einzelne Fabriken“ ausgeschaltet, „doch es gelang schnell, diese wieder in Gang zu setzen.“ Die wehrwirtschaftliche Lage Deutschlands sei „erst Ende 1944“ und die Situation bei den menschlichen Ressourcen „erst im Januar 1945 hoffnungslos“ gewesen. „Mit Beginn des Sommers 1944 führte Deutschland den Krieg“, so Keitel, „um Zeit für Ereignisse zu gewinnen, die geschehen sollten, aber sich dann doch nicht ereigneten.“94 Was Keitel damit meinte, muss offen bleiben. Seine in der Rückschau merkwürdig anmutende Auffassung zum Ausstoß der deutschen Rüstungsindustrie deckt sich jedoch mit der Auffassung Albert Speers, der seine Denkschrift zum Ende der deutschen Rüstung im Januar 1945 verfasste.95 Aber auch der britische Historiker Overy stellte in seinem Buch über den „Bombing War“ heraus, dass es zum Beispiel der Zerstörung der Hydrierwerke bedurfte, um die noch vorhandenen Panzerheere stillzulegen. Eben
94 Kurze Mitschrift der Befragung von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 421. 95 Denkschrift Speers für Hitler „Zur Rüstungslage Februar–März 1945“, 30. 1. 1945, Akten der ParteiKanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes, München 1983–1992, Dokument Nr. 18292.
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deshalb habe die amerikanische Air Force im Herbst 1944 eine Offensive gegen diese Produktionsstätten gestartet.96 Eine der interessanteren Schilderungen über die letzten Tage im Bunker unter der Reichskanzlei ist Schörners Schilderung über seinen Besuch am 21./22. April 1945.97 Diese Selbstauskunft stand dem Journalisten Joachim Fest bei seinem effektvoll kompilierten Buch über den Untergang nicht zur Verfügung, und so fehlt ein wichtiger Baustein in der Rekonstruktion dieser wichtigen Nacht, an deren Ende Hitler die Anwesenden angeblich resigniert mit den Worten entließ: „Ich habe keine Befehle mehr!“98 Es scheint so, als sei es Schörner gewesen, der Hitler die letzten Illusionen über den Stand der Dinge raubte. Wenn selbst Schörner seine „besonderen Sorgen und Befürchtungen“ hinsichtlich der ihm unterstellten Armeen zum Ausdruck gebracht und um die Zurücknahme der Front gebeten hat, scheint es keine Aussicht gegeben zu haben, das Blatt noch zu wenden. Trotzdem befahl Hitler das „Festhalten des tschechoslowakischen Raumes“ als Rückhalt für den Widerstand „in den südlichen Alpengebieten“. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass Hitler „keine Befehle mehr“ erteilt hätte. Ja er schaffte es sogar noch in diesen Stunden, Schörner den Glauben zu vermitteln, dass eine politische Lösung möglich sei.
Die Einschätzung des Oberbefehlshabers Nicht nur wegen solcher Aussagen, welche das bis zum Schluss wirksame persönliche Charisma Hitlers bezeugen, verdienen die Selbstauskünfte der Verhafteten eine genaue Lektüre. Auch angesichts des eingangs beschriebenen westdeutschen Entschuldungsdiskurses, der Hitler für alle Verbrechen und militärischen Fehler verantwortlich machte, erscheinen die Aussagen der Verhörten über den Oberbefehlshaber wertvoll. Für den Reichsmarschall und Luftwaffenoberbefehlshaber Göring war Hitler in erster Linie „ein genialer Stratege“. Er habe sich aber „nicht in alle Feinheiten der Luftwaffe und des Luftkampfes einarbeiten“ wollen, weshalb er beim Einsatz der Luftwaffen „mitunter falsch“ entschied. Trotz der Niederlage war er noch am 17. Juni in Mondorf von dessen Genialität überzeugt: „Seine Kriegs- und Strategiepläne waren genial und hätten die Generale die Pläne an der Ostfront in die Tat umgesetzt, so hätte Deutschland den Sieg davongetragen.“99
96 Richard Overy, The Bombing War. Europe 1939–1945, London 2013, S. 385–390. 97 Vgl. Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 20. 8. 1945, CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 1, Bl. 24–27. 98 Vgl. Joachim Fest/Bernd Eichinger, Der Untergang. Das Filmbuch, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 81. 99 Vgl. Kurze Mitschrift der Befragung von Reichsmarschall Hermann Göring, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 401.
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Auch Jodl, der engste militärische Berater Hitlers, hielt ihn bei der Befragung in Mondorf „unbestreitbar“ für „ein Genie“. Zugleich wandte er sich gegen die von der NS-Propaganda und noch immer kolportierte „Künstlernatur“ des Parteiführers. „Ihm war die Fähigkeit zur Arbeit angeboren“, urteilte Jodl. Hitler habe „ungemein viel“ gelesen und sei „in allen Bereichen“ kompetent gewesen. Die ihm später von Historikern und Zeitzeugen zugeschriebene Zauderei100 bestritt Jodl rundheraus: „Als Führer und Befehlshaber traf er ungemein schnell Entscheidungen.“ Jodl ging sogar auf die schon damals in Gerüchten viel strapazierte Krankengeschichte ein.101 In den ersten Kriegsjahren sei Hitler „physisch absolut arbeitsfähig“ gewesen, stellte Jodl klar. Später hätte sich dann die „Anspannung“ ausgewirkt. Dazu seien stark erhöhter Blutdruck und ein Magenleiden gekommen, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 ein Nervenleiden: „Seine linke Hand und das Bein zitterten.“ Trotz allem, so Jodl, „konnte ich bei ihm bis zuletzt keine Anzeichen einer geistigen Minderwertigkeit erkennen.“102 Den körperlichen Verfall Hitlers bemerkte auch Schörner bei seinem Besuch im Führerhauptquartier im Oktober 1943. Seit Herbst 1939 hatte er Hitler nicht mehr gesehen, jetzt schien er ihm „gealtert, [er] ging auch etwas gebeugt.“ Seine Ausdrucksweise sei aber „frisch und energisch“ gewesen, ja sogar „noch entschiedener als früher.“ Nebenbei erwähnte Schörner auch, warum ihn Hitler so sehr geschätzt habe. Hitler sei berichtet worden, Schörner habe im Norden sein Gebirgskorps „trefflich“ geführt. Und weiter: „An Ihrer Front wurde kein Fußbreit Boden aufgegeben, obwohl gerade dort oben im vorigen Winter und Frühjahr sehr schwer gekämpft wurde […].“ (Dokument 3.1). Während die Aussagen des Jahres 1945 im Hinblick auf die Krankengeschichte plausibel erscheinen und sich mit den Befunden der Geschichtswissenschaft decken103, zeigen andere bereits eine Tendenz zur Selbstreinwaschung. So wollen Warlimont schon 1941 Zweifel gekommen sein, als Hitler den Oberbefehl über das Heer an sich riss, weil „er seine Fähigkeiten und Möglichkeiten überschätzte“. Von Hitler als militärischen Führer hielt Warlimont nicht viel, wie er aussagte: „Das äußerte sich erstens darin, dass er bestrebt war, sich bei der Organisation militärischer Maßnahmen mit allen Kleinigkeiten zu beschäftigen, wodurch er aber den Überblick verlor. Zweitens zeigte sich das in seinem hartnäckigen Unverständnis darüber, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig ist, sich auf einzelnen Frontabschnitten zurückzuziehen. Hitler aber forderte ständig: ‚Keinen Schritt zurück!‘, was mehrmals zum Scheitern von Operationen führte.“ Ein weiterer „großer
100 Vgl. Manstein, Verlorene Siege, S. 309. 101 Vgl. Hans-Joachim Neumann/Henrik Eberle, War Hitler krank? Ein abschließender Befund, Bergisch Gladbach 2009, S. 172. 102 Kurze Mitschrift der Befragung von Generaloberst Alfred Jodl, 17. 6. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 461. 103 Vgl. Neumann/Eberle, War Hitler krank?, S. 190–222.
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Fehler“ Hitlers als Heerführer sei es gewesen, „dass er das Prinzip der Machtteilung – wie im politischen Bereich – auf die militärischen Organe übertrug.“ Die bekannte römische Regel „Divide et impera“ habe ihre Berechtigung bei der Organisation der politischen Führung, meinte Warlimont, im militärischen Bereich sei aber die Einheit der Führung unerlässlich (Dokument 1.6). Den Verfall des Ansehens des Oberbefehlshabers gab es aber tatsächlich, denn er spiegelt sich auch in den Aussagen von Stahel wider. Zu verlieren hatte der General nichts, er wusste, dass auf ihn als Stadtkommandant von Warschau während des Aufstandes entweder das Todesurteil oder lebenslange Haft warteten. Bei der Kommandierung nach Lemberg im Frühjahr 1944 habe er Hitler seine Abreise gemeldet. Bei der Verabschiedung habe Hitler nichts gesagt, ihm fest die Hand gedrückt, ihm unablässig mit seinem schweren, unbeweglichen Blick in die Augen geschaut und das Zimmer verlassen. „Ich war zu diesem Zeitpunkt kein Neuling mehr im Stab“, kommentierte Stahel, „und wusste daher, dass es sich bei solch einer Verabschiedung um eine besonders beliebte schauspielerische Art des Führers handelte, der dadurch auf gewisse Art sein besonderes Vertrauen demjenigen gegenüber ausdrückte, der seinen Willen erfüllte.“104 Die Beschreibung des nächsten Treffen Stahels mit Hitler am 27. Juli 1944 bzw. am 28. morgens leitete er mit einer Beschreibung der Person Hitlers ein. Der habe „sich fürchterlich seit März 1944 verändert.“ Stahel erschien er „stark verkrümmt“, das Gesicht sei „aufgequollen und zu einer ausdruckslosen Maske“ geworden. Die Hand, die er ihm „vorsichtig hinstreckte, zitterte stark.“ In „heiserem und unverständlichem Ton“ habe Hitler genuschelt, dass er nicht erwartet hätte, ihn wiederzusehen. Dann folgte der nächste Auftrag, nach Warschau zu fliegen. In dieser Stadt herrsche das Chaos, sagte Hitler zu Stahel, seine Aufgabe bestünde darin, ein strengeres Regiment zu führen (Dokument 3.6). Stahel nahm den Auftrag an, möglicherweise gefiel er sich inzwischen in der Rolle des „Ausputzers“, die ihm Hitler immer wieder zugewiesen hatte. Innere Distanz zum Oberbefehlshaber und die Übernahme verbrecherischer Kommandos schlossen sich demnach nicht aus. Diese „Schizophrenie“ ist bei vielen Kriegsgefangenen registriert worden. Hitlers persönlicher Mythos, aufgebaut in den Jahren nach 1933, wirkte weiter. Selbst wenn sie in Gefangenschaft gerieten und das verhängnisvolle Wirken der nationalsozialistischen Ideologie erkannten, sprachen sie dem Politiker Hitler einen Bonus zu.105
104 Verhörprotokoll des ehemaligen Generalleutnants der deutschen Armee, Rainer Stahel, 21. 11. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 92. 105 Vgl. Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 2011, S. 268.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
Verbrechen und Verbrecher Durch die Bücher verschiedener Dissidenten, allen voran Alexander Solchenizyns Archipel Gulag, entstand im Westen der Eindruck, dass die sowjetischen Soldaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, allesamt als Agenten, Verbrecher und Saboteure betrachtet worden wären. Die Sowjetunion hätte daher nichts getan, um ihre Schicksale aufzuklären, und auch nichts, um die Verantwortlichen für Verbrechen an den kriegsgefangenen sowjetischen Soldaten zur Rechenschaft zu ziehen.106 Unmittelbar nach dem Krieg waren die Ermittler jedoch außerordentlich daran interessiert, Verantwortliche zu finden und zu bestrafen. Mit den deutschen Kriegsgefangenen fielen ihnen auch jene in die Hände, die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, aber auch gegen Angehörige der Roten Armee begangen hatten. Dabei hielten sich die Ermittler nicht mit den alltäglichen Gräueltaten des Krieges auf. Der Krieg wurde auf beiden Seiten mit unerbittlicher Härte geführt, wie die sowjetischen Offiziere wussten, die oft genug selbst ermordete Menschen oder Strafgefangene gesehen hatten, die sich zu Tode arbeiteten.107 Obwohl sich hinter bestimmten Aussagen vermutlich Hunderte von Toten verbargen, hinterfragten sie wohl Sätze wie den von Stahel nicht. Das Gebiet von Saporoshje „befestigte ich“, so der Militär beim Verhör, „nach allen Regeln der Kunst mit deutschen Befestigungsanlagen.“108 Gründlich befragt wurde der 1944 in Rumänien gefangengenommene Generalleutnant allerdings zu seiner Rolle bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes als Kampfkommandant der Stadt. Die Antworten Stahels zeigen, dass der General die fast 200 000 zivilen Toten als „Kollateralschaden“ betrachtete. Er sei „nicht in der Lage“ gewesen, „die Handlungen der deutschen Truppen zu kontrollieren, aber ich denke, dass der Tod einer großen Anzahl von Zivilpersonen in Warschau eine normale Erscheinung der Straßenkämpfe ist“. Und weiter: „Ich sehe nichts Besonderes darin, dass in einer Reihe von Fällen die Zivilbevölkerung gelitten hat.“ Als ihm der Vernehmer vorhielt, dass die Deutschen Zivilisten mit Panzern überfahren und Frauen vergewaltigt hätten, schob er die Verantwortung den SS-Truppen von Bronislaw Kaminski und dem Polizeiregiment Oskar Dirlewangers zu.109 Wenig später wurde Stahel wegen der ihn zur Last gelegten Kriegsverbrechen zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen war für die Vernehmer von hohem Interesse. Hierzu befragten sie beispielsweise den ehemaligen Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee Generaloberst Schmidt, der 1947 in der SBZ verhaftet worden war: „Unter welchen Bedingungen waren die sowjetischen Kriegsgefange-
106 Vgl. Alexander Solschenyzin, Der Archipel Gulag. 3 Bde. Bern 1973–1976. 107 Vgl. Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 441 ff. 108 Protokoll des Verhörs von Generalleutnant Rainer Stahel, 21. 11. 1951, CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 90. 109 Protokoll des Verhörs von Generalleutnant Rainer Stahel, 25. 8. 1945, CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 41.
Verbrechen und Verbrecher
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nen im Lager von Orjol untergebracht?“ Schmidt gestand ein, dass er das Lager am 28. Dezember 1941 besucht habe, also kurz nachdem er zum Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee ernannt worden war. Unumwunden gab er zu, die Gefangenen hätten „unter äußerst schlechten Bedingungen“ gelitten. Das Lager sei „vollkommen überfüllt“ gewesen, die Räume „überhaupt nicht beheizt“, obwohl bis zu 40 Grad Frost herrschten. Verletzte und kranke Soldaten seien mit den anderen Kriegsgefangenen zusammen gepfercht gewesen. „Sie erhielten auch keine medizinische Versorgung, und die Nahrungsversorgung war ebenfalls unzureichend“, gestand Schmidt ein. Da die Kriegsgefangenen trotzdem zu schwerer Arbeit eingesetzt wurden, war die Sterblichkeit hoch. Schmidt selbst schätzte sie im Januar 1942 auf zehn bis 20 Prozent. Dieser Zustand blieb auch unter seinem Befehl bestehen, denn, so Schmidt, „ich konnte nicht so schnell für eine Verbesserung sorgen.“110 Auch Generaloberst Schmidt wurde von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Die sowjetischen Tribunale urteilten mit Stahel und Schmidt zwei hochrangige Verantwortliche für die Tötung von Zivilisten und Kriegsgefangenen ab. Dabei ließen sie nicht gelten, dass die Befehle für diese jeder Menschlichkeit Hohn sprechende Behandlung andere gegeben hatten.111 Die im Westen später häufig zur Entlastung benutzte Konstruktion des „Befehlsnotstands“ galt für die sowjetischen Richter nicht.112 Aber auch die Amerikaner ließen die aus ihrer Sicht Hauptschuldigen nicht davonkommen. Ein Urheber der Befehle zur Behandlung von Kriegsgefangenen, der General der Infanterie Hermann Reinecke, wurde im OKW-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt.113 Für die Familien der Opfer muss allerdings unbefriedigend gewesen sein, dass Reinecke die amerikanische Haftanstalt Landsberg bereits 1954 verließ. Schmidt wurde als „Spätheimkehrer“ im Januar 1956 aus dem MWD-Gefängnis Nr. 2 in Wladimir in die Bundesrepublik repatriiert.114 Nicht davongekommen ließ die sowjetische Geheimdienstjustiz, wie bereits erwähnt, den Höheren SS- und Polizeiführer im „Ostland“ Jeckeln. Im Sommer 1941 zunächst mit der Polizierung der baltischen Staaten beauftragt, war dieser aber dann
110 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, 2. 4. 1948, CA FSB, Akte Nr. N-21139, Bd. 2, Bl. 24. Zur Rolle von Generaloberst Schmidt im Ostfeldzug und zu seiner Biographie siehe: Johannes Hürter, Hitlers Heerführer, Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006. 111 Vgl. Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette (Hrsg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt am Main 2011, S. 172. 112 In der Sichtweise der sowjetischen Justiz war die deutsche Wehrmacht eine „kriminelle Organisation“, weshalb keiner ihrer Angehörigen verbindliche und von einem Gericht anzuerkennende Befehle habe erteilen können. Vgl. Friedrich-Christian Schroeder, Das Sowjetrecht als Grundlage der Prozesse, in: Hilger/Schmidt/Wagenlehner, Sowjetische Militärtribunale, Bd. 1, S. 79. 113 Wolfram Wette, Fall 12. Der OKW-Prozess (gegen Wilhelm Ritter von Leeb und andere), Frankfurt am Main 2000, S. 208. 114 Irina V. Bezborodova, Generäle des Dritten Reiches in sowjetischer Hand 1943–1956, Graz/Moskau 1998, S. 197.
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sehr rasch in den Völkermord involviert. Weil Jeckeln wegen ankommender Transporte mit Juden aus dem Deutschen Reich und dem besetzten Polen eine Überfüllung des Rigaer Ghettos fürchtete, ordnete der Höhere SS- und Polizeiführer die Erschießung der dortigen Bewohner an. Als ein Transport aus Berlin noch während dieser Mordaktion in Riga eintraf, ließ er die Deportierten zum Ort der Erschießungen umleiten.115 Anfang 1942 stellte Jeckeln eine eigene, nach ihm benannte Kampfgruppe aus Deutschen, Letten und Esten auf, die für die Balten integrierend wirken sollte, aber lediglich zum massenhaften Mord an Juden, Russen und Weißrussen eingesetzt wurde.116 Insgesamt verantwortete Jeckeln einen „Feldzug gegen die Zivilbevölkerung“, weil von „Säuberungsaktionen“ selbstverständlich auch Letten, Esten und Litauer betroffen waren, politisch Missliebige ebenso wie alle der Unterstützung von Partisanen irgendwie „Verdächtigen“.117 Das Verhör mit Jeckeln führte die 2. Abteilung der Hauptverwaltung „Smersch“ mit dem Ziel der Verurteilung, nicht der Wahrheitsfindung. Das Protokoll wurde von einem der deutschen Sprache nicht perfekt mächtigen estnischen NKWD-Mitarbeiter angefertigt, so dass sicher viele Feinheiten verloren gingen. Es zeigt jedoch die Verhörtechnik des Untersuchungsorgans, das einen der Hauptschuldigen am Holocaust in einer Spirale der Anschuldigungen zermürbte. Militärisch gesprochen musste der Angeklagte seine Verteidigungslinien immer weiter zurücknehmen. Die Verantwortung für die toten Kriegsgefangenen schob er der Wehrmacht zu, sicher nicht zu Unrecht. Er musste jedoch zugeben, dass er persönlich am Verhör von Gefangenen beteiligt war – aus Eitelkeit hatte Jeckeln Fotos in der Presse lanciert. Dann wurde er mit Aussagen von Zeugen zum Massenmord konfrontiert, die der ehemalige SS-Obergruppenführer kaum ableugnen konnte. Die Vernehmer gingen dabei auch auf die Pläne der deutschen Landnahme ein, für die auch Balten ihre Ländereien räumen mussten. Für die sowjetischen Ankläger waren damit Morde an Kriegsgefangenen, Juden und Partisanen erwiesen und Jeckelns persönliche Verantwortung festgestellt. Der Schuldspruch folgte rasch, am 3. Februar 1946 wurde er gemeinsam mit Siegfried Ruff und anderen in Riga öffentlich gehenkt. Obwohl das Urteil prozessrechtlichen Gepflogenheiten nicht entsprach, war es ebenso wenig wie die Schuldsprüche gegen Stahel und Schmidt ein Fehlurteil.
115 Vgl. Andrej Angrick, Der Stellenwert von Terror und Mord im Konzept der deutschen Besatzungspolitik im Baltikum, in: Sebastian Lehmann/Robert Bohn/Uwe Danker, Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt, Paderborn u. a. 2012, S. 81. 116 Vgl. Matthew Knoll, Rekrutierung der Waffen-SS im Reichskommissariat Ostland, in: Lehmann/ Bohn/Danker, Reichskommissariat Ostland, S. 140. 117 Vgl. Wolfgang Benz, Im Schatten von Auschwitz? Der Holocaust im Baltikum, in: Lehmann/Bohn/ Danker, Reichskommissariat Ostland, S. 37.
Die Instrumentalisierung der Häftlinge
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Die Instrumentalisierung der Häftlinge Die sowjetische Vergeltungsjustiz wandelte sich jedoch unter den Bedingungen des sehr rasch heraufziehenden Kalten Krieges. Auf öffentliche Hinrichtungen wurde verzichtet, 1947 sogar die Todesstrafe vorübergehend abgeschafft.118 Die Inhaftierten wurden zunächst über ihr Schicksal im Unklaren gelassen, jedoch zu immer neuen und anderen Themen befragt. Auf diese Weise kamen auch Verbrecher davon, etwa der „Judenreferent“ Gustav Richter. Der SD-Offizier war ab 1941 in Rumänien tätig, wo er die Regierung nötigte, sich am Mord an den europäischen Juden zu beteiligen.119 Die Vernehmer befragten Richter nicht nur danach, wie er in Rumänien das System der Deportationen organisierte, sondern auch nach der Irgun, der jüdischen Widerstandsbewegung in Palästina. Richter wurde 1955 aus der sowjetischen Haft entlassen und in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik wegen „Beihilfe zum Mord“ zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Während Richter nachrichtendienstliche Erkenntnisse weitergab, schien es sich beim Generalarzt Walter Schreiber um einen nützlichen Belastungszeugen für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zu handeln. Schreiber war von 1943 bis 1945 Chef der für Forschungen zuständigen Lehrgruppe C der Militärärztlichen Akademie in Berlin und hatte sich schriftlich erklärt. Stalin befand die Äußerungen für brauchbar und Schreiber trat im August 1946 vor dem Tribunal als Zeuge zu den Forschungen der Wehrmacht auf dem Gebiet der bakteriologischen Kriegsführung auf.120 Der Wert dieser Aussagen für die Geschichtswissenschaft ist begrenzt, der Duktus seiner Erklärung zeigt jedoch, warum ihn die sowjetischen Offiziere für einen „Antifaschist und Demokraten“ hielten und im Hinblick auf seine politische Zuverlässigkeit „als Anhänger eines einheitlichen demokratischen Deutschlands und der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion“ positiv bewerteten. Es war geplant, Schreiber als Chefmediziner der Volkspolizei einzusetzen, weshalb ihn die Sowjets schon im März 1948 in die SBZ repatriierten. Kurz nach seiner Ankunft in der sowjetischen Besatzungszone setzte sich der ehemalige Wehrmachtsgeneral allerdings nach West-Berlin ab.121 Dort wurde er zunächst vom amerikanischen Militärgeheimdienst
118 Vgl. Nikita Petrov, Die Todesstrafe in der UdSSR, in: Andreas Hilger (Hrsg.), „Tod den Spionen!“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006, S. 52. 119 Vgl. Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007, S. 83 ff. 120 Vgl. Erklärung von Schreiber über die Vorbereitung des bakteriologischen Krieges gegen die UdSSR, 10. 4. 1946, GARF, Bestand 7455, Findbuch 2, Akte Nr. 136, Bl. 364–390. Zu Schreibers Rolle als Zeuge in Nürnberg siehe auch: Erhard Geißler, Biologische Waffen – nicht in Hitlers Arsenalen. Biologische und Toxin-Kampfmittel in Deutschland von 1915–1945, Münster 1999, S. 773–780. 121 Schreiben von Kruglov an Molotov über die Flucht des ehemaligen Generalmajors des medizinischen Dienstes der Wehrmacht Walter Schreiber in den amerikanischen Sektor von Berlin, 27. 10. 1948, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 204, Bl. 363–365.
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Counter Intelligence Corps unter Vertrag genommen und dann im Rahmen des Projektes „Paperclip“ 1951 in die USA geschafft, wo er auf der Randolph Air Force Base für die US-Luftwaffe arbeitete. 1952 floh Schreiber wegen eines Presseartikels, der ihn mit Menschenversuchen in den Konzentrationslagern in Verbindung brachte, nach Argentinien.122 Tatsächlich nahmen Mitglieder der Lehrgruppe C Experimente an Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenhausen vor, wozu Schreiber jedoch in sowjetischer Haft keine Angaben machte.123 Da immer noch wesentliche Archivalien der sowjetischen Diktatur geheim gehalten werden, ist die Zahl der zugänglichen Dokumente gering, aus denen die Vernehmer militärischen Mehrwert im engeren Sinne zogen. Besonders eindrucksvoll ist allerdings ein Schriftstück des Geheimdienstes, das Stalin am 7. März 1945 vorgelegt wurde. Darin informierte Generalleutnant Eberhard von Kurowski – am 21. Juli 1944 als Kommandeur der 110. Infanteriedivision im Raum Minsk gefangen genommen – detailliert über die deutschen Verteidigungsstellungen an der Ostfront. Weiter, so teilte Berija in seinem Begleitschreiben an Stalin, Molotow und Alexei I. Antonow mit, „legt er seine Erwägungen über die seiner Meinung nach sinnvollsten Richtungen der weiteren Angriffsoperationen der Roten Armee in Deutschland dar.“ 124 Kurowski schlug den sowjetischen Streitkräften mehrere strategische Vorgehensweisen vor und informierte über geographische und wirtschaftliche Gegebenheiten. Inwieweit diese Konzepte in die Kriegsplanung eingingen, ist noch immer unklar. Zu diskutieren wäre, inwieweit die sowjetische Strategie und Taktik in der letzten Kriegsphase von den Aussagen deutscher Militärs bestimmt war. Ganz sicher war es nicht allein das militärische Talent des Marschalls Georgi K. Schukow, das den Krieg zu einem schnellen Ende brachte. Die Aussagen deutscher Militärs in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dürften ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen haben. Ein weiterer Bericht, der Stalin von Geheimdienstchef Berija vorgelegt wurde, betraf die Chemiewaffen der Wehrmacht. Oberstleutnant Gerhard Westerburg, der von 1940 bis 1942 beim Heereswaffenamt in der Abteilung Wa Prüf 9 an der Erprobung von Kampfstoffen wie Tabun und Lost beteiligt war und als Kommandeur der III. Abteilung des 51. Werfer-Regimentes bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, informierte im März 1945 über deutsche Waffenentwicklungen auf diesem Gebiet vor und während des Zweiten Weltkrieges.125 Offensichtlich war das Material so interessant, dass Westerburg weiter zu den ihm bekannten Vorgängen bei der deutschen Kampfstoffentwicklung befragt wurde. Die allgemeine Führung des
122 Annie Jacobsen, Operation Paperclip. The Secret Intelligence Program that Brought Nazi Scientists to America, New York 2014, S. 356 ff. 123 Vgl. Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 2012, S. 259–268. 124 Schreiben von Berija an Stalin, 7. 3. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 93, Bl. 299–317. 125 Vgl. Schreiben des NKVD an Stalin mit den Aussagen des deutschen Oberstleutnants Westerburg über deutsche Chemiewaffenentwicklungen, 10. 3. 1945, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 93, Bl. 353–365.
Die Überlieferung im Vergleich
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Gaskrieges hätte in den Händen Hitlers als Oberstem Befehlshaber und dem Wehrmachtsführungsstab gelegen. Unrichtigerweise behauptete Westerburg, dass sich Deutschland „mit den Fragen des Gaskrieges seit 1933 beschäftigt“ hätte. Tatsächlich kam nach dem Ersten Weltkrieg nur die institutionalisierte Kampfstoffforschung zum Erliegen. An Universitäten wurde zum Thema weiterhin geforscht, wobei diese Forschungen durch die Reichswehr finanziert wurden. Die Reichswehr unterstützte auch die spanische Kolonialarmee bei der Niederschlagung des Aufstandes der Rifkabylen in Marokko 1924. Dabei entsandte sie technische Experten, die den Einsatz von Schwefel-Lost aus der Luft anleiteten.126 Die Feststellung Westerburgs, „nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Vergrößerung der Armee“ habe es „aktive Vorbereitungen zum Gaskrieg“ gegeben, war jedoch richtig.127 Danach benannte Westerburg, dem sowjetischen Analyseschema Wer-ist-wer folgend, die verantwortlichen Personen und beschrieb die einzelnen Kampfstoffe. Im Juli 1946 legte man Stalin schließlich einen neuen, noch umfassenderen Bericht vor. Augenscheinlich sollte das Papier für die sowjetische Anklagevertretung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess genutzt werden.128 Da die Sowjetunion jedoch selbst intensiv an chemischen Waffen forschte und hierfür auch das in ihre Hände gefallene deutsche Potential nutzte, unterblieb eine Weiterverwendung des von Westerburg gelieferten Materials durch die sowjetischen Militärstaatsanwälte in Nürnberg.129
Die Überlieferung im Vergleich Im Hinblick auf die Behandlung der kriegsgefangenen hochrangigen Offiziere zeichnet sich ein Muster ab. Offensichtliche Kriegsverbrecher wie Jeckeln, Stahel oder Weidling wurden ohne große Umschweife abgeurteilt. Sie erhielten die Todesstrafe oder nach 1947 das Äquivalent für eine lebenslange Freiheitsstrafe, 25 Jahre Haft. Die Urteile wurden nicht selten bei Gnadengesuchen der Verurteilten vom Obers-
126 Vgl. Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie, Göttingen 2005, S. 23. 127 Vgl. Olaf Groehler, Der lautlose Tod, Berlin 1990, S. 203–211. 128 Vgl. Schreiben von Kruglov an Stalin: Über die Aussagen des kriegsgefangenen Oberstleutnant Westerburg über die Entwicklung von Chemiewaffen in Deutschland, 2. 7. 1946, GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 137, Bl. 386–420. 129 Aufgrund immer noch gesperrter Akten ist es leider nicht möglich, genau zu bestimmen, wie die UdSSR von der Nutzung der deutschen Giftgastechnologie profitierte, unbestritten ist jedoch, dass nach 1945 die Kampfstoffe Tabun (sowjetischer Index R-18) und Sarin (R-35) zum Chemiewaffenarsenal der Sowjetarmee gehörten. Vgl. Christoph Mick, Forschen für Stalin. Deutsche Fachleute in der sowjetischen Rüstungsindustrie 1945–1958, München/Wien 2000, S. 102, 158; Ulrich Albrecht/Andreas Heinemann-Grüder/Arend Wellmann, Die Spezialisten. Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945, Berlin 1992, S. 154 f.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
ten Gericht der UdSSR nochmals überprüft. Dabei wird deutlich, dass die sowjetische Justiz, obwohl sie Teil des stalinistischen Systems war, durchaus nicht „kurzen Prozess“ mit den Angeklagten machte. Sie ließ sich dabei leiten vom Geist des Gesetzes des Alliierten Kontrollrats Nr. 10 betreffend die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben.“ Dort heißt es unter Artikel II, Punkt vier, Absatz a): „Die Tatsache, dass jemand eine amtliche Stellung eingenommen hat, […] befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen und ist kein Strafmilderungsgrund.“ Absatz b) schließt den später oft bemühten Befehlsnotstand aus: „Die Tatsache, daß jemand unter dem Befehl seiner Regierung oder seines Vorgesetzten gehandelt hat, befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen; sie kann aber als strafmildernd berücksichtigt werden.“130 Die Antwort auf die Frage, ob die Urteile gegen die hochrangigen Gefangenen „gerecht“ waren, liegt im Ermessen des Betrachters. Die Tatsache, dass die sowjetischen Behörden Täter wie den Arzt Schreiber davonkommen ließen, wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf die Verfahren. Es gab auch Fälle von Personen, die wegen ihrer angeblich faschistischen Nachkriegstätigkeit oder nach ungerechtfertigten Denunziationen liquidiert wurden. Nicht zuletzt wegen solcher Fälle wurden zahlreiche Urteile der stalinistischen Justiz in den 1990er Jahren noch einmal überprüft und zahlreiche Rehabilitierungen ausgesprochen. Die Anträge hierzu wurden entweder von der deutschen Botschaft in Moskau, von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten oder von Privatpersonen gestellt. Gleichzeitig prüften die zuständigen Militärstaatsanwaltschaften jedoch auch selbstständig und ohne Antrag entsprechende Prozessakten. Vor allem die Opfer politischer Prozesse und verurteilte Wehrmachtsangehörige, die beispielsweise wegen Spionage gegen die UdSSR angeklagt worden waren, wurden in der Regel rehabilitiert.131 Im Gegensatz hierzu wurde die Rehabilitierung von hochrangigen Kriegsverbrechern, wie beispielsweise von Weidling, in der Regel abgelehnt (siehe Dokument 4.29).
130 Vgl. Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates in Deutschland über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, 20. 12. 1945, http://www.1000dokumente.de (4. 5. 2015). 131 Allgemein zur Rehabilitierung deutscher Staatsbürger siehe: Galina Vesnovskaja, Das Rehabilitierungsgesetz vom 18. Oktober 1991 und seine Anwendung auf deutsche Bürger, in: Klaus D. Müller/ Konstantin Nikischkin/Günther Wagenlehner (Hrsg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1998, S. 417–424; Vladimir Kupec, Probleme bei der Rehabilitierung politisch verfolgter deutscher Staatsbürger, in: ebd., S. 425–438; Leonid Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung widerrechtlich repressierter deutscher Staatsangehöriger, in: Hilger/ Schmidt/Wagenlehner, Sowjetische Militärtribunale, Bd. 1, S. 353–383. Bis heute wird die Rehabilitierung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener fortgesetzt. Beispielsweise wurde am 2. 5. 2011 von der Militärstaatsanwaltschaft des Militärbezirks Osten auf Antrag seines Sohnes der ehemalige Ic des IV. Armeekorps Hans Bernhard Crome rehabilitiert, der bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war und als Abwehroffizier wegen Spionage am 24. 10. 1949 zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Siehe Rehabilitierungsbescheid Hans Bernhard Crome, 12. 5. 2011.
Bemerkungen zur Edition
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Dieser Blick auf die sowjetische Justiz in der Stalinära ist auch deshalb wichtig, weil ihre Ermittlungsorgane die Entwicklung in ganz Osteuropa beeinflussten.132 Ihre Ausformung als Symbiose von Ermittlungs- und Repressionsorgan und zugleich als Nachrichtendienst produzierte Dokumente, wie sie so nur in dieser Zeit entstehen konnten.
Bemerkungen zur Edition Die hier präsentierte Auswahl von Dokumenten ist der Beginn einer Rekonstruktion. Sie bieten einen bisher nicht für möglich gehaltenen Einblick in die stalinistische Justiz und die Art und Weise der mit ihr verbundenen geheimdienstlichen Informationsgewinnung. Dabei erscheint die Wichtigkeit, die diese Aussagen für die sowjetische Staatsführung hatten, in der Rückschau als verblüffend. Politbüromitglied und NKWD-Chef Berija wurde häufig mit detaillierten Berichten („Sprawkas“) über Verhöre von wichtigen Kriegsgefangenen versorgt, die er dann an Stalin, Außenminister Molotow, Generalstabschef Armeegeneral Alexei I. Antonow oder Rüstungsminister Dimitrij F. Ustinow weiterleitete.133 Die hier publizierten Aktenstücke stammen zum Großteil aus dem Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation, einem Geheimdienstarchiv, das für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und – weil für die Belange der eigenen Behörde und nicht für die historische Forschung ausgerichtet – einen ungehinderten Umgang mit den dort überlieferten Akten nicht kennt. Gleichwohl konnten für die Edition die Untersuchungsakten der hier genannten Wehrmachtsgenerale von den Herausgebern vollständig eingesehen und in der hier vorliegenden Auswahl präsentiert werden. Insgesamt sind im Zentralarchiv des FSB rund 30 000 Aktenbände vorhanden, die Untersuchungsmaterial gegen Deutsche und Staatsangehörige der mit Deutschland verbündeten Staaten wegen Kriegsverbrechen, Spionage und andere Straftaten enthalten.134 Die von den Herausgebern vorgelegten Dokumente werden zumeist vollständig abgedruckt, auf Kürzungen wurde in der Regel – trotz der Gefahr von Wiederholungen und schlechterer Lesbarkeit – bewusst verzichtet. Soweit das deutsche Original in den Akten greifbar war, wurde dieses verwendet. Das Gemeinschaftsprojekt von FSB und DHI sah
132 Diese Prägung der osteuropäischen Staaten war beabsichtigt, wie die Planungen des Zentralkomitees der VKP(b) aus dem Jahr 1944 zeigen. Vgl. Stefan Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System, Weimar/Köln 1996, S. 21 ff. 133 Vgl. Vasilij S. Christoforov/Stanislav A. Korenkov/Aleksandr Ju. Bondarenko, Voennaja Kontrrazvedka, Istorija, sobytija, ljudi. Kniga pervaja, Moskva 2008, S. 136. 134 Vgl. Vasilij S. Christoforov, Stalingrad. Organy NKVD nakanune i v dni sraženija, Moskva 2008, S. 126.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
von Anbeginn eine Edition in deutscher und russischer Sprache vor.135 Die Auswahl und die Kommentierung der Dokumente orientierten sich am unterschiedlichen Forschungsdiskurs der beiden Länder. Korrigiert wurden dabei frühere sowjetische Veröffentlichungen und deren deutsche Übersetzungen, die in der Zeit des Kalten Krieges mit politischer Stoßrichtung lanciert wurden.136 Wegen der Restriktionen beim Archivzugang konnten nicht alle wünschenswerten Themen behandelt werden. So wird die Anwerbung von kriegsgefangenen Offizieren und Generalen, die als zukünftige Agenten des politischen sowie militärischen Auslandsnachrichtendienstes der UdSSR in die Heimat repatriiert wurden, aus Gründen des Quellenschutzes noch immer geheim gehalten. Der Aktenzugang in britischen und amerikanischen Archiven gestaltet sich ungleich einfacher. Die Akten zur Befragung von deutschen Kriegsgefangenen durch den britischen Geheimdienst MI 5 sind überwiegend einsehbar, obwohl eine Transparenz für den Historiker nicht immer gegeben ist.137 In London sind auch weitere Quelle für die historische Forschung zugänglich gemacht worden. Dabei handelt es sich um Abhörprotokolle aus „verwanzten“ Unterkünften von Offizieren und Wissenschaftlern. Die Mitschriften der auf dem Landsitz Farm Hall (bei Cambridge) internierten deutschen Atomwissenschaftler sind 1993 publiziert worden.138 Die Protokolle der abgehörten Generale des Offizierslagers Trent Park, ebenfalls ein stattlicher Landsitz mit bestem Komfort, wurden 2005 von Sönke Neitzel publiziert.139 Seine Untersuchungen über das Offizierskorps der Wehrmacht in westlicher Kriegsgefangenschaft beruhen auf Gesprächen, welche die deutschen Generale und Offiziere untereinander führten. Hier bestand also keine Verhörsituation, in der die Gefangenen bei ihren Antworten vieles verbergen wollten oder den interessierenden Sachverhalt erst einmal verzerrt darstellten. Die Handelnden waren nicht darauf bedacht, belastende oder sogar gerichtsverwertbare Äußerungen zu vermeiden. Der Wert dieser Aussagen für die Geschichtswissenschaft liegt darin, dass sie unterschiedlichen Einschätzungen widerspiegeln, etwa als ein General der Waffen-SS mit einem Wehrmachtsgeneral in einen heftigen Disput im Dezember 1944 über einen möglichen Friedensschluss eintrat.140 Die Aussagen zu den Verbrechen der Wehrmacht und zum Holocaust bewegen sich jedoch im Ungefähren. Bei der von Neitzel gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer vorgenommenen Durchsicht des Quellenkorpus auf seine Aussa-
135 Christoforov/Makarov, Generaly. 136 Vgl. Voenno-istoričeskij žurnal, 1961, Nr. 4, S. 83 ff.; Wilhelm Arenz, Die Vernehmung von Generaloberst Jodl durch die Sowjets, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 11 (1961), S. 534–542; Wilhelm Arenz, Die Vernehmung von Generalfeldmarschall Keitel durch die Sowjets, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 11 (1961), S. 651–662. 137 So war die Akte von Walter Hirsch, dem Kommandeur der Nebeltruppe, in den Londoner National Archives freigegeben, ist jedoch zur Zeit (2013) für die Nutzung gesperrt. 138 Vgl. Dieter Hoffmann, Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993. 139 Neitzel, Abgehört. 140 Vgl. ebd., S. 163 f.
Bemerkungen zur Edition
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gekraft zeigte sich, dass die „Ehrlichkeit“ immer dann abnahm, wenn es ein individuelles Schuldbewusstsein gab. Die Täter ordneten ihr Handeln in einen moralischen „Referenzrahmen“ ein, wodurch sie das Anstößige empfanden und nicht darüber sprachen.141 Solche Fragestellungen für den heute wichtigen Bereich der Täterforschung sind erst in den letzten Jahren formuliert worden. Overy etwa nutzte die in den amerikanischen und britischen Lagern entstandenen Verhörprotokolle zum Aufzeigen der Schwierigkeiten der Justiz, für die Täter selbst brachte er in dem 2001 publizierten Werk „Verhöre“ relativ wenig Interesse auf.142 Anders Römer, dem die Abhörprotokolle des amerikanischen Kriegsgefangenenlagers Fort Hunt im Bundestaat Virginia zur Verfügung standen. Dort wurden seit 1941 gerettete U-Boot-Matrosen ebenso interniert wie Kommandeure der 1944 gefallenen Festung Metz. Dabei wurden die eleganten Abhörmethoden des britischen Nachrichtendienstes allerdings nur zum Teil übernommen.143 Im Zentrum stand die Gewinnung von Informationen für die Kriegsführung, wobei man wie in Moskau – aber im Gegensatz zu Trent Park – Zellenspitzel einsetzte.144 Das Interesse war jedoch primär militärisch, denn selbst bei erwiesener Schuld führten die ermittelten Vorgänge nicht zur Anklage. So wurde der Unteroffizier Fritz Swoboda, der als SS-Angehöriger häufig Liquidierungen vornahm und beim Kampfeinsatz bei der Waffen-SS amerikanische Kriegsgefangene erschoss, niemals angeklagt. Trotz gegenteiliger Voten der abhörenden Offiziere schob man Swoboda in ein Lager „Minderbelasteter“ ab und entließ ihn schon im Mai 1947.145 Der Quellenwert der scheinbar frei geäußerten Aussagen im Westen ist umstritten. Nicht wenige der diktaturerfahrenen Gefangenen vermuteten, dass sie abgehört wurden.146 Diese Frage stellte sich für die Gefangenen in der Sowjetunion nicht. Ihnen war klar, dass sie zum Tod verurteilt würden, wenn sie sich selbst belasteten. Trotzdem gaben sie Auskunft, ein Massenmörder wie Jeckeln ebenso wie die „Schreibtischtäter“, etwa der Gesandte Richter. Nahezu alle deutschen Generale, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, gaben während ihrer Verhöre bereitwillig und ausschöpfend Auskunft zu den gestellten Fragen. Viele gingen sogar noch einen Schritt weiter und erstellten für die sowjetischen Geheimdienste Dossiers zu politischen und militärischen Fragen, die für Stalin und die Führungsriege der UdSSR von Interesse waren. Während die westliche Seite in der Regel Geld einsetzte und
141 Vgl. Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/Main 2011, S. 168. 142 Vgl. Overy, Verhöre, S. 34–50. 143 Als Verbindungsoffizier des britischen Nachrichtendienstes fungierte Ian Fleming, der spätere Autor der James-Bond-Romane. Bei der Implementierung des britischen Systems betonte er, dass die verschiedenen Methoden der Informationsgewinnung im Ersten Weltkrieg erprobt worden seien. 144 Vgl. Römer, Kameraden, S. 32 f. 145 Vgl. ebd., S. 413. 146 Vgl. Neitzel, Abgehört, S. 21 f.
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Einleitung: Sowjetische Geheimdienstquellen
die deutschen Experten in eigens dafür geschaffenen Organisationen beschäftigte147, um an solche Schriften zu gelangen, standen der sowjetischen Diktatur hier völlig andere Druckmittel zur Verfügung als den Demokratien des Westens. Eine Distanz zu den Protokollen dieser sowjetischen Verhöre und im Hinblick auf die Selbstauskünfte ist jedoch geboten. Den Aussagen der Wehrmachtsoffiziere ist ebenso wie den sogenannten Selbstauskünften der Gefangenen mit Vorsicht zu begegnen. Andererseits ist bei einem dem Sterben nahen Autobiografen wie Kleist ein gewisser Fatalismus zu bemerken, der Ehrlichkeit nahelegt. Wie jede Aussage von Zeitzeugen dürfen die von den Offizieren in Gefangenschaft des sowjetischen Geheimdienstes gemachten Aussagen nicht allein als Wiedergabe historischer Fakten angesehen werden. Es sind subjektive Darstellungen von Standpunkten und Ereignissen, die stark von den Fragen der Vernehmer sowie von der Verhörsituation beeinflusst waren. Im Einzelfall konnte sie sich stark unterscheiden, wie die beiden Extreme Jeckeln und Kleist zeigen. Wie die Protokolle der westlichen „Interrogations“ und die Mitschriften abgehörter Gespräche sind sie sperrige Dokumente, die der Interpretation bedürfen und jetzt der historischen Forschung zur Verfügung gestellt werden. Die Herausgeber verknüpfen damit die Erwartung, dass ihre Edition den wissenschaftlichen Diskurs befruchtet. Das Interesse der historischen Forschung hat sich erst in den letzten Jahren verstärkt den Akteuren der zweiten und dritten Reihe zugewandt. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist ohne ihre Sicht jedoch unvollständig. Die Herausgeber danken vor allem der Alfried Krupp von Bohlen und HalbachStiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für die großzügige finanzielle Förderung der Edition und den ständig hilfsbereiten Mitarbeitern des Zentralarchivs des FSB, ohne die die Herausgabe der Dokumente nicht möglich gewesen wäre. Unser Dank geht aber auch vor allem an Henrik Eberle – der einen Teil der Fußnoten verfasste und die Redaktion übernahm, Wiebke Jansen, Lars Jockheck, Thomas Pruschwitz, Alexander Repnikow, Ottmar Trascar, Kevin Treuger und Wladimir Zacharow. Moskau, im September 2015 Generalleutnant Prof. Dr. Wassili Stepanowitsch Christoforow, Leiter der Verwaltung Registratur und Archivbestände des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation Moskau Dr. Wladimir Gennadjewitsch Makarow, Mitarbeiter der Verwaltung Registratur und Archivbestände des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation Moskau Dr. Matthias Uhl, Deutsches Historisches Institut Moskau
147 Vgl. Bernd Wegner, Erschriebene Siege. Franz Halder, die „Historical Division“ und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkrieges im Geist des deutschen Generalstabes, in: Ernst Willi Hansen/ Gerhard Schreiber/Bernd Wegner (Hrsg.): Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit München 1995, S. 287–302; Jens Wegener, Die Organisation Gehlen und die USA. Deutschamerikanische Geheimdienstbeziehungen 1945–1949, Berlin 2008.
1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg) Am 30. Juni 1945 übergab Lawrenti Berija1, Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, einen Bericht des Kommissars der Staatssicherheit Iwan Serow2 über die Verhöre von Göring3, Dönitz4, Keitel5 und anderen deutschen Generalen, die sich bei den West alliierten befanden, an Josef Stalin6, Vorsitzender des GKO7, Staatliches Komitee für Verteidigung, und den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare der UdSSR, Wjatscheslaw Molotow8.
1 Lavrentij P. Berija (1899–1953), seit 1938 Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR. – Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird im Text für russische Namen die Duden-Transkription verwendet, in den Fußnoten die wissenschaftliche Transliteration, um die Überprüfbarkeit zu gewährleisten. 2 Ivan A. Serov (1905–1990), Leiter der NKVD-Sektion in Deutschland, ab 1945 Leiter der Zivilverwaltung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). 3 Hermann Göring (1893–1946), Reichsmarschall, 1912–1920 Berufssoldat, zunächst Infanterist, dann Flieger, 1922 Beitritt zur NSDAP und SA, seit 1928 Mitglied des Reichstages, seit 1932 Reichstagspräsident, seit 1933 Reichsluftfahrtminister, 1935 Oberbefehlshaber der Luftwaffe, 1936 Beauftragter für den Vierjahresplan, 1939 Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung, offiziell zum Stellvertreter und Nachfolger Hitlers als Reichskanzler ernannt, seit 1940 als Reichsmarschall ranghöchster deutscher Soldat, am 23. 4. 1945 durch Hitler aller Ämter enthoben und verhaftet, seit 8. 5. 1945 in US-Gewahrsam. 15. 10. 1946 Suizid nach Todesurteil im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess. 4 Karl Dönitz (1891–1980), Großadmiral, seit 1910 Berufssoldat, seit 1935 mit dem Aufbau der U-BootFlotte beauftragt, 1939 Befehlshaber der Unterseeboote, seit 1943 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, am 30. 4. 1945 durch Hitler testamentarisch zum Reichspräsidenten und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht ernannt, am 23. 5. 1945 in Flensburg von den Briten verhaftet. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess 1946 zu 10 Jahren Haft verurteilt, die er vollständig verbüßte. 5 Wilhelm Keitel (1882–1946), Generalfeldmarschall, seit 1901 Berufssoldat, seit 1915 in Stabsverwendungen, seit 1938 Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), in der Nacht vom 8. zum 9. 5. 1945 in Berlin-Karlshorst Unterzeichner der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Am 13. 5. 1945 in Flensburg von den Briten verhaftet. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 6 Iosif V. Stalin (eigentlich Džugašvili; 1879–1953), sowjetischer Staats- und Parteichef, zugleich Vorsitzender des GKO. 7 Gosudarstvennyj Komitet Oborony (GKO) = Staatliches Komitee für Verteidigung, oberstes außerordentliches staatliches Organ der UdSSR während des Großen Vaterländischen Krieges unter Vorsitz von Iosif V. Stalin, gegründet am 30. 6. 1941 auf Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, des ZK der Kommunistischen Partei und des Rates der Volkskommissare der UdSSR, Es leitete die Tätigkeit aller kriegswichtigen Institutionen und war mit sämtlichen hierfür erforderlichen Kompetenzen ausgestattet. 8 Vjačeslav M. Molotov (eigentlich Skrjabin, 1890–1986), 1941–1949 Volkskommissar bzw. ab 1946 Minister für Äußere Angelegenheiten und 1941–1957 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare bzw. seit 1946 des Ministerrates der UdSSR.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
1.1 Mitteilung des Bevollmächtigten des NKWD9 der UdSSR bei der 1. Belorussischen Frontüber die Verhöre der deutschen Generale, die sich bei den Alliierten befinden, Berlin, 25. Juni 1945 An den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Genosse Berija, L. P. Während des Besuches von Genosse Schukow10 in Eisenhowers11 Stab12 anlässlich der Überreichung der Orden des Sieges13 erhielt Genosse Oberst der Staatssicherheit Korotkow14 im Gespräch mit dem Abwehrchef in Eisenhowers Stab, Generalleutnant der britischen Armee Strong15, gemäß unseres Auftrages das Einverständnis, einige Kriegsgefangene der deutschen Armee zu verhören. In diesem Zusammenhang wurde uns am 16. Juni 1945 eine Gruppe von Offizieren zur Fahrt in Eisenhowers Stab zugeteilt. Diese Gruppe führte Oberst der Staatssicherheit Potaschew16 (Leiter der Untersuchungsabteilung der Transportverwaltung
9 Narodnyj Komissariat Vnutrennich Del (NKVD) = Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR. 10 Georgij K. Žukov (1896–1974), Marschall der Sowjetunion, 1915 eingezogen, seit 1918 in der Roten Armee, 1941 Chef des Generalstabs, Oberbefehlshaber an der sowjetischen Westfront, zuletzt Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front, zugleich seit 1942 1. Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR und Stellvertreter des Oberkommandierenden der Roten Armee, nahm am 8. 5. 1945 in Berlin-Karlshorst im Namen des Oberkommandos der Roten Armee die Kapitulation des Oberkommandos der Wehrmacht entgegen. 11 Dwight D. Eisenhower (1890–1969), US-General der Armee, seit 1911 Berufssoldat, seit 1942 Leiter des US-Hauptquartiers in Europa, 1943 Oberbefehlshaber der Alliierten Truppen bei den Landungen in Süditalien und der Normandie, von Kriegsende bis November 1945 Militärgouverneur der US-Besatzungszone in Deutschland. 12 Gemeint ist Eisenhowers Hauptquartier, das SHAEF (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force). Im russischen Manuskript wird für Hauptquartiere aller Art stets die Bezeichnung „Stab“ verwandt. 13 Orden des Sieges (Orden Pobeda), höchster militärischer Orden der UdSSR, wurde insgesamt nur 22-mal verliehen, im o. g. Zusammenhang durch Marschall Žukov an General Dwight D. Eisenhower und Marschall Bernard Montgomery überreicht. 14 Aleksandr M. Korotkov (1909–1961), seit 1928 beim Auslandsnachrichtendienst (INO), 1938 Abberufung in die Sowjetunion und aus dem NKVD ausgeschlossen, von Berija 1939 reaktiviert, 1940–1941 stellv. Resident in Berlin, ab 1941 Leiter der Deutschland-Abteilung der INO, 1945 Resident des NKGB in Berlin, 1946–1953 Leiter der Verwaltung Illegale Aufklärung der INO, 1954–1957 in gleicher Funktion beim KGB, 1957–1961 KGB-Resident in Ost-Berlin. 15 Kenneth Strong (1900–1982), britischer Generalmajor, seit März 1943 stellv. Stabschef für Nachrichtenwesen (G-2) in Eisenhowers Alliiertem Hauptquartier. 16 Aleksej I. Potašev (1909–1987), seit 1929 bei der Geheimpolizei, 1941 Chef des NKVD im Gebiet Kursk, 1942 Leiter der Untersuchungsabteilung der Transportverwaltung, 1943–1947 Leiter der 3. Verwaltung des NKGB, 1945 Untersuchungsführer beim Stab der SMAD, 1947 Minister für Staatssicherheit in der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1948 in die Reserve versetzt und später in untergeordneter Funktion verwandt, 1956–1959 stellvertretender Chef des Butyrka-Gefängnis.
1.1 Mitteilung des Bevollmächtigten des NKWD der UdSSR bei der 1. Belorussischen Front
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des NKGB17 der UdSSR), Oberst Smyslow18 (Abwehrabteilung des Front-Stabs), Hauptmann Besymenskij19 (Frontstab), Oberst der Marine Frumkin20 und als Übersetzerin Majorin der Staatssicherheit Frenkina21. Dieser Gruppe von Offizieren war eine mit der Unterschrift des Chefs [des Stabes] der Front – Genosse Malinin22 – versehene, an die Adresse von Eisenhowers Stabschef, Generalleutnant Smith23, gerichtete Notiz mitgegeben worden. In ihr war ausgeführt, dass sie auf Grund der Absprachen mit General Strong gekommen sind, um Kriegsgefangene der deutschen Armee zu verhören. Oberst der Staatssicherheit Genosse Potaschew hatte die Aufgabe, Keitel, Göring und andere über von den Deutschen für den Kampf gegen die Rote Armee gebildete Untergrundorganisationen, die sie auf unserem Territorium zurückgelassen hatten, zu befragen. Er sollte auch den Aufenthaltsort der Organisatoren herausfinden. Weiterhin sollte er Personen aus der deutschen Armee und den Straforganen ermitteln, die persönlich die Anwerbung und Einschleusung von Agenten in die Sowjetunion betrieben haben und wo sich diese Personen derzeit aufhalten. Den Offizieren des Frontstabs war aufgetragen worden, eine Reihe von militärischen Fragen zu klären. Nach seiner Ankunft in Frankfurt am Main24 wurde Genosse Potaschew von Eisenhowers Stabschef, Generalleutnant Smith, empfangen. Er teilte ihm nach einem kurzen Gespräch mit, dass Strong nicht dazu bevollmächtigt war, solche prinzipiellen Fragen zu entscheiden, und auch nicht das Recht hatte, sein Einverständnis zum Verhör der Kriegsgefangenen zu erteilen. Außerdem bemerkte Smith, dass sich Moskau sehr oft über unabsichtliche Überflüge anglo-amerikanischer Flugzeuge über die Grenzen beschwert und auch wegen einiger Armeeangehöriger
17 Narodnyj Komissariat Gosudarstvennoj Bezopasnosti (NKGB) = Volkskommissariat für Staats sicherheit der UdSSR. 18 Aleksandr M. Smyslov (1904–?), Oberst, Offizier des Militärgeheimdienstes, 1944–1945 Leiter des Referats Information der Aufklärungsabteilung der 1. Belorussischen Front. 19 Lev A. Bezymenskij (1920–2007), Hauptmann, während des 2. Weltkrieges als Aufklärungsoffizier und Dolmetscher für die Marschälle Rokossovskij und Žukov tätig, nach Kriegsende im Rahmen einer Geheimaktion mit der Erforschung des Berliner Führerbunkers befasst. 20 Naum S. Frumkin (1905–1998), Oberst, seit 1921 Angehöriger der Roten Armee, seit 1929 bei der Flotte, ab 1938 Chef der Aufklärungsabteilung der Baltischen Flotte, ab 1944 Gehilfe beim Hauptstab der Seekriegsflotte, Beobachter beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess, 1948/49 Chef der Sektion Information beim wissenschaftlich-technischen Komitee der Seestreitkräfte, ab 1948 in der Redaktion für den Marine-Atlas beschäftigt. 21 Frenkina (?–?), Majorin der Staatssicherheit, Mitarbeiterin des Sekretariats des NKVD, seit 1939 persönliche Referentin und Übersetzerin von Geheimdienstchef Berija. 22 Michail S. Malinin (1899–1960), Generaloberst, seit 1919 in der Roten Armee, ab 1941 Stabschef verschiedener Fronten, ab 1943 der 1. Belorussischen Front. Nach 1945 Generalstabschef der Sowjetischen Truppen in Deutschland, 1948 der Roten Armee. 23 Walter Bedell Smith (1895–1961), US-General, seit 1917 Berufssoldat, seit September 1942 Stabschef in Eisenhowers Alliiertem Hauptquartier. 24 Seit Juni 1945 Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen in Deutschland.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
der alliierten Truppen auf dem Territorium, das von sowjetischen Streitkräften kontrolliert wird. Nebenbei interessierte sich Smith auch dafür, welche Reiseroute unsere Gruppe von Offizieren nimmt, und wo die Überprüfung der Dokumente durch die amerikanischen Posten stattfindet. Danach rief General Smith bei General Strong an und sprach mit ihm mit erhobener Stimme. Wie aus dem Gespräch zwischen Smith und Strong hervorging, rechtfertigte sich der Letztere damit, dass er keinesfalls sein Einverständnis zum Verhör der deutschen Kriegsgefangenen durch russische Offiziere erteilt habe. Er habe lediglich gesagt, dass man Verhandlungen über die Möglichkeit von Verhören auf der Basis des gegenseitigen Austausches dieser Verhöre [d. h. der Verhörprotokolle] führen kann. Nach dem Gespräch mit Strong erklärte Smith, dass für die Offiziere des Marschalls Schukow alles erlaubt ist, und er deshalb Strong eine entsprechende Anweisung erteilen wird. Am nächsten Tag war Genosse Potaschew mit den Offizieren bei General Strong, der sich sofort erregte und erklärte, dass er sich gerade mit Oberst Korotkow über die Wünsche hinsichtlich der Organisation der Verhöre ausgetauscht habe, aber nicht über die zur Durchführung der Verhöre eintreffenden sowjetischen Offiziere. Dadurch, dass die sowjetischen Offiziere bereits eingetroffen waren, legte er eine Liste mit [den Namen von insgesamt] zehn deutschen Kriegsgefangenen vor, die sie befragen könnten. Dabei fragte er, ob er darauf zählen könne, dass Schukows Stab seinen Offizieren erlauben würde, Verhöre mit Kriegsgefangenen durchzuführen, die für sie [die Amerikaner, Anm. d. Ü.] interessant sind und sich bei uns befinden. Genosse Potaschew antwortete, dass man diese Frage mit Marschall Schukow klären müsse. Am Ende des Gesprächs äußerte Potaschew gegenüber Strong den Wunsch, auch Ribbentrop25 verhören zu dürfen, der am Vorabend von den Alliierten gefangen genommen worden war. Diese Bitte schlug Strong kategorisch ab, indem er erklärte, dass es sich bei Ribbentrop nicht um einen Militär handele26, und er nur bevollmächtigt sei, die Zustimmung zum Verhör von Kriegsgefangenen zu erteilen. Dabei fügte Strong noch hinzu, dass Ribbentrop erst in zwei bis drei Tagen nach Luxemburg überstellt werde. Faktisch gesehen befand sich Ribbentrop bereits in dem Lager, in dem sich die Deutschen aufhielten und traf dort mit anderen Gefangenen, darunter Göring und Keitel, zusammen. Göring und Keitel sagten das Potaschew während des Verhörs. Strong versuchte, auch die Bitte von Genosse Potaschew, der
25 Joachim von Ribbentrop (1893–1946), deutscher Diplomat, Kaufmann, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1934 Außenpolitischer Berater der Reichsregierung, 1935 Außerordentlicher Botschafter, 1936–1938 deutscher Botschafter in London, 4. 2. 1938–30. 4. 1945 Reichsaußenminister, in der Regierung Dönitz nicht mehr vertreten, am 14. 6. 1945 in Hamburg von den Briten verhaftet. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 26 Gemäß den US-amerikanischen und britischen Besatzungsrichtlinien fiel Ribbentrop in den Kreis der auf unbestimmte Zeit zu internierenden Amtsträger der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie deutscher Regierungs- und Verwaltungsstellen.
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Göring verhören wollte, abzulehnen, indem er erklärte, dass es sich bei Göring auch nicht um einen Militär handele. Nach der Klärung aller Fragen stellte Strong folgende Bedingungen für unsere Offiziere: Die Arbeit sollte nach zwei Tagen (48 Stunden) beendet sein, es dürften keine Informationen, die sie von den Kriegsgefangenen erhalten, publiziert werden. Die Kopien aller Protokolle sollten ihm übergeben werden. An den Verhören nehmen zwingend amerikanische Offiziere teil, die sie durch alle [von den Amerikaner und Briten] besetzten Gebiete begleiten. Danach fuhr Genosse Potaschew in Begleitung des Majors der amerikanischen Armee McKasski27 und Leutnant Bertolius28 nach Luxemburg (an der Grenze zwischen Frankreich und Belgien), wo sich die deutschen Kriegsgefangenen aufhielten. Es stellte sich heraus, dass die Gefangenen, die Mitglieder der deutschen Regierung und Militärführer Deutschlands gewesen waren, sich in Mondorf (15 km von Luxemburg entfernt), einem der besten Kurorte, aufhielten. Sie lebten in einem hervorragend ausgestatteten vierstöckigen Gebäude. Die Fenster waren nur mit schwachen Gittern versehen. In diesem Gebäude hat jeder Gefangene sein eigenes Zimmer mit einem guten Bett und anderen Annehmlichkeiten des Alltags. Die Isolation des einen vom anderen ist nur bedingt gegeben, denn im Laufe des Tages haben sie mehrmals die Möglichkeit, einander zum Essen zu treffen, aber auch während einer Schachpartie oder anderer Spiele. Keine der verhörten Personen macht den Eindruck eines Gefangenen, der bereit ist, für seine Verbrechen Verantwortung zu tragen. Sie sehen alle gut aus und sind gebräunt wie Kurgäste. Alle sind in vollständiger Uniform gekleidet, mit Dienstgradabzeichen und dem Hakenkreuz. Es herrscht im Grunde keine Isolation. Es besteht die Möglichkeit, sich mit allen über alle Fragen auszutauschen, natürlich auch hinsichtlich der Aussagen [in den Verhören]. Wie Genosse Potaschew mitteilt, haben die Wachen und Gitter rein dekorativen Charakter, als dass sie eine Möglichkeit darstellen, eine Flucht zu verhindern. Nachts werden die Zimmer überhaupt nicht beleuchtet, so dass eine ständige Beobachtung dessen, was dort vor sich geht, nicht stattfindet. Für die Verhöre bat Potaschew darum, die Gefangenen voneinander zu isolieren. Auf Grund der Forderung Strongs, ihm die Kopien der Verhörprotokolle auszuhändigen, entschied Genosse Potaschew, keine offiziellen Protokolle anzufertigen, sondern sich auf Vermerke zu besonders beachtenswerten Aussagen zu beschränken. Im Endergebnis des achttägigen Aufenthalts von Genosse Potaschew in Luxemburg wurden folgende Personen verhört, die Strong vorgeschlagen hatte:
27 Nicht ermittelt. 28 Nicht ermittelt.
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1. Göring, Hermann, Reichsmarschall, Reichsminister, Reichsluftfahrtminister in der Hitlerregierung. 2. Dönitz, Karl, Großadmiral der Kriegsmarine. Durch testamentarische Verfügung Hitlers Regierungsoberhaupt Deutschlands. 3. Keitel, Wilhelm, Generalfeldmarschall, ehemaliger Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. 4. Jodl, Alfred, Generaloberst, ehemaliger Chef des Heeres29, war Hitler direkt unterstellt. 5. Warlimont, Walter, General der Artillerie30, ehemaliger Stellvertreter des Chefs des Generalstabs des Heeres31, seit dem 20. Juli 1944 nicht mehr im Dienst, da er beim Attentat auf Hitler verletzt worden war. 6. Kesselring, Albert, Generalfeldmarschall, vorher Kommandeur der deutschen Truppen in Afrika32, in den letzten Tagen der Hitlerregierung wurde er zum Kommandeur der Südwestfront ernannt. 7. Lindemann, Georg, Generaloberst33, ehemaliger Kommandeur einer deutschen Armee bei Leningrad. 8. Blaskowitz, Johannes, Generaloberst, ehemaliger Befehlshaber der Besatzungstruppen in Dänemark34.
29 Hier irrt Serov, Alfred Jodl (1890–1946), Generaloberst, seit 1910 Berufssoldat, 1921–1924 Generalstabsausbildung, war seit 1938/39 Chef des Wehrmachtführungsamtes (seit 1940: Wehrmachtführungsstab) im OKW, er unterzeichnete am 7. 5. 1945 die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im alliierten Hauptquartier in Reims, war als geschäftsführender Chef des OKW seit dem 13. 5. 1945 Mitglied der Regierung Dönitz und wurde mit dieser am 23. 5. 1945 in Flensburg von den Briten verhaftet. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet. 30 Walter Warlimont (1894–1976), General der Artillerie, seit 1913 Berufssoldat, Freikorps, dann Reichswehr, seit 1925 Generalstabsausbildung, zahlreiche Bildungsreisen ins Ausland, seit 1938 Chef der Abteilung Landesverteidigung des Wehrmachtführungsamtes (seit 1940: Wehrmachtführungsstab), zunächst ständiger Vertreter, dann offiziell Stellvertreter seines Chefs Jodl, zuständig vor allem für die Kriegführung im Westen, im September 1944 beurlaubt, dann in die Führerreserve versetzt. 1945 in alliierte Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger OKW-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1954 vorzeitig aus der Haft entlassen. 31 Hier irrt Serov. Walter Warlimont war seit Dezember 1941 Stellvertreter Jodls als Chef des Wehrmachtführungsstabs im OKW. 32 Hier irrt Serov. Albert Kesselring (1885–1960) war ab 1941 Oberbefehlshaber Süd (MittelmeerRaum, Italien), ihm unterstanden jedoch nicht unmittelbar die Truppen des Afrika-Korps bzw. der Heeresgruppe Afrika. 33 Georg Lindemann (1884–1963), Generaloberst, seit 1903 Berufssoldat, seit 1914 Generalstabsoffizier, 1936–1940 Kommandeur der 36. Infanterie-Division, 1940–1942 Kommandierender General des L. Armeekorps, 1942–1944 Oberbefehlshaber der 18. Armee, 1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, zuletzt Befehlshaber der Wehrmacht in Dänemark. 1945–1947 britische, 1947–1948 dänische Kriegsgefangenschaft. 34 Hier irrt Serov. Johannes Blaskowitz (1882–1948), Generaloberst, seit 1901 Berufssoldat, war nach mehrjähriger Verwendung als Militärbefehlshaber Nordfrankreich und Oberbefehlshaber der 1. Armee zuletzt bis zur Kapitulation am 5. 5. 1945 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe H (Festung
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9. Bötticher, Friedrich, Generalleutnant35, vor dem Krieg war er Militärattaché in Amerika, wurde dann zum General berufen für Aufträge unter Keitel. 10. Bürkner, Leopold, Vizeadmiral36, ehemaliger Leiter der Informationsabteilung im Stab von Jodl. Uns wurden außerdem, nach Absprache mit dem Leiter des Lagers, Oberst Andrus37, der Konteradmiral Wagner, Gerhard38, Admiral für besondere Aufträge unter Dönitz sowie Neurath, Walter39, der Korvettenkapitän und ehemaliger persönlicher Adjutant von Dönitz war, vorgeführt, um die Aussagen von Dönitz zu präzisieren. Die Bedingungen für die Untersuchung waren allerdings so, dass von den Arrestanten keine ernsthaften Bekenntnisse zu erwarten waren. Die ständige Anwesenheit anglo-amerikanischer Offiziere bei den Verhören und die vermutliche vorherige Ankündigung, dass die Verhöre von russischen Offizieren durchgeführt würden, gaben den Gefangenen während der Verhöre die Möglichkeit, sich unabhängig zu verhalten und wahrheitsgemäßen Antworten auszuweichen. Aus diesem Grund machten sie in den Verhören zwar bereitwillig Aussagen militärhistorischer Art, wichen aber vollständig Antworten auf konkrete Fragen aus, die mit der Aufklärung der Aufenthaltsorte von deutschen Kriegsverbrechern verbunden waren. Über die antisowjetischen Untergrundorganisationen, zu deren Bildung in der letzten Kriegsperiode Hitler sowie Personen in seinem engen Umfeld Maßnahmen ergriffen hatten, sagten sie aus, dass es Militärangehörigen in Deutschland verboten gewesen sei, in irgendeine Partei einzutreten, und dass sie deswegen angeblich nichts über die Aktivitäten der Hitlerpartei aussagen könnten. Sie erklärten ihre Treue zu Hitler und die aktive Teilnahme am Krieg einerseits damit, dass Hitler es angeblich nicht nur verstanden habe, dass Volk zu beeinflussen, sondern auch sie [d. h. die Militärs]. Die Hohen Generale waren überzeugt, dass
Holland). 1945 in britische Kriegsgefangenschaft, 1948 Suizid kurz vor Beginn des Nürnberger OKWProzesses. 35 Friedrich von Boetticher (1881–1967), General der Artillerie, seit 1900 Berufssoldat, 1910–1913 Generalstabsausbildung, 1933–1942 Militärattaché in Washington, danach Chef der Wehrmacht-Zentralabteilung im OKW. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 36 Leopold Bürkner (1894–1975), Vizeadmiral, seit 1912 Berufssoldat, seit 1938 Chef der Abteilung Ausland im späteren Amt Ausland/Abwehr des OKW, Ende 1944 dem RSHA unterstellt. 1945–1947 in alliierter Kriegsgefangenschaft. 37 Burton C. Andrus, (1892–1977), US-Oberst, seit 1917 Berufssoldat, seit 1919 in verschiedenen Stabsverwendungen, 1945 Kommandant des Kriegsgefangenenlagers Mondorf (Luxemburg), dann des Gerichtsgefängnisses Nürnberg. 38 Gerhard Wagner (1898–1987), Konteradmiral, seit 1916 Berufssoldat, seit 1941 Leiter der Operationsabteilung der Seekriegsleitung. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 39 Walter Lüdde-Neurath, (1914–1990), Korvettenkapitän, ab September 1944 Adjutant von Dönitz. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft.
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die Sowjetunion Deutschland zum Krieg gezwungen habe, da sie an den Grenzen in großem Umfang militärische Operationen vorbereitet habe. Lediglich Göring, Keitel und Warlimont sagten aus, dass sie anfangs im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht hatten, den Krieg gegen Russland hinauszuschieben, denn sie hatten die Niederlage in diesem Krieg vorausgesehen. Dazu erklärte Göring, während amerikanische Offiziere anwesend waren, dass er Hitler die gesamte Zeit über gebeten habe, Russland nicht anzugreifen, so lange er mit seiner Luftwaffe nicht England vernichtet hätte. Aber Hitler hörte nicht auf ihn. Über die Lage im Hitlerbunker40 vor dem Fall Berlins wurden Keitel, Jodl und Göring befragt. Göring sagte aus, dass er auf Hitlers Befehl Berlin am 22. April verlassen hatte und nach Berchtesgaden gefahren war. Seinen Angaben nach sah Hitler beim letzten Treffen normal aus. Es war zu beobachten, dass seine linke Hand und das linke Bein zitterten, aber das seien die Folgen des Attentates41 gewesen. In dem Gespräch zwischen Göring und Hitler habe Hitler angeblich gesagt, dass er Berlin nicht verlassen könne und hier sterben werde. Wie Göring aussagte, teilte ihm bei seiner Ankunft in Berchtesgaden der Chef des [dortigen] Hauptquartiers42 mit, dass Hitler sein Testament in Kraft gesetzt habe, wonach Göring Regierungschef werden sollte. Auf der Basis dieser Information schickte Göring Hitler eine offizielle Anfrage, um zu erfahren, ob diese Informationen wahr seien und, ob er, Göring, als rechtmäßiger Nachfolger beginnen könne, Verhandlungen über die Beendigung des Krieges zu führen. Er erhielt als Antwort ein Telegramm Hitlers, in dem es hieß, dass er degradiert sei, von seinen Ämtern zurücktreten müsse und aus der Partei ausgeschlossen werde und als Verräter bestraft werden müsse. Auf Grund seiner Verdienste in der Vergangenheit hielt Hitler es aber für möglich, sich auf den Rücktritt Görings von seinen Staatsämtern unter dem Vorwand einer schweren Krankheit zu beschränken. Gleichzeitig erteilte Martin Bormann43, wie Göring aussagt, den Mitgliedern der SS folgenden Befehl: „Auf Befehl Hitlers sind im Moment der allerhöchsten Krise Berlins Göring, seine Familie und der Verwandtenkreis zu erschießen.“ Infolgedessen wurde Göring verhaftet.
40 Gemeint ist der sog. Führerbunker unter der Berliner Reichskanzlei. 41 Gemeint ist das gescheiterte, am 20. 7. 1944 mittels einer Sprengladung von Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg (1907–1944) durchgeführte Attentat im Besprechungsraum der Lagebaracke des Führerhauptquartiers „Wolfsschanze“ in Ostpreußen. 42 Bernhard Frank (1913–2011), SS-Obersturmbannführer, promovierter Volkskundler, 1933 Beitritt zur NSDAP und SS, hauptamtlicher SS-Führer, 1935–1939 wissenschaftlicher Mitarbeiter der SS-Schule Wewelsburg, seit 1939 Offizier der Waffen-SS, 1941 und 1942/43 im Kommandostab Reichsführer SS, 1943–1944 Kommandeur der SS-Flakabteilung B auf dem Obersalzberg, 1945 Kommandant der SS-Einheiten am Obersalzberg. 43 Martin Bormann (1900–1945), Reichsleiter der NSDAP, gelernter Landwirt, Freikorps, 1928 Beitritt zur NSDAP und SA, seit 1933 Reichsleiter der NSDAP und Mitglied des Reichstages, 1933–1945 Leiter des Stabs des Stellvertreters des Führers, d. h. Chef des Parteibüros, seit 1941 als Partei-Kanzlei der NSDAP bezeichnet, seit 1943 zugleich Sekretär des Führers, 1944 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, in der Nacht zum 2. 5. 1945 beim Ausbruchsversuch aus der Reichskanzlei getötet.
1.1 Mitteilung des Bevollmächtigten des NKWD der UdSSR bei der 1. Belorussischen Front
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Göring führte weiter aus, dass es ihm gelang, vor der Erschießung zu fliehen, dank der Piloten, die sich in der Nähe befanden und der Maßnahmen zu seiner Befreiung aus der Haft. Daraufhin wurde er von den Alliierten Streitkräften freundlich zu Verhandlungen mit den militärischen Führern eingeladen. Danach wurde er in ein Kriegsgefangenenlager geschafft. Feldmarschall Keitel und Generaloberst Jodl gaben an, dass sie bis zum letzten Moment Telefon- und Funkkontakt zum Hitlerbunker besaßen. Später erfuhren sie von Dönitz, dass Hitler Selbstmord begangen habe. Sie erklärten beide, dass sie sich bemühen sollten, Hitler aus Berlin zu schaffen. Er aber sei in seiner Entscheidung unbeugsam geblieben. Sie sind der Meinung, dass Hitler wirklich Selbstmord begangen und befohlen hatte, seine Leiche zu vernichten, um einer möglichen Zurschaustellung seines Körpers in Berlin oder in anderen deutschen Städten zu entgehen. Göring äußerte sich im Verhör mit großem Hass über Martin Bormann, den er den „Mephistopheles“ Hitlers nannte. Nach Görings Darstellung hatte Bormann entscheidenden Einfluss auf alle Taten Hitlers, und er war auch der Grund für die Unstimmigkeiten zwischen Hitler und Göring gewesen. Im Verlauf des Verhörs war zu bemerken, dass Göring nicht reden wollte. Als die amerikanischen Offiziere zum Trinken das Verhör verließen, flüsterte Göring dem Übersetzer zu, dass er ohne die Vertreter der Alliierten verhört werden wolle, denn er könne etwas Wichtiges äußern. Diese Möglichkeit ergab sich aber für Genosse Potaschew nicht. Alle Verhörten erklärten bezüglich der „Werwolf“-Organisation, sie hätten die Aufrufe zur Gründung des „Werwolf“, um den Kampf gegen die Alliierten weiterzuführen, im Radio gehört. Sie könnten aber nichts über die Folgen dieser Aufrufe sagen. Göring antwortete auf die Frage nach dem Aufenthaltsort dieser Hitleranhänger, dass er es, selbst wenn er es wüsste, nicht sagen würde. Alle waren der Meinung, dass solche Organisationen überhaupt nicht gebildet worden seien, denn dafür sei es zu spät gewesen. Es sei dafür überhaupt keine materielle Grundlage vorhanden gewesen und praktische Ergebnisse hätten diese Organisationen sowieso nicht liefern können. Dönitz sagte aus, dass er sofort nachdem er die Macht übernommen hatte umgehend einen Befehl ausgab, wonach es Soldaten und Offizieren verboten war, Untergrundorganisationen zu gründen und jegliche Arten von illegaler Aktivität gegen die Alliierten Mächte durchzuführen. Dönitz, Göring, Keitel und Jodl wurden ebenfalls bezüglich der Kriegsspionage befragt. Dönitz machte eine handschriftliche Aussage über den Zustand der Überwasserund Unterseeflotte Deutschlands. Er beschrieb die Ausstattung der Flotte und alle Neuerungen, die während des Krieges bei der deutschen Flotte zum Einsatz kamen. Keitel und Jodl machten Aussagen bezüglich der Verwirklichung operativstrategischer Pläne während verschiedener Kriegsetappen. Sie gaben aber auch Informationen über die Mobilmachung der deutschen Armee und über die Art der Ausrüstung. Göring machte eine handschriftliche Aussage bezüglich der Organisation der Ausrichtung der deutschen Luftwaffe.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Genosse Potaschew ersuchte General Strong, ihn mit den Verhörprotokollen der genannten Kriegsgefangenen vertraut zu machen. Man gab ihm nur ein Protokoll Görings zu lesen, in dem allgemeine Informationen enthalten waren, die dem Inhalt nach dem entsprachen, was in den Zeitungen veröffentlicht wurde. Die Protokollaufzeichnungen der Kriegsgefangenenverhöre werden noch bearbeitet und Ihnen in Form eines speziellen Anhangs zum Bericht vorgelegt werden. Bevor die Gruppe des Genossen Potaschew von Eisenhowers Hauptquartier abfuhr, übergab Generalleutnant Strong ihm ein an die Adresse des Stabschefs, Generaloberst Malinin, gerichtetes Schreiben mit der Bitte, folgende Personen verhören zu dürfen: Generaloberst Löhr44, Generalfeldmarschall Schörner45, General der Infanterie Lasch46, General der Panzertruppe Nehring47, General der Panzertruppe Gräser48 und General der Panzertruppe Balck49.
44 Alexander Löhr (1885–1947), Generaloberst, seit 1906 Berufssoldat, seit 1913 Generalstaboffizier, seit 1916 Aufbau der k. u. k. Luftfahrtruppe, seit 1920 im österreichischen Bundesheer mit dem geheimen Wiederaufbau einer Fliegertruppe befasst, entwickelte eine auf rücksichtslosen Bombardements basierende Theorie des Luftkrieges, 1938 in die deutsche Luftwaffe übernommen, 1939 Oberbefehlshaber der Luftflotte 4, im April 1941 verantwortlich für Bombenangriffe auf Belgrad mit tausenden Toten, 1942 Wehrmachtsbefehlshaber Südost und Oberbefehlshaber der 12. Armee, 1943–1945 Oberbefehlshaber Südost bzw. Chef der deutschen Heeresgruppe E (Griechenland). Im Mai 1945 von der britischen Armee an Jugoslawien ausgeliefert, 1947 in Belgrad zum Tode verurteilt und hingerichtet. 45 Ferdinand Schörner (1892–1973), Generalfeldmarschall, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, seit 1918 Berufssoldat, Freikorps, dann Reichswehr, 1923–1926 Generalstabsausbildung, seit 1937 Kommandeur von Gebirgsjäger-Regimentern, -Divisionen und -Korps, 1943 Kommandierender General des XXXX. Panzerkorps, 1944 Chef des NS-Führungsstabes des Heeres, 1944 Führung der Heeresgruppe Südukraine, dann der Heeresgruppe Nord, 1945 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte. Im Mai 1945 von US-Truppen auf der Flucht verhaftet und an die Sowjetunion übergeben, dort 1952 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1955 entlassen. 1957 vom Landgericht München zu viereinhalb Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, 1960 aus gesundheitlichen Gründen entlassen. 46 Otto Lasch (1893–1971), General der Infanterie, 1914–1920 Berufssoldat, dann Polizeioffizier, 1935 Übernahme in die Wehrmacht, Kommandeur von Infanterie-Regimentern und -Divisionen, 1943–1944 Kommandierender General das LXIV. Armeekorps, 1944–1945 Befehlshaber im Wehrkreis I, kapitulierte am 10. 4. 1945 als Kommandant der Festung Königsberg. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 47 Walther Nehring (1892–1983), General der Panzertruppe, seit 1911 Berufssoldat, 1923–1926 Generalstabsausbildung, seit 1926 Stabsverwendungen, beteiligt am Aufbau der Panzertruppen, 1940–1942 Kommandeur der 18. Panzer-Division, 1942 Führung des Deutschen Afrika-Korps, 1943–1944 Führung des XXIV. Panzerkorps, dann der 4. Panzerarmee, 1945 Oberbefehlshaber der 1. Panzerarmee in der Slowakei. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft. 48 Im Manuskript Glese. Vermutlich Fritz-Hubert Gräser (1888–1960), General der Panzertruppe, 1907–1920 Berufssoldat, 1915 Generalstabsausbildung, 1920–1932 Gutsbesitzer und Fabrikant, seit 1932 wieder Offizier, seit 1934 Führer von Infanterie-Regimentern und -Divisionen, im Sommer 1944 Führer von Panzer-Korps, ab September 1944 Führer, dann Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 49 Hermann Balck (1893–1982), General der Panzertruppe, seit 1913 Berufssoldat, 1925–1928 General stabausbildung, seit 1940 Kommandeur von Panzer-Regimentern und -Brigaden, 1942–1943 Führung der
1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz
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Von meiner Seite halte ich es für möglich, den Vertretern des Alliierten Oberkommandos die Erlaubnis zu erteilen, einige der genannten Kriegsgefangenen zu verhören, um danach mit ihnen über qualifiziertere Verhöre der Personen zu verhandeln, an denen wir interessiert sind. Ich bitte um Ihre Anordnungen. I. Serow 25. Juni 1945 Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 99–109. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 Kurzprotokoll der Vernehmung des deutschen Großadmirals Dönitz, Karl 17. Juni 1945 Dönitz, Karl, 54 Jahre alt, parteilos, Großadmiral, Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, durch Hitlers Testament letztes Oberhaupt der deutschen Regierung. Frage: Es befragt Sie ein Oberst der russischen Armee. Sind Sie bereit, wahrheitsgemäße Antworten zu geben auf die Fragen, die man Ihnen stellen wird? Antwort: Ja, ich bin bereit, wahrheitsgemäß auszusagen. Frage: Waren Sie Mitglied einer politischen Partei? Antwort: Ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. Frage: Wie erklären Sie das? Antwort: Ich bin Soldat. Soldaten können keiner politischen Partei angehören. Frage: Welche Ämter hatten Sie während der Hitlerregierung inne? Antwort: Bis 1935 war ich Kommandant eines Kreuzers50. Von Herbst 1935 bis Januar 1943 war ich Befehlshaber der U-Bootwaffe. Ab 1943 kommandierte ich die gesamte deutsche Kriegsmarine. In den Tagen, die der Kapitulation vorausgingen, wurde ich durch Hitlers Testament Reichspräsident Deutschlands. Frage: Wie und von welchem Zeitpunkt an bereitete sich Deutschland auf den Angriff auf die Sowjetunion vor?
11. Panzer-Division, 1944 Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee, zuletzt in Ungarn Kommandeur der Armeegruppe Balck und zugleich Oberbefehlshaber der 6. Armee. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 50 Von Oktober 1934 bis September 1935 kommandierte Dönitz im Rang eines Korvettenkapitäns den leichten Kreuzer „Emden“.
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Antwort: Ich kann auf diese Frage keine erschöpfende Antwort geben, da ich in diese Angelegenheit nicht eingeweiht war. Frage: Hätten Sie auf Grund Ihres Dienstranges nicht über Hitlers Pläne Bescheid wissen können? Antwort: Auf meinen Wunsch hin hätte ich die nötigen Informationen erhalten können, aber ich bevorzugte es, nur jene Dinge auszuführen, die mir aufgetragen worden waren. Frage: Wann wussten Sie, dass die Frage hinsichtlich eines Krieges Deutschlands mit der UdSSR entschieden war? Antwort: Im Sommer 1941 erhielt ich einen schriftlichen Befehl über den Beginn des Krieges mit der Sowjetunion. Frage: Waren Sie bei Sitzungen bei Hitler anwesend, als über einen Krieg mit Russland diskutiert wurde? Antwort: Nein, ich habe an diesen Sitzungen nicht teilgenommen, weil ich mich am Atlantik befand. Frage: Wie stand Hitler zu Ihnen und hat er Sie in seine Kriegspläne eingeweiht? Antwort: Ja, Hitler vertraute mir und beriet sich mit mir, allerdings nur bezüglich der Unterwasser-Kriegführung, denn er hatte die Angewohnheit, sich mit anderen Personen nur über deren spezielles Fachgebiet zu beraten. Zu diesem Zeitpunkt wurde kein U-Bootkrieg gegen Russland geführt, sondern nur gegen England und Amerika. Frage: Haben Sie an der Ausarbeitung der militärischen Planungen mitgearbeitet? Antwort: Ja, das tat ich, aber nur gegen die Seemächte England und Amerika und nicht gegen die UdSSR. Frage: Welche Haltung hatten sie zum Fakt des Angriffs Deutschlands auf die Sowjetunion? Antwort: Für mich kam das sehr plötzlich. Ich befand mich am Golf von Biskaya und war mit der Kriegsführung nach Westen beschäftigt. Einen Krieg mit Russland hatte ich überhaupt nicht im Sinn. Unter Kameraden diskutierten wir dieses Ereignis [d. h. den Überfall auf die Sowjetunion] und waren sehr beunruhigt. Ich persönlich war deswegen beunruhigt, weil ich es nun mit einem neuen, starken Gegner aufnehmen musste. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über das Kräfteverhältnis zwischen der deutschen und der russischen Armee, denn als Marineoffizier war ich in diese Fragen nicht eingeweiht. Ich konnte daher also keine Vermutungen über den Ausgang des Kriegs anstellen. Frage: Sie haben gesagt, dass Sie an der Ausarbeitung der Kriegspläne gegen England und die USA beteiligt waren, aber konnten diese Pläne nicht auch Russland betreffen?
1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz
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Antwort: Ich nahm an der Ausarbeitung der militärischen Planungen nur im Bereich der Durchführung taktischer Operationen der U-Bootflotte teil. Die allgemeinen Pläne zur Kriegführung wurden durch den Generalstab51 ausgearbeitet. Frage: Dann kann man meinen, dass Sie überhaupt keine Vorstellung bezüglich eines Angriffs Deutschlands auf die UdSSR hatten. Antwort: Ja, ich hatte keine Vorstellung über den Landkrieg, genauso wenig wie ein Offizier der Infanterie weiß, wie viele Schiffe die U-Bootflotte versenken kann. Informationen über den Kriegsverlauf erhielt ich nur aus offiziellen Quellen. Frage: Verfügten Sie während der Vorbereitungsphase auf den Krieg und während des Krieges über Informationen bezüglich des Zustandes der russischen Armee? Antwort: Zu dieser Zeit war ich Befehlshaber der U-Bootwaffe, und ich weiß nicht, was Deutschland über die sowjetischen Streitkräfte bekannt war. Als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine wusste ich über die russische U-Bootflotte nur das, was vor dem Krieg bekannt war (Anzahl der U-Boote, U-Boote in der Ostsee). Über die Landstreitkräfte besaß ich keine Angaben. Frage: Welche Information erhielten Sie über die russische Flotte? Antwort: Die Angaben über die russische U-Bootflotte waren sehr unterschiedlich. Einigen Informationen zufolge besaß Russland 100 bis 200 U-Boote, einschließlich der in Murmansk stationierten. Diese Angaben hatten wir vom Marineattaché in Moskau52. Frage: Hatten Sie noch weitere Informationsquellen? Antwort: Ja, wir bekamen auch Informationen aus der Nachrichtendienstabteilung53 der Seekriegsleitung54, die die Informationen ebenfalls vom Marineattaché in Moskau erhielt.
51 Gemeint ist der Generalstab beim Oberkommando des Heeres (OKH). 52 Den Posten des Marineattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau bekleidete von 1937 bis 1941 Norbert von Baumbach (1900–1977). 53 Dönitz meint die Abteilung Marine-Nachrichtendienst (2/Skl), beim Chef der Seekriegsleitung. 54 Dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine unterstellt. Der Chef des Marinekommandoamts als Dienststelle des Oberkommandos der Marine (OKM) fungierte zugleich als Chef der Seekriegsleitung. Die Tätigkeit der Seekriegsleitung bestand hauptsächlich in der Koordination der Seestreitkräfte, der Funkbeobachtung und Nachrichtenauswertung, der Wetterbeobachtung und der Lageinformation für das OKM und dessen einzelne Befehlshaber. Das OKM, von 1935 bis 1945 Bezeichnung der Obersten Kommandobehörde der deutschen Marine, hatte seinen Sitz in Berlin am Tirpitzufer (heute Reichpietschufer), in der Nähe des Bendlerblocks. Nach der Zerstörung seines Dienstgebäudes durch Bombenangriffe 1943 wurde das OKM zunächst nach Eberswalde, dann nach Bernau, gegen Kriegsende nach Plön und in den letzten Kriegswochen nach Flensburg-Mürwik verlegt.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Frage: Was für eine Beziehung hatten Sie zur Nachrichtendienstabteilung des Marinestabes [d. h. der Seekriegsleitung]? Antwort: Als ich zum Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ernannt wurde, wurde mir der gesamte Flottenbereich unterstellt, darunter auch der Stab [d. h. die Seekriegsleitung]. Zu diesem Zeitpunkt erhielten wir aber schon keine Aufklärungsinformationen mehr aus Russland. Den Bestand der russischen Flotte kannten wir durch die Informationen der Luftaufklärung, und das genügte völlig. Frage: Es ist allgemein bekannt, dass Deutschland bereits vor dem Krieg seine Agenten in die Sowjetunion schleuste, um Informationen über die wirtschaftliche und kriegspolitische Situation der Sowjetunion zu sammeln. Was wissen Sie darüber? Antwort: Bezüglich der Aufklärung kann ich nichts sagen, denn dazu hatte ich überhaupt keine Beziehung. Ich betrieb ausschließlich die Kriegsvorbereitung der U-Bootflotte. Frage: Wer betrieb unmittelbar die Marineaufklärung? Antwort: Soweit mir bekannt ist, war Admiral Arps55 vor dem Krieg und noch einige Zeit während des Kriegs für die Marineaufklärung zuständig. Danach löste ihn Kapitän zur See von Baumbach56 ab. Wo sich Baumbach jetzt befindet, weiß ich nicht. Nach Baumbauch war für die Marineaufklärung Konteradmiral Schulz57 zuständig. Nach dem, was ich weiß, sollte er sich in Holstein aufhalten. Sie bearbeiteten nur die Informationen, die sie aus Zeitungen oder von Quellen erhielten, die dem SD58 unterstanden. Deswegen werden Ihnen weder Baumbach noch Schulz sagen können, aus welchen Quellen sie die Informationen erhielten. Die Aufklärungsarbeit war so aufgebaut, dass nur der SD über ein Agentennetz verfügte, das die entsprechenden Nachrichtenabteilungen über den Dienstweg informierte. Frage: In welcher Form erhielten Sie Informationen vom SD?
55 Theodor Arps (1884–1947), Vizeadmiral, 1902–1920 Berufssoldat, 1933 reaktiviert, 1934 bis 1939 Chef des Marinenachrichtendienstes, danach Richter am Reichskriegsgericht. Seit 8. 5. 1945 in USKriegsgefangenschaft, in der er verstarb. 56 Gemeint ist Norbert von Baumbach (1900–1977), Kapitän zur See, 1937–1941 Marineattaché in Moskau, 1941–1942 beim OKM, 1942–1944 Chef der Abteilung Nachrichtenauswertung, 1944 beim Marineoberkommando Ost. 57 Gemeint ist Otto Schulz (1900–1974), Konteradmiral, seit 1916 Berufssoldat, ab 1937 in verschiedenen Stabsstellungen tätig, 1943 Kommandant der Seeverteidigung Krim, 1944–1945 Chef der Nachrichtenabteilung im OKM. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 58 Der Sicherheitsdienst (SD) wurde als parteieigener Nachrichtendienst ab 1931 durch Reinhard Heydrich (1904–1942) aufgebaut und 1939 über das RSHA mit den geheim- und sicherheitspolizeilichen Strukturen verbunden. Zunächst in Konkurrenz zum Amt Abwehr auch im Auslandsnachrichtendienst tätig, übernahm der SD 1944 den militärischen Nachrichtendienst.
1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz
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Antwort: Ich erhielt die Meldung in schriftlicher Form ohne Nennung der Quelle. Frage: Wann haben Sie Schulz das letzte Mal gesehen? Antwort: Im April 1945 in Holstein, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Marinestab aufhielt. Frage: Wann kamen Sie zu dem Schluss, dass der Krieg für Deutschland verloren ist? Antwort: Am 30. April 1945 erhielt ich von Hitler einen Brief, in dem es hieß, dass ich sein Nachfolger sei. Danach bemühte ich mich, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Frage: Das ist uns aus den offiziellen Daten bekannt. Uns interessiert Ihre persönliche Meinung. Antwort: Ich kam zu dem Schluss, dass wir den Krieg verloren haben, als sich die Überlegenheit des Gegners in der Luft abzeichnete. Die Luftbombardements vernichteten unsere Kommunikation und zerstörten die Industriezentren. Das war 1944. Frage: Aber vorher waren Sie davon überzeugt, dass Deutschland den Krieg gewinnt? Antwort: Wenn es uns gelungen wäre, das umfangreiche Programm zur Verstärkung der Jagdflieger59 umzusetzen, wären wir in der Lage gewesen, unsere Industriezentren und Kommunikationswege zu schützen, dann hätten wir den Krieg gewinnen können. In den letzten Monaten des Jahres 194560 begriff ich, dass wir den Krieg verloren haben. Ich äußerte mich dementsprechend im Kreis meiner Kollegen bei der Kriegsmarine. Dennoch hofften wir auf einen günstigen Ausgang. Zu diesem Zeitpunkt glaubte in Deutschland niemand an den Sieg. Frage: Wem teilten Sie Ihre Zweifel mit? Antwort: Darüber durfte nicht gesprochen werden. Das versteht sich doch wohl von selbst. Frage: Sie haben gerade gesagt, dass Sie Ihre Zweifel im Kreis Ihrer Kameraden äußerten. Mit wem genau haben Sie darüber gesprochen? Antwort: Ich kann Ihnen sagen, dass das alles Offiziere der Seekriegsleitung waren. Wir hatten täglich um elf Uhr Lagebesprechung. Es versteht sich von selbst, dass wir da nicht über den Sieg sprechen konnten. Aber wir hofften dennoch alle auf einen mehr oder weniger erfolgreichen Ausgang.
59 Der sog. Jägerstab wurde im März 1944 gebildet, um die Produktion von Jagdflugzeugen zu beschleunigen. Die Steigerung der Produktion gelang jedoch durch die strategischen Bombardements der Allliierten nicht wie erhofft. 60 Gemeint ist 1944.
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Frage: Trotz Ihrer Zweifel bezüglich des Kriegsausgangs führten Sie weiter die Kriegspläne der Führung aus? Antwort: Ja, das war meine Soldatenpflicht. Frage: Wann sahen Sie Hitler das letzte Mal? Antwort: Ich habe ihn am 21. April das letzte Mal gesehen. Ich erhielt vom Führer den Befehl, nach Norddeutschland zu fahren und machte mich am 22. April auf den Weg dorthin. Frage: Welche Angelegenheiten besprachen Sie mit Hitler bei diesem Treffen? Antwort: Hitler wusste nicht, wohin es für ihn – im Falle einer Abreise aus Berlin – am besten wäre, zu gehen: nach Süd- oder nach Norddeutschland, denn es bestand die Gefahr, dass die russischen Truppen den Norden Deutschlands vom Süden abtrennen würden. Hitler war geneigt, nach Süddeutschland zu fahren und gab mir deshalb den Befehl, nach Norddeutschland aufzubrechen. Frage: Welcher Eindruck ist Ihnen vom letzten Treffen mit Hitler geblieben? Antwort: Ich hatte den Eindruck, dass der Führer seelisch erregt und gleichzeitig sehr besorgt war. Frage: Wen aus Hitlers Umgebung haben Sie während Ihres letzten Aufenthalts in Berlin noch gesehen? Antwort: Ich hatte im Bunker noch ein kurzes Gespräch mit Keitel und mit General Krebs61. Zu dieser Zeit hielten sich im Bunker noch einige Adjutanten und, wie es scheint, auch Generaloberst Jodl auf. Frage: Was ist Ihnen bekannt über die Maßnahmen der faschistischen Partei und der Hitlerregierung sowohl hinsichtlich der Verteidigung Berlins als auch dahingehend, dass die Nationalsozialisten in den von den Alliierten besetzten Gebieten zu illegalen Kampfmethoden übergingen?
61 Hans Krebs (1898–1945), General der Infanterie, seit 1914 Berufssoldat, 1925–1927 Generalstabs ausbildung, Stabsverwendungen, u. a. Reisen in die Sowjetunion, 1933/34 und 1940/41 Assistent des Militärattachés in Moskau, 1942 Chef des Generalstabs verschiedener Armeen und Heeresgruppen, 1. 4. 1945 letzter Chef des Generalstabs des Heeres, Suizid nach erfolglosen Waffenstillstandsverhandlungen mit dem sowjetischen General Čuikov am 1. 5. 1945 im schon fast vollständig durch sowjetische Truppen eingenommenen Berlin.
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Antwort: Ich hörte in Armeekreisen, dass man vor allem hoffte, die Stellungen an der Oder zu halten und Berlin durch die 12. Armee General Wencks62 und die 9. Armee von Busse63 zu entsetzen. Mehr weiß ich nicht. Frage: Es ist bekannt, dass viele Nazis in den Untergrund gingen, um den Kampf gegen die Rote Armee und die Alliierten fortzusetzen. Was ist Ihnen diesbezüglich bekannt? Antwort: Hierüber besitze ich nicht die geringsten Vorstellungen. Ich war Admiral. Meine Aufgabe war es, den Krieg zur See zu führen. Mit diesen Fragen habe ich mich niemals beschäftigt. Sie sollten verstehen, dass ich niemals zum Oberkommando der Wehrmacht gehörte und niemals in die Angelegenheiten, über die Sie mich hier befragen, einbezogen war. Frage: Wie bekannt ist, spielte der Seekrieg in den Plänen des Hitlerschen Oberkommandos [– des OKW –] eine sehr große Rolle. Konnte nicht deshalb an der Spitze der Seeflotte nur ein Mann stehen, der auch sehr gut über politische Fragen Bescheid wusste? Antwort: Hitler arbeitete nach dem Grundsatz, dass jeder von uns lediglich das wusste, was für ihn nötig war, um seine Aufgaben zu erfüllen. Deswegen wusste ich auch nicht, trotz meines hohen Postens, was von Hitler geplant oder vorgesehen war. Frage: Wer aus Hitlers Umgebung genoss sein größtes Vertrauen? Antwort: Es ist schwer, diese Frage zu beantworten. Das waren alle Offiziere aus seiner Umgebung. Frage: Was ist Ihnen über das Schicksal Hitlers bekannt? Antwort: Ich weiß über das Schicksal Hitlers nur das, was ich durch die Telegramme aus dem Führerbunker erfuhr. Am 30. April erhielt ich ein Telegramm, dass ich im Falle von Hitlers Tod sein Nachfolger werde und damit das Recht erhalte, alle Maßnahmen zu ergreifen, die ich für notwendig halte. Das Telegramm war von Bormann unterzeichnet. Am 1. Mai erhielt ich ein zweites Telegramm, in dem es hieß, dass das Testament Hitlers in Kraft getreten sei und dass Bormann beabsichtige, zu mir zu kommen. Dieses Telegramm sagte mir, dass der Führer tot war.
62 Walther Wenck (1900–1982), General der Panzertruppe, 1918–1921 Freikorps, seit 1921 Berufssoldat, 1935–1936 Generalstabsausbildung, 1943–1944 Chef des Generalstabes der 1. Panzerarmee, 1944 Chef des Generalstabes der Heeresgruppe A, 1944–1945 Chef des Führungsstabes im Generalstab, 7. 4. 1945 Oberbefehlshaber der 12. Armee, die er Anfang Mai 1945 über die Elbe zur Kapitulation vor den US-Truppen führte. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 63 Theodor Busse (1897–1986), General der Infanterie, seit 1915 Berufssoldat, 1929–1931 Generalstabs ausbildung, 1943 Chef des Generalstabs Heeresgruppe Süd, 1944 Kommandeur des I. Armeekorps, seit Januar 1945 Oberbefehlshaber der 9. Armee, die er am 1. 5. 1945 aus dem Kessel von Halbe mit Wencks 12. Armee zusammenführte. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Im dritten Telegramm wurde der genaue Zeitpunkt von Hitlers Ableben genannt, und es informierte mich auch über die Zusammensetzung der Regierung. Ich wurde zum Reichspräsidenten ernannt. Goebbels64 war Reichskanzler, Bormann Sekretär [d. h. Chef] der Parteikanzlei, Seyß-Inquart65 – Außenminister. Ich erhielt dieses Telegramm erst, nachdem ich Schwerin-Krosigk66 zum Außenminister ernannt hatte. Ich hatte das getan, weil mich das vorangegangene Telegramm bevollmächtigt hatte, Maßnahmen nach meinem Ermessen zu ergreifen. Die Telegrammtexte wurden von uns in der Folgezeit an die Alliierten in Flensburg übergeben. Frage: Kennen Sie den Grund für Hitlers Tod? Antwort: Nein. Frage: Wissen Sie etwas über den Aufenthaltsort von Martin Bormann? Antwort: Nein. Frage: Haben Sie über ihn noch irgendwelche Informationen nach dem Erhalt der genannten Telegramme erhalten? Antwort: Nein. Ich habe von ihm das Telegramm erhalten, in dem er schrieb, dass er zu mir fahren wird. Er ist nicht gekommen, und ich habe auch nichts von ihm gehört. Frage: Wussten Sie bereits früher, dass man vorhatte, sie zum Reichspräsidenten zu ernennen? Antwort: Nein, früher war davon nie die Rede gewesen. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal von Goebbels? Antwort: Nichts.
64 Joseph Goebbels (1897–1945), Politiker und Journalist, promovierter Germanist, 1924 Beitritt zur NSDAP, seit 1926 Gauleiter von Berlin, seit 1928 Mitglied des Reichstages, 1933–1945 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, zugleich seit 1944 Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz. Am 29. 4. 1945 von Hitler testamentarisch zum Reichskanzler ernannt. Am 1. 5. 1945 Suizid nach erfolglosen Waffenstillstandsverhandlungen. 65 Arthur Seyß-Inquart (1892–1946), SS-Obergruppenführer, promovierter Jurist und Rechtsanwalt, seit 1931 Engagement in NS-nahen österreichischen Organisationen, 1936 Staatsrat, 1937 „Befriedungskommissar“ der österreichischen Regierung, 1938 Beitritt zur NSDAP und SS, auf deutschen Druck zunächst Innen- und Sicherheitsminister, dann Bundeskanzler, nach dem „Anschluss“ Reichsstatthalter in Wien, seit 1939 Reichsminister ohne Geschäftsbereich und seit 1940 Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 66 Lutz Graf Schwerin von Krosigk (1887–1977), Jurist, Verwaltungsbeamter, seit 1932 Reichsfinanzminister, 1937 Beitritt zur NSDAP, vom 3.–23. 5. 1945 Leiter der Geschäftsführenden Reichsregierung in Mürwik bei Flensburg, Außen- und Finanzminister. 1945 interniert, im Nürnberger WilhelmstraßenProzess 1949 zu 10 Jahren Haft verurteilt, 1951 amnestiert.
1.2 Protokoll des sowjetischen Verhörs von Großadmiral Karl Dönitz
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Frage: Und über die anderen Minister? Antwort: Ich weiß nur, dass sich die Mehrheit von ihnen in Gefangenschaft befindet. Frage: Wer von ihnen befindet sich denn nicht in Gefangenschaft? Antwort: Ich weiß nur über die Bescheid, die hier einsitzen. Frage: Wussten Sie vor Ihrer Verhaftung etwas über den Aufenthaltsort irgendeines Ministers? Antwort: Während der Zeit in Flensburg kannte ich den Aufenthaltsort des Ministers für Rüstung und Kriegsproduktion Speer67. Das anglo-amerikanische Kommando kannte seine Adresse. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal Himmlers68? Antwort: Nachdem ich das erste Telegramm aus dem Führerbunker erhalten hatte, bat ich Himmler zu mir zu fahren, weil ich wusste, dass Himmler hoffte, Hitlers Nachfolger zu werden. Himmler kam aber nicht. Frage: Was hatte er für eine Haltung zu Hitlers Testament? Antwort: Er war sehr erschüttert. Ich sagte ihm, dass wir voneinander Abschied nehmen müssten, da ich ein Kabinett bilden wollte, dass nicht aus politischen Akteuren besteht, sondern aus Fachleuten. Himmler versuchte mich zu überzeugen, dass er in der Regierung bleiben müsse. Schwerin-Krosigk stellte allen ehemaligen Ministern, darunter auch Himmler, einen Brief mit meiner Unterschrift aus, in dem ihnen ihre Entlassung mitgeteilt wurde. Was Himmler betraf, so war ich der Meinung, dass der Brief nicht ausreicht. Deswegen teilte ich ihm auch mündlich mit, dass er von seinen Ämtern enthoben wurde. Das war am 6. Mai in Flensburg. Wir trennten uns im Streit. Über sein weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt. Frage: Ist Ihnen der Aufruf der NSDAP an ihre Parteimitglieder und an das deutsche Volk bekannt, im Falle der Besetzung Deutschlands Untergrundarbeit gegen die Alliierten zu führen?
67 Albert Speer (1905–1981), Reichsminister, Architekt, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, 1937 Generalbauinspektor für Berlin, 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, 1943 Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, 1945 Reichswirtschafts- und Produktionsminister. Im Mai 1945 von den Briten inhaftiert, 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1966 entlassen. 68 Heinrich Himmler (1900–1945), Politiker, 1919 Freikorps, studierter Landwirt, 1923 Beitritt zur NSDAP, 1929–1945 Reichsführer SS, ab 1936 Chef der deutschen Polizei, 1943 Reichsinnenminister, 1944 Befehlshaber bzw. Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, 1945 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel, am 29. 4. 1945 nach von Hitler nicht gebilligten Friedensverhandlungen aller Kommandos, Ämter und Funktionen enthoben. Am 23. 5. 1945 Suizid in britischer Kriegsgefangenschaft.
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Antwort: Ich kenne nur den Aufruf zur Gründung der Organisation „Werwolf“. Als ich Nachfolger von Hitler wurde, verbot ich diese Organisation offiziell. Die Bezeichnung „Werwolf“ entstammt den Erzählungen aus der Epoche des 30-jährigen Krieges, als deutsche Bauern erfolgreich im Rücken des Feindes als „Werwölfe“ agierten. Der Aufruf forderte die Bevölkerung zum Widerstand mit allen Mitteln gegen Truppen des Gegners auf deutschem Gebiet auf. Um unnötige Opfer zu vermeiden, verbot ich diese Organisation umgehend. Wir hatten noch nicht mal für den Volkssturm69 genügend Waffen, aus diesem Grund waren auch die Aktivitäten des „Werwolf“ sinnlos. Aus meiner Sicht war das sowieso keine Organisation. Sie hatte weder Staats- noch Parteicharakter. Das war nur ein Appell an das Volk, der zum Widerstand aufrufen sollte. Frage: Wie und wann wurde Ihr Verbot zur Gründung des „Werwolf“ ausgegeben? Antwort: Mein Aufruf wurde über den Sender Hamburg verbreitet. Darüber weiß mein Minister besser Bescheid. Ich habe den Aufruf unterzeichnet, aber wie er dann verbreitet wurde, hat mich nicht interessiert. Frage: Wer hat die Initiative zur Gründung des „Werwolf“ ergriffen? Antwort: Meiner Meinung nach handelt es sich um eine absolut sinnlose Organisation. Das Volk konnte keinen Widerstand leisten. Zu diesem Zeitpunkt konnten sogar die regulären Truppen nichts mehr tun. Auf wen die Initiative zurückgeht, weiß ich nicht. Frage: Billigten Sie Hitlers faschistische Parteipolitik? Antwort: Als Soldat hatte ich die Befehle Hitlers auszuführen. Ich erhielt von ihm nur solche Befehle, die in Bezug zu meiner Tätigkeit standen. Alle übrigen Fragen interessierten mich nicht. Hitler war eine herausragende Persönlichkeit. Außerdem war er das Staatsoberhaupt und alle Soldaten waren ihm durch einen Eid70 verpflichtet. Frage: Wie ist es zu erklären, dass Sie kein Mitglied der NSDAP waren? Antwort: Ich gehörte nicht der NSDAP an, weil ich Soldat war. Die Armee ist eine nationale Institution und steht außerhalb der Partei. Die NSDAP entstand von außen. Sie entwickelte sich in Handwerker- und Arbeiterkreisen, aber nicht aus dem Militär heraus.
69 Volkssturm – durch Führererlass am 25. 9. 1944 aufgestellte Truppe aus bislang nicht eingezogenen Männern im Alter von 16–60 Jahren unter militärischer Verantwortung Himmlers als Befehlshaber des Ersatzheeres. Der Erlass betraf rund 6 Mio. Männer, die bisher aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst freigestellt waren. Unzureichend ausgerüstet und ausgebildet, erlitten die zum Einsatz gekommenen Volkssturmeinheiten schwerste Verluste. 70 Seit dem 2. 8. 1934 wurden die Angehörigen der deutschen Streitkräfte auf Adolf Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht vereidigt.
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Frage: Sind Ihnen die Aufenthaltsorte von Personen aus Militär oder Politik bekannt, die sich verstecken? Antwort: Ich habe überhaupt keine Kenntnisse über Personen, die hier nicht anwesend sind. Frage: Wo befinden sich die Archive der Kriegsmarine? Antwort: Der größte Teil sollte sich in Flensburg befinden. Ich kann mit Überzeugung sagen, dass in Berlin nichts mehr übrig geblieben ist. Frage: Ihre Aussage hinsichtlich Ihrer schlechten Kenntnisse in allgemeinpolitischen und militärischen Fragen erscheint merkwürdig. Wie konnte Hitler Sie unter solchen Umständen zu seinem Nachfolger ernennen? Antwort: Der Führer hat ohne Zweifel darüber nachgedacht, Reichsmarschall Göring zu seinem Nachfolger zu machen. Aber in den letzten Apriltagen kam es zwischen ihm und Hitler zu Unstimmigkeiten, was dazu führte, dass Göring nicht ernannt wurde. Was meine Ernennung betrifft, so denken alle, dass unter den gegebenen Umständen Hitler keinen Politiker, sondern einen Soldaten als Nachfolger haben wollte. Offensichtlich hat der Führer die unausweichliche Kapitulation Deutschlands vorausgesehen. Man hat mir erzählt, dass der Führer am 22. April seinen Vertrauten erklärt habe, dass der Krieg verloren sei und er die Entscheidung getroffen habe, Berlin nicht zu verlassen, sondern in seinem Bunker zu bleiben. Das haben mir sowohl Generaloberst Jodl als auch Feldmarschall Keitel erzählt, die sich an diesem Tag bei Hitler aufhielten. Frage: Welche Unstimmigkeiten zwischen Hitler und Göring meinen Sie? Antwort: Göring weiß darüber konkreter Bescheid. Göring hat Hitler gefragt, ob er sein Nachfolger werden könnte. Das war am 23. April. Zu diesem Zeitpunkt entstanden auch die Zwistigkeiten. Hitler erteilte den Befehl, Göring zu verhaften. Frage: In welchem Zustand befand sich die Ihnen unterstellte Kriegsmarine zum Zeitpunkt der Kapitulation? Antwort: Diese Frage kann ich nur aus dem Gedächtnis beantworten, weil ich über keine Dokumente verfüge. Zum Zeitpunkt der Kapitulation besaß die Kriegsmarine folgende Schiffe: 1. Zwei voll einsatzbereite Kreuzer: die „Prinz Eugen“ und die „Nürnberg“, die in Kopenhagen lagen. In Kiel blieben die durch Luftangriffe beschädigten Kreuzer „Emden“, “[Admiral] Scheer“ und “[Admiral] Hipper“. In Wilhelmshaven lag der Kreuzer „Köln“, der auch durch Luftangriffe beschädigt worden war. Der Kreuzer „Leipzig“ war in Gdingen71 gerammt worden und wurde nach Apenrade (Däne-
71 Das frühere westpreußische Gdingen wurde 1939 bis 1945 als Gotenhafen bezeichnet.
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mark) geschleppt72. Der Kreuzer „Lützow“73, ebenfalls durch Luftangriffe beschädigt, verblieb in der Kaiserfahrt bei Swinemünde. 2. 33 Zerstörer, von denen einer vor der Kapitulation gesunken war. Sieben waren reparaturbedürftig. Ihre genaue Lage kann ich nicht angeben. 3. Bis zu 80 Torpedoschnellboote befanden sich im Bestand der Flotte. Von ihnen war die Hälfte ständig einsatzbereit. 4. Von den großen Minenräumbooten des Typs „35“, die mit Öl betrieben wurden und der Typen „40“ und „43“, die mit Kohle liefen, gab es viele. Die genaue Anzahl weiß ich aber nicht. 5 Mehr als 70 U-Boote befanden sich auf See. In den norwegischen Häfen lagen 74 und in den deutschen 150. Die anderen Boote waren zur Überholung vorübergehend stillgelegt. Die Anzahl der im April und Anfang Mai versenkten U-Boote kann ich nicht genau beziffern. Der Großteil der eingesetzten U-Boote bestand aus den alten Typen „VII“ und „IX“. U-Boote neuen Typs waren nur einige wenige vorhanden. Frage: Sie machen in Ihren Aussagen über den Zustand der Flotte zum Zeitpunkt der Kapitulation keine Angaben über den Zustand der Handelsflotte. Was können Sie diesbezüglich sagen? Antwort: Leider verfüge ich nicht über detaillierte Angaben zur Handelsflotte. Genaue Angaben über das Handelsvolumen kann Ihnen der Reichskommissar der Handelsflotte, Gauleiter Kaufmann74, machen. Er hält sich derzeit in Hamburg auf. Soweit ich informiert bin, ist er von der englischen Polizei verhaftet worden. Frage: Wie viele U-Boote hat die deutsche Flotte verloren?
72 Der Kreuzer „Leipzig“ war am 15. 10. 1944 vor der Halbinsel Hel mit dem schweren Kreuzer „Prinz Eugen“ kollidiert und wurde nach provisorischer Reparatur als Schulschiff und zum Beschuss von Landzielen um Gdingen/Gotenhafen verwendet, bevor sie Ende März 1945 nach Apenrade gelangte. 73 Mit der „Lützow“ ist in diesem Zusammenhang das frühere, 1933 in Dienst gestellte Panzerschiff „Deutschland“ gemeint, das im November 1939 in „Lützow“ umbenannt und als Schwerer Kreuzer umklassifiziert wurde. Nachdem die „Lützow“ seit Februar 1945 vor Ostpreußen im Kampf gegen Landverbände der Roten Armee im Einsatz war, lag sie zum Aufmunitionieren seit dem 8. 4. 1945 in der Kaiserfahrt vor Anker. Dort wurde sie am 16. 4. 1945 von britischen Bombern angegriffen und schwer getroffen. Sie bekämpfte von dort aus mit ihren Geschützen die auf Stettin vorrückenden Verbände der Roten Armee, bis sie am 4. 5. 1945 aufgegeben wurde. Der ursprüngliche Schwere Kreuzer „Lützow“ war – noch im Bau befindlich – im Herbst 1939 an die Sowjetunion verkauft worden. 74 Karl Kaufmann (1900–1969), Politiker, 1919 Freikorps, Hilfsarbeiter, 1922 Beitritt zur NSDAP, seit 1929 NSDAP-Gauleiter von Hamburg, 1933–1945 auch Reichsstatthalter in Hamburg, 1939 Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X, seit 1942 auch Reichskommissar für die Seeschiffahrt, zuständig für den zivilen Schiffsverkehr und die Handelshäfen. Am 4. 5. 1945 von britischer Militärpolizei verhaftet und anschließend interniert, 1949 aus gesundheitlichen Gründen entlassen.
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Antwort: Die deutsche Flotte hat seit 1943 jeden Monat zwischen 20 und 25 U-Booten verloren75. Insbesondere nach dem verstärkten Einsatz der [britischen] Luftwaffe zur U-Boot-Suche und der umfänglichen Verwendung von Radartechnik76. Der Ersatz der Verluste ging nur langsam voran. Der monatliche Ausstoß der deutschen Schiffbauindustrie überstieg in den letzten Jahren nicht die Produktion von 20 Schiffen. Frage: An welchen Stellen in der Ostsee befinden sich Minenfelder? Antwort: Diese Angaben mache ich aus dem Gedächtnis. Sie können folglich fehlerhaft sein. Minensperren in der Ostsee wurde beinahe ausschließlich im Finnischen Meerbusen vorgenommen. In der ersten Zeit des Krieges mit Russland (1941) wurden ebenfalls Sperren in den mittleren und westlichen Teilen der Ostsee in folgenden Gebieten errichtet: a) zwischen dem südlichen Ende Ålands und der Memel b) in der Danziger Bucht c) in Memel, Pillau und später in Libau. Im Laufe des Krieges verursachten die verlegten Minen großen Schaden für die eigene Flotte, so dass entschieden wurde, die Minenfelder in den genannten Gebieten zu räumen. In den letzten Kriegsmonaten wurden Minen in den mittleren und östlichen Teilen der Ostsee gelegt: in den Fahrrinnen und am Hafeneingang des Finnischen und des Rigaer Meerbusens, d. h. im Mohn-Sund77, im Neufahrwasser78 und bei Gotenhafen. Genauere Angaben zu deren Position habe ich nicht, denn sie [d. h. die Verminungen] wurden von den Kommandeuren der in diesen Gebieten operierenden Verbände durchgeführt. Die Engländer nahmen aus der Luft eine starke Verminung des westlichen, mittleren und südlichen Teils der Ostsee vor. Die englischen Minen, die durch Flugzeuge verlegt wurden, waren keine Kontaktminen, sondern hatten verschiedene Zünder (elektromagnetische und akustische). Frage: Wie wurde die Minenräumung vor der deutschen Küste organisiert?
75 Zwischen Januar 1943 und Mai 1945 verlor die deutsche Kriegsmarine insgesamt 667 U-Boote, was einen Monatsdurchschnitt von 23 Booten bedeutet. Der verlustreichste Monat war der April 1945, als 56 U-Boote verloren gingen. Vgl. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1, S. 101. 76 Nach der Entschlüsselung der Enigma-Codes und dank der überlegenen Abhörtechnik der Alliierten konnten diese die Standorte der U-Boote relativ genau bestimmen und dann unter Einsatz von Sonar und Wasserbomben angreifen. Einen Durchbruch bedeutete die Ausstattung von Flugzeugen mit Radaranlagen, wodurch die U-Boote auch bei schlechter Sicht und bei Nacht auf Überwasserfahrt angegriffen werden konnten, vor allem wenn diese ihre Batterien aufladen mussten. Von den 785 während des 2. Weltkrieges zerstörten deutschen U-Booten gingen rund 37 % durch Flugzeuge verloren. 77 Meerenge zwischen Estland und den Inseln Mohn, Ösel und Dagö. Der Mohn-Sund verbindet den Finnischen mit dem Rigaischen Meerbusen. 78 Seegebiet vor dem Hafen von Danzig.
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Antwort: Unsere Minenräumkräfte haben ein System von Zwangswegen79 ständig kontrolliert und dieses so von Minen freigehalten. Die vorhandene deutsche Minenräumtechnik war tatsächlich gegen alle anzutreffenden Minen einsetzbar, unabhängig von deren Zündsystemen. Die deutschen Minenräumschiffe verfügen über solche Technik, aber ihre Reserven sind gering. Frage: Wo befinden sich die Offiziere, die für Fragen der Verminung und Räumung zuständig waren? Antwort: Ein großer Fachmann für Fragen der Verminung und ihrer Räumung ist der Referent der Operationsabteilung [beim Chef] des Stabs der Seekriegsführung – Kapitän zur See Zenker80. Im Mai 1945 hielt er sich in Glücksburg, was nicht weit von Flensburg liegt, auf. Frage: Welche Minenarten wurden von Ihnen an der Oder und der Stettiner Bucht verwendet? Antwort: Wir verlegten in der Oder und im Gebiet Stettin aus den bereits genannten Gründen keine Minen, damit keine Minengefahr für unsere eigenen Schiffen entstand. Frage: Wo sind weitere Informationen über Ihre Minensperren und die der Engländer, die in der Ostsee installiert wurden, zu finden? Antwort: Genaue Angaben darüber sind in die Karten eingetragen, die sich im Oberkommando der Marine in Flensburg befinden. Dem Vertreter des Alliiertenkommandos in Flensburg wurden von meinem Stab alle Dokumente in dieser Angelegenheit übergeben. Frage: Welche Radarinstrumente waren auf den Schiffen der deutschen Kriegsmarine installiert? Antwort: Auf den großen Schiffen, d. h. auf den Zerstörern und teilweise auf den Minenräumern, waren Radargeräte installiert, die den Standort des Feindes bestimmen konnten. Die maximale Entfernung betrug 22 km bei einer Angabengenauigkeit der Richtung von 2°. Das war abhängig von der Höhe des Ortes, an dem das Gerät angebracht war. Alle Schiffe verfügten über Geräte zur Flugzeugortung. Für den Austausch von Erkennungssignalen zwischen den eigenen Schiffen waren spezielle Instrumente installiert.
79 Zwangsweg – Fahrwasser, was von den Seestreitkräften kontrolliert und von Minen gesäubert wird. In der Nord- und Ostsee existierten sie wegen der Minengefahr aus dem 2. Weltkrieg stellenweise noch bis 1972. 80 Karl-Adolf Zenker (1907–1998), Fregattenkapitän, seit 1926 Berufssoldat, 1938–1939 Admiralstabs ausbildung, seit Januar 1944 Minenkriegsreferent in der Operations-Abteilung des OKM. 1945–1946 in britischer Kriegsgefangenschaft.
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Der Fachmann für Radarinstrumente im Stab der Seekriegsleitung war Korvettenkapitän Meckel81, der sich in Flensburg aufhielt. Frage: Welchen Veränderungen unterlagen die Einsatzgrundsätze der U-Boote im letzten Krieg? Antwort: Bis 1943 wurden die U-Boote vornehmlich im Sinne der sogenannten „Rudeltaktik“ verwendet. Dabei wurde die größtmögliche Anzahl der U-Boote, die sich auf See befanden, gegen den entdeckten Feind zum Einsatz gebracht. Dank dieser Taktik konnten die U-Boote den Gegner orten und sich ihm verdeckt nähern, auch wenn er sich nicht in Sichtweite der U-Boote befand. Diese Taktik erforderte eine außergewöhnlich sorgfältige und langwierige Vorbereitung, denn die gemeinsame Arbeit aller U-Boote, die an der Operation teilnahmen, basierte auf den Funkbefehlen des Kommandos, das sich an Land befand (am Anfang in Lorient und dann in Paris) und den Funkmitteilungen einzelner U-Boote, die den Gegner aufgespürt hatten. Die Verbindung wurde über die Lang- und Kurzwellenempfangsgeräte der U-Boote gehalten. Das bot den U-Booten die Möglichkeit, Befehle zu erhalten, egal ob sie sich über Wasser oder unter Wasser befanden. 1943 wurden die englischen Luftstreitkräfte mit speziellen Radarempfangsgeräten ausgestattet. Das U-Boot verlor damit die Möglichkeit, an der Wasseroberfläche außerhalb der Sichtweite des Gegners zu operieren, denn die Flugzeuge orteten es früher, als das U-Boot das Flugzeug des Gegners entdecken konnte. U-Boote, die ihre Akkumulatoren aufluden82 oder an die Wasseroberfläche kamen, um sich dem Gegner zu nähern, wurden von den Flugzeugen angegriffen. Gleichzeitig wurden die Konvois durch Gebiet umgeleitet, in denen sich unsere U-Boote nicht befanden. Die U-Boote konnten sich für einen Angriff dem Feind nicht nähern, wurden selbst aber gleichzeitig durch Wasserbomben beschädigt. Damit war klar, dass die Zeit vorbei war, in der sich U-Boote auf dem Meer frei an der Wasseroberfläche aufhalten konnten. Alle Versuche, die Luftpatrouillen des Gegners durch die Ausrüstung einer großen Menge von U-Booten mit Flakwaffen zu bekämpfen, konnten die sich verschlechternden Bedingungen für die U-Boote nicht ändern. Für die Fortsetzung eines erfolgreichen Seekrieges mit U-Booten war es nötig, solche Boote herzustellen, die nicht an die Wasseroberfläche kommen mussten, und deren Unterwassergeschwindigkeit derartig erhöht war, dass sie sich dem Gegner
81 Hans Meckel (1910–1995), Fregattenkapitän, seit 1928 Berufssoldat, 1935–1939 U-Bootkommandant, 1939–1944 Stabsoffizier in der Operationsabteilung beim Befehlshaber der Unterseeboote (BdU), ab Juni 1944 Chef der Abteilung Ortungsdienst im OKM. 82 Die Batterien der bei der Kriegsmarine am meisten verbreiteten dieselelektrischen U-Boote der Typen VII und IX wurden während der Überwasserfahrt geladen.
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unter Wasser nähern konnten. Diese Konstruktionsanforderungen wurden durch die U-Boote der Serien XXI und XXIII und sowie durch die Walter-U-Boote gelöst. Das U-Boot der Serie XXI (Wasserverdrängung von 1500 t, Geschwindigkeit: Überwasser 15 Knoten, Unterwasser: 16–18 Knoten, 6 Torpedorohre, 20 Torpedos) besitzt eine Akkumulatorbatterie, deren Kapazität im Vergleich zu den U-Booten alten Typs doppelt so groß ist; für die verbesserte Unterwasserfahrt verfügt es über eine spezielle ellipsen-ähnliche Form; das Verhältnis von Höhe und Breite beträgt 2:1. Um das Aufladen der Batterien während des Tauchgangs zu ermöglichen (in Periskoptiefe), war das U-Boot mit einer speziellen Vorrichtung ausgestattet: dem „Schnorchel“ (ein hohler Mast mit speziellen Ventilen, durch den in das U-Boot frische Luft gelangt und Abgase ausscheiden). Das Aufladen der Batterien unter Wasser war auch bei starkem Wellengang möglich. Die Torpedorohre des Schiffes der Serie XXI können, dank einer speziellen Vorrichtung, in ein bis zwei Minuten nachgeladen werden. Das U-Boot dieser Serie kann von Deutschland nach Japan um Afrika fahren, ohne einmal an die Oberfläche zu kommen. Der Aktionsradius des U-Bootes liegt bei ungefähr 22 000 Seemeilen. Das U-Boot der Serie XXIII hat zwei Torpedorohre im Bug. Die Geschwindigkeit an der Oberfläche beträgt 9 Knoten, Unterwasser 10–12 Knoten. Es kann ungefähr drei Wochen auf See bleiben. Ansonsten besitzt es die gleiche Ausstattung wie das U-Boot der Serie XXI. Das „Walter“-U-Boot83 ist nach einem völlig anderen Prinzip konstruiert. Sein Unterwassermotor ist eine Turbine, die durch konzentriertes Wasserstoffperoxid angetrieben wird. Der Vorteil dieses Bootes ist seine sehr hohe Unterwassergeschwindigkeit, die bis zu 23 Knoten erreicht. Ein Nachteil ist der geringe Radius der Unterwasserfahrt. Eigentlich wird dieser durch den Vorrat an Wasserstoffperoxid beschränkt. Diese Boote verfügen auch über eine (kleine) Akkumulatorbatterie und den „Schnorchel“. Frage: Von wem und wo wurden die U-Boote des neuen Typs projektiert und gebaut? Antwort: Die U-Boote der Serie XXI und XXIII wurden vom Amt Kriegsschiffbau84 des Oberkommandos der Marine projektiert. Einzelne technische Zeichnungen wurden im Ingenieurbüro „Glückauf“ angefertigt, das sich in Blankenburg im Harz befand. Später wurde es möglicherweise nach Hamburg verlegt.
83 Der auf der Basis von Wasserstoffperoxid arbeitende und damit von Außenluft unabhängige Antrieb wurde seit den 1930er Jahren vom Ingenieur Hellmuth Walter entwickelt. Nach dem Bau mehrerer Versuchsmuster wurden 1944 drei Walter-U-Boote des Typs XVII B in Dienst gestellt, die jedoch nicht zum Einsatz kamen. 84 Dem Amt Kriegsschiffbau des OKM standen vor: ab April 1939 Konteradmiral Werner Grassmann (1888–1943), ab Juni 1939 Admiral Werner Fuchs (1891–1976) und von Oktober 1944 bis Kriegsende Vizeadmiral Friedrich Ruge (1894–1985).
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Das Amt Kriegsschiffbau des Oberkommandos der Marine (es befand sich anfangs in Berlin und später in Hamburg) verteilte die Aufträge zur Herstellung einzelner Maschinen an verschiedene Unternehmen in ganz Deutschland. Die Sektionen des U-Bootkörpers wurden im Landesinneren hergestellt. Danach wurden auf den Werften in Wilhelmshaven, Bremen, Hamburg, Kiel und Danzig in die Sektionen die entsprechenden Geräte montiert und anschließend fand auf den Montagewerften in Bremen, Hamburg und Danzig das Zusammenschweißen der Sektionen statt. Die Konstrukteure der neuen U-Boote waren Marinebeamte des Amts Kriegsschiffbau des Oberkommandos der Marine. Zum Beispiel der Konstrukteur, Marineoberbaurat [richtig Marinebaudirektor] O[e]lfken85 (für die Geräte) und Oberbaurat [richtig Ministerialrat] Aschmoneit86 (für den U-Boot-Körper). Beide sollten vor der Kapitulation in Holstein gewesen sein. So wurden die neuen U-Boote hergestellt, die während ihres Einsatzes nicht mehr an die Wasseroberfläche auftauchen mussten. Für diese Boote benötigt man eine neue Taktik sowie eine neue Ausbildung der Mannschaft. Die U-Boote dieses Typs, die eine höhere Geschwindigkeit unter Wasser erreichten, wurden erneut unsichtbar und erhielten die verlorene Fähigkeit eines unerwarteten Angriffs auf den Gegners zurück. Frage: Wie wurde die Ausbildung der Besatzungen der U-Boote organisiert? Antwort: Die Ausbildung der Besatzung war zweigeteilt: in die Ausbildung der Offiziere und die der Mannschaftsdienstgrade. Die Ausbildung der Wachoffiziere nahm fünf Monate in Anspruch. Die Offiziere im Ingenieursbereich wurden sechs Monate ausgebildet, ebenso wie die Kommandanten der U-Boote. Die Ausbildung der Mannschaften setzte sich aus einem fünfmonatigen U-Bootfahrer-Kurs und einer drei- bis sechsmonatigen Ausbildung in Spezialkursen zusammen. Die U-Boot-Schulen befanden sich an der Küste und verfügten für die praktische Vertiefung des theoretischen Wissens über 20 Ausbildungs-U-Boote. Für die Ausbildung zum Torpedoschießen verfügten die Schul-Flottillen über besondere Zielschiffe. Jeder zukünftige Kommandant eines U-Bootes führte bis zu 50 Torpedoabschüsse durch. Die Lehrer und der Leiter der Schule setzten sich verständlicherweise aus erfahrenen U-Bootfahrern zusammen, damit ein hohes Ausbildungsniveau gewährleistet war. Nach Abschluss der Schulausbildung übernahm die Mannschaft ein auf der Werft gebautes U-Boot und machte es gefechtsklar. Dem schloss sich eine zweimonatige
85 Heinrich Oelfken (1899–1978), 1939–1940 Generalreferent Elektrotechnik beim OKM, 1940–1940 Generalreferent U-Boot-Elektrotechnik, 1943–1944 Mitglied der Schiffsbaukommission, zugleich Betriebsführer des Ingenieur-Büros „Glückauf“, 1944–1945 Abteilungsleiter Maschinenbau und Elektrotechnik für Unterseeboote bei der Amtsgruppe Schiffbau und Schiffmaschinenbau beim Amt Kriegsschiffbau des OKM. 86 Christoph Aschmoneit (1901–1984), Ministerialrat, seit 1938 in der Konstruktionsabteilung des OKM, 1944 Abteilungsleiter Schiffbau-Unterseeboote bei der Amtsgruppe Schiffbau und Schiffmaschinenbau beim Amt Kriegsschiffbau des OKM.
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Gefechtsausbildung in den Einsatz-Flottillen an. Danach galten Schiff und Mannschaft als vollständig vorbereitet für den Kriegseinsatz. Frage: Berichten Sie, wie die deutsche Kriegsmarine vor der Kapitulation in den verschiedenen Kriegsabschnitten agierte! Antwort: Um die Vorherrschaft auf See zu erringen, war angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen England auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite ein Kampf mit Überwassereinheiten undenkbar. Aber England war sehr abhängig von Importen und seine Kommunikation stellte ein Ziel für Angriffe dar. Deren Erfolg hing nicht von der Vorherrschaft auf See ab, sondern lag in der Verfügung über die Mittel für einen Seekrieg. Das waren in erster Linie die U-Boote. Deswegen zielte die deutsche Marineführung auf einen Handelskrieg (Tonnage-Krieg) und ordnete alles andere diesem Ziel unter. 1. September 1939 bis April 1940. Bei Kriegsbeginn wurden alle gefechtsklaren U-Boote für Operationen gegen die englischen Handelsimporte eingesetzt. Damals operierten eine große Anzahl der U-Boote westlich von England und im nord-östlichen Teil des Atlantiks. Gleichzeitig wurde eine große Anzahl besonderer Operationen durchgeführt, die auf Stützpunkte und einzelne Küstenzonen Großbritanniens abzielten. Bei diesen Operationen (z. B. das Eindringen der U-Boote in die Bucht von Scapa Flow87 und andere) wurden sowohl Minen als auch Torpedos verwendet. Im Atlantik kreuzten die Linienschiffe „Deutschland“ (Nordatlantik) und „Graf Spee“ (Mittel- und Südatlantik). Zerstörer, die von der Luftwaffe unterstützt wurden, führten einen intensiven Minenkrieg in der Mündung der Themse und der östlichen Küstenzone Englands. Die anderen Einheiten der Kriegsmarine waren damit beschäftigt, zahlreiche Minensperren zur Verteidigung einzurichten. Gleichzeitig versahen sie auch den Patrouillendienst im Nordmeer und dem Skagerrak. Gegen Ende 1939 wurden die endlich einsatzbereiten Schlachtschiffe „Scharnhorst“88 und „Gneisenau“89 in das Nordmeer entsandt, um dort die Kommu-
87 Am 14. 10. 1939 versenkte U 47 unter Kapitänleutnant Günther Prien (1908–1941) in der Bucht von Scapa Flow, dem als uneinnehmbar geltenden Stützpunkt der britischen Marine bei den Orkney Inseln, das Schlachtschiff HMS „Royal Oak“ und entkam wieder in die Nordsee. Die Versenkung der „Royal Oak“, die 833 Seeleute das Leben kostete, löste in Großbritannien einen schweren Schock aus und lieferte der deutschen Kriegspropaganda wirksamen Stoff. 88 Das Schlachtschiff „Scharnhorst“ lief 1936 vom Stapel und wurde Anfang 1939 in Dienst gestellt. Nach mehreren Einsätzen im Nordatlantik wurde es Ende 1943 beim Nordkap durch alliierte Seestreitkräfte versenkt, nur 36 Mann der Besatzung überlebten. 89 Das Schlachtschiff „Gneisenau“ lief ebenfalls 1936 vom Stapel und wurde im Mai 1938 in Dienst gestellt. Von 1939–1941 operierte das Schiff in der Nordsee, dann im Nordatlantik. 1942 wurde das Schiff in Kiel von alliierten Bombern außer Gefecht versenkt und schließlich 1945 bei Gotenhafen als Blockschiff selbstversenkt.
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nikation zwischen England und Norwegen zu stören und so möglichst viele englische Seekräfte zu binden. 2. Die Operationen in Norwegen Im April 1940 bestand die Hauptaufgabe der Kriegsmarine, einschließlich der U-Boote, in der Eroberung Norwegens. Es gab Hinweise darauf, dass England versuchte, Norwegen zu besetzen, was für uns eine Einschränkung der Handlungsfreiheit bedeutet hätte. Alle Kräfte der Flotte waren auf die Erfüllung dieser Aufgabe gerichtet. Die Eroberung Norwegens war größtenteils ein unerwarteter Erfolg: mit Ausnahme der Region um Narvik und nördlich davon, die wir erst endgültig einnehmen konnten, nachdem die Engländer wegen ihres Misserfolges in Frankreich90 ihre Truppen aus Norwegen abgezogen hatten. Mit der Besetzung Norwegens verbesserte sich die strategische Position Deutschlands bedeutend. Die englische Blockadelinie (Bergen – Scapa Flow), die bereits aus dem ersten Weltkrieg bekannt war, wurde durchbrochen. Der Zugang zum Atlantik wurde erleichtert. Durch die norwegischen Häfen wurde der Aktionsradius der U-Boote und anderen Schiffe deutlich vergrößert und der Schutz der Ostsee, des Skagerraks und der deutschen Küstengewässer erleichtert. 3. Juni 1940 bis Ende 1941 Durch die Besetzung Hollands, Belgiens und Frankreichs verbesserte sich die strategische Position der deutschen Marine noch mehr. Die U-Boot-Stützpunkte wurden an die französische Küste verlegt und dort Basen für die Schiffe der Flotte hergerichtet. Am Kanal reichten die deutschen Kräfte ganz nah an England heran. Das Ergebnis war eine starke Aktivierung des Handelskriegs mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Durch die kürzeren Wege hatten die U-Boote größere Erfolge zu verzeichnen. Die Schlachtschiffe „Scharnhorst“, „Gneisenau“ und der Kreuzer „Admiral Hipper“ wurden in den Nordatlantik und den Stillen Ozean entsandt. Torpedoschnellboote und Zerstörer begannen Operationen gegen die Südküste Englands und die Themsemündung. Allerdings führten die Besetzung Islands durch die Engländer (Anfang 1941) und die Errichtung einer neuen Blockadelinie von Scapa Flow – Island – Grönland, die Überlegenheit der feindlichen Überwassereinheiten und die etwas später einsetzenden Angriffe der englischen Luftwaffe auf die französischen Stützpunkte (besonders Brest) dazu, die Präsenz der schweren Kampfschiffe im Atlantik zu begrenzen.
90 Ende Mai 1940 war das Britische Expeditionskorps in Frankreich zusammen mit französischen Truppen im Kessel von Dünkirchen eingeschlossen worden. Im Rahmen der Operation „Dynamo“ gelang die Evakuierung von 338 000 Soldaten, darunter 123 000 Franzosen, nach England. Begünstigt wurde die Evakuierungsaktion durch einen Haltebefehl an die deutschen Panzerdivisionen, die am 24. 5. 1940 nur 15 km vor Dünkirchen standen, der offenbar auf Unsicherheiten bei der Obersten Wehrmachtsführung über das tatsächliche Potential der Panzerwaffe beruhte.
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Die Versuche, unter diesen Umständen mit Überwassereinheiten Operationen durchzuführen, führten zur Vernichtung des Schlachtschiffes „Bismarck“91 und bedeuteten das Ende der Angriffsaktivitäten schwerer deutscher Kampfschiffe im Atlantik. Der Unterwasserkrieg wurde in dieser Zeit mit zunehmendem Erfolg geführt. Mit dem Kriegsbeginn gegen Russland am 22. Juni 1941 kamen zwei weitere Schauplätze für die Marineoperationen hinzu – die Ostsee und das Schwarze Meer. Das Ziel der Marineführung in der Ostsee bestand darin, die russische Flotte im Finnischen Meerbusen durch den starken Einsatz von Minen zu blockieren. Im Schwarzen Meer versuchten wir, so weit wie möglich, eine offensive Politik zu führen und gleichzeitig unsere eigenen Interessen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. In der Barentssee erweiterten sich die Aufgaben durch die Ankunft russischer Marine kräfte und die Verlegung von Stützpunkten ebenfalls. 4. 1942 bis März 1943 Als die USA am 8. Dezember 1941 in den Krieg eintraten, hatten die Erfolge der U-Boote ihren Höhepunkt erreicht. Das Zentrum des Unterwasserkriegs befand sich zuerst (ungefähr fünf Monate lang) unmittelbar vor der Küste der USA, wo große Erfolge errungen wurden. Die U-Boote führten eine bedeutende Zahl von erfolgreichen Kämpfen gegen Konvois. Mit der höheren Zahl von U-Booten92 erhöhten sich auch die Erfolge. Da sich die schweren Überwassereinheiten nicht im Atlantik aufhalten konnten, wurden sie durch den Kanal zurück zu den deutschen Stützpunkten gebracht. Der Durchbruch der Schiffe „Scharnhorst“, „Gneisenau“ und „Prinz Eugen“ mit einigen Zerstörern gelang, trotz der Überlegenheit der Engländer in der Funkortung, durch eine Überraschung93. Der Einsatz von Hilfskreuzern wurde fortgesetzt, ließ aber bald nach, denn beim Anlaufen an die französische Küste und nach Norwegen beherrschte die englische Luftwaffe den Luftraum, was den Durchbruch der Überwasserschiffe behinderte. 5. März 1943–November 1944 Nachdem im März 1943 nochmals große Erfolge im Kampf gegen die Konvois errungen werden konnten, waren seit April 1943 die feindlichen Flugzeuge mit Radargeräten
91 Am 24. 5. 1941 kam es im Atlantik zu einem Gefecht zwischen der „Bismarck“ und britischen Schlachtschiffen, bei dem die britische „Hood“ versenkt, aber auch die „Bismarck“ beschädigt wurde. Bei der anschließenden Verfolgung beschädigten Torpedoflieger am 26. 5. 1941 die Ruderanlage des Schiffes, so dass es am nächsten Tag durch britische Überwassereinheiten versenkt wurde. Damit war der deutsche Zufuhrkrieg mit schweren Überwassereinheiten faktisch beendet. 92 Waren zu Kriegsbeginn 1939 nur 39 U-Boote im Fronteinsatz, so standen im Dezember 1941 bereits 88 zur Verfügung, bis Ende 1942 stieg deren Zahl auf 204 U-Boote. 93 Im Rahmen des Unternehmens „Cerberus“ durchbrachen die Kriegsschiffe „Scharnhorst“, „Gneisenau“ und „Prinz Eugen“ vom 11.–13. 2. 1942 den Kanal in Richtung Nordsee. Sie wurden auf Druck Hitlers in die Heimat verlegt, der bei einer Versenkung von Großschiffen weitere negative Auswirkungen auf die Bevölkerung fürchtete.
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ausgestattet. Sie begannen mit Erfolg in allen Gebieten U-Boot-Abwehr-Operationen. Die Verluste von U-Booten nahmen zu und gleichzeitig gab es so gut wie keine Erfolge mehr. Die U-Boote konnten überhaupt nicht mehr an der Wasseroberfläche auftauchen, ohne ihren Aufenthaltsort preiszugeben. Der Unterwasserkrieg endete im Fiasko. Aber er wurde nicht völlig eingestellt, sondern fortgesetzt, um die feindlichen Seestreitkräfte zu binden, um die erlangten Erfahrungen nicht zu verlieren und letztlich um die Waffen gefechtsbereit zu halten; aber das Ergebnis war minimal. Die vorhandenen Überwassereinheiten befanden sich zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich in Norwegen. Sie hatten die Aufgabe, Norwegen zu verteidigen und dort so viele feindliche Sicherungsschiffe wie möglich zu binden. Nach der Invasion der Engländer in Südmarokko (8. November 1942) entwickelte sich die Lage im Mittelmeer kritisch. Die Kriegsmarine hatte hier große Aufgaben bei der Versorgung der Armee94 und nachfolgend zu ihrer Evakuierung aus Tunis zu bewältigen. Diese Aufgaben wurden gemeinsam mit der italienischen Flotte durchgeführt. Gleichzeitig begann sich die Situation in der Ostsee und im Schwarzen Meer zu ändern. Die Räumung des Kuban-Brückenkopfes95 und der Krim stellte für die Kriegsmarine eine enorme Herausforderung dar, die hauptsächlich darin bestand, den Rückzug zu decken und die Truppen zu evakuieren. Das gleiche gilt auch für Frankreich, nachdem die Engländer im Juni 1944 in der Normandie gelandet waren. 6. November 1944 bis zum Kriegsende Dieser Zeitabschnitt ist gekennzeichnet durch den Rückzug der deutschen Truppen an allen Fronten und durch den sich verstärkenden Druck aller vorhandenen Kampfmittel des Gegners auf den geringen Raum, der Deutschland geblieben war. Dennoch begannen die Erfolge der U-Boote noch einmal anzusteigen. Die neuen U-Boote wurden im März 1945 (Typ XXIII) und April 1945 (Typ XXI) in einzelnen Exemplaren fertig gestellt. Sie begannen erfolgreich zu agieren und Dank der Erfindung des „Luftmastes“, des Schnorchels, gelang es zudem, die alten U-Boote wieder mit Erfolg einzusetzen, da sie jetzt in den Küstenregionen operieren konnten, in denen sie zuvor nicht hatten handeln können.
94 Hier ist die deutsch-italienische Heeresgruppe Afrika gemeint, die zuletzt unter dem Kommando von Generaloberst Hans-Jürgen von Arnim (1889–1962) stand. Bis zum 13. 5. 1943 gingen trotz der Evakuierungsbemühungen in Tunesien 130 000 Deutsche und 120 000 Italiener in alliierte Kriegsgefangenschaft. 95 Als Kuban-Brückenkopf wurde die von der 17. Armee vom 31.1.–9. 10. 1943 gehaltene Stellung auf der Taman-Halbinsel am Ostufer des Schwarzen Meeres, die durch die Straße von Kertsch von der Krim getrennt ist, bezeichnet. Hierher hatten sich Teile der Heeresgruppe A nach dem gescheiterten Vorstoß zum Kaukasus zurückgezogen. Aus dem Brückenkopf wurden durch den Einsatz der Marine 240 000 Soldaten, 16 311 Verwundete und zahlreiches Material auf die Krim evakuiert.
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Entscheidende Operationen konnten die U-Boote allerdings nicht durchführen, denn der Misserfolg der Führung an Land entriss ihnen die Basis und führte zur Kapitulation. Dönitz Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 367–393. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.3 Sowjetisches Verhörprotokoll des Reichsmarschall Hermann Göring, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 Kurzes Ergebnisprotokoll des Verhörs des deutschen Reichsluftfahrtministers Göring, Hermann 17. Juni 1945 Göring, Hermann Wilhelm, Alter: 52, Reichsminister und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, seit 1922 Mitglied der NSDAP. Frage: Beherrschen Sie die russische Sprache? Antwort: Nein, ich kenne lediglich ein russisches Wort: welikij (mächtig, groß). Frage: Was fanden Sie an diesem Wort bemerkenswert? Antwort: Bei Welikie Luki96 stießen wir auf erhebliche Schwierigkeiten im Kampf gegen die Russen. Dort forderte ich, dass man mir das Wort „welikij“ erläutert. Frage: Wann erfuhren Sie von den Kriegsplänen Hitlers gegen die Sowjetunion? Antwort: Ich erfuhr davon ca. eineinhalb bis zwei Monate vor Kriegsbeginn. Frage: Wir wissen, dass Hitler schon 1940 allen Oberkommandierenden den Befehl zur Vorbereitung eines Überfalls auf die UdSSR zukommen ließ. Wie konnten Sie als Reichsminister der Luftfahrt diesen Befehl nicht erhalten haben?
96 Stadt im Gebiet von Pskov, in deren Nähe es im Sommer 1941 zu heftigen Gefechten zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee kam.
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Antwort: Ich kann mich an das genaue Datum nicht mehr erinnern, als ich von den Kriegsvorbereitungen gegen die UdSSR erfuhr. Über die Bedingungen im Herbst 1940 kann ich folgendes sagen: 1. Zu dieser Zeit existierte tatsächlich ein Befehl zur Kriegsvorbereitung, der allerdings mit Russland überhaupt nichts zu tun hatte. Es ging um die Eroberung Gibraltars, wofür unsere Truppen durch Spanien marschieren sollten. Diese Operation war vollständig vorbereitet. Sie wurde aber leider abgesagt. 2. Weihnachten 1940 befand ich mich mit meiner gesamten Familie in Rumänien ca. 300 km von der russischen Grenze entfernt. Wenn ich von den bevorstehenden Kriegshandlungen gegen die Sowjetunion gewusst hätte, so hätte ich wohl kaum entschieden, mit meiner Familie nach Rumänien zu fahren, wo wir uns in unmittelbarer Nähe zur sowjetischen Grenze befanden. Diese zwei Umstände lassen mich daran zweifeln, dass es im Herbst 1940 einen Befehl zur Kriegsvorbereitung gegen dies Sowjetunion gab. Wenn es einen solchen Befehl gegeben hätte, so hätte ich von ihm nicht später als zwei Wochen vor seiner Unterzeichnung erfahren. Frage: Was hielten Sie von der Entstehung eines Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion? Antwort: Ich war immer ein Gegner eines Krieges gegen Russland. Als ich von den Kriegsplänen Hitlers gegen die UdSSR erfuhr, war ich einfach nur schockiert. Zu dieser Zeit war die gesamte Luftwaffe im Westen im Einsatz und kämpfte gegen die Engländer. Die vor uns liegende Aufgabe war noch lange nicht erfüllt. Im Falle eines Kriegs mit Russland stand mir bevor, gut die Hälfte der Flugzeuge an die Ostfront zu schicken. Ich versuchte mehrmals, den Führer von seinen Plänen, gegen die UdSSR zu kämpfen, abzubringen. Der Führer aber trug sich mit dem Gedanken eines Krieges gegen Russland, und ich konnte ihn nicht umstimmen. Ich war der Meinung, dass ein Krieg gegen die UdSSR unzweckmäßig sei. Frage: Wie passt eine solche Meinung mit ihren zahlreichen öffentlichen Reden über den Hass gegen die Sowjetunion zusammen und damit, dass die „Sowjetunion vernichtet wird“? Antwort: Ich wäre sehr überrascht, wenn Sie mir auch nur eine meiner Reden nachweisen könnten, die in diesem Ton gehalten wurde. Es ging nicht um die Frage des Hasses oder der Liebe zur Sowjetunion, sondern um die Zweckmäßigkeit eines Krieges gegen die UdSSR. Ich war eben der Meinung, dass gegen die UdSSR zu kämpfen unzweckmäßig sei, aber dennoch war ich immer ein Gegner Ihrer Weltanschauung. Gleichwohl ist es eine Sache, Gegner eines Krieges gegen die Sowjetunion zu sein, eine andere aber, in der Presse eine einheitliche Meinung in dieser Frage zu äußern. Nachdem der Führer den Krieg begonnen hatte, bestand meine Pflicht darin, alles für einen Sieg zu tun. Stalin war für mich immer ein mächtiger Gegner. Frage: Waren Sie selbst an der Ostfront?
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Antwort: Ich war nur kurz in Russland. Ich kenne auch nur eine russische Stadt – Winniza97. Nach Winniza kam ich nicht aus militärischen Gründen, sondern weil mich das dortige Theater interessierte. Frage: Wie nahm die deutsche Bevölkerung die ersten starken Bombardements wahr, nachdem Sie versprochen hatten, dass Sie es nicht zulassen würden, dass auch nur eine einzige Bombe auf Berlin fiele? Antwort: Diese Äußerungen werden mir von der feindlichen Propaganda zugeschrieben. Ich habe nur gesagt, dass ich alles in meiner Macht stehende tue, damit auf Berlin nicht eine Bombe fällt. Außerdem wurde das gesagt, als wir die vollständige Luftherrschaft hatten. Die Bombardements waren furchtbar und demoralisierten die Bevölkerung. Frage: Wie groß war Ihr Einfluss auf die Führung der NSDAP? Antwort: Seit 1922 war ich ein glühender Anhänger Adolf Hitlers. Von 1923 bis 1928 befand ich mich im Ausland. 1928 fuhr ich erneut nach Deutschland, aber ich arbeitete schon nicht mehr in der Partei. 1928 wurde ich zum Reichstagsabgeordneten gewählt. Von 1930 bis 1931 wurde meine Position in der Partei zusehends wichtiger. Im Reichstag spielte ich eine große Rolle. Von Anfang 1931 bis 1933 war ich politischer Bevollmächtigter des Führers und spielte eine entscheidende Rolle bei der Verhandlungsführung mit anderen Organisationen und im Ausland. Bei der Aufstellung der Regierung spielte ich eine Schlüsselrolle, denn ich hatte eine gute Beziehung zu Hindenburg. Frage: Waren Sie mit den Staats- und Parteiangelegenheiten der letzten Jahre einverstanden? Antwort: Mit den Staatsangelegenheiten ja, was die Partei betrifft nicht. Ich hatte keinen Posten in der Partei, aber als zweiter Mann im Staat nahm ich großen Anteil an der Entscheidung von Staatsfragen. In die Parteihierarchie mischte ich mich nicht ein, denn ich hatte sechs bis sieben Staatsposten, so dass es ohnehin genug Arbeit gab. Seit der Zeit, als Bormann Sekretär der Reichskanzlei98 wurde, er war mein stärkster Gegner, beendete ich meine Tätigkeit in der Partei. 1943 wurde ich vollständig aus dem Parteileben ausgeschlossen. Ich hatte niemals, selbst in den einflussreichsten Jahren meines Lebens, so viel Einfluss auf Hitler wie Bormann. Wir nannten Bormann „kleiner Sekretär, großer Intrigant und dreckiges Schwein“. Von Parteibeschlüssen
97 Von Juli 1942 bis Februar 1943 war das Führerhauptquartier „Werwolf“ 8 Kilometer nördlich von Winniza in der Ukraine stationiert. 98 Gemeint ist hier das 1941 in Partei-Kanzlei umbenannte Parteibüro der NSDAP, der sog. Stab des Stellvertreters des Führers, den Martin Bormann seit Juli 1933 leitete.
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erfuhr ich, nachdem sie getroffen worden waren. Seitdem Bormann aktiv war, hielt ich nur noch einmal einen Vortrag auf der Versammlung der Gauleiter über die Lage der Luftwaffe. Meine Position in der Partei beruhte nur auf meiner persönlichen Autorität und als Nachfolger Hitlers. Frage: Was für eine Beziehung hatten Sie zu Hitler? Antwort: Bis 1941 hatte ich eine hervorragende Beziehung zum Führer. Im Laufe des Krieges verschlechterten sie sich, bis es zum vollständigen Bruch kam. Frage: Was meinen Sie mit „Bruch“ in Ihrer Beziehung zu Hitler? Antwort: Ich meine damit die Tatsache, dass Hitler mich von meinen Pflichten entband, aus der Partei ausschloss und zum Tode verurteilte. Am 22. April [1945] teilte Hitler mit, dass er in Berlin bleiben und dort sterben werde. An diesem Abend sprach er zum ersten Mal über die Möglichkeit einer Niederlage. Er war zornig und erklärte, die Besten aus seiner nächsten Umgebung hätten ihn verraten. Einer der Generale fragte ihn, ob man nicht die Truppen, die sich im Westen befänden, nach Berlin verlegen sollte, um es vor den Russen zu verteidigen. Hitler antwortete: „Das soll der Reichsmarschall entscheiden.“ Der General sagte: „Aber es ist doch möglich, dass die Armee nicht unter dem Kommando Görings kämpfen möchte.“ Hitler antwortete: „Wollen Sie wirklich weiterkämpfen? Das ist nutzlos. Wir sollten uns auf einen Kompromiss einlassen und Göring kann das besser als ich.“ Danach befahl Hitler, dass ein großer Teil der Militärs nach Süddeutschland fliegen sollte. Unter ihnen befand sich auch der Stabschef der Luftwaffe Koller99, der danach zu mir kam und berichtete. Nach dem Besuch von Koller rief ich Dr. Lammers100 an und bat ihn um seine Meinung, ob ich, angesichts der gegebenen Umstände, nicht die Macht in meine Hände nehmen sollte. Es wurde entschieden, dass ich nach Berlin telegraphiere und Anweisungen erbitte. Ich schickte ein Telegramm mit folgendem Inhalt: „Da Sie entschieden haben, in Berlin zu bleiben, bitte ich Sie mir mitzuteilen, ob Ihr Testament in Kraft tritt, wonach ich Ihr Nachfolger bin, und ob ich Handlungsfreiheit in allen Fragen der Innen- und Außenpolitik besitze, wie es das Regierungsinteresse fordert. Wenn ich bis zehn Uhr abends keine Antwort erhalte, so werde ich annehmen, dass
99 Karl Koller (1898–1951), General der Flieger, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, seit 1916 Flieger, 1920–1935 Pilot und Ausbilder der bayerischen Landespolizei, 1935 Eintritt in die Luftwaffe, Generalstabausbildung, Ausbilder an der Luftkriegsschule, 1938 Ia beim Luftgaukommando München, 1941 Stabschef der Luftflotte 3 (West), 1943 Chef des Luftrüstungsstabs, ab November 1944 Chef des Generalstabs der Luftwaffe. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft. 100 Hans Heinrich Lammers (1879–1962), Staatssekretär, promovierter Jurist, zunächst Richter, seit 1920 Ministerialbeamter, 1932 Beitritt zur NSDAP. 1933–1945 Chef der Reichskanzlei, im April 1945 auf Befehl Hitlers wegen seiner Unterstützung für Göring verhaftet, vor der Erschießung rettete ihn die Gefangennahme durch US-Truppen. Im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1951 begnadigt und entlassen.
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Sie schon keine Entscheidungsfreiheit mehr haben und selbstständig handeln.“ Später gab ich die Antwortfrist bis Mitternacht an. Mein „Antipode“ Bormann saß in Berlin und legte Hitler offensichtlich mein Telegramm so vor, als ob ich eine Verschwörung gegen Hitler plane. Um 18 Uhr erhielt ich die Antwort, dass die vorangegangenen Weisungen ungültig sind und ich nicht mehr Nachfolger bin. Um 20 Uhr erschienen Soldaten der SS und erklärten mir, dass meine Familie und ich verhaftet seien. Um neun Uhr am nächsten Morgen kam der SS-Obersturmbannführer und Chef der SS auf dem Obersalzberg, Dr. Frank, zu mir und las mir folgendes Telegramm von Hitler vor: „Durch Ihr Verhalten und Ihre Handlungen haben Sie mich und die Sache des Nationalsozialismus verraten. Als Strafe steht darauf der Tod. Aufgrund Ihrer großen Verdienste in der Vergangenheit entlasse ich Sie unter dem Vorwand einer schweren Krankheit von Ihrem Posten als Oberkommandierender der Luftwaffe.“ Am nächsten Tag wurde über das Radio mitgeteilt, dass ich meinen Rücktritt wegen einer schweren Krankheit eingereicht habe. Das Volk lachte natürlich darüber, denn niemand glaubte daran. Die SS-Soldaten erhielten von Bormann folgende Anweisung: „Wenn die Krise in Berlin ihren Höhepunkt erreicht, sollen auf den Befehl des Führers der Reichsmarschall und seine Umgebung erschossen werden. Soldaten der SS – ihr sollt diese Pflicht ehrenvoll erfüllen. Martin Bormann“ Die SS-Soldaten hatten aber nicht vor, diesen Befehl auszuführen, denn sie hielten das nicht für einen Befehl des Führers, sondern lediglich für einen Dienst „meines Freundes“ Bormann. Das war eine vollkommen sinnlose Entscheidung. Im Bunker wurden sie offenbar verrückt und hörten auf, Herr ihrer eigenen Handlungen zu sein. Am 24. April wurde ich von Leuten Bormanns verhaftet. Vom 4. auf den 5. Mai sahen mich die Piloten meiner Luftwaffeneinheiten, die über Mauterndorf flogen, wo meine Familie und ich in Gefangenschaft saßen. Sie überfielen die Wachen und befreiten mich. Meine Beziehung zum Führer verschlechterte sich seit 1941. Wir hatten unterschiedliche Ansichten bezüglich des Einsatzes der Luftwaffe an der Ostfront. Im Laufe der Kriegshandlungen gegen die UdSSR schlug mir Hitler vor, die Luftwaffe zu halbieren. Ich lehnte ab, indem ich ihm erklärte, dass die Luftwaffe für den Kampf gegen die Engländer gebraucht wird. Vorher hatte sich der Führer niemals in die Angelegenheiten der Luftwaffe eingemischt. Nun begann er damit. Er befahl, Luftwaffeneinheiten da oder dorthin zu schicken. Oft geschah das, ohne dass dies nötig gewesen war. Ich entgegnete ihm, dass ich wissen sollte, welche Aufgaben ihnen in jeder einzelnen Operation gestellt werden. Als sich bei Stalingrad die Bedingungen für unsere Truppen kritisch entwickelten, rief mich der Führer zu sich. Ich sollte die Frage entscheiden, ob die Armee dort bleiben solle oder ein Rückzug nötig sei. Der Führer fragte mich, ob man die Truppen bei Stalingrad am Tag mit 500 Tonnen Ladung beliefern könne. Später verringerte er die Ziffer auf 300 Tonnen. Ich antwortete, dass das nur möglich wäre, wenn das
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Wetter die gesamte Zeit über Flüge zuließe und wenn die Truppen bei Stalingrad die Flugplätze halten könnten.101 Hitler befahl zur Belieferung der Truppen in Stalingrad alle Transportflugzeuge, sogar die Übungsflugzeuge, einzusetzen. Es geschah das, was ich am meisten gefürchtet hatte. Die Wetterbedingungen waren extrem schwierig, denn es wurde sehr kalt und es gab Schneestürme. Unser Lufttransport trug schwere Verluste davon. Dann befahl der Führer, alle Bomber für die Versorgung mit Waffen und Munition einzusetzen. Die Bomber waren das Ergebnis meiner Bemühungen; ich hatte sie aus dem Nichts heraus geschaffen, und sie waren das Beste, was ich hatte. Ich konnte sie nicht dem absehbaren Untergang übergeben. Das war der erste ernste Dissens zwischen uns. Hitler befahl Generalfeldmarschall Milch102 selbstständig über meinen Kopf hinweg zu handeln und benutzte die Luftwaffe nach seinen Vorstellungen. Frage: Welche allgemeine Meinung haben Sie über Hitler? Antwort: Hitler war meiner Ansicht nach ein genialer Stratege. Er war der beste Kenner der Armeen aller Länder, aber er wollte sich nicht in alle Feinheiten der Luftwaffe und des Luftkampfes einarbeiten, deswegen entschied er im Bereich des Luftwaffeneinsatzes mitunter falsch. Hitler konnte außerdem keine Misserfolge ertragen – dann wurde er sehr zornig. Seine Kriegs- und Strategiepläne waren genial, und hätten die Generale die Pläne an der Ostfront in die Tat umgesetzt, so hätte Deutschland den Sieg davongetragen. Es gab zwischen uns auch andere Meinungsverschiedenheiten. Im Winter 1942 wurden Luftwaffen-Feld-Divisionen zusammengestellt. Plötzlich erhielt ich den Befehl, in diese Divisionen 20 000 Piloten zu entsenden. Ich forderte daher, dass diese Leute, die vorher niemals am Boden gekämpft hatten, eine entsprechende Ausbildung durchlaufen sollten, Artillerie erhielten usw. Es wurde mir zwar versprochen, dennoch wurden sie nach einigen Tagen Marsch ohne irgendeine Vorbereitung in den Kampf geschickt. Die Divisionen wurden alle zerschlagen. Für mich entstand eine sehr unangenehme Situation vor meinem fliegenden Personal.103 Ich stellte eine Luftlandedivision zusammen, die ich für bereits bekannte Maßnahmen benötigte. Diese Division erhielt große Aufmerksamkeit von mir, und ich
101 Beobachter dieser Diskussion schildern sie so, als hätte Göring großspurig versichert, dass es problemlos möglich sei, den Kessel aus der Luft zu versorgen. Da die Memoiren von Generalstabschef Halder häufig vorsätzlich ungenau oder falsch gehalten waren, kann Görings Aussage korrekt sein. 102 Erhard Milch (1892–1972), Generalfeldmarschall, ab 1933 Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium, seit 1939 Generalinspekteur der Luftwaffe, ab 1941 zudem Generalluftzeugmeister, im Sommer 1944 von seinen Funktionen entbunden, 1947 in Nürnberg zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1949 vorzeitig entlassen. 103 In den Luftwaffenfelddivisionen kämpften etwa 250 000 Angehörige der Luftwaffe, jedoch kaum Piloten, da an ihnen bereits seit der Schlacht um England Mangel herrschte. Sie hatten auf Grund von Führungsfehlern und schlechter Ausrüstung besonders hohe Verluste zu verzeichnen.
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bildete sie selbst aus. Ich weiß, dass die sowjetische Führung dieser Division einen hohen Wert beimaß.104 Auf einmal benötigte man diese Division für Bodenkämpfe im Gebiet Smolensk. Das war für mich natürlich ein enormer Schlag. Ein grundsätzlicher Dissens zeichnete sich zwischen uns bezüglich der Möglichkeit ab, mit den Alliierten Verhandlungen aufzunehmen. Ich schlug mehrmals vor, in Verhandlungen mit einer der Seiten einzutreten, denn ich nahm an, dass ein Sieg mit militärischen Mitteln nicht mehr zu erlangen war. Hitler lehnte meine Vorschläge kategorisch ab. Die Erwähnung des Wortes „Verhandlungen“ in meinem Telegramm an Hitler hat vielleicht die ausschlaggebende Rolle gespielt, denn es erinnerte Hitler an alle Auseinandersetzungen, die wir gehabt hatten. Unsere Beziehung verschlechterte sich noch mehr, als die Alliierten ihre Luftangriffe verstärkten. Hitler mischte sich in Fragen der Jagdflieger ein, indem er unmögliche Vorschläge machte, wie z. B. dass es notwendig sei, Kanonen auf diesen Flugzeugen zu installieren und besondere Bevollmächtigte für die Fliegerdivisionen ernannte, die mich behinderten usw. Frage: Wann wurde Ihnen klar, dass Deutschland den Krieg verloren hatte? Antwort: Zweifel am Ausgang des Krieges kamen bei mir nach der Invasion der Alliierten im Westen auf. Der Durchbruch der russischen Truppen an der Weichsel und der gleichzeitige Angriff der Alliierten im Westen waren für mich die ersten ernstzunehmenden Signale. Nach der Stabilisierung der Westfront schöpfte ich erneut Zuversicht. Ich hoffte, dass durch die Stabilisierung der Westfront und das Zurückhalten der Roten Armee an der Weichsel es uns gelänge, die Herstellung der Strahljäger voranzutreiben, denn sie verfügten über sechs Kanonen und 24 Raketen.105 Das hätte die Möglichkeit gegeben, die Luftangriffe auf Deutschland zu unterbinden. Unter diesen Bedingungen hätten wir die Kommunikation und Industrie aufrechterhalten und die Produktion neuer Waffen organisieren können. Frage: Was können Sie über die Situation in Hitlers Stab unmittelbar vor der Kapitulation berichten?
104 Gemeint ist die Luftwaffen-Felddivision 21, in der vor allem ausgebildete Fallschirmjäger eingesetzt waren. 105 Göring spricht hier über die Messerschmitt Me-262. Bis zum Jahresende 1944 konnten nur 564 Exemplare des Düsenjägers fertig gestellt werden, bis April 1945 waren es 1369. Nicht wenige stürzten ab oder wurden, kaum vom Band gelaufen, bei Luftangriffen auf den Fliegerhorsten zerstört. „Am Feind“ standen am Ende des Krieges nur 181 Maschinen. Die Jagdmaschinen des Typs hatten üblicherweise vier 30-Milimeter-Kanonen, die Bewaffnung mit 24 R4M Raketen war erst ab Februar 1945 einsatzbereit. Da die Alliierten ihre Bombenoffensive im Herbst 1944 gegen die Hydrierwerke gerichtet hatten, stand sehr oft kein Treibstoff zur Verfügung.
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Antwort: Darüber kann ich überhaupt nichts sagen, denn vor dem 20. April [1945] hätte niemand äußern dürfen, dass es keinen Sieg geben wird, selbst wenn er es gedacht hätte. Es war verboten, über die Kapitulation im Stab zu sprechen. Noch vor dem 20. April sprach Hitler von der Möglichkeit eines siegreichen Ausgangs des Krieges. Um das zu verstehen, muss man die Ereignisse des 20. Juli 1944 berücksichtigen. Durch das Attentat trug Hitler eine ernsthafte Erschütterung davon. Als Einziger von den Überlebenden lag er nicht im Krankenhaus. Noch am gleichen Abend empfing er Mussolini106 und hielt eine Radioansprache. Fünf Tage später lag er allerdings für zwei Tage im Bett. Nach dem Attentat veränderte er sich stark. Er verlor sein Gleichgewicht; seine Hände und Beine fingen an zu zittern, und er verlor die Fähigkeit, klar zu denken. Von diesem Zeitpunkt an verließ Hitler den Bunker überhaupt nicht mehr. Er hielt sich nicht an der frischen Luft auf, weil seine Augen bei hellem Licht schmerzten. Er wurde sehr resolut. Ohne zu zögern fällte er Todesurteile und vertraute auch niemandem mehr.107 Bormann wurde der Mephistopheles des Führers genannt. Während der Besprechungen der militärischen Lage brauchte Bormann dem Führer nur eine Notiz auf den Tisch zu legen, die diesen oder jenen General kompromittierte. Das reichte bereits aus, damit dieser General in Ungnade fiel. Frage: Wie lässt sich die wachsende Autorität Himmlers in den letzten Jahren erklären? Antwort: In dem Moment, in dem ich an Autorität verlor, begann die Autorität desjenigen zu wachsen, der den mir nachfolgenden Platz einnahm. Ich wurde für einen Konservativen gehalten. Je radikaler Hitler und seine Politik selbst wurden, desto mehr benötigte er auch radikale Leute. Es ist nicht möglich, eine radikale Politik umzusetzen, ohne die entsprechend radikal eingestellten Leute. Als Himmler der Oberbefehl über die Heeresgruppe „Weichsel“ erteilt wurde, dachten wir alle, dass die Welt vollkommen verrückt geworden sei. Die Beziehung zwischen Himmler und mir ist folgendermaßen zu charakterisieren: Er versuchte, meinen Platz einzunehmen. Er schwor mir zwar die Freundschaft, aber gleichzeitig
106 Benito Mussolini (1883–1945), 1921 Gründer und Führer der Faschistischen Partei Italiens, ab 1922 Diktator, 1935 Angriffskrieg gegen Äthiopien mit den Ziel der Schaffung eines Kolonialreichs, 1940 Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien. Nach Niederlagen vom Deutschen Reich unterstützt, 1943 abgesetzt und inhaftiert, nach den italienischen Separatfrieden im September 1943 von deutschen Fallschirmjägern befreit und zur Gründung einer norditalienischen Republik gedrängt. 1945 von Partisanen ermordet. 107 Hitler gab seine Gewohnheit täglicher Spaziergänge bis in die letzten Kriegstage hinein nicht auf. Eine Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten durch seine Parkinsonerkrankung ist nicht nachgewiesen.
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ließ er mich ausspionieren. Ich äußerte ihm gegenüber ebenfalls mein Wohlwollen, war aber stets auf der Hut. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal Himmlers? Antwort: Ich weiß nur das, was in den Zeitungen stand. Wenn er tatsächlich gestorben ist, dann zweifle ich nicht daran, dass er im Jenseits ein Teufel wird und kein Engel. Frage: Welche Rolle spielte Goebbels in Ihren Intrigen? Antwort: Goebbels hatte eine sehr enge Beziehung zu Hitler. Er war ein sehr kluger Mensch mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, auch sehr ehrlich. Er war der politische Gegner Bormanns und verstand es, zu lavieren. Wir nannten ihn „Beiboot“, weil er wusste, in welchen Fahrwassern er zu fahren hatte. Ich hatte eine gute Beziehung zu ihm, allerdings keine enge. Er war ein kluger Mensch und konnte natürlich keine schlechte Beziehung zu Hitlers Nachfolger haben. Als vor eineinhalb Jahren bekannt wurde, dass meine Beziehung zu Hitler schlecht war, fragte der Chef der Reichskanzlei den Führer, ob ich dennoch sein Nachfolger bleiben würde. Hitler antwortete darauf, wenn er jetzt einen Nachfolger wählen müsste, so würde er nicht Göring benennen, da er das aber damals getan habe und dieser Entschluss bereits in das Volksbewusstsein eingedrungen sei, werde er seine Entscheidung nicht revidieren. Frage: Was können Sie über die Untergrundorganisationen berichten, die durch die Hitlerregierung gegründet wurden, um Sabotage auf dem von den Alliierten besetzten deutschen Gebiet durchzuführen? Antwort: Hier kann nur die Rede von den besetzten Gebieten sein, aber nicht von Gesamtdeutschland, denn Hitler ließ den Gedanken einer bedingungslosen Kapitulation überhaupt nicht zu. Ende März diesen Jahres wurde das Freikorps „AdolfHitler“108 aus den aktivsten Parteifunktionären gebildet. Ich weiß, dass sie den bewaffneten Kampf gegen die Besatzer führen sollten, aber ob sie Erfolg hatten, weiß ich nicht. Ley109 wurde zum Kommandeur des Korps ernannt. Damit war der Misserfolg vorprogrammiert. Ley war ein alter Idiot: Dazu muss man nur seine Zeitungsarti-
108 Das Freikorps „Adolf Hitler“ sollte laut Verfügung Hitlers vom 28. 3. 1945 im Rahmen des Volkssturms aus politisch geschulten und militärisch ausgebildeten NSDAP-Mitgliedern aufgestellt werden. Je NSDAP-Gau sollten 1000 Männer ausgesucht werden. Die Wehrmacht setzte diese Bataillone als Panzerjäger ein, nachweisbar in Westfalen und Brandenburg. Flächendeckende „Werwolf“-Aktivitäten gab es nicht. 109 Robert Ley (1890–1945), NSDAP-Funktionär, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, promovierter Chemiker, 1923 Beitritt zur NSDAP, 1925–1931 Gauleiter Rheinland-Süd, seit 1932 Reichsorganisationsleiter, 1933–1945 Führer bzw. Reichsleiter der Einheitsgewerkschaft Deutsche Arbeitsfront, 1945 zum Führer des Freikorps „Adolf Hitler“ ernannt. Im Mai 1945 von US-Truppen verhaftet, Suizid nach Erhalt der Anklageschrift im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess.
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kel lesen. Wo er sich jetzt aufhält, weiß ich nicht. Falls er gestorben sein sollte, so ist das für die Alliierten kein großer Verlust. Es gab noch einen Aufruf zur Gründung der Organisation „Werwolf“, den ich aber nur über das Radio gehört habe. In diesem Aufruf an das Volk wurde geäußert, dass die Deutschen alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen sollten, um gegen den Feind vorzugehen. Meiner Meinung nach kam der Aufruf zu spät. Man hätte diese Organisation vor dem Einmarsch der Gegner auf unser Territorium gründen sollen. Außerdem kommt hinzu, dass die Soldaten damit nicht einverstanden waren, was die Frage der Waffenversorgung der Mitglieder dieser Organisation betraf. Das war das Werk von Beamten, denn man kann keine Sabotage im Hinterland organisieren ohne eine Verbindung zu den kämpfenden Truppen. Angeblich war einer der SS-Führer110 zum Leiter der Organisation „Werwolf“ ernannt worden, aber ich habe keine Kenntnisse darüber, ob ihm irgendetwas gelungen ist. Ich kann lediglich mutmaßen, dass die Initiative zur Gründung einer solchen Organisation entweder von Himmler oder Bormann ausging. Früher habe ich eine solche Organisation für unbedingt notwendig gehalten. Ich machte meine Vorschläge noch zu dem Zeitpunkt, als es eine reale Bedrohung aus dem Westen und Osten gab. Meine Ideen trug ich bei einer Sitzung vor. Der Führer war auch anwesend und stimmte mir zu. Etwas Konkretes folgte daraus aber nicht. Es war nötig, geheime Waffenlager und Munitionsvorräte in den Wäldern anzulegen und Einheiten abzustellen, die die feindlichen Truppen an sich hätten vorbeiziehen lassen und selbst im Hinterland geblieben wären. Ich schlug sogar vor, diese Arbeit zu organisieren, erfuhr aber keine Zustimmung. In dieser Frage hätten wir von den Russen lernen müssen, die es verstanden hatten, eine sehr starke Partisanenbewegung zu organisieren. Es war offensichtlich, dass die Gründung der Organisation „Werwolf“ zum Scheitern verurteilt war. Frage: Was wissen Sie über die Spionagetätigkeiten Deutschlands gegen die UdSSR? Antwort: Bis Anfang 1944 befand sich die gesamte Spionage- und Gegenspionagearbeit in den Händen von Canaris111. Danach begann Himmler sich damit zu beschäftigen. Die Spionagetätigkeit der SS leitete der Gruppenführer Schellenberg112. Wie seine
110 Gemeint ist Hans-Adolf Prützmann (1901–1945), SS-Obergruppenführer, 1918–1921 Freikorpskämpfer, Landwirt, 1930 Beitritt zur SS und NSDAP, 1933–1937 Führer des SS-Oberabschnitts Südwest in Stuttgart, 1937–1941 Höherer SS- und Polizeiführer Nordwest in Hamburg, ab Juni 1941 HSSPF in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, in den letzten Kriegswochen Chef der Werwolf-Verbände. Suizid in alliierter Gefangenschaft. 111 Wilhelm Canaris (1887–1945), Admiral, seit 1905 Berufssoldat, 1916 nachrichtendienstliche Tätigkeit in Spanien, 1917 Kommandant eines U-Bootes, in der Reichswehr u. a. Admiralstabsoffizier, verschiedene nachrichtendienstliche Tätigkeiten im In- und Ausland, seit 1935 Chef des Amts Ausland/Abwehr im Reichskriegsministeriums, ab 1938 im OKW, im gleichen Jahr Beginn der Kontakte zum militärischen Widerstand, im Februar 1944 Entlassung, nach dem 20. 7. 1944 verhaftet und im KZ Flossenbürg festgehalten, dort im April 1945 hingerichtet. 112 Walter Schellenberg (1910–1952), SS-Brigadeführer, Jurist, 1933 Beitritt zur NSDAP und SS, 1939
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Arbeit praktisch aussah, weiß ich nicht. Ich erhielt nur die Ergebnisse dieser Arbeit. Gleichzeitig führte ich den Transport von Agenten per Flugzeug durch. Die Flugrouten der Flugzeuge wurden von der Abwehr bestimmt. Für diesen Transport stellte ich eine spezielle Flugzeugstaffel113 zusammen, die auf Anforderung von Canaris oder Schellenberg Flugzeuge für dieses Ziel zur Verfügung stellte. Ich interessierte mich aber nicht für das Ergebnis jeder dieser Aktionen. Über die interessanteren Flüge berichteten mir die Piloten. Soweit ich mich erinnere, war der längste Flug bis in das Gebiet des Baikal. Mehr kann ich Ihnen zu dieser Frage nicht sagen. Frage: Wo befinden sich die Staatsarchive Deutschlands und besonders das Archiv des Reichsluftfahrtministeriums? Antwort: Die Staatsarchive wurden in die Mitte Deutschlands verschafft. In der zweiten Aprilhälfte gab der Führer den Befehl, alle Archive des Reichsluftfahrtministeriums zu verbrennen. Ich weiß aber nicht, ob das auch geschehen ist. Frage: Die Propaganda Hitlers verbreitete über längere Zeit Gerüchte über einen Bruch zwischen uns und den Alliierten. Auf der Basis welcher Informationen geschah das? Antwort: Die Propaganda nahm enorme Ausmaße an, aber sie besaß keine reale Grundlage in diesem Punkt. Wir Soldaten waren davon überzeugt, dass wir nur einen Feind haben. Ich nehme an, dass eine solche Propaganda nur deswegen durchgeführt wurde, um den Volkswillen zum Widerstand zu stärken. Frage: Was erhoffte sich die Hitlerregierung davon, den Krieg weiterzuführen, als die Niederlage bereits feststand? Antwort: Der Führer war der Oberbefehlshaber und führte den Krieg allein. Er hielt an der uneingeschränkten These fest, dass man nicht kapitulieren darf. Dadurch, dass er den Krieg fortsetzte, hatten wir ihm zu folgen. Einmal erklärte er: „Ich kann keine Verhandlungen über den Frieden führen. Ich werde keine Verhandlungen führen. Sollte das unvermeidlich werden, dann soll das Göring tun. Er versteht von diesen Dingen einiges mehr.“ Frage: Hatten Sie oder jemand aus Ihrem Umfeld Kontakt zu den Verschwörern des 20. Juli 1944? Antwort: Nein. Aus dem Personalbestand der Luftwaffe waren nur zwei Personen in diese Angelegenheit verwickelt. Sie hatten aber das Flugwesen schon lange verlassen
Übernahme der Amtsgruppe IV E (Spionageabwehr) im RSHA, 1941 Chef des Amts VI (Auslandsspionage), 1944 zudem Übernahme des militärischen Nachrichtendienstes. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess zu 6 Jahren Haft verurteilt, 1950 wegen schwerer Krankheit entlassen. 113 Die Transportkolonne XI Ost, aus dem 1944 das Kampfgeschwader 200 hervorging, war mit höhentauglichen Transportflugzeugen ausgestattet, später auch mit US-Bombenflugzeugen.
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und dienten in allgemeinmilitärischen Organisationen. Was mich persönlich betrifft, wäre ich dazu niemals in der Lage gewesen und hätte an Hitler Hand angelegt. Frage: Viele sind der Meinung, dass die Verschwörer keine eigennützigen Ziele verfolgten, sondern die Regierung stürzen wollten, um das Schicksal des deutschen Volkes zu erleichtern. Antwort: Das stimmt nicht. Sie verfolgten nur persönliche Ziele, und wären sie an die Macht gekommen, dann wäre das vollkommene Chaos ausgebrochen, denn sie vertraten einen prinzipienlosen Block dreier vollkommen verschiedener Richtungen. Zu diesem Zeitpunkt war die militärische Lage Deutschlands nicht hoffnungslos, sondern lediglich kritisch. Die aktivste Rolle in dieser Verschwörung spielte der Generalstab des Ersatzheeres. Frage: Was wissen Sie über die Aufenthaltsorte wichtiger Nationalsozialisten, die sich vor den Alliierten verstecken? Antwort: Ich weiß darüber nichts, aber wenn ich etwas wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen. Frage: Ich verstehe diese Aussage nicht. Sie befinden sich in einem Verhör und haben die Pflicht zu antworten. Antwort: Ich weiß nicht, wo sie sich aufhalten. Was die Gauleiter betrifft, weiß ich nur folgendes: Der Gauleiter Ostpreußens114 wurde plötzlich Matrose und hat sich von Königsberg aus in eine mir unbekannte Richtung aufgemacht. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt irgendwo an den Ufern von Island Kohle aufnimmt. Die Gauleiter Westpreußens115, Pommerns116 und Danzigs befinden sich in englischer Gefangenschaft. Der Gauleiter Mecklenburgs117 sitzt in Neumünster im Gefäng-
114 Erich Koch (1896–1986), NS-Parteifunktionär, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Freikorps, Eisenbahner, 1922 Beitritt zur NSDAP, seit 1928 Gauleiter in Ostpreußen, seit 1939 Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis I (Ostpreußen), seit 1941 Generalkommissar für die Ukraine. Im April 1945 Flucht nach Schleswig-Holstein, 1949 enttarnt, verhaftet und an Polen ausgeliefert. Dort 1957 zum Tode verurteilt und 1960 zu lebenslanger Haft begnadigt, in der er 1986 verstarb. 115 Albert Forster (1902–1952), NS-Parteifunktionär, Bankkaufmann, 1923 Beitritt zur NSDAP, 1926 zur SS, seit 1930 Gauleiter Danzig-Westpreußen. 1945 in Hamburg verhaftet und an Polen ausgeliefert, dort 1948 zum Tode verurteilt und 1952 hingerichtet. 116 Franz Schwede-Coburg (1888–1960), NS-Parteifunktionär, gelernter Maschinenschlosser, 1906– 1921 Berufssoldat, städtischer Angestellter, 1922 Beitritt zur NSDAP, ab 1934 Gauleiter in Pommern. 1945 in Schleswig-Holstein verhaftet und interniert, anschließend von verschiedenen deutschen Gerichten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 117 Friedrich Hildebrandt (1898–1948), NS-Parteifunktionär, Landarbeiter, Freiwilliger des 1. Weltkriegers, 1919 Freikorpskämpfer im Baltikum, 1925 Beitritt zur NSDAP, seitdem Gauleiter in Mecklenburg. 1945 von US-Truppen verhaftet und wegen des Befehls, abgeschossene feindliche Flieger zu töten, 1947 von einem US-Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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nis. Der Gauleiter Posens118 ist nach Bayern gefahren. Wo sich der Gauleiter von Brandenburg119 aufhält, weiß ich nicht. Frage: Was hielten Sie persönlich von der Rassentheorie Hitlers, die er zur Grundlage seiner Politik machte? Antwort: In der extremen Form, wie sie durch Hitler aufgestellt worden war, habe ich sie nie geteilt. Was die Judenfrage betrifft, so hielt man mich in Parteikreisen für einen Judenfreund, denn ich habe vielen jüdischen Familien geholfen.120 Deswegen hatte ich viele Unannehmlichkeiten in der Partei. Im Ausland wusste man darüber Bescheid. Ich habe niemals daran geglaubt, dass wir Halbgötter sind. Dafür bin ich selbst ein zu irdischer Mensch. Frage: Kennen Sie Generaloberst Kühl121? Antwort: Ja, ich kenne ihn. Er war Kommandeur der Luftflotte in Norwegen. Frage: Was haben Sie für eine Meinung über Kühl? Warum wurde er von seinen Pflichten enthoben und sollte in den Ruhestand gehen? Antwort: Kühl war kein schlechter Spezialist. Er arbeitete viel im Bereich der Luftwaffenausbildung. Sein Übergang in den Ruhestand erklärt sich dadurch, dass er nicht über genügend Kampferfahrung verfügte. Wir wollten für die Luftwaffe frische Kader haben. Frage: In dem Gespräch mit uns hat Kühl ausgesagt, dass er gezwungen war, in den Ruhestand zu gehen, nachdem er mit Ihnen ein umfassendes Gespräch hatte. Während dieser Unterhaltung machte er einen Vorschlag, dem Sie nicht zustimmten, woraufhin Sie wütend wurden und ihn rauswarfen.
118 Arthur Greiser (1897–1946), NS-Politiker, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1919–1921 Freikorpskämpfer im Baltikum, Handelsvertreter, dann Kapitän, 1929 Beitritt zur NSDAP und SA, 1934–1939 Regierungschef der Freien Stadt Danzig, seit 1939 Gauleiter im Wartheland, im Januar 1945 Flucht aus Posen. Im Mai 1945 von US-Truppen verhaftet und an Polen ausgeliefert, 1946 dort zum Tode verurteilt und hingerichtet. 119 Emil Stürtz (1892–1945?), NS-Parteifunktionär, Seemann, dann Kraftfahrer, 1925 Beitritt zur NSDAP, 1930 stellv. Gauleiter Westfalen-Süd, seit 1936 Gauleiter in Brandenburg. Im April 1945 verschollen, 1957 offiziell für tot erklärt, möglicherweise in sowjetischer Haft verstorben. 120 Göring setzte sich für die Emigration einiger weniger, ihm persönlich bekannter Juden ein, dass er „vielen“ jüdischen Familien geholfen hätte, ist unwahr. Im Gegenteil, er gehörte zu den maßgeblichen Organisatoren des Holocaust. Über „Unannehmlichkeiten“ in der Partei ist nichts aktenkundig geworden. 121 Bernhard Kühl (1886–1946), General der Flieger, seit 1905 Berufssoldat, 1913–1914 Generalstabausbildung, 1914–1919 Flieger, 1933 erneut zur Luftwaffe, 1934–1936 und 1937–1939 Chef des Luftwaffeführungsstabes, 1940–1943 Leiter des Ausbildungswesens, danach verabschiedet; zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere war er Kommandeur der in Norwegen stationierten Luftflotte 5. 1945 von sowjetischen Truppen verhaftet, verstarb er 1946 im Speziallager Sachsenhausen.
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Antwort: Das ist eine glatte Lüge. Wir hatten niemals ein solches Gespräch. Ich hätte gerne eine direkte Gegenüberstellung mit ihm, um zu hören, was er noch lügen wird. Frage: Welche geheimen Staats- und Parteierlasse wurden in Deutschland über den Kampf gegen den Kommunismus herausgegeben? Antwort: Während des Krieges wurden allgemeine Polizeierlasse herausgegeben, um die Ordnung im Land aufrechtzuerhalten. Es ist doch auch bekannt, dass sogar so ein „demokratischer Führer“ wie Churchill während des Krieges Mitglieder des Parlaments verhaften ließ, wenn das nötig war. Die Umstände zwangen auch uns, das zu tun. Juristisch wurde gegen den Kommunismus nur Propaganda geführt, faktisch wurde er jedoch unmittelbar unterdrückt. Das wurde jedoch von den Organen der SS durchgeführt, besonders während der Herrschaft Bormanns. Frage: Was wissen Sie über die Maßnahmen, die von Partei- und Militärführern zur Vernichtung von Millionen von Russen, Polen, Juden und anderen Nationalitäten in den besetzten Gebieten durchgeführt wurden und über das brutale Vorgehen, das deutsche Truppen an den Tag legten? Antwort: Mein Gott! Von Millionen kann gar keine Rede sein. Das ist eine reine Propagandaidee. Außerdem können Sie mir glauben, dass der Terror in keinem Fall gegen die Slawen gerichtet war, sondern nur gegen die Juden. Wenn es einzelne Brutalitäten von Soldaten an der Front und in den besetzten Ländern gegeben hat, so versichere ich Ihnen, dass niemand aus der Staatsführung, aus dem Generalstab oder der Regierung und der Partei das gebilligt hat.122 Ich kann einige Beispiele nennen: Einmal wurde bekannt, dass es in Russland während eines Gefangenentransports in einem Güterzug zu Massenerfrierungen kam. Ich führte sofort eine Untersuchung durch. Es zeigte sich, dass nur einige Leute erfroren waren. Es wurden Anweisungen erteilt, so dass ähnliche Erscheinungen nicht mehr auftreten würden. Massentötungen gab es nur während des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Man muss berücksichtigen, dass Himmler der Leiter aller Konzentrationslager war, und seitdem die Polizei aus meiner Unterstellung genommen worden war, besaß ich dazu keine direkte Beziehung mehr. Im Gegenteil, denn an mich wandte man sich oft mit Briefen und verschiedenen Bitten, die ich immer an die Adresse von Himmlers Kanzlei weiterleitete. Wegen ähnlicher Angelegenheiten hatte ich sogar Unannehmlichkeiten. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal Thälmanns?
122 Diese Aussage ist bewusst unwahr. Im Gegenteil hielt Göring selbst das Verhungern von ca. 30 Mio. Russen und Ukrainern für zweckmäßig, um die Siedlungsräume neu zu strukturieren.
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Antwort: Thälmann befand sich im Konzentrationslager Buchenwald und starb während eines Luftangriffs der Alliierten auf das Lager123. Wie bekannt ist, gab es in Buchenwald Kriegsindustrie, die Ziel von Bombardements wurde. Ich persönlich denke nicht, dass Thälmann absichtlich getötet wurde, denn zu diesem Zeitpunkt erforderten es die Umstände nicht. Von der Bombardierung Buchenwalds hörte ich über den Dienstweg der Luftwaffe. Frage: Wurde der Familie Thälmanns sein Körper übergeben? Antwort: Ich habe ein sehr skeptisches Verhältnis zu dieser Frage. Wahrscheinlich nicht. Ich kann noch sagen, dass in der ersten Zeit, als Thälmann mir unterstellt war, ich ihn zu mir rief und ein kurzes Gespräch mit ihm hatte. Thälmann nannte mir eine Reihe seiner Forderungen bezüglich des Haftalltags. Dann jedoch übernahm Himmler die Leitung der Polizei. Die Frau Thälmanns wandte sich 1944 mit einem Brief an mich. Sie hatte eine Reihe von Bitten, aber ich war dazu verpflichtet, den Brief an Himmler weiterzuleiten. Frage: Welchen Anteil hatten Sie am Reichstagsbrand? Antwort: Buchstäblich überhaupt keinen. Das war alles das Werk des Wahnsinnigen van der Lubbe124. Natürlich war die Sache nicht so, wie sie in der Presse geschildert wurde. Es gelang ihm nicht, mit einer Fackel in das Gebäude zu rennen. Im Vorhinein waren Brandvorrichtungen ausgelegt worden, die blitzartig alles entzündeten. Wie er das angestellt hat, ist nicht zu begreifen. Es ist klar, dass Torgler125 und die anderen daran keinen Anteil hatten. Es ist aber nicht zu bezweifeln, dass die kommunistische Partei zu dieser Zeit einen Putsch vorbereitete. Die Partei und ich persönlich hatten mit dem Reichstagsbrand nichts zu tun. Wir hatten das überhaupt nicht nötig. Das einzige, was ich während des Brandes tat war, dass ich sofort dorthin fuhr und versuchte, in das Gebäude zu gelangen. Da herrschte aber so eine furchtbare Situation, dass ich alsbald weggehen musste, denn mein Leben war mir wertvoller.
123 Ernst Thälmann (1886–1944), Politiker, Hafenarbeiter, seit 1920 Mitglied der KPD, seit 1925 deren Vorsitzender, 1933 verhaftet und ohne Prozess in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert, am 17. 8. 1944 auf persönlichen Befehl Hitlers ins KZ Buchenwald gebracht und dort am nächsten Morgen erschossen. 124 Marinus van der Lubbe (1909–1934), niederländischer Maurergeselle, nach Unfall arbeitsunfähig und obdachlos, Nähe zum Rätekommunismus, seit Februar 1933 in Berlin, am 27. 2. 1933 im brennenden Reichstag festgenommen. 1934 im Reichstagsbrandprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 125 Ernst Torgler (1893–1963), Politiker, kaufmännischer Angestellter, seit 1920 Mitglied der KPD, seit 1929 Fraktionsvorsitzender der KPD im Reichstag, stellte sich am 28. 2. 1933 der Polizei, 1934 im Reichstagsbrandprozess freigesprochen, danach Handelsvertreter, seit 1939/40 Angestellter der Haupttreuhandstelle Ost, wiederholt verdeckter Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums, v. a. für antikommunistische Inhalte, hierzu möglicherweise erpresst nach Auslieferung seines Sohnes Kurt (1919–1943) aus dem sowjetischen Exil.
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Frage: Wer gehörte zu Ihrem engsten Kreis? Antwort: Meine Hauptverbindungen hatte ich zu den Generalen, aber auch zu einigen Gauleitern, mit denen ich in alter Freundschaft verbunden war. Unter den Generalen waren: Loerzer126, Kesselring127, Sperrle128 und Richthofen129. Von den Parteiangehörigen waren mir besonders nah: Körner130, Bouhler131, Terboven132 und Sauckel133. Bormann setzte alle Kräfte daran, um mein Gewicht in der Partei einzuschränken und mich von den anderen Parteimitgliedern zu isolieren.
126 Bruno Loerzer (1891–1960), Generaloberst, 1911–1920 Berufssoldat, seit 1915 Jagdflieger, seither mit Göring befreundet, 1918–1920 Freikorpskämpfer im Baltikum, 1920–1933 Leiter einer zivilen Pilotenvereinigung, seit 1933 Reichsluftsportführer, 1935 zur Luftwaffe reaktiviert, 1938 Inspekteur der Jagdflieger, 1939 Kommandeur des II. Fliegerkorps, 1943/44 Chef des Luftwaffenpersonalamts, wegen Überforderung Ende 1944 seines Amtes enthoben und im April 1945 aus dem Dienst entlassen. 127 Albert Kesselring (1885–1960), Generalfeldmarschall, seit 1904 Berufssoldat, 1934 Übertritt vom Heer zur Luftwaffe, 1938–1939 Kommandeur der Luftflotte 1, 1940–1943 Kommandeur der Luftflotte 2, Angriffe auf Rotterdam und London, ab 1941 zur Unterstützung der Heeresgruppe Mitte eingesetzt, im November 1941 nach Italien versetzt, Oberbefehlshaber Süd bzw. Südwest. Im Mai 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1947 in Italien zum Tode verurteilt, zu lebenslanger Haft begnadigt, 1952 wegen Krankheit entlassen. 128 Hugo Sperrle (1885–1953), Generalfeldmarschall, seit 1903 Berufssoldat, seit 1913 Flieger, 1934– 1935 Kommandeur der 1. Flieger-Division, 1936–1937 Kommandeur der Legion Condor, seit 1938 Befehlshaber des Luftwaffen-Gruppenkommandos III in München, aus dem 1939 die Luftflotte 3 (West) hervorging, nach der alliierten Invasion im August 1944 entlassen. 1947 im Nürnberger OKW-Prozess angeklagt und 1949 freigesprochen. 129 Wolfram von Richthofen (1895–1945), Generalfeldmarschall, 1913–1920 Berufssoldat, 1917–1918 Flieger, 1920–1923 Maschinenbau-Studium, 1923 Eintritt in die Reichswehr, 1929 Promotion zum Dr.Ing., 1936–1937 Stabschef der Legion Condor, 1938–1939 deren Befehlshaber, 1940 Kommandant des VIII. Fliegerkorps, Kommandeur der deutschen Truppen bei der Eroberung Kretas, 1942 Kommandeur der Luftflotte 4, Teilnahme an der Schlacht von Stalingrad, 1943 auch Kommandeur der Luftflotte 2, 1944 Rückzug nach Feststellung eines Hirntumors. Verstarb in US-Kriegsgefangenschaft. 130 Paul Körner (1893–1957), Staatssekretär, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, seither mit Göring befreundet, Freikorps, Jurastudium, Angestellter, 1926 Beitritt zur NSDAP, 1931 zur SS, seit 1933 Staatssekretär des Preußischen Staatsministeriums, seit 1936 auch der Vierjahresplanbehörde, seit 1941 zudem Leiter des Wirtschaftsführungsstabes Ost zur Ausbeutung der besetzten sowjetischen Gebiete. 1945 verhaftet und 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess zu 15 Jahren Haft verurteilt, 1951 amnestiert. 131 Philipp Bouhler (1899–1945), NS-Parteifunktionär, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Verlagskaufmann, 1922 Beitritt zur NSDAP als deren Zweiter Geschäftsführer, 1925–1934 Reichsgeschäftsführer der NSDAP, 1933 Reichsleiter, seit 1934 Leiter der Kanzlei des Führers, maßgeblich beteiligt an der Tötung der Geisteskranken (Aktion „T4“), 1942 Kompetenzverluste an die Partei-Kanzlei Martin Bormanns, im April 1945 Anschluss an den Kreis um Göring. Suizid auf dem Weg in US-Internierungshaft. 132 Josef Terboven (1898–1945), Reichskommissar, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Jurastudium, Banklehre, 1923 Beitritt zur NSDAP, 1928 Gauleiter von Essen, 1940 Reichskommissar für Norwegen. Nach der Kapitulation Suizid. 133 Fritz Sauckel (1894–1946), NS-Parteifunktionär, Hilfsarbeiter, 1923 Beitritt zur NSDAP, seit 1927 Gauleiter in Thüringen, seit 1939 Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis IX (Kassel), seit
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Frage: Was wissen Sie über die Tätigkeit Wlassows134? Welche Rolle war für die „Russische Befreiungsarmee“ vorgesehen? Antwort: Ich weiß, dass Wlassow ein Komitee nach Vorbild des Komitees Seydlitz135 bildete. Er stellte auch eine Division zusammen, die angeblich in den Kampf geführt wurde (das kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen). Auf wen die Initiative zur Schaffung der Truppen Wlassows zurückgeht, ist mir gänzlich unbekannt. Früher war Ribbentrop für die Angelegenheit mit Wlassow zuständig, später dann Himmler. 1945 besuchte mich Wlassow. Er berichtete mir über den Fortschritt zur Bildung seiner Divisionen und beklagte sich darüber, dass man ihm keine Waffen gäbe. Wlassow bat mich um Unterstützung und deutete gleichzeitig an, dass er nicht abgeneigt sei, eine russische Flugzeugdivision zusammenzustellen, die von mir befehligt werden sollte. Ich lehnte diesen Vorschlag ab. Das Gespräch berührte außerdem eine Reihe von persönlichen Fragen. Ich befragte Wlassow über Stalin, denn ich interessierte mich sehr für diese außergewöhnliche Persönlichkeit. Der Führer erwartete von diesem Vorhaben überhaupt nichts und lehnte es entschieden ab, Wlassow zu empfangen. Frage: Was können Sie uns über die Verwendung von russischen „weißen“ Emigranten136 und anderen Vaterlandsverrätern durch die Hitlerregierung berichten? Antwort: Darüber kann ich Ihnen nichts Konkretes sagen, denn ich habe mich mit dieser Frage weder beschäftigt noch mich dafür interessiert. Rosenberg137 war der-
1942 Generalbevollmächtigter für den Arbeitskräfteeinsatz. Im Nürnberger HauptkriegsverbrecherProzess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 134 Andrej A. Vlasov (1901–1946), sowjetischer Generalleutnant, seit 1919 Soldat der Roten Armee, seit 1922 Kommandeurs- und Stabsfunktionen, 1942 Oberbefehlshaber der 2. Stoßarmee, die vergeblich Leningrad zu entsetzten versuchte, in deutscher Gefangenschaft Gründung eines antistalinistischen Komitees, aus dem im Herbst 1944 eine Russischen Befreiungsarmee hervorging, die 10 Divisionen, einen Panzer-Verband und eigene Luftstreitkräfte umfassen sollte, im Mai 1945 Anschluss der letzten verbliebenen Division an den Aufstand zur Befreiung Prags. Ergab sich der US-Armee, 12. 5. 1945 sowjetische Gefangenschaft, nach zweitägigem Geheimprozess 1946 in Moskau hingerichtet. 135 Walther von Seydlitz-Kurzbach (1888–1976), General der Artillerie, seit 1908 Berufssoldat, 1940– 1942 Kommandeur der 12. Infanterie-Division, 1942 Kommandierender General des LI. Armeekorps, geriet bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft, 1943 an der Gründung des Bundes deutscher Offiziere beteiligt, erbat 1944 von Stalin vergeblich die Aufstellung deutscher Freiwilligenverbände an der Seite der Roten Armee. 1950 in der Sowjetunion zu 25 Jahren Haft verurteilt, 1955 Rückkehr in die Bundesrepublik. 136 Die Bezeichnung „‚weiße‘ Emigranten“ bezieht sich auf die sog. „Weiße Bewegung“, die heterogene, vor allem monarchistische, nationalistische, aber auch demokratische Gegner der Bolschewiki umfasste, und deren „Weiße Armee“ im russischen Bürgerkrieg 1918–1922 der Roten Armee unterlegen war, so dass viele ihrer Anhänger emigrierten. 137 Alfred Rosenberg (1892–1946), Publizist, NS-Ideologe, Kultur- und Außenpolitiker, 1917 als baltendeutscher Student Zeuge der Oktoberrevolution in Moskau, 1918 Emigration nach Deutschland, seit 1920 mit Hitler verbunden, 1923 Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“, 1933 Reichsleiter
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jenige, der sich mit dieser Angelegenheit befasst. Er schuf alle möglichen nationalen Komitees. Ich war immer der Überzeugung, dass wenn sich Menschen von ihrem Land lossagen, dann ist es offensichtlich, dass sie für nichts zu gebrauchen sind. Göring Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 394–414. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.4 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 Kurzprotokoll der Verhörergebnisse des Generalfeldmarschalls Keitel, Wilhelm Keitel, Wilhelm, General-Feldmarschall, 62 Jahre alt, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Frage: Wann ernannte man Sie zum Chef des Oberkommandos der Wehrmacht? Antwort: Ich war seit 1935 Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Meine Pflicht war es, die Planung, Organisation und Durchführung der Operationen der Wehrmacht zu leiten – die des Heeres, der Luftwaffe und der Kriegsmarine. Frage: Waren Sie Mitglied der Nationalsozialistischen Partei? Antwort: Entsprechend einer Regelung in der deutschen Armee konnten Militärangehörige nicht Parteimitglieder sein. Ich bildete hier keine Ausnahme. Richtig ist zwar, dass ich 1939 auf persönlichen Befehl Hitlers mit dem goldenen Ehrenabzeichen138 der NSDAP geehrt wurde. Diese Auszeichnung hat aber nichts mit einer Parteimitgliedschaft zu tun. 1939 gab es noch keine militärischen Orden und deswegen über-
und Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. 1945 verhaftet, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 138 Gemeint ist das Goldene Ehrenzeichen/Parteiabzeichen der NSDAP, das von Hitler am 9. 11. 1933 gestiftet wurde. Es wurde den Mitgliedern verliehen, die der Partei ununterbrochen seit 1925 angehört hatten. Außerdem konnte es wegen besonderer Verdienste verliehen werden.
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reichte mir Hitler, weil er mich für die Besetzung der Tschechoslowakei auszeichnen wollte, dieses Abzeichen. Frage: Waren Sie mit der Politik der Nationalsozialistischen Partei einverstanden? Antwort: Es fällt mir schwer, auf diese Frage zu antworten. Ich war nicht mit allen Maßnahmen der Partei einverstanden, dennoch unterstützte ich die Maßnahmen zur Stärkung und Schaffung der Streitkräfte Deutschlands. Nach so langer Zeit fällt es mir offen gesagt schwer, mich an alle Ereignisse zu erinnern, deswegen habe ich auch Schwierigkeiten zu antworten139. Frage: Von welchem Zeitpunkt an begann Deutschland mit den Vorbereitungen auf einen Krieg gegen die Sowjetunion, und welchen Anteil hatten Sie an diesen Vorbereitungen? Antwort: Die Frage nach einem möglichen Krieg gegen die Sowjetunion stellte sich erstmals noch relativ unspezifisch gegen Ende 1940. Während des Herbstes 1940 und des anschließenden Winters wurde diese Frage nur im Kontext von möglichen aktiven Militäroperationen der Wehrmacht im Osten mit dem Ziel behandelt, Russland vor einem Überfall auf Deutschland zu warnen.140 Während dieser Zeit ergriff der Generalstab keine konkreten Maßnahmen. Im Winter 1940/41 und Frühjahr 1941 wurde der Krieg im Osten unausweichlich und der Generalstab begann mit Vorbereitungsmaßnahmen und mit der Ausarbeitung der Kriegspläne. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche politischen Pläne Hitler verfolgte. Was die Kriegsvorbereitungen für den Osten anbetraf, so ließ ich mich ausschließlich von Bewertungen aus militärischer Sicht leiten. Der Generalstab besaß Informationen darüber, dass die Sowjetunion im Laufe des Frühjahrs 1941 dazu übergegangen war, in großem Umfang Truppen in den Grenzregionen zu konzentrieren. Das war ein Beweis für Vorbereitungen der UdSSR auf einen, wenn nicht offenen Krieg, so doch wenigstens dafür, auf die deutsche Außenpolitik militärischen Druck ausüben zu wollen. Anfangs stand ich der Möglichkeit eines Kriegs im Osten sehr skeptisch gegenüber, was mein Memorandum an den Reichsaußenminister vom September 1940 bezeugt. In diesem Memorandum hielt ich einen Krieg mit der Sowjetunion für sehr unwahrscheinlich. Im Verlaufe der Ereignisse des Winters 1940/41 änderte sich meine Meinung in einigen Punkten erheblich. Das geschah vor allem durch die Geheimdienstinformationen über die Konzentration der russischen Streitkräfte.
139 Dieser gesamte Abschnitt fehlt in den bisherigen Veröffentlichungen des Verhörs von Keitel durch sowjetische Geheimdienstmitarbeiter. Vgl. Voenno-istoričeskij žurnal, Nr. 9, 1961, S. 77; Die Vernehmung von Generalfeldmarschall Keitel durch die Sowjets, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, Nr. 10, 1961, S. 652. 140 Die Wehrmacht verfolgte keineswegs das Ziel einer Abschreckung an der Ostfront. Die Aufstellung war von Anbeginn offensiv.
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Für uns war klar, dass die Sowjetunion sich gleichzeitig auf diplomatischer Ebene vorbereitete. Ich bin der Meinung, dass das entscheidende Ereignis in diesem Zusammenhang der Besuch Molotows in Berlin war und seine Verhandlungen mit den Spitzen der Reichsregierung. Nach diesen Verhandlungen wurde ich darüber informiert, dass die Sowjetunion eine Reihe von unannehmbaren Bedingungen bezüglich Rumäniens, Finnlands und des Baltikums gestellt hatte.141 In diesem Moment war die Entscheidung über einen Krieg mit der Sowjetunion gefallen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass ein Angriff durch die Rote Armee für Deutschland eine klare Bedrohung darstellte. Diese Gefahr nahm besonders klare Züge nach den Maßnahmen der UdSSR in der Balkanpolitik an. Insbesondere in den Beziehungen der Sowjetunion mit Jugoslawien sahen wir, dass Stalin Jugoslawien unmissverständlich militärische Unterstützung versprach. Und dass er sich ausrechnete, Jugoslawien als genehmen politischen Brückenkopf für die Entfaltung diplomatischer Einflussmöglichkeiten zu nutzen und, wenn erforderlich, direkt militärisch einzugreifen.142 Als unmittelbare Schlussfolgerung drängte sich die Notwendigkeit auf, diese Maßnahmen der Sowjetunion unmöglich zu machen. Dies geschah durch einen militärischen Blitzangriff gegen Jugoslawien.143 Ich betone, dass alle Vorbereitungen, die wir bis zum Frühjahr 1941 getroffen hatten, defensiven Charakter hatten für den Fall eines Angriffs durch die Rote Armee. Aus diesem Grund kann der Krieg im Osten als Präventivkrieg bezeichnet werden. Natürlich wählten wir für die Vorbereitung dieser Maßnahmen effektivere Vorgehensweisen, um einem Angriff der sowjetischen Armee zuvorzukommen und ihre Streitkräfte durch einen unerwarteten Vorstoß zu zerschlagen. Bis zum Frühjahr 1941 war ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Konzentration der russischen Truppen und ein bevorstehender Angriff auf Deutschland uns in strategischer und wirtschaftlicher Hinsicht in eine äußerst kritische Lage bringen könnten. Besonders gefährdet waren die in Richtung Osten hinausragenden Gebiete an den Flanken: Ostpreußen und Oberschlesien. In den ersten Wochen eines russi-
141 Der sowjetische Außenminister Molotov forderte bei seinem Besuch in Berlin im November 1940 freie Hand gegenüber Finnland, freie Hand zur Stationierung von Truppen in Bulgarien und eine Internationalisierung der Donau als Schifffahrtsweg, was von Hitler als aggressive Forderung eingestuft wurde. 142 Nach dem Sieg über Frankreich setzte das deutsche Außenministerium Jugoslawien unter Druck, weshalb das Königreich am 25. 3. 1941 dem sog. Dreimächtepakt beitrat. Prosowjetische Offiziere erklärten den regierenden Prinz Paul für abgesetzt und inthronisierten den minderjährigen Peter II. Daraufhin ordnete Hitler die Eroberung Jugoslawiens an. 143 Der Abschnitt ab „Ich kann Ihnen nicht sagen, welche politischen Pläne Hitler verfolgte“ fehlt in früheren Veröffentlichungen des Keitel-Verhörs, Vgl. Die Vernehmung von Generalfeldmarschall, S. 652.
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schen Angriffs wäre Deutschland in eine extrem unvorteilhafte Lage geraten. Unser Angriff war eine unmittelbare Folge dieser Bedrohung. Vom politischen Standpunkt her war klar, dass Stalin auf ein sich Hinziehen des Krieges im Westen hoffte, welcher Deutschland vollständig zermürben sollte und der UdSSR die Möglichkeit eröffnen konnte, in der Weltpolitik die Initiative zu ergreifen.144 Derzeit kann ich mir als jemand, der an der Bewertung der Lage persönlich teilgenommen und die Maßnahmen des Jahres 1941 mitgeplant hat, nur schwer eine vollständig objektive Meinung über die Richtigkeit unserer Pläne bilden. Dennoch ließ sich 1941 der Generalstab, indem er die Pläne für den Feldzug ausarbeitete, von eben jenen Grundüberlegungen leiten, die ich bereits dargelegt habe. Frage: Erläutern Sie die allgemeinen operativ-strategischen Pläne des deutschen Oberkommandos im Krieg gegen die Sowjetunion. Antwort: Bei der Ausarbeitung des operativ-strategischen Kriegsplans im Osten ging ich von folgenden Voraussetzungen aus: a) die außergewöhnliche Größe des russischen Territoriums macht es absolut unmöglich, dieses vollständig zu erobern, b) um einen Sieg gegen die UdSSR zu erringen, ist es ausreichend, die operativstrategisch wichtige Linie zu erreichen, die sich von Leningrad über Moskau und Stalingrad bis zum Kaukasus erstreckt. Damit ist für Russland praktisch die Möglichkeit ausgeschlossen, militärischen Widerstand zu leisten, denn die Armee wird von ihren wichtigsten Stützpunkten, besonders vom Öl, abgeschnitten sein, c) für die Umsetzung dieser Aufgabe ist es unabdingbar, die Rote Armee schnell zu zerschlagen. Diese Aufgabe sollte in einer solchen Frist umgesetzt werden, dass die Möglichkeit eines Zwei-Frontenkrieges nicht gegeben ist. Ich sollte unterstreichen, dass es nach unseren Plänen nicht vorgesehen war, ganz Russland zu erobern. Die Maßnahmen für Russland nach der Zerschlagung der Roten Armee bestanden nur in der Errichtung einer Militärverwaltung (d. h. Reichskommissariate)145. Ich weiß aber nichts darüber, was danach geschehen sollte. Möglich ist, dass dies durch die politische Führung geplant wurde. Immerhin weiß ich, dass bei der Ausarbeitung der Kriegspläne für den Westen dem deutschen Kommando und der politischen Führung niemals bestimmte politische Instanzen vorschwebten, die in den Ländern nach der Besetzung installiert werden sollten.
144 Dieser Absatz fehlt in früheren Veröffentlichungen des Keitel-Verhörs, Vgl. Die Vernehmung von Generalfeldmarschall, S. 652. 145 Keitel argumentiert hier ungenau. Die Reichskommissariate waren ausdrücklich als zivile Behörden konzipiert, um die Ermordung der Juden durch Polizeikräfte und die SS durchführen zu können. Hitlers Weisung für die Kriegführung musste ihm bekannt sein, da ihm der Wehrmachtführungsstab unterstellt war.
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Frage: Rechnete also das deutsche Oberkommando damit, die Rote Armee mit einem Blitzangriff zerschlagen zu können? In welchem Zeitraum sollte das geschehen? Antwort: Natürlich hofften wir auf einen Erfolg. Es gibt keinen Feldherren, der einen Krieg beginnt, ohne davon überzeugt zu sein, dass er gewinnt. Jeder Soldat ist ein schlechter Soldat, der nicht an den Sieg glaubt. Eine andere Sache ist allerdings, dass ich nicht die erheblichen Schwierigkeiten erkannte, die mit einem Krieg im Osten verbunden waren. Mir war klar, dass in diesem Krieg nur eine militärische Niederlage der Roten Armee zum Sieg führen würde. Es fällt mir schwer, die genauen Zeiträume zu benennen, für die wir die Durchführung dieser Operation geplant hatten. Wir rechneten aber wohl damit, dass die Operation im Osten mit dem Beginn des Winters 1941 beendet sein würde. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten die deutschen Streitkräfte das Heer der Sowjetunion vernichtet haben, das wir auf 200 bis 250 Divisionen schätzten, sowie ihre Kriegsmarine und Luftwaffe, um die genannte strategische Linie zu erreichen. Frage: Welche militärisch-diplomatischen Maßnahmen wurden im Laufe der Kriegsvorbereitungen ergriffen? Antwort: Von den im Krieg gegen die Sowjetunion als Verbündete Deutschlands in Betracht Gezogenen wurden frühzeitig Rumänien und Finnland über die Kriegsvorbereitungsmaßnahmen informiert. Rumänien wurde über die militärische Linie informiert, da es nötig war, den Durchmarsch der deutschen Truppen durch das Land zu sichern sowie die deutschen Stationierungsorte zu verstärken. Über den in Erwägung gezogenen Krieg gegen die Sowjetunion wurde auch der Chef des Generalstabs der finnischen Armee – General Heinrichs146 – in Kenntnis gesetzt. Das geschah allerdings in extrem vorsichtiger Form. General Heinrichs teilte mit, dass er die Pläne Deutschlands begrüße, Marschall Mannerheim147 über diese Maßnahmen unterrichte und ihm hierüber seine positive Einschätzung vermitteln werde. Mit Italien wurden bis zum Beginn des Krieges keine Verhandlungen geführt. Ich schließe allerdings nicht aus, dass Italien auf diplomatischem Weg während der Gespräche zwischen Ribbentrop und Mussolini informiert wurde. Es muss noch hinzugefügt werden, dass die kriegspolitischen Verhandlungen zwischen Deutschland und Italien keinen fordernden Charakter trugen. Das Gegenteil ist der Fall, denn Mus-
146 Axel Erik Heinrichs (1890–1965), General der Infanterie, seit 1915 Berufssoldat, 1915–1918 im Finnischen Jägerbataillon der Preußischen Armee, 1926–1928 Studium an der französischen Militärschule Saint-Cyr, 1940–1941 und 1942–1944 Chef des finnischen Generalstabs, 1945 Oberbefehlshaber der Armee, Mitglied der Delegation, die 1948 den Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion aushandelte. 147 Carl Gustaf Mannerheim (1867–1951), Militär und Staatsmann, seit 1889 Offizier in der russischen Armee, Generalsstabsausbildung, 1918 Oberbefehlshaber der siegreichen weißen Truppen im finnischen Bürgerkrieg, 1919 Reichsverweser, dann Privatmann, 1933 Feldmarschall, seit dem Winterkrieg 1939 Oberbefehlshaber der finnischen Armee, 1942 Marschall von Finnland, im August 1944 Präsident, 24. 8. 1944 Abschluss des Waffenstillstandsvertrages mit der Sowjetunion.
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solini selbst bot sowohl 1941 wie auch 1942 seine Truppen an, um sie an die Ostfront zu schicken. (Anfangs das Gebirgsjägerkorps, dann die 8. Armee). Mit Japan wurden keine Verhandlungen geführt. Richtig ist, dass wir vom japanischen Generalstab ständig über den Zustand der russischen Truppen im Osten des Landes informiert wurden. Frage: Wann wurde Ihnen als Chef des Generalstabs [d. h. des OKW] bewusst, dass der Krieg für Deutschland verloren war? Antwort: Wenn ich die Bedingungen auf das härteste bewerte, so wurde mir dieses Faktum im Sommer 1944 klar. Gänzlich verstand ich diese Tatsache aber erst nach einer Reihe von Phasen, die auf der Entwicklung an den einzelnen Fronten basierte. Außerdem sollte ich hinzufügen, dass sich für mich persönlich das Verständnis für diesen Fakt in dem Leitsatz „Deutschland kann den Krieg nicht mit militärischen Mitteln gewinnen!“ ausdrückte. Sie verstehen natürlich, dass der Generalstabschef eines Landes, der einen Krieg fortsetzt, nicht an der Meinung festhalten kann, dass dieser Krieg verloren sei. Er kann annehmen, dass der Krieg nicht gewonnen werden kann. Im Sommer 1944 verstand ich, dass das Militär bereits alles getan hatte und keinen Einfluss mehr besaß. Die Sache musste von der Politik gelöst werden. Dabei muss man berücksichtigen, dass sogar 1944–1945 die rüstungswirtschaftliche Lage Deutschlands und die Lage der menschlichen Ressourcen nicht katastrophal waren. Die Produktion von Waffen blieb auf ausreichend hohem Niveau und erlaubte es, die Armee normal zu unterstützen. Die Luftangriffe führten zwar in einigen Betrieben zum Ausfall der Produktion, dennoch gelang eine schnelle Wiederherrichtung. Die rüstungswirtschaftliche Lage Deutschlands wurde erst gegen Ende 1944 hoffnungslos und die Versorgung mit menschlichen Ressourcen erst Ende Januar 1945. Über die außenpolitische Situation Deutschlands kann ich im Grunde nichts weiter sagen, da ich in der letzten Zeit an den diplomatischen Verhandlungen nicht mehr teilnahm. Anfang des Sommers 1944 führte Deutschland einen Krieg, um Zeit zu gewinnen. Es wartete auf Ereignisse, die dann aber nicht eintraten. Große Hoffnungen wurden auf die Ardennen-Offensive gelegt. Sie sollte Deutschland die „Siegfried-Linie“ zurückgeben und eine Stabilisierung der Westfront ermöglichen.148 Frage: Auf welche realen militärischen und politischen Faktoren zählte Deutschland, indem es Krieg führte, um Zeit zu gewinnen?
148 Die Alliierten bezeichneten den Westwall als „Siegfried-Linie“, ab Oktober 1944 intensiv umkämpft, was u. a. zur Einnahme von Aachen führte. Das teilweise tiefgestaffelte Verteidigungssystem verzögerte den alliierten Vormarsch um etwa drei Monate. Zur Entlastung führte die Wehrmacht ab dem 16. 12. 1944 die sog. Ardennenoffensive durch, mit der die französischen Grenzbefestigungen an der Maas wiedergewonnen werden und Antwerpen erreicht werden sollte.
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Antwort: Auf diese Frage zu antworten ist sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich. In einem Krieg, an dem auf beiden Seiten so viele Staaten, verschiedene Armeen, Flotten und Heerführer teilnahmen, konnte jederzeit eine vollkommen unerwartete Änderung der Rahmenbedingungen durch die Kombination dieser verschiedenen Kräfte eintreten. Diese unerwarteten Ereignisse konnten nicht vorausgesehen werden, aber sie konnten einen entscheidenden Einfluss auf die gesamte militärische Situation haben. Über die politischen Pläne des Führers kann ich nichts sagen, denn in der letzten Zeit hat er sehr scharf das Militärische vom Politischen getrennt. Frage: Woran bestand der Sinn des Widerstandes, den Deutschland fortsetzte? Antwort: Wie ich bereits gesagt habe, war das eine Verzögerung in Erwartung politischer Ereignisse. Man wartete auf eine Verbesserung der militärischen Bedingungen. Ich bin davon überzeugt, dass wenn die Alliierten andere Bedingungen gestellt hätten als die bedingungslose Kapitulation, Deutschland seinen Widerstand viel früher aufgegeben hätte. Da es aber keine anderen Vorschläge gab, blieb uns als ehrliche Soldaten nur, bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen. Ich denke nicht, dass die Lage, in der sich Deutschland jetzt wiederfindet, schlimmer ist, als wenn es früher kapituliert hätte. Ich habe den Führer gefragt, ob die Aussicht bestehe, diplomatische Verhandlungen mit den Alliierten zu führen und irgendwelche politischen Verbindungen zu knüpfen. Entweder Hitler antwortete darauf scharf und verneinend oder er gab überhaupt keine Antwort auf ähnliche Fragen. Frage: Ist es richtig anzunehmen, dass Sie von Anfang bis Ende mit der militärischpolitischen Linie Hitlers einverstanden waren und sie bis zum Zeitpunkt der Kapitulation unterstützten? Antwort: Ich war nicht immer und in allen Fragen mit dem Führer einverstanden, denn er berücksichtigte fast nie meine Meinung bei der Entscheidung grundlegender Angelegenheiten. Innerlich war ich mit ihm oft nicht einverstanden, aber ich bin Soldat, und meine Aufgabe ist es, das auszuführen, was man mir befiehlt. Wir hatten das Recht, unsere Meinung zu äußern, aber niemals konnten wir damit Einfluss auf Entscheidungen ausüben. Ich möchte darauf hinweisen, dass von dem Moment an, als [von] Brauchitsch149 von seinem Posten als Oberbefehlshaber des Heeres abgesetzt wurde und diese Position Hitler übergab, mir der Führer klar zu verstehen gab, dass ich mich nicht zwi-
149 Walther von Brauchitsch (1881–1948), Generalfeldmarschall, seit 1900 Berufssoldat, 1912–1914 Generalstabsausbildung, 1932 Inspekteur der Artillerie, 1933 Befehlshaber im Wehrkreis I, 1935 Kommandierender General des I. Armeekorps, 1937 Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 4 in Leipzig, 1938 Oberbefehlshaber des Heeres. Nach den Rückschlägen des deutschen Heeres im Krieg gegen die Sowjetunion wurde er am 19. 12. 1941 vom Oberbefehl entbunden, den Hitler jetzt auch formell übernahm, und in die Führerreserve versetzt. Starb 1948 noch vor Eröffnung eines Prozesses in britischer Haft.
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schen ihn und die Armee stellen sollte. Von diesem Zeitpunkt an war ich aus den Angelegenheiten bezüglich der Ostfront beinahe ausgeschlossen. Damit war ich für die restlichen Schauplätze der Kriegshandlungen zuständig sowie für Fragen der Koordination der Aktivitäten des Heeres, der Luftwaffe und der Kriegsmarine. Der Hauptberater des Führers für die Ostfront wurde der Chef des Generalstabs des Heeres. Von da an begann eine Teilung der Funktionen zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Oberkommando des Heeres (OKH). Das Oberkommando der Wehrmacht war für die Westfront, Italien und Norwegen zuständig. Das Oberkommando des Heeres hingegen nur für die Ostfront. Aus diesem Grund war es für mich schwierig, irgendeinen Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, die an der sowjetisch-deutschen Front getroffen wurden. Von 1941 an war ich auch nicht mehr in die Leitung der Rüstungsproduktion einbezogen, denn dafür war ein eigenes Ministerium für Rüstung und Kriegsindustrie gegründet worden. Was die Außenpolitik anbetraf, so wurde der Führer mit zunehmender Verschlechterung und Bedrohlichkeit der militärischen Lage immer verschlossener und in seinen Äußerungen immer sparsamer. In außenpolitischen Angelegenheiten beriet er sich ausschließlich mit Ribbentrop. Frage: Wodurch erklären Sie sich, dass Hitler Sie nach und nach von der Leitung wichtiger Bereiche der staatlichen Verwaltung ausschloss? Antwort: Ich habe dafür folgende Gründe: a) Er übernahm persönlich das direkte Kommando über das Heer. Er konnte überhaupt keine Widerrede vertragen. Außerdem ertrug er nicht, dass ich seiner Autorität entgegenstand. Ich wurde offiziell darauf hingewiesen, dass ich, wenn ich nicht mit dem Führer übereinstimmte, dies nur ihm persönlich gegenüber zu äußern habe, aber auf keinem Fall während der Anwesenheit Dritter. b) Ich hatte den Eindruck, dass der Führer mir und meinen Ansichten nicht traute. Ich kann Ihnen das nicht beweisen. Ich spürte das einfach intuitiv. In der letzten Zeit ließ er die Operationsabteilung des Wehrmachtsführungsstabes unter der Leitung von Generaloberst Jodl an sich heran und schloss mich aus dem Kreis seiner engsten Berater aus. Möglicherweise entsprach ich nicht den Ansprüchen des Führers an einen Strategen und Heerführer. Das ist natürlich verständlich, denn als Heerführer wird man geboren oder nicht. Ich halte mich selbst nicht für einen Heerführer, denn ich musste nicht ein einziges Mal eigenständig eine Schlacht oder Operation durchführen. Ich blieb der Chef des Stabes und erfüllte den Willen des Heerführers. Frage: Wie schätzen Sie Hitlers militärische Fähigkeiten ein? Antwort: Er war in der Lage, die richtigen Entscheidungen in operativ-strategischen Angelegenheiten zu treffen. Er orientierte sich absolut intuitiv, selbst unter völlig verworrenen Bedingungen. Dennoch fehlte ihm das praktische Wissen zur direkten Durchführung von Operationen. Eine unmittelbare Folge davon war, dass er grund-
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sätzlich alle Entscheidungen zu spät traf. Er schätzte niemals die Zeit richtig ein, die es braucht, eine von ihm getroffene Entscheidung in die Tat umzusetzen. Frage: Halten Sie sich für verantwortlich für die Situation, in der sich Deutschland infolge des verlorenen Krieges befindet? Antwort: Ich kann nicht leugnen, dass sich Deutschland und das deutsche Volk in einer katastrophalen Lage befinden. Wenn man die gesamte Politik anhand ihrer Ergebnisse zu beurteilen hätte, so hat sich Hitlers Kriegspolitik als falsch herausgestellt. Dennoch halte ich mich nicht für die Katastrophe Deutschlands verantwortlich, denn ich habe in keiner Weise Entscheidungen getroffen, weder militärische noch politische. Ich habe lediglich die Befehle des Führers umgesetzt, der bewusst nicht nur die staatliche, sondern auch die militärische Verantwortung vor dem Volk trug. Frage: Bis wann waren Sie bei Hitler? Antwort: Am 23. April 1945 verließ ich Berlin in Richtung Front zum Stab der 12. Armee von General Wenck. Ich hatte die Aufgabe, die 12. und 9. Armee miteinander zu vereinigen. Am 24. April versuchte ich, in die Stadt zurückzukehren. Es gelang mir aber nicht, so dass ich außerhalb Berlins bleiben musste. Am 22. April hatte Hitler beschlossen, in Berlin zu bleiben. Er erklärte uns, dass er um keinen Preis die Stadt verlassen werde, sondern – indem er die Streitkräfte direkt führen wolle – den Ausgang des Schicksals erwarte. An diesem Tag machte der Führer einen sehr ernsten Eindruck auf mich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen Zweifel an seiner psychischen Unversehrtheit gehegt. Trotz der schweren Folgen des Attentates vom 20. Juli 1944 war er die ganze Zeit über der Situation gewachsen gewesen. Am 22. April schien es mir aber, dass die moralischen Kräfte den Führer verließen150 und seine seelische Widerstandskraft gebrochen war. Er befahl mir, unverzüglich nach Berchtesgaden zu fahren. Das Gespräch war in extrem scharfem Ton und endete damit, dass mich der Führer einfach aus seinem Zimmer herauswarf. Als ich herauskam, sagte ich zu Jodl: „Das ist der Zusammenbruch!“ Außerhalb von Berlin hielt ich bis zum 29. April die Verbindung zum Hauptquartier, indem ich einen „Dezimeterwellenapparat“ (Richtfunkgerät) nutzte. Ich führte keine direkten Gespräche mit dem Führer. Von General Krebs erhielt ich dennoch unspezifische Anweisungen und Anfragen Hitlers, der forderte, die Operationen der 12. und 9. Armee maximal zu beschleunigen und unverzüglich zum Gegenangriff überzugehen. Nachdem mein Gerät ausgefallen war, erhielt ich aus Hitlers Hauptquartier keine Informationen mehr. Frage: Welche Maßnahmen wurden für die Abreise Hitlers und anderer führender Akteure der Regierung und der Partei aus Berlin getroffen?
150 Keitel benutzte den Begriff „moralisch“ im Sinne Clausewitz, der ihn als Teil der Kampfkraft einer Streitmacht interpretierte.
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Antwort: Wie ich bereits oben ausgesagt habe, weigerte sich Hitler auf das Entschiedenste, Berlin zu verlassen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich, als ich in Rheinfeld war, einen Funkspruch aus Berlin erhielt mit der Forderung, 40 bis 50 Flugzeuge des Typs „Fieseler Storch“ oder andere Übungsflugzeuge zu schicken, die in Berlin landen sollten. Zur Leitung dieser Operation kam Ritter von Greim151 zu mir. Die Flugzeuge wurden eingeteilt. Ein Teil hatte die Pfaueninsel auf der Havel als Ziel. Das Ergebnis dieser Operation ist mir unbekannt, denn ich verließ den Kommandopunkt. Ich denke nicht, dass Hitler in den letzten Tagen Berlin hätte verlassen können. Der einzige Landeplatz, der noch übrig geblieben war, war ein Stück der Charlottenburger Chaussee zwischen der Siegessäule und dem Brandenburger Tor. Ich bat in Berlin um Erlaubnis, beim Führer Rapport machen und auf dem genannten Platz landen zu dürfen. Darauf folgte ein Verbot, denn der Platz war vollständig von der russischen Artillerie zerstört. Über das Schicksal der übrigen Personen, die sich gemeinsam mit Hitler in Berlin befanden, ist mir nichts bekannt. Frage: Was wissen Sie über die Maßnahmen der NSDAP zum Schutz ihrer Funktionäre im Falle einer Besetzung Deutschlands und über die Gründung illegaler Organisationen? Antwort: Über die Gründung illegaler Organisationen kann ich nur die Bildung der Organisation „Werwolf“ angeben, von der ich per Radio Mitte April dieses Jahres erfuhr. (An den genauen Tag erinnere ich mich nicht.) Bis zur Bekanntmachung aus dem Rundfunk hatte mir niemand etwas von der Gründung einer solchen Organisation gesagt. Als ich versuchte, den Führer zu fragen, um was für eine Organisation es sich dabei handele, antwortete er mir grob: „Das geht Sie nichts an.“ Ich gehe davon aus, dass die Initiative zur Gründung dieser Organisation bei der Partei oder SS lag. Zumindest kann ich garantieren, dass von Seiten des Oberkommandos der Wehrmacht keine Maßnahmen zur Gründung oder Versorgung dieser Organisation ergriffen wurden. Ich nehme an, dass der „Werwolf“ die gleichen Aufgaben hatte, wie die Partisanenverbände, die in Russland oder auf dem Balkan agierten. Offensichtlich sah man vor, sie mit Waffen aus der Luft zu versorgen. In Frankreich hatten wir ein für uns
151 Robert Ritter von Greim (1892–1945), Generalfeldmarschall, 1911–1920 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Jagdflieger, 1918 als Auszeichnung in den persönlichen Adelsstand berufen, Jurastudium, Bankangestellter, 1924–1927 Aufbau einer Luftwaffe in China, 1927–1933 Leiter einer Zivilfliegerschule in Würzburg, 1934 Eintritt in die Reichswehr, versetzt ins Reichsluftfahrtministerium, 1939 Kommandierender General des V. Fliegerkorps, 1942 Oberbefehlshaber des Luftwaffenkommandos Ost in Smolensk, 1943 Oberbefehlshaber der aus seinem Kommando gebildeten Luftflotte 6, am 26. 4. 1945 von Hitler zum Generalfeldmarschall befördert und als Nachfolger Görings mit der Führung der Luftwaffe beauftragt. Suizid in US-Kriegsgefangenschaft, nachdem die Auslieferung an die Sowjetunion angekündigt worden war.
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besonders überraschendes Beispiel dafür, wie in einem entwaffneten Land Verbände auftauchen können, die über alle Arten von Waffen verfügten – tausende Gewehre, Maschinenpistolen, Maschinengewehre und Granaten. Das ist allerdings meine Mutmaßung, denn etwas Genaues weiß ich darüber nicht. Über die Wehrmacht wurden keine Lager für die Organisation „Werwolf“ angelegt. Ich nehme an, dass, als zur Gründung der Bewegung „Werwolf“ aufgerufen wurde, es keine derartige Organisation gab. Der Aufruf verfolgte propagandistische Ziele. Im Volk sollten die Widerstandskräfte geweckt werden, ohne jedoch irgendein Organisationszentrum zu haben. Die Erfahrung aus dem Volkssturm hat recht anschaulich gezeigt, dass der Versuch, eine Massenorganisation im Volk zu gründen, erfolglos ist. Das ist besonders dann der Fall, wenn das die Partei ohne die Zusammenarbeit mit den Streitkräften in Angriff nimmt. Als eine Maßnahme mit Massencharakter, die in der letzten Kriegsphase eingeführt wurde, kann die Gründung von Panzervernichtungsgruppen und -trupps angesehen werden. Hierfür wurde hauptsächlich die Hitlerjugend herangezogen. Diese Maßnahme war allerdings legal, denn die Panzervernichtungstrupps agierten gemeinsam mit den regulären Truppen. Über andere Informationen zur Gründung illegaler Organisationen verfüge ich nicht. Es ist aber dennoch möglich, dass sie seitens der Partei oder SS gegründet wurden.152 Frage: Erläutern Sie die Entwicklung der operativ-strategischen Bedingungen an der Ostfront. Wie bewerteten Sie die deutschen Perspektiven während der verschiedenen Etappen des Krieges? Antwort: Mit der Konzentration der deutschen Armee in den Gebieten, die an die Interessensphäre der UdSSR153 grenzten, wurde von uns direkt nach der Beendigung des Frankreich-Feldzugs begonnen, denn zu dieser Zeit befanden sich nur 5–7 unserer Divisionen in den östlichen Gebieten. Die Hauptgebiete dieser Konzentration waren: Ostpreußen und Oberschlesien. Diese Konzentration wurde in Abhängigkeit der russischen Truppenbewegungen in den angrenzenden Gebieten verstärkt. Man darf nicht behaupten, dass die deutschen Truppen gerade im Sommer 1941 vollständig kriegsbereit waren. Beispielsweise wäre Deutschland erst ab 1945 vollständig zu einem Seekrieg in der Lage gewesen.154
152 Der Abschnitt zur Organisation „Werwolf“ fehlt in früheren Veröffentlichungen. Vgl. Die Vernehmung von Generalfeldmarschall, S. 656. 153 Beim Abschluss des Freundschaftsvertrags mit der Sowjetunion am 28. 9. 1939 wurden eine deutsche und eine sowjetische Interessensphäre festgelegt. 154 Diese Aussage entspricht dem Planungsstand der Marine von 1939. Durch die Zerstörung von Kriegsgerät und die strategische Luftoffensive der Alliierten wurden die angestrebten Ziele im Hinblick auf die Bewaffnung nie erreicht.
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Der Plan für die Operationen 1941 sah ungefähr folgendermaßen aus: drei Heeresgruppen der Wehrmacht, verstärkt durch starke Panzereinheiten, führen einen gleichzeitigen Schlag gegen die Rote Armee durch, indem sie kontinuierlich ihre Kräfte auf die Flanken der Streitkräfte konzentrieren. Das Hauptziel war im Norden Leningrad sowie im Süden der Donbass und das Tor zum Kaukasus. Es war vorgesehen, dass die Kräfte der Heeresgruppe Mitte für die folgenden größeren Schläge gegen die Flanken verwendet werden sollten. Nach der Schlacht an der Grenze und dem Durchbruch durch alle Verteidigungslinien der Roten Armee sollten die deutschen Truppen die Hauptkräfte der Roten Armee in Weißrussland und der Ukraine einkesseln und vollständig vernichten, um sie nicht nach Moskau zurückweichen zu lassen. Wie ich bereits erläutert habe, sollte der Feldzug 1941 bis zum Anbruch des Winters 1941 beendet sein, denn wir hatten eine sehr gute Vorstellung von den Schwierigkeiten, die mit den unbefahrbaren Straßen im Herbst und den Frösten im Winter in Russland verbunden waren. Wenn man die Schlagkraft der drei Heeresgruppen betrachtet, die wir zu Beginn des Kriegs zur Verfügung hatten, kann ich sagen, dass diese Streitkräfte nicht besonders groß waren. Nach unseren Einschätzungen besaßen sie dennoch ausreichend Möglichkeiten, um einen entscheidenden Erfolg zu erringen. Es fällt mir schwer, mich an die genaue Anzahl der Divisionen zu erinnern.155 Anfangs teilte auch ich die Meinung, dass die Hauptschlacht, die das Schicksal von Russlands Rüstungsindustrie besiegeln könne, auf den Feldern des Donbass156 entschieden werden sollte. Später änderte sich diese Haltung vor allem durch die erfolgreichen Schlachten bei Brjansk und Wjasma. Die Situation der Roten Armee stellte sich den Berichten des Geheimdienstes zufolge sowie nach der Gesamteinschätzung aller befehlenden und leitenden Personen im Generalstab im Oktober 1941 folgendermaßen dar: a) Die Hauptkräfte der Roten Armee waren in den Schlachten an den Grenzen der Sowjetunion zerschlagen worden. b) Während des Herbstes hatten die deutschen Truppen die wichtigsten Reserven der Roten Armee in Weißrussland und der Ukraine zerschlagen und zerstört. c) Die Rote Armee verfügte nicht mehr über operative und strategische Reserven, die den drei Heeresgruppen ernsten Widerstand hätten entgegenstellen können.
155 Die etwa 3 Mio. Wehrmachtssoldaten des deutschen Ostheeres waren in ca. 150 Divisionen zusammengefasst. Dazu kamen etwa 690 000 Soldaten der verbündeten Nationen. Die in den westlichen Militärbezirken stationierten Kräfte der Roten Armee beliefen sich auf etwa 2,9 Mio. Soldaten, gegliedert in 145 Divisionen. 156 Mit Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion wurde ein großer Teil der Stahl- und Kohleindustrie im Donezbecken („Donbass“) demontiert und ins westliche Sibirien verlegt, wo sehr rasch wichtige Rüstungsbetriebe entstanden. Die Kohlegruben wurden unter deutsche Besatzung weiterbetrieben, es gelang jedoch nicht, eine nutzbare Rüstungsindustrie zu etablieren.
1.4 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel
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Die Lage unserer Truppen sah folgendermaßen aus: Die Heeresgruppe Süd war nach den Kämpfen deutlich ermüdet und verfügte nicht über ausreichend Kräfte, um den Donbass weiterhin zu halten. Das verstärkte sich noch durch die Bemühungen zu Gegenschlägen in der Mitte [der Front], nach der Überwindung des Dnjepr. Bezüglich der weiteren Angriffe auf Moskau durch die Heeresgruppe Mitte entstanden folgende Meinungsverschiedenheiten: a) Das Kommando der Heeresgruppe Mitte und die Führung des Generalstabs des Heeres (Brauchitsch und Halder157) forderten, die stärkste Schlagkraft in der Mitte zu konzentrieren, den Angriff auf Moskau fortzusetzen, Moskau von Norden zu umgehen und so den Krieg zu entscheiden. b) Ich und anfangs auch der Führer waren der Meinung, dass es notwendig sei, die Erfolge im mittleren Frontabschnitt zu stabilisieren, um auf deren Kosten die Flanken zu verstärken und so die wichtigsten Aufgaben des Feldzuges zu lösen und [zugleich] die zentrale Gruppierung der Roten Armee so weiträumig wie möglich zu umgehen. Angesichts des herausragenden Erfolgs der Umfassung bei Brjansk und Wjasma158 überzeugte die Führung des Generalstabs des Heeres den Führer, dass die Operation bei Moskau ein uneingeschränkter Erfolg werden würde. Der Führer fügte sich ihren Argumenten und stimmte dem Angriff auf Moskau zu. Die weiteren Entwicklungen offenbarten aber, dass dies eine Fehlentscheidung gewesen war. Infolge des Fiaskos bei Moskau und der Zurücknahme der deutschen Truppen wurde Brauchitsch als Oberbefehlshabers des Heeres abgesetzt. Soweit ich mich erinnere, erklärte sich die Absetzung Brauchitschs folgendermaßen: a) Der Führer war entschieden dagegen, dass Brauchitsch nach dem Gegenschlag der Roten Armee einen planmäßigen Rückzug auf im Voraus festgelegte Positionen vornahm. Da er fürchtete, dass die Heeresgruppe Mitte von der Heeresgruppe Nord abgeschnitten werden könnte, begann er zu übereilt, die 9. Armee abzuziehen. Hitler betrachtete dies als einen Verstoß gegen die prinzipielle Forderung, dass nicht ein Schritt vom eroberten Territorium zurückgegangen wird, denn er
157 Franz Halder (1884–1972), Generaloberst, seit 1902 Berufssoldat, 1911–1914 Generalstabsausbildung, verschiedene Stabsverwendungen, 1938 Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, am 29. 9. 1942 auf Weisung Hitlers seiner Posten enthoben und in die Führerreserve versetzt, Internierung nach dem 20. 7. 1944 wegen Teilnahme an der militärischen Verschwörung gegen Hitler 1938. Nach 1945 Leiter der deutschen Abteilung der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der US-Armee. 158 In der Doppelschlacht bei Vjaz’ma und Brjansk gerieten im Oktober 1941 mehr als 650 000 sowjetische Soldaten in deutsche Gefangenschaft, der Generalstab glaubte daher, dass der Weg nach Moskau nahezu frei wäre, was sich als Fehlannahme erwies. Die Schlacht gilt als Muster einer Kesselschlacht, bei der Panzerkeile die gegnerischen Truppen umfassen und den Entsatz verhindern. Der Kessel selbst wird dann von der Infanterie ausgeräumt. Dieses Vorgehen erwies sich als zeitraubend und band große deutsche Truppenteile.
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wusste um die Bedeutung der Rückgabe zuvor eroberten Gebiets an den Gegner. Hitler sprach sich insbesondere scharf gegen die Illusion von „Rückzugsräumen“ aus, die bei der Planung des Abzuges eingerichtet wurden. b) Sowohl der Führer als auch ich waren der Meinung, dass Brauchitsch die Kräfte der deutschen Truppen unterschätzt hatte. Die 4. Armee und die Panzergruppe 3 waren überhaupt nicht zerschlagen und die Panzergruppe 2 hatte ihre gesamte Schlagkraft behalten. Ein übereilter Abzug war nicht notwendig gewesen.159 c) Hitler bezog außerdem als einen hinzukommenden Umstand die Krankheit Brauchitschs und dessen Alter ein. Bei der Absetzung Brauchitschs spielten politische Gründe überhaupt keine Rolle. Das gilt auch für die unbegründete Auffassung, Brauchitsch sei gegen einen Angriff auf Moskau und das weitere Vordringen in die Tiefen Russlands gewesen. Im Ergebnis des Feldzuges von 1941 wurde klar, dass sich ein militärisches Gleichgewicht zwischen den deutschen und sowjetischen Streitkräften eingestellt hatte. Die russischen Gegenangriffe, die für das Oberkommando vollkommen unerwartet waren, offenbarten uns, dass wir uns ungeheuer bei der Bewertung der Reserven der Roten Armee verschätzt hatten. Es gelang nicht, den Kampf durch einen Blitzkrieg zu gewinnen. Trotz allem nahm uns das nicht die Hoffnung, durch erneute Angriffe den Sieg zu erringen. Bei der Erarbeitung der Pläne für die Operation 1942 ließen wir uns von folgenden Rahmenbedingungen leiten: a) Die Truppen der Ostfront waren nicht mehr in der Lage, an allen Stellen anzugreifen, wie das noch 1941 der Fall gewesen war. b) Der Angriff sollte sich nur auf einen Abschnitt der Front konzentrieren, und zwar den südlichen. c) Das Ziel des Angriffs bestand darin, den Donbass aus dem rüstungswirtschaftlichen Potential Russlands herauszureißen, den Transport von Öl auf der Wolga zu unterbrechen und die wichtigsten Ölquellen zu besetzen, die sich nach unserer Ansicht in Maikop und Grosny befanden. Es war zunächst kein breiter Vorstoß zur Wolga geplant. Es wurde davon ausgegangen, zunächst an einer Stelle die Wolga zu erreichen, um nachfolgend das wichtige strategische Zentrum – Stalingrad – zu nehmen. Für den Fall eines Erfolges war weiterhin vorgesehen, Moskau von Süden her abzuriegeln und mit starken Kräften einen Vorstoß nach Norden zu unternehmen (vorausgesetzt, unsere Verbündeten hätten den Don einnehmen können). Es fällt mir schwer, irgendwelche Fristen für die Durchführung dieser Operation zu nennen. Die gesamte Operation im südlichen Bereich sollte mit
159 Im Gegensatz zu dieser Einschätzung versuchte der kommandierende General der Panzergruppe 2, Generaloberst Heinz Guderian (1888–1954), Hitler zum Rückzug zu bewegen. Hitler entband ihn Ende 1941 seines Kommandos.
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einer groß angelegten Umfassung der gesamten südwestlichen und südlichen Gruppierung der Roten Armee durch unsere Heeresgruppen A und B beendet werden. Hier muss hinzugefügt werden, dass im letzten Moment vor dem Angriff auf Woronesch bekannt wurde, dass Major Reichel160, einer der Offiziere des Generalstabs, der die operativen Anweisungen an der Front transportierte, ohne Nachricht verschwand und offensichtlich in die Hände der Russen geraten war. In einer englischen Zeitung tauchte außerdem eine Meldung über die Pläne des deutschen Oberkommandos auf, in der der genaue Wortlaut der operativen Anweisungen des Generalstabs genannt wurde. Wir erwarteten Gegenmaßnahmen der Russen und waren daher sehr überrascht, dass der Angriff auf Woronesch vergleichsweise schnell von Erfolg gekrönt war. Nach dem Durchbruch durch die Verteidigungslinien der Roten Armee sollte die Heeresgruppe B, die Woronesch nicht unbedingt halten sollte, scharf nach Süden abdrehen und entlang des Dons zielstrebig auf Stalingrad marschieren. Diese Operation gelang vollständig. Nach dem Durchbruch hatten wir den Eindruck, dass sich uns beinahe kein Gegner in den Weg stellte. Ich persönlich zog daraus den Schluss, dass die Rote Armee nach Südosten auswich, um die Hauptkräfte wegzuführen. Einige Militärs, insbesondere der Befehlshaber der Heeresgruppe B, Generalfeldmarschall Weichs161, schlugen vor, umgehend den Don zu überqueren und in Richtung Norden zu marschieren, ohne bis nach Stalingrad vorzudringen. Dieser Vorschlag fand nicht die Zustimmung des Führers, denn er brachte uns von unserem Hauptziel – Moskau vom Kaukasus abzuschneiden – ab und verlangte darüber hinaus Kräfte, über die wir nicht verfügten. Die Folge war die Schlacht um Stalingrad. Auf ihr basierten die wichtigsten strategischen Planungen beider Seiten. Damit erklärt sich auch, dass wir in der Stadt zu viele Kräfte gebunden hatten und, man muss gestehen, dass es der Roten Armee hervorragend gelang, die Lösung dieser für sie wichtigen Aufgabe zu erreichen. An dieser Stelle muss man noch einmal bekennen, dass wir die Kraft der Roten Armee bei Stalingrad unterschätzt haben – sonst hätten wir nicht eine Division nach
160 Joachim Reichel (1908–1942), Major, Ia der 23. Panzerdivision, flog am 19. 6. 1942 in einem Fieseler Storch zu Besprechungen im Gefechtsstand des VIII. Armeekorps bei Volčansk und wurde abgeschossen. In seiner Handakte befanden sich die Aufmarschbefehle für das „Unternehmen Blau“, die Fortsetzung des Krieges an der Ostfront. Die Dokumente fielen angeblich in sowjetische Hände, wurden aber wohl für eine Fälschung gehalten. 161 Maximilian von Weichs (1881–1954), Generalfeldmarschall, seit 1900 Berufssoldat, Kavallerist, später Protagonist der Panzerwaffe, 1939–1942 Oberbefehlshaber der 2. Armee, ab Juli 1942 Kommandeur der Heeresgruppe B, nach der Zerschlagung seiner Truppen bei Stalingrad in die Führerreserve versetzt. Ende 1943 reaktiviert, Oberbefehlshaber Südost und der Heeresgruppe F auf dem Balkan. Seit Mai 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1947 im Nürnberger Geiselmord-Prozess angeklagt, aber wegen Krankheit nicht verurteilt und entlassen.
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der anderen in die Stadt hineingezogen und so die Front am Don geschwächt. Zu diesen Schwierigkeiten kam noch die Forderung Antonescus162 hinzu, der für die rumänische Armee einen eigenen Frontabschnitt forderte, was später katastrophale Folgen hatte. Heute kann man sagen, dass das deutsche Kommando weder die Kräfte noch die Zeit noch die Angriffsfähigkeit der Streitkräfte berechnet hatte. Zugleich war Stalingrad damals so ein verführerisches Ziel, dass es unmöglich erschien, sich von ihm abzuwenden. Wir dachten, wenn wir noch eine Division, noch ein Artillerieregiment der Reserve des Oberkommandos, noch ein Pionierbataillon, noch eine Werferabteilung, noch eine Geschützbatterie in die Schlacht werfen, dann wird die Stadt in unseren Händen sein. In Verbindung mit der ungenügenden Kenntnis und Unterschätzung des Gegners hat all dies zusammen zu der Einkesselung von Stalingrad geführt. Hätte die Entscheidung über das Schicksal der 6. Armee in meinen Händen gelegen, dann hätte ich mich aus Stalingrad zurückgezogen. Doch man muss sagen, dass es jetzt sehr schwer ist, die eigenen Handlungen zu bewerten, weil mir erst jetzt ersichtlich ist, mit welchen Ergebnissen unsere Pläne endeten. Den Vorschlag zur Räumung Stalingrads wies der Führer mit aller Entschiedenheit zurück. Anfangs lagen noch große Hoffnungen auf den Gegenangriffen Mansteins163 und der Hilfe durch die Luftwaffe. Nach den Misserfolgen Mansteins waren alle einer Meinung, dass es notwendig ist, so schnell wie möglich die Truppen aus dem Kaukasus abzuziehen. Das gelang auch. Aus der Operation von 1942 und der Schlacht bei Stalingrad habe ich folgende Schlüsse gezogen: а) der Verlust der 6. Armee wirkte sich außerordentlich schwer auf die Lage der gesamten Ostfront aus, b) doch durfte man den Krieg an der Ostfront nicht für verloren halten, selbst wenn er nicht innerhalb kürzerer Zeit mit einem militärischen Sieg gekrönt werden würde, c) man darf seine Hoffnungen nicht auf die Kriegsverbündeten (Rumänien, Ungarn, Italien usw.) legen.
162 Ion Antonescu (1882–1946), Marschall Rumäniens und Staatsführer, im 1. Weltkrieg Stabsoffizier, 1933 Generalstabschef, 1937–1938 rumänischer Kriegsminister, seit 1940 Marschall und diktatorischer Staatsführer. 1944 gestürzt und an die Sowjetunion ausgeliefert, wurde er 1946 nach Rumänien verbracht und nach einem Schauprozess hingerichtet. 163 Erich von Manstein (eigentlich von Lewinski, 1887–1973), Generalfeldmarschall, seit 1906 Berufssoldat, 1913–1914 Generalstabsausbildung, 1939 Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Süd, 1940 entwickelte er den Angriffsplan gegen Frankreich, 1942 Eroberung der Krim, nach Einschluss der 6. Armee zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don ernannt, die Stalingrad entsetzen sollte, anschließend als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd Stabilisierung und Rücknahme der Südostfront, am 30. 3. 1944 nach Streit mit Hitler über die Kriegführung im Osten seines Postens enthoben. 1945 in britische Kriegsgefangenschaft, 1949 von britischem Militärgericht zu 18 Jahren Haft verurteilt, 1953 vorzeitig entlassen.
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Trotzdem, bis zum Moment der Planungen der Operationen an der Ostfront für Sommer 1943 gelang es den Truppen an der Ostfront, sich umfassend zu vervollständigen und ihre Versorgung zu sichern. Wahr ist allerdings, dass der Mangel an erfahrenen Soldaten extrem zu spüren war. Der Plan für 1943 sah folgendes vor: a) Die Vernichtung des Kursker Bogens164 und die Neuausrichtung der Front in diesem Gebiet. b) Für den Erfolgsfall war vorgesehen, nach Nordosten vorzudringen, um die von Moskau nach Süden führenden Eisenbahnstrecken zu unterbrechen. (Hier muss ich hinzufügen, dass dieser Vorschlag in extrem direkter Art geäußert wurde.) c) Dann sollte mit begrenztem Ausmaß eine gleichartige Angriffsoperation bei Leningrad durchgeführt werden. Das Kommando der Heeresgruppe Mitte (Generalfeldmarschall Kluge165) und die Leitung des Generalstabs des Heeres (General Zeitzler166) bestanden besonders auf der Durchführung der Operation bei Kursk. Dabei ließen sie nicht den geringsten Zweifel am Erfolg der Aktion aufkommen. Was mich betrifft, so muss ich sagen, dass ich zu dieser Zeit nicht an der Ausarbeitung der Pläne und an der Ausarbeitung der Befehle an der Ostfront beteiligt war. Aus diesem Grund sind meine Kenntnisse bezüglich der sowjetisch-deutschen Front von 1943–1945 ungenügend. Der Führer war von der Notwendigkeit der Operation und von ihrem erfolgreichen Ausgang nicht überzeugt, gab aber auf Grund der Beteuerungen des Generalstabs des Heeres nach. Es war klar, dass für die Rote Armee unser Vorhaben, ihre Gruppierungen bei Kursk zu vernichten, kein Geheimnis war und dass sie sich auf einen Militärschlag vorbereitete. Aus diesem Grund schlug der Führer vor, neben den Angriffen aus dem Norden und Süden auch noch in Richtung Osten auf Kursk vorzustoßen. Zeitzler protestierte entschieden, da er es für unmöglich hielt, die Kräfte auf
164 Beim Rückzug nach der Schlacht bei Stalingrad entstand durch Vorstöße der sowjetischen Zentralfront unter Marschall Rokossowskij ein großer Frontvorsprung westlich Kursk, der beseitigt werden sollte („Unternehmen Zitadelle“). Diese letzte deutsche Großoffensive gegen die sowjetischen Truppen scheiterte jedoch im Juli 1943. 165 Günther von Kluge (1882–1944), Generalfeldmarschall, seit 1901 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1939/40 Oberbefehlshaber der 4. Armee, danach von 1941 bis Oktober 1943 der Heeresgruppe Mitte bzw. B, schließlich im Juli 1944 zum Oberbefehlshaber West ernannt, am 17. 8. 1944 nach erfolgloser Bekämpfung der alliierten Landung in der Normandie durch Hitler abgesetzt, 19. 8. 1944 Suizid. 166 Kurt Zeitzler (1895–1963), Generaloberst, seit 1914 Berufssoldat, 1926–1928 Generalstabsausbildung, 1939–1942 Generalstabschef des XXII. Armeekorps (mot.), 1940 umbenannt in Panzergruppe 1, seit Oktober 1941 1. Panzerarmee, September 1942 als Nachfolger Halders Chef des Generalstabs des Heeres. Nach den deutschen Niederlagen an der Ostfront 1943/44 Krankmeldung im Juli 1944, seit August 1944 in der Führerreserve. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft.
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diese verschiedenen Richtungen aufzuteilen. Auch in diesem Punkt konnte er den Führer überzeugen. In der Folge zeigten sich während der Operation, bei der sowohl Manstein als auch Model167 weder genügend Kräfte168 noch das nötige Durchsetzungsvermögen hatten, um erfolgreich zu sein, selbst bei Hitler Zweifel und Unsicherheit. Außerdem hatten wir auf keinen Fall erwartet, dass die Rote Armee nicht nur in der Lage sein würde, unsere Angriffe abzuwehren, sondern auch über genügend Reserven verfügte, um zu einem massiven Gegenangriff überzugehen. Die Folge war der Rückzug an allen mittleren Abschnitten der Ostfront. Betrachtet man die Ergebnisse der Kämpfe von 1943, waren sie die zweite ernste Warnung für die deutsche Armee. Ich bewertete sie so: Der Krieg war für Deutschland noch in keinem Fall verloren. Wir konnten keine Angriffe im großen Maßstab im Osten durchführen und sollten zur Verteidigung übergehen. Es war nötig, erst einmal auf Zeit zu spielen, um die Verluste auszugleichen, die die Armee erlitten hatte. Über die Planungen für die Operationen an der Ostfront im Jahre 1944 kann ich keine genauen Angaben machen, denn ich war an ihrer Ausarbeitung nicht beteiligt. Der Fortgang der Kampfhandlungen war für mich durch drei entscheidende Ereignisse gekennzeichnet: die Niederlage in Zentralweißrussland169, die Niederlage in Rumänien170 und die Invasion der Alliierten im Westen171. Das führte bei mir zu dem Schluss, dass Deutschland den Sieg nicht mit militärischen Mitteln erringen kann. Ich zweifelte nicht daran, dass wenn wir im Westen nicht 12 Panzerdivisionen und 16 Heeresdivisionen halten würden, die Entwicklung der Ereignisse an der Ostfront die gleichen wären.172
167 Walter Model (1891–1945), Generalfeldmarschall, seit 1909 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1939 Chef des Generalstabes des IV. Korps, 1940 Chef des Generalstabes der 16. Armee, später Kommandeur der 3. Panzer-Division, 1941–1942 Kommandierender General des XXXXI. Panzerkorps, 1942–1943 Oberbefehlshaber der 9. Armee, 1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, ab Sommer 1944 der Heeresgruppe Mitte, ab August 1944 Oberbefehlshaber West und der Heeresgruppe B, Ende April 1945 Suizid im sog. Ruhrkessel. 168 In der Schlacht am Kursker Bogen standen etwa 800 000 deutsche Soldaten mit ca. 2500 Panzern und ca. 7500 Geschützen, die von knapp 1400 Flugzeugen unterstützt wurden, ca. 1,9 Mio. sowjetischen Soldaten mit fast 5000 Panzern und Sturmgeschützen sowie etwa 31 000 Geschützen gegenüber. Unterstützt wurden sie von mehr als 3600 Flugzeugen. 169 Im Rahmen der sowjetischen Offensive „Bagration“ war zwischen Juni und August 1944 die Heeresgruppe Mitte nahezu vollständig zerschlagen worden. Sie gilt als schwerste und verlustreichste Niederlage der deutschen Militärgeschichte. 170 Am 23. 8. 1944 führte der rumänische König Michael I. (*1921) einen Staatsstreich durch, der die Diktatur Antonescus beendete. Rumänien schlug sich auf die Seite der Alliierten und wurde von sowjetischen Truppen besetzt. 171 Die Landung in der Normandie begann am 6. 6. 1944. 172 Dieser Satz fehlt in früheren Veröffentlichungen. Vgl. Die Vernehmung von Generalfeldmarschall, S. 660.
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Ich zog für mich auch noch den Schluss, dass die Truppen an der Ostfront sich nicht nur nicht stabil verteidigen konnten, sondern sogar die Entwicklung einer Offensive nicht hätten aufhalten können. Die Invasion der Alliierten in der Normandie brachte uns die Situation eines ZweiFrontenkriegs. (Die Operation der anglo-amerikanischen Truppen in Italien betrachte ich nicht als zweite Front.) Wir erwarteten die Invasion in der Bretagne oder im Gebiet Cherbourg, denn dort gab es die günstigsten Punkte für eine Landung. Ich persönlich denke, dass der Erfolg der Alliierten sich ausschließlich durch ihre Vorherrschaft in der Luft erklärt, die unsere Nachschubwege vollständig zerstörte. Unter anderen Bedingungen hätten die deutschen Truppen die anglo-amerikanischen Streitkräfte in den Kanal zurückgeworfen. Für mich bedeutete das Jahr 1944: Der Krieg konnte nur auf politischem Weg gewonnen werden. Ein militärischer Sieg war nicht mehr zu erreichen. Für die Operationen von 1945 kann ich einige Versuche des Oberkommandos darlegen, einen Umschwung in den Kampfhandlungen herbeizuführen: a) Der ernsthafteste Versuch war im Winter die Ardennen-Offensive. Ziel war es, die Maas zwischen Lüttich und Namur zu überschreiten und bei Erfolg weiter nach Antwerpen vorzudringen. Wir hofften absolut uneingeschränkt auf einen Erfolg, denn wir wussten, dass die Alliierten in Frankreich 80–85 Divisionen hatten, aber in dem Bereich des angenommenen Durchbruchs lediglich drei amerikanische Divisionen standen. Die Niederlage bei dieser Offensive stand im Zusammenhang mit der Ermüdung unserer menschlichen Ressourcen. b) Im Februar und März 1945 war vorgesehen, Gegenoperationen gegen die auf Berlin marschierenden Truppen durchzuführen, wofür wir Pommern als Brückenkopf verwendeten. Es war geplant, dass die Truppen der Heeresgruppe Weichsel, nachdem sie in das Gebiet von Graudenz vorgestoßen waren, die russische Front durchbrechen und entlang der Flüsse Netze und Warthe, im Hinterland [der russischen Front] bis Küstrin vordringen würden. Gleichzeitig sollte ein weiterer Vorstoß aus dem Raum Stettin geführt werden. Dieser Plan konnte nicht umgesetzt werden, denn es waren hierfür nirgendwo Truppen aufzutreiben und ihre Zusammenstellung hätte zu viel Zeit beansprucht. Es ist wichtig anzumerken, dass die Heeresgruppe Weichsel damals von Himmler befehligt wurde. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was es erfordert, Truppen zu befehligen. c) Der nächste Versuch war der Gegenangriff der 6. Panzerarmee bei Budapest. Der Führer selbst hatte diese Idee. Er war der Meinung, dass unter diesen Bedingungen 70 000 Tonnen Öl in Nagykanizsa sowie die Versorgung Wiens und Österreichs von entscheidender Bedeutung seien. Er erklärte, dass man eher Berlin aufgeben könne, als das ungarische Öl und Österreich zu verlieren. Von diesen Überlegungen ausgehend, befahl Hitler, die 6. Panzerarmee von der Westfront in den Raum Budapest verlegen zu lassen. Diese Aktion nahm sieben bis acht Wochen in Anspruch, denn sie wurde durch die vollständige Zerstörung der Transportwege in Deutschland erschwert. Nach diesen Misserfolgen war die
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Niederlage Deutschlands besiegelt. Nur die soldatische Pflicht des Gehorsams gegenüber der Person, der wir unseren Eid geschworen hatten, zwang uns und die anderen, bis zum letzten zu kämpfen. Frage: Auf welcher Grundlage beließ das deutsche Kommando Truppen in Kurland und Italien und warf sie nicht mit in die Kämpfe an der Ostfront? Antwort: Was die Angelegenheit mit Kurland und Italien betrifft, so handelte es sich dabei um einen Komplex, der mehrmals analysiert wurde und auf der Führungsebene zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten führte. Der Führer war im Fall der Heeresgruppe Kurland173 der Meinung, dass sie ständig 50–60 sowjetische Divisionen binden könnte. Wenn man die Truppen abzöge, so kämen auf jede deutsche Division drei bis vier russische Divisionen, was nicht wünschenswert sei. Generaloberst Guderian174 hielt an der Meinung fest, dass es notwendig sei, ständig Truppen aus Kurland abzuziehen: eine Division nach der anderen. Der Befehlshaber der Heeresgruppe Kurland Generaloberst Rendulic175 machte einen vollkommen absurden Vorschlag, der vorsah, nach Ostpreußen durchzubrechen. Man muss dazu sagen, dass wir große Schwierigkeiten beim Transport über die See erlebten. Für die Verlegung einer Division aus Libau nach Deutschland benötigten wir zwölf Tage. Die vollständige Rückkehr der Schiffe nahm drei Wochen in Anspruch. Daher entschied der Führer, dass die Ausfuhr von Technik, Materialien, Kavallerie und einem kleinen Kontingent an Truppen fortgesetzt werden sollte. Die Hauptkräfte sollten zur Bindung der Russen zurückbleiben. Was Italien betrifft, so hielten wir es für notwendig die Truppen im Norden Italiens zu belassen, was folgende Gründe hatte: a) Norditalien ist eine reiche landwirtschaftliche Region und Industriegebiet (Waffen- und Automobilbetriebe usw.). Um die einheimische Bevölkerung in
173 Mit dem Vorstoß der Roten Armee im Oktober 1944 war die Heeresgruppe Nord im Baltikum eingeschlossen. Danach wurde der Verband hinhaltend bekämpft, so dass nur eine geringe Zahl sowjetischer Truppen gebunden war. 174 Heinz Guderian (1888–1954), Generaloberst, seit 1907 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1938 Chef der Schnellen Truppen im OKH, 1939 Kommandeur des XIX. Armeekorps, 1940 umbenannt in „Panzergruppe Guderian“, 1941 in Panzergruppe 2, im Dezember 1941 wegen Rückzugsforderung vor Moskau von Hitler seines Postens enthoben und in die Führerreserve versetzt, 1943 als Inspekteur der Panzertruppen reaktiviert, 1944 Chef des Generalstabs, am 28. 3. 1945 von Hitler beurlaubt. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft. 175 Lothar Rendulic (1887–1971), Generaloberst, studierter Jurist, seit 1907 Berufssoldat, österreichischer Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1938 in die Wehrmacht übernommen, führte ab 1940 verschiedene Heeresdivisionen und -armeen in Frankreich, der Sowjetunion, Jugoslawien und Finnland, Januar 1945 Befehlshaber der Heeresgruppen Nord und Kurland, April 1945 Befehlshaber der Heeresgruppe Süd/Ostmark. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger Geiselmord-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1951 begnadigt und entlassen.
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Anspruch zu nehmen, war es nicht nötig, sie nach Deutschland zu bringen und Mittel für ihre Unterbringung und Versorgung auszugeben. b) Solange sich unsere Truppen in Norditalien befanden, hatten die Alliierten ihre Flugplätze im Gebiet von Rom. Der Abzug aus Italien hätte eine extremes Heranrücken der alliierten Stützpunkte und eine Verstärkung der Luftangriffe auf Deutschland zur Folge gehabt. c) Wenn wir uns auf die Grenze der Alpen in Frankreich, Italien und Österreich zurückgezogen hätten, so wären dadurch nicht viele Truppen freigeworden (es waren 16 Divisionen nötig). Der entscheidende Gedanke bezüglich der Frage, ob Norditalien gehalten wird, war das Vorhandensein unserer Truppen in Jugoslawien. Solange deutsche Truppen in Jugoslawien blieben oder sich auf dem Weg von Jugoslawien in Richtung Nordwesten befanden, konnten wir nicht aus Italien abziehen, denn das hätte sie dem Untergang preisgegeben. Prinzipiell stellte sich die Frage, Italien zu verlassen, bereits im Herbst 1943. An den Ausläufern der Alpen war eine Verteidigungsstellung errichtet worden, auf die sich die Truppen hätten zurückziehen können. Der Heeresgruppe in Jugoslawien wurde der Befehl erteilt, so schnell wie möglich abzuziehen. Durch die Entwicklungen auf dem Balkan verlangsamte sich dieser Abzug, entsprechend war es unmöglich, aus Italien abzuziehen. Frage: Berichten Sie über Ihre Mission im Jahre 1944 in Finnland und Ihre Verhandlungen mit der Führung der finnischen Regierung. Antwort: Im Juni 1944 drohte zweifellos ein Ausstieg Finnlands aus dem Krieg, was unsere Nordflanke ungeschützt gelassen hätte. Um das zu verhindern, fuhr Ribbentrop nach Finnland. Er erreichte im Laufe der Verhandlungen mit Ryti176 eine Übereinkunft, nach der Finnland nicht aus dem Krieg aussteigt, ohne vorher Deutschland kontaktiert zu haben. Finnland wurde die Verstärkung seiner Truppen durch eine Division und zwei Sturmgeschütz-Bataillone versprochen, die über Reval nach Finnland transportiert wurden. Das Ziel meiner Reise war, mit dem Chef des Generalstabs der finnischen Armee zu verhandeln und gleichzeitig auch mit Mannerheim. Während der Besprechungen zu militärischen Fragen teilte ich Heinrichs mit, dass alle Maßnahmen ergriffen werden, um die Grenze bis zur Narva zu halten. Ich versprach außerdem, dass wenn es nötig ist, Deutschland weiterhin zur Verstärkung der finnischen Front beiträgt.
176 Risto Ryti (1889–1956), Präsident Finnlands seit 1940, schloss mit dem Deutschen Reich im Juni 1944 den sog. Ryti-Ribbentrop-Vertrag, der das Ausscheiden Finnlands aus dem Krieg verhindern sollte. Das Reich sicherte Getreidelieferungen und Waffenhilfe zu, was zum finnischen Erfolg in der Schlacht von Tali-Ihantala führte. Ryti trat danach zurück und ließ seinen Nachfolger Mannerheim in Waffenstillstandsverhandlungen mit der Sowjetunion eintreten.
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Während meiner persönlichen Gespräche mit Mannerheim erklärte er mir, dass sich die Stimmung in Finnland verschlechtert habe, dass das Volk Frieden haben wolle und eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges anstrebe. Er gab mir zu verstehen, dass der Vertrag mit Ryti nicht vom Parlament ratifiziert worden war. Er als Präsident trüge die Verantwortung vor dem Volk, wodurch er nicht an Verpflichtungen gebunden sei, die Ryti eingegangen sei. Des Weiteren äußerte Mannerheim, dass er mit dem Schicksal seines Volkes verbunden und im entscheidenden Moment von ihm abhängig sei. Ich unterstrich, dass Finnland unserer Unterstützung sicher sein kann, weil wir in Finnland Interessen haben, die nicht nur mit Finnland verbunden sind, sondern in erster Linie seine eigenen Interessen betreffen. Mannerheim versprach mir nichts. Bei meiner Rückkehr aus Finnland berichtete ich dem Führer umgehend von Mannerheims Äußerungen, worauf dieser entgegnete: „Das habe ich erwartet. Sobald Soldaten anfangen Politik zu betreiben, entsteht daraus nichts Vernünftiges. Mannerheim ist ein ausgezeichneter Soldat, aber ein schlechter Politiker.“ Meinerseits äußerte ich die Annahme, dass die Finnen bei der geringsten Möglichkeit Verhandlungen mit der Sowjetunion aufnehmen werden. Dem stimmte Hitler zu. Die unmittelbare Folge war, dass wir dazu gezwungen waren, dem Befehlshaber der deutschen Truppen in Finnland, Generaloberst Rendulic, den Befehl zu erteilen, unverzüglich mit dem organisierten Abzug aus dem Land zu beginnen. Diese Aktion war ein voller Erfolg trotz des aktiven Widerstands der finnischen Truppen. Es gelang, aus Finnland 90 Prozent der deutschen Einheiten abzuziehen. Frage: Welche Geheimdienstinformationen hatten Sie über die Sowjetunion? Woher hatten Sie diese Informationen? Antwort: Vor dem Krieg hatten wir sehr dürftige Informationen über die Sowjetunion und die Rote Armee, die wir von unserem Militärattaché [in Moskau] erhielten. Während des Krieges berührten die Angaben unserer Agenten lediglich den taktischen Bereich. Wir erhielten nicht ein einziges Mal Informationen, die ernsthaft den Verlauf militärischer Operationen hätten beeinflussen können. Als Beispiel kann ich anführen, dass es uns nicht einmal gelang, eine Karte zu erstellen, aus der ersichtlich wurde, wie sehr sich der Verlust des Donbass auf das Gesamtgleichgewicht der Kriegswirtschaft in der UdSSR auswirkte. Admiral Canaris war für die allgemeine Leitung der Militärspionage zuständig. Er verteilte die von den Agenturen erhaltenen Informationen auf die Abwehrorgane des Heeres, der Luftwaffe und der Kriegsmarine. Über die Organisation der Abwehr habe ich nur oberflächliche Informationen. In Friedenszeiten verfügten wir nur über begrenzte Abwehrdienste. Während des Krieges hatten wir in neutralen Staaten (Spanien, Schweiz, Türkei, Südamerika) illegale Spionagezentren. Ich interessierte mich nicht für Einzelheiten und verließ mich ganz auf Canaris.
1.4 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel
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Ich habe mich nie in seine Angelegenheiten eingemischt. Ich bin der Meinung, dass alle Staaten so oder auf andere Weise diese Dinge betreiben. Sollte doch Canaris ebenso arbeiten wie alle anderen auch. Ich weiß, dass Canaris oft ins Ausland reiste (darüber berichtete er mir selbst jeweils vor seiner Abreise). Dennoch kenne ich keine Einzelheiten. Frage: Was wissen Sie über die sogenannte „Wlassow-Armee“ und welche Rolle hatte das deutsche Kommando für sie vorgesehen? Antwort: Soweit mir bekannt ist, wurde General Wlassow im Gebiet der 18. Armee gefangen genommen. Eine Propagandakompanie begann Flugblätter mit seiner Unterschrift zu verteilen, woraus dann auch diese ganze Geschichte mit der Wlassow-Armee entstand. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber es scheint mir, dass anfangs das Außenministerium auf Wlassow aufmerksam wurde, später übernahm Rosenberg177, der ihn dann an Hitler überstellte. Wlassow wurde erstmals im Frühjahr 1943 vom Generalstab des Heeres ernsthafte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Der Generalstab schlug vor, russische Regimenter zusammenzustellen, zu bewaffnen und dem Befehl Wlassows zu unterstellen. Der Chef der Reichskanzlei, Minister Lammers, machte den Führer in einem Sonderbrief auf diesen Versuch aufmerksam. Hitler verbot entschieden alle Maßnahmen zur Aufstellung russischer Regimenter und erteilte mir den Befehl, die Ausführung seiner Direktiven zu überwachen. Danach wurde Wlassow von mir unter Hausarrest gestellt und verblieb im Raum Berlin. Auch Himmler sprach sich gegen die Aufstellung russischer Regimenter unter der Leitung des Generalstabs des Heeres aus. Im Oktober und November 1944 änderte Himmler sein Verhältnis zu Wlassow. Er besuchte mich sogar extra, um in Erfahrung zu bringen, wo sich Wlassow aufhielt und um die Möglichkeit zu erhalten mit ihm zu sprechen. Im Anschluss schlug er mir vor, gemeinsam mit dem General-Inspekteur der Freiwilligeneinheiten beim Generalstab des Heeres, General Köstring178, hinsichtlich der Notwendigkeit zur Aufstellung russischer Regimenter und einer breiteren Verwendung von General Wlassow beim Führer vorzusprechen. Das lehnte ich entschieden ab. In der Folgezeit gelang es Himmler, das Einverständnis des Führers zur Aufstellung von russischen Divisionen zu erhalten. Diese wurden, soweit ich weiß, im April 1945 im Gebiet südlich von Frankfurt an der Oder in den Kampf geschickt. Das Ober-
177 Rosenberg war u. a. Befürworter einer „Divide et impera“-Strategie, die bestimmten Völkern Osteuropas Privilegien unter deutsche Vorherrschaft zugestehen wollte. 178 Ernst-August Köstring (1876–1953), General der Kavallerie, geboren in Russland, seit 1901 Berufssoldat im Preußischen Heer, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1931–1933 Militärattaché in Moskau, 1933 verabschiedet, 1935 reaktiviert und erneut bis zum Überfall auf die Sowjetunion Militärattaché in Moskau, 1941 Führerreserve, 1942 Beauftragter für Kaukasusfragen bei der Heeresgruppe A, 1943 Inspekteur der Turkvolk-Verbände unter deutschem Kommando, 1944 General der Freiwilligenverbände im OKH. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
kommando hatte niemals ernsthafte Pläne für die Verwendung der Wlassow-Armee. Auch der Führer lehnte die Idee zur Aufstellung einer Armee unter Wlassow auf das Entschiedenste ab und weigerte sich, ihn zu empfangen. Nur Himmler und die SS gaben Wlassow Protektion. Frage: Welche Meinung haben Sie zu den unzähligen zivilen Opfern der deutschen Truppen auf dem Gebiet der Sowjetunion? Antwort: Bereits während des Polenfeldzuges wurden gegen deutsche Offiziere unvorstellbare Verbrechen begangen. Das gleiche geschah auch in Frankreich. Ich kann nicht leugnen, dass deutsche Soldaten an einzelnen Orten ebenfalls brutal gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene vorgingen. Dennoch versichere ich Ihnen, dass das Oberkommando nicht nur solche Befehle nicht erteilt hat, sondern im Gegenteil solche Schuldigen hart bestrafte. Davon können Sie sich überzeugen, wenn Sie sich die Akten der Kriegsgerichte anschauen.179 Frage: Zu wem von den militärischen Führern sowie den leitenden Personen aus Partei und Regierung hatten Sie eine besonders enge Beziehung? Antwort: In politischen und Parteikreisen hatte ich keine Freunde. Aus Regierungskreisen waren mir Reichsminister Lammers sowie Finanzminister Schwerin von Krosigk eng verbunden. In militärischen Kreisen hatte ich besonders mit Generaloberst Jodl zu tun, genauso wie mit Generaloberst [von] Fritsch180 und mit den Generalfeldmarschällen [von] Reichenau181 und [von] Brauchitsch. Meine persönlichen Freunde waren die Generale [von] Briesen182 und [von] Wolff183, die während des Krieges starben.
179 Diese Darstellung ist unwahr. Die in Polen auch von der Wehrmacht vorsätzlich verübten Kriegsverbrechen wurden von Hitler nachträglich gerechtfertigt und von Strafe freigestellt. Auch im Frankreichfeldzug waren Kriegsverbrechen an der Tagesordnung, jedoch nicht von höchster Stelle angeordnet. Dies war erst beim Krieg gegen die Sowjetunion der Fall. 180 Werner von Fritsch (1880–1939), Generaloberst, seit 1898 Berufssoldat, 1907–1910 Generalstabs ausbildung, 1934 Chef der Heeresleitung, 1935 Oberbefehlshaber des Heeres, 1938 nach falschen Beschuldigungen entlassen, jedoch nicht rehabilitiert, fiel am 22. 9. 1939 als Chef des Artillerieregiments 12 vor Warschau. 181 Walter von Reichenau (1884–1942), Generalfeldmarschall, seit 1903 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1933 Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium, 1939 Oberbefehlshaber der 10. Armee, 1940 der 6. Armee, 1941 der Heeresgruppe Süd an der Ostfront, maßgeblicher Protagonist des Vernichtungskrieges, verstarb im Einsatz an den Folgen eines Schlaganfalls. 182 Kurt von Briesen (1883–1941), General der Infanterie, seit 1904 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1940 kommandierender General des LII. Armeekorps, bei einer Erkundungsfahrt am Donez durch Fliegerangriff getötet. 183 Horst von Wolff (1886–1941), Generalmajor, 1906 Leutnant, 1919 als Major aus dem Militärdienst entlassen, am Aufbau der Schwarzen Reichswehr beteiligt, 1939 als Oberst reaktiviert, 1941 Kommandeur des Infanterie-Regiments 478, im Oktober 1941 an der Ostfront gefallen.
1.4 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel
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Frage: Hat irgendjemand aus Ihrem persönlichen Umfeld an der Verschwörung des 20. Juli [1944] teilgenommen? Was haben Sie für eine Meinung zu der Verschwörung? Antwort: Niemand aus meinem Umfeld hat an der Verschwörung des 20. Juli teilgenommen, außer einem Offizier, der kurzzeitig im Generalstab unter meiner Führung diente. Ich hatte zu ihm keine persönliche Beziehung. Ich halte die Verschwörung vom 20. Juli für das schwerste Verbrechen, das ein Soldat begehen kann, ein Verbrechen gegen den Menschen, dem man einen Eid geleistet hat. Frage: Kennen Sie Personen, die in der Hitlerregierung wichtige Posten inne hatten und die sich derzeit versteckt halten? Antwort: Derzeit weiß ich nicht, wer sich in Gefangenschaft befindet und wer sich versteckt hält. Ich weiß nicht, wo sich der Reichsernährungsminister Backe184 aufhält und auch nicht, wo sich der Reichsminister der Justiz Thierack185 und Reichspostminister Ohnesorge186 aufhalten. Von der militärischen Führung weiß ich nicht, wo Generaloberst Rendulic und Generalfeldmarschall Schörner sind. Dennoch glaube ich nicht, dass sich die Generale vor der Besatzungsmacht versteckt haben. Frage: Welche Rolle haben Sie bei der Machergreifung Hitlers gespielt? Antwort: Während dieser Zeit war ich Leiter der Abteilung für Heeresorganisation des Stabes der Reichswehr. Von Anfang November 1932 bis Januar 1935 war ich erkrankt. Alle diese Ereignisse geschahen während meiner Krankheit. In dieser Zeit hatte ich überhaupt keinen Anteil am politischen Leben. Auf meinem Posten als Chef des Wehrmachtsamts im Reichskriegsministerium war ich Generaloberst [von] Blomberg187 unterstellt, der ein sehr gutes Verhältnis zu mir hatte. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal von Goebbels?
184 Herbert Backe (1896–1947), Agrar-Politiker, Reichslandwirtschaftsminister, studierter Landwirt, 1922 Eintritt in die SA, 1925 in die NSDAP, ab 1932 im Agrarpolitischen Apparat der Partei, 1933 Staatssekretär, ab 1942 Landwirtschaftsminister, 1945 von US-Truppen verhaftet, 1947 Suizid in Haft aus Angst vor Auslieferung in die Sowjetunion. 185 Otto Georg Thierack (1889–1946), Reichsjustizminister, 1926 Staatsanwalt, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1936–1942 Präsident des Volksgerichtshofs, 1942 Reichsjustizminister. 1946 Suizid in britischer Internierungshaft. 186 Wilhelm Ohnesorge (1872–1962), Reichspostminister, studierter Physiker, während des 1. Weltkrieges Leiter des Postdienstes im Kaiserlichen Hauptquartier, 1920 Bekanntschaft mit Hitler und Beitritt zur NSDAP, 1929 Leiter des Reichspostzentralamts, 1933 Staatssekretär im Reichspostministerium, 1937 Minister, unterstützte Forschungen zur Entwicklung einer deutschen Atombombe. 187 Werner von Blomberg (1878–1946), Generalfeldmarschall, seit 1897 Berufssoldat, 1904–1907 Generalstabsausbildung, 1933 von Reichspräsident Hindenburg als Reichswehrminister eingesetzt, Oberbefehlshaber der Reichswehr, verantwortlich für den Aufbau der Wehrmacht, deren Oberbefehlshaber er seit 1935 war, 1938 nach nicht standesgemäßer Heirat zum Rücktritt gezwungen. 1945 verhaftet, starb 1946 in einem US-Militärlazarett an Krebs.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Antwort: Soweit ich weiß, blieb Goebbels bis zuletzt in Berlin. Ich habe ihn dort mehrmals im Führerbunker gesehen. Er lebte nicht in der Reichskanzlei, sondern in seinem Haus am Brandenburger Tor. Unter diesem Haus befand sich ein gut ausgestatteter Luftschutzbunker. Über das Schicksal von Goebbels habe ich keine genauen Angaben. Frage: Was wissen Sie über das Schicksal Himmlers? Antwort: Ich traf mich mit Himmler im April 1945, als ich durch die russischen Truppen gezwungen wurde, in nordwestliche Richtung abzuziehen und einen passenden Ort für meinen Befehlsplatz suchte. Ungefähr am 29. April erreichte ich das Gut Dobin in der Nähe von Waren [Müritz], denn mein Nachrichten-Chef hatte diesen Ort ausgewählt, weil dort Draht- und Funkverbindungen vorhanden waren. In Dobin traf ich Himmler, der gerade dabei war, in den Raum Lübeck weiterzuziehen. Himmler sagte mir, dass er sich, falls die Lage ausweglos werde, in Gefangenschaft der Alliierten begeben werde. Später erfuhr ich aus der Presse und durch Berichte, dass Himmler von den Engländern aufgegriffen worden war und sich vergiftet hatte. Danach wurde er am nördlichen Stadtrand von Lüneburg begraben. Frage: Wissen Sie etwas über die Beziehung Hitlers zu Eva Braun188? Antwort: Ich weiß nur, dass sich im Haushalt des Führers ständig eine Frau aufhielt. Es ist möglich, dass das Eva Braun war. In den letzten Jahren habe ich sie kaum mehr als fünf oder sechs Mal gesehen. Sie war eine dünne und aparte Frau. Das letzte Mal habe ich sie im Hitlerbunker im April 1945 gesehen. Frage: Wo befinden sich derzeit die Staats- und Militärarchive Deutschlands? Antwort: Die Standorte der Staatsarchive sind mir nicht bekannt. Das Militärarchiv befand sich früher in Potsdam. Im Februar und März 1945 erteilte ich den Befehl, das Archiv nach Thüringen in das Gebiet von Ohrdruf zu bringen.189 Ob das Archiv noch irgendwo anders hin verbracht wurde, ist mir nicht bekannt. Keitel Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow
188 Eva Hitler, geb. Braun (1912–1945), Fotolaborantin, seit 1932 Geliebte Hitlers, Hochzeit am 29. 4. 1945, danach gemeinsamer Suizid mit Hitler im Bunker unter der Reichskanzlei. 189 Ein großer Teil der Akten des Heeresarchivs in Potsdam ging bei einem Luftangriff im April 1945 verloren. Die ausgelagerten Akten befanden sich überwiegend in Schlesien.
1.5 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Alfred Jodl
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Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 415–445. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.5 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Alfred Jodl, Kurort Mondorf, Luxemburg, 17. Juni 1945 Kurzprotokoll der Ergebnisse des Verhörs des Chefs des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht – Generaloberst Jodl, Alfred 17. Juni 1945 Jodl, Alfred, 55 Jahre alt, Generaloberst, ehemaliger Chef des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht Frage: Haben Sie Hitler bei der Machtergreifung 1933 geholfen? Antwort: Ich habe 1933 in keiner Weise eine Rolle gespielt. Ich habe meine Offiziere angehalten, nicht am politischen Geschehen teilzunehmen. Ich fürchtete die Entwicklung eines Bruchs innerhalb der Armee. Frage: Was für eine Beziehung hatten Sie zu Hitler? Antwort: Im Januar 1943 bildete sich ein sehr enges Verhältnis zu Hitler. Vorher hatte unsere Beziehung eine Krise durchlebt. Dafür hatte es folgende Gründe gegeben: im Sommer 1942 war ich der Meinung, dass Hitler die militärischen Aktivitäten an der Ostfront schlecht leitete. Hitler befand sich zu dieser Zeit in Winniza und befehligte von dort aus die militärischen Operationen. Ich führte die mangelhafte Führung der Truppen darauf zurück, dass er das russische Klima schlecht vertrug, denn er litt unter Kopfschmerzen und Bluthochdruck. Er erteilte permanent widersprüchliche Anweisungen. Ich war mit den Anweisungen, die er gab, nicht einverstanden. Ich sagte ihm auch, dass seine Befehle den vorher erteilten widersprachen. In diesem Zusammenhang verschlechterte sich unser Verhältnis. Bereits zu Beginn des Krieges war ich nicht mit Hitlers militärischen Plänen einverstanden gewesen. 1942 war ich der Meinung, dass nicht in Richtung Kaukasus marschiert werden sollte, sondern man Leningrad einnehmen müsse. Eine sehr schlimme Krise begann während des Kaukasusfeldzuges. Hitler hatte den Befehl erteilt, bis zum Ufer des Schwarzen Meeres vorzurücken. Dieser Befehl wurde List190 übergeben. List bat mich, zu ihm nach Winniza zu
190 Wilhelm List (1880–1971), Generalfeldmarschall, seit 1898 Berufssoldat, 1908–1911 Generalstabs ausbildung, 1938 mit der Eingliederung der Österreichischen Armee beauftragt, Armeebefehlshaber im Polen-, Frankreich- und Balkanfeldzug, 1. 7. 1942 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A im Süden
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
kommen. Dort traf ich General Konrad191. Ich überzeugte mich noch einmal von der Unmöglichkeit, diese Operation mit solch schwachen Streitkräften, wie wir sie hatten, durchzuführen. Die 2. Gebirgs-Division192 hatte den Befehl, nach Süden vorzurücken. Ich war der Meinung, dass man den Angriff auf den Kaukasus zunächst aussetzen und alle Kräfte in Richtung Maikop193 konzentrieren sollte. Meine Annahmen wurden durch die Schwierigkeiten beim Truppen-, Waffen- und Munitionstransport bestätigt. Ich flog daher ins Hauptquartier und schlug dem Führer vor, seine Pläne zu ändern. Das war der Anlass für ein schwerwiegendes Zerwürfnis zwischen uns. Er warf mir vor, dass ich Vorbehalte habe, seine Befehle auszuführen. Zwischen uns kam es zu einem Skandal, wie es ihn zuvor im Hauptquartier noch nie gegeben hatte. Ich sollte von meinem Posten entbunden werden. Der Führer grüßte weder mich noch Keitel, er kam auch nicht mehr auf uns zu wie früher, um die militärische Lage zu erörtern, und er aß nicht mehr mit uns zu Mittag. Man sprach über meinen Rücktritt und darüber, dass ich nach Finnland fahren würde. Ich glaube, dass er Paulus194 auf meinen Posten setzen wollte. Paulus waren aber durch Stalingrad die Hände gebunden. Dieser Zustand der Entfremdung bestand bis Januar 1943. Im Januar 1943 verlieh mir Hitler das goldene Parteiabzeichen. Dabei erwähnte er, dass ich mich damals nicht richtig verhalten habe, aber das sei vorbei. Er gebe zu, dass ich ein ausgezeichneter Soldat sei. Ein persönlicher Freund Hitlers war ich niemals. Frage: Bis wann waren Sie in Hitlers Hauptquartier? Antwort: Bis zum 23. April 1945. Zu diesem Zeitpunkt verließ das Oberkommando der Wehrmacht Berlin. Hitlers Entscheidung, selbst in Berlin zu bleiben und uns fortzuschicken, war am 22. April gefallen. Vorher hatte ich noch versucht, Hitler davon zu überzeugen, nach Norden oder Süden zu fahren, denn es war klar, dass Süddeutschland von Norddeutschland abgetrennt werden würde. Hitler folgte diesem Vorschlag
der Ostfront, am 10. 9. 1942 nach Streit mit Hitler entlassen. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger Geiselmord-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1952 wegen Krankheit entlassen. 191 Rudolf Konrad (1891–1964), General der Gebirgstruppe, seit 1910 Berufssoldat, 1920–1921 Generalstabsausbildung, ab Herbst 1941 Kommandeur der 7. Gebirgs-Division, dann des XXXXIX. Gebirgskorps in Südrussland, April 1944 Abberufung durch Hitler und Ermittlungen wegen Rückzugsvorbereitungen, 1945 Kommandierender General in der Steiermark. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 192 Hier irrt Jodl, die 2. Gebirgs-Division kämpfte von 1942–1944 im Raum Murmansk. Im Kaukasus wurde die 1. Gebirgs-Division der Wehrmacht eingesetzt. 193 Das Erdölgebiet von Maikop wurde im August 1942 erobert, es gelang jedoch nicht, die Produktion in nennenswertem Umfang wieder in Gang zu setzen. 194 Friedrich Paulus (1890–1957), Generalfeldmarschall, seit 1910 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, seit 1935 in hohen Stabsverwendungen, Mitarbeit am Aufmarschplan gegen die Sowjetunion, im Dezember 1941 mit der Führung der 6. Armee betraut, die 1942 in Stalingrad eingeschlossen wurde. 1943–1953 sowjetische Kriegsgefangenschaft, unterstützte 1944 vergebliche Bemühungen zur Aufstellung deutscher Freiwilligenverbände an der Seite der Roten Armee.
1.5 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Alfred Jodl
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aber nicht. Wir wollten es so organisieren, dass der Norden und der Süden über unabhängige militärische Führungen verfügten. Am 21. April sagte Hitler zu mir: „Ich werde so lange kämpfen, solange noch ein Soldat bei mir ist. Wenn mich der letzte Soldat verlässt, werde ich mich erschießen.“ Ich war der Meinung, dass man im Süden länger Widerstand leisten könne als im Norden. Aus diesem Grund schickte ich den Großteil meines Stabs im letzten Moment in den Süden. Als wir am 22. April in den Bunker kamen, war Hitler schlechter Laune. Er rief mich, Keitel und Bormann zu sich und teilte uns mit, dass er die Entscheidung getroffen habe, in Berlin zu bleiben. Ich sagte ihm, dass Berlin binnen 24 Stunden fallen würde. Hitler war unzufrieden mit der Leitung der Militäroperationen zur Verteidigung Berlins. Er sagte, dass man die Hauptstadt niemals aufgeben dürfe und dass er bleiben würde, um die Soldaten zu ermutigen. Ich erläuterte ihm, dass die Armee ohne Führung bleiben würde. Darauf entgegnete Hitler: „Ich will nicht, dass Sie in Berlin bleiben.“ Wir sagten, dass wir nicht fahren werden und ihn in dieser Situation zurücklassen. In diesem Augenblick trat Goebbels ein. Er sprach mit mir unter vier Augen und teilte mir mit, dass man Hitlers Entscheidung nicht ändern dürfe. Er habe alles getan, um Hitler zu überzeugen, aber ohne Erfolg. Er fragte: „Lässt sich denn die Einkesselung Berlins in keinem Fall auf militärischem Weg verhindern?“ Ich antwortete darauf: „Es ist nur dann möglich, wenn wir alle Truppen von der Elbe abziehen und zur Verteidigung Berlins einsetzen. Es ist möglich, dass die Amerikaner nicht weiter angreifen werden.“ Auf den Rat von Goebbels hin unterbreitete ich dem Führer meine Gedanken. Er stimmte zu und erteilte Keitel und mir die Anweisung, gemeinsam mit dem Stab persönlich den Gegenangriff von auswärts zu leiten. Aus diesem Grund entkamen wir im letzten Moment der Einkesselung und begaben uns in Richtung Potsdam. General Krebs blieb beim Führer, denn nicht ich, sondern er war für die Ostfront zuständig. Goebbels blieb in Berlin, denn er war einer der fanatischsten Kämpfer für die Sache der Partei. Am 23. April kamen wir erneut aus Potsdam in die Reichskanzlei. Hitler war wieder auf der Höhe und nahm regen Anteil an den Diskussionen über unsere Pläne zur Befreiung Berlins. Der 12. Armee General Wencks wurde der Befehl erteilt, an der Elbe nur die Nachhut zu belassen und sich mit den restlichen Kräften in nördliche Richtung zu bewegen, um die Offensive auf den südlichen Teil Berlins zu führen. Die eingekreiste 9. Armee erhielt von Keitel den Befehl, auszubrechen und sich mit der Armee von Wenck zu vereinigen. General Heinrici195 sollte aus dem Gebiet von Oranienburg nach Berlin vorstoßen.
195 Gotthard Heinrici (1886–1971), Generaloberst, seit 1905 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1937–1940 Kommandeur der 16. Infanterie-Division, 1940 Kommandeur des XII. Armeekorps, 1941 beim Überfall auf die Sowjetunion Kommandeur des XXXXIII. Armeekorps, seit 1941/42 Oberbefehlshaber der 4. Armee in der Heeresgruppe Mitte, ab August 1944 Oberbefehlshaber der
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Frage: Was wissen Sie über das Schicksal von Hitler, Goebbels und Bormann? Antwort: Ich hatte mit Berlin bis 12.30 Uhr am 29. April eine telefonische Verbindung. Das letzte Mal habe ich mit Hitler am 28. April abends oder am 29. April morgens am Telefon gesprochen. Das letzte Telegramm mit der Unterschrift Hitlers erreichte mich in der Nacht vom 29. auf den 30. April. Das Telegramm enthielt folgende Fragen: „Wo ist Wenck? Wann beginnt der Angriff? Wie steht die Angelegenheit mit dem Angriff aus Oranienburg?“ Ich bin vom Tod des Führers überzeugt. Was die anderen betrifft, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Frage: Wie war das Verhältnis zwischen Hitler und Göring und Himmler? Antwort: In den ersten Kriegsjahren vertraute Hitler Göring vollständig. Er mischte sich überhaupt nicht in das Flugwesen ein. Nach und nach bekam er mit, dass sich die Luftwaffe im Niedergang befand. Von uns allen erfuhr er zudem, dass, wenn die Luftwaffe nicht schnell das nötige Niveau erreiche, Deutschland diesen Krieg nicht gewinnen könne. Von diesem Zeitpunkt an begann er, sich intensiv mit der Luftwaffe zu beschäftigen. Offensichtlich erfuhr er zu dieser Zeit auch, dass auf der Führungsebene der Luftwaffe nicht alles in Ordnung war. Er begann Göring weniger zu vertrauen. In meiner und Keitels Gegenwart äußerte er sich in scharfer und kritischer Form über die Luftwaffe und über Göring selbst. Möglich ist auch, dass in der Verschlechterung der Beziehung zwischen den beiden auch deren Lebensstile eine große Rolle spielten. Es waren tieferliegende Gründe, die zur Entfremdung zwischen den beiden führten. Über die Beziehung zwischen Hitler und Himmler kann ich folgendes sagen. Hitler erfuhr, dass Himmler ohne seine Erlaubnis Verhandlungen mit den Schweden begonnen hatte.196 Hitler erfuhr davon durch eine anglo-amerikanische Radiosendung. Vorher hatte Hitler bereits erfahren, dass Himmler seine Befehle nicht vollständig ausgeführt hatte. Himmler befehligte über einen gewissen Zeitraum die Heeresgruppe Weichsel. Auch seine diesbezüglichen Aktivitäten boten Hitler Anlass zur Sorge, denn er hatte gehofft, dass es Himmler gelingen würde, große Erfolge zu erzielen. Himmler war ein geschickter und recht kluger Mensch, jedoch auch ehrgeizig. Sein Ehrgeiz beruhte meiner Meinung nach darauf, dass er in den letzten Jahren eine große Menge an verantwortungsvollen Posten in seine Hände bekommen hatte.
1. Panzerarmee in der Heeresgruppe Nordukraine, März 1945 kommandierender General der Heeresgruppe Weichsel in der Schlacht um die Seelower Höhen, nach Rückzügen von Hitler am 29. 4. 1945 seines Amtes enthoben, sollte vor Kriegsgericht, was jedoch von dessen Nachfolger Dönitz ignoriert wurde. 1945–1948 britische Kriegsgefangenschaft. 196 Seit Anfang 1945 versuchte Himmler angesichts der drohenden Niederlage des Deutschen Reiches, über den schwedischen Grafen Folke Bernadotte Friedensverhandlungen mit den westlichen Alliierten aufzunehmen, um einen Waffenstillstand im Westen zu erreichen und so den Kampf gegen die Sowjetunion fortsetzen zu können. Die Bemühungen Himmlers um einen Separatfrieden scheiterten.
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Bezüglich seiner menschlichen Eigenschaften schätze ich ihn sehr, denn er lebte bescheiden. Bei ihm wusste man, woran man war. Er hörte sich aufmerksam die Meinung anderer an. Seine Maßstäbe entsprachen jedoch nicht den ihm auferlegten Aufgaben. Als Befehlshaber der Heeresgruppe Weichsel verhielt er sich wie ein typischer Gefreiter. Frage: Welche Maßnahmen wurden vom Oberkommando der Wehrmacht und der NSDAP zur Gründung von Untergrundorganisationen für den geheimen Widerstand gegen die Rote Armee und die Alliierten nach deren Einmarsch auf deutsches Territorium ergriffen? Antwort: Ich weiß nur, dass der Reichsführer SS diese Angelegenheit dem Obergruppenführer der SS Prützmann übertrug. Ich selbst habe entsprechende Befehle weder gesehen noch selbst ausgegeben. Von uns Militärs forderte man, keine Waffen oder Munition zurückzulassen, außer für den „Volkssturm“, aber das war eine legale Operation. Von der Organisation „Werwolf“ erfuhr ich zwischen Januar und April dieses Jahres über das Radio. Ich halte es für unmöglich, in Deutschland eine Untergrundtätigkeit zu organisieren, denn jeder Partisanenkampf muss von außen her unterstützt werden. Die Erfahrung des Partisanenkampfes in Europa hat gezeigt, dass er nur über die Lieferung von Waffen und Munition durch Flugzeuge möglich ist. Diese Möglichkeit hatte Deutschland schon nicht mehr. Frage: Was wissen Sie über den Aufbewahrungsort der Staats- und Militärarchive? Antwort: Über die Archivdokumente des [Wehrmachtführungs-]Stabes kann ich folgendes angeben: Die wichtigsten Dokumente waren immer bei mir, egal wo ich mich hinbegab. Der Großteil der Dokumente befand sich bei meinem Vertreter, General Warlimont, und später bei Winter197. Nach dem Ablauf der nötigen Aufbewahrungsfrist übergab Winter sie dem Archiv oder General Scherff198, der sie für die historische Arbeit benötigte. Ich weiß, dass diese Dokumente erst in Berlin lagen, dann aber nach Potsdam, Liegnitz und weiter nach Berchtesgaden evakuiert wurden. Über ihr weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt.199
197 August Winter (1897–1979), General der Gebirgstruppe, seit 1916 Berufssoldat, 1927–1929 Generalstabsausbildung, seit 1939 im Generalstab des Heeres, zuletzt ab 1. 12. 1944 stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 198 Walter Scherff (1896–1945), Generalmajor, seit 1915 Berufssoldat, 1929–1932 Generalstabsausbildung, seit 1938 im OKH, 1939 Chef der 7. (kriegswissenschaftlichen) Abteilung des Generalstabs des Heeres, seit Februar 1941 auf Befehl Hitlers Leiter der kriegsgeschichtlichen Abteilung im OKW, Mai 1942 „Beauftragter des Führers für die militärische Geschichtsschreibung“, damit Chef der Heeresarchive, die er Anfang 1945 weitgehend vernichten ließ. Suizid in US-Kriegsgefangenschaft. 199 Das Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabs wurde von Major d. R. Percy Ernst Schramm (1894–1970), Historiker an der Universität Göttingen und seit 1943 Mitarbeiter im Wehrmachtführungsstab, gerettet.
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Frage: Wodurch erklärt sich der vergleichsweise schwache Widerstand der deutschen Truppen im Westen, während gleichzeitig im Osten erbitterte Kampfhandlungen stattfanden? Antwort: Bis der Gegner den Rhein noch nicht erreicht hatte, wurde ihm, aus meiner Sicht, ernsthafter Widerstand geleistet. Die Amerikaner überquerten den Rhein über eine nicht gesprengte Brücke.200 Die schweren Gefechte gingen über Wochen. Die Front war allerdings durchbrochen. Die Bewegungen der bewaffneten Kräfte der Alliierten gaben darüber Auskunft. Möglicherweise denken Sie, dass unsere Pläne vorsahen, den Westen aufzugeben und mit aller Gewalt die Ostfront zu halten? Solche Vorhaben hatten wir nicht. Dass unsere Truppen im Osten besser kämpften als im Westen, erklärt sich damit, dass unsere Soldaten Angst hatten, in russische Gefangenschaft zu geraten. Die Engländer und Amerikaner führten eine aufwendige Propaganda, in der sie versprachen, die Soldaten gut zu behandeln. In jedem Fall gab es von Seiten des Oberkommandos keinerlei Befehle in dieser Frage. Frage: Wann erfuhren Sie von den deutschen Kriegsplänen gegen die UdSSR? Antwort: Im November 1940 erteilte Hitler einen vorläufigen Befehl. In ihm wurde ein bevorstehender Krieg mit der Sowjetunion erwähnt und er sah für alle Befehlshaber vor, Pläne für militärische Operationen auszuarbeiten.201 Anfang Dezember 1940 wurde der Befehl zur operativen Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion erteilt. Nachdem ich vom Führer allgemeine Anweisungen erhalten hatte, arbeitete ich gemeinsam mit meinem Stab den Plan für die Militäroperationen gegen Russland aus. Ich legte den Plan dem Führer vor. Anfang Dezember wurde auf der Grundlage dieses Planes ein Befehl mit der Unterschrift Hitlers formuliert, der an das Heer, die Kriegsmarine und die Luftwaffe ging.202 Frage: Welche persönliche Haltung hatten Sie dazu, dass ein Krieg gegen die Sowjetunion bevorstand? Antwort: Diese Entscheidung bereitete uns Soldaten ernsthafte Besorgnis. Erneut drohte die Gefahr eines Zwei-Fronten Krieges. Ein Krieg mit Russland ist ein Krieg, von dem man weiß, wie man ihn beginnt, aber nicht weiß, wie er enden wird. Russland ist nicht Jugoslawien oder Frankreich, wo man den Krieg schnell beenden kann. Das Territorium Russlands ist unermesslich und man durfte nicht annehmen, dass wir bis nach Wladiwostok gelangen könnten.
200 Die Eisenbahnbrücke zwischen Remagen und Erpel war zwar gesprengt worden, stürzte jedoch nicht ein, so dass zwischen dem 7.–17. 3. 1945 18 alliierte Regimenter die Brücke überquerten. 201 Es handelte sich um Studien aus dem OKW, dem OKH und dem OKM, die Hitler am 5. 12. 1940 vorgetragen wurden. 202 Gemeint ist die Weisung für die Kriegführung Nr. 21, „Operation Barbarossa“, die Hitler am 18. 12. 1940 erließ.
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Die zweite ernstliche Sorge war die Notwendigkeit, die Luftwaffe aufzuteilen, die mit England aber noch nicht ganz fertig geworden war. Es stand die Verlegung einer bedeutenden Anzahl von Flugzeugen in den Osten an. Wir Militärs diskutierten diese beiden Fragen mehrmals. Es stand aber das politische Argument im Raum, wonach sich die Situation in dem Fall, dass Russland zuerst angriff, verschlechtern würde. Die politische Führung erklärte uns damals, dass ein Krieg gegen Russland früher oder später unausweichlich ist. Für uns wäre es daher richtig, wenn wir selbst den Angriffszeitpunkt wählen könnten. Frage: Wann kamen bei Ihnen Zweifel an der Möglichkeit eines militärischen Sieges? Antwort: Ungefähr im Februar 1944 legte ich dem Führer schriftlich dar, dass, wenn die Engländer und Amerikaner in Frankreich landen würden und es uns nicht gelingen sollte, sie zurück ins Meer zu werfen, wir den Krieg verlieren würden. Ich erklärte das schriftlich, weil die Generale, die sich an der Ostfront befanden, dachten, dass es im Westen eine große Anzahl untätiger Truppen gäbe. Damals wurde mir klar, dass wir diesen Krieg mit militärischen Mitteln nicht gewinnen können. Hitler erkannte meinen Standpunkt an, verbot mir aber, dieses Memorandum an die Oberbefehlshaber der Luftwaffe, des Heeres und der Kriegsmarine weiterzugeben. Frage: Was wissen Sie über die deutschen Spionageorgane in der Sowjetunion? Antwort: Die gesamte Agenten- und Geheimdiensttätigkeit innerhalb Deutschlands wurde von Admiral Canaris geleitet, der Generalfeldmarschall Keitel direkt unterstellt war. Deswegen verfüge ich nicht über weitergehende Informationen. Ich weiß nur, dass Oberst Hansen203 für die Spionage in der Sowjetunion zuständig war. Frage: Wie schätzen Sie die deutschen Spionageaktivitäten während des Krieges ein? Antwort: Im Großen und Ganzen war ich mit den Aktivitäten unseres Geheimdienstes zufrieden. Dessen größtes Verdienst besteht in den genauen Angaben über die Konzentration der russischen Kräfte im Frühjahr 1941 im Westen Weißrusslands und der Ukraine. Andererseits steht fest, dass wir die gesamte Zeit über die russischen Kräfte unterschätzten, was aber nicht Ergebnis von Fehlern des Amtes Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht war. Ich bin geneigt, es als Folge der politischen Richtung der Regierungsführung zu betrachten. Der Generalstab [des Heeres] berichtete Hitler mehrmals über die Stärke der russischen Armee und über die Reserven Russlands. Der Führer beschuldigte uns aber,
203 Georg Alexander Hansen (1904–1944), Oberst, seit 1924 Berufssoldat, 1935–1937 Generalstabs ausbildung, seit 1937 in der Abteilung Fremde Heere Ost im Amt Ausland/Abwehr, 1939 Gruppenleiter in der Abteilung I (Geheimer Meldedienst, zuständig für Auslandsspionage), 1943 Leiter der Abteilung I, wegen seiner Beteiligung am Attentat vom 20. 7. 1944 am 8. 9. 1944 hingerichtet.
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die Kräfte des Gegners zu überschätzen. Er glaubte, dass die Verluste der Roten Armee so groß seien, dass keine Rede davon sein könne, dass sie stärker werde. Ich erinnere mich z. B. daran, dass der Leiter der Abwehrabteilung, [der Abteilung Fremde Heere Ost beim Generalstab des Heeres] Generalmajor Gehlen204, eine Aufstellung möglicher Formationen [von Verbänden] der Roten Armee vortrug. Danach beschuldigte Göring Gehlen, die Kräfte der Sowjetunion absichtlich zu überschätzen. Ich weiß auch, dass unserem Geheimdienst große Fehlschläge unterliefen. Der größte Misserfolg war im November 1942, als wir die Zusammenziehung der russischen Truppen an der Flanke der 6. Armee (am Don) vollständig übersahen. Wir hatten überhaupt keine Vorstellung über die Stärke der Russen in diesem Gebiet. Vorher war dort überhaupt nichts gewesen und plötzlich wurde ein Gegenschlag von großer Kraft durchgeführt, dem entscheidende Bedeutung zukam. Nach diesem Fiasko war der Führer sehr misstrauisch gegenüber den Geheimdienstinformationen des Generalstabs des Heeres. Der Großteil der Geheimdienstinformationen – 90 % – kam durch die Funkaufklärung und Verhöre von Kriegsgefangenen zusammen. Besonders die Funkaufklärung, sowohl das offene Abhören als auch das Dechiffrieren, spielten besonders zu Beginn des Krieges eine besondere Rolle, verloren aber auch in den letzten Monaten nicht ihre Bedeutung. Richtig ist, dass es uns niemals gelang, die Funksprüche Ihres Stabsquartiers, Eurer Front- und Armeestäbe abzuhören und zu dechiffrieren. Die Funkaufklärung blieb wie alle übrigen Formen der Spionage auf den taktischen Bereich beschränkt. Als einen Fehler der Abwehr kann ich das Beispiel der 5. Garde-Panzerarmee anführen, die wir während des Winters 1945 aus den Augen verloren. Über die Gruppierungen der Roten Armee im fernen Osten erhielten wir Informationen durch den japanischen Generalstab, auch wenn diese Informationen nicht immer zuverlässig waren. Frage: Wie bewerten Sie die Entwicklung der operativen Lage an der Ostfront von 1943–1945? Antwort: Die Voraussetzungen für die Entwicklung der Kampagne von 1943 waren folgende: a) Das Heer verfügte an der Ostfront nie über genug Divisionen, um die gesamte Front gleichmäßig ausstatten zu können. 1943 herrschte die Regel: Wer angreift, gewinnt.
204 Reinhard Gehlen (1902–1979), Generalmajor, seit 1920 Berufssoldat, 1933–1935 Generalstabsausbildung, seit 1936 in der Operationsabteilung des Generalstabs, Oktober 1940 Leiter der Gruppe Ost, April 1942 Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost, am 9. 4. 1945 von Hitler entlassen. Am 22. 5. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, Übergabe sämtlicher Materialien und Agenten an die USA, 1946 Gründung eines Nachrichtendienstes in US-Auftrag, aus dem 1956 der Bundesnachrichtendienst (BND) hervorging.
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b) Grundsätzlich war entschieden worden, mittels der Durchführung örtlich begrenzter Angriffsoperationen möglichst lange das Heft des Handelns zu behalten. c) Im Einzelfall war entschieden worden, eine Korrektur des Frontverlaufs im Raum Kursk herbeizuführen und im Anschluss daran, eine analoge Operation im Gebiet der Heeresgruppe Nord durchzuführen. Eine weiter[führende] Entwicklung der Operation bei Kursk war nicht vorgesehen. Der Führer war unentschlossen hinsichtlich der Durchführung der Operation in Richtung Kursk. Er beabsichtigte noch einen zusätzlichen Vorstoß in die Mitte des Kursker Bogens. Trotz der vollkommenen Überzeugung des Generalstabs des Heeres vom Erfolg der Operation gelang diese nicht, und das führte zu einem bedeutsamen Rückzug. Das einzige Vorhaben und der einzige Plan des Oberkommandos der Wehrmacht im Sommer und Herbst 1943 bestand darin, irgendeine Grenze zu halten. Das war allerdings unmöglich, denn die Truppen konnten nicht genügend Distanz zu den sie verfolgenden russischen Verbänden aufbauen, um rechtzeitig eine Verteidigungsstellung vorzubereiten. Von diesem Zeitpunkt an entspann sich ein ständiger Konflikt zwischen dem Führer und dem Chef des Generalstabs des Heeres, General Zeitzler. Zeitzler verlangte einen schnellen Rückzug in das Hinterland. Hitler, der auf das Beispiel der Roten Armee von 1941 verwies, war der Meinung, dass man um jeden Meter Boden zu kämpfen habe. In diesem Konflikt stand ich auf Zeitzlers Seite. Ich hatte dem Führer bereits 1942 in Kenntnis gesetzt, dass ich es für notwendig hielt, rechtzeitig einen „Ostwall“ entlang des Dnjepr vorzubereiten, um die Möglichkeit zu haben, den Russen eine starke Verteidigungslinie entgegenzustellen. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen. Die Ergebnisse der Kämpfe von 1943 haben gezeigt, dass das Heft des Handelns vollständig an die Russen überging. Das deutsche Heer hingegen verlor erstens die Beweglichkeit und hatte zweitens niemals mehr die Möglichkeit, die Lücken in seinen Reihen wiederaufzufüllen. Bezüglich des Plans für die Operationen des Jahres 1944 kann ich im Grunde sagen, dass dieser faktisch nicht existierte. Wir analysierten sorgfältig die Frage, wo die deutsche Armee aktiv werden könnte. Im Westen erwarteten die Truppen die Invasion. Nicht von einem Kriegsschauplatz war es möglich, mehr Truppen für den Osten zu entnehmen. Es gab den Vorschlag, eine lokal begrenzte Operation im Gebiet von Brody205 durchzuführen, aber sie kam nicht zustande. Erstmals erlebten wir Schwierigkeiten mit der Munitionsversorgung, die mit dem Abfall der Stahl- und Kohleproduktion verbunden war.
205 Mittelstadt in der Ukraine, nordöstlich von Lwiw (Lemberg).
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Den Mangel an Soldaten gelang es in quantitativer Beziehung auszugleichen. Die Divisionen der Ostfront waren zu Beginn der Sommeroffensive von 1944 auf 75 bis 80 % aufgefüllt worden, obwohl ihre qualitative Zusammensetzung um einiges schlechter war als früher. Wir nahmen an, dass es zu einem Schlag von Seiten der Russen auf dem südlichen Frontabschnitt kommen würde, und zwar in Richtung des rumänischen Öls. Aus diesem Grund konzentrierten wir den Großteil der Panzerdivisionen im Gebiet der Heeresgruppe Süd. Damals erklärte Hitler auf einer der Lagebesprechungen: „Es ist besser, die weißrussischen Wälder zu verlieren als das rumänische Öl.“ Dennoch erfolgte der Hauptschlag der Roten Armee gegen die Heeresgruppe Mitte, die zugunsten der Heeresgruppe Süd erheblich geschwächt worden war. Die Ursachen für die Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte liegen aber auch in der zu geringen Beweglichkeit und Flexibilität von Generalfeldmarschall Busch206 und seiner falschen Nutzung der Reserven. Er hatte die Reserven viel zu weit weg postiert. Aber unter den Bedingungen des Jahres 1944 durfte man weder mit der Durchführung einer eigenen Gegenoffensive oder einem Gegenschlag rechnen, sondern musste sich auf kurze Gegenattacken beschränken. Später fand der Führer Gründe für die Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte in der Sabotagetätigkeit der Verräter des 20. Juli. Ich stimmte mit ihm diesbezüglich nicht überein. Man hätte die Gründe nicht bei den Verrätern suchen dürfen, sondern im Mangel an Einsatzkräften. Ich hielt es für den Hauptmangel, dass die Ostfront niemals die Möglichkeit hatte, richtige Reserven anzulegen. Die Divisionen, die ins zweite Glied geführt wurden, schafften es nicht, sich zu erholen, sondern wurden sofort wieder in den Kampf geschickt. Ich verstand natürlich, dass wir abhängig von der Initiative des Gegners waren. Die Ergebnisse der Kämpfe von 1944 waren folgende: a) Die Russen waren vollkommen überlegen. Diese Überlegenheit galt für alle Frontabschnitte. b) Dennoch gelang uns die Stabilisierung der Ostfront. c) Später hatten wir die große Hoffnung, dass die Trennung der Roten Armee von ihren Versorgungsbasen zu erheblichen Problemen beim Nachschub führen würde. Das hätte die Konzentration der russischen Verbände behindert, um die Angriffe fortzusetzen. Die Realität zeigte aber, dass wir uns auch hier verschätzt hatten. d) Die Entwicklung der Operationen an der Ostfront im Jahre 1945 erklärt sich in erster Linie aus dem Misserfolg der Ardennen-Offensive. Der Führer forderte um jeden Preis die Durchführung von Angriffsoperationen in Ungarn mit dem Ziel, an die
206 Ernst Busch (1885–1945), Generalfeldmarschall, seit 1904 Berufssoldat, 1921–1924 Generalstabs ausbildung, 1939–1943 Oberbefehlshaber der 16. Armee, 1943–1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, nach verheerenden Niederlagen am 28. 7. 1944 in die Führerreserve entlassen, am 20. 3. 1945 Oberbefehlshaber Nordwest. Im Mai 1945 in britische Kriegsgefangenschaft, dort verstorben.
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Donau und an die Drau zu gelangen. Der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Guderian, versuchte zu widersprechen, worauf Hitler antwortete: „Sie wollen ohne Öl angreifen – gut, dann werden wir ja sehen, was sich daraus entwickelt!“ Um die Anweisungen des Führers auszuführen, mussten wir die in Richtung Berlin stehende Gruppierung schwächen. Später wurde klar, dass die Operation in Ungarn gescheitert war und keine Kräfte zur Verstärkung von Berlin frei geworden waren. Gleichzeitig tat Himmler nordöstlich von Berlin alles, um die Lage seiner Heeresgruppe Weichsel zu verschlechtern. Auf diese Weise waren wir zum Zeitpunkt des Übergangs der Russen zur letzten Offensive vollkommen hilflos. Anfangs wurde angenommen, dass die Rote Armee den Hauptschlag in Richtung der Tschechoslowakei führen würde, aber auch hier hatten wir uns getäuscht. Wir mussten das gesamte Ersatzheer an die Front schicken, was aber auch keinerlei Ergebnisse brachte. Die Verteidigung Berlins wurde von offensichtlich ungenügenden Kräften ausgeführt. Das Oberkommando hatte aber keine weiteren Möglichkeiten mehr, diese Kräfte zu verstärken, was letztlich zum Zusammenbruch führte. Frage: Wie war es um die Lage der menschlichen Ressourcen in Deutschland bestellt? Antwort: Der Bestand der Streitkräfte belief sich 1941 auf 6,5 Millionen Mann, 1942 bis 7 Millionen, 1943 7,5 bis 8 Millionen und auch 1944 waren es 7,5 bis 8 Millionen Soldaten. Der größte Bestand der Streitkräfte war gegen Ende 1943 erreichte, als die Wehrmacht aus ca. 8 Millionen Mann bestand. Die Verluste während des Krieges belaufen sich auf 2,1 Millionen Gefallene, in Gefangenschaft geraten bzw. vermisst sind 3,4 Millionen, Verwundete gibt es 6,5 Millionen. 12 bis 15 % von ihnen kehrten nicht mehr zur Truppe zurück. Während der totalen Mobilmachung erhielt die Armee insgesamt bis zu einer Million Menschen. Die geringste Zahl von Personen im wehrpflichtigen Alter betrug 58 000 Personen, die höchste lag bei 380 000 Mann. Von den jungen Menschen verblieben 10 bis 15 % in der Industrie, von den älteren Personen 50 bis 60 %. Die genauen Daten der Mobilisierungsstärke kenne ich aber nicht. Soweit ich mich erinnere, betrug die Mobilisierungsstärke bis 1944 15 %. Ein internes Problem der Verteilung der personellen Reserven war für uns die Herstellung der Beziehung zwischen den Kampfeinheiten und den rückwärtigen Truppen. In einem Offensivkrieg sollte das Verhältnis 60 zu 40 betragen. Aber durch die Veränderung des Charakters der Kämpfe war es notwendig, das Verhältnis zu Gunsten der Kampftruppen zu erhöhen. Das wurde auch durchgeführt, so dass das Verhältnis 70 zu 30 betrug. Im Ergebnis lässt sich sagen, dass uns bis 1942 eine vollwertige Auffüllung gelang, und bis Juni 1944, rein quantitativ die Balance der Armee zu halten. Gegen Januar 1945 wurde die völlige Ausschöpfung der Reserven erreicht. Frage: Wie war das Verhältnis zwischen den Kriegsschauplätzen in den einzelnen Kriegsjahren?
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Antwort:
Ostfront Westfront Italien Süd-Ostfront Norwegen Finnland
1940
1941
1942
1943
1944
1945
5 90 1 1 3 –
67 15 2 11 4 1
58 20 8 6 5 3
47,5 24 11 10 4,5 3
47 26 11 8,5 4,5 3
61 20 8 6 5 –
Das ist das Verhältnis der deutschen Streitkräfte an den verschiedenen Kriegsschauplätzen, die von mir in Prozenten und nur ungefähr angegeben wurden. Frage: Welche persönliche Meinung haben Sie über Hitler? Antwort: Die Persönlichkeit Hitlers wird nur die Geschichte charakterisieren können. Unbestreitbar war er ein Genie, ein ungewöhnlicher Mensch, ihm war die Fähigkeit zur Arbeit angeboren, er arbeitete ständig und überraschte alle mit seinem Gedächtnis, das bemerkenswert war. Er las ungemein viel und war in allen Bereichen versiert. Privat lebte er so, wie er es auch selbst predigte – bescheiden und einfach. Als Führer und Befehlshaber traf er ungemein schnell Entscheidungen. Trotz allem ist dort, wo viel Licht ist, auch viel Schatten. Ein Mangel bestand bei Hitler darin, dass er die Welt nicht kannte. Er war niemals im Ausland gewesen. Er gab oft äußeren Einflüssen nach und trat ungeheuer grausam und oft auch ungerecht gegenüber seinen Untergebenen auf. Trotz der angeborenen Weichherzigkeit, der Liebe zu Kindern und Tieren, wurde er während des Kriegs sehr hart und grausam. In den ersten Kriegsjahren war er physisch absolut arbeitsfähig. Später wirkte sich dann die Anspannung aus. In der letzten Zeit machten sich bei ihm sein stark erhöhter Blutdruck und ein Magenleiden bemerkbar. Nach dem Attentat vom 20. Juli trat bei Hitler ein Nervenleiden auf. (Seine linke Hand und das Bein zitterten.) Er wurde zunehmend gebeugter. Trotz allem konnte ich bei ihm bis zuletzt keine Anzeichen einer geistigen Minderwertigkeit erkennen.207 Jodl Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow
207 Bei dem Magenleiden handelte es sich um ein Reizdarmsyndrom, der Tremor war durch eine beginnende Parkinsonkrankheit bedingt.
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Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 446–461. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.6 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von General der Artillerie Walter Warlimont, Kurort Mondorf, Luxemburg, 18. Juni 1945 Kurzprotokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Walter Warlimont 18. Juni 1945 Warlimont, Walter – 50 Jahre, bis September 1944 Stellvertretender Chef des Wehrmachtsführungsstabes beim Oberkommando der deutschen Wehrmacht. Frage: Welche leitenden Funktionen hatten sie in der deutschen Armee inne? Antwort: Nach der Beendigung der Militärakademie 1926 wurde ich zum Adjutanten des Chefs des Generalstabs [d. h. des Truppenamts] der Reichswehr berufen. Danach arbeitete ich als Leiter der Wehrwirtschaftlichen Abteilung [im Reichswehrministerium] und setzte mich mit kriegswirtschaftlichen Fragen auseinander. Von 1927 bis 1938 arbeitete ich auf verschiedenen Truppen- und Stabsposten. Danach leitete ich die Abteilung Reichsverteidigung des Ministeriums und des Generalstabs [d. h. des Truppenamts]. 1942 wurde ich durch Protektion Keitels zum stellvertretenden Chef des Wehrmachtsführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht berufen. Man muss dazu sagen, dass diese Ernennung rein formal war, denn die Position des Leiters der [Abteilung] Landesverteidigung [beim OKW] sah die gleichen Funktionen vor. Von 1938 an arbeitete ich ununterbrochen unter dem direkten Befehl von Generaloberst Jodl. Meine Pflichten umfassten die Umsetzung der direkten Verbindungen zwischen meinem Stab und Hitlers Umgebung. Diese Position hatte ich bis September 1944 inne. Während des Attentats vom 20. Juli 1944 trug ich eine Gehirnerschütterung davon und war kurze Zeit gezwungen, mich zu Hause auszukurieren. Von September 1944 bis zu meiner Verhaftung im Mai 1945 war ich in Bayern. Hier übte ich keine Funktionen mehr aus. Frage: Was hat ihren schnellen Dienstaufstieg befördert? Antwort: Auf den Posten des Stellvertreters von Jodl kam ich ausschließlich durch die Empfehlung Generalfeldmarschalls Keitels, der mich schon lange durch die Arbeit kannte. Politische Motive spielten überhaupt keine Rolle. Ich muss im Gegenteil dazu sagen, dass ich mich mit diesem Posten nicht identifizieren konnte. Ich bin Katholik. In meinen politischen Überzeugungen tendierte ich zur katholischen Zentrumspartei.208 Mir waren die nationalsozialistische und SS-Umgebung des Führers vollkom-
208 Die Deutsche Zentrumspartei vertrat die Interessen der Katholiken und entwickelte sich von der
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men fremd. Ich bat mehrfach um meine Versetzung auf einen Kommandoposten. Jodl und besonders Keitel aber stimmten dem nicht zu. Der Führer war mir gegenüber immer kühl. Außer über dienstliche Fragen sprach der Führer niemals mit mir. Ich nehme an, dass man mir diesen Rang übertrug, weil ich ein guter Arbeiter war, ohne meine geringe Eignung in politischer Hinsicht zu beachten. Frage: Was hielten Sie von den politischen und militärischen Plänen der nationalsozialistischen Partei? Antwort: Ich muss sagen, dass ich in der ersten Zeit nach der Machtübernahme durch die nationalsozialistische Partei große Hoffnungen bezüglich der Wiederherstellung von Deutschlands militärischer Stärke hegte. Wir, die wir im Stab der Reichwehr arbeiteten, nahmen an, dass die Partei die Schande von Versailles auslöschen könnte und die deutsche Armee wiedererrichten würde. Aber bereits nach dem Röhmputsch209 1934 sah ich ein, dass die Partei weit von den Versprechen, die sie vor der Machtergreifung gegeben hatte, entfernt war. Auch später war ich innerlich sehr weit von der nationalsozialistischen Partei distanziert. Das galt auch für die militärischen Operationen, die unter der direkten Leitung Hitlers durchgeführt wurden, auch wenn ich selbst direkten Anteil an ihrer Ausarbeitung hatte. Frage: Wann erfuhren Sie von der Vorbereitung eines Krieges gegen die Sowjetunion und was hielten Sie davon? Antwort: Ich erfuhr erstmals im Juli 1940 durch Generaloberst Jodl von den Kriegsplänen im Osten. Jodl teilte mir als seinem Stellvertreter im Vertrauen mit, dass mit einem Krieg gegen die UdSSR zu rechnen sei, denn die Rote Armee konzentriere viele Streitkräfte am Bug, an der Weichsel und am San. Er teilte mir mit, dass das noch eine inoffizielle Vermutung sei, die nur dem Führer und den führenden Militärs bekannt sei. Genauere Angaben über diesen Plan erhielt ich im November 1940. Jodl kehrte von einem Vortrag bei Hitler zurück und legte mir dessen Vorhaben dar. Daraufhin wurde unter Aufsicht Jodls eine allgemeine operative Richtlinie entworfen. Im Dezember 1940 wurde eine noch umfassendere operative Anweisung verfasst. Ich muss hinzufügen, dass ich buchstäblich erschüttert war, als ich erfuhr, dass uns ein Krieg im Osten bevorsteht. Von diesem moralischen Schock habe ich mich nie
Oppositions- zur Regierungspartei, in der Weimarer Republik war sie bis 1932 an zahlreichen Koalitionsregierungen sowohl mit der SPD als auch mit bürgerlichen und konservativen Parteien beteiligt. 209 Gemeint ist die Ermordung von bis zu 200 Personen durch Kommandos der SS am 30.6. und 1. 7. 1934, darunter einem Großteil der SA-Führung. Deren Stabschef Ernst Röhm (1887–1934) hatte sich für eine Transformation der SA in ein Volksheer ausgesprochen. Außerdem plante er innerparteiliche Veränderungen, was Konkurrenten in SA und SS auf den Plan rief. Nachträglich ließ Hitler die Säuberungsaktion, der auch konservative Kritiker des Regimes, darunter zwei Reichswehrgenerale, zum Opfer fielen, als abgewendeten Putschversuch darstellen.
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erholen können, denn ich schätzte einen Krieg mit der Sowjetunion als tödlich für Deutschland ein. Frage: Haben Sie Ihre Zweifel hinsichtlich des Erfolges eines Krieges gegen die Sowjetunion jemandem mitgeteilt? Antwort: Das war ein Widerspruch zwischen Pflicht und Bewusstsein, eine Gewissensangelegenheit, die ich mit mir selbst klären musste. Ich konnte meine Zweifel nicht mit irgendjemanden teilen, denn erstens waren mir die Personen, die mich umgaben, zu fremd und zweitens verbot mir meine Pflicht als Soldat, Zweifel an den Handlungen des Oberkommandos zu äußern. Während des Krieges erfüllte ich gehorsam alle Befehle der Führung, denn ich war moralisch durch den Eid gebunden. Frage: Wie dachten Sie darüber, dass Hitler selbst den Oberbefehl der Armee übernahm? Antwort: 1935, als sich Hitler selbst zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht ernannte, hielt ich das, wie alle anderen Offiziere auch, für einen rein juristischen Fakt und maß dem keine große Bedeutung bei. Als aber der Führer 1938 Blomberg und noch eine Reihe anderer alter Offiziere der Reichswehr aus der militärischen Führung entließ, wurde klar, dass es sich nicht nur um einen juristischen Fakt handelte. Dass Hitler 1941 den Oberbefehl über das Heer an sich riss, kann ich mir nur dadurch erklären, dass er seine Fähigkeiten und Möglichkeiten überschätzte. Er überschätzte sich extrem. Das äußerte sich erstens darin, dass er bestrebt war, sich bei der Organisation militärischer Maßnahmen mit allen Kleinigkeiten zu beschäftigen, wodurch er aber den Überblick verlor. Zweitens zeigte sich das in seinem hartnäckigen Unverständnis darüber, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig ist, sich auf einzelne Frontabschnitte zurückzuziehen. Hitler aber forderte ständig: „Keinen Schritt zurück!“, was mehrmals zum Scheitern von Operationen führte. Ein weiterer großer Fehler Hitlers als Heerführer war, dass er das Prinzip der Machtteilung – wie im politischen Bereich – auf die militärischen Organe übertrug. Die bekannte römische Regel: „Divide et impera“ hat seine Berechtigung bei der Organisation der politischen Führung. Im militärischen Bereich ist aber die Einheit der Verwaltung unerlässlich. Durch die Anweisungen Hitlers in den höheren Organen des Oberkommandos wurden eine so eigenartige Abhängigkeit der Funktionen voneinander und ein System der Unterordnung geschaffen, welches die Führung der Streitkräfte nur erschwerte. Wie ja bekannt ist, war früher das Oberkommando der Wehrmacht das höchste Organ der militärischen Führung für die Koordination des Heeres, der Luftwaffe und der Kriegsmarine, die in ihren Reihen jeweils ihre eigenen Generalstäbe besaßen. Seitdem der Führer aber Oberbefehlshaber des Heeres war, unterstanden auch der Generalstab des Heeres und sein Chef dem unmittelbaren Befehl des Führers unter Umgehung Keitels. Des Weiteren hatte im Oberkommando der Wehrmacht der Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, der faktisch ebenfalls dem Führer
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unmittelbar unterstellt war, eine besondere Bedeutung. Dann kam noch hinzu, dass der Generalstab des Heeres alle Aspekte der Führung der Ostfront übernahm, indem er diesbezüglich die Organe des Oberkommandos der Wehrmacht verdrängte. Ein solches Durcheinander unter den Befehlsebenen und Funktionen konnte sich nicht positiv auf die Einheit der militärischen Führung auswirken. Frage: Welche Verbindungen hatten Sie zu den führenden Kreisen der nationalsozialistischen Partei und den Organen der SS? Antwort: In diese Kreise hatte ich überhaupt keine Verbindungen. Es ergab sich zufällig, dass Hitler allen SS-Angehörigen aus der Adjutantur des Führers jegliche Beziehung zu mir verbot und sogar untersagte, mit mir zu sprechen. Das lässt sich dadurch erklären, dass ich weiterhin die katholische Messe besuchte und zu den politischen Akteuren des katholischen Lagers Kontakt pflegte, während ich im [Wehrmachtführungs-]Stab arbeitete. Durch Keitel erreichte ich, dass dieses Verbot aufgehoben wurde. Das Verhältnis blieb dennoch angespannt. Während meiner Zugehörigkeit zum [Wehrmachtführungs-]Stab und während des Krieges bin ich nicht einmal ausgezeichnet worden. Während meiner Krankheit schrieb ich an Keitel, dass ich den Verdacht habe, dass man mir von Seiten der Führung nicht mehr vertraue und ich bat um eine Aussprache. In der Antwort auf meinen Brief wurde mir meine Auszeichnung mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mitgeteilt. Was meine Karriere im Dienst betrifft, so wurde ich mehrmals zurückgestellt. Viele meiner Untergebenen überholten mich im Dienstrang und Posten. Das gilt besonders für Zeitzler. Frage: Was wissen Sie über die Maßnahmen der nationalsozialistischen Partei zum Schutz ihrer Führungskader und bezüglich der Organisation von Untergrundtätigkeit im Hinterland der alliierten Streitkräfte? Antwort: Ich weiß darüber überhaupt nichts. Frage: Ist Ihnen bekannt, wie die Lage in Hitlers Hauptquartier in der letzten Zeit war? Antwort: Ich habe diesbezüglich keine Informationen, denn ich hatte überhaupt keine Verbindung zu meinem bisherigen Dienstort. Die Ärzte hatten mir verboten, wegzufahren. Ehemalige Kollegen besuchten mich sehr selten. Frage: Welcher Art war das Verhältnis zwischen Keitel und Jodl? Antwort: Das Verhältnis zwischen Keitel und Jodl war vollkommen normal. Keitel brachte Jodl großes Vertrauen entgegen, Jodl wiederum schätzte Keitel ungemein. Es gab keine Verstimmungen zwischen ihnen. Frage: Hatten Sie irgendeine Verbindung zu den Teilnehmern an der Verschwörung gegen Hitler vom 20. Juli 1944?
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Antwort: Ich hatte keine Verbindungen zu dieser Verschwörung. Ich bin der Meinung, dass derartige Handlungen von Soldaten es verdienen, verflucht zu werden. Frage: Berichten Sie über die Umstände dieses Attentats? Antwort: Am 14. Juli 1944 fuhren der Führer und die ihn umgebenden Personen von Berchtesgaden nach Rastenburg, wo eine neue Kommandozentrale errichtet worden war210. Die Arbeiten an dem neuen Führerhauptquartier waren noch nicht vollständig abgeschlossen. Insbesondere die Bunker waren noch nicht fertiggestellt. Aus diesem Grund fanden alle Empfänge, aber auch die Lagebesprechungen, in einer großen Holzbaracke statt. Die Wände dieser Baracke waren mit Betonplatten verstärkt worden. Jeden Morgen fanden im Hauptquartier die Lagebesprechungen statt, auf denen die Lage auf allen Kriegsschauplätzen diskutiert wurde. Bei diesen Versammlungen waren fast immer Keitel, Jodl und weitere führende Generale und Offiziere zugegen. Ich nahm von Dezember 1941 bis September 1944 täglich an diesen Beratungen teil. Am 20. Juli begann die Besprechung um 12.30 Uhr. Es waren bis zu 20 Generale, Offiziere und sonstige Bedienstete anwesend. Nach den damaligen Regeln war es erlaubt, zu kommen und zu gehen, wie es nötig war. Um 12.40 Uhr betrat Oberst i. G. Graf von Stauffenberg211 mit einer Tasche in der Hand den Raum. Er war bei ähnlichen Besprechungen gewöhnlich nicht zugegen, besaß aber dennoch Zutritt zum Hauptquartier. Stauffenberg ging zum Tisch und stellte sich zwei Personen entfernt vom Führer hin, wobei er seine Tasche auf den Boden stellte, so dass sie an einem der Tischbeine lehnte. Zu diesem Zeitpunkt waren anwesend: Keitel, Jodl, Brandt212, Schmundt213, [von] Puttkamer214, [von]
210 Das Führerhauptquartier „Wolfschanze“ wurde 1940 in Ostpreußen für den Krieg gegen die Sowjetunion errichtet. 1944 waren die Bunker noch einmal verstärkt worden. 211 Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944), Oberst, seit 1926 Berufssoldat, 1936–1938 Generalstabsausbildung, 1941 in der Organisationsabteilung des OKH, 1943 Stabsoffizier in der 10. Panzerdivision beim Afrikakorps, 1943 schwer verwundet, Oktober 1943 Stabschef des Allgemeinen Heeresamtes, Juni 1944 Stabschef des Ersatzheeres, seit 1942 in Kontakt mit verschiedenen Widerstandskreisen, noch am Abend des 20. 7. 1944 mit weiteren Angehörigen des militärischen Widerstandes verhaftet und nach Standgerichturteil hingerichtet. 212 Heinz Brandt (1907–1944), Oberst, seit 1925 Berufssoldat, 1936–1939 Generalstabsausbildung, ab 1939 im Generalstab des Heeres, November 1940 Ia in der Operationsabteilung des OKH, beim Attentat am 20. 7. 1944 schwer verletzt, starb am Folgetag. 213 Rudolf Schmundt (1896–1944), General der Infanterie, seit 1914 Berufssoldat, 1929–1932 Generalstabsausbildung, seit Januar 1938 Chefadjutant der Wehrmacht bei Hitler, ab Oktober 1942 auch Leiter des Heerespersonalamtes, erlag seinen Verletzungen vom 20.7. am 1. 10. 1944. 214 Karl-Jesko von Puttkamer (1900–1981), Konteradmiral, seit 1917 Berufssoldat, 1931–1933 Admiralstabsausbildung, 1933–1935 Verbindungsoffizier der Marine zum OKH, danach im Stab des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, seit 1936 mit kurzen Unterbrechungen Marineadjutant bei Hitler und Marineverbindungsoffizier zum Oberbefehlshaber des Heeres, beim Attentat leicht verletzt, am 21. 4. 1945 Flucht aus Berlin. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Below215, Borgmann216, Fegelein217, Voß218, Buhle219, Scherff, Bodenschatz220 und Heusinger221, ich und noch einige Offiziere aus der Adjutantur sowie zwei Stenographen. Plötzlich ertönte eine ohrenbetäubende Explosion. Ich fiel zu Boden und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass alle Anwesenden an die Wand geschleudert worden waren und in Panik durch die Fenster sprangen. Der Führer, der sich auf seine Adjutanten stützte, verließ mit Mühe das Zimmer. Einige Leute lagen blutend am Boden. Wie ich später erfuhr, hatte Stauffenberg einige Minuten vor der Explosion den Raum verlassen, was von einem der Unteroffiziere im Korridor bemerkt worden war. Ich persönlich hatte nicht bemerkt, dass Stauffenberg fortging. Warlimont
215 Nicolaus von Below (1907–1983), Oberst, seit 1928 Berufssoldat, Fliegerausbildung, 1929 Jagdfliegerschulung in der Sowjetunion, 1933 Übertritt zur Luftwaffe, 1937 bis 1945 Luftwaffenadjutant bei Hitler. 1945–1948 britische Kriegsgefangenschaft, dort Falschaussage über letzte Befehle Hitlers, um Hafterleichterungen zu erlangen. 216 Heinrich Borgmann (1912–1945), Oberst, seit 1932 Berufssoldat, nach Verwundung 1942 Generalstabsausbildung, 1943 Verbindungsoffizier des Heeres bei Hitler, am 20. 7. 1944 schwer verletzt, nach Genesung im April 1945 Kommandeur einer Infanteriedivision, vor Übernahme durch Tieffliegerangriff bei Magdeburg tödlich verwundet. 217 Hermann Fegelein (1906–1945), SS-Gruppenführer, 1925–1928 Kavallerist, 1929 als Polizeioffiziersanwärter nach Betrugsversuch entlassen, ab 1931 in der SS, Inspektor der SS-Reitschulen, als Kommandeur einer SS-Reiterstandarte Einsatz bei der Partisanenbekämpfung, 1944 Verbindungsoffizier der Waffen-SS bei Hitler, Juni 1944 Heirat mit Schwester Eva Brauns, am 20. 7. 1944 nur leicht verletzt, Ende April 1945 Fluchtversuch aus der Reichskanzlei, verhaftet und nach Standgerichtsurteil hingerichtet. 218 Hans-Erich Voß (1897–1969), Vizeadmiral, seit 1915 Berufssoldat, verschiedene Verwendungen, teils als Stabsoffizier, 1942 Kommandant des Schweren Kreuzers „Prinz Eugen“, ab 1943 ständiger Vertreter der Marine im Führerhauptquartier. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 219 Walter Buhle (1894–1959), General der Infanterie, seit 1913 Berufssoldat, 1921–1923 Generalstabs ausbildung, 1939–1940 Leiter der Operationsabteilung im OKH, seit 1942 Chef des Heeresstabes im OKW, 1945 auch Chef des Heereswaffenamtes. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 220 Karl-Heinrich Bodenschatz (1890–1979), General der Flieger, seit 1910 Berufssoldat, ursprünglich Infanterist, 1916 Fliegerausbildung, seit 1933 im Reichsluftfahrtministerium, persönlicher Adjutant Görings, seit 1938 Chef des Ministeramts, zugleich Verbindungsoffizier zu Hitler, beim Attentat am 20. 7. 1944 schwer verletzt und dienstuntauglich. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft. 221 Adolf Heusinger (1897–1982), Generalleutnant, seit 1915 Berufssoldat, 1927–1929 Generalstabs ausbildung, 1930–1934 im Reichswehrministerium, ab 1937 in der Operationsabteilung des Generalstabs des Heeres, seit 1940 deren Chef, im Juli 1944 mit der Führung des Generalstabs beauftragt, nach dem Attentat vom 20. 7. 1944, bei dem er verletzt wurde, verhaftet, nach Preisgabe von Informationen in die Führerreserve versetzt, 25. 3. 1945 Chef Wehrmacht-Kartenwesen. 1945–1948 in USKriegsgefangenschaft, Stellvertreter Halders in der deutschen Abteilung der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der US-Armee, seit 1948 Mitarbeit in der Organisation Gehlen, seit 1952 militärischer Leiter des Aufbaus der Bundeswehr, 1957–1961 deren erster Generalinspekteur, 1961–1964 Leiter des Militärausschusses der NATO in den USA, von denen die Sowjetunion 1961 vergeblich seine Auslieferung wegen Kriegsverbrechen verlangte.
1.7 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Georg Lindemann
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Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 97, Bl. 462–469. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.7 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Georg Lindemann, Kurort Mondorf, Luxemburg, 18. Juni 1945 Kurzprotokoll des Verhörs des Generaloberst Georg Lindemann 18. Juni 1945 Lindemann, Georg, 61 Jahre alt, Generaloberst, zuletzt Befehlshaber der Besatzungstruppen in Dänemark. Frage: Welche Posten hatten Sie während des Krieges gegen die Sowjetunion inne? Antwort: 1941 befehligte ich das L. Armeekorps – zunächst in Deutschland, dann auf dem Balkan und im Anschluss daran im nördlichen Abschnitt der sowjetisch-deutschen Front. Von 1942/1943 bis Ende März 1944 befehligte ich die 18. Armee bei Leningrad, danach die Heeresgruppe Nord. Am 3. Juli 1944 wurde ich von diesem Posten enthoben und lebte bis Ende Januar 1945 zu Hause. Am 1. Februar 1945 wurde ich zum Befehlshaber der deutschen Truppen in Dänemark ernannt. Frage: Aus welchen Gründen wurden Sie vom Posten des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Nord enthoben? Antwort: Ich wurde auf Grund meiner Misserfolge an der Front entlassen; genauer, weil ich die Anweisungen des Führers und des Hauptquartiers bezüglich der Operation im Raum Polozk222 nicht ausführen wollte. Die Lage war damals folgende: Die Heeresgruppe Mitte und die 3. Panzerarmee, die sich an ihrer Nordflanke befand, waren schweren Angriffen der Russen ausgeliefert. Es bestand die Gefahr des Auseinanderbrechens der Front zwischen den Heeresgruppen Nord und Mitte. Mein Frontabschnitt war ebenfalls erheblichem Druck von Seiten des Gegners ausgesetzt. Ich traf die Entscheidung, die Truppen zehn bis 20 Kilometer zurückzuziehen, um die
222 Die sog. Polozker Operation der Roten Armee war Teil der Offensive gegen die Heeresgruppe Mitte. Lindemann beabsichtigte die Rücknahme seiner Truppen hinter die Düna.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Frontlinie auszurichten und so zwei Divisionen freizumachen. Gleichzeitig schlossen im Raum Dünaburg223 drei Divisionen auf. Mit der Kampfkraft dieser fünf Divisionen plante ich, in der Folge einen Gegenangriff führen zu können und die Verbindung zur Heeresgruppe Mitte zu sichern. Aus dem Hauptquartier erhielt ich den Befehl, die Truppen nicht abzuziehen, sondern die zwei Divisionen, die ich als Reserve nutzen wollte, umgehend in einen Gegenschlag von Polozk aus in Richtung Glubokoje zu werfen, um so schnell wie möglich die Verbindung zur Heeresgruppe Mitte herzustellen. Dieser Plan war absolut hoffnungslos, denn die Divisionen mussten 50 bis 60 Kilometer schwierigen Geländes überwinden, während an ihrer Flanke die leistungsfähige 11. Gardearmee des Gegners agierte. Ich weigerte mich, diesen Befehl auszuführen und wurde danach enthoben. Frage: Hatten Sie noch andere Meinungsverschiedenheiten mit dem Oberkommando und Hitler? Antwort: Ja, ich hatte auch schon vorher Auseinandersetzungen gehabt, die rein militärischen Charakters waren. Ich hatte niemals politische Streitigkeiten, weil ich mich weder mit Politik beschäftigte noch mich für sie interessierte. Ich kann Ihnen noch folgende Auseinandersetzungen zwischen dem Hauptquartier und mir nennen: 1. 1943, als es um den Angriff auf Leningrad ging, wurde mir bewusst, dass dies nur durch [gleichzeige] Sicherung unserer östlichen Flanke zwischen Schlüsselburg und dem Ladogasee möglich sei und schlug daher vor, dorthin eine Division zu entsenden. Damit waren sie [d. h. das OKW und Hitler] nicht einverstanden und verlegten die Division an einen Kampfabschnitt. Wie zu erwarten war, griffen die Russen von der östlichen Flanke an und erkämpften sich dort einen Durchbruch.224 Dies wäre nicht geschehen, hätte dort eine Division gestanden. 2. Ich war gegen eine Schwächung der Heeresgruppe Nord, wie sie das Oberkommando schon mehrfach zugunsten anderer Heeresgruppen vorgenommen hatte. 3. Während des Großangriffs von General Goworow225 bei Leningrad hatte ich bereits im Voraus vorgeschlagen, die Truppen aus Tschudowo und Tosno abzuziehen, aber mir wurde die Erlaubnis hierfür verwehrt. Diese ganzen Differenzen trugen mir die Unzufriedenheit des Führers und des Oberkommandos ein.
223 Heute Daugavpils, Lettland. 224 In der Zweiten Ladoga-Schlacht gelang der Roten Armee im Januar 1943 die Erkämpfung eines Korridors zur Stadt Leningrad. 225 Leonid A. Govorov (1897–1955), Marschall der Sowjetunion, 1917 Artillerieoffizier der russischen Armee, lief im Bürgerkrieg zur Roten Armee über, im Winterkrieg 1939/40 Kommandeur der Artillerieeinheiten, die den Durchbruch durch die Mannerheimlinie ermöglichten, 1941/42 in der Schlacht vor Moskau Oberbefehlshaber der 5. Armee, Wiedereinnahme vom Mošajsk, ab Juli 1942 Oberbefehlshaber der Leningrader Front.
1.7 Sowjetisches Protokoll des Verhörs von Generaloberst Georg Lindemann
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Frage: Wie beurteilen Sie die Gründe für die Misserfolge der deutschen Truppen bei Leningrad? Antwort: Wir haben Leningrad nicht eingenommen, weil wir es nicht ein einziges Mal ernsthaft angriffen. Während des Angriffes des L. Armeekorps nahmen wir Puschkin ein. In der Nähe agierte das XXXIX. Panzerkorps mit der 18. und 12. Panzerdivision und der 36. Infanteriedivision (motorisiert). Diese Divisionen wurden jedoch abgezogen und automatisch scheiterte damit der Angriff. Bei allen weiteren Operationen verfügten wir nicht über genügend Kräfte. Frage: Was können Sie über die barbarische Zerstörung historisch wertvoller Orte und Kulturdenkmäler des russischen Volkes bei Leningrad und in der Stadt selbst durch die Deutschen berichten? Antwort: Die deutschen Truppen sind an diesen Zerstörungen nicht schuld. Ich weiß genau, dass Peterhof und Puschkin von russischer Artillerie zerstört wurden. Es ist eher umgekehrt, denn unsere Befehlshaber ergriffen Maßnahmen, um diese Kostbarkeiten zu retten und es wurde ein spezieller Bevollmächtigter (den Namen weiß ich nicht) berufen, um sie [d. h. die Kulturgüter von Peterhof und Puschkin] an sichere Orte zu bringen.226 Die Stationierung der deutschen Truppen in diesen Gebieten war eine militärische Notwendigkeit genauso wie es eine Notwendigkeit war, Leningrad zu beschießen. Frage: Was wissen Sie über die Lage und Organisation der Geheimdienstarbeit in der deutschen Armee? Antwort: Über die allgemeine Organisation habe ich keine Kenntnisse. Die Geheimdienstinformationen erhielt ich bereits aufgearbeitet von der Aufklärungsabteilung des Generalstabs des Heeres, ohne Nennung der Quellen. Ich weiß nur, dass in Leningrad nicht die militärischen Organe die Aufklärungsarbeit leisteten, sondern der SD.227 Frage: Wann waren Sie überzeugt, dass der Krieg für Deutschland verloren war? Antwort: Diese Erkenntnis kam mir nach dem Scheitern des deutschen Angriffs im Sommer 1943 bei Orel und vollständig überzeugt war ich nach der Invasion der Alliierten in Europa. Ich gab dennoch bis zuletzt die Hoffnung auf einen besseren
226 Die Kostbarkeiten der Schlösser, darunter das Bernsteinzimmer, wurden im Oktober 1941 von Beauftragten des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg demontiert und nach Ostpreußen gebracht, wo sie Ende 1941 ausgestellt und später eingelagert wurden. Bei Kriegsende gingen zahlreiche der geraubten Kunstschätze verloren. 227 In der Tat erfolgte die nachrichtendienstliche Aufklärungsarbeit in Leningrad und im Leningrader Gebiet durch Mitarbeiter der Abwehrstelle des SD „Zeppelin“ – „Zeppelin-Nord“.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Ausgang der Kämpfe nicht auf. Vor allem der Eid, den ich dem Führer geleistet hatte, verpflichtete mich, an das Schicksal der Armee und des Volkes zu glauben. Frage: Was wissen Sie über die Maßnahmen der Partei bezüglich des Rückzuges in den Untergrund und der Organisation illegaler Arbeit gegen die Alliierten? Antwort: Was die Organisation von Untergrundmaßnahmen durch die Partei betrifft, weiß ich nichts. Ich stehe der Partei und überhaupt der Politik sehr fern. Das Einzige, von dem ich weiß, ist der Radioaufruf zur Gründung der Organisation „Werwolf“. Ich habe aber keine weiteren Informationen über die Ziele, die Mittel und die Arbeit dieser Organisation. Meine persönliche Meinung dazu ist, dass in Deutschland illegaler Kampf ähnlich dem Partisanenkrieg in Russland vollkommen unmöglich ist. In Deutschland gibt es überhaupt keine Orte, wo sich Partisanen hätten verstecken können. Wir haben weder russische Wälder noch russische Sümpfe. Das deutsche Volk ist auch von seiner Mentalität her für die illegale Arbeit untauglich. Frage: Welche Aufgaben hatten Sie als Befehlshaber der deutschen Truppen in Dänemark? Antwort: Am 30. April 1945 wurde ich vom Führer empfangen, der mir folgende Aufgaben erteilte: 1. Vorbereitung zur Verteidigung Dänemarks mit den geringsten Mitteln. 2. Möglichst eine große Anzahl der rückwärtigen Truppen und Versorgungseinheiten zur Verlegung an die Ostfront freizugeben. 3. Dafür zu sorgen, dass die Besatzungstruppen genügend Kampfvorbereitung haben, um für Kampfhandlungen bereit zu sein. Als ich in Dänemark ankam, stellte ich fest, dass die Situation im Land außerordentlich angespannt war. Jeden Tag ereigneten sich Sabotage- und Diversionsakte. Die Dänen überfielen einzelne Soldaten, töteten sie während der Wachablösung, warfen Granaten in militärische Objekte, organisierten Sprengstoffanschläge entlang der Eisenbahnlinien usw. Jeden Monat wurden 20 bis 40 deutsche Soldaten und Offiziere getötet. Ich sorgte dafür, dass in Dänemark erneut Kriegsgerichte zur Aburteilung der Schuldigen an den Sabotageakten eingerichtet wurden (Vorher waren diese Gerichte abgeschafft worden, was 1944 geschehen sein muss). Die Tätigkeit dieser Gerichte wurde unter die Leitung des Befehlshabers der SS-Truppen Pancke228 gestellt. Weitere
228 Günther Pancke (1899–1973), SS-Obergruppenführer, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, 1918–1920 Freikorpskämpfer im Baltikum und Ostpreußen, Laborassistent, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1931 zur SS, dort hauptamtlicher Führer, 1938–1940 Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts, danach Verbindungsoffizier zum Führerhauptquartier, Höherer SS- und Polizeiführer Mitte, November 1943–Mai 1945 HSSPF in Dänemark. Danach in dänischer Haft, 1953 begnadigt.
1.8 Auskunftsschreiben der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR
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Kenntnisse über Strafmaßnahmen an der dänischen Bevölkerung habe ich nicht, denn das geschah alles ausschließlich unter der Leitung von Pancke. Frage: Zu welchen der Führer von Partei und SS hatten Sie Kontakt? Antwort: Von den Akteuren der SS kenne ich die, mit denen ich durch den Dienst verbunden war. Das gilt besonders für den Kommandeur der Polizeidivision, SS-Brigadeführer Krüger229, und den Obergruppenführer Pancke. Lindemann Es verhörte: Leiter der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR, Oberst der Staatssicherheit Potaschew An dem Verhör nahmen teil: Gehilfe des Chefs der Aufklärungsverwaltung der Seekriegsflotte, Oberst Frumkin, Referatsleiter bei der Aufklärungsabteilung des Stabs der 1. Belorussischen Front, Oberst Smyslow Übersetzer und Protokollant: Majorin der Staatssicherheit Frenkina, Hauptmann Besymenskij Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr, 97, Bl. 462–469. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
1.8 Auskunftsschreiben der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR über die Ergebnisse der Befragung von Generalfeldmarschall Albert Kesselring, 24. Juni 1945 Auskunftsschreiben über die Ergebnisse der Befragung von Feldmarschall Kesselring, Albert Kesselring, Albert, 60 Jahre, Generalfeldmarschall, letzter Posten – Oberkommandierender der Westfront. Von Kriegsbeginn bis zum November 1941 Oberbefehlshaber der Luftflotte 2 an der Ostfront. Seit November 1941 befehligte er die Südwestfront in Italien. Auf die Frage, wie Kesselring den Krieg gegen die Sowjetunion einschätzte, antwortete dieser, dass er keine Meinung hätte, da er Soldat sei und widerspruchlos die Befehle Hitlers ausführte.
229 Walter Krüger (1890–1945), SS-Obergruppenführer, 1908–1920 Berufssoldat, zuletzt als Hauptmann und Bataillonsführer, Bankkaufmann, 1935 Eintritt in die SS-Verfügungstruppe, 1940 Ia der SS-Polizei-Division, von August–Dezember 1941 mit der Führung dieser Division beauftragt, März 1943 Kommando der SS-Panzergrenadier-Division „Das Reich“, Ende 1943 Kommandierender General des IV. SS-Panzerkorps, März 1944 Befehlshaber der Waffen-SS Ostland, Juli 1944 Kommandierender General VI. Waffen-Armeekorps der SS. Suizid noch vor sowjetischer Gefangennahme im Mai 1945.
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1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Im April dieses Jahres kam Kesselring zur Berichterstattung zu Hitler und trug diesem über die Lage an der Westfront vor. Nach Kesselrings Worten maß Hitler der Lage an der Westfront keine besondere Bedeutung bei, da er davon ausging, dass die entscheidende Frage in erfolgreichen Operationen der Wehrmacht an der Ostfront lag. Hitler sagte angeblich zu Kesselring, dass, je tiefer die anglo-amerikanischen Streitkräfte nach Deutschland vordringen würden, die Lage für sie schlechter werde, da sich ihre Nachschubwege verlängerten und es damit schwieriger werde zu kämpfen. Kesselring erklärte ebenfalls, dass er für die schwerwiegendste Folge der Niederlage Deutschlands die Tatsache halte, dass er und andere deutsche Führungspersönlichkeiten im Lager sitzen. Irgendwelche wertvollen Aussagen machte Kesselring nicht. Er hinterließ den Eindruck einer stumpfsinnigen und bornierten Person. Persönlicher Freund Görings, über den er sich begeistert äußert. Seine eigenen militärischen Leistungen schätzt er als hoch ein. Chef der 5. Abteilung der 3. Verwaltung des NKGB der UdSSR Oberst der Staatssicherheit Potaschew, 24. Juni 1945 Quelle: CA FSB, Bestand 4, Findbuch 3, Akte Nr. 1, Bl. 189. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure 2.1 Aussage von Generalleutnant Hans Piekenbrock1 – ehemaliger Leiter der Abteilung Abwehr-1 „Nachrichtenbeschaffung“ des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 12. Dezember 1945 Von den Vorbereitungen eines Krieges gegen die Sowjetunion erfuhr ich das erste Mal unter folgenden Umständen. Gemeinsam mit Admiral Canaris war ich entweder Ende Dezember 1940 oder Anfang Januar 1941, genau weiß ich das nicht mehr, zur regelmäßigen Bericht erstattung bei Feldmarschall Keitel in Berchtesgaden.2 General Jodl war bei diesem Vortrag auch anwesend. Nach unserem Vortrag bat uns Jodl mit der Begründung, er habe uns etwas mitzuteilen, in sein Dienstzimmer. Das Gespräch dauerte nur einige Minuten. Jodl informierte uns darüber, dass wir in unserer Arbeit auch berücksichtigen sollten, dass Deutschland im Sommer 1941 gegen die Sowjetunion Krieg führen werde. Jodl sprach über den bevorstehenden Krieg mit Russland wie über eine bereits beschlossene Sache und erklärte, dass Detailinformationen über die Rote Armee für den Generalstab nicht mehr von Interesse seien. Er erteile lediglich eine einzige Aufgabe: Beobachtung dessen, was sich an der sowjetisch-deutschen Grenze tut. Jodl teilte uns ebenfalls mit, dass Hitler der Meinung war, dass die Sowjetunion nach einigen erfolgreichen Gefechten gegen die Rote Armee wie eine Seifenblase zerplatzen werde und Deutschland damit den Sieg über Russland erringen werde. Damit endete das Gespräch mit Jodl. Bis zu dieser Mitteilung hatte niemand mit uns über die Vorbereitungen eines Krieges gegen Russland gesprochen. Ich muss aber noch hinzufügen, dass seit August/September 1940 die Abteilung Fremde Heere [Ost] des Generalstabs die Spionageaktivitäten der Abwehr gegen die UdSSR merklich verstärkte. Diese Aktivitäten standen zweifellos in Verbindung mit den Kriegsvorbereitungen.
1 Hans Piekenbrock (1893–1959), Generalleutnant, seit 1914 Berufssoldat, 1926–1929 Generalstabs ausbildung, 1936–1943 Chef der Abteilung I (Auslandsspionage) der Abwehr, 1943–1944 Kommandeur der 208. Infanteriedivision, 1945 kurzzeitig mit der Führung des LIX. Armeekorps beauftragt. 1945– 1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 2 Piekenbrock erfuhr zweifelsfrei schon vorher von dem geplanten Angriff auf die Sowjetunion. Er gab im September 1940 „Materialien für den Abwehrdienst“ heraus, in denen er die Notwendigkeit betonte, Truppen zu verlegen. Dabei dürfe keinesfalls der Eindruck entstehen, „dass wir einen Überfall im Osten vorbereiten“.
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2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure
Genauere Zeitangaben zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion erfuhr ich im Januar 1941 von Canaris. Ich weiß nicht, über welche Informationsquellen Canaris verfügte, aber er teilte mir mit, dass der Überfall auf die Sowjetunion auf den 15. Mai terminiert war. Damals erzählte er mir auch, dass alle Maßnahmen zur Vorbereitung unter dem Namen „Plan Barbarossa“ liefen. Im März 1941 war ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Canaris und dem Leiter der Abteilung Abwehr-2 [„Sonderdienst“ beim Amt Ausland/Abwehr des OKW] für Diversion und Sabotage, Oberst Lahousen3, in dem es um die Maßnahmen für den Plan Barbarossa ging. Dabei bezogen sie sich die ganze Zeit auf einen Lahousen vorliegenden schriftlichen Befehl. Als Leiter der Abteilung Abwehr-1 [„Nachrichtenbeschaffung“] führte ich seit Februar 1941 und exakt bis zum 22. Juni 1941 mehrmals dienstliche Gespräche zum Plan Barbarossa mit dem Leiter der Abteilung Fremde Heere des Generalstabs [des OKH], Generalleutnant Tippelskirch4, und dem Leiter der Abteilung [Fremde Heere] Ost, Oberst Kinzel5. In diesen Gesprächen ging es um die konkreten Aufgaben der Abwehr in Bezug auf die Sowjetunion, besonders um die erneute Überprüfung alter Spionageinformationen über die Rote Armee, des Weiteren um die genaue Dislozierung der sowjetischen Truppen während der Phase der Vorbereitungen auf den Angriff. Um diese Aufgaben zu bewältigen, entsandte ich eine beträchtliche Anzahl von Agenten in die Gebiete an der Demarkationslinie zwischen den deutschen und sowjetischen Truppen. Wir nahmen für die Aufklärung z. T. auch deutsche Staatsbürger in Anspruch, die aus verschiedenen Gründen in die UdSSR reisten oder befragten Personen, die früher in der UdSSR gewesen waren. Des Weiteren erhielten die auswärtigen Dienststellen der Abwehr – die Abwehrstellen, die auch gegen Russland eingesetzt waren, die Aufgabe, mehr Agenten in die
3 Erwin von Lahousen (1897–1955), Generalmajor, seit 1915 Berufssoldat im k. u. k. Heer, ins österreichische Bundesheer übernommen, 1930–1933 Generalstabsausbildung, ab 1935 im Verteidigungsministerium bzw. im Evidenzbüro, dem Nachrichtendienst, nach dem „Anschluss“ 1938 Übernahme in das Amt Ausland/Abwehr, dort ab 1939 Leiter der Abteilung II, in dieser Funktion bis 1943, im militärischen Widerstand gegen Hitler aktiv, 1944 Kommandeur verschiedener Infanterieregimenter, im Sommer 1944 schwer verwundet, 1945 in die Führerreserve versetzt. 1945–1947 in britischer und US-Kriegsgefangenschaft, Kronzeuge der Anklage im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess. 4 Kurt von Tippelskirch (1891–1957), General der Infanterie, seit 1909 Berufssoldat, 1924–1927 Generalstabausbildung, 1935 Abteilungsleiter Fremde Heere im Kriegsministerium, in der Kriegsvorbereitung mit der Verarbeitung aller Agenteninformationen betraut, 1941 Kommandeur der 30. Infanterie-Division, 1942 Verbindungsoffizier beim Italienischen Expeditionskorps an der Ostfront, 1943/44 kommandierender General des XII. Armeekorps, 1944/45 Kommandeur verschiedener Armeen, zuletzt der Heeresgruppe Weichsel. 1945–1948 in britischer Kriegsgefangenschaft. 5 Eberhard Kinzel (1897–1945), General der Infanterie, seit 1914 Berufssoldat, 1926–1929 Generalstabs ausbildung, danach in verschiedenen Stabsverwendungen, u. a. in der Abteilung Fremde Heere, 1938–März 1942 Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost beim Generalstab des OKH, danach General stabschef verschiedener Heeresgruppen. 23. 5. 1945 Suizid in britischer Kriegsgefangenschaft.
2.1 Aussage von Generalleutnant Hans Piekenbrock
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UdSSR einzuschleusen. Auch alle Spionageeinheiten, die sich in den Armeen und Heeresgruppen befanden, erhielten den Auftrag, die Aufklärungstätigkeit gegen die UdSSR zu verstärken. Um all diese Dienststellen besser koordinieren zu können, wurde im Mai 1941 ein spezieller Abwehrstab gebildet, der „Walli-1“ genannt wurde. Dieser Stab befand sich in dem Dorf Sulievek [Sulejówek]6 in der Nähe von Warschau. Major Baun7, als bester Spezialist für die Arbeit gegen Russland, wurde zum Leiter von „Walli-1“ ernannt. Später, nachdem diesem Beispiel folgend auch die [Abteilungen] Abwehr-2 und Abwehr-3 die Stäbe „Walli-2“ und „Walli-3“ erhalten hatten, übernahm er auch die Leitung für die gesamten Spionage- und Gegenspionageaktivitäten sowie die Diversionsaktivitäten gegen die UdSSR.8 Leiter des gesamten Stabes Walli war Oberstleutnant Schmalschläger9. Selbstverständlich wussten, um die Kriegsvorbereitungen geheim zu halten, in meiner Abteilung nur zwei oder drei verantwortliche Mitarbeiter von der Bedeutung des Plans Barbarossa. Aus den mehrmaligen Vorträgen von Oberst Lahousen bei Canaris, bei denen ich auch zugegen war, ist mir bekannt, dass auch auf der Linie dieser Abteilung umfangreiche Vorbereitungen für den Krieg mit der Sowjetunion getroffen wurden. Von Februar bis Mai 1941 fanden mehrmals Besprechungen der leitenden Mitarbeiter der Abteilung Abwehr-2 bei Jodls Vertreter Warlimont statt. Diese Zusammenkünfte fanden in der Kavallerieschule im Dorf Krampnitz10 statt. Auf diesen Sitzungen wurde im Zusammenhang mit den Erfordernissen eines Krieges gegen die Sowjetunion insbesondere über die Verstärkung des Bau-Lehr-Regiments z. b. V. 800 „Brandenburg“11
6 Die damalige Gemeinde Sulejówek liegt 22 km östlich von Warschau. Dort befand sich bereits seit 1940 in dem früheren Frauenwohnheim „Helin“ ein Abwehr-Kommando. 7 Hermann Baun (1897–1951), Oberst, geboren und aufgewachsen in Odessa, 1939 Amt Ausland/Abwehr, Leiter des Russlandreferats Abwehr I, Juni 1941–Mai 1945 Leiter der Dienststelle Walli-I. 1945–1946 in US-Kriegsgefangenschaft, 1946 Leiter Beschaffung der Organisation Gehlen, 1950 ausgeschieden. 8 Walli-I war zuständig für die unmittelbare Frontaufklärung, wozu besonders Kriegsgefangene verhört wurden. Die Vernehmer erfragten auch Angaben zur sowjetischen Kriegswirtschaft. Walli-II war als Sonderdienst für Diversion und Sabotage konzipiert, Walli-III als Gegenspionage, also eigentliche Abwehr. 9 Heinz Schmalschläger (1893–1972), Oberst, Mitarbeiter Bauns, Anfang 1942 Chef der Dienststelle Walli-III, kurze Zeit später Gesamtleitung aller Walli-Stellen in Sulejówek. Nach dem Krieg bei der CIA, dann dem BND tätig. 10 Heute Stadtteil von Potsdam. 11 Die „Brandenburger“ waren eine Spezialeinheit des Amtes Ausland/Abwehr für Operationen hinter den feindlichen Linien. Aus diesem Regiment wurden Kommandos für bestimmte Aktionen ausgewählt, deren Angehörige über entsprechende Sprachkenntnisse verfügten und die vor allem das Ziel hatten, strategisch wichtige Objekte zu erobern. Ein Beispiel ist das letztlich gescheiterte „Unternehmen Schamil“, ein 1942 durchgeführter Einsatz in Verbindung mit tschetschenischen Rebellen, der Kämpfe hinter der sowjetischen Front initiieren und so die Eroberung der kaukasischen Ölfelder vorbereiten sollte. Anfang 1943 wurde der vormalige Sonderverband Brandenburg in einen regulären Heeresverband umgewandelt.
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und die Verteilung eines Teils dieser Einheit auf verschiedene Kampfverbände gesprochen. Die Aussage habe ich persönlich unterschrieben. Piekenbrock Die Aussage wurde vom Offizier der Spionageabwehr, Oberstleutnant Swertschuk12 entgegengenommen. Militärübersetzerin: Oberleutnant Potapowa13 Quelle: CA FSB, Bestand K-1, Findbuch 4, Akte Nr. 18, Bl. 321–325. Maschinenschriftliches Original. Russische Übersetzung aus dem Deutschen.
2.2 Eigenhändige Zeugenaussage des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner, Moskau, 15. Dezember 1945 1. Kenntnisse oder Andeutungen betr. Überfall auf die Sowjetunion. Wesentlich das Gespräch mit dem Reichsführer SS (etwa Nov. 1939, nach dem PolenKrieg): Der Russland-Vertrag sei nur eine „taktische Maßnahme, zeitlich bedingt; er bedeute keinesfalls einen endgültigen Verzicht auf den Kampf gegen den Bolschewismus [durchgestrichen im Original] Sowjetrussland. [Neben der Formulierung, dass der Vertrag nur eine „taktische Maßnahme“ sei, befindet sich ein senkrechter Strich und der handschriftliche Vermerk: „an diese Stelle erinnere ich mich genau“.] Daraus klar, dass schon im Augenblick der Unterschrift des Vertrags (1939) die bewusste und klare Absicht bestand, diesen Vertrag nicht zu halten. Ich war über diese Äußerung überrascht und frug Himmler, ob das seine persönliche Ansicht sei oder der offizielle Standpunkt der deutschen Politik. Ich entsinne mich genau, dass H. seine Äußerungen als unverändertes Ziel der Regierungspolitik bez. Adolf Hitlers bezeichnete. Seine weiteren knappen Ausführungen bewegten sich in der Darstellung der bekannten und üblichen Gründe eines Raumgewinnes nach Osten; sie enthalten nach meiner Erinnerung nichts wesentlich Neues, was nicht schon durch die damalige Propaganda u. drgl. bekannt gewesen wäre. Meine Frage an Himmler war in erster Linie veranlasst durch meine Erfahrungen in Rom, wohin ich zu einem Vortrag über die Erfahrungen im polnischen Feldzug Ende Oktober 1939 kommandiert war (Vortrag vor dem versammelten Generalstab –
12 Jakov Sverčuk (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1945–1946 Mitarbeiter des Referats I (Verhöre von Kriegsgefangenen) der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR. 13 Maria A. Potapova (1916–?), seit 1938 sowjetische Geheimdienstoffizierin, 1945 Übersetzerin der Operativgruppe der Spionageabwehrverwaltung „Smerš“ der 3. Belorussischen Front, danach Übersetzerin bei der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR und später beim KGB. 1971 in den Ruhestand.
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Pariani14 – im Kriegsmin[isterium] zu Rom, dann in der Kriegsakademie (Accad[emia] Mil[itare] Superiore di Guerra) in Turin.) Ich wurde in Rom verschiedentlich hinsichtlich der weiteren Absichten Adolf Hitlers befragt, wußte aber als damaliger R[e]g[imen]t[s-]K[omman]d[eu]r darüber tatsächlich nichts anderes als den bereits vollzogenen Aufmarsch gegen Frankreich. Auffallend waren mir die Fragen hinsichtlich unserer Pläne gegen [„den Bolschewismus“ durchgestrichen im Original] Sowjetrussland; ich glaube mich bestimmt an diese Fragestellung seitens des ital[ienischen] Generals Roatta15 erinnern zu können, den ich von meiner früheren Tätigkeit kannte. Die nicht mißzuverstehende Feststellung Himmlers war schon deshalb überraschend, weil Volk und Wehrmacht den Russland-Vertrag aufrichtig und als einen großen politischen Erfolg begrüßt hatten. Ich erinnere mich deutlich an die damalige Hochstimmung und unser aller Überzeugung, Adolf Hitler habe sein größtes politisches Werk vollbracht – an einen bewussten Betrug, wie dies mir heute völlig klar ist, an eine lediglich zeitlich bedingte „taktische Maßnahme“ dachte damals von uns niemand. Bei der propagandistischen Vorbereitung des Krieges gegen Sowjet-Russland ist festzustellen, dass diese Propaganda vom Abschluss des Rußlandvertrags 1939 bis Sommer 1941 aussetzte, eine Tatsache, die zur Wahrung des Moments der Überraschung sicherlich notwendig war. Vor 1939 war diese Propaganda sehr stark und steigend scharf; auch der idealistische Kampf gegen den Bolschewismus konnte in seiner Auswirkung und im Zusammenhang mit dem angestrebten wirtschaftlichen Zielen nur als Kriegspropaganda aufgefasst werden. Diese Propaganda war einheitlich durch die Regierung gesteuert und durch ausführliche ideologische, politische und wirtschaftliche Ausführungen begründet. Gegenteilige Ansichten wurden offiziell nicht laut. Sicher ist, daß trotz aller Propaganda bei den Soldaten der Wehrmacht an einen Krieg gegen Rußland ernstlich bis zum Schluß nicht gedacht wurde, dieser Krieg jedenfalls nicht populär war. Zur Führung eines derartigen Krieges erschien es notwendig, einen fanatischen Geist zu erwecken; in dieser Linie liegt auch die Verherrlichung der germanischen Tradition, hierzu zählen Übertreibungen aller Art. Wenn man aber die Germanen ver-
14 Alberto Pariani (1876–1955), General, im 1. Weltkrieg Offizier der italienischen Gebirgstruppen und Regimentskommandeur, Stabsverwendungen, 1936–1939 Generalstabschef des italienischen Heeres, 1939 verabschiedet, März 1943 italienischer Oberbefehlshaber und Generalstatthalter in Albanien. Nach dem Waffenstillstand Italiens mit den westlichen Alliierten im September 1943 in deutscher Kriegsgefangenschaft, 1945 in Italien wegen faschistischer Verbrechen verhaftet, 1947 entlassen. 15 Mario Roatta (1887–1968), General, 1934–1939 Leiter des militärischen Nachrichtendienstes der italienischen Armee, Juli 1939 italienischer Militärattaché in Berlin, Oktober 1939 stellvertretender Generalstabschef, 1941 Generalstabschef, 1942 Oberbefehlshaber der 2. Armee in Jugoslawien, dann der 6. Armee auf Sizilien, Juni 1943 erneut Generalstabschef, im November 1943 entlassen und verhaftet. 1945 nach Anklage wegen faschistischer Verbrechen Flucht nach Spanien.
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herrlichte, musste man die anderen als minderwertig hinstellen; es kam zwangsläufig zur Herabsetzung fremder Völker und Rassen. Diesem Ziel dienten u. a. die Zielsetzung der Parteitage, antibolschew[istische] Museen und Wanderausstellungen, die Verlautbarungen anlässlich des Antikominternpaktes u. a. m. Eine „Vernichtung“ fremder Völker war nicht propagiert. Es ist meine volle Überzeugung, dass man das deutsche Volk in seiner Masse nie so weit hätte bringen können. Auch innerhalb der Partei war meiner Ansicht nach – wenn überhaupt damals – nur die allgemeine SS über derartige Maßnahmen unterrichtet. a) Die erwähnte organisierte Ausrottung fremder Völker oder Rassen konnte dem deutschen Volk keinesfalls populär gemacht werden; diese grauenhafte Organisation erfolgte anscheinend nur für bestimmte Trupps oder Gruppen und jedenfalls hinter verschlossenen Türen. Ich war von Beginn des Polenfeldzuges an im Feld (Sanok16-Lemberg). Ich habe erstmals unmittelbar nach Beendigung dieses Feldzuges von solchen Greueln gehört und zwar im Zusammenhang mit dem vorübergehenden Ausscheiden des Generalobersten von Blaskowitz, der derartige Untaten nicht geduldet oder sich entsprechend scharf gegen SS Truppenteile ausgesprochen hatte. Zur Ehre der Wahrheit muss festgestellt werden, dass derartige Befehle vom Heer – sowohl vom einfachen Mann wie von Befehlshabern – nur selten in vollem Umfang oder überhaupt durchgeführt wurden, wie die[s] von einem moralisch einwandfreien Befehl verlangt wird. Diese Tatsache ändert selbstverständlich nichts von der Bedeutung und der Verwerflichkeit solcher Anordnungen und schränkt die volle Verantwortlichkeit der befehlenden Stellen in keiner Weise ein. Es erscheint aber notwendig, diese Tatsache zu erwähnen, um das Gewicht und das Ansehen einer absolut sachlichen (objektiven) Rechtsprechung in der Weltöffentlichkeit zu erhöhen. b) Hierzu zählen: Erlasse zur Vernichtung sowjetrussischer Kommissare. Ich entsinne mich eines Gespräches mit Generaloberst Dietl17, später Oberbefehlshaber 20. Gebirgs, A[rmee-]O[ber-]K[ommando]/Finnland18, Herbst 1941, der von der Durchführung dieses Erlasses beim Ge[birgs-]Jäg[er-]R[e]g[imen]t 144
16 Industriestadt in Südostpolen, 1939–1941 Grenzstadt zwischen dem deutsch und dem sowjetisch besetzen Teil Polens. 17 Eduard Dietl (1890–1944), Generaloberst, seit 1909 Berufssoldat, Mitglied der NSDAP seit ihrer Gründung, 1934 Kommandeur des Infanterie-Regiments 19, 1935 Kommandeur des GebirgsjägerRegiments 99, 1938–1940 Kommandeur der 3. Gebirgs-Division, 1940–1942 Kommandeurs des Gebirgs-Korps Norwegen, 1942–1944 Oberbefehlshaber Armee Lappland, später 20. Gebirgs-Armee, am 23. 6. 1944 bei einem Flugzeugabsturz in der Steiermark umgekommen. 18 Die 20. Gebirgs-Armee, ursprünglich Armeeoberkommando Lappland, ging Anfang 1942 aus dem Befehlsstab Finnland des AOK Norwegen hervor.
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der 2. Geb[irgs-]Div[ision]19 und bei einem Truppenteil der 3. Geb. Div. (XIX. Geb. A[rmee-]K[orps])20 sprach. Dietl bezeichnete diesen Befehl als „mindestens disziplinschädigend“ und ebenso wie manche ähnliche Vorkommnisse seinerzeit in Polen als des deutschen Soldaten unwürdig. Richtig ist, dass dieser Befehl in Folge an der arktischen Front (vor Murmansk) in keinem Fall mehr durchgeführt wurde. Es kämpften dort allerdings nur reichsdeutsche Gebirgsdivisionen des Heeres.21 Ähnlich verhält es sich mit dem Befehl über die grundsätzliche Vernichtung von Fallschirmspringern und englischen „comands“; auch wenn diese Kommandos in Soldaten-Uniform waren.22 Der Truppe wurde dieser Befehl durch den Hinweis nahe gebracht, dass es sich bei Fallsch[irm-]Spr[ingern] und dgl. um Partisanen und Saboteure handle, die außerhalb der militärischen Gesetze stünden und deshalb entsprechend behandelt werden müssten. Solche Kdos. erlebte ich an der finnisch/norwegischen Front und zwar sowohl Russen (aus der Gegend Murmansk und der Fischer-Halbinsel Ribatschi)23 als auch Engländer oder Norweger (kamen mit U-Booten oder kleinen Fahrzeugen über das Meer). Die letzten Russen der damaligen Zeit wurden von einem Festungs-Inf[anterie-]B[a]t[ai]l[lon] (513?) gefangen genommen, die letzten Engländer vom M[aschinen-]G[ewehr-]B[a]t[ai]l[lon] 14.24 Ich habe Gefangene beider Unternehmungen selbst gesehen, teilweise gesprochen. Beide Male waren einige Teilnehmer im Kampf getötet worden, nachher jedoch nicht. Soweit ich mich erinnere, wurde dieser Befehl später aufgehoben. c) Ein weiteres Dokument: Das Verbot für deutsche Soldaten irgendwie mit russischen (oder polnischen) Frauen oder Mädchen zu verkehren. Dieser Befehl war mit der angeblichen rassischen Minderwertigkeit dieser Völker begründet.
19 Hier irrt Schörner: Das Gebirgsjäger-Regiment 144 wurde erst am 2. 3. 1942 aufgestellt und unterstand der 3. Gebirgs-Division. 20 Das Gebirgs-Korps Norwegen, das 1940 aus der 3. Gebirgs-Division hervorgegangen war, wurde erst Ende 1942 in XIX. Gebirgs-Armeekorps umbenannt. 21 Dietl gab zumindest den Kommissarbefehl weiter. 22 Kommandobefehl, am 18. 10. 1942 von Hitler getroffene Anordnung zur Vernichtung von Sabotagetrupps: Gefangene Kommando-Soldaten waren zur Erschießung dem SD zu übergeben. 23 Fischerhalbinsel (russ. Poluostrov Rybači) in der Barentssee. Fallschirmjägereinsätze der sowjetischen Streitkräfte führte in der Regel der NKVD durch. 24 Das MG-Bataillon 14 war 1941 in Finnland als Teil des Gebirgs-Korps Norwegen in Einsatz; ein Festungs-Infanterie Bataillon 513 existierte nicht. Allerdings waren in Norwegen und Finnland seit 1941/42 eine ganze Reihe neu aufgestellter sog. Festungs-Bataillone (641–666) stationiert.
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Noch auf dem Balkan erfuhr ich im Sommer 1941 (meiner Erinnerung nach vom Referat IIa des Heerk[omman]dos der 12. Armee), dass deutsche Soldaten wegen Übertretung dieses Verbotes zum Tod verurteilt und diese Urteile auch vollstreckt wurden. Späterhin kamen auch Verfügungen ähnlichen Inhalts (Urteile), zur Bekanntgabe an die Truppe. d) Zustände in der Ukraine. Ich übernahm am 27. November 1943 den Befehl über die Armee-Abt[ei]l[un]g Nikopol (IV., XVII. und XXIX. A[rmee-]K[orps]) und kam häufig nach Nikopol und Kamenka. In Nikopol erfuhr ich durch den Gebietskommissar Stelzner [sic]25 (später Kriwoi Rog)26 von einer Versammlung der Gebietskommissare bei Gauleiter Koch. Anwesend bei [sic!] in Nikopol war damals außerdem der örtliche Wirtschaftsführer von Nikopol (Name mir nicht mehr bekannt).27 In dieser Versammlung bei Koch wurde die rücksichtslose Ausplünderung des Landes angeordnet. Auf die Zivilbevölkerung sollte keinerlei Rücksicht genommen, die Vorräte des Landes vollständig erfasst und weggeführt werden und zwar sowohl Produkte der Landwirtschaft wie Bodenschätze, Erzeugnisse der Industrie usw. Schriftliche Unterlagen bestanden hierüber bei der Wehrmacht meines Wissens nicht. Eine Zusammenarbeit mit Armee und Heeresgruppe fand nach meiner Beobachtung kaum statt. Die Kenntnis der Koch-Anordnungen war in der Ukraine in den Stäben wohl ziemlich weit verbreitet. Unterredung mit General der Panzertruppe Stumme28, Kom[mandierender] General XXXX. P[an]z[er-]A[rmee-]K[orps]; etwa Dezember oder November 1940 (Wien).
25 Nikolaus, gen. Claus, Selzner (1899–1944), SS-Brigadeführer, gelernter Schlosser, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, seit 1925 in der NSDAP, 1933–1941 Leiter des Organisationsamts der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, 1936 Aufnahme in die SS, 1941 Hauptbefehlsleiter im Hauptschulungsamt der NSDAP, 1941–1944 Generalkommissar von Dnjepropetrowsk, dort nach sowjetischen Quellen direkt für die Ermordung von 17 000 Juden verantwortlich, starb nach längerer Krankheit 1944 in Kaiserslautern. 26 Dnjepropetrowsk war bereits im Oktober 1943 von sowjetischen Truppen befreit worden, daher amtierte Generalkommissar Selzner zu dieser Zeit in Kriwoi Rog. 27 Nicht ermittelt. Seit Beginn der sowjetischen Offensive 1943 verschmolzen militärische und zivile deutsche Wirtschaftsorgane wieder in der Zuständigkeit des Wirtschaftstabes Ost unter Führung von General der Infanterie Otto Stapf (1890–1963). In Kriwoi Rog bzw. Nikopol befanden sich Außenstellen des Wirtschaftskommandos Dnjepropetrowsk. 28 Georg Stumme (1886–1942), General der Panzertruppe, seit 1906 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1939 Divisionskommandeur, 1940 Kommandierender General des XXXX. Armeekorps, im Juli 1942 abgelöst und vor dem Reichskriegsgericht zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt wegen unvorsichtigem Umgang mit deutschem Offensivplan an der Ostfront („Unternehmen Blau“), im September 1942 rehabilitiert und zum Führer der Panzerarmee Afrika ernannt. Zu Beginn der britischen Offensive bei El Alamein am 24. 10. 1942 in Hinterhalt geraten und an Herzinfarkt gestorben.
2.3 Aussage von Oberst Erwin Stolze
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Stumme befehligte damals die 2. und 5. P[an]z[er-]Div[ision] und meine (zugeteilte) 6. Geb[irgs-]Div[ision]. Ich war erstmals zur Meldung und zum Befehlsempfang zu Stumme befohlen. Unter besonderer Verpflichtung zur vertraulichen Behandlung wurden mir die voraussichtlichen Aufgaben meiner und der 5. Geb[irgs-]Div[ision] im beabsichtigten Griechenland-Feldzug bekannt gegeben; von Jugoslawien war noch nicht die Rede. Im Wesentlichen handelte es sich um die Erkundungen zum Durchbruch durch die Metaxas-Linie. Ich war über die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit erstaunt. So ergab sich etwa folgende Äußerung Stummes: „Wir sind zur [sic!] in der Durchführung der Operation zeitlich sehr beschränkt; wir haben nur wenige (3?) Wochen verfügbar. Ich darf eigentlich darüber nicht sprechen, aber – unter strengstem Vertrauen – der Krieg gegen Rußland ist unmittelbar anschließend an das Unternehmen gegen Griechenland geplant. Unsere Kräfte müssen hierfür mindestens mit starken Teilen frei werden.“ Weiterhin etwa: „Einzelheiten kenne ich selbst nicht.“ 15. Dezember 1945. Schörner Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Bl. 108–113. Handschriftliches Original. Deutsch.
2.3 Aussage von Oberst Erwin Stolze29 – ehemaliger stellvertretender Leiter der Abteilung Abwehr-2 „Sonderdienst“ des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 25. Dezember 1945 25. 12. 1945 Im März oder April 1941 rief mich der Leiter der Abteilung Abwehr-2, Oberst (später dann General) Lahousen in sein Dienstzimmer und informierte mich über den bald bevorstehenden deutschen Überfall auf die Sowjetunion. In diesem Zusammenhang forderte er mich auf, alle Informationen über die Sowjetunion, die unsere Abteilung besaß, für notwendige Diversionsmaßnahmen gegen die UdSSR zu nutzen.
29 Erwin Stolze (1891–1952), Oberst, 1911 und 1914–1919 als Freiwilliger Soldat, studierter Ökonom, seit 1923 Angestellter der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums. 1933 als Offizier reaktiviert, seit 1939 stellvertretender Leiter der Abteilung II (Sabotage und Sonderdienste) im Amt Abwehr/Ausland des OKW und Leiter der Abwehrstelle Berlin, seit Mai 1944 auch Leiter der Abwehrstelle Brüssel. 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, im Januar 1952 in Moskau zum Tode verurteilt und im März hingerichtet.
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Dabei erklärte er mir auch, dass die Information über den Überfall auf die Sowjetunion höchster Geheimhaltung unterliegt. Lahousen erteilte mir auch die Anordnung, eine Sondergruppe mit der Bezeichnung „A“ zu organisieren und zu leiten. Sie sollte Diversionsaktionen vorbereiten und das sowjetische Hinterland für den bevorstehenden Überfall untergraben. Lahousen übergab mir auch einen entsprechenden Befehl, den ich zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln sollte. Er hatte ihn aus dem Wehrmachtführungsstab des Oberkommandos [der Wehrmacht] erhalten, unterzeichnet war er von Feldmarschall Keitel und General Jodl (oder von General Warlimont auf Anweisung Keitels, so genau erinnere ich mich nicht mehr daran). Dieser Befehl enthielt grundlegende Anweisungen für Sabotageakte in der UdSSR nach dem deutschen Überfall. Dieser Befehl trug erstmals die Bezeichnung „Barbarossa“. Alle Schritte, die dann zur Kriegsvorbereitung eingeleitet wurden, trugen die Bezeichnung „Operation Barbarossa“. Der Befehl enthielt auch die Anweisung, dass zum Zwecke eines blitzartigen Angriffs auf Russland die Abteilung Abwehr-2 bei ihrer Zersetzungstätigkeit ihr Agentennetz dazu nutzen sollte, die Feindschaft zwischen den Völkern in der Sowjetunion anzuheizen. Um diesen Befehl Keitels und Jodls umzusetzen, nahm ich Kontakt mit den ukrainischen Nationalisten und anderen national-faschistischen Gruppen, die für Deutschland spionierten, auf und setzte sie für die Erfüllung der von oben gestellten Aufgabe ein. Den Führern der ukrainischen Nationalisten, Melnyk30 (Deckname Konsul-I) und Bandera31 trug ich auf, sofort nach dem deutschen Überfall Aufstände in der Ukraine zu organisieren, um die sowjetischen Hinterlandtruppen aufzureiben, und ebenso, um die internationale Öffentlichkeit vom Zusammenbruch des sowjetischen Hinterlandes zu überzeugen. Wir bereiteten auch Sondergruppen für subversive Aktionen in den baltischen Sowjetrepubliken vor. Deutschen Agenten, die für einen Einsatz in Litauen vorgesehen waren, wurde z. B. aufgetragen, Eisenbahntunnel und Brücken in der Nähe von Wilna zu besetzen. Deutsche Diversionsgruppen, die für den Einsatz in Lett-
30 Andrij Melnyk (1890–1964), 1939 Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), Befürworter eines eher moderaten Kurses zur Erlangung der ukrainischen Unabhängigkeit, 1940 verselbständigte sich der radikale Flügel der OUN unter Stepan Bandera (s. u.) und spaltete sich im April 1941 in Krakau als OUN (B) bzw. (R) ab, die OUN (M) folgte weiter Melnyk, seit Juni 1941 unter deutschem Hausarrest, September 1944 Internierung im KZ Sachsenhausen. Nach 1945 Exil in Luxemburg. 31 Stepan Bandera (1909–1959), seit 1940 Führer der OUN (B) bzw. (R), die revolutionäre Aktionen zur Erlangung der ukrainischen Unabhängigkeit propagierte, aus seinen Anhängern stellte die deutsche Abwehr 1941 die Bataillone „Roland“ und „Nachtigall“ auf, „Nachtigall“ besetzte am 26. 6. 1941 Lwiw, am 30.6. Ausrufung eines ukrainischen Staates, anschließend Morde an politischen Gegnern, Juden und Polen, am 5. 7. 1941 von den deutschen Besatzern verhaftet, unter Hausarrest in Berlin, Winter 1941/42–September 1944 im KZ Sachsenhausen interniert. Nach 1945 Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten, am 15. 10. 1959 in München von KGB-Agenten ermordet.
2.3 Aussage von Oberst Erwin Stolze
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land vorbestimmt waren, sollten die Brücken über die westliche Düna besetzen. Alle strategischen Objekte, die vor der Zerstörung vom Feind zu sichern waren, sollten von unseren Diversionsgruppen bis zum Eintreffen der regulären Truppen gehalten werden. Gleichzeitig machte ich mich gemeinsam mit Lahousen daran, den an der Ostgrenze Deutschlands zusammengezogenen deutschen Armeen und Heeresgruppen einzelne Abteilungen des Bereichs Abwehr-2 zuzuteilen. Diese Abteilungen hatten die Aufgabe, Diversionsakte im Hinterland der sowjetischen Truppen durchzuführen. Mir ist darüber hinaus bekannt, dass die deutschen Geheimdienstorgane, d. h. die Abwehrstellen Königsberg, Warschau, Krakau und die „Kriegsorganisation Finnland“ im Rahmen der Vorbereitungen auf den Krieg vom Leiter der militärischen Aufklärung und Abwehr, Admiral Canaris, beauftragt waren, die Aufklärungstätigkeit gegen die Sowjetunion auf ein Maximum zu erhöhen. Um die gesamte Geheimdienstarbeit der deutschen Truppen, die für den Überfall vorgesehen waren, besser leiten zu können, gründete die deutsche Militärspionage Ende Mai 1941 eine Spezialgruppe mit der Bezeichnung „Walli“. Sie war in der Nähe von Warschau stationiert. Des Weiteren wurde das [Bau-]Lehrregiment z. b. V. 800 „Brandenburg“, das dem Leiter der Abteilung Abwehr-2, Lahousen, direkt unterstellt war, für subversive Tätigkeiten in der Sowjetunion vorbereitet. Dieses Regiment, das 1940 gegründet wurde, hatte die Aufgabe wichtige operative Objekte – Brücken, Tunnel, Verteidigungsanlagen – einzunehmen und bis zum Eintreffen der Vorhut der deutschen Truppen zu halten. Das Regiment, das zum großen Teil aus Volksdeutschen bestand, nutzte zur Tarnung oft Uniformen und Waffen des Gegners, um seine Aktionen zu verdecken, obwohl das den internationalen Regelungen der Kriegsführung widersprach. Während der Vorbereitungen auf den Krieg legte die Führung des Regiments 800 „Brandenburg“ ein Lager mit Uniformen und Waffen der Roten Armee an und stellte einzelne Gruppen zusammen, die Russisch sprachen. Das sind im Allgemeinen die mir bekannten Maßnahmen gewesen, die die Abteilung Abwehr-2 bis zum Überfall auf die Sowjetunion durchführte. Ich muss noch darauf hinweisen, dass Admiral Canaris über sämtlich von der Leitung der Abteilung Abwehr-2 im Rahmen der „Operation Barbarossa“ geplante Maßnahmen an Feldmarschall Keitel berichtete. Keitel bestätigte sie dann, wie ich von Lahousen weiß. Was die anderen Maßnahmen des Oberkommandos der Wehrmacht zur Umsetzung der „Operation Barbarossa“ betrifft, so ist mir eine Besprechung, der Vertreter aller Waffengattungen unter der Leitung des stellvertretenden Leiters des Wehrmachtführungsstabes, General Warlimont, bekannt, an der auch ich teilnahm. Diese Sitzung fand Anfang Mai 1941 im Dorf Krampnitz in der Nähe von Potsdam statt. An dieser Sitzung nahmen außer Warlimont und seinen Mitarbeitern auch der Leiter der Abteilung für Wehrmachtspropaganda [beim OKW], Oberst (dann General) von
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Wedel32, als Vertreter der „Abwehr“ Oberst Rudolf33, Oberst Lahousen und ich sowie Vertreter der drei Waffengattungen teil, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Warlimont, der anstelle von Generaloberst Jodl auftrat, schlug den Teilnehmern vor, effektivere Maßnahmen zur Tarnung des deutschen Überfalls auszuarbeiten. Im Laufe der Erörterung dieser Frage gelangte man zu dem Schluss, dass eine Tarnung der Vorbereitungen notwendig sei: Die Vorbereitung des Krieges sollte unter dem Deckmantel vorgetäuschter Aktionen zur Umsetzung des Plans „Seelöwe“, d. h. der Landung auf den britischen Inseln betrieben werden. Hierzu wurde angedacht, eine große Anzahl von Einheiten der deutschen Kriegsmarine in französische und deutsche Nordseehäfen zu verlegen sowie Verbände der Luftwaffe auf französischen Flughäfen zu konzentrieren. So musste die Truppenkonzentration an der sowjetisch-deutschen Grenze wie ein Ablenkungsmanöver für die Operation „Seelöwe“ aussehen. Diese auf der Sitzung ausgearbeiteten Vorschläge wurden Keitel und Jodl zugeleitet, die sie anschließend Hitler vortrugen. Lahousen teilte mir mit, dass der von uns vorgeschlagene Plan im Wesentlichen von Hitler bestätigt und zur Ausführung freigegeben worden war. Die Aussage habe ich selbst verfasst. Stolze Aussage aufgenommen von: Offizier der Gegenspionage, Oberstleutnant Buraschnikow34 Militärübersetzer: Hauptmann Kopeljanskij35 Quelle: CA FSB, Bestand K-1, Findbuch 4, Akte Nr. 18, Bl. 332–335. Maschinenschriftliches Original. Russische Übersetzung aus dem Deutschen.
32 Hasso von Wedel (1898–1961), Generalmajor, seit 1914 Berufssoldat, 1924–1926 Generalstabausbildung, 1938 Pressechef der Abteilung Inland im OKW, seit 1939 Leiter der neugebildeten Abteilung (später Amtsgruppe) Wehrmachtpropaganda im OKW. 1945–1946 in alliierter Kriegsgefangenschaft. 33 Friedrich Rudolf (1892–1966), Oberst, bis 1939 Leiter der Abwehrnebenstelle Köln, 1940–1944 Leiter der Abwehrstelle Paris, dann Verbindungsoffizier der Abwehr im Wehrmachtsführungsstab. 34 Nikolaj N. Burašnikov (1900–1978), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1946 stellv. Chef der 2. Abteilung der „Smerš“, 1948 zum Oberst befördert. 35 Danil D. Kopeljanskij (1918–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1941 bei der Staatssicherheit, in verschiedenen Dienststellungen bei der „Smerš“ und der 3. Hauptverwaltung der MGB der UdSSR, 1944–1946 Untersuchungsführer beim Referat I der 2. Abteilung der „Smerš“, im März 1951 in die Reserve entlassen.
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2.4 Aussage von Generalleutnant Franz Bentivegni36 – ehemaliger Leiter der Abteilung Abwehr-3 „Abwehr“ des Amtes Ausland/ Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, Moskau, 28. Dezember 1945 Von den Vorbereitungen eines militärischen Überfalls auf die Sowjetunion erfuhr ich das erste Mal im August 1940 vom Leiter der deutschen Aufklärung und Abwehr, Admiral Canaris. In einem inoffiziellen Gespräch, das in seinem Dienstzimmer stattfand, teilte mir Canaris mit, dass Hitler Maßnahmen einleite, um einen Feldzug nach Osten vorzubereiten. Hitler hatte darüber bereits 1938 bei seinem Auftritt auf dem Berliner Treffen der Gauleiter gesprochen. Weiter sagte mir Canaris, dass diese Vorstellungen Hitlers nun reale Formen annähmen. Das sei daran erkennbar, dass viele deutsche Divisionen aus dem Westen an die Ostgrenzen verlegt würden. Einem Sonderbefehl Hitlers entsprechend, bezogen sie dort bereits die Ausgangspositionen für den bevorstehenden Einmarsch nach Russland. Am Ende des Gesprächs wies mich Canaris ausdrücklich auf das unbedingte Geheimhalten seiner Äußerungen über die Pläne zur Vorbereitung eines Überfalls auf die Sowjetunion hin. Ungefähr im Oktober 1940 unterrichtete mich Canaris erneut in einem inoffiziellen Gespräch darüber, dass Feldmarschall Brauchitsch und General Halder auf Hitlers Befehl einen Plan über die Vorbereitungen für einen Krieg gegen die UdSSR ausarbeiteten. Dass alle Maßnahmen zur Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion den Namen „Plan Barbarossa“ trugen, äußerte Canaris mir gegenüber damals nicht. Diese Bezeichnung erfuhr ich erst einige Zeit später aus anderen Informationsquellen. Aus den die dienstlichen Schriftstücken, die durch meine Hände gingen, wurde ersichtlich, wie sich die Planungen, über die mir Canaris berichtet hatte, schrittweise entwickelten, wie weitere Truppen in den Osten nahe an die sowjetisch-deutsche Grenze verlegt und Materiallager eingerichtet wurden, die große Mengen an Nahrungsmitteln, Kriegsgerät und anderer Heeresausrüstung enthielten. In diesem Zusammenhang erhielt ich noch im November 1940 von Canaris die Anweisung, mit der Abwehrtätigkeit in den Gebieten, in denen die deutschen Truppen an der sowjetisch-deutschen Grenze zusammengezogen worden waren, zu beginnen. Entsprechend dieser Anweisung übergab ich die Aufgabe, die Abwehraktivitäten zu verstärken, an die Außenstellen der deutschen Aufklärung und Abwehr, d. h. an die Abwehrstellen Königsberg, Krakau, Breslau, Wien, Danzig und Posen. Auf diese
36 Franz-Eccard von Bentivegni (1896–1958), Generalleutnant, Berufssoldat seit 1915, 1928–1932 Generalstabsausbildung, 1939–1944 Chef der Abwehrabteilung III (Spionageabwehr), seit Frühjahr 1944 Führer der 170. Infanteriedivision betraut, geriet im März 1945 sowjetische Kriegsgefangenschaft. Als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und 1955 entlassen.
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Weise war ich seit November 1940, obwohl ich noch nicht offiziell über den bevorstehenden Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion informiert worden war, in die Vorbereitungen dieses Krieges einbezogen.37 Offiziell wurde ich erst Ende Januar oder Anfang Februar 1941 auf einer der regelmäßigen Besprechungen bei Canaris über die Vorbereitungen auf den Krieg gegen die Sowjetunion in Kenntnis gesetzt. Am Ende der Sitzung forderte Canaris die Abteilungsleiter auf, zu bleiben und teilte uns mit, dass entsprechend der Informationen, die er von Feldmarschall Keitel erhalten hatte, Hitler den Befehl zur Vorbereitung der deutschen Streitkräfte auf einen Krieg gegen die Sowjetunion erteilt hatte. Die Vorbereitungen sollten Anfang Mai 1941 abgeschlossen sein. In diesem Zusammenhang forderte Canaris auch innerhalb der Abwehr mit den Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion zu beginnen, entsprechend konkreter Aufgaben, die jeder Abteilungsleiter persönlich erhalten würde. Gleichzeitig wies Canaris auf die absolute Geheimhaltung dieser Mitteilung hin. An dieser geheimen Besprechung nahmen folgende Personen teil: Admiral Bürkner, Leiter der Abteilung Ausland und Stellvertreter von Canaris, der Leiter der Abteilung Abwehr-1, Oberst, später dann General, Piekenbrock, der Leiter der Abteilung Abwehr-2, Oberst Lahousen, der Leiter der Zentralabteilung, der auch gleichzeitig Stabschef von Canaris war, Oberst Oster38 und ich. Im Mai 1941 kam Oster in mein Dienstzimmer und übergab mir zur Information einen schriftlichen Befehl der Operationsabteilung des Generalstabs39, nach dem Maßnahmen zur verstärkten Kontrolle der telefonischen und telegrafischen Verbindungen mit den neutralen Staaten und innerhalb Deutschlands auszuarbeiten waren. Der Befehl trug den Stempel „zur Erfüllung des Plans Barbarossa“. Als er mir den Befehl aushändigte, erläuterte mir Oster, dass der „Plan Barbarossa“ alle Maßnahmen umfasse, die mit den Vorbereitungen des Krieges gegen die Sowjetunion verbunden seien. Der Befehl war vom Stellvertretenden Chef des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht, General Warlimont, unterzeichnet. Auf Grund meiner Dienststellung war es mir nicht möglich, mich mit dem „Plan Barbarossa“ vertraut zu machen. Dennoch war mir sein Inhalt durch einzelne mündli-
37 Die Kriegsorganisation der Abwehr umfasste auch Büros in den neutralen und Satellitenstaaten, deren Effizienz unterschiedlich bewertet wird. 38 Hans Oster (1887–1945), Generalmajor, seit 1907 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, 1932 Entlassung wegen Verstoßes gegen Ehrenkodex, 1933 Zivilangestellter in der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums, 1935 als Offizier wiedereingesetzt, Leiter der Zentralabteilung im Amt Abwehr, Anhänger des nationalkonservativen Widerstandes, 1943 nach Verdacht beurlaubt, Entlassung aus der Wehrmacht, Festnahme nach dem Attentat vom 20. 7. 1944, 9. 4. 1945 Hinrichtung im KZ Flossenbürg. 39 So wörtlich im russischen Manuskript. Es ist unklar, ob Warlimont den Befehl autorisierte oder ob hier eine falsche Übersetzung vorliegt und der Wehrmachtführungsstab des OKW gemeint ist. Letzteres wäre grundsätzlich logischer, vgl. die Ausführungen von Warlimont.
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che und schriftliche Berichte, die dienstlichen, aber auch außerdienstlichen Charakter hatten, bekannt. Von diesen Berichten gab es viele, so dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann. Mir war aber bekannt, dass der „Plan Barbarossa“ sämtliche Vorbereitungen – militärischer, wirtschaftlicher und politischer Art – auf einen Krieg gegen die UdSSR umfasste. Was die von mir geleitete Abteilung Abwehr-3 betrifft, so erhielt ich im März 1941 von Canaris folgende Anweisungen für Vorbereitungen zur Durchführung des „Plans Barbarossa“: a) Die Vorbereitung aller Gruppen der Abteilung Abwehr-3 auf die Durchführung aktiver Gegenspionageaktivitäten gegen die Sowjetunion, wie z. B.: Aufstellung der notwendigen Abwehrtruppen, ihre Verteilung auf die für Aktivitäten an der Ostfront vorgesehenen Kampfverbände, sowie die Lähmung der Aktivitäten der sowjetischen Spionage- und Gegenspionageorgane. b) Die [gezielte] Desinformation der ausländischen Geheimdienste durch unser Agentennetz, konkret das Vorspiegeln des Eindrucks einer Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion, und dass ein militärisches Vorgehen gegen Großbritannien vorbereitet werden würde. c) Abwehrmaßnahmen zur Geheimhaltung der laufenden Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion, Absicherung der Geheimhaltung bezüglich der Truppenverschiebungen gen Osten. Im Mai 1941 waren von meiner Seite die Vorbereitungen abgeschlossen, alle befohlenen Maßnahmen umzusetzen, die für die militärische Abwehr im Rahmen der Durchführung des „Plans Barbarossa“ vorgesehen waren. Darüber trug ich Feldmarschall Keitel in Anwesenheit von Canaris persönlich vor. Keitel befand meine Arbeit in diesem Zusammenhang für gut. Diese Aussage habe ich selbst verfasst. von Bentivegni Die Aussage hat entgegengenommen: Offizier der Gegenspionage, Major Kuzmischin40 Militärübersetzer: Leutnant Bubnow41 Quelle: CA FSB, Bestand K-1, Findbuch 4, Akte 18, Bl. 328–331. Maschinenschriftliches Original. Russische Übersetzung aus dem Deutschen.
40 Aleksandr N. Kuz’mišin (1911–1977), seit 1939 sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1943–1948 zunächst leitender Operativbevollmächtigter, dann Referatsleiter bei der 2. Abteilung der „Smerš“, nachfolgend der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB, 1948–1949 leitender Ermittler der Untersuchungsabteilung des MGB, 1965 aus Krankheitsgründen in den Ruhestand. 41 Bubnov (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1945–1947 Übersetzer und Operativbevollmächtigter des Referats 4 der 3. Hauptverwaltung des MGB.
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2.5 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt42, Moskau, 12. Januar 1948 [Auszug] Verhörprotokoll des Generalobersten der ehemaligen deutschen Armee Schmidt, R. […] Frage: Berichten Sie über Ihre Beteiligung an den Vorbereitungen Deutschlands zu einem Krieg gegen die Sowjetunion. Antwort: Anfang Januar 1941 waren das XXXIX. Panzerkorps43 unter meiner Führung – zu dem auch die SS-Division „Totenkopf“ gehörte – sowie die 7. und die 20. Panzerdivision in Frankreich im Gebiet Pyrenäen-Bordeaux an der Atlantikküste stationiert. Die Truppen befanden sich in der Ausgangsposition, um, entsprechend dem Befehl des deutschen Oberkommandos überraschend durch Spanien zu ziehen und Gibraltar einzunehmen. Anfang April 1941 kam der Oberquartiermeister I des Generalstabs des Heeres, Generalleutnant Paulus, in meinen Stab, der in Pila am Ufer des Golfs von Biskaya stationiert war, und teilte mir mit, dass die Operation zur Eroberung von Gibraltar verschoben sei und meine Truppen, entsprechend des Befehls Hitlers an den Vorbereitungen zum Überfall auf die Sowjetunion teilnehmen würden. Während der Erörterung dieser Frage erzählte Paulus mir, dass der Plan des Überfalls auf die UdSSR bereits vom Generalstab erarbeitet sei und als „Plan Barbarossa“ bezeichnet werde. Ich hielt diese Maßnahme für sinnlos, denn es war zunächst nötig, den Krieg gegen England erfolgreich zu beenden. So bat ich Paulus, auf den Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Brauchitsch, Einfluss zu nehmen, damit er mit Hitler spräche, um ihn davon zu überzeugen, dass es verfrüht sei, gleichzeitig die Operation „Seelöwe“ und den „Plan Barbarossa“ durchzuführen. Paulus versprach mir, Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Dennoch erhielt ich bald den Befehl, die Truppen nach Thüringen zu verlegen, wo ich mit dem Korps am 5. Mai 1941 ankam. Nach Vorbereitungsübungen auf dem Übungsgelände von Ölendorf44 wurde das XXXIX. Korps
42 Rudolf Schmidt (1886–1957), Generaloberst, seit 1906 Berufssoldat, zunächst Infanterist, dann Ausbildung zum Nachrichtenoffizier, 1917/18 Generalstabsausbildung, in der Reichswehr zahlreiche Stabsverwendungen, u. a. 1931 Chef des Stabes der Inspektion der Nachrichtentruppen und 1932 Kommandeur der Offiziers-Lehrgänge an der Kriegsakademie, 1937 Oberkommando der 1. PanzerDivision, 1940 Kommandierender General des XXXIX. Armeekorps, Ende 1941 kurzfristig Führung der 2. Armee vor Moskau, zusätzlich Oberkommando der 2. Panzerarmee, im April 1943 nach Kritik an der Führung des Krieges im Osten durch Hitler von seinem Posten abgezogen und im Juli in die Führerreserve versetzt, im September 1943 aus der Wehrmacht entlassen. 1947 auf einer Reise in die SBZ verhaftet und in die Sowjetunion überstellt, dort 1952 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt, 1955 entlassen. 43 Das XXXIX. Armeekorps (mot.) wurde erst 1942 in XXXIX. Panzerkorps umbenannt. 44 Heute Gemeinde Neukirchen in Ostholstein, gemeint ist aber der Truppenübungsplatz Ohrdruf am Nordrand des Thüringer Waldes.
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am 10. Juni 1941 nach Lötzen (Ostpreußen) verlegt. Ich begriff, dass der Zeitpunkt zum Auftakt der Kriegshandlungen gegen die UdSSR nahte. Frage: Zu welcher Heeresgruppe gehörte das XXXIX. Panzerkorps? Antwort: Das XXXIX. Panzerkorps gehörte zur Panzergruppe 3 von Generaloberst Hoth45. Diese Panzergruppe und die Panzergruppe 2 von Generaloberst Guderian gehörten zur 12. Armee46 von Generaloberst Strauß47, die der Heeresgruppe „Mitte“ unterstand, welche von Generalfeldmarschall von Bock48 befehligt wurde. Frage: Welche operativen Aufgaben hatten Sie im „Plan Barbarossa“ zu übernehmen? Antwort: Kurz nachdem ich in Lötzen angekommen war, wurden der Kommandeur des XXXXI. Panzerkorps, Reinhardt49 und ich zum Befehlshaber der Panzergruppe 3, Generaloberst Hoth gerufen. Er erläuterte uns die allgemeinen operativen Aufgaben, die die Panzergruppe 3 beim Überfall auf die Sowjetunion übernehmen sollte. Zu diesen Aufgaben gehörte: Durchbruch über die Memel in Richtung Vilnius und anschließend Angriff auf Witebsk. Die Panzergruppe 2 von Guderian, die südlich von der Panzergruppe 3 lag, sollte einen Durchbruch in Richtung Smolensk realisieren. Beide Panzergruppen sollten schnell vordringen, um den Weg für den Vormarsch der Armee von Strauß frei zu machen. In diesem Zusammenhang bestand die Aufgabe
45 Hermann Hoth (1885–1971), Generaloberst, seit 1904 Berufssoldat, 1910–1913 Generalstabsausbildung, ab 1914 in Stabsverwendungen, 1938 Kommandeur des XV. Armeekorps (mot.), 1940 in Panzergruppe 3 umbenannt, im Oktober 1941 Oberbefehlshaber der 17. Armee, im Juni 1942 der 4. Panzerarmee, vergeblicher Versuch des Entsatzes der 6. Armee in Stalingrad, Ende 1943 nach Niederlage am Dnepr von Hitler seines Kommandos enthoben, April 1945 „Befehlshaber Saale“, später „Befehlshaber Erzgebirge“. Seit 1945 in alliierter Kriegsgefangenschaft, im Nürnberger OKW-Prozess 1949 zu 15 Jahren Haft verurteilt, 1954 entlassen. 46 Hier ist die 9. Armee gemeint, die Panzergruppe 2 unterstand der 4. Armee. 47 Adolf Strauß (1879–1973), Generaloberst, seit 1898 Berufssoldat, 1910–1913 Generalstabsausbildung, 1938 Kommandierender General des II Armeekorps, 1940 Oberbefehlshaber der 9. Armee, 1942 aus gesundheitlichen Gründen in die Führerreserve, 1944 Leiter des Festungsbaus im Osten. 1945– 1948 in britischer Kriegsgefangenschaft. 48 Fedor von Bock (1880–1945), Generalfeldmarschall, seit 1898 Berufssoldat, 1910–1913 Generalstabsausbildung, 1939 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, dann der Heeresgruppe B, 1941 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, nach dem Abzugsbefehl vor Moskau seines Kommandos enthoben, 1942 Oberbefehlshaber Heeresgruppe Süd, Juli 1942 von Hitler seines Kommandos enthoben, bis zum Kriegsende in der Führerreserve, Anfang Mai 1945 bei britischem Tieffliegerangriff in Holstein tödlich verwundet. 49 Georg-Hans Reinhardt (1887–1963), Generaloberst, seit 1907 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, ab 1938 Kommandeur der 4. Panzer-Division, 1940 kommandierender General des XXXXI. Armeekorps, ab Oktober 1941 Oberbefehlshaber der Panzergruppe 3, ab August 1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, im Januar 1945 nach Niederlage an der Weichsel von Hitler seines Kommandos enthoben. Seit 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1949 im Nürnberger OKW-Prozess zu 15 Jahren Haft verurteilt, 1952 entlassen.
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des XXXIX. Panzerkorps darin, über Suwalki-Alytus-Vilnius und Molodetschno nach Witebsk vorzudringen. Das XXXXI. Panzerkorps, das nördlich des XXXIX. agierte, sollte in Richtung des südlichen Teils der Dwina und nördlich der Stadt Ula vordringen. Die Vorbereitungen der beiden Korps zum Angriff sollten aus Gründen der Tarnung entlang der alten deutschen Grenze geschehen. Für das XXXIX. Panzerkorps war das Gebiet Lötzen-Lyck-Goldap vorgesehen. Alles sollte so vorbereitet werden, dass mit der Bekanntgabe des entsprechenden Tages das Korps schnell die Ausgangsstellungen an der Grenze beziehen konnte. Das vorgesehene Gebiet für das XXXIX. Panzerkorps befand sich östlich der Stadt Suwalki an der neuen deutschen Grenze. Als Angriffsdatum wurde der 20. Juni 1941 genannt. Bis zu diesem Datum sollten alle Vorbereitungen abgeschlossen sein. Frage: Wann erfuhren Sie das genaue Datum des Angriffs auf die Sowjetunion? Antwort: Am 18. Juni 1941 rief der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Brauchitsch, in Arys eine Sitzung aller Korpsbefehlshaber der Armee Strauß sowie der Panzergruppen Hoth und Guderian ein. Auf dieser Versammlung teilte Brauchitsch mit, dass der Überfall auf die Sowjetunion auf den 22. Juni 1941, vier Uhr nachts, festgesetzt ist. Frage: Welche Anweisungen erhielten Sie bezüglich des Umgangs mit sowjetischen Kriegsgefangenen und mit der Zivilbevölkerung? Antwort: Auf der genannten Versammlung am 18. Juni 1941 übermittelte Brauchitsch den Befehl Hitlers bezüglich des Umgangs mit gefangenen Kommissaren der Roten Armee. Der Befehl lautete: Kommissare der Roten Armee, die in Gefangenschaft geraten, sollen von den anderen Gefangenen isoliert werden, verhört werden und für den Fall, dass sie nicht an höherer Stelle verhört werden müssen, sind sie zu erschießen. Andere Befehle, außer den des Angriffsdatums und den bezüglich der Erschießung der Kommissare der Roten Armee, wurden nicht erteilt. Frage: Wie entwickelten sich die Operationen Ihrer Truppen nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941? Antwort: Am 22. Juni 1941 um vier Uhr morgens überquerte das XXXIX. Panzerkorps, das aus der 7. Panzerdivision von Generalleutnant von Funck50, der 20. Panzerdivision
50 Hans von Funck (1891–1979), General der Panzertruppe, Jurastudium, seit 1914 Berufssoldat, 1924– 1927 Generalstabsausbildung, 1933–1936 1. Adjutant des Chefs der Heeresleitung, 1936 Militärattaché bei Franco, 1939 Kommandeur des Panzer-Regiments 5, dann der 3. Panzer-Brigade, 1941 Einsatz in Nordafrika, dann Kommandeur der 7. Panzerdivision, 1944 Kommandierender General des XXXXVII. Panzerkorps, im September 1944 Führerreserve. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
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von Generalleutnant Stumpff51 und der 20. Infanteriedivision (mot.) von Generalleutnant Zorn52 bestand, die Grenze im Gebiet von Suwalki, drang auf das Territorium der Sowjetunion vor und begann die Kampfhandlungen gegen die Rote Armee. Die Spitze des Korps befand sich südlich der Stadt Mariampol und stieß in das Gebiet von Alytus am rechten Ufer der Memel vor. Es hatte den Befehl in Richtung Vilnius vorzudringen, es einzunehmen und so schnell wie möglich weiter in Richtung Witebsk zu gelangen. Nördlich des XXXIX. Panzerkorps bewegte sich das XXXXI. Panzerkorps des Generals der Panzertruppen Reinhardt, das ebenfalls zur Panzergruppe 3 gehörte. Südlich davon hatten die Panzergruppe 3 Hoths und die Panzergruppe 2 Guderians vorzurücken. Das Gesamtziel der Offensive war, Minsk und Smolensk einzunehmen. Frage: Hat etwa die SS-Division „Totenkopf“ nicht im Bestand des XXXIX. Panzerkorps am Überfall auf die Sowjetunion teilgenommen? Antwort: Die SS-Division „Totenkopf“ hat nicht im Bestand des XXXIX. Panzerkorps am Überfall auf die Sowjetunion teilgenommen. Diese Division wurde am Vorabend der Kriegshandlungen an der sowjetisch-deutschen Grenze meinem Befehl entzogen. Frage: Berichten Sie weiter über ihre Teilnahme an der Besetzung des sowjetischen Territoriums. Antwort: In der zweiten Tageshälfte des 22. Juni 1941 erreichten meine drei Divisionen die Memel auf beiden Seiten der Stadt Alytus. Der Stab des Korps befand sich im Wald westlich von Alytus. Die 7. Panzerdivision überquerte auf einer intakten Brücke die Memel zum rechten Ufer, wo sie auf starken Widerstand durch Panzerdivisionen des Gegners stieß. Am 23. Juni setzten die 7. und die 20. Panzerdivision den Vorstoß in Richtung Vilnius fort. Die 20. Infanteriedivision (mot.) folgte ihnen auf der linken Seite als zweite Staffel. Am Abend des 23. Juni besetzte das XXXIX. Korps einen Teil von Vilnius. Am 24. Juni war es vollständig unter Kontrolle. Ich selbst befand mich bei der 7. Panzerdivision. Der Stab des Korps lag in Vilnius. Das Oberkommando hatte Pläne, möglichst schnell Minsk zu erobern, weil es ein zentraler Ort war. Zu diesem Zweck erhielten die 7. und 20. Panzerdivision den Befehl, sich nicht zu lange in Vilnius aufzuhalten, sondern in Richtung Minsk weiterzustoßen, denn die Panzergruppe von Guderian, die früher in den Kampf eingetreten war, kam nur langsam voran.
51 Horst Stumpff (1887–1958), General der Panzertruppe, seit 1907 Berufssoldat, 1938 Kommandeur der 3. Panzer-Brigade, 1939 der 3. Panzer-Division, 1940 der 20. Panzerdivision, im Oktober 1941 in die Führerreserve versetzt, seit 1942 beim Ersatzheer. 52 Hans Zorn (1891–1943), General der Infanterie, seit 1911 Berufssoldat, 1921–1923 Generalstabsausbildung, seit 1923 Stabsverwendungen, 1940–1942 Kommandeur der 20. Infanterie-Division (mot.), 1942–1943 Kommandierender General des XXXXVI. Panzerkorps, am 2. 8. 1943 durch Fliegerangriff bei Orel gefallen.
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Die 7. und die 20. Panzerdivision sollten von Vilnius aus scharf nach Südosten in Richtung Minsk vorrücken, während gleichzeitig die in der zweiten Staffel folgende 20. Infanteriedivision (mot.) damit beginnen sollte, die Städte Molodetschno und Lepel zu erobern, um dann weiter in Richtung Witebsk vorzudringen. Am Abend des 25. Juni erreichte die 20. Panzerdivision, bei der ich mich aufhielt, einen Ort nordöstlich von Minsk. Der Stab wurde im Wald nordwestlich von Minsk errichtet. Die 7. Panzerdivision sollte Minsk vom Norden her umgehen, die Autobahn Minsk-Smolensk erreichen und eine Übersetzstelle über den Fluss Beresina im Gebiet von Borissow erobern. Nordwestlich und nördlich von Minsk gab es kleinere Zusammenstöße mit dem Gegner. Am 26. Juni gelang es der 20. Panzerdivision von Nordosten her in Minsk einzudringen und im Zusammenwirken mit der aus Südwesten vordringenden 12. Panzerdivision von Generalleutnant Harpe53, der an diesem Tag meinem Korps angehörte, nach schweren Kämpfen die Stadt zu erobern. Die 7. Panzerdivision traf am 26. Juni nordöstlich von Minsk sowie an der Autobahn östlich der Stadt auf starke Gegenangriffe des Gegners und befand sich kurzfristig in einer schwierigen Lage, weil sie beinahe eingekesselt war. Teile der 20. Panzerdivision sollten sie aus der Umklammerung befreien. Darüber hinaus erhielt das XXXIX. Panzerkorps von Generaloberst Hoth den Befehl, am 27. Juli mit der 7. und der 20. Panzerdivision den Angriff in bisheriger Richtung (Lepel-Witebsk) fortzusetzen. Am 27. Juni begannen wir damit, diesen Befehl umzusetzen. Die Besetzung von Minsk war der 12. Panzerdivision übertragen worden, die die 7. Panzerdivision ablöste, die bis zur zerstörten Übergangsstelle an der Beresina im Gebiet von Borissow vorgedrungen war. Gleichzeitig wurde die 12. Panzerdivision der Panzergruppe von Guderian unterstellt. Frage: Mit welchen operativen Aufgaben wurden Sie nach der Eroberung von Minsk betraut? Antwort: Am 27. Juni flog ich an das westliche Ufer der Beresina im Gebiet von Lepel. Dort baute die 20. Infanteriedivision (mot.) eine Brücke über die Beresina und errichtete eine Befestigungsanlage vor der Brücke. Der Stab befand sich im Wald am westlichen Flussufer. Bis zum 1. Juli rückten zwei meiner weiteren Divisionen heran und überquerten den Fluss.
53 Josef Harpe (1887–1968), Generaloberst, seit 1909 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, 1931–1933 Leiter der deutsch-sowjetischen Panzerschule Kama in Kasan, 1937 Kommandeur der Panzerbrigade 1, 1940 der 2. Infanteriedivision (mot.), seit 1941 12. Panzerdivision, 1942 Kommandierender General des XXXXI. Panzerkorps, 1943 Oberbefehlshaber der 9. Armee, im September 1944 der Heeresgruppe Nordukraine, Januar 1945 von Hitler nach Niederlage an der Weichsel abgelöst, im März 1945 Oberbefehlshaber der 5. Panzerarmee. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft.
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Am 1. Juli 1941 erhielt das XXXIX. Panzerkorps von Generaloberst Hoth den Befehl, mit zwei Divisionen auf das rechte Ufer der westlichen Düna überzusetzen, um Witebsk von Norden her anzugreifen. Gleichzeitig sollte eine der Divisionen des Nachbarkorps südlich der westlichen Düna vorrücken, um Witebsk von Süden her anzugreifen. Des Weiteren erhielt das Korps die Mitteilung, dass die 12. Panzerdivision den Befehl erhalten hatte, von Borissow aus weiterzumarschieren, das Gebiet zwischen Orscha und Witebsk zu erobern, und dass die 12. Panzerdivision erneut meinem XXXIX. Panzerkorps angeschlossen wird. Der Befehlsstab befand sich südlich der Stadt Ula, 50 km westlich von Witebsk, im Wald. Das XXXXI. Korps in unserer Nachbarschaft war nördlich vom XXXIX. Korps stationiert und besetzte unweit hinter meinem Korps die Frontlinie. Die Panzergruppe von Guderian, die sich südlich der Autobahn, die nach Smolensk führt, aufhielt, bewegte sich nur langsam vorwärts. Das führte dazu, dass das XXXIX. Panzerkorps, das bereits weit vorgerückt war, von den anderen deutschen Truppen abgeschnitten wurde. Die 20. Division des Panzerkorps im Gebiet von Ula und die 20. Infanteriedivision (mot.), die südöstlich dieser Stadt lag, überquerten bei schweren Kämpfen die westliche Düna. Die 7. Panzerdivision rückte südlich der westlichen Düna auf Witebsk vor. Südlich von dieser Division griff die 12. Panzerdivision in Richtung der Straße zwischen Witebsk und Orscha an. Alle Divisionen waren in schwere Kämpfe verwickelt, denn der Widerstand des Gegners nahm enorm zu. Die 7. und die 12. Panzerdivision gerieten dabei mehrmals in gefährliche Situationen. Diese Kämpfe hielten vom 3. bis 10. Juli an, bis Witebsk von unseren Truppen eingenommen war. Dabei wurde auch die Eisenbahnbrücke eingenommen, die der Gegner nicht mehr hatte zerstören können. Trotz dieser schweren Kämpfe konnte das XXXIX. Korps im Vergleich zu anderen Truppen seine Position weit vorne halten. Nach der Einnahme von Witebsk erhielt das Panzerkorps von Generaloberst Hoth den Befehl, von Demidow aus nach Duchowschtschina durchzubrechen und von dort aus in Teilen den Dnjepr-Bogen [an der Mündung des Wop, eines rechten Nebenflusses des Dnjepr] zu erreichen, um die Verbindungslinien des Gegners abzuschneiden, der sich bei Smolensk befand und mit Moskau in Kontakt stand. Hier sollten sich die angreifenden Truppen mit der Panzergruppe von Guderian vereinigen. Der Befehlspunkt befand sich an einer Einfallsstraße nach Demidow im Wald. In schweren Kämpfen, während derer das Kriegsglück ständig die Seiten wechselte, wurde diese Aufgabe erfüllt. Das XXXIX. Panzerkorps traf am Wop auf starke Gegenangriffe des Gegners und ging daher zur Verteidigung über, wobei es die Frontstellung entlang der Autobahn und südlich bis zum Dnjepr und in Richtung von Smolensk und Moskau einnahm. Am 13. Juli befand sich der Befehlsstützpunkt in Demidow. Diese Kämpfe endeten Ende August, nach der Einnahme von Smolensk und der Gefangennahme der dortigen gegnerischen Kräfte.
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2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure
Am 15. August 1941 erhielt das XXXIX. Korps, dessen Befehlsstützpunkt sich nordwestlich von Duchowschtschina (Dorf Wedenje) im Wald befand, von Generaloberst Hoth den Befehl, im Verbund mit der 12. Panzerdivision von Generalleutnant Harpe und der 20. Infanteriedivision (mot.) von Generalleutnant Zorn zu kämpfen. Wir sollten unsere Truppen von der Front abziehen und westlich von Duchowschtschina konzentrieren, um dann durch Witebsk in das Gebiet von Nowgorod am Ilmensee vorzudringen, wo mein XXXIX. Korps der 8. Armee von Generaloberst Busch unterstellt werden sollte, die zur Heeresgruppe „Nord“ von Generalfeldmarschall von Leeb54 gehörte. Frage: Für welche operativen Aufgaben wurde Ihr XXXIX. Panzerkorps der Heeresgruppe „Nord“ unterstellt? Antwort: Mir wurde gesagt, dass das XXXIX. Korps anscheinend am Angriff auf Leningrad teilnehmen sollte. Frage: War denn die Frage bezüglich des Angriffs auf Leningrad da etwa noch nicht entschieden? Antwort: Bis Mitte Juli 1941 existierten, soweit ich weiß, diesbezüglich zwei Meinungen im Stab von Hitler. Die Meinung Hitlers, Keitels und Jodls lief darauf hinaus, dass mit den Hauptkräften der Angriff auf Moskau fortgesetzt werden sollte, während gleichzeitig ein anderer Teil vorher Leningrad einzunehmen hatte. Halder und Brauchitsch waren anderer Meinung. Sie wollten alle Kräfte für die Einnahme von Moskau einsetzen. Die weiteren Ereignisse entwickelten sich entsprechend der ersten Handlungsvariante des Führerhauptquartiers, wodurch die Streitkräfte zersplittert wurden. Das Auseinanderbrechen der Truppen steigerte sich noch, nachdem zahlreiche Verbände in das Gebiet von Kiew abgezogen worden waren, wo der Gegner erbitterten Widerstand leistete und unsere Truppen im Kampf aufrieb. Frage: Nennen Sie die Regimenter und Namen der Kommandeure, die Ihnen vor der Zuordnung zur Heeresgruppe „Nord“, unterstellt waren. Antwort: Es ist schon so lange her, dass ich nicht alle Regimenter sowie die Namen ihrer Kommandeure benennen kann, sondern nur die, die mir im Gedächtnis geblieben sind:
54 Wilhelm von Leeb (1876–1956), Generalfeldmarschall, seit 1895 Berufssoldat, 1903–1906 Generalstabsausbildung, 1915 Erhebung in den persönlichen Adel als Auszeichnung, Stabsverwendungen, Regimentskommandeur, Wehrkreis- und Gruppenkommando-Befehlshaber, 1938 in den Ruhestand versetzt, 1939 reaktiviert, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, 1941 der Heeresgruppe Nord, Anfang 1942 nach von Hitler missbilligten Rückzug bei Tichvin in die Führerreserve versetzt. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft, 1949 im Nürnberger OKW-Prozess zu 3 Jahren Haft verurteilt, die durch die Gefangenschaft als verbüßt galten.
2.6 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen
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[Es folgen 19 Namen von Offizieren.] Das Protokoll entspricht der Wahrheit und wurde mir in der deutschen Übersetzung vorgelesen. Schmidt Es verhörte: Vertreter des Leiters der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, Waindorf55 Übersetzer: Übersetzer der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, Gardeleutnant Smirnizkij56 Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21139, Bd. 1, Bl. 153–168. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
2.6 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen57, Moskau, 29. August 1951 Hansen, Erik, geboren 1889 in Hamburg, Deutscher, parteilos, ehemaliger Leiter der Militärmission in Rumänien und deutscher Vertreter beim rumänischen Oberkommando Das Verhör wird auf Deutsch von dem Übersetzer der Untersuchungsabteilung, 2. Hauptabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, Frau Unterleutnant Egorowa58 durchgeführt. Sie ist über die Folgen einer falschen Übersetzung nach Paragraph 95 des Strafgesetzbuches der UdSSR unterrichtet worden.
55 Abram I. Waindorf (1905–1970), seit 1940 sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1944–1945 stellv. Leiter des Referats 4 der „Smerš“-Verwaltung der 3. Pribaltischen Front, 1945–1946 Mitarbeiter der 2. Abteilung der „Smerš“, 1946–1948 stellv. Leiter des Referats 4 der 3. Hauptverwaltung des MGB, 1948–1950 leitender Ermittler bei der Sonderermittlungsabteilung des MGB, 1952 stellv. Referatsleiter bei der Abteilung 2-K (Ermittlungsabteilung) der 2. Hauptverwaltung des MGB, im gleichen Jahr in die Reserve entlassen. 56 Vladimir M. Smirnickij (1924–1988), seit 1944 sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1944–1947 Gehilfe des Operativbevollmächtigten, Übersetzer und später Chefübersetzer der 2. Abteilung der „Smerš“, 1948–1952 Ermittler bei der Untersuchungsabteilung des MGB, später der Abteilung 2-K (Ermittlungsabteilung) der 2. Hauptverwaltung des MGB, 1953–1958 Referatsleiter bei der Untersuchungsverwaltung des KGB. 57 Erik Hansen (1889–1967), General der Kavallerie, seit 1907 Berufssoldat, Generalstabsverwendundungen im 1. Weltkrieg und in der Reichswehr, 1936–1938 im Generalstab des Heeres Chef der Operationsabteilung, dann Kommandeur der 4. Infanterie-Division, seit Oktober 1940 Chef der Deutschen Heeresmission in Rumänien, im Juni 1941 Kommandierender General des LIV. Armeekorps, Anfang 1943 erneut Befehlshaber der Deutschen Heeresmission in Rumänien. August 1944 in rumänische Kriegsgefangenschaft, an die Sowjetunion überstellt, 1952 von einem Moskauer Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1955 entlassen. 58 Egorova (?–?), sowjetische Geheimdienstoffizierin, 1951 Übersetzerin bei der 5. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
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2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure
Egorowa Beginn des Verhöres: 13 Uhr Ende des Verhörs: 21.10 Uhr Frage: Bestätigen Sie die Aussagen, die Sie in den vorangegangenen Verhören gemacht haben? Antwort: Ich bestätige alle meine Aussagen mit der Ausnahme der Aussagen zu drei Punkten. Frage: Warum? Antwort: Meine Aussagen wurden nicht richtig protokolliert. Ich habe sie aus Versehen unterschrieben. Frage: Welche Aspekte Ihrer Aussagen betrifft das? Antwort: 1. In einem vorangegangenen Protokoll wurde vermerkt, dass ich daran beteiligt war, Rumänien als Brückenkopf für den Überfall auf die Sowjetunion vorzubereiten. Diese Aussage widerrufe ich jetzt, denn daran hatte ich keinen Anteil. 2. Im Protokoll vom 5. April 1948 wurde auf die Frage: „Durch die Entfesselung eines weiteren Weltkrieges?“ meine Antwort falsch aufgenommen, nach der ich mit „Genau auf diese Weise“ geantwortet haben soll. Ich habe aber ausgesagt: „Nein, im Gegenteil, auf friedliche Weise.“ Dabei verwies ich auf die Beispiele mit Österreich und der Tschechoslowakei. 3. Im Verhörprotokoll vom 6. Juli 1945 ist festgehalten, dass ich Ende Dezember 1940 einen Auszug aus einem Befehl Hitlers mit dem Arbeitstitel „Fall Barbarossa“ erhielt, worin die Vorbereitungen zum Überfall auf die Sowjetunion bestimmt wurden. Auch das weise ich von mir. Ich erfuhr erst im Juni 1941 vom Überfall auf die UdSSR. Ich betone, dass die Frage über den „Barbarossaplan“ im angegebenen Protokoll vom 6. Juli 1945 nicht richtig wiedergegeben wurde.59 In den weiteren Protokollen aus dem Jahr 1948 hingegen ist diese Frage richtig niedergeschrieben worden. Frage: Ist es möglich, dass sie auch die Aufzeichnungen der Verhörprotokolle nach 1948 bezweifeln? Antwort: Nein, das werde ich nicht tun, denn bezüglich des Barbarossaplans sind die Protokolle seit 1948 richtig. Frage: In diesem Fall legen wir Ihnen die Protokolle Ihrer Aussagen vom 12. April 1948 vor, in denen Sie folgendes ausgesagt haben: „Darüber wurde ich erst später informiert, als ich bereits in Rumänien war. Das war im Dezember 1940, als ich aus dem
59 Hier nicht dokumentiert.
2.6 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen
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Generalstab den Auszug eines Befehls erhielt, der den Titel „Plan Barbarossa“ trug und Anweisungen zur Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR vom rumänischen Brückenkopf aus enthielt […] In diesem Auszug wurde mir aufgetragen, mit Antonescu zu vereinbaren, dass einige deutsche Armeekorps kommen dürften, die für die Invasion in die UdSSR vom rumänischen Brückenkopf aus vorgesehen waren. Das tat ich dann auch. […] Anfang Mai 1941 war der rumänische Brückenkopf für die Invasion der deutschen Truppen vollständig vorbereitet […]“. Was sagen Sie nun? Antwort: Ich bestätige diese Aussagen, allerdings mit folgenden Einschränkungen und Ergänzungen. Zunächst einmal wusste ich im Dezember 1940 nichts über die Vorbereitungen eines Überfalls auf die Sowjetunion. Mir wurde aber zur Kenntnis gegeben, dass es möglicherweise einen solchen Überfall geben würde, weil angeblich die Sowjetunion einen Überfall auf Rumänien plante. D. h. es ging hier nicht um einen provozierenden Überfall auf die UdSSR. So war es in dem Sonderbefehl des Oberkommandos der deutschen Streitkräfte aufgeführt, den ich im Dezember 1940 als Leiter der Militärmission in Rumänien erhielt. Außerdem betone ich, dass es sich dabei nicht um einen Auszug aus einem Befehl, sondern um einen Sonderbefehl handelte, nicht mit dem Stempel „Plan Barbarossa“, sondern „Fall Barbarossa“. Durch diesen Befehl wurde ich verpflichtet, die gesamte Korrespondenz der Mission mit dem Geheimhaltungsstempel „Fall Barbarossa“ zu versehen. Außerdem ging es auch in diesem Befehl nicht um die Vorbereitung Rumäniens als Brückenkopf, sondern um die Konzentration von deutschen Truppen in einem bestimmten Gebiet. Das war aber die Aufgabe von List und nicht meine. Frage: Winden Sie sich nicht heraus! Es ist doch bekannt, dass der „Plan Barbarossa“ nur die Vorbereitung auf einen Überfall Deutschlands auf die UdSSR beinhaltete und nicht irgendwelche Bedingungen eines möglichen Überfalls. Alle Dokumente, die vom Oberkommando kamen und mit dem Stempel „Plan Barbarossa“ versehen waren, waren darauf gerichtet, die Vorbereitung des Überfalls voranzutreiben. Warum streiten Sie das so vehement ab? Antwort: Das bestreite ich doch gar nicht, aber damals wusste ich von diesen Dokumenten nicht. Ich kannte nur den Befehl, den ich mit dem Stempel „Fall Barbarossa“ erhalten hatte und in dem es um einen möglichen deutschen Angriff auf die Sowjetunion ging, um einen Überfall der Sowjetunion auf Rumänien zu verhüten. Über diesen Befehl, d. h. über einen deutschen Überfall auf die Sowjetunion zur Verteidigung Rumäniens, durfte ich noch nicht einmal mit den rumänischen Akteuren sprechen. Ich durfte den Rumänen nur versichern, dass Deutschland Rumänien verteidigten würde, falls die Sowjetunion das Land überfallen würde. Auf dieser Grundlage und um die Anweisungen des Oberkommandos zu erfüllen, bat ich Antonescu um Erlaubnis, deutsche Korps nach Rumänien kommen zu lassen. Antonescu stimmte zu und Mitte Mai 1941 wurde dieser Plan in die Tat umgesetzt. So wurden einige Korps, wenn ich mich nicht irre, drei, nach Rumänien geschafft.
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2 Operation Barbarossa – Die Ebene der Akteure
Ich bitte noch darum, eine weitere Richtigstellung zu äußern. In dem Protokoll, das mir heute vorgetragen wurde, wird genannt, dass „ich, nachdem ich die rumänische Armee kriegsbereit gemacht hatte, zum Befehlshaber eines Korps ernannt wurde, mit dem ich in den Krieg gegen die UdSSR zog“. Ich bitte darum, diese Aussage folgendermaßen zu verstehen: Nachdem ich bei der Ausbildung der rumänischen Armee behilflich gewesen war, wurde ich zum Befehlshaber eines Korps ernannt, mit dem ich dann in den Krieg gegen die UdSSR zog. Frage: Warum widerrufen Sie jetzt wesentliche Aussagen, die Sie gemacht haben? Antwort: Ich widerrufe die gemachten Angaben nicht, dennoch bin ich der Meinung, dass sie niedergeschrieben wurden, ohne alle Ereignisse vollständig darzulegen, über die ich ausgesagt habe. Hansen Das Verhörprotokoll entspricht der Wahrheit und ist mir zum Verständnis ins Deutsche übersetzt worden. Hansen Verhört durch: Stellv. Leiter der 5. Abteilung des Geheimdienstes der 2. Hauptabteilung, Ministerium für Staatssicherheit Major Gontscharow60 Es übersetzte: Frau Unterleutnant Egorowa Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21140, Bl. 171–182. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
60 Gončarov (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1951 im Rang eines Majors stellvertretender Chef der 5. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
3 Der Krieg in der Sowjetunion: Die zweite Hälfte des Krieges 3.1 Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 20. August 1945 Meldung beim Führer 26. 10. 1943. Als Kommandierender General XIX. Geb[irgs-]A[rmee-]K[orps] (Murmansk-Front) wurde ich am 14.10.43. überraschend ins Führerhauptquartier befohlen und mit Sonderflugzeug dorthin (Lötzen) abgeholt. Am 26.10. meldete ich mich in Wolfschanze, als eben die „Lage“-besprechung beim Führer beendet war und etwa 2 D[u]tz[end] Offiziere den Führerbunker verließen, darunter Zeitzler, Kreipe1, Buhle, Scherff; auch Botschafter Hewel2, SS Gr[ruppen]f[ührer] Fegelein usw. Keitel, Jodl und Schmundt hatten noch ein kurzes persönliches Gespräch mit dem Führer, bis ich gerufen wurde. Dann wurde ich zu Adolf Hitler gerufen, der mich herzlich begrüßte und die drei Offiziere verabschiedete. Ich hatte Hitler seit Herbst 1939 nicht mehr gesehen. Er schien mir gealtert, ging auch etwas gebeugt; seine Ausdrucksweise war aber frisch und energisch, noch entschiedener als früher. Er sagte: „Schörner, ich spreche Ihnen meine Anerkennung aus für Ihre Leistungen in der taktischen Führung ihres trefflichen Geb[irgs-]Korps und für Ihre Menschenführung. Dietl hat mir kürzlich darüber ausführlich berichtet. Ich wollte Sie schon im Sommer zu einer größeren Aufgabe auf dem ital[ienischen] Kriegsschauplatz haben, aber Dietl glaubte Sie im hohen Norden nicht entbehren zu können. An Ihrer Front wurde kein Fußbreit Boden aufgegeben, obwohl gerade dort oben im vorigen Winter und Frühjahr sehr schwer gekämpft wurde, das ist mir genau bekannt. Und Ihre Männer haben Vertrauen zu Ihnen….“.
1 Werner Kreipe (1904–1967), General der Flieger, seit 1922 Berufssoldat, 1928 Ausbildung an der deutsch-sowjetischen Fliegerschule in Lipezk, 1934 Generalstabsausbildung, seit 1934 bei der Luftwaffe, verschiedene Stabsverwendungen, Ende 1941 Chef des Stabes des I. Fliegerkorps an der Ostfront, anschließend des Lufwaffenkommandos Don, seit Ende 1942 Stabschef, dann Chef des Ausbildungswesen der Luftwaffe, nach dem Attentat vom 20. 7. 1944 mit der Führung des Generalstabs der Luftwaffe beauftragt, November 1944 abgelöst, Kommandant der Luftkriegsakademie. 1945–1947 in alliierter Kriegsgefangenschaft. 2 Walter Hewel (1904–1945), Botschafter, 1923 am Hitlerputsch beteiligt, Wirtschaftsingenieurstudium, Außenhandelskaufmann, 1936 Beitritt zur NSDAP, 1937 Ehrenführer der SS, seit 1938 Chef des persönlichen Stabes von Außenminister Ribbentrop, seit 1940 Verbindungsbeamter des Auswärtigen Amtes im Führerhauptquartier, seit 1943 Botschafter z. b. V. im Rang eines Staatssekretärs, 2. 5. 1945 Suizid, um sowjetischer Gefangenschaft zu entgehen.
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3 Der Krieg in der Sowjetunion: Die zweite Hälfte des Krieges
Ich antwortete: „Mein Führer, ich melde Ihnen, das wir seit den schweren Kämpfen im April/Mai 1942 keine eigentliche Krise mehr erlebt haben und ich glaube Ihnen versichern zu können, daß die dortigen Truppen auch künftighin ihre Pflicht erfüllen werden. …Es ist schade, daß [die] prächtigen Truppen, fast 100 000 Mann, in Nordfinnland und Norwegen vor keine größeren Aufgaben mehr gestellt werden.“ Der Führer: „Sie werden jetzt im Süden der Front eine Armee übernehmen (es war dann die Armee-Abt[eilung] Nikopol-Saporoschje). Ich halte es für notwendig und habe eben mit Keitel und Jodl darüber gesprochen, dort einen Wechsel eintreten zu lassen! Ich bin mit dem Verlauf der Operationen nicht zufrieden; es sind Entschlüsse gefaßt worden, die ich nicht billige, oder besser gesagt, es wurden Entschlüsse nicht rechtzeitig gefaßt. Es ist absolut erforderlich, die Dinge straffer, kühner in die Hand zu nehmen; wir müssen und wir können das Geschick des Krieges wenden. Der Misserfolg begann mit Stalingrad. Göring hat mir damals versichert, die Versorgung in ausreichendem Umfang und für die nötige Dauer leisten zu können Er hat mehr versprochen[,] als er halten konnte. Dazu kam das Versagen sämtlicher, aber auch sämtlicher Bundesgenossen der dortigen Front… Aber auch auf unserer Seite wurden schwere Fehler begangen. Man ließ die Dinge in unbegreiflicher Weise laufen, niemand raffte sich zu einem kühnen und harten Entschluß auf, wie in solchen Lagen erforderlich, die nun einmal im Krieg vorkommen können. Unentschlossenheit und Apathie sind in solchen Lagen Verbrechen! (sehr erregt) Ich muß mich darauf verlassen können, daß die verantwortlichen Truppenführer aller Grade endlich die charakteristischen Eigenschaften eines Krieges zweier Weltanschauungen begreifen und die notwendigen Schlußfolgerungen für Ihre persönliche Haltung daraus ziehen; eines Krieges, der über Sein oder Nichtsein nicht nur Deutschlands, sondern Europas entscheidet. Nicht nur bei unseren Verbündeten, sondern auch bei uns selbst gibt es jetzt Auflösungserscheinungen, vor allem im rückwärtigen Gebiet, die empörend, die verderblich sind: So etwas dürfen Sie nie dulden!“ Ich sagte – etwa – folgendes: „Mein Führer, in solchen Lagen ist eiserne Disziplin die erste Forderung und zugleich die größte Wohltat für die kämpfende Front. Und der zusätzliche Kampf gegen die harten klimatischen Verhältnisse waren [sic!] für mich und für uns eine gute Schule…“ Der Führer: „Diesen Kampf wird der gewinnen, der der Härtere ist. Wir kämpfen nicht nach den Regeln und Beispielen früherer Kriege… Wir stehen einem Gegner gegenüber, welcher der gleichen Auffassung ist. Wir führen einen Krieg auf Leben und Tod, wir kämpfen gegen eine bolschewistische, uns fremde Welt, die weiß, worauf es ankommt[,] und sich mit asiatischem Fanatismus verteidigt. Deshalb muß auch der deutsche Soldat erbittert kämpfen[,] und dazu gehört, daß die Führung aller Grade fanatisch sich einsetzt für ihre Aufgabe und diesen ihren Fanatismus auf ihre Männer überträgt. Mit klugen Sprüchen und Zitaten [von] milit[ärischen] Autoren ist die heutige Lage nicht zu meistern. Überhaupt ist nicht die Gelehrsamkeit, sondern sind Beharrlichkeit und unerschütterliche Willenskraft die ausschlaggebenden Elemente. Wenn freilich die Führung resigniert, was soll dann der Soldat tun? Man muß
3.1 Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner
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mit dem Herzen dabei sein, sich für seine Sache einsetzen und wirklich persönlich führen. Große operative Entschlüsse braucht die Front kaum zu fassen; ihre erste Pflicht ist gerade zu stehen für die überzeugte Durchführung der gegebenen Befehle. Und der deutsche Soldat muß dauernd aufgeklärt werden, was ihn im Fall der Niederlage erwartet. Deswegen muß der Krieg rücksichtslos geführt werden[,] und keine anderen Erwägungen dürfen die Maßnahmen der Führung bestimmen als solche, die dem Sieg nützen können. Man muß erfinderisch sein, sich selbst helfen können. Mit überlegenen Kräften mit einem Dutzend schlagkräftiger Panzerdiv[isionen] kann jeder Heerführer eine siegreiche Schlacht schlagen. Aber in schwierigen Lagen sich selbst Aushilfen schaffen und den fanatischen Geist der Soldaten aufrichten, das zeigt den wahren Truppenführer. Ich war vor einiger Zeit in Winniza. Da sagte mir Manstein (Gen[eral] Feldm[arschall]): “[Er] brauche 5000 Mann, dann könne er die Front halten. Nachher erfuhr ich, daß allein im Raum Winniza selbst über 100 000 Mann rückwärts herumbummelten. General Kitzinger3 hat mir dies noch ausdrücklich bestätigt. Niemand kümmerte sich darum, niemand griff ein! Behalten Sie diesen Fall im Auge!“ Anschließend erläuterte A[dolf] H[itler] mir die große, milit[ärisch-]politische Lage an der Wandkarte. Dabei war[en] auffallend seine geringe Einschätzung der Amerikaner und ihrer Möglichkeiten und seine überzeugte Darstellung der Kriegsmüdigkeit der Engländer. Abschließend wies er auf die Bedeutung der Südfront hin (Ukraine, Krim; Mineralien des Raumes Nikopol-Kriwoi-Rog, Saporoschje usw.) Wegen Einzelheiten sollte ich Zeitzler aufsuchen. Er sagte noch: „Die Front muß halten und die Voraussetzungen schaffen, das Verlorene eines Tages wieder zu gewinnen; Stalin wird nicht mehr viel solche Offensiven unternehmen können, er ist hinsichtlich Menschen und Material am Ende.“ Der Führer wünschte mir Glück für die neue Aufgabe und entließ mich. Von allen Persönlichkeiten und Abteilungen des H[au]pt-Quartiers und des O[ber-]K[ommando des] H[eeres] nahm ich eine gleichfalls sehr zuversichtliche Stimmung mit. Am 27.10.43 flog ich mit Gen[eral] Hube4 (neu ernannter O[ber-]B[efehlshaber der] 1. Panzerarmee) an die Front mit der Überzeugung, daß es sich um eine ernste Entwicklung dieses Krieges handle, wobei es für Deutschland auf Tod und Leben ging,
3 Karl Kitzinger (1886–1962), General der Flieger, seit 1904 Berufssoldat, Pionier-Offizier, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, Ende 1934 zur Luftwaffe versetzt, vor allem mit Material- und Rohstofffragen befasst, 1941–1944 Wehrmachtsbefehlshaber in der Ukraine, Juli 1944 Militärbefehlshaber Frankreich, Oktober 1944 Oberbefehlshaber Festungsbereich West. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft. 4 Hans-Valentin Hube (1890–1944), Generaloberst, seit 1909 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Generalstabsoffizier und Bataillonskommandeur, 1939 Kommandeur des Infanterie-Regiments 3, 1940 der 16. Infanterie-Division, später 16. Panzer-Division, 1942 des XIV. Panzerkorps, 1943 der 1. Panzerarmee, starb am 21. 4. 1944 bei einem Flugzeugabsturz in Bayern.
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und mit dem Entschluß, und meiner ganzen Kraft nach den vom Führer gegebenen Richtlinien zu handeln. 20. August 1945 Schörner Meldung beim Führer 21./22.4.45 Im Bunker der Reichskanzlei zu Berlin anwesend beim Vortrag nur die Generale Burgdorf5 und Krebs. Der Führer kam langsamen Schrittes, zog einen Fuß etwas nach; er sah sehr blaß aus und hatte ein aufgedunsenes Gesicht. Er machte einen schwer kranken Eindruck. Adolf Hitler begrüßte mich und begann mit leiser, matter Stimme: „Schörner, ich bin sehr müde. Ich habe Sie nochmals hierher gebeten, um wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen. Wie beurteilen Sie die Lage?“ Ich trug meine besonderen Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der äußeren Flügel meiner Armeen (südlich Brünn und Raum Cottbus), der Versorgungslage u. dgl. vor; ich beantragte erneut die Zurücknahme der Front und Handlungsfreiheit für Breslau. A[dolf] H[itler]: „Die Front muß halten. Das Festhalten des tschechoslowakischen Raumes mit seinem industriellen und wirtsch[schaftlichen] Potential ist und bleibt entscheidend. Man braucht so lange und so stark wie irgend möglich die materielle Basis der Tschechoslowakei für den Kern des Widerstandes in den südlichen Alpengebieten; die dorthin abtransportierten Lager genügen allein nicht. Auch Breslau muß halten; sonst werden die dort gebundenen russischen Kräfte frei und stellen eine weitere zusätzliche Bedrohung dar.“ Ich: „Mein Führer, ich muß in dieser Stunde mit allem Ernst nochmals darauf hinweisen, daß die Lage meiner Heeresgruppe täglich bedrohlicher wird. Diese Entwicklung ist viel schlimmer geworden, als ich bei meinem letzten Vortrag vermuten konnte (5.4.). Ich habe – abgesehen von der Lage um Berlin – weniger Sorge um die Front der Heeresgruppe als um deren Flanken. Die Truppe verträgt keinenfalls [sic!] mehr auch nur eine sich abzeichnende Gefahr einer Einkesselung.“ Adolf Hitler: „Sie müssen Ihren Oberbefehlshabern und der Truppe deutlich machen, daß überhaupt nur solch ein Gegner verhandlungsfähig ist, der die Waffen noch in der Hand hält. Wir müssen um Zeit kämpfen.“ Ich: „Besteht denn die Gewähr oder bestehen irgendwelche sicheren Anzeichen dafür, daß wir politische Möglichkeiten haben; militärisch sehe ich keine mehr.“
5 Wilhelm Burgdorf (1895–1945), General der Infanterie, seit 1914 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Regimentsadjutant, Freikorps, 1921 Reichswehr, 1940–1942 Kommandeur des Infanterie-Regiments 529, seit Mai 1942 stellvertretender Chef, nach dem 20. 7. 1944 Chef des Heerespersonalamtes beim OKH, seit Oktober 1944 zusätzlich Chefadjutant des OKW bei Hitler, am 1. 5. 1945 Suizid gemeinsam mit Hans Krebs im Bunker unter der Reichskanzlei.
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Adolf Hitler: „Wenn wir es schaffen, den russischen Ansturm abzustoppen, ist es nach verschiedenen Anzeichen durchaus möglich, mit den Westgegnern, vor allem mit den Engländern zu einer politischen Teillösung zu gelangen. Diese Möglichkeit ist uns aber nur dann geboten, wenn wir als bewaffneter Kombattant verhandeln…“ Gen. Krebs: „Mein Führer, ich konnte dem Feldmarschall noch nicht unsere letzten Entschlüsse an der Westfront sagen, darf ich kurz vortragen?„…Krebs berichtete das Abziehen sämtlicher deutscher Kräfte, vor allem der 12. Armee (Wenck) von der amerik[anisch]-englischen Front, um ausschließlich Schwerpunkt gegen den Osten zu bilden. Das „inaktive Verhalten“ der Westgegner, auch deren Luftwaffe in der letzten Zeit, rechtfertige dieses Risiko. Adolf Hitler: „Sie sehen, es gibt auch noch militärische Möglichkeiten, die wir ergreifen müssen. Es muß ebenso gelingen, daß Busse (9. Armee) der Armee Wenck die Hand reicht. Sie sehen, wir wagen viel; aber es besteht Grund zur Hoffnung, damit die Lage im Raum von Berlin zu stabilisieren. Ich habe das Vertrauen, daß sich im Süden unser Widerstand versteift…“ Ich: „Es entstehen auch steigende Reibungen in der Führung und in den Verbindungen hierher und mit dem O[ber-]K[ommando des] H[eeres]; manchmal gelingt es uns halbe Tage lang nicht, irgendeine Verbindung zu bekommen. Darf ich Ihnen vorschlagen, mein Führer, Ihre Befehlsstelle baldigst, möglichst sofort zu verlegen. Auch jeder erfolgreiche längere Widerstand in der Alpenzone fordert Ihre persönliche Anwesenheit als erste Voraussetzung.“ Adolf Hitler: „Nein, das kann ich nicht tun. Ich habe der Truppe gegenüber eine Verpflichtung eingegangen mit meinen eigenen Worten: Berlin bleibt deutsch! Fällt Berlin, dann bleibe ich nicht am Leben. Ich bin auch das hauptsächliche Hindernis für jede diplomatische Verhandlung. Möge dann Göring oder … mit den Engländern einig werden.“ Ich: „Mein Führer, wenn Sie [nicht] mehr sein sollten – das ist dann das Ende Deutschlands. Dann muß auch jeder von uns entscheiden, ob er bleiben soll oder Schluß machen.“ Adolf Hitler: „In keinem Fall, nein! Bei mir ist dies etwas ganz anderes. Sie müssen das verstehen. Die Heerführer müssen bleiben. Das ich den Entschluß Models verurteilt habe, wissen Sie.“6 Daraufhin habe ich nochmals versucht, den Führer zu bewegen, in die Gegend Salzburg zu fliegen. Er lehnte aber entschieden ab. A[dolf] H[itler] stellte dann noch einige Fragen über die Lage. Ich hatte aber den Eindruck, daß er meinen Ausführungen kaum noch folgte. Schließlich verabschiedete er sich. Seine zitternde linke Hand und seine trüben Augen verstärkten den Eindruck, daß er völlig erschöpft war.
6 Feldmarschall Model tötete sich im Ruhrkessel selbst. Etwa 300 000 Deutsche gingen in Gefangenschaft.
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In der kurzen Unterhaltung, die ich mit Minister Dr. Goebbels führte, erfuhr ich, daß Adolf Hitler gesundheitlich zusammengebrochen war und noch durch künstliche Mittel versuchte, sich arbeitsfähig zu halten.7 Dann wollte ich Ribbentrop oder Botschafter Hewel sprechen, beide Herren verspäteten sich aber anscheinend und ich mußte wegen des schwierigen Nachtfluges nach Staaken zu meiner Maschine zurück. Ich konnte mich nur noch kurz mit Burgdorf und Krebs unterhalten. Von Krebs wollte ich Einzelheiten über die Widerstandszone in den Alpen wissen. K[rebs] sagte, die Dinge gingen in Ordnung, die vorbereitenden Maßnahmen seien in ständiger Entwicklung, über Einzelheiten würde er mich noch unterrichten. (Ich wartete jedoch vergeblich auf weitere Informationen). Schwer beeindruckt flog ich von Berlin-Staaken ab. Es war mir klar, daß wir militärisch vor dem Zusammenbruch standen und der Führer sich entschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden. Die einzige Hoffnung war, daß in einem solchen Fall ein Abkommen mit England und Amerika möglich wäre; deren inaktives Verhalten bestätigte mir diese Möglichkeit. Die Äußerung des Führers, daß diese Hoffnung bestehe, wenn wir mit den Waffen in der Hand verhandeln[,] schien mir überzeugend zu sein. Deswegen mein Entschluß: Befehlsgemäß die Front um jeden Preis zu halten! 20. 8. 1945. Schörner Unterhaltung mit Goebbels: 21./22.4.45 I. Reichsminister Dr. Goebbels erwartete mich in einem Raum neben dem Führerbunker, nachdem ich Adolf Hitler verlassen hatte. Anwesend waren außerdem Staatssekretär Dr. Naumann8, Dr. Morell9, irgendein Adjutant, für einen Augenblick Reichsleiter Bormann und General Burgdorf, der mich geleitete. Ich skizzierte G. auf dessen Bitte hin kurz den beim Führer gehaltenen Vortrag, kam dann auf die allgemeine milit[ärische] Lage, im besonderen auf den Kampf um Berlin zu sprechen. Es ergaben sich gegenüber meinem Bericht über die Führermel-
7 Die Einnahme von stimulierenden Mitteln, etwa Pervitin, durch Hitler ist anhand der Tagebücher seines Leibarztes Theodor Morell nicht nachweisbar. 8 Werner Naumann (1909–1982), Journalist, 1928 Beitritt zur SA und NSDAP, 1933 SA-Standartenführer, 1934 infolge des Röhmputsches aus SA und Partei ausgeschlossen, 1936 rehabilitiert, 1938 persönlicher Referent von Joseph Goebbels, 1939 Soldat, zuletzt Hauptsturmführer der Waffen-SS, 1942 nach Verwundung Rückkehr ins Reichspropagandaministerium, 1944 Staatssekretär, testamentarischer Nachfolger von Joseph Goebbels. Lebte 1945–1949 als Arbeiter unter falschem Namen, 1952 Organisation eines Netzwerkes ehemaliger NS-Funktionäre, um politischen Einfluss zu erlangen, Anfang 1953 durch den britischen Geheimdienst enttarnt und kurzzeitig in Haft. 9 Theodor Morell (1886–1949), Urologe in Berlin, 1933 Beitritt zur NSDAP, seit 1936 Hitlers Leibarzt, ab 1941 im Führerhauptquartier, Ende April 1945 entlassen und aus Berlin ausgeflogen. Im Sommer 1945 kurzzeitig in US-Internierungshaft.
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dung keine neuen Momente. Ich benützte die Gelegenheit, um Goebbels Urteil über die außenpolitische Lage einzuholen, da ich auf die sich anscheinend verspätenden Min[ister] Ribbentrop und Hewel nicht warten konnte. Goebbels: „Ich kann nur bestätigen, was Ihnen der Führer gesagt hat. Für mögliche Verhandlungen mit den Westmächten brauchen wir eine feste Front und müßen wenigstens für eine gewisse Zeit noch einen Machtfaktor darstellen, mit dem zu rechnen ist… Sie sind der einzige Mann, der dieser Aufgabe gewachsen ist und auf den wir uns verlassen. Seien Sie überzeugt, daß wir unsererseits alles unternehmen, daß diese neuen Opfer nicht umsonst gebracht sind. Es mag Ihnen scheinen, daß ein weiterer Widerstand sinnlos ist; aber ich kann Ihnen versichern, daß Ihre Aufgabe von größter Wichtigkeit ist. Sie erlaubt uns, die letzte Möglichkeit nicht aus der Hand zu lassen.“ Dann zum Entschluß des Führers, in Berlin zu bleiben und zu enden: Goebbels: „Ich bin durchaus Ihrer Meinung, ich habe schon alles Mögliche versucht und werde es weiterhin versuchen. Sie kennen aber den Führer, ich habe keine Hoffnung auf Erfolg. Schlimmsten Falles werde ich dafür sorgen, daß der Feind nicht den Triumph erlebt, den toten Führer als Beute zu haben.“ Ich schlug dann, auf Anraten Burgdorfs, Goebbels noch vor, seine Familie oder wenigstens die Kinder mit meiner Maschine aus Berlin wegfliegen zu lassen. Goebbels: „Weder ich noch meine Familie werden den Führer überleben. Wenn das nat[ional-]soz[ialistische] Reich in Trümmer geht, dann wird auch der Name Goebbels nicht mehr bestehen.“10 Nach meinem Eindruck war Goebbels in diesen Tagen die energischste Persönlichkeit in der Umgebung Adolf Hitlers. Er hatte alle möglichen Fälle vorbedacht und vorbereitet. Von einem Testament des Führers machte G. keinerlei Andeutung. II. Was dieses Testament betrifft, kann ich folgendes berichten: Etwa am 24. oder 25.4. wurde telefonisch oder telegrafisch der Heeresgruppe mitgeteilt, daß der Major (oder Ob[er]stl[eu]tn[ant]) Johannmeyer11 beauftragt sei, mir das Testament des Führers zu überbringen[,] und er im Storch12 von der Befehlsstelle abgeholt werden solle.
10 Goebbels und seine Frau Magda ließen ihre 6 gemeinsamen Kinder von Helmut Kunz (1910–1976) und Ludwig Stumpfegger (1910–1945), SS-Begleitärzte im Führerhauptquartier, vergiften. Goebbels und seine Frau nahmen selbst Gift. 11 Willy Johannmeyer (1915–1970), Oberstleutnant, seit 1936 Berufssoldat, 1944 Lehrgang für höhere Adjutanten, seit Juni 1944 im OKH, ab November 1944 im Führerhauptquartier, seit April 1945 letzter Heeresadjutant Hitlers, dessen Testament er nicht zustellen konnte, da er im Erzgebirge notlanden musste. 1945 vom britischen Militärnachrichtendienst aufgespürt, dem er das Testament übergab. 12 Das Leichtflugzeug Fi 156 genannt „Storch“ hatte extreme Langsamflugeigenschaften, sodass es kürzeste Start- und Landebahnen benutzen konnte. Es wurde in mehreren tausend Exemplaren gebaut und vorwiegend als Kurierflugzeug eingesetzt.
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Da die Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit war, habe ich befohlen, mehrere Störche zu entsenden. Mein Befehl wurde durchgeführt; aber keiner von den Störchen kam zurück. Der Grund ist mir unbekannt geblieben. Gen[eral-]Feldmarschall Greim (Nachfolger Görings), der etwa 25. oder 26.4. in meinen Bereich nach Königgrätz kam und hier einige Tage blieb, wurde von mir nach diesem Kurierauftrag befragt (G[reim] kam von Berlin). Er wußte davon, konnte aber keine nähere Auskunft geben. III. Ich wurde gefragt, was ich über das Schicksal Adolf Hitlers denke. Aus meiner letzten Unterhaltung mit A[dolf] H[itler] habe ich den absolut sicheren Eindruck gewonnen, daß er sich entschlossen hatte, aus dem Leben auszuscheiden. Es dürfte bekannt sein, daß der Führer an seinen Entschlüßen [sic!] hartnäckig, starr festhielt. Alle Versuche seiner nächsten Umgebung waren bereits gescheitert. Ich möchte hinzufügen, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, daß H[itler] gesundheitlich völlig erledigt und in keinem Fall in der Lage war, überhaupt die nötige Energie zu einem Ortswechsel oder ähnlichem aufzubringen. Sollte es Leute geben, die derartige Zweifel hervorrufen, so muß ich annehmen, daß sie nicht im Bild sind, oder irgendwelche mir unbekannte Zwecke verfolgen. 20. 8. 1945 Schörner Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 1, Bl. 20–37. Handschriftliches Original. Deutsch.
3.2 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling13, Moskau, 3. Januar 1946 Weidling, Helmuth, geb. 1891 in Halberstadt ([Provinz] Sachsen), deutscher Staatsbürger, parteilos, aus einer Ärztefamilie, mittlerer Schulabschluss, seit 1911 in der deutschen Armee, war vom 24. April bis zum 1. Mai 1945 Kampfkommandant von Berlin Frage: Berichten Sie über Ihren Dienst in der deutschen Armee. Antwort: 1911 trat ich freiwillig nach meinem Abitur in die deutsche Armee ein. 1912 beendete ich die einjährige Militärausbildung und wurde noch im selben Jahr zum
13 Helmuth Weidling (1891–1955), General der Artillerie, seit 1911 Berufssoldat, Artillerist, dann Luftschiffer, in der Reichswehr Truppen- und Stabsverwendungen in Artillerie und Infanterie, 1938 Kommandeur des Artillerieregiments 56, 1940 Artilleriekommandeur 128 beim XXXX. Panzerkorps, Anfang 1942 Kommandeur der 86. Infanterie-Division, Oktober 1943 Kommandierender General des XXXXI. Panzerkorps, das im Sommer und Herbst 1944 bis an die Weichsel zurückgeworfen und weitgehend vernichtet wurde, im April 1945 Kommandierender General des LVI. Panzerkorps und Kampfkommandant von Berlin, das er am 2. 5. 1945 der Roten Armee übergab. Seit 3. 5. 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, im Februar 1952 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und 1955 in Haft verstorben.
3.2 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling
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Leutnant befördert. Während des Ersten Weltkrieges war ich zuerst als Luftschiffbeobachter eingeteilt und dann als Kommandant eines Luftschiffs. Nach dem Ersten Weltkrieg diente ich in verschiedenen Artillerieregimentern. Mit Beginn des deutschsowjetischen Krieges wurde ich zum Oberst befördert und war Artillerie-Kommandeur 128 unter dem Kommando des XXXX. Panzerkorps. Mein Stab beschäftigte sich mit der Ausarbeitung der taktischen Fragen beim Einsatz der Artillerie des Korps bzw. der dem Korps zugeteilten Artillerie. Frage: Nahmen Sie an Kämpfen gegen die Rote Armee teil? Antwort: Ja, seit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges befand ich mich an der Ostfront. Frage: Welche Einheiten befehligten Sie und an welchen Frontabschnitten waren Sie als Befehlshaber eingeteilt? Antwort: Bis Dezember 1941 war ich Chef des Artilleriestabs Nr. 128 beim XXXX. Panzerkorps und nahm an der Offensive der Heeresgruppe Mitte der deutschen Wehrmacht teil. Von Ende 1941 an befehligte ich die 86. Infanteriedivision und lag mit dieser Einheit mehr als ein Jahr in vorderster Front im Gebiet Rschew. Bis 1943 war ich dann im Gebiet der Städte Olenin sowie Bely eingesetzt. Im Sommer 1943 nahm meine Division an den Kämpfen am „Kursker Bogen“ teil. Nach der misslungenen Offensive zogen wir uns kämpfend bis an den Dnjepr zurück. Im Oktober 1943 wurde ich zum Kommandierenden General des XXXXI. Panzerkorps ernannt und verteidigte bis Juni 1944 die Nahtstelle zwischen der 2. und der 9. Armee, zwischen den Flüssen Pripjet und Beresina. Am dritten Tag der russischen Offensive in Weißrussland im Juni 1944 wurde mein Korps in das Gebiet von Bobruisk zurückgeschlagen, wo ich es an Generalleutnant Hoffmeister14 übergab. Auf Anweisung von Generalfeldmarschall Model übernahm ich den Befehl über den „Sperrverband Weidling“, der den Abzug der 9. Armee decken sollten. Von August 1944 an befehligte ich das neu organisierte XXXXI. Panzerkorps in Ostpreußen. Nach dessen Zerschlagung durch die Rote Armee Ende März 1945 wurde ich zum Kommandierenden General des LVI. Panzerkorps ernannt, das sich westlich von Küstrin befand. Unter dem Druck der Roten Armee zog ich das Korps in Richtung Berlin ab und nahm an der Verteidigung der Stadt teil. Am 24. April 1945
14 Edmund Hoffmeister (1893–1951), Generalleutnant, seit 1912 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1926–1932 in der Abteilung T3 (Fremde Heere) der Reichswehr, Verbindungsoffizier zu sowjetischen Stellen, 1932–1942 Kommandeur verschiedener Infanterieregimenter, 1943–1944 Kommandeur der 383. Infanteriedivision, Juni 1944 des XXXXI. Panzerkorps. Juli 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, Mitunterzeichner des von Friedrich Paulus initiierten Aufrufes von 50 deutschen Generalen „An Volk und Wehrmacht“ vom 8. 12. 1944, der zum Sturz Hitlers und zur Beendigung des Krieges aufrief, starb 1951 in Gefangenschaft.
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ernannte mich Hitler zum Kampfkommandanten von Berlin und übertrug mir die Aufgabe, die Stadt zu verteidigen. Frage: Warum hatte Hitler gerade Sie für diese Aufgabe ausgewählt? Antwort: Die Umstände meiner Ernennung liegen darin begründet, dass durch einen Streit mit Goebbels der Kommandant von Berlin, Generalleutnant Reymann15, seines Postens enthoben wurde. Da zu diesem Zeitpunkt keine weiteren erfahrenen Kommandeure greifbar waren, schlug der Chef des Generalstabs des Heeres, General Krebs, mich als Kampfkommandant vor. Auf jeden Fall war meine Ernennung reiner Zufall, denn Hitler kannte mich nicht. Ich lernte Hitler erst später kennen, als ich ihm bereits in meiner Funktion als Befehlshaber der Verteidigung Berlins zu berichten hatte. Frage: Wie oft haben Sie Hitler berichtet? Antwort: Vom 24. bis 29. April war ich fast täglich bei Hitler, wo ich die militärische Lage darlegte und an den Diskussionen zur weiteren Verteidigung Berlins teilnahm. Frage: Was wissen Sie über Hitlers Schicksal? Antwort: Ich wurde am Abend des 30. April zwischen 6 und 7 Uhr in den Führerbunker gerufen, wo sich Goebbels, Krebs und der Leiter der Reichskanzlei Bormann aufhielten. Sie teilten mir offiziell mit, dass Hitler und seine Frau Eva Braun um 15.30 Uhr Selbstmord begangen hätten. Mir wurde außerdem mitgeteilt, dass die Leichen verbrannt worden waren und ihre Überreste im Garten der Reichskanzlei, in der Nähe des Notausgangs aus dem Bunker, vergraben worden seien. Frage: Hatten Sie unabhängig von den Aussagen dieser Personen selbst die Möglichkeit, sich vom Tod Hitlers zu überzeugen? Antwort: Ich war weder Zeuge seines Todes noch habe ich seine Leiche gesehen. Ich zweifle aber nicht an der Wahrhaftigkeit der Aussagen von Goebbels, Krebs und Bormann, denn in der Zeit davor war Hitler kontinuierlich zu einem menschlichen Wrack geworden und sah aus, als ob er jeglichen Lebenswillen verloren hätte. Darüber hinaus habe ich Hitler am 29. April das letzte Mal sehen, als es schon gar keine Möglichkeit mehr gab, aus Berlin herauszukommen. Um Hitlers letzte Tage ausführlicher darzulegen, d. h. sein Verhalten, seine Äußerungen, ist eine Untersuchung hilfreich, so dass ich darum bitte, meine Aussage schriftlich darzulegen.
15 Hellmuth Reymann (1892–1988), Generalleutnant, 1912–1920 Berufssoldat, seit 1920 Polizeioffizier, 1935 Wiedereintritt ins Heer, an der Ostfront Kommandeur verschiedener Infanteriedivisionen, März–April 1945 Kampfkommandant von Berlin. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft.
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Frage: Welche Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht sind Ihnen zum Umgang mit der russischen Bevölkerung und besonders mit den russischen Gefangenen bekannt? Antwort: Ich weiß, dass Hitler bei Kriegsbeginn befohlen hatte, alle gefangenen Polit offiziere und Kommissare der Roten Armee zu erschießen. Das gleiche Vorgehen wurde den Truppen auch beim Vorgehen gegen Partisanen vorgeschrieben: es handelte sich hierbei um einen Befehl von Hitler aus dem Jahr 1942. In diesem Befehl verbot Hitler die Bezeichnung „Partisan“, sondern befahl die Bezeichnung „Bandit“. Frage: Wie setzten Sie diese Befehle Hitlers um? Antwort: Bis Ende 1941 war ich Artilleriekommandeur 128 beim XXXX. Panzerkorps und hatte folglich mit Gefangenen nichts zu tun. Als ich Ende 1941 die 86. Infanteriedivision übernahm, ließ ich auch den Befehl meines Vorgängers, Generalleutnant Witthöft16, in Kraft, wonach die der Division unterstehenden Einheiten verpflichtet waren, sowjetische Gefangene ohne Ausnahme an den Gefangenen-Sammelpunkten im Hinterland abzuliefern. Ich folgte also dem Vorbild meines Vorgängers und gab auf diese Weise die Verantwortung für die Erschießung von Gefangenen ab. Was Hitlers Befehl zur Erschießung von Partisanen betrifft, so war ich gar nicht in der Lage, diesen Befehl anzuwenden, da ich mich die gesamte Zeit über mit meinen Truppen an vorderster Front befand, wo, wie bekannt ist, die Partisanen nicht aktiv waren. Frage: Wie setzten Sie Hitlers Befehl um, wonach alle sowjetischen Siedlungen zerstört werden sollten? Antwort: Mit der Zerschlagung der deutschen Truppen bei Moskau erinnerte man uns ständig daran, dass wir beim Abzug „verbrannte Erde“ zu hinterlassen hätten. Wie diese Anweisungen umgesetzt wurden, zeigt ein Beispiel des Abzugs der 9. Armee aus dem Gebiet von Rschew im März 1943. Dieser Abzug war frühzeitig detailliert geplant worden und unter den Divisionen waren Abzugskorridore aufgeteilt worden, in denen sie alles zerstören sollten. So schrieb mir der Stab der 9. Armee als Divisionskommandeur vor, alle Siedlungen in Brand zu setzen, alle Steinbauten zu schleifen und alle Objekte zu zerstören, die der Feind in irgendeiner Form nutzen könnte. Mir wurde ein Landstreifen von 20 Kilometern Breite sowie 160 bis 200 Kilometern Tiefe zugeteilt. Ich teilte diesen Bereich unter den Regimentern auf und gab jedem Regiment eine Pionierkompanie zur Zerstörung der Siedlungen mit. Die gleiche Aufgabe erhielten
16 Joachim Witthöft (1887–1966), General der Infanterie, 1906–1920 Berufssoldat, 1920–1936 Polizeioffizier, 1936 in die Wehrmacht übernommen, 1936–1938 Kommandeur des Infanterie-Regiments 6, 1939–1942 Kommandeur der 86. Infanterie-Division, 1942 Kommandierender General des XXVII. Armeekorps, dann Kommandierender General der Sicherungstruppen und Befehlshaber im Heeresgebiet B, 1943 zum Heeresgebiet Süd umbenannt, 1944 Befehlshaber Venezianische Küste, 1945 Sonderbeauftragter beim Oberbefehlshaber West. 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft.
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noch fünfzehn weitere Divisionen der Nachhut der 9. Armee, die beim Abzug aus dem Gebiet von Rschew auf einer Länge von 300 Kilometern und einer Breite von 200 Kilometern alle Siedlungen im bisherigen Hinterland zerstörten. Dieser Befehl blieb zwar auch später in Kraft, aber in den meisten Fällen gelang uns diese zielgerichtete Zerstörung nicht mehr, denn die Rote Armee rückte sehr schnell nach. Außer diesen Gründen fehlte uns oft auch der nötige Sprengstoff für eine Umsetzung des Befehls. Frage: Wie gingen Sie mit der Bevölkerung der zerstörten Siedlungen um? Antwort: Die Bevölkerung der zur Zerstörung vorgesehenen Orte wurde vorher von den Truppen ins Hinterland der 9. Armee evakuiert. Frage: Welche Auszeichnungen haben Sie für Ihren Dienst an der deutsch-sowjetischen Front erhalten? Antwort: Für die Kämpfe an der Ostfront wurde ich mit dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet. Außerdem erhielt ich das Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern. Insgesamt besitze ich 16 Auszeichnungen. Frage: Welche Umstände führten zu Ihrer Gefangennahme durch die Rote Armee? Antwort: Am Abend des 30. April 1945 wurde General Krebs zum russischen Kommando geschickt, um einen Waffenstillstand zu erwirken. Als Krebs am 1. Mai zurückkehrte und mitteilte, dass die Russen den Waffenstillstand abgelehnt hatten und stattdessen eine bedingungslose Kapitulation der deutschen Truppen in Berlin forderten, beauftragten mich Goebbels, Krebs und Bormann damit, in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai mit der Garnison aus dem Kessel auszubrechen. Während dieser Operation wurde mir klar, dass dieser Auftrag nicht zu erfüllen ist und so kapitulierte ich in dieser Nacht mit meinen Truppen und ergab mich den Russen. Weidling Es verhörte der Gehilfe des Leiters der 1. Unterabteilung der 2. Abteilung der Hauptverwaltung Gegenspionage „Smersch“ Major Siomontschuk17 Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21140, Bd. 1, Bl. 40–47. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
17 Leonid E. Siomončuk (1913–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1940 bei der Staatssicherheit, 1943–1946 Gehilfe des Chefs der 2. Abteilung der „Smerš“, dann der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, 1979 vom KGB in die Reserve versetzt.
3.3 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt
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3.3 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Mühlhausen, Deutschland, 27. Dezember 1947 Verhörprotokoll Ich, Offizier der Sowjetarmee, Garde-Hauptmann Melichow18, habe an dem genannten Tag mit dem Übersetzer (russisch-deutsch), Garde-Unteroffizier Schukow19, den Inhaftierten befragt. Schmidt, Rudolf Friedrich, 1886 in Berlin geboren, wohnhaft in Northeim, Am Mühlenanger 3 (britische Besatzungszone Deutschlands), Deutscher, parteilos, Angehöriger der Wehrmacht, Absolvent der Kriegsakademie und des Generalstabskurses, nicht vorbestraft, diente von 1906 bis 1943 im deutschen Heer, letzter Rang: Generaloberst Rudolf Schmidt wurde über die Verantwortung für absichtliche Falschaussagen gemäß Artikel 95 des Strafgesetzbuches der RSFSR20 unterrichtet. Rudolf Schmidt Der Übersetzer Schukow wurde über seine Verantwortung für absichtliche falsche Übersetzung gemäß Artikel 95 des Strafgesetzbuches der RSFSR in Kenntnis gesetzt. Schukow Frage: In welcher Sprache möchten Sie Ihre Aussagen machen? Antwort: Ich bin Deutscher und habe mein gesamtes Leben in Deutschland verbracht. Aus diesem Grund wünsche ich, meine Aussagen in meiner Muttersprache zu machen. Frage: Ihnen wurde der Übersetzer, Garde-Unteroffizier der Sowjetarmee Schukow, vorgestellt. Verstehen Sie ihn und können Sie mit seiner Hilfe die Aussagen machen? Antwort: Ich verstehe den mir vorgestellten Übersetzer, Garde-Unteroffizier der Sowjetarmee Schukow, gut und wünsche mit seiner Hilfe die Aussagen zu machen. Frage: Wie schreiben sich Ihr Name und Vorname richtig? Antwort: Mein gegenwärtiger Familienname ist Schmidt. Mein Vorname Rudolf-Friedrich. Ich hatte keine anderen Familiennamen. Frage: Berichten Sie, wo Sie gelebt haben und was sie gemacht haben, bevor Sie zum Dienst in der deutschen Armee berufen wurden.
18 Melichov (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1946 im Rang eines Hauptmanns Abwehroffizier bei den Besatzungstruppen in Thüringen. 19 Žukov (?–?), sowjetischer Geheimdienstangehöriger, 1946 im Rang eines Unteroffiziers Übersetzer bei der Militärabwehr der sowjetischen Besatzungstruppen in Thüringen. 20 RSFSR – Russländische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik.
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Antwort: Ich wurde 1886 in Berlin-Schöneberg in der Eisenacher Straße 40 geboren. 1906 schloss ich dort das Gymnasium ab. Von 1906 bis Februar 1943 diente ich in der deutschen Armee. Zuletzt bekleidete ich den Rang eines Generalobersten. Frage: Berichten Sie kurz über Ihren Werdegang in der deutschen Armee? Antwort: Bis Juni 1932 diente ich in verschiedenen Regimentern und Einheiten. Von Juni 1932 bis Oktober 1934 war ich Kommandeur der Offiziers-Lehrgänge an der Kriegsakademie. Ich hatte diese Kurse geschaffen und organisiert. Von Oktober 1934 bis November 1935 befehligte ich das Infanterieregiment 13 im Rang eines Obersten. Von November 1935 bis Oktober 1937 war ich Oberquartiermeister [II] im Generalstab des Heeres. Während dieser Zeit, genauer gesagt im Oktober 1936, wurde ich in den nächsthöheren militärischen Rang erhoben und zum Generalmajor ernannt. Von Oktober 1937 bis zum 31. Januar 1940 befehligte ich die 1. Panzerdivision als Generalleutnant, zu dem ich im Juni 1938 ernannt worden war. Im September 1939 nahm ich mit meiner Panzerdivision am Überfall auf Polen teil. Von Februar 1940 bis Dezember 1941 war ich Kommandierender General des XXXIX. Panzerkorps. In dieser Zeit nahm ich an den Überfällen auf Holland und Frankreich sowie am Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 teil. Das XXXIX. Panzerkorps, das ich damals befehligte, gehörte zur Panzergruppe „Hoth“. Mein XXXIX. Panzerkorps handelte in den Kämpfen gegen die Sowjetunion in Richtung Wilna-Molodetschno, Lepel-Witebsk-Demidow. Von Dezember 1941 bis zum 15. April 1943 war ich Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee, die vorher von Generaloberst Guderian befehligt worden war. Im Juni 1940 wurde ich auf Befehl Hitlers zum General der Panzertruppen ernannt und im Januar 1942 zum Generaloberst. Als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee waren mir 300 000 deutsche Soldaten und Offiziere unterstellt. Ich hatte aber nicht mehr als 100 Kampfpanzer, denn die Technik war in erheblichem Umfang während der Zeit vernichtet worden, als Generaloberst Guderian die Armee befehligt hatte. Da Guderian im Kampf gegen Verbände der Sowjetarmee21 fast die gesamte Technik verloren hatte, setzte ihn Hitler deswegen als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee ab. Als Oberbefehlshaber musste ich mit fast dem gesamten mir unterstellten Truppenverband in militärische Operationen als Infanterie ziehen. Auf sowjetischem Territorium handelte die 2. Panzerarmee unter meinem Befehl in den Richtungen Orjol-Kursk-Brjansk-Schisdra-Suchinitschi und Wolchow. Neben den Kämpfen der mir unterstellten Verbände gegen die Sowjetarmee, führten auf meinen Befehl hin kleinere Panzergruppen und Infanterieeinheiten Strafmaßnahmen gegen sowjetische Partisanen durch, die im Gebiet von Brjansk aktiv waren. Als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee hatte ich Adjutanten. Anfangs
21 Hier meint der Übersetzer die Rote Armee, denn die Bezeichnung Sowjetarmee wurde offiziell erst seit Februar 1946 verwandt.
3.3 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt
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waren das Oberst Lisso22 und dann Oberst Radowitz23, der anschließend zum Generalmajor ernannt wurde. Ordonnanzoffizier war der Oberleutnant der deutschen Armee, Sohn des Feldmarschalls Paulus, Ernst Paulus24. Feldmarschall Paulus war ein persönlicher Freund. Paulus kam 1942 zu mir nach Orjol geflogen. Damals war er Oberquartiermeister I des Generalstabs des Heeres. Als ich die 2. Panzerarmee befehligte, arbeitete mein Bruder Heinz Schmidt25 als Statistiker im Reichsluftfahrtministerium. Nach der Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad schickte ich ihm einen Brief, in dem ich das Oberkommando der Wehrmacht beschuldigte, völlig unbegabt für die Durchführung von militärischen Operationen zu sein. Mein Brief wurde am 15. April 1943 von der Gestapo abgefangen.26 Ich wurde durch den Generalrichter des Führerhauptquartiers, Generalleutnant Sack27, in Orjol verhaftet und mit dem Flugzeug nach Rastenburg ins Hauptquartier zu Hitler gebracht. Ich blieb bis zum 10. Juli 1943 in Haft. Während dieser Zeit wurde ich mindestens zweimal in der Woche verhört. Generalmajor Lotter28, der damals Generalrichter
22 Johannes Lisso (1896–1980), Generalmajor, seit 1915 Berufssoldat, Kommandeur von Infanterieund Panzerverbänden, nach schwerer Verwundung 1941/42 nur noch von Reserve-Verbänden, zuletzt seit 1943 der Panzer-Truppen IX, 1944 in die Führerreserve versetzt. 1945–1947 in Kriegsgefangenschaft. 23 Joseph von Radowitz (1899–1956), Generalleutnant, 1917–1919 Berufssoldat, Kavallerist, 1924 reaktiviert, 1942–1943 Adjutant der 2. Panzer-Armee, 1943 Kommandeur des Panzergrenadier-Regiments 28, 1944 der 23. Panzer-Division. 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft. 24 Ernst-Alexander Paulus (1918–1970), Hauptmann, Sohn von Generalfeldmarschall Paulus, wegen dessen öffentlichen Bruch mit Hitler seit August 1944 in Festungshaft in Küstrin, Januar 1945 in die bayerische Haftanstalt Immenstadt verlegt, dort im Mai 1945 von US-Truppen befreit. 25 Richtig Hans-Thilo Schmidt (1888–1943), Chiffriermitarbeiter im Reichswehrministerium, 1931 liefert er Codes und Informationen zur Funktionsweise der Enigma-Verschlüsselungsmaschine an den französischen Geheimdienst, der sie u. a. an polnische und britische Stellen weiterleitete, wo ein erster, auf lange Sicht entscheidender Einbruch in die deutsche Verschlüsselungstechnik gelang, im März 1943 verriet ihn sein ehemaliger französischer Führungsoffizier im Gestapo-Verhör, daraufhin verhaftet, Suizid in Haft im September 1943. 26 Bereits vor dem April 1943 schrieb Generaloberst Schmidt an seinen Bruder regimekritische Briefe. So befindet sich in einer im Zentralarchiv des Russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk (CAMO) verwahrten Akte des OKW ein Brief an seinem Bruder Hans, in dem er u. a. schreibt: „Sonst sieht es bei Stalingrad nicht sehr gut aus. Es gibt keine Unfehlbarkeit, am wenigsten bei denen, die sie gepachtet haben.“ Siehe: Abschrift des Briefes von Generaloberst Schmidt an Hans Thilo Schmidt, 15. 12. 1942, CAMO, Bestand 500, Findbuch 12450, Akte Nr. 154, Bl. 13. Da die Kopie auf der sog. „Führerschreibmaschine“ erfolgte, spricht einiges dafür, dass die Abschrift Hitler vorgelegt wurde. 27 Karl Sack (1896–1945), Generalstabsrichter, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, promovierter Jurist, Amtsrichter, seit 1934 bei der Militärjustiz, 1942 Leiter der Heeresrechtsabteilung im OKH, im September 1944 wegen Teilnahme an der Verschwörung des 20.7. verhaftet, im April 1945 durch ein Standgericht im KZ Flossenbürg zum Tode verurteilt und hingerichtet. 28 Karl Lotter (1893–1963), Generalrichter, promovierter Jurist, 1939–1941 Berater in der Rechtsabeilung der Wehrmacht im OKW, 1942 Rechtsberater verschiedener Armeegruppenkommandos, 1942/43 und seit 1944 Reichskriegsanwalt am Reichskriegsgericht, 1945 Generalrichter. 1945–1947 in Kriegsgefangenschaft.
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war, vernahm mich. Danach entließ man mich, beorderte mich aber regelmäßig bis zur zweiten Hälfte des September 1943 zum Verhör in den Wehrmachtuntersuchungsstab zu Generalmajor Hoffmann29. Ich wurde angeklagt, Hitlers Befehle und die des Oberkommandos ungenau ausgeführt zu haben. Obwohl meine Schuld nicht bewiesen wurde, wurde ich dennoch im September 1943 auf Befehl Hitlers aus der Wehrmacht in die Reserve entlassen. Damit endete meine militärische Karriere.30 Frage: Berichten Sie über Ihre Verbindungen zu Hitler während Ihres Dienstes in der deutschen Armee. Antwort: Ich hatte weder persönliche noch freundschaftliche Beziehungen zu Hitler, dennoch wurde ich, genauso wie die anderen Generale, mehrmals von ihm ins Hauptquartier gerufen. Das erste Mal war ich ungefähr 1937 bei einem Empfang Hitlers, als mir das Kommando über die 1. Panzerdivision übergeben wurde. Das zweite Mal war ich dann im Juni 1938 bei ihm, als er mich zum Generalleutnant ernannte. Das dritte Mal war ich bei Hitler auf einem großen Empfang im Mai 1939, auf dem er die Eroberungspolitik gegenüber Polen verkündete.31 Das vierte Mal sah ich Hitler dann im Juni oder Juli 1940 in Berlin in der Kroll-Oper, wo er einen Empfang für das Oberkommando der Wehrmacht gab.32 Anlass war der erfolgreiche Feldzug gegen Frankreich. Des Weiteren besuchte ich im März 1942 mit anderen Generalen Hitler in seinem Hauptquartier in Rastenburg (ehemaliges Ostpreußen), wohin er uns zum Bericht, und um Befehle zu erteilen, einbestellt hatte. Im August 1942 hielt Hitler mit den Armee-Oberbefehlshabern in Winniza eine Besprechung ab. An dieser nahm auch ich teil. Ich traf Hitler das letzte Mal am 18. März 1943 in Smolensk, wo er ebenfalls eine Besprechung mit den Armee-Befehlshabern des mittleren Abschnitts der Ostfront abhielt.33 Danach habe ich Hitler nicht wiedergesehen. Frage: Wo lebten Sie und was taten Sie seit September 1943, nachdem Sie in die Reserve der deutschen Armee entlassen worden waren? Antwort: Nachdem ich im September 1943 in die Wehrmachtreserve entlassen worden war, arbeitete ich für einige Monate überhaupt nicht. Ungefähr im Dezember 1943
29 Eduard Hoffmann (1898–1983), Generalrichter, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, promovierter Jurist, Staatsanwalt in Berlin, seit 1935 bei der Militärjustiz, 1939 Oberkriegsgerichtsrat Luftflotte 2, seit 1942 Reichskriegsanwalt am Reichskriegsgericht, 1944 Generalrichter. 1945–1947 in Kriegsgefangenschaft. 30 Die Untersuchung wurde eingeleitet auf Grund der Ermittlungen gegen seinen Bruder Hans-Thilo Schmidt wegen Spionage. 31 Hier ist möglicherweise Hitlers Rede vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht vom 23. 5. 1939 gemeint, allerdings ist Schmidt im sog. „Schmundt-Protokoll“, das später im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als Beweisstück diente, nicht aufgeführt. 32 Hitler redete am 19. 7. 1940 in der Kroll-Oper vor dem Reichstag und der Generalität der Wehrmacht. 33 Die Besprechung fand am 13. 3. 1943 statt.
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nahm ich in Berlin eine Arbeit als einfacher Angestellter auf, im Büro eines Chemieunternehmens in der Sigismundstraße, die Hausnummer weiß ich nicht mehr. Dort arbeitete ich bis Juli 1944. Ich wohnte in Berlin unter der Adresse Friedenau, Menzelstraße Nr. 22. Von Juli bis November 1944 arbeitete ich als Angestellter in einem Bauunternehmen, das sich in Offenburg (französische Besatzungszone Deutschlands) in der Hauptstraße 23 befand. Ich wohnte hier unter der Adresse Bahnhofstraße 31. Im November 1944 gründete ich in Offenburg mein eigenes Unternehmen „Rhein-Beton“. Es gab auch eine Niederlassung in Berlin. Als im Herbst 1944 die französischen Truppen Angriffe in Richtung von Offenburg führten, evakuierte ich meine Firma, mitsamt der Ausstattung, nach Wertheim (amerikanische Besatzungszone). Dort brachte ich mein Unternehmen in der Uferstraße Nr. 12 unter. Im Februar 1945 reiste ich von Wertheim in die Filiale meines Unternehmens nach Berlin. Ich entschied mich aber auf dem Weg dorthin anders und ließ mich in Weimar in der Tiefurter Allee Nr. 2 nieder, wo ich bis zum 15. April 1945 wohnte. Mit dem Einzug der amerikanischen Truppen in die Stadt wurde meine Wohnung besetzt. Ich zog dann in ein anderes Haus in der gleichen Straße um (Nr. 19). Ende Juni 1945 kamen Regimenter der Roten Armee nach Weimar und meine Wohnung im Haus Nr. 19 wurde erneut beschlagnahmt. Danach zog ich in eine andere Wohnung in der Pestalozzistraße Nr. 8 um. Als ehemaliger höherer Offizier der deutschen Armee registrierte ich mich nicht auf der sowjetischen Stadtkommandantur. Im August 1945 fuhr ich von Weimar nach Berlin in den amerikanischen Sektor, wo ich bis Juli 1946 im Stadtteil Friedenau in der Menzelstraße 22 wohnte. Währenddessen arbeitete ich in meiner Filiale von „Rhein-Beton“. Im Juli 1946 verkaufte ich die Filiale und zog in die britische Besatzungszone nach Northeim, in die Straße Am Mühlenanger 3. Ich wohnte dort bis zum 16. Dezember 1947 und arbeitete als Verwalter in einem chemisch-technischen Büro. Am 16. Dezember 1947 verließ ich mit einem Passierschein für mehrere Zonen die englische Zone und fuhr in die sowjetische Zone. Als ich am 24. Dezember 1947 in die englische Zone zurückkehren wollte, wurde ich infolge der Entdeckung einer Pistole vom Kaliber 6,35 und 19 Patronen an der Demarkationslinie festgenommen. […]34 Das Protokoll meines Verhörs wurde richtig aufgenommen. Der Übersetzer hat es mir laut vorgelesen, was ich mit meiner Unterschrift quittiere. Rudolf Schmidt Es verhörte: Offizier der Sowjetarmee, Garde-Hauptmann Melichow Es übersetzte der Dolmetscher, Garde-Unteroffizier Schukow Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21139, Bd. 1, Bl. 30–36. Handschriftliches Original. Russisch.
34 Es folgen Fragen der Vernehmer, was Schmidt in der sowjetischen Besatzungszone machte, und zu seinem genauen Reiseweg.
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3.4 Eigenhändig verfasste Aussagen von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist35 „Militäroperationen an der Südfront (1941– 1944)“, Moskau, 23. Februar 1951 I. Einleitung Es fällt mir schwer, über militärische Operationen zu schreiben, an denen ich vor mehr als zehn Jahren teilgenommen habe, ohne Karten oder andere Hilfsmaterialien zur Verfügung zu haben. Ich erinnere mich lediglich an jene Situationen, über die ich im Laufe der letzten Jahre bereits ausgesagt habe und die auch Gegenstand in Nürnberg waren. Andere Ereignisse habe ich nicht im Gedächtnis behalten, insbesondere habe ich Schwierigkeiten, mich an genaue Daten zu erinnern. Ich weiß sogar manchmal nicht, in welchem Monat sich etwas zugetragen hat. Ich bin nur in der Lage, die Operationen im Allgemeinen wiederzugeben, denn sonst verliere ich den Überblick. II. Zwischen zwei Feldzügen 1. Feldmarschall von Rundstedt36 bei mir zu Gast Ich kam ungefähr am 1. Mai 1941 vom Balkan vor meinem Stab zu Hause an. Bereits in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr besuchten uns Generalfeldmarschall von Rundstedt und seine Frau, die in Breslau im Hotel „Monopol“ weilten. Unsere Familien waren schon sehr lange befreundet. Das Hauptquartier der Heeresgruppe befand sich zu diesem Zeitpunkt südlich von Krakau.
35 Ewald von Kleist (1881–1954), Generalfeldmarschall, seit 1900 Berufssoldat, 1910–1913 Generalstabsausbildung, 1915 bis 1918 Stabs- und Truppenoffizier, 1919 Freikorpskämpfer im Baltikum, 1920 Übernahme in die Reichswehr, in verschiedenen Stabsfunktionen, 1931–1938 Kommandeur eines Regiments, einer Division und eines Armeekorps, im Februar 1938 verabschiedet, bei der Mobilmachung 1939 reaktiviert und Kommandierender General des XXII. Armeekorps (mot.), seit Mai 1940 „Panzergruppe Kleist“, April 1941 Panzergruppe 1, seit Sommer 1942 „Armeegruppe Kleist“, November 1942 Oberbefehl über die Heeresgruppe A (seit März 1943: Heeresgruppe Südukraine), im März 1944 nach wiederholten Konflikten mit Hitler über die Kriegführung im Osten entlassen. Ende April 1945 von US-Truppen verhaftet, an die britische Armee übergeben und von dieser im September 1946 an Jugoslawien ausgeliefert, wo er wegen Kriegsverbrechen zu 15 Jahren Haft verurteilt und 1948 an die Sowjetunion übergeben wurde, dort wiederum wegen Kriegsverbrechen im Februar 1952 zu lebenslanger Haft verurteilt, in der er Ende 1954 verstarb. 36 Gerd von Rundstedt (1875–1953), Generalfeldmarschall, seit 1892 Berufssoldat, 1903–1906 Generalstabsausbildung, 1932–1938 Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos I, 1939 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd/A, 1941 Oberbefehlshaber West in Paris, Oberbefehl über die Heeresgruppe D, nach der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 Ablösung, Vorsitz des neuen Ehrenhofs der Wehrmacht, der die militärischen Verschwörer des 20. 7. 1944 aus der Armee ausstoßen sollte, September 1944 erneut Oberbefehlshaber West, endgültige Ablösung im März 1945, als die Alliierten den Rhein überqueren konnten. 1945–1949 in britischer Kriegsgefangenschaft, die Anklage wegen Kriegsverbrechen führte wegen schlechter Gesundheit zu keinem Urteil.
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Feldmarschall von Rundstedt nahm mich beiseite und teilte mir folgendes mit: „Ein Krieg ist unvermeidlich. Beide Armeen haben an der Grenze gegenüber Stellung bezogen. Jeden Tag können die Kriegshandlungen losbrechen. Wir werden mit der Offensive an der Ostfront erst dann beginnen, wenn die hierfür nötigen Truppen zur Verfügung stehen. Das betrifft insbesondere die Panzereinheiten und die motorisierten Divisionen, die sich derzeit noch auf dem Balkan befinden. Das kann noch sechs Wochen in Anspruch nehmen. Sollten die Russen vorher eine Offensive starten, werden wir zur Verteidigung bereit sein. Sie erhalten das Kommando über drei Panzerkorps, die zur Heeresgruppe gehören und führen Sie zur Panzergruppe 1 zusammen. Sie werden nicht bei Gefechten im grenznahen Raum eingesetzt, sondern werden mir für operative Zwecke zur Verfügung stehen. Hierfür wird Ihr Stab entsprechend aufgestockt, ebenso wie die eigenen Versorgungstruppen. Hitler hat kategorisch gefordert, dass Sie und Ihr Stab den Ausgangsraum für die Operationen erst im letzten Moment einnehmen. Bleiben Sie zunächst hier zu Hause. Ihren Stab werden wir in einem Vorort von Breslau unterbringen, so dass Sie zu jeder Zeit schnell bei ihm vor Ort sein können. Die motorisierten Divisionen, die stufenweise in das entsprechende Gebiet verlegt werden, werden der 6. Armee unterstellt. Die Armee darf sie aber nicht für die Vorbereitung der Offensive nutzen. Abhängig vom Ausgang der Gefechte an der Grenze, werde ich Ihre Panzergruppe für operative Ziele einsetzten. Ihr Stabschef37 kann sich bei seiner Ankunft in Breslau mit General von Sonderstern38 [sic!] in Verbindung setzen. Wenn Sie noch Wünsche haben, irgendwelche Divisionen einzelnen Korps zu unterstellen, deren Befehlshaber Sie bereits kennen, so erfüllen wir diese Vorstellungen gerne. Außerdem können Sie all jene Offiziere und Mitarbeiter Ihres Stabs, die sich seit letztem Jahr ununterbrochen in Kampfhandlungen befinden, in den Urlaub schicken.“ 2. Mitte Juni Ungefähr Mitte Juni wurde der Stab der Panzergruppe 1 in das Aufmarschgebiet der Heeresgruppe verlegt. Der Standort befand sich ein einem einsamen Forsthaus zwischen Zamosc und Bilgoraj. Der Stabschef besuchte die Heeresgruppe und kehrte mit folgenden Informationen zurück: die 17. und die 6. Armee haben die Vorbereitungen zur Offensive beendet. Die 11. Armee ist zeitlich und räumlich nachgestaffelt. Die Panzereinheiten, die uns übergeben werden sollten, sind noch nicht vollständig eingetroffen. Ein Teil von
37 Generalmajor Kurt Zeitzler. 38 Georg von Sodenstern (1889–1955), General der Infanterie, seit 1909 Berufssoldat, seit 1924 in Stabsverwendungen, 1939 Chef des Generalstabs der Heeresgruppe C, 1940 der Heeresgruppe A/Süd, 1942 der Heeresgruppe B, 1943 Oberbefehlshaber der 19. Armee, Juli 1944 aus dem aktiven Dienst verabschiedet.
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ihnen befindet sich noch im Urlaub in der Tschechei und in Schlesien. Die anderen befinden sich bereits auf dem Weg vom Balkan. Es ist fraglich, ob sie vollständig aufgefüllt werden. Im Anschluss erläuterte er mir die Anweisungen des HeeresgruppenKommandos für die Militäroperationen. Diese sahen etwa folgendermaßen aus: 1.) Große Teile der Roten Armee befinden sich vor der Front der Heeresgruppe und außerdem am großen Dnjeprbogen. 2.) Die Aufgabe der Heeresgruppe besteht darin, diese Kräfte zu zerschlagen und sie daran zu hindern, den Dnjepr zu überqueren. 3.) Deshalb wird die Heeresgruppe an einem bestimmten Tag, zu einer festgesetzten Zeit die Offensive beginnen, indem sie die 17. und 6. Armee in Marsch setzt. Die Aufgabe der 17. Armee ist es, Lwow schnell einzunehmen. Die 6. Armee soll den Bug überqueren, dort Brückenköpfe errichten und die Front des Gegners durchbrechen. Die 11. Armee deckt in der Tiefe die rechte Flanke der 17. Armee und bindet dort den Widerstand des Gegners. Das Korps, das gestaffelt im Norden steht, deckt die linke Flanke der 6. Armee gegen eine Offensive aus den Wolhynsker Wäldern. Die Panzergruppe, die an diesem bestimmten Tag alle Panzereinheiten und motorisierten Einheiten umfassen wird, steht kampfbereit. Sie wird, nachdem die 6. Armee die entscheidenden Brückenköpfe ausgebaut hat, den Fluss forcieren. Für die Panzergruppe ist es äußerst wichtig, schnell gen Osten vorzudringen und sich vor die 6. Armee zu setzen. Die Panzergruppe darf in keinem Fall in Kriegshandlungen gebunden oder zurückgedrängt werden, die die 6. Armee mit dem Widerstand leistenden Gegner führt. Die weitere Aufgabe der Panzergruppe besteht darin, die Panzerstreitkräfte des Gegners in der Tiefe des Hinterlandes zu stellen und in den Kampf zu verwickeln. In diesem Fall wird sie zum Mittel des operativen Einsatzes der Heeresgruppe. III. Die Operationen am großen Dnjepr-Bogen 1. Kriegsbeginn Am frühen Morgen des 21. Juni 1941 wurde der Stab der Panzergruppe 1 an einen Ort verlegt, den die 6. Armee als Kommandopunkt vorbereitet hatte. Dieser Ort befand sich an der Straße von Zamosc nach Tomaszow [Lubelski]. Der Stab übernahm das Kommando über drei Panzerkorps, die hintereinander westlich dieser Straße Stellung genommen hatten und weit in das Hinterland gestaffelt waren. Die Panzergruppe besaß bereits eine Nachrichtenverbindung zu den Korpsstäben sowie zum Stab der 6. Armee und dadurch auch zum Stab der Heeresgruppe. Bei Sonnenaufgang am 21. Juni 1941 begannen die 17. und die 6. Armee mit der Offensive39. Die Grenzschlacht begann. Die Panzergruppe wartete für ihren Einsatz den Ausgang dieser Schlacht ab. Lageeindrücke: gegen die Mittagszeit informierte man mich darüber, dass die 13. Panzerdivision, die ich im Hinterland als Reserve
39 Hier meint Kleist offensichtlich den 22. 6. 1941.
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vorgesehen hatte, auf Befehl des Kommandos der 6. Armee bereits auf dem Weg in Richtung Wladimir-Wolynski sei. Aufgeregt rief ich Feldmarschall von Reichenau an. Bevor ich auch nur irgendetwas sagen konnte, erklärte er mir: „Kleist, derzeit findet die größte Grenzschlacht aller Zeiten statt. Uns steht die gesamte russische Armee gegenüber.“ Ich dachte damals: „Ja-Ja“[.] Dann fragte ich ihn, wie es passieren kann, dass er meine Truppen befehligt. Er murmelte daraufhin irgendetwas von militärischer Dringlichkeit und dass die 13. Panzerdivision seit gestern ihm unterstellt sei. Aus diesem Grund hatte ich den Eindruck, dass es sich um schwere Kämpfe handelte. Ich konnte die Panzerdivision nicht einfach zurückziehen, sondern musste sie, da ihre Marschsäule eine Länge von 120 Kilometer hatte, dem III. Panzerkorps unterstellen. Dort verblieb sie bis zum Winter 1942/1943. Das ist ein Beispiel dafür, wie ein Moment entscheidend für einen langen Zeitraum werden kann. 2. Lagebeurteilung des Kommandos der Heeresgruppe Auf Grundlage der bereits zwei Wochen tobenden Kämpfe, gewann die Führung der Heeresgruppe folgenden Eindruck von der Situation: Der Gegner kämpft, um Zeit für folgende Ziele herauszuschlagen: a) Entweder die Verlegung neuer starker Truppen über den Dnjepr, die die Flanken attackieren könnten, was für die Heeresgruppe mit weiteren Gefechten verbunden wäre. Beispielsweise wären das Angriffe aus dem Raum Kiew oder aus dem Nordwesten in Richtung Südwesten oder gleichzeitig Angriffe aus dem Gebiet von Cherson in Richtung Nordwesten, oder b) der Gegner möchte eine starke Verteidigung am Dnjepr-Ufer aufbauen und die Brückenköpfe am westlichen Ufer verstärken, um sich dann von diesen Brückenköpfen zurückzuziehen. Für die Heeresgruppe ist es daher in erster Linie wichtig, die vor ihr an der Front stehenden gegnerischen Truppen zu zerschlagen, bevor der Gegner Verstärkung heranholen oder sich über den Dnjepr zurückziehen kann. Wie sieht hierfür nun die Lage der Heeresgruppe aus? Der 17. Armee steht eine große Anzahl von gegnerischen Truppen gegenüber. Durch die frontalen Kämpfe gewinnt sie nur langsam an Raum. Die 11. Armee deckt die rechte Flanke der 17. Armee und versucht den direkten Kontakt zu ihr über ihre linke Flanke zu halten. Nach Kämpfen in der Region von Dubno, Rowno und östlich davon, überwand die Panzergruppe in der Region von Zwiagel und südlich davon die alten russischpolnischen Grenzbefestigungen und erreichte das Gebiet westlich von Kiew und Belaja Zerkow. Dadurch drang sie tief in die Flanke und zur Hälfte in das Hinterland der Haupttruppen der Russen vor. Da sie aber an der Front gebunden ist, befindet sie sich selbst unter Druck. Sie wird durch gegnerische Kräfte vom Raum Kiew her bedroht. Die russischen Truppen, die in den bewaldeten Gebieten Wolhyniens liegen, bedrohen ihre linke Flanke und die Nachschubwege. An der rechten Flanke wird sie
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von neuen russischen Truppen bedroht, die den Dnjepr südlich von Kiew überquert haben und nach Westen vordringen. Die 6. Armee, die der Panzergruppe folgt, bewegt sich schneller vorwärts als die 17. Armee. Sie ist vor der 17. Armee gestaffelt und kann sich nun in Richtung Süden entfalten. Es ist notwendig, die Panzergruppe zur operativen Verwendung im Hinterland der russischen Truppen freizusetzen und gegen die rückwärtigen Verbindungslinien der Sowjets vorzugehen. Außerdem muss sie neue Truppen abwehren, die den Dnjepr im Gebiet von Krementschuk, Dnjepropetrowsk und Saporoschje überqueren können. Aus diesem Grund kann die 6. Armee nicht weiter nach Süden vordringen, denn sie muss anstelle der Panzergruppe die Sicherung des Gebiet von Korsun – Kiew und nordwestlich davon übernehmen. Die 6. Armee muss enorm schnell an Raum gewinnen. 3. Uman Am 8. August 1941 endete im Gebiet von Uman die Schlacht gegen die Hauptkräfte der russischen Armeen, die am westlichen Ufer des Dnjepr lagen.40 Am Ende der Schlacht nahmen sowohl Hitler als auch Mussolini teil.41 An diesen Kämpfen waren die 17. Armee sowie Teile der 11. Armee und der Panzergruppe 1 beteiligt. Gegen die angreifenden Truppen aus dem Osten ging die 6. Armee aus Richtung Kiew und südlich davon vor. Südlich von ihr handelten die Panzergruppe und südöstlich Teile der 11. Armee. Das Kommando der Heeresgruppe hielt es nun für nötig, die russischen Truppenverbände, die sich unterhalb des Dnjeprbogen befanden, zu zerschlagen und an allen Stellen das westliche Ufer des Dnjeprs zu erreichen. Die Aufgabe, die die Heeresgruppe etwa Mitte Juni erhalten hatte, war damit erfüllte. Die Schlacht am großen Dnjeprbogen war damit beendet. IV. Die Schlacht jenseits des Dnjepr 1. Unter dem Kommando von Brauchitschs Es war ungefähr Ende August, als das westliche Dnjepr-Ufer auf der Länge von Nikolaew –Cherson bis zu einem Punkt nördlich von Kiew eingenommen worden war. In folgenden Gebieten wurden Brückenköpfe errichtet: Cherson (11. Armee), im Gebiet Dnjepropetrowsk (III. Panzerkorps der Panzergruppe), im Gebiet von Krementschuk (17. Armee) und nördlich von Kiew (6. Armee). Man erhielt die Nachricht, dass sich große Truppenverbände des Gegners in der Nogai-Steppe aufhielten sowie vor dem Brückenkopf von Dnjepropetrowsk. Außerdem wären zahlreiche gegnerische Verbände im Gebiet von Kiew und östlich davon zusammengezogen worden.
40 Bei den Kesselschachten von Uman und Pervomajsko gerieten mehr als 100 000 Soldaten der 6. und 12. Armee der sowjetischen Südfront in Gefangenschaft. 41 Hitler präsentierte Mussolini die kämpfenden Truppen vom 25.–28. 8. 1941; das Treffen trug eher politischen als militärischen Charakter.
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Feldmarschall von Brauchitsch entschied daher, mit den Heeresgruppen Süd und Mitte durch eine Umfassungsoperation eine große Anzahl von gegnerischen Kräften im Gebiet von Kiew einzukreisen und dann weiter anzugreifen. Die Aufgaben der Heeresgruppe Süd bestanden daher in folgendem: 1.) Den Gegner an der Front binden. 2.) Den Gegner durch eine Offensive von Ost nach West aus dem rückwärtigen Raum anzugreifen, indem folgende Schläge realisiert werden: aus dem Brückenkopf nördlich von Kiew in südöstlicher Richtung; mit den Kräften der 17. Armee aus dem Brückenkopf Krementschuk in Richtung Nordwesten sowie mit Hilfe der Panzerverbände, die vom Brückenkopf Krementschuk aus eingesetzt werden sollten. Diese Panzerkräfte (ein Panzerkorps) hielten sich im Gebiet von Nikolaew bereit. Zwischen diesen Panzerkräften und Teilen der 6. Armee, die vom Brückenkopf nördlich von Kiew aus angriffen, wurde auch Teile der Heeresgruppe Mitte in Marsch gesetzt genauso wie die Panzergruppe 2. Die überraschende Durchführung der Operation war die Voraussetzung für ihr Gelingen, denn eine Einkreisung muss von heute auf morgen erfolgen, damit der Gegner den Plan vorher nicht ahnen kann. Um alle nötigen Manöver abzuklären, flog Generalleutnant Halder zu den Stäben der Heeresgruppen, um dort die Details der Operationen zu klären. 2. Vorwärts! Obwohl die Schlacht noch nicht beendet war, wurde das Panzerkorps, das zur Heeresgruppe Süd gehörte und vom Gebiet Rowno aus in östlicher Richtung nach Westen vorrückte, der Panzergruppe 2 unterstellt. Der Stab der Panzergruppe 1 und das XIV. Panzerkorps, die in östlicher Richtung vorgingen, wurden der Heeresgruppe für andere Aufgaben unterstellt. Währenddessen drang die 11. Armee gerade in das Gebiet der Nogai-Steppe ein, um die dort stehende russische Armee nach Osten zu drängen und den Zugang zur Krim freizukämpfen. Die 11. Armee führte schwere Kämpfe zwischen dem Asowschen Meer und dem großen Dnjepr-Bogen. Das Kommando der Heeresgruppe funkte an die Panzergruppe 1: „Kehrt um und befreit das III. Panzerkorps aus der Einkesselung am Brückenkopf bei Dnjepropetrowsk. Greift den Gegner an, der sich durch das Flussufer schützt. Tretet auch gegen den rückwärtigen Raum der Kämpfe an, die die 11. Armee gerade führt. Die 11. Armee wartet. Vorwärts Marsch!“ Noch in derselben Stunde bewegte sich das XIV. Panzerkorps gen Süden. Diesen Befehl halte ich für ein sehr gutes Beispiel für die militärische Handlungsfreiheit. Nach den Schlachten an der Uferlinie des Asowschen Meeres befand sich Anfang Oktober das gesamte Dnjepr-Ufer in der Hand der Heeresgruppe. Die 11. Armee hatte den tatarischen Wall bei Perekop besetzt, die rumänischen Truppen Odessa.
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3. Das Ende der Panzergruppe 1 Ungefähr zu dieser Zeit wurde auf Basis der Panzergruppe 1 die 1. Panzerarmee formiert. Aus dem Stab der Gruppe wurde ein Armeestab gebildet. Die großen operativen Panzerverbände in ihrer ursprünglichen Form, die aus Panzern und motorisierten Einheiten bestanden, wurden abgeschafft. Stattdessen wurde eine gewöhnliche Armee gebildet, die auch Panzerdivisionen umfasste. Es gab aber auch Fälle, in denen Panzerarmeen überhaupt keine Panzer mehr besaßen, aber dennoch weiter als Panzereinheiten bezeichnet wurden. Dies war z. B. bei der 2. Panzerarmee der Fall. Letztendlich unterschied sich eine Panzerarmee überhaupt nicht von jeder anderen Armee. Sie lebt nur in der Tradition der alten Panzergruppe weiter. Die Armeen waren somit, mit ihren enormen Verwaltungs- und Nachschubeinheiten, an ein bestimmtes Einsatzgebiet und Territorium gebunden. Die Panzergruppe als Mittel zur operativen Führung der Heeresgruppe, kann mit einem Jagdfalken verglichen werden, der das Operationsgebiet der Heeresgruppe überblickt, das gesamte Kampfgebiet aller Armeen beobachtet und dort eingreift, wo ihr Erscheinen entscheidend für den Ausgang des Kampfes sein wird. Das zeigt das Beispiel [der Operationen der Panzergruppe in] Frankreich: erst an der Mündung der Somme im Gebiet von Abbeville, im Gebiet von Calais und Bulon, dann gemeinsam mit der 18. Armee im Gebiet von Dünkirchen, anschließend mit der 6. Armee durch die Weygand-Linie42 in Richtung Süden, mit dem XVIII. Armeekorps über die Marne, im Gebiet von Lyon zu den italienischen Alpen und anschließend bei Biarritz an das Ufer des Golfs von Biskaya und entlang der spanischen Grenze. Und hier [die Operationen der Panzergruppe] im Sommer 1941: vor Kiew mit der 6. Armee, dann nachfolgend im Gebiet der 17. Armee sowie vor Nikolajew mit der 11. Armee, am östlichen Ufer des Dnjepr bei Kiew zusammen mit der Panzergruppe 2 und direkt danach zum Ufer des Asowschen Meeres zur Rettung der 11. Armee. Der Panzerkrieg endete für mich mit der Schlacht am Asowschen Meer. Ob er auch von anderen deutschen Verbänden an weiteren Frontabschnitten oder gar vom Gegner angewandt wurde, ist mir nicht bekannt. Ich nehme an, dass die Rote Armee auch große Panzereinheiten einsetzte, um Berlin vom Nordosten her über das Rhinluch sowie durch einen Durchbruch im Abschnitt zwischen Nauen und Döberitz einzunehmen. V. Im Donezbecken 1. Immer noch gen Osten Während der Gefangenschaft in England erzählte mir Feldmarschall von Rundstedt, dass er damals vorgeschlagen hatte, sich nach den Kämpfen am Ostufer des Dnjepr
42 Hastig nach der Niederlage bei Dünkirchen von der französischen Armee gebildete Auffangstellung an der Somme, die nach dem damaligen Oberbefehlshaber der französisch-britischen Streitkräfte Armeegeneral Maxime Weygand (1867–1965) benannt war.
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entlang des Flusslaufes zu verschanzen, starke Stellungen zu errichten und nur die Brückenköpfe am Ostufer zu halten. Aus einigen Bemerkungen, an die ich mich aber detailliert nicht erinnern kann, konnte ich schließen, dass auch Feldmarschall von Brauchitsch darauf bestanden hatte, dass die Wehrmacht an der Ostfront im Winter zum Stellungskrieg übergehen sollte. Es kam aber anders. Nach den Kämpfen Anfang Oktober im Abschnitt der Heeresgruppe Mitte war Hitler davon überzeugt, die Rote Armee wäre zerschlagen worden. Ohne Rücksicht auf die beginnende Winterzeit befahl er, Moskau anzugreifen und den Gegner an der gesamten Front bis zum letzten Atemzug zu verfolgen. Daher begann die Heeresgruppe Süd mit dem Vormarsch. Auf der rechten Flanke drang die 1. Panzerarmee, in der Mitte die 17. Armee und an der linken Flanke die 6. Armee in Richtung Charkow vor. Gleichzeitig sollte die 11. Armee zur Krim vorstoßen. Dieser Vormarsch gen Osten geriet an der Linie Taganrog – Charkow ins Stocken. Lange Märsche und pausenlose Gefechte hatten die Infanterie entkräftet. Es gab Versorgungsprobleme und den Panzern fehlte der Treibstoff. Die Eisenbahnlinie endete am Westufer des Dnjepr, danach waren bei Herbstwetter große Distanzen durch unwegsames Gelände zu überwinden. Die Versorgung der Armee aus der Luft war nicht ausreichend. Es kam zu wochenlangen Gefechten, bei denen die deutschen Armeen zueinander aufschließen konnten, gleichzeitig aber auch die sich gegen die Heeresgruppe verteidigende russische Front wiederhergestellt wurde. Der Winter mit seinen extremen Frosttemperaturen setzte in diesem Jahr besonders früh ein. Die Winteruniformen, die das deutsche Oberkommando vorher bereitgestellt hatte, konnten bei solchen langen Angriffsoperationen und Märschen nicht angeliefert werden, denn es war vorrangig, Munition, Treibstoff und Verpflegung zu transportieren. Generalfeldmarschall von Brauchitsch ging auf Grund einer Krankheit in den Ruhestand. Hitler persönlich übernahm damit das Oberkommando des Heeres und damit über die Ostfront. 2. Der Stellungskrieg im Winter 1941–1942 So entwickelte sich aus Hitlers Befehl, „den Gegner bis zum letzten Atemzug zu verfolgen“ der Stellungskrieg. Die Front der Heeresgruppe Süd reichte von der Linie Mius-Donez bis zu einem Punkt nördlich von Charkow. An der Front kam es zu wechselseitigen Gefechten, die mit dem Angriff der Panzerarmee auf Rostow begannen. Die Rote Armee zeigte sich extrem aktiv. Sie setzte im Gebiet von Feodosia auf die Krim über und griff an verschiedenen Stellen den Frontabschnitt der Heeresgruppe an. Wir waren der Meinung, dass die Rote Armee über zwei bis dreimal so viele Kräfte wie wir verfügte. Sie besaß außerdem hervorragende Ausrüstungen und Waffen. VI. Die Rote Armee greift an 1. Krise Es war ungefähr Mitte Februar und die russischen Armeen, die am Frontabschnitt der Heeresgruppe Süd Widerstand leisteten, hatten die Schwachstellen der deutschen
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Front entdeckt. Durch Scheinoffensiven sowie Angriffe, um deutsche Truppen zu binden, lenkten sie die Aufmerksamkeit der Deutschen ab und konnten so heimlich einen Großangriff planen. Die Offensive begann nachts im Gebiet der 17. und der 6. Armee bei Jassy-Charkow. Den Russen gelang es dabei, sich einen unerwartet tiefen Durchbruch in die Frontlinie zu erkämpfen. Die 17. Armee musste daraufhin ihre linke Flanke nach Süden abziehen und die 6. Armee zog ihre rechte Flanke nach Norden ab. Dadurch war in der Front der Heeresgruppe Süd eine Bresche entstanden, durch die die russische Armee einbrach und dadurch, dass sie auf keinen Widerstand stieß, schnell das südwestliche Gebiet in Richtung von Dnjepropetrowsk, Poltawa und Barwenkowo einnahm. Die Nachschublinien der Heeresgruppe an die Front und dann auch das Hinterland der 6., der 17. Armee und der Panzerarmee gerieten damit unter Druck. Es gab keine Reservekräfte, die man hätte einsetzen können, um den Frontdurchbruch wieder zu schließen. Dadurch entstand eine äußerst gefährliche und kritische Situation. Hinzu kamen noch die extreme Kälte und Schneestürme. Von anderen Frontabschnitten, die von den Russen nicht angegriffen wurden, zog man Stäbe, einzelne Divisionen, Reservebataillone, zusammengewürfelte Einheiten ab und schickte sie an den besonders bedrohten Frontabschnitt. Soldaten auf Urlaub und Marschkolonnen wurden angehalten, die Soldaten irgendwie bewaffnet und an die neu entstandenen Frontabschnitte geschickt. Das 1. Rumänische Korps wurde über Dnjepropetrowsk an die Front gebracht. Flugzeuge waren verstärkt im Einsatz, obwohl das Wetter dafür gänzlich ungeeignet war. Nach mehrwöchigen Kämpfen und weiteren Krisen gelang es endlich, den bereits tief in die Front der Heeresgruppe Süd eingedrungenen Gegner zu stoppen. 2. Endlich auf befestigten Wegen Der in diesem Jahr spät einsetzende Frühling und die lange Phase, in der die Wege aufgeweicht und somit unpassierbar waren, läuteten das Ende der Winterkämpfe ein. Beiden Seiten war klar, was das bedeutet und was darauf folgend würde, so dass sich sowohl die deutsche als auch die russische Armee darauf vorbereiteten. Ich kannte allerdings die Pläne des russischen Oberkommandos nicht. Ich kann da letztlich nur mutmaßen. Bevor die Erde zu trocknen beginnt, kommt bereits das schnelle Heranführen großer Truppenverbände fast schon einer gelungenen militärischen Operation gleich. Der Hauptschlag sollte diesmal auf Poltawa (so das Kommando der Heeresgruppe Süd) erfolgen. Von Norden und Nordosten sollte auf Charkow vorgerückt werden. Gleichzeitig war die Stadt von Osten her anzugreifen und ein Vorstoß in Richtung des Dnjepr zu führen, um die Nachschublinien des Gegners zu unterbrechen. Man wollte den Frontdurchbruch, der im Frontabschnitt der Heeresgruppe die Form eines Flaschenhalses angenommen hatte, bewusst nicht vergrößern. Die Heeresgruppe Süd beschloss daher, diesen „Flaschenhals“ von Süden her anzugreifen, dem Gegner dort den Weg abzuschneiden und den Durchbruch zwischen der 17. und der 6. Armee im Gebiet des Don zu schließen. Zunächst sollte diese „Blase“
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von Osten her durchbrochen und dann von verschiedenen Seiten aufgebrochen werden. Um die Operation durchführen zu können, erhielt die Heeresgruppe drei neu aufgestellte Divisionen sowie ein Panzerkorps – Einheiten, die von anderen Frontabschnitten abgezogen worden waren. Im Gebiet von Artemowsk wurden diese Verbände während der Phase, in der die Wege unpassierbar waren, in Bereitschaft gehalten. 3. Der entscheidende „Schachzug“ Die Rote Armee begann mit der Offensive, die offensichtlich sehr erfolgreich verlief. Die Lage der Heeresgruppe war äußerst prekär. Wenn es der Roten Armee gelänge, unsere Verbindungslinien zu unterbrechen, bevor wir erfolgreich den Durchbruch am Flaschenhals geschlossen hätten, wären wir dem Untergang geweiht gewesen. Gab es in diesem Gebiet überhaupt eine Chance auf Erfolg? Wäre es nicht besser, auf den Plan zu verzichten und die Truppen neu zu formieren? Das deutsche Oberkommando stellte sich diese Fragen. Ähnliche Überlegungen gab es sicherlich auch bei der russischen Militärführung: Wird es den russischen Truppen gelingen, die deutschen Verbindungslinien abzuschneiden oder würde es den Deutschen gelingen, die russischen Versorgungswege abzutrennen? Wie im Schachspiel ging es hier auch um den entscheidenden Zug. Im Ergebnis des von der Armeegruppierung vorbereiteten und durchgeführten Angriffs wurde die Front begradigt. Die Gefahr eines Frontalangriffs auf Charkow war damit gebannt und die Deutschen kontrollierten auch die Zufahrtswege nach Kursk. In dieser Schlacht im Gebiet von Izjum tauchten auch zum ersten Mal amerikanische Panzer auf. Die materielle Ausstattung der russischen Artillerie war vollkommen auf dem neuesten Stand, was unser Erstaunen hervorrief. VII. Sommer 1942 1. Heeresgruppe A Die Aufgaben der deutschen Armee an der Ostfront blieben, trotz einiger kleiner Änderungen, im Grunde dieselben, die mir Hitler in seinem Hauptquartier im April dargelegt hatte: Besetzung Sewastopols, Vormarsch bis Maikop sowie an den südlichen Lauf der Wolga, Einnahme Leningrads und Vereinigung mit der finnischen Frontlinie. Daraus resultierten eine extreme Länge des Frontverlaufs sowie das Überwinden enormer Distanzen. Was das operative Ziel bzw. die operative Bedeutung dieses Feldzuges war, ist mir nicht bekannt. In diesem Fall konnte man nur von vagen Vermutungen ausgehen. Das überaus große Territorium erforderte geradezu den Einsatz einer weiteren Heeresgruppe. Von der rechten Seite, d. h. von der Heeresgruppe Süd wurde die neu formierte Heeresgruppe A in Position gebracht. Zum Befehlshaber wurde Feldmarschall List ernannt, der unter Brauchitsch auf dem Balkan den Feldzug gegen die Briten angeführt hatte. List waren folgende Einheiten unterstellt: die 11. Armee, die auf der Krim stationiert war, die 17. Armee im Gebiet von Mius sowie die 1. Panzerarmee, die im Gebiet
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von Izjum zusammengezogen worden war. Nördlich von der Frontlinie der Heeresgruppe Süd (nun unter dem Befehl von Generaloberst von Weichs) befand sich das Gebiet der 6. Armee, die bei Charkow stand. 2. Grenzenlose Räume Nach den letzten Kämpfen im Gebiet östlich von Charkow bekamen die Deutschen den Eindruck, dass das russische Oberkommando sein riesiges Territorium sowohl in der Länge als auch in der Tiefe absichtlich als strategisches Kampfmittel nutzte. Im Laufe der Zeit musste sich unsere Front durch den weiteren Rückzug der russischen Armee immer mehr ausdehnen. Um die Front zu versorgen, waren enorme Distanzen zu überwinden, was durch die grundlegende Zerstörung der Eisenbahnlinien durch die russischen Truppen sehr erschwert wurde. Gegen diese langgezogene und schlecht befestigte deutsche Front konnte man jederzeit und unerwartet an entscheidenden Stellen starke Truppen zusammenziehen, gegen die wir auf Grund fehlender operativer Reserven nichts entgegenzusetzen gehabt hätten. Welche Vorstellungen unser Oberkommando und auch Hitler diesbezüglich hatten, ist mir nicht bekannt. 3. Die russische Armee zieht sich aus den Stellungen am Fluss Mius zurück Während Feldmarschall List die Heeresgruppe befehligte, sahen wir uns zwei Mal. Das erste Mal trafen wir uns auf einem Flugplatz im Donez-Gebiet. Er gab mir damals nur eine Weisung, die in Verbindung mit einer seiner ersten Operationen stand und die Einkreisung der russischen Armee im Gebiet des Mius-Flusses vorsah. Die 17. Armee sollte den Gegner an der Front binden, mit der linken Flanke schnell gen Osten vordringen und mit der rechten Flanke Rostow angreifen. Die Panzerarmee sollte links von der 17. Armee schnell nach Osten vordringen und dann je nach Lage in Richtung Süden angreifen. Als dann im Gebiet von Starobelsk dieser Angriff gen Süden geführt wurde, und die linke Flanke nach Nowotscherkassk marschierte, zeigte es sich, dass die gesamte Operation nur ein „Kartenhaus“ gewesen war. Die russische Armee konnte der Einkreisung entgehen, denn sie war offensichtlich gen Süden hinter den Don zurückgewichen. 4. In Richtung Kaukasus Dank des schnellen Vorstoßes gelang es den Deutschen, die Brücken über den Don in Rostow einzunehmen sowie eine weitere Brücke flussabwärts zu errichten und das südliche Ufer des Don zu besetzen. Das Kommando der Heeresgruppe befahl, in Richtung Kaukasus vorzudringen. Es gab keine operativen Ziele. Diese hätte man auch kaum benennen können. Denn die russische Armee manövrierte sich geschickt aus Kämpfen heraus und die Deutschen konnten ihr keinen vernichtenden Schlag versetzen. Die Heeresgruppe setzte die Angriffe fort. Die 17. Armee handelte im Gebiet zwischen dem Ufer des Asowschen Meeres und der Linie Rostow-Armawir sowie dem
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Pass zum Elbrus. Von links drang die [1.] Panzerarmee vor, bereit, von der Flanke anzugreifen und sich in die Gefechte einzumischen, die an verschiedenen Stellen im Gebiet der 17. Armee erwartet wurden. Die [1.] Panzerarmee bestand zu dieser Zeit schon nicht mehr aus reinen Panzereinheiten. Sie war von der Geschwindigkeit der Infanteriedivisionen abhängig, die ebenfalls zur Panzerarmee gehörten. Was die Versorgung betraf, so hing alles vom dortigen Territorium ab. Am 8. August erreichte die Heeresgruppe den großen Kubanbogen nördlich von Armawir. Am folgenden Tag nahmen deutsche Truppen Maikop ein. 5. Was ist als nächstes zu tun? Das Ziel, das mir Hitler im April genannt hatte, war damit erreicht. Es handelte sich dabei aber nicht um ein operatives Ziel. Was das dortige Öl betraf, so konnten wir hier auch nichts erreichen. Obwohl die Russen Verluste erlitten hatten, waren sie nicht vernichtend geschlagen. Unseren Informationen zufolge war eine Gruppierung in Richtung Westkaukasus abgeschwenkt und die andere in Richtung der Stadt Ordschonikidse im Gebiet zwischen Naltschik und Mosdok am Terek. Das Kommando der Heeresgruppe stand nun vor der Frage, ob es weiter unabhängig handeln sollte oder weitere Befehle des Oberkommandos abzuwarten waren. Wie diese Frage entschieden wurde, kann ich nur mutmaßen. Die Führung der Heeresgruppe befahl der 17. Armee, über den Westkaukasus zum Schwarzen Meer in Richtung Sotschi vorzudringen und von Süden aus die Bergpässe zu schützen. Die [1.] Panzerarmee sollte in der Tiefe die Flanke der Heeresgruppe A sichern und Widerstand leistende russische Einheiten in die Berge zurückdrängen. Beinahe gleichzeitig wurde die Heeresgruppe A dadurch geschwächt, dass ihr einige Einheiten für die Heeresgruppe Süd entzogen wurden. Der Heeresgruppe Süd wurden folgende Einheiten unterstellt: ein Flakkorps, zwei Panzerdivisionen, die einer Panzerarmee zugeschlagen wurden und eine große Anzahl Flugzeuge.43 Der Kaukasus war offensichtlich nicht das eigentliche Ziel der Operation. Wenn es der 17. Armee gelungen wäre, das östliche Ufer des Schwarzen Meeres bis nach Batumi unter ihre Gewalt zu bringen, hätte sie ein operatives Ziel erfüllt. Dann würde die russische Schwarzmeerflotte ihren letzten Hafen verlieren. Batumi hätte damit der Ausgangspunkt für weitere Operationen werden können. Ich schließe aus der Tatsache, dass das Kommando der Heeresgruppe einige Zeit darüber nachdachte, seinen Stab nach Sotschi zu verlegen, dass ein Plan existierte,
43 Die Angaben sind übertrieben, z. B. handelte es sich nur um ein Flakregiment. Die Zuweisung von Flugzeugen stagnierte ohnehin, weshalb 1942 die Neuorganisation der Rüstung durchgeführt wurde. Der Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer brachte die Rüstung durch Ausbeutung von KZ-Insassen und Zwangsarbeitern auf neue Höchststände.
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nachdem das Ziel des Hauptangriffs auf das Ostufer des Schwarzen Meeres verlagert werden sollte. In dieser Situation war die [1.] Panzerarmee dazu vorgesehen, die östliche Flanke der Heeresgruppe A zu decken. Im besten Fall hätte sie, trotz ihrer Schwäche bei Gefechten in einem großen Gebiet, den Gegner in die Berge abdrängen können. Für eigenständige Operationen mit eigenen operativen Zielen war sie nutzlos. Ein Angriff auf Baku, worüber übrigens niemand sprach, war damit unmöglich. Sie müssen sich vorstellen, dass die Heeresgruppe mit einer Armee versuchte, in Richtung Südwesten vorzudringen und mit der anderen Armee in Richtung Südosten – also Baku. Das ist unglaublich! Natürlich hätte sich keine der höheren Instanzen früher vorstellen können, den südlichen Kaukasus und Baku zu beherrschen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass das dortige Öl sowohl für uns als auch für die Russen wichtig war und es die Möglichkeit eines Zugangs zum persischen Golf gab. Ich hörte gerüchteweise, dass man eine Militärverwaltung für den Südkaukasus zusammenstellte. Es gab diese Pläne offensichtlich bereits seit dem Zeitpunkt, als das deutsche Kommando noch hoffte, die russische Armee im Gebiet des Flusses Mius zu vernichten und damit rechnete, im Kaukasus nur auf geringen Widerstand zu treffen. Zu dem Zeitpunkt, als das Heeresgruppen-Kommando der 17. Armee den Befehl erteilte, zum Schwarzen Meer vorzudringen, war es für die Kommandeure nicht unvorstellbar, dass dieser Vorstoß scheitern würde. Es war bereits bekannt, dass in dem Gebiet westlich von Maikop genügend russische Truppen zusammengezogen worden waren, um den Kaukasus zu verteidigen. Von einem Durchbruch konnte keine Rede mehr sein, sondern lediglich von Gefechten in unwegsamem, hochgebirgigem Gelände, ohne die Möglichkeit, den Gegner zu stellen. Diese Art zu kämpfen birgt für einen Vorstoß große Probleme. Hier kann man nur einen Schritt nach dem anderen machen. Nichts hängt ab von der Anzahl der Vorteile oder von der guten Führung oder vom Mut der Truppe. Sondern alles wird bestimmt durch die Bedingungen im Gebirge und die Versorgung der Soldaten mit allem, was sie brauchen. Der Nachschub durch Träger oder Trägereinheiten offenbarte bald die Grenzen des Möglichen. Es war unmöglich, Wege anzulegen. Es blieb nur die Möglichkeit, Strecken mit Seilen abzusichern. Ich erinnere mich, dass die 17. Armee mehr als zehn solcher mit Seilen gesicherter Wege anlegte, die aber auch nicht ausreichten. Die Situation, in der sich die Heeresgruppe befand, als sie in den Kaukasus vordrang, war alles andere als positiv. Sowohl die interessierte als auch weniger interessierte Welt betrachtete diese Operation als großen Erfolg, der sogar auf Großbritannien und Syrien Eindruck machte. Letztlich erwies sich diese Operation der Heeresgruppe aber als sinnlos. Ich erinnere mich an einen Spruch, den man zu dieser Zeit kolportierte: „Man muss den Russen die Hand zum Frieden reichen!“ „Der Status quo ante ist wiederherzustellen“, d. h. der Rückzug vom russischen Territorium.
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VIII. Im Kaukasus und am Terek 1. Kämpfe Unter diesen Auspizien begannen die Gefechte im Kaukasus. Die 17. Armee griff von der Linie Noworossijsk-Maikop an, um den Hauptschlag in Richtung Südwesten zu führen. Ihre linke Flanke deckte dabei die Gebirgswege von Süden her bis zum Elbrus. Die [1.] Panzerarmee schützte während der aktiven Kampfhandlungen auf weitem Gelände – ungefähr nördlich der Linie Naltschik-Terek – in der Tiefe die südliche Flanke sowie das rückwärtige Gebiet der 17. Armee. Die Armee versuchte, durch Zurückdrängung des Widerstand leistenden Gegners ihr weit auseinander gezogenes Frontgebiet zu verengen und konnte dadurch Naltschik einnehmen und an einigen Punkten den Terek überwinden. Die linke Flanke der Panzerarmee wurde von russischen Kavalleriekorps angegriffen, so dass sie diese Attacken abwehren musste. Insgesamt waren das aber nur vereinzelte Gefechte, die nicht an der gesamten Front stattfanden. 2. Dem Winter entgegen Das Oberkommando der Wehrmacht sowie die Befehlshaber der Heeresgruppen waren gezwungen, sich über den einbrechenden Winter Gedanken zu machen. Was hatte man in den Kämpfen während des Sommers erreicht? Sewastopol war in deutscher Hand, was das einzig positive Ergebnis der Operationen war. Der Plan, Artillerieeinheiten zur Belagerung Leningrads einzusetzen, geriet zu einem Misserfolg. Die Rote Armee hatte am nördlichen Frontabschnitt die Oberhand gewonnen. Manstein konnte seine Offensive gegen Leningrad nicht umsetzen. Die 11. Armee wurde aufgelöst und auf der Krim verblieben nur einige wenige Truppen. Die Heeresgruppe A war, wie ich bereits ausgeführt habe, isoliert. Die Heeresgruppe Süd kämpfte bei Stalingrad. Ihre linke Flanke, die sich am Frontabschnitt zwischen Don und Wolga befand, deckte die 4. Panzerarmee. Die rechte Flanke, die aus Verbündeten der Deutschen zusammengesetzt war, wurde nach Nordwesten verlegt, um sich mit der Heeresgruppe Mitte zu vereinigen. Das riesige Gebiet zwischen der Heeresgruppe A und der Heeresgruppe Süd wurde nur von einer Panzerdivision, die zur Heeresgruppe Süd, d. h. zur 4. Panzerarmee gehörte, gesichert. Um die Verbindung abzusichern und dieses Gebiet im Winter halten zu können, sollte dorthin die neue Heeresgruppe Don entsandt werden, die vor allem aus rumänischen Einheiten bestand. Wenn man sich dabei noch vorstellt, dass deutsche Einheiten in Finnland bis zum Küstengebiet von Murmansk kämpften, wird klar, wie lang im Osten die Frontlinie der Wehrmacht, die zudem über keine Ersatztruppen verfügte, war. Die deutschen Einheiten waren aber nicht nur dort im Einsatz. In Norwegen befanden sich zahlreiche deutsche Verbände, um eine englische Landung abzuwehren. Im Westen waren es 40 bis 50 Divisionen, die die Ankunft der Angloamerikaner erwarteten. In Afrika führte die Heeresgruppe Rommel einen
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teuren Krieg gegen Montgomery. In Jugoslawien banden Michailowitsch44 und Tito45 die deutschen Einheiten, weil sie von den Amerikanern und Briten mit Waffen versorgt wurden. Griechenland, Kreta und Rhodos sowie weitere Inseln waren in der Hand des Gegners46. Daran war Großbritannien schuld. Das deutsche Oberkommando hätte sich irgendwie aus dieser ungleichen Lage befreien müssen, um an einer bestimmten Stelle einen Hauptschlag zu führen und von den anderen Orten abzulassen. Ich war nicht in die Pläne Hitlers und des Oberkommandos der Wehrmacht eingeweiht. Ich nahm aber an, dass es in dem bevorstehenden Winter nötig sein würde, die Front so zu halten, wie sie im Sommer und Herbst erkämpft worden war. Die nördliche Flanke der Heeresgruppe Süd, die weit zurückgedrängt worden war, befand sich unter dem größten Druck. Die Heeresgruppe A rechnete damit, dass sie ihren Frontabschnitt halten musste. Um sich auf den Winter vorzubereiten, bauten die Armeen ihre Stellungen aus und errichteten Unterstände. Das Kommando der Heeresgruppe sah für ihren Frontabschnitt keine Gefahr. 3. Operative Bedrohung Die Heeresgruppe A wäre Gefahr gelaufen, von ihrer Ostflanke her und aus dem Hinterland eingekesselt zu werden, hätte die Heeresgruppe Süd während der Kämpfe um Stalingrad zurückweichen müssen. Wir waren über die Lage an den entlegenen Frontabschnitten der benachbarten Heeresgruppe Süd nicht informiert. Wäre es möglich, dass sie Stalingrad einnimmt und die Stadt über den Winter hält? Was wäre, wenn sie zurückweichen müsste und wohin? Was war für diesen Fall geplant? Hinter welchen Fluss sollte sie sich zurückziehen? Hinter den Don, den Donez oder Mius? Wir konnten in dieser Hinsicht nichts planen und unsere Vorstellungen bezüglich der Manöver im Falle eines Rückzugs interessierten auch niemanden. Und plötzlich zeigte sich, dass die 6. Armee von beiden Flanken in Stalingrad eingekreist war. Die Rote Armee marschierte auf beiden Seiten des Don gen Rostow. Über den Don wurde der gesamte Nachschub der Heeresgruppe A organisiert. Die Russen standen 70 km vor Rostow, während sich die Panzerarmee im Gebiet von Ordschonikidze befand, was 650 km von Rostow entfernt war. Hitler entschied: „Keinen
44 Dragoljub Mihailović (1893–1946), jugoslawischer Generalstabsoffizier und Politiker, seit 1941 Anführer der königstreuen großserbischen Partisanenbewegung Tschetniki, die von der Londoner Exil-Regierung unterstützt wurde, 1942 endgültiger Bruch mit den sozialistischen Tito-Partisanen, seit Sommer 1944 ohne westalliierte Unterstützung, 1945 untergetaucht, 1946 vom jugoslawischen Geheimdienst verhaftet, von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 45 Josip Broz Tito (1892–1980), jugoslawischer Marschall und Partisanenführer seit 1941, 1937 Generalsekretär der kommunistischen Partei Jugoslawiens, 1945 Ministerpräsident, Bruch mit Stalin 1948, seit 1953 Staatspräsident. 46 Hier irrt Kleist. Die Inseln waren in deutscher Hand; er meint offensichtlich auch hier die Tätigkeiten von Partisanen.
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Schritt zurück!“. Diesen Befehl übermittelte der Generalstabschef des OKH im Januar 1943 telefonisch an den Stabschef der Heeresgruppe A. Am folgenden Tag kam die Anweisung, dass die Heeresgruppe nach Rostow zurückzukehren hat. Verletzte und Kranke sowie die gesamte Ausstattung sind im Hinterland zu lassen. Winter. Die Heeresgruppe war in heftige Kämpfe verwickelt und ihre Ostflanke befand sich ständig unter Druck. Es wurden bereits zwei Divisionen in Marsch gesetzt, um diese Flanke zu sichern, d. h. eine Verstärkung für die 4. Panzerarmee, die am südlichen Ufer des Don kämpfte. Die Panzerarmee sollte die frontalen Angriffe des Gegners abwehren und sich im unvermeidlichen Fall nach Rostow durchschlagen. Die 17. Armee aber, deren linke Flanke sich im Gebiet von Noworossijsk befand, die weit in die Berge vorgedrungen war, mit der Front im Südwesten, die die Verbindung zwischen dem Elbrus und westlich gelegenen Gebieten sicherte, konnte nicht gen Rostow vordringen. Aus diesem Grund wurde entschieden, dass die Panzerarmee zurückweicht und sich bis Rostow durchschlägt. Die 17. Armee marschierte um ihre Flanke im Winkel von 180 Grad und formte dadurch einen großen Korridor im Gebiet der Meerenge von Kertsch. Um eine mögliche Lücke in der Frontlinie zu schließen, die im Gebiet der Heeresgruppe A dann entstehen konnte, wenn die 17. Armee in nordwestliche Richtung vordringt und sich die Panzerarmee gen Norden wendet, sollte eine neue Kampfgruppe zusammengestellt werden. Nach Beendigung dieses Auftrags sollte diese Einheit der 17. Armee zugeordnet werden. Dieser Schwenk um 180 Grad war ungewöhnlich. Er war nicht nur deswegen schwierig, weil die Armee an der Front enorm gebunden war und auch, weil in den Bergen Winter war, sondern zudem ist es im bergigen Gelände nicht so einfach, Truppen umzupositionieren, wie in der Ebene. Hierfür mussten die Einheiten zunächst die Berge verlassen. Das funktionierte aber auch nicht. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die 17. Armee am Brückenkopf von Kertsch, der dann Kuban-Brückenkopf genannt wurde, keine Verbindung ins Hinterland hatte und hinter sich auch keine Nachschubeinheiten besaß. Bis dahin war auch sie von der Situation in Rostow abhängig. Die Errichtung einer neuen Nachschubroute zwischen der Krim und der Meerenge von Kertsch hätte zuviel Zeit beansprucht. Die Versorgung über den Schienenstrang aus Deutschland konnte auf Grund der unterschiedlichen Spurweiten nur bis zum Bug erfolgen. Im Gebiet von Cherson gab es nur eine Fähre. Um Sewastopol über die Donau und dann das Meer zu versorgen, war nichts vorbereitet. Um die vier Kilometer breite Meerenge von Kertsch zu überwinden, hätte man zunächst Schiffstonnage bereitstellen müssen. Eisschollen, die aus dem Asowschen Meer und dem Don in die Meerenge trieben, behinderten lange Zeit den Schiffsverkehr. Um Seilbahnen in der Meerenge zu errichten, bedurfte es auch Zeit. Über viele Wochen hinweg konnte die Versorgung nur durch Flugzeuge gesichert werden. Die Erfahrung Stalingrads hatte jedoch gezeigt, dass dieser Versorgungsweg ineffektiv war. Die oben genannten Manöver der Heeresgruppe A wurden ungefähr Anfang Februar planmäßig umgesetzt. Die 1. Panzerarmee ging in die umgebildete Heeres-
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gruppe Süd von Mansteins über. Zur Heeresgruppe A, die ich mittlerweile befehligte, gehörte[n] nur die 17. Armee, die den Kuban-Brückenkopf verteidigte, sowie einige wenige Korps für besondere Aufgaben, die die Krim sicherten. Für das russische Kommando wäre es ein leichtes gewesen, unerwartet Truppen auf der Krim abzusetzen, um die 17. Armee vom Kuban-Brückenkopf abzuschneiden. Angeblich verfügten die Russen im Schwarzen Meer über eine Flotte mit einer Wasserverdrängung von hunderttausend Tonnen. Ein bis zwei Landungsdivisionen wären ausreichend gewesen. Die Deutschen bereiteten sich hektisch vor, um wenigstens von Nordwesten her die Verteidigung von Feodosia und Sewastopol zu sichern. IX. Die Rote Armee gewinnt die Oberhand 1. Ein Kampf auf Zeit Nach den Misserfolgen des Sommers 1942 und nach der Zerschlagung der Heeresgruppe von Weichs47, büßte die Wehrmacht ihre Überlegenheit ein. Um an der Ostfront erneut die Initiative übernehmen zu können, wäre es nötig gewesen, andere Kriegsschauplätze zu verlassen und aus Deutschland enorme Mengen an Soldaten und Material – im Umfang einer Heeresgruppe von 25 bis 30 Divisionen – an die Front zu transportieren. Bis zur Ankunft dieser Kräfte sollten Gefechte geführt werden, um Zeit zu gewinnen. Hätte sich Hitler zu diesem Schritt entschlossen, hätte das Ostheer, auf Zeit kämpfend, den Gegner zurückhalten können und die eigenen Kräfte geschont. Dann wäre ein abschnittsweiser Rückzug möglich gewesen, um schließlich an einer guten Position und kurzen Frontlinie ungefähr in Höhe der ehemaligen Grenze sich gut zu verschanzen und um dann mit starken und operativen Reserven in die entscheidende Schlacht zu gehen. Bis dahin hätte jeder Soldat und jede Waffe eingespart werden müssen. Aber Hitler entschied sich nicht für eine dieser Möglichkeiten. Er befahl, nicht einen Schritt zurückzuweichen und nicht kampflos Territorium aufzugeben. Das war genau das Gegenteil davon, die Kräfte zu schonen. Damit ermöglichte es Hitler der Roten Armee, weiter die Initiative zu behalten. Die Versuche der Deutschen, im Sommer 1943 bei den Kämpfen um Kursk erneut die Oberhand zu gewinnen, mussten scheitern, denn hierfür fehlte das Überraschungsmoment. Einen ähnlichen Misserfolg erlitten die Deutschen im Sommer 1918 in der Champagne. Im Grunde kamen die Deutschen zu der Schlacht am Kursker Bogen vier Wochen zu spät. So sahen wir das, bevor die Kämpfe begannen. 2. Der Verlust des Kuban-Brückenkopfs Die Kampfhandlungen der Heeresgruppe A Anfang Februar 1943 waren zunehmend abhängig von der Lage im Gebiet der Heeresgruppe Süd. Am Kuban-Brückenkopf kämpfte die 17. Armee gegen überlegene russische Kräfte, die immer wieder angriffen und versuchten, die 17. Armee zu vernichten oder zumindest zu überrennen. Hätte
47 Hier ist die Heeresgruppe Don gemeint.
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die 17. Armee den Kuban-Brückenkopf aufgegeben, wären starke russische Einheiten, die sich bis dahin an der Front befanden, ohne weiteres nach Norden verlegt worden, d. h. nach Rostow marschiert, um die Heeresgruppe Süd, die dort seit Februar am Mius Position bezogen hatte, in Kämpfe verwickeln zu können. Die Russen hätten versucht, die Heeresgruppe zu schwächen oder sogar völlig zu vernichten. Als Ende des Sommers schließlich die Heeresgruppe Süd gezwungen war, den Donbass zu verlassen, zog sich auch die 17. Armee vom Kuban-Brückenkopf auf die Krim zurück. Ein Teil der 17. Armee wurde in das Gebiet von Melitopol verlegt, um die schwer angeschlagene 6. Armee zu verstärken, die das Gebiet zwischen dem Asowschen Meer und dem Dnjeprbogen verteidigte. Damit gehörte die 17. Armee zur Heeresgruppe A auf der Krim. Die 17. Armee war durch den Abzug einiger Einheiten in das Gebiet der 6. Armee geschwächt. 3. Die Kämpfe um das Gebiet am Unterlauf des Dnjepr Von September 1943 bis März 1944 sicherte die Heeresgruppe [A] die rechte Flanke der Heeresgruppe Süd. Das geschah zunächst am linken und später dann am rechten Dnjepr-Ufer. Beim Abzug der Heeresgruppe A auf das nördliche Ufer des Dnjepr wurde der 17. Armee untersagt, mit überzusetzen, so dass sie abgeschnitten auf der Krim zurückblieb. Umgehend wurden Maßnahmen zum Abzug der 17. Armee von der Krim über das Meer ergriffen, um sie vor der bevorstehenden Offensive der Russen aus dem Norden und aus Richtung Kertsch zu bewahren. Es war also wichtig, die Erlaubnis zum Abzug vor dem Angriff der Russen zu erhalten. Wenn man auch in diesem Fall der Roten Armee die Initiative überlassen hätte, wäre die 17. Armee in eine sehr kritische Lage geraten. Nach sechs Monaten entsprechender Kämpfe im Herbst und Winter, die während des Abzugs der Heeresgruppe Süd geführt wurden, zog sie sich hinter den Ingul zurück und nahm schließlich die vorbereitete Stellung am Bug ein. 4. Der operative Durchbruch der Roten Armee Als die 6. Armee Ende März 1944 ihr Gebiet an der Mündung des Bug aufgab und sich in die vorbereitete Stellung im Gebiet von Perwomaisk absetzte, gelang den russischen Truppen links von ihr im Gebiet der Heeresgruppe Süd ein großer Frontdurchbruch. Damit wurde die Front der Heeresgruppe Süd zerrissen. Die Armeegruppe des Generals der Infanterie Wöhler48, die sich an der rechten Flanke befand, wurde weit in die Flanke der 6. Armee geworfen. Durch diese weit geöffnete Bresche erreichte ein russischer Stoßkeil den oberen Lauf des Dnjestr und marschierte auf Plojesti, aber
48 Otto Wöhler (1894–1987), General der Infanterie, seit 1913 Berufssoldat, 1925–1928 Generalstabs ausbildung, 1935–1938 im Generalstab der Wehrmachtsakademie, 1938 bis 1942 weitere Verwendungen als Generalstabsoffizier, u. a. Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Mitte, Anfang 1943 Kommandierender General des I. Armeekorps, August 1943 Oberbefehlshaber der 8. Armee, im Dezember 1944 Nachfolger von Kleists als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd. 1945 in alliierte Kriegsgefangenschaft, im Nürnberger OKW-Prozess 1949 zu 8 Jahren Haft verurteilt, 1951 vorzeitig entlassen.
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auch in das rückwärtige Gebiet der Heeresgruppe A. Die 6. und die 8. Armee sowie rumänische Einheiten waren angesichts dieser Gefahr gezwungen, an den unteren Lauf des Dnjestr bei Chisinau und Jassy zurückzuweichen. Dieser Frontabschnitt reichte bis an die Karpaten heran, und von dort aus hätte man mit den vorhandenen ausreichenden Reserven den Balkan sichern können. Über die Lage an meinem Frontabschnitt habe ich Hitler ausführlich berichtet. Nachdem ich nicht mehr Befehlshaber der Heeresgruppe A war, wurde diese in Heeresgruppe Süd umbenannt. von Kleist Das Geständnis wurde aufgenommen vom Assistenten des Chefs des Referats V der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB Major Solowow49 Übersetzt von: Übersetzerin der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB Hauptmann Potapowa Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 1, Bl. 222–261. Maschinenschriftliches Original. Russische Übersetzung aus dem Deutschen.
3.5 Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 17. August 1951 Kleist, Ewald, geb. 1881 in Braunfeld, deutscher Staatsbürger, parteilos, höhere Ausbildung, ehemaliger Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A an der sowjetisch-deutschen Front, Generalfeldmarschall Beginn des Verhörs: 12 Uhr Ende des Verhörs: 18 Uhr Die Übersetzerin, Oberleutnant Kuschtsch L. M.50 ist über die Folgen einer Falsch übersetzung nach Artikel 95 des Strafgesetzbuches der RSFSR unterrichtet worden. Kuschtsch Frage: Sie sind nach Artikel 2 des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats von Deutschland Abschnitt 1a, 1b und 1c angeklagt.51 Haben Sie die Anklage verstanden und bekennen Sie sich schuldig?
49 Boris A. Solovov (1921–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1941 bei der Staatssicherheit, 1943–1948 leitender Ermittler bei der „Smerš“, 1948–1950 leitender Ermittler bei der Untersuchungsabteilung des MGB der UdSSR, Ende 1953 in die Reserve versetzt. 50 Lidija M. Kušč (1917–?), sowjetische Geheimdienstoffizierin, seit 1941 bei der Staatssicherheit, dort zunächst als Deutschlehrerin tätig, dann Übersetzerin bei der „Smerš“ der 2. Pribaltischen Front, 1945–1946 Untersuchungsführerin bei der 4. Abteilung der „Smerš“, 1951 als Oberleutnant Übersetzerin bei der Untersuchungsabteilung des MGB der UdSSR, dann beim KGB, 1970 in Rente. 51 Die Artikel II a), b) und c) des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. 12. 1945 stellten Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrehen gegen die Menschlichkeit unter Strafe.
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Antwort: Ich habe die Anklage verstanden. Ich bestreite nicht, als Befehlshaber einer deutschen Panzergruppe am 23. oder 24. Juni 1941 – genau weiß ich das nicht mehr, außer, dass es in den ersten Tagen des Krieges gegen die Sowjetunion war – im Gebiet von Lwow mit meinen Truppen die sowjetische Grenze überschritten zu haben und auf sowjetisches Territorium eingedrungen zu sein. Ich war bis zum April 1944 in der Sowjetunion. In diesen drei Jahren befehligte ich verschiedene deutsche Truppenverbände und führte Kampfhandlungen gegen die Sowjetarmee. Darüber hinaus befehligte ich zuletzt die Heeresgruppe A, die aus zwei Infanterie-Armeen bestand. Trotz dieser Tatsachen betrachte ich meine Teilnahme an diesem Krieg nicht als Verbrechen und bekenne mich auch daher der vorgebrachten Anklage entsprechend für nicht schuldig, denn ich nahm an diesem Krieg als Offizier teil, der nach den Befehlen von Rundstedts und Brauchitschs handelte. Frage: Ihr Verweis auf die Befehle höherer Offiziere, entsprechend derer Sie am Krieg teilnahmen, befreit Sie nicht von der Verantwortung für Verbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion. Antwort: Das ist möglich, aber ich erkläre der Untersuchungskommission hier nochmals, dass ich lediglich gemäß dieser Befehle gegen die Sowjetunion Krieg geführt habe. Konkret bedeutete das, dass ich einige Tage vor dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion von Feldmarschall Rundstedt einen schriftlichen Befehl erhielt, nach dem bald, d. h. an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit, die Truppen der 6. und der 17. Armee die sowjetische Grenze überschreiten würden und in die Verteidigungslinien der Roten Armee einbrechen würden. Durch diesen Befehl war ich verpflichtet, die Führung einer Panzergruppierung, die aus dem III. und dem XIV. Panzerkorps sowie dem Panzerkorps „Kempf“52 bestand, zu übernehmen. Meine Aufgabe bestand darin, die Verteidigungsstellungen der russischen Linien zu durchbrechen und weit auf sowjetisches Gebiet vorzudringen, um Angriffe russischer Panzereinheiten abzuwehren und die Truppen zu vernichten. Um diesen Befehl zu erfüllen, stieß ich am 23. oder 24. Juni 1941 mit den bereits genannten Panzereinheiten in das Gebiet der Sowjetunion vor und drang weiter in Richtung Dubno und Rowno vor, ohne diese Städte einzunehmen.
52 Werner Kempf (1886–1964), General der Panzertruppe, seit 1905 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Generalstabsausbildung, in der Reichswehr Kommandeur von Kraftfahreinheiten, 1934 Chef des Stabes der Inspektion der Heeresmotorisierung, 1936 Inspekteur der Heeresmotorisierung, 1937 Kommandeur der 4. Panzer-Brigade, 1939 einer Panzer-Division, 1941 des XXXXVIII. Armeekorps in der Heeresgruppe Süd, ab 1942 der 4. Panzerarmee unterstellt, Einnahme der südlichen Vororte von Stalingrad, abberufen, im März 1943 gemeinsam mit Einheiten der Waffen-SS Wiedereinnahme von Char’kov, nach Verlust Char’kovs und dem Scheitern der Armeeabteilung „Kempf“ in der Schlacht bei Kursk nur noch kurzfristige Verwendungen. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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Frage: Ihr militärisches Vorgehen blieb aber nicht darauf beschränkt. Ihre Truppen begingen zahlreiche Verbrechen und Gewalttaten gegen die sowjetische Zivilbevölkerung. Äußern Sie sich dazu! Antwort: Ich habe keine Befehle zu Verbrechen und Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung erteilt. Mir ist auch nicht bekannt, dass meine Truppen an solchen Handlungen beteiligt waren. Das Protokoll ist wahrheitsgemäß aufgenommen und mir in deutscher Übersetzung vorgelesen worden. Kleist Es verhörte: Der Stellvertretender Leiter der Untersuchungsabteilung der Zweiten Hauptverwaltung des MGB der UdSSR Major Wolkow53 Es übersetzte: Die Übersetzerin der Untersuchungsabteilung der Zweiten Hauptverwaltung des MGB der UdSSR Oberleutnant Kuschtsch Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 2, Bl. 4–7. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
3.6 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel54, Moskau, 21. November 1951 Verhörprotokoll des ehemaligen Generalleutnants der deutschen Armee, Stahel, Rainer vom 21. November 1951 Stahel, R., 1892 in Bielefeld (Deutschland) geboren, Deutscher, aus einer Offiziersfamilie stammend, in der deutschen Armee seit 1911, Generalleutnant, parteilos. Ausgezeichnet von Hitler mit dem Ritterkreuz mit Schwertern und Eichenlaub Verhörbeginn: 11.35 Uhr
53 Volkov (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1951–1952 im Rang eines Majors stellvertretender Leiter der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR. 54 Rainer Stahel (1892–1955), Generalleutnant, 1911–1918 Berufssoldat im preußischen Heer, 1918 Wechsel zur Finnischen Armee, dort zuletzt Kommandeur eines Infanterieregiments, seit 1919 bei der Finnischen Grenzschutzpolizei, Kommandeur eines Schutzkorps, Anfang 1934 Eintritt in die Reichswehr, 1935 Wechsel zur Luftwaffe, beteiligt an der Entwicklung der Flakartillerie, seit 1939 Kommandeur verschiedener der neuen Flak-Abteilungen der Wehrmacht, seit 1941 an der Ostfront, 1942 Aufstellung und Ausbildung der 4. Luftwaffen-Felddivision, im Winter 1942/43 Führung einer Luftwaffen-Kampfgruppe nahe Stalingrad, im Frühjahr 1943 Kommandeur der 22. Flak-Brigade in Italien, Herbst 1943 Kommandant von Rom, Anfang Juli 1944 Kommandant des Festen Platzes Wilna, Ende Juli 1944 für einen Monat Stadtkommandant von Warschau, Ende August 1944 Kampfkommandant von Bukarest. Dort in sowjetische Kriegsgefangenschaft, August 1951 vom Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR (MGB) als Kriegsverbrecher festgenommen, Februar 1952 vom Militärtribunal der Truppen des MGB zu 25 Jahren Gefängnishaft verurteilt, am 30. 11. 1955 im Sondergefängnis des MGB verstorben.
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Frage: Durch die Untersuchung lässt sich feststellen, dass Sie oft Kontakt mit Hitler hatten und eine Reihe von besonderen Aufträgen für ihn ausführten. Äußern Sie sich, wann und unter welchen Umständen Sie Hitler näher kamen! Antwort: In der vorangegangenen Untersuchung habe ich bereits ausgesagt, dass ich im November und Dezember 1942 Kommandeur der Kampfgruppe „Obliwskaja“ war. Sie umfasste 5–6000 Mann fechtende Truppe. Ich hielt die Verteidigung am Fluss Tschir (ein Nebenfluss des Don) und im Laufe des Monats wehrte ich die Attacken der überlegenen russischen Truppen ab. Man muss dazusagen, dass das deutsche Kommando diesem Frontabschnitt eine besondere Bedeutung zumaß. Der Oberbefehlshaber der Luftflotte 4, Feldmarschall Richthofen, sagte mir, dass der Flughafen Obliwskaja gehalten werden müsse, da er von besonderer Bedeutung sei. Über den Flughafen würden Lebensmittel transportiert und die Versorgung der deutschen Truppen bei Stalingrad sichergestellt. Am 31. Dezember 1942 vernichteten die sowjetischen Truppen schließlich meine Truppen. Es gelang mir, mit einem kläglichen Rest aus dem Kessel „herauszukriechen“, und uns zu den Truppen der Heeresgruppe Manstein durchzuschlagen. Dennoch wurden meine Dienste von der Führung hoch gewürdigt. Ich wurde für das „Eichenlaub“ vorgeschlagen. Die Regeln sahen vor, dass das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes von Hitler persönlich verliehen wurde. Am 14. Januar 1943 kam ich im Gebiet von Hitlers Hauptquartier in der Nähe der Stadt Rastenburg in Ostpreußen an, und am 16. Januar empfing mich Hitler, der mich auszeichnete. Auf diese Weise wurde Hitler erstmals vorgestellt. Frage: Berichten Sie ausführlicher über Ihr Treffen mit Hitler! Antwort: Ich kam um 11 Uhr im Oberkommando an. Oberstleutnant (später Oberst) von Below, der Verbindungsoffizier des Oberkommandos der Luftwaffe bei Hitler war, sagte mir, dass der Führer mich kaum empfangen würde, denn der gesamte Stab erinnere gerade an einen Bienenschwarm, wo alles nur über ein Thema sprächen – Stalingrad. Von Below, den ich bereits früher kennengelernt hatte, teilte mir vertraulich mit, dass der Führer nicht mehr schlafen könne und keinen Appetit mehr habe und auch nicht mehr an die frische Luft gehe. Deswegen hätten ihm seine Nächsten einen Hund geschenkt, damit er etwas Zerstreuung habe. „Das ist derzeit das Wesen, das dem Führer am nahesten ist!“ fügte von Below hinzu. „Mit dem Hund geht er ein wenig vor dem Bunker spazieren.“ Um ca. 15 Uhr bat mich von Below in den Saal für die Militärbesprechungen, der sich in der sogenannten „Holzbaracke“ befand. Ein recht großer Raum in unmittelbarer Nähe zum persönlichen Bunker Hitlers. In dem Saal saß hinter einem Tisch vollkommen allein Hitler. Mich erschütterte sein offenbar von Schlaflosigkeit verquollenes Gesicht. Hitler erhob sich und schluckte schnell irgendein Pulver hinunter. Dann kam er auf mich
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zu und reichte mir die Hand. In einer kaum zu hörenden Stimme sagte er: „Ich gratuliere Ihnen Oberst. Ich kenne Ihren Namen von der Operationskarte. Sie haben Ihre Position gut verteidigt.“ Mit diesen Worten überreichte er mir ein Kästchen mit der Auszeichnung. Sofort tauchte ein Fotograf auf, der den Händedruck mit dem Führer verewigte. Ich wollte Hitler eine Reihe meiner Überlegungen bezüglich der unzureichenden Leitung der Operationen auf Seiten der höheren Offiziere darlegen, denn ich nahm an, dass der Führer am Austausch mit einem Frontoffizier interessiert sei, der geradeso aus dem Chaos Stalingrads entkommen war. Aber dem war nicht so! Zunächst sprach Hitler mit ruhiger, weinerlicher Stimme über den Verrat der Italiener und Rumänen, die ihn der Willkür des Schicksals auslieferten, was, seiner Meinung nach, zur Niederlage bei Stalingrad geführt habe. Ich nutzte eine Sprechpause und bemerkte, dass auch unter uns Deutschen viele Unbegabte seien, die nicht die Kraft besäßen es mit den Russen aufzunehmen. Ich wollte meinen Gedanken noch weiterführen, aber Hitler unterbrach mich. Mit kreischender Stimme und gestikulierend, schrie er: „Sie haben Recht, vollkommen Recht! Ich bin mit den Generalen unzufrieden, unglaublich unzufrieden. Es ist Zeit für einen Wechsel, man muss junges Blut in die Generalität befördern…“ In diesem Moment kam ein SS-Mann herein und informierte, dass ein General auf den Empfang warte (den Namen habe ich vergessen). Hitler schwieg sofort. „Auf Wiedersehen Herrschaften!“ wandte er sich an mich und an von Below. Wir verließen den Saal. Von Below beruhigte mich mit einer Tasse Kaffee und erklärte mir, dass Hitler nicht nur mir, sondern auch sonst niemandem das Wort erteile. Mit einer gewissen „Stabsironie“ bemerkte er, dass meine Aufregung unbegründet sei, denn laut der Meinung des Führers sei die Schlacht bei Stalingrad nur eine krampfhafte Agonie des Sowjetregimes, das alle seine Reserven an der Wolga konzentriert habe. „Uns ist bekannt“, so fuhr der selbstzufrieden lächelnde von Below fort, „dass die Russen bald an der gesamten Front zurückrollen werden.“ Das war die Stimmung, die von Hitler und seinen Militärberatern für die Kriegspropaganda künstlich erzeugt wurde. Am gleichen Tag brach ich nach Berlin auf, um mich auszukurieren und zu erholen. Der Urlaub wurde plötzlich von der Aufforderung unterbrochen, erneut in das Führerhauptquartier zu kommen. Frage: Wie war das? Antwort: Ich war gerade zu Hause in Leipzig. In der Nacht des 20. Februars 1943 rief mich die Sekretärin des Chefs des Generalstabs der Luftwaffe, Jeschonnek55, an und
55 Hans Jeschonnek (1899–1943), Generaloberst, seit 1914 Berufssoldat, ab 1917 bei der Fliegertruppe, dann bei der Kavallerie, 1921–1923 Generalstabsausbildung, 1923–1928 im Heereswaffenamt sowie 1928–1933 als Berater im Reichswehrministerium befasst mit Vorbereitungen zur Aufstellung einer Luftwaffe, 1933 Adjutant des Staatssekretärs im Luftfahrtministerium Erhard Milch (1892–1972), 1938
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teilte mir mit, dass ich auf Befehl Jeschonneks mit kleinem Gepäck schnell nach Winniza in Hitlers Hauptquartier fliegen sollte. Am 21. Februar flog ich nach Winniza. Frage: Wo befand sich das Oberkommando? Antwort: Das Oberkommando Hitlers befand sich im Wald ca. 10 km von der Stadt entfernt. Im Unterschied zum ostpreußischen Hauptquartier „Wolfsschanze“ mit seinen Bunkern hatte das Führerhauptquartier in Winniza nur provisorischen Charakter. Alle Räumlichkeiten waren aus Holz und hervorragend in der umliegenden Landschaft getarnt. Hier hatte ich mein zweites Treffen mit Hitler. Frage: Worüber redeten Sie mit Hitler bei diesem Treffen? Antwort: Der bereits oben genannte von Below holte mich ab und führte mich umgehend in die zweite Etage des kleinen zweistöckigen Gebäudes, in dem sich Hitler mit seinem engsten Kreis aufhielt. Noch auf dem Weg dorthin informierte mich von Below darüber, dass ich bereits in der kommenden Nacht in die Stadt Saporoschje aufbrechen sollte. Ich gebe zu, dass ich völlig überrascht war. Wir traten in ein kleines Zimmer ein, in dem sich um die Karten ungefähr zehn Generale und Offiziere des Generalstabes drängten. Unter ihnen auch der damalige Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Zeitzler. Hitler saß an einem einzelnen Tisch und war ebenfalls über eine Karte gebeugt. Als er mich sah, erhob er sich leicht und begrüßte mich mit der für ihn typisch Geste des Hitlergrußes. Den üblichen Regeln folgend, bedankte ich mich bei Hitler für die Versetzung in den ersten Generalsrang am 1. Februar 1943. Hitler stand hinter dem Tisch auf dem die Karte lag. Ich betrachtete sie und erkannte das Gebiet von Saporoschje. Hitler, der sehr aufgeregt war, aus Gründen, die ich später noch erfuhr, wandte sich an mich mit einem Schwall abgehackter und chaotischer Anweisungen: „Ich ernenne Sie zum Chef der Verteidigung des Gebiets Saporoschje. Es ist gut, dass Sie gekommen sind. Meine Generale kennen sich weder in der Wirtschaft noch in der Politik aus. Einer von ihnen hätte um ein Haar das Baltikum verloren. Saporoschje ist sehr wichtig. Da befinden sich der Dnjeprstaudamm und die Mangangruben. Mangan benötige ich für die Kanonen. Ohne Kanonen kann selbst ich nicht den Krieg gegen die Bolschewiken gewinnen. Sie (er nickte in die Richtung der Generale) wollen das nicht verstehen. Organisieren Sie eine uneinnehmbare Verteidigung und vergessen Sie die Wichtigkeit des Flughafens nicht, denn das ist der einzige vernünftige Flugplatz, der sich unter unserer Verfügungsgewalt in diesem Gebiet befindet.“ Ich fiel ein wenig dreist in den Monolog Hitlers ein und erklärte, dass ich mit einem Tross von Soldaten diese Aufgabe nicht bewältigen könne. Zeitzler erklärte schnell, dass er die 48. Division vom Kuban nach Saporoschje verschieben könne.
Chef des Luftwaffenführungsstabes, seit 1939 Generalstabschef der Luftwaffe, am 18. 8. 1943 Suizid nach den schweren Luftangriffen auf Peenemünde.
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Eine Viertelstunde später hatte ich in der Offizierskantine ein interessantes Gespräch mit Zeitzler. In diesem Gespräch klärte mich Zeitzler über den Grund für die außergewöhnliche Erregung Hitlers auf. Frage: Was war der Grund für die Aufregung? Antwort: Der Grund für diese extreme Erregung Hitlers war nicht die Angst, die Mangangruben zu verlieren. Der Führer war zu Tode erschreckt, denn am Vorabend, so berichtete mir Zeitzler, wäre Hitler beinahe als Trophäe in die Hände von sowjetischen Panzertruppen gefallen. Am 20. Februar 1943 hatten die Russen nämlich die Front in der Gegend der Stadt Izjum durchbrochen. Einer Panzerkolonne gelang es, in das Gebiet von Saporoschje vorzudringen, wo am Abend zuvor Hitler zu einem Treffen mit Manstein geflogen war. Das Flugzeug Hitlers war auf jenem Flugplatz, über den mich der Führer in Kenntnis gesetzt hatte. Die russischen Panzer waren nur noch 5 km vom Flugfeld entfernt, als ihnen ein deutscher Panzerzug mit Flugabwehrgeschützen den Weg versperrte. Gleichzeitig hoben vom Flugplatz Sicherungsflugzeuge zum Einsatz ab. Es gelang, die russischen Panzer zurückzuwerfen und am späten Abend flog Hitler in seinem Flugzeug mit einer Eskorte von Jagdflugzeugen nach Winniza zurück. Hitler war panisch. Es reicht aus zu bemerken, dass in der gesamten darauffolgenden Zeit Hitler sich nicht ein einziges Mal hinter die deutschen Grenzen begab, wenn man den zweistündigen Flug nach Saporoschje einen Monat später nicht dazuzählt. Damals war die Front aber genügend stabilisiert und das Gebiet von Saporoschje hatte ich nach allen Regeln der Kunst des deutschen Stellungsbaus befestigt. Frage: Trafen Sie Hitler während seines Aufenthalts in Saporoschje? Antwort: Ja. Frage: Präzisieren Sie, wann das genau war! Antwort: Um den 20. März 1943. Ich sah Hitler beim Mittagessen, wozu ich von seinem Adjutanten, General Schmundt, eingeladen worden war. Während des Mittagessens, bei dem auch Manstein und Richthofen anwesend waren, erklärte mir Hitler, dass er die mir gestellte Aufgabe als erfüllt ansieht und bald einen anderen Auftrag von ebenso großer Wichtigkeit für mich finden wird. Frage: Hielt Hitler sein Versprechen? Antwort: Ja, das tat er. Am 6. Juni 1943 wurde ich von Hitler nach Italien versetzt. Ich hatte die Aufgabe, den Zustand der deutschen Verteidigung, hauptsächlich der Flugabwehr, zu kontrollieren. Im September 1943 wurde ich auf Anweisung des Befehlshabers des deutschen Militärs in Italien, Feldmarschall Kesselring, zum Kommandanten von Rom berufen. Über meine militärischen Aktivitäten und Vergeltungsaktionen gegen die Partisanen habe ich bereits in den vorhergehenden Verhören ausgesagt. Frage: Hat Ihnen Hitler persönlich die Anweisung erteilt, nach Italien zu fahren?
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Antwort: Ja. Ich wurde nach Berchtesgaden kommandiert, wo mir im Beisein des oben genannten Jeschonnek Hitler kurz den Kern meiner Aufgaben in Italien darlegte. Bei diesem Treffen geschah nichts Bemerkenswertes mehr, außer den mich ermüdenden und üblichen Klagen Hitlers über seine Generale. „Man berichtet mir“, erklärte Hitler, „dass alles in Ordnung ist, aber bei der Überprüfung kommt heraus, dass noch nichts passiert ist! Deswegen muss ich Sie nach Italien schicken.“ Frage: Wem legten Sie Rechenschaft über die durchgeführte Arbeit in Italien ab? Antwort: Ich erstattete Hitler Bericht. Am 3. November war ich im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“. Beim Empfang bei Hitler war Feldmarschall Keitel anwesend sowie General Schmundt und der Historiograph Generalmajor Scherff. Zu den Aufgaben des letztgenannten gehörte die Niederschrift der „Geschichte“ der Unterwerfung der Welt durch Hitlerdeutschland. Hitler hatte Scherff persönlich die Anweisung erteilt. Es versteht sich von selbst, dass dieser mit allen Kräften bemüht war, die heldenhaften Großtaten des Führers auszumalen. Hitler war ausnahmsweise recht gut gelaunt. Das erste Mal erlaubte er mir auszureden, nachdem ich ihm vorgeschlagen hatte, die Situation in Italien und besonders in Rom darzulegen. Ich berichtete Hitler, dass es mir gelungen war, mit Hilfe der aktiven Unterstützung des Vatikans die Handlungen der Partisanen zeitweilig zu lähmen und im bestimmten Maß die Sicherheit der deutschen Nachschubwege zu gewährleisten. Ich erklärte Hitler auch, dass Mussolini extrem unpopulär sei und seine Schwarzhemden überhaupt keinen Einfluss auf das Land besäßen. Die einzige wirkliche Macht, auf die man, meiner Meinung nach in Italien zählen könne, sei die katholische Geistlichkeit – die zahlreichen Vertreter der „Schwarzen Armee“ von Papst Pius XII. Hitler erhob keine Einwände gegen meine Schlussfolgerungen und fragte, was man aus Italien zum Ziele der weitern Kriegsführung noch herauspressen könne. Ich antwortete ihm, dass man aus der italienischen Industrie noch viel herausholen könne, aber nur, wenn wir die Bevölkerung in Italien zur Arbeit mobilisieren, und sie nicht nach Deutschland abtransportieren würden. Was die Truppen von Marschall Graziani56 betraf, so seien sie auf Grund ihrer schwachen Kampfkraft nur zur Sicherung der Kommunikationswege und der Kriegsgefangenenlager zu gebrauchen. Damit beendete ich meine Ausführungen.
56 Rodolfo Graziani (1882–1955), Marschall von Italien, seit 1904 Berufssoldat, 1908–1915 sowie 1921– 1934 Kolonialoffizier in Lybien, 1935–1936 Oberkommandierender der Südarmee im Krieg gegen Äthiopien, 1937 Vizekönig von Äthiopien, 1939 Generalstabschef Italiens, Generalgouverneur in Lybien und Oberbefehlshaber in Nordafrika, nach dem Scheitern der italienischen Offensive 1941 amtsenthoben, 1943 Oberbefehlshaber der weiter auf deutscher Seite stehenden italienischen Truppen. 1945 zunächst in US-Kriegsgefangenschaft, dann in italienischer Haft, 1950 zu 19 Jahren Haft verurteilt, aber umgehend begnadigt.
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Hitler lehnte sich in seinen geschnitzten Sessel zurück und schüttelte traurig den Kopf. Dann sagte er mit einem sehr tiefsinnigen Blick, indem er sich zu den Anwesenden wandte: „Der Duce ist schon alt, 62 Jahre. In so einem fortgeschrittenen Alter verbessert man eine solche Situation nicht mehr. Als ich die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland anführte, war ich 35 Jahre alt. Stahel hat mit seinen Einschätzungen über die Lage in Italien wohl Recht.“ Dann erlaubte mir Hitler zu gehen, ohne mir irgendwelche weiteren Anweisungen zu erteilen. Frage: Haben Sie Hitler dann nicht noch einmal getroffen? Antwort: Ich wurde noch dreimal von Hitler in das ostpreußische Oberkommando „Wolfsschanze“ beordert. Zweimal im März 1944 und einmal im Juli 1944. Frage: Vor welchem Hintergrund geschah das? Antwort: Im März 1944 rief mich von Below in meiner Wohnung in Leipzig an und forderte mich auf, umgehend mit dem Zug ins Oberkommando zu kommen, denn ich sollte einen Spezialauftrag Hitlers ausführen. Als ich beim Oberkommando ankam, erfuhr ich, dass Hitler mich hatte zu sich rufen lassen, weil die Lage an der Ostfront bedrohlich war. Die sowjetischen Truppen marschierten ungehindert auf die Grenzen Polens zu. Gleichzeitig sickerten beachtliche Partisanenverbände durch die Frontlinien, die im Gebiet Peremyschlja aktiv seien. Hitler zog es vor, darüber zu schweigen. Im Gespräch erklärte Hitler, dass „in Lwow Durcheinander herrsche und die Militärmacht den Belagerungszustand ausrufen wollte, obwohl [Generalgouverneur] Frank57 diese Maßnahme für verfrüht halte.“ Hitler schlug mir vor, ein paar Tage im Hauptquartier zu bleiben und sich detaillierter mit der Lage an der Front vertraut zu machen, um dann nach Lwow zu fahren, die Gegebenheiten zu untersuchen und im Anschluss zurückzukehren, um Bericht zu erstatten. Frage: Wer unterrichtete Sie ausführlicher über die Lage an der Front? Antwort: Hitler erlaubte es mir zweimal an den Lagebesprechungen als Beobachter teilzunehmen. Während der Lage erhielt ich die für mich notwendigen Informationen aus den Berichten der entsprechenden Teilnehmer. Frage: Nennen Sie die Personen, die an den Lagebesprechungen im Stabsquartier Hitlers teilnahmen. Antwort: Der Kreis der Personen, die an den Lagebesprechungen teilnahm, war von Hitler persönlich genau ausgewählt. Vom Oberkommando der Wehrmacht nahmen
57 Hans Frank (1900–1946), Jurist, 1923 Beitritt zu SA und NSDAP, Anwalt Hitlers, 1933 Reichskommissar für die „Gleichschaltung der Justiz“, 1934 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, 1939–1945 Generalgouverneur in Polen. 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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an der Besprechung Feldmarschall Keitel, General Jodl und sein Assistent, General der Infanterie Warlimont („Schönling Warlimont“, wie er für gewöhnlich hinter dem Rücken wegen seines niedlichen Aussehens genannt wurde), teil. Das Heer wurde durch den Chef des Generalstabes Zeitzler und einige seiner Mitarbeiter repräsentiert. Die Luftwaffe wurde durch den Generalstabschef, General Korten58, vertreten, der Jeschonnek ersetzte, da dieser sich das Leben genommen hatte. Von der Marine waren die Admiräle Puttkamer und Voß anwesend und von der Waffen-SS General Fegelein. Es handelt sich um denselben Fegelein, der, wie ich erfuhr, bereits in Gefangenschaft gesessen hatte und später mit Hitler verschwägert war, weil er die Schwester von Eva Braun geheiratet hatte. In der Regel waren auch der Vertreter Görings – oder „das Ohr Görings“, wie man ihn nannte –, General Bodenschatz, sowie der ständige Vertreter Ribbentrops, der Gesandte Hewel, bei den Lagebesprechungen unerlässliche Teilnehmer, die Hitler die neuesten Telegramme vortrugen. Am weitaus unauffälligsten war der Historiograph Scherff, den ich bereits erwähnt habe, der schweigend und bescheiden in einer Ecke saß. Einmal kam Himmler zu einer Versammlung. Er schwieg ebenfalls. Aber im Unterschied zu Scherff schwieg Himmler deswegen, weil er sich mit Hitler offensichtlich nach der Lage unter vier Augen besprach. Frage: Haben Sie sich mit Hitler noch einmal vor Ihrer Abreise nach Lwow persönlich getroffen? Antwort: Ja, ich meldete meine Abreise. Hitler sagte nicht ein Wort, drückte mir nur fest die Hand und schaute mir unablässig mit seinem schweren, unbeweglichen Blick in die Augen und verließ das Zimmer. Ich war zu diesem Zeitpunkt kein Neuling mehr im Stab und wusste daher, dass es sich bei solch einer Verabschiedung um eine besonders beliebte schauspielerische Art des Führers handelte, der dadurch auf gewisse Weise sein besonderes Vertrauen demjenigen gegenüber ausdrückte, der seinen Willen erfüllte. Am gleichen Tag flog ich nach Lwow, wo ich mich drei Tage lang aufhielt. Ungefähr am 15. März 1944 kehrte ich in das Stabsquartier zurück, um Hitler Bericht zu erstatten. Frage: Legen Sie kurz den Inhalt Ihres Berichtes dar!
58 Günther Korten (1898–1944), Generaloberst, seit 1914 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Pionier-Offizier, 1928 Ausbildung an der deutsch-sowjetischen Fliegerschule in Lipezk, im Reichswehrministerium Vorbereitung einer Abteilung für Flugbeobachter (sog. Bildstelle Berlin), 1934 Wechsel zur Luftwaffe, 1935/36 Generalstabsausbildung, 1938 Chef des Stabes beim Kommandierenden General der Luftwaffe in Österreich, 1939 umbenannt in Generalstabschef der Luftflotte 4, 1940 der Luftflotte 3, 1941 erneut der Luftflotte 4, 1942 Kommandeur des I. Fliegerkorps, 1943 Generalstabschef der Luftwaffe, am 20. 7. 1944 beim Attentat auf Hitler so schwer verwundet, dass er nach 2 Tagen starb.
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Antwort: Ich meldete Hitler, dass die direkte Gefahr der Befreiung Lwows durch die sowjetischen Truppen beseitigt sei. Gleichzeitig richtete ich Hitler eine Bitte des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Süd, Feldmarschall Manstein aus. Er bat darum, für Polen einen allein zuständigen Befehlshaber für die Waffen-SS und den Sicherheitsdienst anstelle der zahlreichen selbstständige Leiter der Einsatzkommandos, Sondergruppen usw. zu ernennen. Hitler antwortete, dass er eine Entscheidung diesbezüglich später treffen würde. Ich wurde gnädig nach Leipzig in den Urlaub geschickt. Frage: Wann folgte der nächste Auftrag Hitlers? Antwort: Am 8. Juli 1944 erhielt ich den Befehl des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, umgehend nach Vilnius zu fliegen. Ich sollte ich das Kommando über die eingekesselten deutschen Truppen übernehmen und sie aus dem Kessel führen. Ich habe bereits in den vorangegangenen Verhören ausgesagt, dass es mir um den Preis hoher Verlust gelang, den Rest der Garnison aus der Einschließung zu befreien. Für diese Operation wurde ich von Hitler mit dem hohen Orden – den Schwertern zum Eichenlaub des Ritterkreuzes geehrt. Am 27. Juli 1944 kam ich in die „Wolfsschanze“, wo ich von Hitler die genannte Auszeichnung erhielt. Das war mein letztes Zusammentreffen mit Hitler. Frage: Sie sind nicht nur wegen der Auszeichnung in das Hauptquartier gefahren, warum schweigen Sie über den Spezialauftrag, den Ihnen Hitler erteilte? Antwort: Ich habe vergessen anzugeben, dass Hitler mich während des letzten Treffens zum Militärkommandanten von Warschau ernannte. Über meine Vergehen, die ich als Kommandant Warschaus, besonders während der Niederschlagung des Aufstandes, beging, habe ich schon ehrlich während der letzten Verhöre ausgesagt. Frage: Zur Frage Ihrer verbrecherischen Aktivitäten in Polen werden wir noch zurückkehren. Berichten Sie jetzt ausführlich über Ihr letztes Treffen mit Hitler! Antwort: Ich kam ungefähr um 19 Uhr am Abend des 27. Juli 1944 im Führerhauptquartier an. Keitel bot mir freundlich den Salon in seinem Zug zur Erholung an, der auf einem Sondergleis auf dem Gelände des Stabsquartiers stand. Der Adjutant Keitels – von Szymonski59 – berichtete mir ausführlich über das Attentat auf Hitler, das gerade ein Woche vorher, am 20. Juli, stattgefunden hatte. Er kostete besonders jenen Umstand aus, dass die Tasche mit der „Höllenmaschine“ einige Minuten in seinen Händen gewesen war, dass aber Stauffenberg ihm gesagt habe, dass er die Tasche selbst in den Sitzungssaal trägt und sich sehr freundlich bei von Szymonski für seine Mühe bedankte. Um ein Uhr nachts, bei völliger Dunkelheit, denn es war Luftalarm ausgelöst worden, führte mich von Below (den ich bereits erwähnt habe) in den Bunker Hitlers.
59 Gerhard von Szymonski (?–?), Major, 1942–1945 Adjutant der Luftwaffe beim Chef des OKW.
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Der enge Gang, der in das Zimmer Hitlers führte, war überfüllt mit jungen SS-Soldaten, und mein Passierschein wurde zweimal kontrolliert. Dann trat ich in einen kleinen, bescheiden eingerichteten Raum ein, in dem sich Hitler und der neue Stabschef, Guderian, aufhielten. Hitler hatte sich fürchterlich seit März 1944 verändert. Er war stark verkrümmt, das Gesicht war aufgequollen und zu einer ausdruckslosen Maske geworden. Die Hand, die er mir vorsichtig hinstreckte, zitterte stark. In heiserem und unverständlichem Ton nuschelte er so etwas wie, dass er nicht erwartet habe, mich heil und unversehrt nach Vilnius wiederzusehen. Mit diesen Worten überreichte er mir die Schwerter. Während er anschließend zur Seite schaute, befahl mir Hitler sofort nach Warschau zu fliegen, was für mich vollkommen unerwartet geschah. „In dieser Stadt herrscht das Chaos sagte Hitler. Unsere zurückgewichenen Truppen haben die Militärverwaltung vollkommen desorganisiert. Es ist nötig, ein strengeres Regiment zu führen. Achten Sie besonders auf die Polen. Sie erhalten weitere Anweisungen von Guderian.“ Ich ging in den Gang hinaus, wo ich beschloss, auf Guderian zu warten. An mir vorbei ging Jodl mit verbundenem Kopf, der mir die Hand reichte. Dann kam General Wenck, ein aufsteigender Stern im Führerhauptquartier, mit zwei Stabsoffizieren. Wir sprachen kurz über die Lage an der russischen Front. Im Eifer der Unterhaltung hätte ich beinahe Hitler verpasst, der zusammen mit Guderian aus der Seitentür kam. Hitler setzte offenbar das begonnene Gespräch über das Attentat fort, denn er beschwerte sich über den unerträglichen Schmerz in der Seite als Folge der Prellungen. „Es macht nichts, denn so ein Unkraut wie ich vergeht nicht so leicht“, sagte Hitler und lachte spöttisch auf. Ich bin durch göttliche Fügung am Leben und betrachte meine Errettung als Zeichen der Vorsehung.“ Die letzten Worte sprach er etwas lauter, offensichtlich deshalb, damit es die Umstehenden auch hörten. Dann ging Hitler in den Bunker, wo sich sein Privatbereich befand. Das ist alles, was ich über mein letztes Zusammentreffen mit Hitler sagen kann. Stahel Das Protokoll des Verhörs wurde abgeschlossen: 19.15 Uhr Das Verhörprotokoll meiner Aussagen entspricht der Wahrheit, es wurde mir ins Deutsche übersetzt. Stahel Es verhörte: Der leitende Sonderermittler der 2. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, Major Kopeljanskij Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 84‑95. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik 4.1 Eigenhändige Zeugenaussage des Generalleutnants Rainer Stahel „Aufstand in Warschau“, Moskau, 28. April 1945 Der Aufstand in Warschau 1.) Am 27.7.44 wurden mir [als Führer] des Sonderstabs Stahel – vom Führer die Schwerter zum Eichenlaub des Ritterkreuzes des 2. [Welt-]K[rieges] überreicht. Bei dieser Gelegenheit ernannte er mich zum Kommandanten von Warschau und erteilte mir folgenden Auftrag: a) für Ruhe und Ordnung zu sorgen b) den Ausbau der Befestigungsarbeiten zu unterstützen. Von einem drohenden Aufstand in Warschau war nicht die Rede. 2.) Am 28.7. fand ich in Warschau folgende Lage vor: Die Rote Armee hatte sich der Stadt mit mot. Kräften von Südosten und Osten vorstoßend bis auf 30, 40 km genähert. Die 73. Div[ision] und Teile der Div[ision] Göring1 hatten sich ihr vorgelagert, so dass berechtigte Aussicht bestand, die Russen längere Zeit aufzuhalten. In der Stadt befanden sich außer 2 Wachbataillonen zahlreiche Etappenformationen und Zivilstellen, die sich z[um] Teil in der Rückwärts-Verlegung befanden. Es handelte sich um Ersatzteillager, Nachrichtentruppen, Oberfeldkommandantur u. ä. Einen genauen Überblick habe ich nie erhalten, da die Ortskommandantur gerade gewechselt hatte[,] und die zivilen Stellen wie Post, Eisenbahn, Monopolverwaltung und Polizei noch dem Gouverneur unterstanden, bis sie bei Ausbruch des Aufstandes am 1.8. (Belagerungszustand) mir unterstellt wurden. Ich schätze die Gesamtstärke der Deutschen auf etwa 6000 Mann[,] darunter 500 Mann Polizei. Es handelte sich durchweg um ältere und älteste Jahrgänge, die nur mit Handwaffen und wenigen MG bewaffnet waren. Lediglich die Polizei verfügte über einen veralteten Panzerspähwagen. Der Ausbau der Riegelstellung ostwärts der Stadt wurde von der Zivilverwaltung betrieben, der der Stadtrandstellung von den in der Stadt liegenden Truppen. Das Leben in der Stadt erschien völlig normal. Die Polizei meldete, mit einem Aufstand müsse zwar jeder Zeit gerechnet werden, doch bestünde im Augenblick keine Gefahr. 3.) Bis zum Beginn des Aufstandes am 1.8. entwickelte sich die Lage folgendermaßen: Die Rote Armee stieß erfolgreich gegen Otwock, Polnisch Minsk und Radzyn vor, so
1 Gemeint ist die Fallschirm-Panzer-Division 1 „Hermann Göring“, die sich seit Juli 1944 an der Weichsel-Front befand.
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dass ich etwa 5–6 Kompanien Alarmeinheiten in die Riegelstellung ostwärts der Stadt abgeben musste. Deren Ausbau war noch nicht beendet, so gelang es den Russen[,] an verschiedenen Stellen in diese einzudringen und [sie] zu besetzen. Ich selbst war mit den Verhältnissen in Polen und in Warschau völlig unbekannt u. war daher stark damit beschäftigt, neben der Organisation des Stabes, zu welchem ich mir meine Offiziere von der Armee besorgen musste, mich mit den militärischen und zivilen Verhältnissen vertraut zu machen. Bei der Kürze der Zeit geschah das nur oberflächlich, da das Erfassen der Kräfte im Vordergrund stand. So konnte ich auch die Abschnittskommandeure, welche für innere Unruhen eingeteilt waren[,] nur einmal kurz sprechen u. grundlegende Befehle erteilen. In diese Zeit fiel ein Besuch von Mikolajczyk2 in Moskau, wie mir die Polizei meldete. Aus diesem Grunde, verbunden mit dem Näherrücken der roten Armee[,] machte sich eine erhöhte Aktivität unter den polnischen Aufstandsbewegungen bemerkbar. Jedenfalls brachten wir diese Umstände, mangels genauerer Unterlagen, in Zusammenhang. 4.) Die Polizei hatte in den ganzen vorherigen Jahren die aufständischen Bewegungen scharf verflogt und zur Abwehr vielfach Sprengstofflager, Druckereien, Unterführer usw. ausgehoben. Sie unterschied zwischen a) der A[rmia] K[rajowa], der nationalpolnischen Bewegung3 b) der kommunistischen Bewegung c) verschiedenen kleineren Bewegungen mit separaten Zielen. Sie unterhielt Agenten bei den Bewegungen, die insbesondere bei der A[rmia] K[rajowa] kurz vor dem Aufstand zuverlässige Meldungen brachten. Anscheinend war der beste Agent Mitglied einer Untergruppe. Wenn ich mich recht erinnere, meldete er am 29.7.[,] es wird losgeschlagen –– am 30.7.[,] nein[,] es wird nichts unternommen –– am 31.7.[,] Alarmstufe 3, innerhalb 40 Stunden geht es los –– am 1.8.[,] etwa 15.30 [Uhr,] es geht heute los.
2 Stanisław Mikołajczyk (1901–1966), Politiker, seit 1920 in polnischen Bauernparteien aktiv, 1930– 1935 Sejm-Abgeordneter, 1937 Parteivorsitzender, 1940 Innenminister und stellvertretender Premierminister der polnischen Exilregierung, Juli 1943 Premierminister, November 1944 Rücktritt, da die Sowjetunion seiner Regierung im Streit um die Massengräber von Katyn und die gemeinsame Grenze die Anerkennung verweigerte. 1945 Rückkehr nach Polen, bis Anfang 1947 Vizepremier und Landwirtschaftsminister der provisorischen Einheitsregierung, im März 1947 Abgeordneter des verfassungsgebenden Sejms, seit Oktober 1947 erneutes Exil in den USA. 3 Armia Krajowa (Heimatarmee, AK), ab 1942 Name der militärischen Widerstandsorganisation der polnischen Exilregierung, umfasste im Sommer 1944 etwa 390 000 Personen. Hauptaufgaben waren zunächst Diversion und Sabotage gegen die deutschen Besatzer, das langfristige Ziel eine militärische Selbstbefreiung, die unter dem Decknamen „Burza“ („Sturm“) im Januar 1944 begann, nachdem die Rote Armee die polnische Vorkriegsgrenze überschritten hatte und die deutschen Truppen zurückwichen.
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Da das Niederhalten und Niederschlagen eines Aufstandes in erster Linie Sache der Polizei war, habe ich mich um weitere Einzelheiten[,] insbesondere die Persönlichkeiten der Agenten[,] nicht gekümmert. Da ich vom Führer der Polizei getrennt wurde durch den Aufstand, habe ich auch später keine Einzelheiten mehr in Erfahrung gebracht, zumal mich nur die Kampfhandlungen interessierten, an den[en] ja alle Polen beteiligt erschienen. Ernstlich hatte niemand an einen polnischen Aufstand gedacht, da ein solcher aussichtslos erschien. Bei dem unberechenbaren Temperament wurde er jedoch für möglich gehalten. Diese Möglichkeit schien so gering, dass auf Bereitstellung von Truppen und schwer bewaffneter Polizei verzichtet wurde. Später wurde durch Gefangenenaussagen über die Vorbereitungen noch bekannt: Die Vorbereitungen wurden seit 4 Jahren betrieben.4 Anscheinend bestand eine Kerntruppe in Stärke von 4000 Mann. Diese war in Züge und Kompanien, Bat[ai]l[lone] und Regimenter eingeteilt. Geführt wurde diese durch militärische Dienstgrade wie Leutnants, Hauptleute usw. Vielfach handelte es sich dabei um ehem[alige] poln[ische] akt[ive] u. Reserve Offiziere, die beim Aufstand in poln[ischen] Uniformen auftraten. Die Uniformierung war nur z. T. in deutschen Uniformen. Meist wurde eine rotweiße [sic!]5 Armbinde getragen, dazu poln[ischer] Adler am Stahlhelm. Die Führer waren nur unter Decknamen bekannt, und zwar immer nur einem kleinen Kreise. Ausweise waren vorbereitet (mit Decknamen)[.] Vorschriften im kleinen Taschenformat selbst für neue deutsche Waffen wie MG 426 gedruckt (mit Abbildungen). Die Bewaffnung war dürftig. Vielleicht hat nicht einmal die Kerntruppe sämtlich Handwaffen besessen. Dagegen war jeder Mann mit selbstgefertigten Handgranaten oder Brandflaschen ausgerüstet. Die Ausbildung der Kerntruppe im Straßenkampf (Verteidigung) war sehr gut. Sie hatten alle modernen Feinheiten berücksichtigt. So neben Barrikadenbau (aus Fenstern heraus) Bekämpfen von Panzerwagen. Die taktische Zielsetzung zu Beginn des Aufstandes erschien recht dürftig. Sie erstreckte sich auf Überrumpeln von Waffenlagern, kleineren Wachen und Posten, Sperren einiger Straßen, Abschirmen größerer deutscher Quartiere und Angriff auf Fernsprechämter. Neben der Kerntruppe scheint eine große Zahl „Ersatzmannschaften“ listenmäßig organisiert worden zu sein, die jedoch kaum bewaffnet und ausgebildet sein
4 Zwar hatten die Vorgängerorganisationen der AK bereits seit Herbst 1939 auf einen landesweiten bewaffneten Aufstand hingearbeitet, doch waren die Pläne erst Anfang 1943 soweit konkretisiert worden, dass sich vor allem die größeren Städte beim Rückzug der deutschen Truppen nach und nach selbst befreien sollten. Noch im Frühjahr 1944 war allerdings Warschau davon ausdrücklich ausgenommen; erst im Juli 1944 fiel die Entscheidung zum Aufstand auch in Warschau. 5 Die polnischen Nationalfarben sind weiß-rot. 6 Das MG 42 war in der Wehrmacht seit 1942 eingeführt worden.
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dürfte. Jedenfalls war die Zahl der Aufständischen schon am 2. Tage des Aufstandes sehr stark angewachsen (20–40 000 Mann?) Verpflegung war zumindest für die Kerntruppe bevorratet. Frauen waren als Sanitätspersonal eingeteilt, ebenso Ärzte. Im allgemeinen scheinen Kirchen als Verbands- und Sammelplätze gewählt worden zu sein. Quartiere, in denen sich bis zu 20, 30 Mann sammeln konnten, für die Zeit kurz vor dem Aufstand waren vorbereitet. Die Stellungen für das Abriegeln von Straßen, Häuserblocks usw. waren genau erkundet. Sie wurden wenige Stunden vor dem Aufstand besetzt (wobei man die Wohnungsinhaber einsperrte), so dass der Aufstand schlagartig losbrechen konnte. 5.) Die geschah am 1.8.44 etwa 16.30 [Uhr]. Es gelang den Aufständischen[,] einzelne Wachen zu überrumpeln, Straßen zu sperren und Quartiere abzuriegeln. In Praga, Zoliborz, Gegend Fort Bema, Mokotow, Okezie7 [sic!] sowie Bielany wurde der Aufstand sofort niedergeschlagen, da sich in diesen Stadtteilen gerade Panzer oder Flak befanden. Die deutschen Stützpunkte verteidigten sich zunächst und stießen dann, soweit es ohne schwere Waffen möglich war, vor, um die feindl[ichen] Widerstandsnester einzunehmen. So bildeten sich folgende Widerstandsnester heraus: Gegend Blumenstraße, Drei Kreuzplatz und nördl[lich] des Schloß- und Theaterplatzes. Diese Gegenstöße ohne schwere Waffen, von im Straßenkampf ungeübten alten Männern kosteten den Deutschen Verluste, die ein weiteres Niederschlagen ohne schwere Waffen und junge Truppen nicht ratsam erschienen ließ. Abgesehen von Teilen eines Grenadier-Regimentes Ostpreußen8, das vorübergehend eingesetzt wurde, wurde nun die Polizei unter SS Obergruppenführer von dem Bach9 beauftragt, von außen her kommend die Stadt zu säubern. Ab 2. Tage des Aufstandes mussten die deutschen Stützpunkte der Innenstadt als isoliert angesehen werden. Verbindung war noch einige Tage möglich, bis die Aufständischen – zu viele Barrikaden und Brandflaschenschneisen – dieses verhinderten.
7 Gemeint ist der Warschauer Stadtteil Okęcie. 8 Gemeint ist das Grenadier-Regiment Ostpreußen 4. 9 Erich von dem Bach-Zelewski (1899–1972), SS-Obergruppenführer, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Freikorps, Reichswehr, 1924 Abschied wegen Betätigung für die NSDAP, der er 1930 beitrat, 1931 SS, seit 1932/33 Mitglied des Reichstages, 1934 Leiter des SS-Oberabschnitts Nordost in Königsberg, 1936 des Abschnitts Südost in Breslau, 1938 dort Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF), 1941 HSSPF Russland-Mitte, organisierte Massenerschießungen in Ostpolen und Weißrussland, Oktober 1942 zusätzlich Bevollmächtigter Himmlers für die „Bandenbekämpfung“, Juni 1943 „Chef der Bandenkampfverbände“, am 5. 8. 1944 von Hitler mit der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes betraut, Oktober 1944 Mitwirkung an der Ermordung der ungarischen Juden, Februar 1945 Kommandeur des OderKorps der Heeresgruppe Weichsel. 1945–1950 in alliierter Kriegsgefangenschaft, Belastungszeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess, 1962 zu lebenslanger Haft verurteilt, in der er verstarb.
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Die Aufständischen hatten an den ersten beiden Tagen erhebliche Verluste (2000–2500 Mann) gehabt. Sie verhielten sich daher zunächst passiv, hemmten aber durch Scharf- und Dachschützen das Säubern der Deutschen. 6.) Gleich nach Ausbruch des Aufstandes erschien ein Flugblatt, welches etwas Licht in die Ziele der Aufständischen bringen konnte. Es stammte sichtlich von der A[rmia] K[rajowa] und war von Oberst Bor10 unterzeichnet. Das Flugblatt kündigte die unmittelbare Befreiung Warschaus an; wies auf die Nähe der roten Armee hin, die jeden Tag in Praga einrücken könne. Auffallend war, dass sich das Blatt bezüglich der Hilfe von Russland mit Hoffnungen und Glauben abgab. Es wurde gehofft, dass die Russen bald da sind, und man glaubte[,] Russland würde die Freiheit und die alten Rechte Polens anerkennen. Ganz klar war mir nicht, wer die Führung der Aufständischen in der Hand hatte. Die Gefangenen sagten aus, auch die Kommunisten u. übrigen Parteien hätten sich mit der A[rmia] K[rajowa] geeinigt und alle Polen in der Stadt würden sich beteiligen. Ein Parlamentär brachte einst einen Zettel, der mit Lubischkoff (oder ähnlich)11[,] Oberbefehlshaber der neuen polnischen Armee[,] unterschrieben war. Jedenfalls betrachtete die Masse der Aufständischen sich als Soldaten. Die Führung zog alle greifbaren Wehrpflichtigen ein, unter welcher Formel diese verpflichtet wurden, ist nicht bekannt geworden. Die Masse der Bevölkerung und die gesamte Geistlichkeit war zweifelsohne von dem Aufstand überrascht worden, auch lehnte sie im Grunde genommen den Aufstand ab. Sie hatte auch genug zu leiden. 7.) Während ich persönlich mich darauf beschränken musste, von meinem Stabsquartier (am Sächs[ischen] Garten) aus, die langsame Ausbreitung der deutschen Stützpunkte zu überwachen, griff die Polizei von außen an.
10 Tadeusz Komorowski „Bór“ (1895–1966), Divisionsgeneral, seit 1913 Berufssoldat, Kavallerist zunächst im k. u. k. Heer, seit 1918 in der polnischen Armee, 1939 im Untergrund, 1941 stellvertretender Oberbefehlshaber des bewaffneten Widerstands, 1943 Oberbefehlshaber der AK, 30. 7. 1944 Oberbefehlshaber der Polnischen Streitkräfte, gab als solcher am 1.8. den Befehl zum Aufstand, kapitulierte am 2.10., nachdem von dem Bach-Zelewski den letzten Aufständischen Kriegsgefangenenstatus zuerkannt hatte. Befreit Ende April 1945, danach in London, 1946 vom Oberbefehl entbunden, 1947–1949 Leiter der polnischen Exilregierung. 11 Nicht identifiziert.
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Das SS-Pol[izei-]R[e]g[imen]t Dirlewanger12 griff von West nach Ost in Richtung Sächs. Garten, ein R[e]g[imen]t Kaminski13 von Okocie14 [sic!] aus in Richtung Akademika an. Später traten noch etwa 2 Pol[lizei-]Bat[ai]l[on]15 hinzu, ferner Panzer u. Sturmgeschütze (12–20). In breiter Front wurde entlang der genannten Richtungen gesäubert. Bei den manchmal harten Kämpfen entstanden ausgedehnte Brände. Da das Heranziehen der Polizei einige Tage Zeit erfordert hatte, hatte sich der Widerstand der Aufständischen verstärkt durch die Eingliederung von fast allen erreichbaren Männern. Die Frauen wurden zum Barrikadenbau herangezogen. In einzelnen Fällen haben sie sich auch am Kampf beteiligt. Die Bewaffnung der Aufständischen sollte aus der Luft verstärkt werden. Ab dem 4. Tag des Aufstandes etwa wurden Versorgungsbehälter abgeworfen. Sie enthielten, [sic!] MG und Munition u. vor allem Panzernahbekämpfungsmittel nebst Munition (die engl[ische] Büchse)16. In den Versorgungsbehältern lagen manchmal auch Zivilkleider, auch wohl Zigaretten (aus Habana de Cuba). Ein großer Teil der Versorgungsbehälter fiel in die Hände der Deutschen, in einer Nacht allein etwa 40 Stück. Die Versorgungsflüge wurden eingestellt[,] als in einer Nacht etwa 9 von 12 Flugzeugen abgeschossen wurden. Die Besatzungen waren Engländer. Da sie außer ihrem Namen jede weitere Aussage verweigerten, ist mir der Abgangsort der Flüge nicht bekannt geworden.
12 Oskar Dirlewanger (1895–1945), SS-Oberführer d. R., Freiwilliger im 1. Weltkrieg, Freikorps, seit 1923 in der NSDAP, promovierter Staatswissenschaftler, mehrfach wegen Sexual- und Eigentumsdelikten verurteilt, verlor dadurch Stellung, Titel und Auszeichnungen, 1937–1939 Legion Condor, 1940 juristische Rehabilitation, Aufnahme in die Waffen-SS, bildete unter seinem Namen SS-Einheiten aus Gefängnis- und KZ-Insassen, zumeist Verbrechern, die vor allem im Kampf gegen sowjetische Partisanen eingesetzt wurden, beging dabei Massenmorde an Zivilisten, 1943/44 Kommandeur des „SSSonderregiments Dirlewanger“, Juli 1944 der „SS-Sturmbrigade Dirlewanger“, seit Anfang August 1944 auch in Warschau für Massaker verantwortlich, im Winter 1944/45 an der Niederschlagung des slowakischen Aufstandes beteiligt, Februar 1945 nach Guben an die Oder-Front verlegt, dort schwer verwundet. Mai 1945 in französische Kriegsgefangenschaft, dort vermutlich an Misshandlungen verstorben. 13 Bronislav Vladislavovič Kaminski (1899–1944), Waffen-Brigadeführer der SS, Ingenieur, im Zuge der Stalinʼschen Säuberungen 1935 zu Arbeitslager verurteilt, dann zwangsumgesiedelt, 1941/42 Befehlshaber des von deutschen Truppen geschaffenen russischen Selbstverwaltungsbezirks Lokot, stellte dort Miliz zur Partisanenbekämpfung auf, später zur „Brigade Kaminski“ erweitert, im Herbst 1943 beim Rückzug der deutschen Truppen nach Weißrussland verlegt, im Juli 1944 nach Polen, seit 4. 8. 1944 in Warschau im Einsatz, am 28. 8. 1944 nach Massakern und Plünderungen in Warschau von einem deutschen Standgericht in Lodz zum Tode verurteilt und hingerichtet. 14 Gemeint ist der Warschauer Stadtteil Okęcie. 15 Gemeint sind die nach ihren Kommandeuren benannten Polizei-Bataillone Burkhardt und Peterburs, die am 4. 8. 1944 von Posen aus in Warschau eintrafen. 16 Gemeint ist die tragbare britische Panzerabwehrwaffe PIAT, eine Art Panzerfaust.
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8.) Als ich Warschau verließ, war die Stadt bis auf die Widerstandsnester Blumenstraße, Dreikreuzplatz und ein kleiner Rest nördl[ich] des Theaterplatzes gesäubert. Dagegen hatten sich in Mokotow erneut Aufständische festgesetzt. Etwa um den 15.8. herum soll Bor durch Radio London seine auf dem Lande bislang noch ruhigen Kräfte aufgefordert haben, zum Entsatz der in Warschau hart bedrängten Aufständischen herbeizueilen. In welchem Umfang dieser Befehl ausgeführt wurde, ist mir nicht bekannt. 9.) Die Leiden der Bevölkerung waren ungeheuerlich. Die wenigsten waren auf längere Zeit mit Lebensmitteln versorgt. Nun saßen sie 10, 14 Tage und länger in den Kellern und warteten das Bombardement u. die Brände ab. Ich hatte Befehl gegeben, die Bevölkerung aus den gefährdeten Häuserblocks zu evakuieren. 200–300 000 Menschen zogen mit dem notdürftigsten Gepäck durch die deutschen Kampflinien ab nach Westen. Später hielten die Aufständischen die Bevölkerung davon ab, nach Westen abzuziehen. – Die Zivilbehörden richteten für die Flüchtlinge Auffanglager auf. Kranke und Sieche mussten z[um] Teil in der Stadt in Behelfslazaretten verbleiben, oder aber sie wurden mit der Bahn abbefördert. 10.) Die Gesamtverluste der Aufständischen sind schwer zu schätzen – da oft kein Unterschied von der Zivilbevölkerung vorlag. Mit 8–10 000 ist die Gesamtzahl bis etwa 25.8. anzunehmen. Die Zahl ist von mir geschätzt, obwohl ich keine Nachrichten von der Polizei hatte, sie kann ebenso gut wesentlich höher liegen und das Doppelte betragen. Über die deutschen Verluste liegen mir auch nur die meiner eigenen Leute, nicht die der Polizei, vor. Ich schätze sie auf 600–800 einschl[ießlich] Verwundete. 11.) Auf die deutsche Kriegsführung ostwärts der Weichsel hat sich der Aufstand kaum ausgewirkt. Die Front dort hatte sich gefestigt. Sie hatte[,] was sie an Versorgung benötigte, am Ostufer vorgefunden. Nur hier und da war in der ersten Zeit eine Umleitung über Modlin erforderlich gewesen. Die Verbindung nach Westen durch die Stadt hindurch war nur kurz unterbrochen worden. Führer an der Ostfront war General Gille17, der 2–3 Divisionen zur Verfügung hatte. Verbindung mit ihm hatte ich keine.
17 Herbert Gille (1897–1966), SS-Obergruppenführer, 1914–1919 Berufssoldat, zuletzt Batterieführer, 1920–1929 Gutsverwalter, danach bis 1931 Handelsvertreter, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1931 zur SS, seit 1934 in der SS-Verfügungstruppe, der späteren Waffen-SS, 1941 Kommandeur eines Artillerie-Regiments der Waffen-SS, 1942 der SS-Division „Wiking“, 1944 eingeschlossen im Kessel von Čerkassy, versetzt nach Kovel‘, seit 4. 8. 1944 Kommandierender General des IV. SS-Panzerkorps bei Warschau, keine Beteiligung an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft.
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12.) Meine täglichen Meldungen an die 9. Armee, der ich unterstellt war, enthielten nur den kurzen Tagesverlauf, die Absichten und was über die Aufständischen in Erfahrung gebracht war. (Vorstehend alles zusammengefasst.) Bis etwa 12.8. hatte ich keine Verbindung nach außerhalb Warschau. Es war dies ohne Bedeutung, da die Fernsprechverbindung klappte. Weniger angenehm war es, dass ich mich nicht zu meinen Stützpunkten begeben konnte, die also durch Fernsprecher ihre Befehle erhielten. Später gelang es den Aufständischen[,] ein Fernsprechamt zu nehmen, indem sie durch Sprengungen in das schlecht gesicherte Gebäude drangen. Auch wurden durch Bombentrichter manchmal Leitungen gestört. Auch die Wasserzufuhr wurde aus diesem Grunde in verschiedenen Stadtteilen unterbunden. Dies hatte jedoch keinen Einfluss auf die Säuberungsaktion. Im Nest Blumenstraße hielten die Aufständischen mehrfach Versammlungen auf den Straßen ab unter Absingen von nationalen Liedern. Auf größeren Gebäuden[,] die sie besetzt hielten, hissten sie die rot-weiße [sic!] Flagge18. 13.) Das Misslingen des Aufstandes ist auf die schlechte Bewaffnung der Aufständischen zurückzuführen, die beim Zusammenstoß mit schweren Waffen schnell unterliegen mussten. Auch waren nicht alle Vorbereitungen sachgemäß durchgeführt worden. Insbesondere war der Aufstand aussichtslos, wenn er nicht im Zusammenwirken mit der roten Armee ausbrach. Moskau, 28. 4. 1945 Stahel Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 27–35. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.2 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 25. August 1945 [Auszug] Protokoll des Verhörs des Gefangenen ehemaligen Generalleutnants der Deutschen Armee, Stahel, Rainer vom 25. August 1945 […]19 Frage: Ihre Treffen mit der Führung des faschistischen Deutschlands beschränkten sich also nicht auf die genannten Empfänge?
18 Die polnische Nationalflagge ist weiß-rot. 19 Zunächst wurde Stahel zu seiner Tätigkeit als Militärberater in Finnland nach dem 1. Weltkrieg, seiner Mitgliedschaft im „Stahlhelm“ und seiner militärischen Karriere im 2. Weltkrieg befragt.
4.2 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel
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Antwort: Nein. Am 27. Juli 1944 fuhr ich, nach der Beendigung meines Auftrages der Befreiung unserer Truppen aus Wilna, erneut auf Befehl des Hauptquartiers zur Berichterstattung zu Hitler in dessen Residenz bei Rastenburg. Diesmal traf ich Hitler nicht in der Sommerbaracke, wie beim ersten Mal (sie war bei dem Anschlag auf Hitler zerstört worden), sondern in einem kleinen Stahlbetonbau, der an einen Waggon erinnerte. Außer mir waren der Chef des Generalstabs Guderian und der bereits erwähnte Oberst Below zugegen. Hitler gratulierte mir zur erfolgreichen Befreiung der deutschen Truppen, die in Wilna eingeschlossen worden waren, und teilte mir mit, dass er mir die Schwerter zum Eichenlaub des Ritterkreuzes als Auszeichnung verleiht. Hitler erklärte mir weiter, dass er beabsichtige, mich als Militärkommandanten nach Warschau zu schicken. Mein Auftrag war, Ruhe in die zahlreichen Garnisonen Warschaus zu bringen und alle Kräfte für den schnellen Befestigungsausbau im Gebiet Warschaus zu mobilisieren, der im Zusammenhang mit dem schnellen Vorrücken der Roten Armee stand. Hitler sagte, dass der Gauleiter Koch, dem er diesen Auftrag erteilte, sich beschwert habe und nicht in der Lage sei, den Befehl rechtzeitig auszuführen, da ihm Arbeitskräfte fehlten. Mir oblag es nun, diese Arbeitskräfte zu suchen. Dabei betonte Hitler, dass er trotz der Meinung der Militärs gedenke, Warschau in den Händen der deutschen Armee zu halten, und dass er auf meine Hilfe hoffe. Er beauftragte unverzüglich Guderian, mich ausführlich über die Lage im Gebiet Warschau zu informieren. Frage: Hat Hitler Sie über die politische Lage in Polen in Kenntnis gesetzt? Antwort: Nein. Nicht mit einem Wort. Frage: Worüber informierte Sie Guderian? Antwort: Guderian machte mich detailliert mit der militärischen Situation bekannt. Er informierte mich darüber, dass es gelungen sei, die Offensive der Roten Armee zu stoppen, so dass ich für den Ausbau der Befestigungsanlagen und zur Mobilisierung aller kriegsfähigen Truppen einige Zeit zur Verfügung hätte. Gleichzeitig berichtete er mir aber, dass die Polen in einer angespannten und unruhigen Stimmung seien und riet mir für weitere Informationen in diesem Punkt bei meiner Ankunft in Polen den Generalgouverneur Warschaus, Fischer20, zu kontaktieren. Frage: Welche Information erhielten Sie, als Sie in Warschau ankamen?
20 Ludwig Fischer (1905–1947), deutscher Politiker, Jurist, 1926 Beitritt zur NSDAP, 1929 zur SA, 1931 im Reichsrechtsamt der NSDAP, 1938 dort Stabsleiter, ab 1939 Gouverneur des Distrikts Warschau im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, am 9. 8. 1944 beim Warschauer Aufstand verwundet, Januar 1945 Flucht aus Polen. 1945 von US-Truppen verhaftet, 1946 an Polen ausgeliefert, 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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Antwort: Ich traf am 28. Juli 1944 in Warschau ein. Am nächsten Tag traf ich mit General Rohr21 zusammen, der zwischenzeitlich als Kommandant der Stadt eingesetzt war. Er teilte mir mit, dass sich in der Stadt viele kleinere Ersatztruppen befänden, die entsprechend diszipliniert werden müssten. Weiterhin informierte er mich darüber, dass die Industrie zum derzeitigen Zeitpunkt aus Warschau in das Hinterland evakuiert werde und dass ich mich darum auch zu kümmern hätte. Abschließend setzte er mich in Kenntnis darüber, dass es Anzeichen für die Vorbereitung eines polnischen Aufstandes gebe und dass ich mich diesbezüglich an den Gouverneur Warschaus wenden müsse, dem die Polizeikräfte unterstanden. Am 29. Juli nahm ich Kontakt mit dem Leiter des SD und der Polizei in der Stadt dem Standartenführer Geibel22 auf. Er setzte mich in Kenntnis darüber, dass die Polen über eine ganze Reihe von starken Untergrundorganisationen verfügten, die sich derzeit auf einen Aufstand vorbereiten, besonders sei aber in dieser Hinsicht die Armia Krajowa aktiv. Geibel sagte, dass das Geheimdienstmaterial, über das er verfüge, die Absicht der Armia Krajowa, sich in absehbarer Zeit zu erheben, erhärte. Die polizeilichen Maßnahmen, die durch seine Dienststellen durchgeführt worden seien, hätten bisher zur Beschlagnahmung einiger Sprengstofflager sowie Untergrunddruckereien und Waffen geführt. Geibel erklärte außerdem, dass er auf einen Aufstand vorbereitet sei, und dass er den Gouverneur der Stadt Fischer und den Höheren SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement SS-Obergruppenführer Koppe23 kontinuierlich über neue Erkenntnisse informiere. Ich wies Geibel an, dass ich in Übereinstimmung mit den mir verliehenen Vollmachten durch das Oberkommando von nun an ebenfalls alle Informationen erhalten sollte. Für den Fall der Erklärung des Belagerungszustandes würde Geibel mit seiner Polizei unter meinen Befehl gestellt werden. Am gleichen Abend hatte ich noch ein Gespräch mit dem Oberbefehlshaber der 9. Armee, dem General
21 Günther Rohr (1893–1966), Generalmajor, seit 1912 Berufssoldat, seit 1937 Kommandeur verschiedener Infanterieeinheiten, Juli 1944 Wehrmachtkommandant in Warschau und Vorgänger Stahels, 17. 8. 1944 Kommandeur der „Kampfgruppe Rohr“ zur Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, Winter 1944/45 Festungskommandant Libau. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft. 22 Paul Geibel (1898–1966), SS-Brigadeführer, Versicherungsvertreter, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, seit 1935 bei der Polizei tätig, 1938 Beitritt zur SS, seit 1941 Offizier im Hauptamt Ordnungspolizei, 1942–1944 dort Chef des Amtsgruppenkommandos II, März 1944 als SS- und Polizeiführer in Warschau, beteiligte sich an der Niederschlagung des Aufstandes und an Massenerschießungen, bis Januar 1945 an der systematischen Zerstörung Warschaus nach dem Aufstand beteiligt, danach Einsatz in Prag. 1945 in der Tschechoslowakei zu Haftstrafe verurteilt, nach Verbüßung an Polen ausgeliefert, dort 1954 zu lebenslanger Haft verurteilt, Suizid in Haft. 23 Wilhelm Koppe (1896–1975), SS-Obergruppenführer, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Kaufmann, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1932 zur SS, 1934 SS-Führer in der Freien Stadt Danzig, 1939–1943 HSSPF im Warthegau, 1943–1945 HSSPF im Generalgouvernement, dort zugleich Staatssekretär für das Sicherheitswesen. 1960–1962 in Untersuchungshaft u. a. wegen Beihilfe zum Mord in 145 000 Fällen, 1966 Eröffnung eines Verfahrens wegen Krankheit abgelehnt.
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der Infanterie Vormann24, der mir die aktuelle militärische Lage erläuterte und mich fragte, ob ich es für sinnvoll erachten würde, in der Stadt den Belagerungszustand auszurufen. Ich antwortete, dass ich diese Maßnahme für verfrüht hielte, denn es existierten über den Aufstand noch keine gesicherten Daten, und die Ausrufung des Belagerungszustandes könne lediglich als Ermunterung für die Polen zum Aufstand dienen, denn dann würden sie verstehen, dass die Situation an der Front für uns ungünstig sei. Am nächsten Tag traf ich mich mit dem Gouverneur von Warschau, Fischer, der mir von den Schwierigkeiten berichtete, die mit der Mobilisierung der Bevölkerung zum Bau von Verteidigungsanlagen verbunden waren. In diesem Zusammenhang machte ich eine Reihe von Vorschlägen, die auf meinen Erfahrungen aus Rom basierten. Das Hauptthema unseres Gesprächs war der sich in Vorbereitung befindende Aufstand. Fischer teilte mir keine weiteren Neuigkeiten mit. Er war der Meinung, dass ein polnischer Aufstand sinnlos wäre, da sich in der Stadt genügend deutsche Truppenteile befänden, die jegliche Erhebung der polnischen Bevölkerung niederschlagen könnten. Außerdem setzte mich der Leiter der Abteilung Ic der Warschauer Kommandantur, Hauptmann Rosenberg25, darüber in Kenntnis, dass das deutsche Oberkommando, um die Bildung einer Untergrundbewegung in Polen zu verhindern, schon längere Zeit die Vernichtung der polnischen Intelligenz betreibe, die, so die Meinung der deutschen Machthaber, die Quelle jeder Art von antideutschem Auftreten sei. Frage: Informierten Sie Hitlers Stab über die Lage in Warschau? Antwort: Nein. Frage: Warum taten Sie das nicht? Antwort: Wie ich bereits erläuterte, hielt die deutsche Führung einen bewaffneten Aufstand der Polen in absehbarer Zeit für unrealistisch. Darüber hinaus gehörte die direkte Information des Stabes nicht zu meinen Aufgaben, da ich General Vormann unterstellt war, so dass alle Meldungen durch ihn durchgeführt werden sollten. Frage: Welche Daten bezüglich des Zeitpunktes des Beginns des Aufstands besaßen Sie? Antwort: Am 31. Juli wurde durch Geheimagenten mitgeteilt, dass innerhalb der nächsten 40 Stunden der Aufstand in Warschau beginnen würde. Am 1. August
24 Nikolaus von Vormann (1895–1959), General der Panzertruppen, seit 1914 Berufssoldat, Freikorps, Reichswehr, 1929–1932 Generalstabsausbildung, seit 1938 Generalstabschef verschiedener ArmeeKorps, 1942 Kommandeur der 23. Panzer-Division an der Ostfront, 1943 des XXXXVII. Panzerkorps, 27. 6. 1944 Oberbefehlshaber der 9. Armee, am 21. 9. 1944 abgelöst, Oktober 1944 Oberbefehlshaber der Festungsbereichs Südost. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft. 25 Wahrscheinlich Wilhelm von Rosenberg (1917–1944), Rittmeister, 1944 Nachrichtendienstoffizier der Stadtkommandantur Warschau.
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erhielten wir gegen 15.30 Uhr die Mitteilung, dass der Aufstand noch am selben Tag beginnen würde. Frage: Welche Maßnahmen ergriffen Sie in dem Moment, als Sie den genauen Zeitpunkt des Ausbruches der Erhebung erfuhren? Antwort: Am Vorabend des 31. Juli rief ich alle Kommandanten der Stadtteile Warschaus zu mir. Sie verfügten bereits über ausführliche Maßnahmenpläne im Falle eines Aufstandes. Ich rief sie zur höchsten Wachsamkeit auf, denn in jedem Moment könne der Aufstand beginnen. Am 1. August informierte ich den Gouverneur darüber, dass heute der Aufstand der Polen erwartet werde. Am gleichen Abend rief ich für die Stadt den Belagerungszustand aus. Frage: Mit welchen Maßnahmen unterdrückten Sie den Aufstand in Warschau? Antwort: In Warschau entwickelten sich heftige Straßenkämpfe. Bis zum 10. August war ich von den mir unterstellten Truppenteilen abgeschnitten. Erst als Hilfe von außen kam, konnte ich aktiv die Niederschlagung des Aufstandes leiten. Bereits in den ersten Tagen erlitten die Aufständischen schwere Verluste: Sie verloren nicht weniger als 2500 Menschen. Später stiegen diese Verluste deutlich an. Unvollständige Angaben sprachen von bis zu 10 000 Toten auf Seiten der Polen bis zum 25. August. Frage: Sie haben erklärt, dass im Falle des Belagerungszustandes Warschaus, die gesamte Polizei unter Ihre Befehlsgewalt gelangte. Folglich übernehmen Sie auch die vollständige Verantwortung für die brutalen Verbrechen, die von den deutschen Polizeitruppen in Warschau verübt wurden? Antwort: Ja, ich trage die Verantwortung für die Handlungen der deutschen Polizei während des Aufstandes in Warschau, aber ich konnte nicht die Handlungen der Polizeitruppen verfolgen, denn ich war sehr lange Zeit von ihnen durch die Aufständischen abgeschnitten. Frage: Sie versuchen absichtlich, sich vor der Verantwortung der von Ihnen begangenen Verbrechen zu drücken. Es ist bekannt, dass zehntausende friedliche Einwohner Warschaus brutal von den Deutschen umgebracht wurden. Geben Sie das zu? Antwort: Ich war nicht in der Lage, die Handlungen der deutschen Truppen zu kontrollieren, aber ich denke, dass der Tod einer so großen Anzahl von Zivilpersonen in Warschau eine normale Erscheinung der Straßenkämpfe ist. Ich sehe deshalb nichts Besonderes darin, dass in einer Reihe von Fällen die Zivilbevölkerung gelitten hat. Frage: Eine Reihe von Zeugen berichtet, dass die Deutschen mit Panzern die Aufständischen und Zivilbevölkerung überfuhren und Frauen vergewaltigten. Ist das eine Folge der Straßenkämpfe oder der deutschen Politik? Antwort: Es fällt mir schwer diese Frage zu beantworten. Ich gebe zu, dass die deutsche Kampfgruppe unter dem Kommando von SS-Brigadeführer Kaminski und das
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Polizeiregiment Dirlewanger Frauen vergewaltigten, Zivilpersonen erschossen und Häuser ausraubten. Dass Panzer Polen auf den Straßen Warschaus überfuhren, geschah nur deswegen, weil die Polen die Straßen verbarrikadiert hatten und die Panzertruppen am Durchfahren hinderten. Es wäre lächerlich, abzustreiten, dass durch die Straßenkämpfe Häuser zerstört wurden, ganze Blocks abbrannten und dadurch die Zivilbevölkerung gestorben ist. Frage: Sie lügen. Wurde Warschau nicht durch einen Sonderbefehl der deutschen Regierung zerstört? Antwort: Ja, ich gebe das zu. Wir hatten tatsächlich von Hitler den direkten Befehl, Warschau dem Erdboden gleichzumachen. Am 18. August erfuhr ich vom kommandierenden Offizier der SS-Truppen, Obergruppenführer von dem Bach, der seit dem 12. August die Leitung der Niederschlagung des Aufstandes übernommen hatte, dass Hitler befohlen hatte, die aufrührerische polnische Hauptstadt vollständig zu zerstören. Frage: Haben Sie irgendwelche Maßnahmen zur Verhinderung von Verbrechen, die deutsche Soldaten an der friedlichen Bevölkerung begingen, ergriffen? Antwort: Ich konnte die deutschen Soldaten nicht von der Repression der polnischen Bevölkerung abhalten. Als bekannt wurde, dass deutsche Soldaten die Häuser der friedlichen Bewohner ausraubten, erließ ich einen Befehl, nach dem es den Soldaten gestattet war, aus in Brand geratenen Häusern das mitzunehmen, was sie wollten. Frage: Wurde also der Raub an der Zivilbevölkerung Warschaus durch die deutschen Soldaten von ihnen persönlich angeordnet? Antwort: Ich bin gezwungen zu gestehen, dass ich es gestattete, die Zivilbevölkerung Warschaus zu berauben, denn ich dachte, dass ich die deutschen Soldaten trotzdem nicht davon hätte abhalten können. Frage: Offensichtlich führte die Brutalität der von Ihnen befehligten Truppen dazu, dass die Zahl der Opfer in Warschau nicht 10 000, wie sie erklärt haben, sondern Hunderttausende überstieg26? Antwort: Ich verließ Warschau am 25. August 1944 und bin deshalb nicht in der Lage, genaue Angaben über die Verluste unter den Bewohnern Warschaus zu machen. Ich möchte jedoch bemerken, dass die Verantwortung für die Leiden, die der Warschauer Bevölkerung zugefügt wurden, nicht nur wir tragen, sondern auch die Führung der Armia Krajowa. Sie ließ die Bevölkerung Warschaus im Stich, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen – in einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Kampf.
26 Die Zahl der zivilen Opfer des Aufstandes wird auf 150–200 000 geschätzt, die der polnischen Gefallenen auf etwa 16 000.
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Nach meiner Abfahrt aus Warschau wurde die Führung der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes vollständig SS-Obergruppenführer von dem Bach übertragen. Als Kommandant von Warschau wurde an meiner statt General Schindler27 berufen. Mir gelang es aber nicht mehr, ihn zu treffen, denn ich musste schnell wegfliegen. Frage: In welchem Zusammenhang waren Sie gezwungen, Warschau zu verlassen? Antwort: Am 25. August 1944 flog ich auf Befehl des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht eilig nach Rumänien, um deutschen Truppen zur Hilfe zu kommen, die sich im Gebiet Otopeni in einem Kessel befanden. Ich sollte die Truppen aus der Einschließung herausführen und dann entsprechend den Befehlen der Heeresgruppe Süd handeln. Frage: Gelang es Ihnen, die deutschen Truppen aus dem Kessel herauszuführen? Antwort: Mir gelang es, die Truppen aus dem ersten Kessel herauszuleiten. Meine Truppen stießen aber bald darauf auf einen weiteren, noch stärkeren Ring, der aus sowjetischen und rumänischen Truppen bestand. Es gelang nicht, die deutschen Truppen aus diesem zweiten Kessel zu befreien, und am 2. September 1944 wurde ich durch Vertreter der rumänischen Militärs verhaftet. Frage: In Ihrem Fragebogen haben Sie angegeben, dass Sie kein Nationalsozialist sind. Ihre gesamte Tätigkeit in der deutschen Armee bestand in der Unterstützung des räuberischen deutschen Faschismus. Geben Sie das zu? Antwort: Ja, das bekenne ich, dass ich im Laufe einer Reihe von Jahren Hitler gedient habe, wofür ich von ihm mit den höchsten deutschen Orden geehrt wurde. Das Verhörprotokoll ist nach meinen Worten aufgezeichnet, es wurde mir ins Deutsche übersetzt. Stahel Es verhörten: Der Chef der 2. Abteilung der Hauptverwaltung „Smersch“, Oberst Kartaschow28
27 Max Schindler (1880–1963), Generalleutnant, seit 1901 Berufssoldat, 1911–1914 Generalstabsausbildung, Kommandeur verschiedener Heeresregimenter und -bataillone, 1933–1935 Militärattaché in Warschau, 1939 Rüstungs-Inspekteur Ober-Ost, 1941 Rüstungs-Inspekteur Krakau, zuständig für das Generalgouvernement, am 25. 8. 1944 Stadtkommandant von Warschau, ab 1. 9. 1944 Rüstungsbeauftragter West in Bad Ems. 28 Sergej N. Kartašov (1914–1979), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1930 bei der Staatssicherheit, zunächst Erzieher in einem Kinderheim des NKVD, seit 1936 bei der militärischen Spionageabwehr, 1943–1946 Chef der 2. Abteilung der „Smerš“, 1945–1946 Sonderaufträge in Deutschland, Österreich und Ungarn, 1946–1948 Chef der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, 1949–1950 Chefberater des MGB in Ungarn, 1951–1953 Mitarbeiter der Auslandsaufklärung des MGB,
4.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 13. Dezember 1945
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Der Sonderermittler der 2. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, Hauptmann Kopeljanskij Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 36–53, Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln29, Riga, 13. Dezember 194530 Verhör, Anfang um 13 Uhr. Verhör beendet um 23 Uhr 45 Min. Frage: Wann sind Sie eingetreten in die Nationalsozialistische Partei? Antwort: Als Mitglied in die Nationalsozialistische Partei bin ich eingetreten am 1. Oktober 1929 in der Stadt Hannover. In dieser Zeit war ich arbeitslos und glaubte an Hitlers Propaganda, dass, wenn Hitler die Macht haben wird, dann wird für alle Deutsche Arbeit und ein glückliches Leben sein. Frage: Welche Arbeit leisteten Sie in der Nationalsozialistischen Partei? Antwort: Im Jahr 1930 habe ich im Gebiet Hannover faschistische Propaganda durchgeführt. Später bis April 1931 war ich einfacher SS-Mann in der Stadt Hannover. Aber ab April wurde ich von Himmler, dem damaligen SS-Führer des ganzen Reiches, und von Dietrich31, damals Führer der SS-Gruppe Süd, zum SS-Führer der Stadt Hannover bestimmt.
1953–1954 in der Reserve, 1954 vom KGB übernommen, dort in verschiedenen Dienststellungen tätig, 1963–1967 Berater des Chefs der 1. Hauptverwaltung des KGB, 1967 in Pension. 29 Friedrich Jeckeln (1895–1946), SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, 1913–1919 Berufssoldat, zunächst Artillerist, dann Flieger, bis Mitte der 1920er Jahre Gutsverwalter bei Danzig, 1929 Beitritt zur NSDAP, 1930 zur SS, 1931 SS-Oberführer im SS-Abschnitt IV (Provinz Hannover und Schleswig-Holstein) sowie seit 1932 Mitglied des Reichstages, 1933 in Braunschweig zugleich Polizeichef des Landes, seit 1938 als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF), seit Mai 1940 Bataillonskommandeur in der SS-Division Totenkopf, 1940 wieder HSSPF, jetzt in Düsseldorf, 1941 HSSPF Russland-Süd, dort für Massenmorde verantwortlich, Oktober 1941 HSSPF Russland-Nord und Ostland in Riga, ließ hier das Ghetto liquidieren, 1942 und 1943 Leiter von Aktionen gegen sowjetische Partisanen, die Zehntausende Opfer, v. a. Zivilisten, fordern, im Februar 1945 nach der Flucht aus Riga Kommandierender General des V. SS-Gebirgskorps. Ende April in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Anfang 1946 in Riga zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet. 30 Dieses Protokoll wie auch die nachfolgenden Verhörprotokolle von Jeckeln sind in deutscher Sprache verfasst und wurden hinsichtlich Orthographie, Zeichensetzung und Ausdruck im Sinne besserer Verständlichkeit behutsam korrigiert. 31 Josef Dietrich (1892–1966), SS-Oberst-Gruppenführer, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Freikorps, 1920 Bayerische Landespolizei, 1924 entlassen, 1928 Eintritt in die NSDAP und die SS, 1930 Führer der SS-Gruppe Süd, Ende 1931 Führer des SS-Oberabschnittes Nord, seit 1933 als Leiter der Stabswache Berlin, der späteren „Leibstandarte SS Adolf Hitler“, verantwortlich für den Personenschutz Hitlers,
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Frage: Wie sind Sie weitergekommen im Dienst der SS und Polizei? Antwort: Von April 1931 bis September 1931 war ich SS-Führer im Gebiet Osthannover (einem größeren Raum als das Hannover-Gebiet). In dieser Zeit habe ich die 12. und 17. SS-Standarte32 ausgebildet. Im September 1931 bis 1932 war ich SS-Führer des Abschnitts IV33 in der Provinz Schleswig-Holstein und Hannover. Dazu gehörten die Länder34 Braunschweig, Oldenburg, Bremen und Hamburg. Im August 1932 fiel die mir unterstellte Provinz Schleswig-Holstein heraus, damit war ich bis zum Jahre 1933 SS-Führer der Provinz Hannover. Bis zum Aufstieg Hitlers wurde mir für meine Arbeit in der SS nichts gezahlt, das heißt – es war eine Partei-Ehrenarbeit. In der Periode Februar–Juli des Jahres 1933 war ich SS-Führer der Gruppe „Süd“ (München, Provinzen: Bayern, Württemberg und Baden). Von Juli des Jahres 1933 bis zum Juni 1940 arbeitete ich als Führer der SS-Gruppe „Nordwest“ (ehemaliger „SS“-Abschnitt IV35), und gleichzeitig war ich Führer der Ordnungspolizei in der Provinz Braunschweig. Von Juli 1940 bis Mai 1941 war ich höherer Polizeiführer und Führer des Oberschnitts „West“ im Wehrkreis VI (Provinzen Westfalen und Rheinland und die Freistadt36 Lippe-Detmold). Am 5. Mai 1941 wurde ich zu Himmler, Reichsführer der SS, bestellt und bekam Urlaub bis zum Kriegsanfang mit der Sowjetunion. Damals sagte Himmler mir, dass der Krieg gegen die Sowjetunion bald beginnt und ich dann sehr wichtige Aufgaben bekommen werde. Am 25. Juni rief mich Himmler nach Berlin und bestimmte mich als Führer der SS und Polizei bei der Heeresgruppe „A“ in der Ukraine. Kommandeur der Gruppe „A“ war Generaloberst von Rundstedt. Von Juni bis Oktober 1941 führte ich in der Ukraine die SS-Infanterie-Brigade und das Polizeiregiment „Süd“. Frage: Mit was erklärt sich Ihr kurzfristiger Aufenthalt in der Ukraine?
1934 als Leiter eines SS-Sonderkommandos an den Morden im Zuge des sog. Röhmputsches beteiligt, im 2. Weltkrieg wurde unter seinem Kommando aus der Leibstandarte ein motorisiertes Regiment, später eine Panzer-Division der Waffen-SS, 1943 Kommandeur des I. SS-Panzerkorps, 1944 Oberbefehlshaber der 6. SS-Panzerarmee. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1946 von einem US-Kriegsgericht wegen Gefangenenerschießungen zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1955 begnadigt und entlassen. 32 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Regimenter“ gestrichen und durch „Standarte“ ersetzt. 33 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Abteilung IV“ gestrichen und durch „Abschnitt IV“ ersetzt. 34 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Städte“ gestrichen und durch „Länder“ ersetzt. 35 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Abteilung IV“ gestrichen und durch „Abschnitt IV“ ersetzt. 36 Gemeint ist Freistaat.
4.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 13. Dezember 1945
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Antwort: Ich sollte im Okkupations-Gebiet der Ukraine die SS- und Polizei-Führung übernehmen, aber mit Koch wollte ich nicht zusammenarbeiten, da ich 1937 in Nürnberg auf dem Parteitag der National-Sozialistischen Partei einen Vorfall37 und eine Auseinandersetzung38 mit Koch hatte. Himmler hat, als er in der Ukraine war, mich nach Berlin gerufen, wo ich am 10. November 1941 war, und wo er bestimmte, dass von mir zu übernehmen sei die Dienststelle als Höherer SS- und Polizeiführer im „Ostland“, das aus den sowjetischen Gebieten Litauen, Lettland, Estland und Weißrussland bestand. Frage: Wie lange waren Sie im „Ostland“? Antwort: Als Beauftragter39 Himmlers war ich im „Ostland“ bis zum Dezember 1944, wobei ich noch sagen muss, dass Weißrussland nur bis zum Oktober 1944 mir unterstand, danach wurde Weißrussland aus „Ostland“ herausgelöst. Frage: Wo waren Sie Anfang des Monats Dezember 1944? Antwort: Am 4. Januar 1945 kam ich zur Heeresgruppe Ober40-Rhein. Diese Gruppe führte Himmler persönlich. Nach einigen Tagen schickte er mich an die Oder, wo ich ein Heereskorps aufstellte41, das aus SS, Polizei und Heeresabteilungen bestand42. Mit diesem Korps, dem sogenannten Korps „Jeckeln“, kämpfte ich vom 22. Januar bis 15. Februar 1945 am Frontabschnitt zwischen Breslau und Oppeln gegen die Rote Armee. Am 17. Februar 1945, als mein Korps beinah zerstört war, fuhr ich mit einem Teil des Stabes nach Frankfurt an der Oder, wo ich das SS-Gebirgskorps43 führte. In der Reichskanzlei bekam ich persönlich von Hitler den Befehl, an der Oder bis zum letzten Mann auszuhalten, aber die sich Berlin nähernde Rote Armee brach von Norden und Süden her durch, und wir saßen am 20. April im Kessel. Am 27. April 1945 bekam ich von Feldmarschall Keitel den Befehl, aus dem Kessel auszubrechen und mich nach Berlin zurückzuziehen, was mir aber nicht gelang, weil sich die NachbarArmee zurückzog.
37 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Zufall“ gestrichen und durch „Vorfall“ ersetzt. 38 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Unterzeichnung“ gestrichen und durch „Auseinandersetzung“ ersetzt. 39 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Bevollmächtigter“ gestrichen und durch „Beauftragter“ ersetzt. 40 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „höhere“ gestrichen und durch „Ober“ ersetzt. 41 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „zustellte“ gestrichen und durch „aufstellte“ ersetzt. 42 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „zustand“ gestrichen und durch „bestand“ ersetzt. 43 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Bergkorps“ gestrichen und durch „Gebirgskorps“ ersetzt.
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Am 29. April 1945 wurde ich zweimal verwundet und konnte nicht weiterkämpfen. Am nächsten Tag blieb nichts mehr übrig, und ich begab mich zur Roten Armee in Gefangenschaft. Frage: Erzählen Sie, wie erhöhten sich Ihre Dienstgrade? Antwort: Von Oktober bis Ende 1933 war ich Major der Ordnungspolizei und SS-Gruppenführer. Von Ende 1933 bis Mai 1941 war ich Oberstleutnant der Ordnungspolizei und von September 1936 an war ich SS-Obergruppenführer. Im Mai 1941 wurde ich General der Polizei. Frage: Vor dem Krieg gegen Sowjetunion, welche Auszeichnung bekamen Sie für Ihren Dienst in SS und Polizei? Antwort: Vor dem Krieg gegen die Sowjetunion bekam ich eine Medaille für acht Jahre im Polizeidienst, für zehn Jahre in der National-Sozialistischen Partei die Dienstmedaille, außerdem das Goldene Parteiabzeichen für die alten Parteimitglieder. Frage: Nennen Sie die Auszeichnungen, welche sie während der Kriegszeit gegen die Sowjetunion bekamen? Antwort: Im Oktober 1941 bekam ich das E[iserne] K[reuz]-II. Klasse und im Mai 1942 das E[iserne] K[reuz]-I. Klasse, im Dezember 1943 das Deutsche Kreuz in Gold. Im August 1944 bekam ich das Ritterkreuz und im März 1945 – das Eichenlaub zum Ritterkreuz. Außerdem wurde ich mit der Wintermedaille „Ost“ und im Juli 1942 mit dem Silbernen Verwundetenabzeichen ausgezeichnet. Mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse wurde ich im Februar 1940 und mit dem I. Klasse im Januar 1942 ausgezeichnet. Frage: Wann wurden Sie zum ersten Mal mit Hitler persönlich bekannt? Antwort: Mit Hitler wurde ich im Sommer des Jahres 1931 in der Stadt München, im Braunen Haus bekannt (das Braune Haus war das Haus der National-Sozialistischen Partei). Hitler stellte mich Himmler als SS-Führer in der Stadt Hannover vor. Frage: Nennen Sie ihre späteren Treffen mit Hitler. Antwort: Von 1932–1938 schützte ich persönlich mit SS-Mannschaften Hitler in verschiedenen Städten in Deutschland. Dieser Schutz war damit zu erklären, dass Hitler, besonders im Jahr 1932, im Reich umherfuhr und mit Reden auftrat. Jedes Jahr fuhr ich zum Schutz in die Stadt Hameln, wo er auf dem Erntefest mit einer Rede auftrat. Außerdem wurde ich von Hitler im Jahre 1934 in die Reichskanzlei (Berlin) zum Bankett für höhere und treue SS-Mitglieder eingeladen. An diesem Bankett nahmen nur 12 treue SS-Ränge teil. Für uns sprach Hitler44. Er sagte auch, dass der Chef des
44 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „dass er alle älteren Generale aus der Wehrmacht entfernen – und neue faschistische Generale einstellen will“.
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Stabes der SA Röhm45 acht Tage zuvor bestraft wurde, weil er gegen die Kriegsvorbereitungen war. In den Jahren 1935–36 war ich noch 2–3 Mal auf einem Bankett bei Hitler in der Reichskanzlei in Berlin, für die SS-Führer mit Frauen. Damit hatte ich mit Hitler 14 Jahre in der National-Sozialistischen Partei Bekanntschaft46. Frage: Wie waren Sie mit Himmler bekannt? Antwort: Mit Himmler wurde ich im Juli des Jahres 1931 in der Stadt Hannover zum ersten Mal bekannt, wo er hinfuhr, um sich mit mir als SS-Führer von Ost-Hannover bekannt zu machen. Von47 1937 an traf ich Himmler oft auf Beratungen der Höheren SS-Führer in den Städten München und Berlin. Frage: Welche Fragen wurden auf diesen Beratungen überlegt? Antwort: Auf den Beratungen wurden Fragen über die Ausbildung der SS, die Aufgaben der SS im Neuen Deutschland, Fragen über Weltpolitik und Fragen über den Polizeidienst überlegt. Frage: In welcher Richtung wurden die SS-Männer ausgebildet? Antwort: Auf den Beratungen wurde entschieden, dass die SS in den Stimmungen der faschistischen Theorien ausgebildet wird, sehr scharf war die Judenfrage. SS-Männer wurden gegen die Kirchen, besonders gegen die Katholische Kirche ausgebildet. Hauptsache war, dass die SS-Männer als wahre Leute für die faschistische Regierung in Deutschland kämpfen. Frage: Wie wurden politische und internationale Fragen aufgestellt? Antwort: Es48 wurden auf den Parteiberatungen politische Fragen und Fragen der Außenpolitik so besprochen, dass unbedingt nötig sind die völlige Liquidation aller demokratischen Rechte des Deutschen Volkes, der Kampf gegen den Versailler Vertrag und Feldzug gegen den Bolschewismus, d. h. gegen die Sowjetunion.
45 Ernst Röhm (1887–1934), Oberster Stabschef der SA, 1906–1923 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, Freikorpskämpfer, 1919/20 Beitritt zur NSDAP, 1923 wegen Teilnahme am Hitlerputsch aus der Reichswehr ausgeschlossen, Aufbau der SA als Parteimiliz, 1925 im Streit mit Hitler über die Rolle der SA Rücktritt, 1928–1930 Militärinstrukteur in Bolivien, seit 1930 Stabschef der SA, die er zu einer revolutionären Volksmiliz ausbauen wollte, März 1933 bayerischer Staatskommissar und Staatssekretär, Ende 1933 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, am 30. 6. 1934 mit der SA-Führungsspitze entmachtet und einen Tag später im Gefängnis Stadelheim auf Befehl Hitlers ermordet. 46 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „15–20“ Jahre und „gute“ Bekanntschaft. 47 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „In der zweiten Hälfte“ gestrichen und durch „Von“ ersetzt. 48 Von Jeckeln wurde die ursprünglich dort stehenden Worte „Noch bis zur Machtergreifung Hitlers“ gestrichen und durch „Es“ ersetzt.
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Frage: Mit welchen führenden Leuten des faschistischen Deutschlands waren Sie noch bekannt? Antwort: Ich war noch mit vielen Ministern und Höheren Polizeiführern bekannt. Auch mit Goebbels, Rosenberg, Göring, Frick49, Heß50, Robert Ley, den Chefs der Gestapo – Heydrich51 und Kaltenbrunner52 und mit vielen anderen bekannt. Frage: Wie tarieren Sie selbst Ihre Rolle bei Hitlers Machtergreifung in Deutschland? Antwort: Wie aus meinen vorangegangenen Zeugnissen zu sehen ist, spielte ich eine wichtige53 Rolle bei54 Hitlers Machtergreifung. Ich kann noch hinzufügen, dass ich in ganz Deutschland bis zum 30. Januar 1930 (dem Moment, als Hitler Reichskanzler wurde) von 50 Tausend SS-Männern 7 Tausend SS-Männer ausgebildet habe, d. h. ungefähr 1455 Prozent. Von Hitlers Machtergreifung bis zum Kriegsanfang habe ich außerdem noch 2 SSBataillone vor dem Kriege ausgebildet. Nach meinen Angaben56 richtig geschrieben und mir vorgelesen. Jeckeln
49 Wilhelm Frick (1877–1946), Reichsminister des Inneren, Jurist, seit 1917 bei der Polizeidirektion München, 1919 Leiter der Politischen Polizei, früher Förderer Hitlers, Bewährungsstrafe wegen Beihilfe zum Hitlerputsch 1923, ins Oberversicherungsamt versetzt, 1930–1931 Innen- und Volksbildungsminister in Thüringen, 1933–1943 Reichsminister des Inneren, 1934–1943 preußischer Innenminister, 1943–1945 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Minister ohne Geschäftsbereich. 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 50 Rudolf Heß (1894–1987), Stellvertreter des Führers, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Student, 1920 Beitritt zur späteren NSDAP, 1923 am Hitlerputsch beteiligt, ab 1925 Privatsekretär Hitlers, 1932 Vorsitzender der Politischen Zentralkommission der NSDAP, ab 1933 SS-Obergruppenführer und Stellvertreter des Führers, Minister ohne Geschäftsbereich, 1941 Flug nach England zur Anbahnung von Friedensverhandlungen, von Hitler für geisteskrank erklärt. 1945 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1987 Suizid in Haft. 51 Reinhard Heydrich (1904–1942), SS-Obergruppenführer, 1922–1931 Marineoffizier, 1931 Beitritt zur NSDAP und SS, 1932–1942 Chef des SD, 1936–1942 Chef der Sicherheitspolizei und des SD, 1939–1942 Chef des RSHA, ab September 1941 zugleich stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, erlag am 4. 6. 1942 den Folgen eines Attentates. 52 Ernst Kaltenbrunner (1903–1946), SS-Obergruppenführer, Jurist, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1931 zur SS, 1938–1943 Höherer SS- und Polizeiführer in Wien, Ober- und Niederdonau, ab 1943 Chef des SD und des RSHA, 1944 zudem Leiter des Amtes Ausland/Abwehr. 1946 in Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 53 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „große“ gestrichen und durch „wichtige“ ersetzt. 54 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „Partei- und“. 55 Von Jeckeln wurde die ursprünglich dort stehende Zahl „20“ gestrichen und durch „14“ ersetzt. 56 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Wörtern“ gestrichen und durch „Angaben“ ersetzt.
4.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945
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Dolmetscher Feldwebel Suur ist für die richtige Übersetzung verantwortlich nach § 95 UK RSFSR. Suur57 Vernehmer: Stellvertreter des Abteilungschefs der 2. Verwaltung NKGB SSSR Major Zwetajew58 Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 18–22. Maschinenschriftliches Original. Deutsch.
4.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945 Beginn der Vernehmung 11 Uhr 30 Min. Schluss der Vernehmung 17 Uhr. Die Vernehmung wird mit Teilnahme des Dolmetschers vom Russischen ins Deutsche Älterer Sergeant Surr geführt, der vor der Verantwortung für unwahre Übersetzung laut § 95 des KK RSFSR gewarnt ist. Frage: Haben Sie sich an der Bekämpfung der Sowjetpartisanen beteiligt? Antwort: Ja, ich habe mich persönlich an der Bekämpfung der Sowjetpartisanen beteiligt. Im August 1942 erhielt ich einen Brief von Himmler, in dem er mir schrieb, dass ihm von Lohse59 und dem Generalkommissar Weißrusslands Kube60 von Überfällen der Sowjetpartisanen nicht nur auf Zivilbehörden, sondern auch auf Truppenteile und Transporte mitgeteilt worden sei. In diesem Brief erteilte mir Himmler den persönlichen Befehl, eine Operation in großem Maßstabe in Weißrussland gegen die Partisanen durchzuführen. Den Befehl Himmlers habe ich im September 1942 ausgeführt. Frage: Mit welchen Kräften?
57 Suur (?–?), 1945 Übersetzer bei der 2. Verwaltung des NKGB der UdSSR. 58 Evgenij A. Zvetaev (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1945 stellvertretender Abteilungsleiter bei der 2. Verwaltung des NKGB der UdSSR, 1951–1953 Gehilfe des Chefs der Untersuchungsabteilung für Sonderangelegenheiten beim MGB der UdSSR. 59 Hinrich Lohse (1896–1964), Gauleiter und Reichskommissar, Bankangestellter, 1923 Beitritt zur NSDAP, seit 1925 Gauleiter Schleswig-Holstein, seit 1933 Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein, 1941–1944 Reichskommissar für das Ostland mit Sitz in Riga, im Dezember 1944 krankheitsbedingt von Erich Koch abgelöst. 1945 durch britische Truppen verhaftet, 1948 von deutscher Spruchkammer zu 10 Jahren Haft verurteilt, 1951 krankheitsbedingt entlassen. 60 Wilhelm Kube (1887–1943), Gauleiter und Generalkommissar, Journalist und Politiker, seit 1911 in völkischen Gruppierungen und Parteien aktiv, 1928 Beitritt zur NSDAP, 1928–1936 Gauleiter der Partei im Gau Brandenburg, 1936 auf Betreiben Bormanns aus allen Ämtern entfernt, 1940 als SSRottenführer im KZ Dachau, 1941 politisch rehabilitiert, 1941–1943 Generalkommissar für den Generalbezirk Weißruthenien und Minsk, 1943 von einem Kommando des sowjetischen Geheimdienstes NKVD getötet.
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Antwort: Laut dem Befehl Himmlers wurden von mir für die Bekämpfung der Partisanen in Weißrussland folgende Kräfte verwendet: 1) Erste Infanteriebrigade der SS, die aus Borisow unter dem Kommando des Generalleutnants der Waffen-SS von Treuenfeld61 nach Minsk kam. 2) 26. Polizeiregiment aus Mogilew und andere kleinere Einheiten der deutschen Polizei, 1. und 2. lettische Polizeigruppen, unter der allgemeinen Führung des Oberst Schimana62. 3) Vereinigte Abteilung des SD und der Gestapo unter dem Kommando des Oberstleutnants der Polizei, Dr. Strauch63. 4) Zwei motorisierte Gendarmerieeinheiten, insgesamt 37 Mann. Die ganze Operation wurde unter der Chiffre „Sumpffieber“ durchgeführt.64 Frage: In welchen Gegenden? Antwort: Nachdem die Abteilung des SD und der Gestapo die Dislokation der Partisanenlager ausgekundschaftet hatte, operierte das 26. Polizeiregiment unter dem Kommando von Schimana in der Gegend nördlich von Minsk, meinem Befehl gemäß. Sie bewegten sich auf der Straße Minsk-Logoisk-Blechenizi mit der Aufgabe, die Partisanengruppen zu umringen und zu vernichten. Die 1. Infanteriebrigade SS unter der Führung von Treuenfelds operierte in dem Abschnitt Blechenizi-Borisow und in der Gegend des Flusses Tsna. In den beiden erwähnten Gegenden wurden Kämpfe mit den umringten Sowjetpartisanen geführt. Ferner wurden das 26. Polizeiregiment und das 1. Infanterieregiment SS von mir zur Umringung des Waldmassives bei Nalipcki direktiert. Zur Zeit der Realisation diese Teils der Operation befand ich mich persönlich in
61 Karl von Fischer-Treuenfeld (1885–1946), SS-Gruppenführer, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, Adjutant Erich Ludendorffs bis zu dessen Tod 1937, Kaufmann, 1933 Beitritt zur SS, 1939 zur WaffenSS, 1940–1941 Inspekteur der SS-Junkerschulen, 1941–1942 Befehlshaber der Waffen-SS Böhmen und Mähren, 1942 Kommandeur der 1. SS-Infanterie Brigade, 1943 Befehlshaber der Waffen-SS RusslandSüd und Ukraine, 1944 Befehlshaber der Waffen-SS Italien, 1944–1945 Kommandierender General des SS-Freiwilligen-Korps. 1946 Suizid in US-Kriegsgefangenschaft. 62 Walter Schimana (1898–1948), SS-Gruppenführer, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Freikorps, Kaufmann, 1926 Beitritt zur NSDAP und SA, hauptamtlicher SA-Führer, 1934 Polizeioffizier, 1939 Übernahme in die SS, 1941 Stab HSSPF Russland Mitte, 1942 Kommandeur der Kampfgruppe Schimana aus Polizei- und Wehrmachtseinheiten, 1943 Kommandeur der 14. SS-Freiwilligen-Division „Galizien“, 1943–1944 HSSPF Griechenland, 1944–1945 HSSPF Donau in Wien. Seit Mai 1945 in alliierter Kriegsgefangenschaft, 1948 Suizid in österreichischer Untersuchungs-Haft. 63 Eduard Strauch (1906–1955), SS-Obersturmbannführer, promovierter Jurist, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, dann zur SS, seit 1934 Mitarbeiter des SD, 1941 Leiter des Einsatzkommandos 2 in der Einsatzgruppe A, ab Ende 1941 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Weißrussland, 1944 in der Wallonie, im Oktober 1944 zur Waffen-SS. Seit Mai 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess zum Tode verurteilt, danach an Belgien ausgeliefert, dort 1950 erneut zum Tode verurteilt, 1952 wegen Geisteskrankheit zu lebenslanger Haft begnadigt, verstarb in Haft. 64 Das Unternehmen „Sumpffieber“ zur Partisanenbekämpfung kostete vom 21.8. bis zum 21. 9. 1942 mehr als 1500 Menschen das Leben, davon wurden 1274 Männer standrechtlich hingerichtet. Im Anschluss verübten die Einheiten einen Massenmord in Baranoviči mit ca. 6000 jüdischen Opfern.
4.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945
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einem kleinen Lager beim Siedlungspunkt Ivenez im nördlichen Teil des Waldmassives Nalipcki. In dieser Gegend führten wir auch Kämpfe mit den Sowjetpartisanen, denen es in westlicher Richtung nach der Stadt Lida durchzubrechen gelang. Der dritte Teil dieser Operation wurde in der Richtung Baranowitschy durchgeführt mit Kräften des 26. Polizeiregiments und anderer kleiner Einheiten. Südlicher von Baranowitschy kämpfte mit den Sowjetpartisanen die 1. Infanteriebrigade SS. Besonders starke Kämpfe hatten sich in der Gegend der Siedlungspunkte Gitschica, Jado, Wulka, Oginski-Kanal südlich von Baranowitschy entwickelt. Zu dieser Zeit befand ich mich anfangs in Slonino, später auf der Station Iwazewitschy. Bei der Durchführung dieser Operation hatten die Sowjetpartisanen keine großen Verluste erlitten (es sind 100 Sowjetpartisanen getötet worden, unsere Trophäen waren 100 Gewehre, Maschinenpistolen, Maschinengewehre). Wir hatten auch unbedeutende Verluste zu verzeichnen. Frage: Welche Gräueltaten haben Sie der friedlichen Bevölkerung gegenüber angewendet? Antwort: Auf meinen Befehl sind in der Gegend des Waldmassivs Nalipcki einige (genau entsinne ich mich nicht), aber ich nehme an, nicht weniger als 10 Gehöfte niedergebrannt worden. Außerdem wurde südlich von Baranowitschy in der Gegend von Oginski-Kanal ein Dorf niedergebrannt, dessen Name mir entfallen ist, ich glaube aber Telichan, weil die Sowjetpartisanen 20 Mitarbeiter von SD und Gestapo umgebracht hatten. Frage: Welche Gräueltaten haben Sie noch vollbracht? Antwort: Ich habe keine Gräueltaten mehr vollbracht. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Die Untersuchung verfügt über viele Zeugenaussagen, dass nach Ihrem Befehl in Weißrussland nicht nur Siedlungspunkte verbrannt wurden, sondern auch Mensch erschossen und lebend verbrannt worden sind, unter ihnen auch Kinder. Warum verschweigen Sie es? Antwort: Ich verneine es! Frage: Welche Operationen haben Sie in Weißrussland bis September 1942 durchgeführt? Antwort: Ich persönlich befand mich von Februar bis August 1942 an der Leningrader Front, meine Pflichten im Ostland wurden durch meinen Stellvertreter Generalleutnant Jedicke65 erfüllt. Jedicke fuhr persönlich nach Minsk, um von dort aus den Kampf
65 Georg Jedicke (1887–1969), Generalleutnant der Polizei, 1906–1920 Berufssoldat, zuletzt Kapitänleutnant, seit 1920 im Polizeidienst, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1939–1941 Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) in Wiesbaden, dann BdO in Königsberg, 1941–1943 BdO Ostland, im Dezember 1943 wegen Krankheit verabschiedet. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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gegen die Partisanen zu leiten. Diese Operationen sind mit Teilnahme von Generalmajor der Polizei Zenner66, Chef der Sicherheitspolizei Weißrusslands Klepsch67, Ko[mmandant] rück[ückwärtiges Armeegebiet], Generalleutnant von Tschammer und Osten68 ausgeführt worden. Die Operation wurde in der Gegend von Logroisk, Molodetschno, Nalipcki, Slonim, Baranowitschi, Slutck, Bobroisk, Minsk, Kleptski, Polotsk durchgeführt. Frage: Welche Gräueltaten wurden bei diesen Operationen vollbracht? Antwort: Die Gräueltaten, die im Laufe dieser Operation vollbracht wurden, sind mir unbekannt. Im Oktober 1942 war ich auf Urlaub, und mein Vertreter Jedicke und von dem Bach waren in der Frage der Partisanenbewegungsbekämpfung zu Himmler befohlen. Himmler war mit den durchgeführten Operationen unzufrieden und teilte das Gebiet Weißrusslands vom Ostland ab, worüber ich in einem Brief unterrichtet wurde, den Himmler mir schrieb. Ende 1942 oder Anfang 1943 erhielt ich von Hitler und Himmler Befehle über die Methoden der Bekämpfung der Sowjetpartisanen. Frage: Geben Sie den Inhalt an! Antwort: Hitler persönlich hatte zwei Befehle unterschrieben. Im ersten Befehl war gesagt, dass der Kampf mit den Sowjetpartisanen in grausamster Weise geführt werden muss, wobei jegliche Mittel anzuwenden sind. „Kein deutscher Offizier soll zur Verantwortung gezogen oder der Untersuchung und dem Gericht übergeben werden, der die Anwendung besonders grausamer Mittel im Kampf mit den Partisanen zulässt. Alle Untersuchungen in dieser Frage befehle ich einzustellen und die Akten zu verbrennen. Offiziere, die sich einer Schwäche im Kampf mit den Partisanen schuldig machen, müssen bestraft werden.“ Der zweite Befehl lautete „Im Zusam-
66 Carl Zenner (1899–1969), SS-Brigadeführer, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Freikorps, Ökonom, 1925 Beitritt zur NSDAP und SA, 1926 zur SS, 1935–1937 Stabsführer des SS-Oberabschnitts Süd, 1937– 1941 Polizeipräsident in Aachen, 1941–1942 SS- und Polizeiführer für Weißrussland, 1942–1945 Amtschef im SS-Hauptamt. 1945–1947 in alliierter Kriegsgefangenschaft, 1947 von britischem Militärgericht wegen Beteiligung an der Pogromnacht 1938 zu 5 Jahren Haft verurteilt, 1950 entlassen, 1961 wegen Verbrechen in Weißrussland zu 15 Jahren Haft verurteilt, vorzeitig entlassen. 67 Johann Klepsch (1894–1968), SS-Oberführer und Oberst der Polizei, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, seit 1920 im österreichischen Polizeidienst, 1938 Übernahme in die Schutzpolizei, 1941–1942 Kommandeur der Ordnungspolizei (KdO) Tschernigow, 1942–1943 KdO Minsk, 1943–1944 KdO Riga, danach Einsätze im Reich. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft, dann Rückkehr in den österreichischen Polizeidienst. 68 Eckart Hans von Tschammer und Osten (1885–1946), Generalmajor, seit 1906 Berufssoldat, seit der Mobilmachung 1939 Kommandeur verschiedener Infanterieregimenter, 1941 der SicherungsBrigade 202 in Polen und Weißrussland, 1942 der Oberfeldkommandantur 392 in Minsk, 1943 der Feldkommandantur 531 in Frankreich, 1943 des Truppenübungsplatzes Grafenwöhr, 1944 der Feldkommandantur 853 in Rumänien. August 1944 in rumänische Kriegsgefangenschaft, an die UdSSR übergeben, Anfang 1946 in Minsk zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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menhang damit, dass die Truppen von SS und Polizei der Partisanenbewegung nicht Herr werden können, befehle ich allen Befehlshabern der Heeresgruppen und Hinterlandstruppen, sich aktiv an der Bekämpfung der Sowjetpartisanen zu beteiligen, und wenn es sich als notwendig erweist, Heerestruppenteile zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen. Die Bekämpfung der Partisanenbewegung wird der Kriegstätigkeit an der Hauptkampflinie gleichgestellt. Sowjetpartisanen in Zivilkleidung werden nicht gefangengenommen, sondern bis zum letzten Mann vernichtet.“ Zur gleichen Zeit befahl Himmler, die ganz friedliche Einwohnerschaft aus den Gegenden, wo der Kampf gegen die Partisanenbewegung geführt wurde, gewaltsam zu Zwangsarbeiten nach Deutschland zu verschicken. Ich halte es für notwendig zu bemerken, dass Himmler in der ersten Hälfte 1943 die Leitung der Bekämpfung der Partisanenbewegung auf sich genommen hatte. In seinem Stabsquartier gründete er eine spezielle Abteilung zur Bekämpfung der Sowjetpartisanen, an deren Spitze Obergruppenführer von dem Bach stand. Bei dieser Abteilung wurde ein Stab eingerichtet, den Generalmajor Herf69 leitete (von 1943 an). Frage: Wie vollstreckten Sie persönlich die oben erwähnten Befehle Hitlers und Himmlers? Antwort: Im Frühling 1943 beteiligte ich mich an einer großen Operation gegen Sowjetpartisanen unter der allgemeinen Führung des Heeresgruppenbefehlshabers Feldmarschall Küchler70, ferner unter der Leitung des Befehlshabers der 3. Panzerarmee Generaloberst Reinhardt. Frage: Erzählen Sie genau über diese Operation. Antwort: Zweck der Operation war das Aufräumen der Partisanen. 1) Ostgrenze Lettlands, Eisenbahnstrecke Sebesch, Rossitten, Nowo Sokolniki – Welikie Luki, Welikie Luki – Newel, Gegend Düna – Drissa; 2) Von den Partisanen der Gegend Drissa – Düna – Oswea See. Diese Operation führten die 3. Panzerarmee, die mir unterstellten lettischen und deutschen Einheiten der Polizei und Armeetruppenteile des Ostlands durch. Die Operation wurde von zwei Truppengruppen unternommen. Die erste Gruppe machte den Angriff in der Richtung von Westen nach Osten (deutsche und let-
69 Eberhard Herf (1887–1946), SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, 1906–1918 Berufssoldat, zuletzt als Hauptmann, 1918/19 Freikorpskämpfer in Oberschlesien, seit 1919 Polizeioffizier, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1938 zur SS, 1941–1942 KdO Minsk, 1942– 1943 KdO Charkow, 1943–1944 erneut KdO Minsk, 1944–1945 im Stab des SS-Oberabschnitts Böhmen-Mähren. 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Anfang 1946 in Minsk zum Tode verurteilt und hingerichtet. 70 Georg von Küchler (1881–1968), Generalfeldmarschall, seit 1900 Berufssoldat, 1911–1914 Generalstabsausbildung, verschiedene Verwendungen in der Heeresausbildung, 1939 Oberbefehlshaber der 3. Armee, Ende 1939 der 18. Armee, 1942 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, im Januar 1944 von Hitler des Kommandos enthoben. 1945 in allliierte Kriegsgefangenschaft, 1949 im Nürnberger OKW-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1953 entlassen.
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tische Polizeibataillone, ein Armeebataillon und einige Flakeinheiten) unter meiner Führung. Die zweite Gruppe machte den Angriff in der entgegengesetzten Richtung, wobei beide Gruppen sich an der Bahnstrecke Idritza – Polotsk treffen sollten. Die Operation begann im Februar und wurde Ende März oder Anfang April 1943 beendet. Frage: Welche Gräueltaten haben Sie dann vollführt? Antwort: Auf Befehl Feldmarschall Küchlers befahl ich meinerseits den mir unterstellten Truppenteilen, die Gegend des Oswea-Sees von der friedlichen Bevölkerung zu räumen und alle sich in dieser Gegend befindlichen Siedlungspunkte niederzubrennen, was auch geschah. Die friedliche Bevölkerung wurde gewaltsam vertrieben. Ich kann nicht genau sagen, wie viele Siedlungspunkte niedergebrannt wurden, aber es waren ungefähr mehr als 10 Dörfer. Die Verluste der Sowjetpartisanen waren nicht groß, da es ihnen durchzubrechen gelang, so dass sie in den Wald Juchowitschi und Klestizi entkamen. Die von mir geleitete Gruppe in dieser Operation wurde mit der Chiffre „Winterzauber“ bezeichnet, die zweite Gruppe – „Schneehase“. Frage: Haben Sie an der Operation „Heinrich“ teilgenommen? Antwort: Ja, ich habe teilgenommen. Das war Oktober 1943. Die Operation wurde laut dem Befehl Himmlers durchgeführt und die Verantwortung für die Ausführung hatte von dem Bach. Zur Ausführung dieser Operation sind drei Gruppen gebildet worden. Die dritte Gruppe war unter meiner Leitung und sie bestand aus der 9., 16., 26. Deutschen Polizei – sogenannten grünen Regimentern. Außerdem waren in meiner Gruppe das 313. und 316. Polizeibataillon, das Polizeiregiment Riga unter der Führung des Obersten Osis71 und nach seiner Verwundung Oberstleutnant Meija72, das 1. Estnische Polizeiregiment, das 3. Bataillon SS und zwei Panzerkompanien eingereiht. Zu der Zeit befand ich mich auf der Station Itritza. Meine Aufgabe war, südlich von der Strecke Sebesch – Polotsk anzugreifen. Jedoch hatte ich an der Operation faktisch nicht teilgenommen, da meine Gruppe nach einem eintägigen Marsch an die Front kam, im Abschnitt Pustoschka und Drissa, weil die Rote Armee sich in diesem Abschnitt eingekeilt hatte. Dort befand ich mich bis zum 20. Januar 1944.
71 Roberts Osis (1900–1973), Oberst, lettischer Berufssoldat und Politiker, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, seit 1934 Adjutant des lettischen Armeebefehlshabers und Kriegsministers, organisierte unter der deutschen Besatzung die lettischen Polizeibataillone, 1943 Kommandeur des Polizeiregiments Riga, 1944 Kommandeur in der Kampfgruppe Jeckeln, 1944–1945 Kommandeur der lettischen Legion in der 19. Waffen-SS Grenadierdivision, Anfang 1945 kurzzeitig lettischer Regierungschef. Nach 1945 Exil in Deutschland, dann in England. 72 Osvalds Meija (1894–1996), Oberstleutnant, lettischer Berufssoldat, Generalstabsausbildung, 1942 Kommandeur des 276. Schutzmannschaften-Bataillons, 1943–1944 im Rang eines Waffen-Obersturmbannführers Kommandeur des Polizeiregimentes Riga, 1945 Kommandeur des 32. Waffen-SSGrenadierregiments. 1945 in alliierter Kriegsgefangenschaft, Exil in Deutschland, dann in England.
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Frage: An welchen weiteren Operationen gegen die Partisanen haben Sie teilgenommen? Antwort: Im Juni und Juli 1944 habe ich das 2. und 3. Lettische Polizeiregiment unter der Führung der lettischen Oberstleutnants Grosbergs73 und Kleinbergs74 an die Strecke Polotsk – Kletski befohlen. Ich bin persönlich mit diesen Regimentern nach Weißrussland gefahren, wo ich sie der 3. Armee der Heeresgruppe Mitte übergab. Welche Gräueltaten von diesen Regimentern an der friedlichen Bevölkerung begangen wurden, ist mir unbekannt. Nach meinen Worten richtig geschrieben und von mir gelesen. Jeckeln Vernahm: Stellvertreter des Sektionschefs der 2. Verwaltung NKGB SSSR Major Zwetajew. Dolmetscher: Suur. Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 90–94. Maschinenschriftliches Original. Deutsch.
4.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945 Jeckeln, Friedrich, 1895 geboren in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Sohn eines Fabrikbesitzers, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei, ehemals Kommandeur der höheren SS und Polizei im Ostland. Das Verhör wurde um 21.30 [Uhr] begonnen. Das Verhör wurde um 1.00 [Uhr] beendet. Das Verhör wurde mit Hilfe eines Übersetzers aus dem Russischen ins Deutsche, des älteren Sergeanten Suur geführt, der über die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung gemäß § 95 Kr[iminal-]K[odex] [Strafgesetzbuch] d[er] UdSSR gewarnt ist. Unterschrift: Suur Frage: Es ist bekannt, dass auf dem Gebiet des „Ostlands“ eine große Anzahl russischer Kriegsgefangener von den Deutschen umgebracht wurde. Wir beantragen, darüber wahrhafte Aussagen zu machen.
73 Janis Grosbergs (1896–1970), Oberstleutnant, lettischer Berufssoldat, Generalstabsausbildung, 1940 Rote Armee und Abschied, 1943 für die lettische Legion mobilisiert, 1944 im Rang eines WaffenObersturmbannführers Kommandeur des 2. Lettischen Polizeiregiments. Nach 1945 Exil in Deutschland, dann in Kanada. 74 Alberts Kleinbergs (1891–1966), Oberstleutnant, lettischer Berufssoldat, 1942 Kommandeur des 279. Schutzmannschaften-Bataillons, 1943 Kommandeur des 2. Bataillons des Polizeiregiments Riga, 1944 Kommandeur des 3. Lettischen Polizeiregiments. 1945–1956 in sowjetischer Haft.
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Antwort: Ich bestreite nicht, dass die russischen Kriegsgefangenen in der deutschen Gefangenschaft in großer Anzahl umkamen. Als ich mich im Juli/August 1941 bei der 6. Deutschen Armee in der Ukraine, unweit der Stadt Schitomir, aufhielt, sah ich, wie russische Kriegsgefangene, in großen Mengen an der Eisenbahnlinie versammelt, sich plagten und vor Hunger starben. Im Februar 1942 bei Leningrad, im Raum von Gartschino, sah ich ebenso, wie russische Kriegsgefangene unter freiem Himmel bei starkem Frost lebten und erfroren. Zweifellos lebten die russischen Kriegsgefangenen auf dem Territorium „Ostlands“ in schweren Bedingungen. Indessen kann ich in dieser Frage keine konkreten Aussagen machen, da die Gefangenenlager auf dem Gebiet „Ostlands“, ebenso wie in anderen besetzten Gebieten, nicht den SS-Behörden und der Polizei, sondern der Führung der deutschen Armee unterstellt waren. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Der Untersuchung ist bekannt, dass die von Ihnen geleiteten Behörden des SD und der Polizei neben den entsprechenden Dienststellen der deutschen Armee direkte Beziehungen zu den Lagern für Kriegsgefangene hatten. Wir fordern Sie auf, die Wahrheit zu sagen. Antwort: Ich erkläre nochmals, dass die Kriegsgefangenenlager überall, unter anderem auch im „Ostland“, vom Deutschen Heer geleitet wurden. Im „Ostland“ waren die Lager für Kriegsgefangene dem Armeekommandeur General der Kavallerie Braemer75 unterstellt. Im April 1944, als Braemer auf einem Bankett am Geburtstage Hitlers mit Reichskommissar Lohse in Streit geriet und von Hitler aus dem „Ostland“ abgerufen wurde, wurde sein Amt vom General der Panzertruppen Kempf besetzt, dem die Lager für russische Kriegsgefangene ebenfalls unterstellt waren. Beim Stabe Bremers befand sich im April–Juli 1944 Generalleutnant Bruno Pawel76. Zu den Pflichten des letzteren gehörte die unmittelbare Leitung der Lager für russische Kriegsgefangene auf dem Territorium „Ostland“. Folglich hat Pawel, Bruno für die Zeit seiner Tätigkeit Verantwortung zu tragen für den Tod der russischen Kriegsgefangenen, die sich in den Lagern des Gebietes „Ostland“ befanden. Die mir unterstellten Behörden des SD und Polizei hatten aber keinerlei Beziehung zu den russischen Kriegsgefangenen.
75 Walter Braemer (1883–1955), General der Kavallerie und SS-Brigadeführer, seit 1901 Berufssoldat, 1912–1914 Generalstabsausbildung, 1932 verabschiedet als Generalmajor, 1935 Beitritt zur SS, 1937 zur NSDAP, 1935–1938 hauptamtlicher SS-Führer, 1938 reaktiviert als Wehrmachtsgeneral, 1939 Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets 580, befahl Geiselerschießungen in Polen, seit 1941 Wehrmachtsbefehlshaber im Reichskommissariat Ostland, im Mai 1944 nach Streit mit Lohse abgelöst. 1945–1948 in britischer Kriegsgefangenschaft bzw. Internierung. 76 Bronislaw (gen. Bruno) Pawel (1890–1946), Generalmajor, 1910–1919 Berufssoldat, zuletzt als Hauptmann, 1919–1935 Polizeioffizier, 1935 als Major ins Heer übernommen, seit 1939 Kommandeur verschiedener Infanterieregimenter und -divisionen, November 1942 Kommandeur der Kriegsgefangenen beim Wehrmachtsbefehlshaber Ostland, Dezember 1942 Kommandant der Oberfeldkommandantur 392, 1943–1944 des rückwärtigen Armeegebiets 559, danach bei der Heeresgruppe Nord. 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, Anfang 1946 in Riga zum Tode verurteilt und hingerichtet.
4.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945
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Frage: Wer arretierte jedoch die russischen Kriegsgefangenen? Antwort: Die Heeresaufklärung Abwehr 1c machte unter den russischen Kriegsgefangenen Kommunisten und Leute ausfindig, die antideutsche Anschauungen aussprachen und sich der Arbeit auf Kriegsbetrieben, -fabriken und Bauten von militärischer Bedeutung zu entziehen suchten. Im Jahre 1943 berichtete mir der mir unterstellte Chef des SD und Polizei Fuchs77, dass auf Befehl Hitlers die aufgrund von Unterlagen der Abwehr arretierten russischen Kriegsgefangenen den Behörden des SD und der Gestapo übergeben werden. Auf diese Weise, seit 1943, leiteten die mir unterstellten Behörden des SD und der Gestapo im „Ostland“ die Untersuchung in Sachen russischer Kriegsgefangener, wobei diese genauso wie alle übrigen Arretierten behandelt und bestraft wurden. Frage: Sagen Sie, wurden von Ihnen Massenverhaftungen der Sowjetkriegsgefangenen durchgeführt? Antwort: Massenverhaftungen von Sowjetkriegsgefangenen gab es auf dem Territorium des „Ostlands“ nicht. In der ganzen Zeit unseres Aufenthalts im „Ostland“ sind nicht mehr als 50–100 Mann russischer Kriegsgefangener verhaftet worden. Wären die russischen Kriegsgefangenen in großer Anzahl verhaftet worden, so hätte ich darüber gewusst. Frage: Es ist bekannt, dass die Sowjetkriegsgefangenen in Riga von ihnen in großer Anzahl in Gefängnisse und Konzentrationslager gesperrt wurden. Schreiten sie zu wahrhaften Aussagen. Antwort: Ich kann keine anderen Aussagen machen und erkläre nochmals, dass wir Verhaftungen russischer Kriegsgefangener in großer Anzahl nicht vorgenommen haben. Frage: Der ältere Wissenschaftler der Rigaer Staatsuniversität Akmens, J. K.78, ist von den SD-Behörden aus politischen Gründen in Riga, Ende Juli 1941, verhaftet und bis Dezember 1942 im Rigaschen Zentralgefängnis eingesperrt wurden. Auf dem Verhör vom 25. Dezember 1945 sagte er aus: „In den Blocks 1 und 4 des Rigaschen Zentralgefängnisses befanden sich mehr als 600 Mann russischer Kriegsgefangener der Roten Armee, unter ihnen waren viele Offiziere.“ Vielleicht würden Sie nunmehr die Wahrheit sagen?
77 Wilhelm Fuchs (1898–1947), SS-Oberführer, promovierter Agronom, 1932 Beitritt zur NSDAP und SS, 1933–1936 Adjutant des Reichsbauernführers, 1937 Führer des SS-Oberabschnitts Dresden, 1938 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Braunschweig, 1941 Führer der Einsatzgruppe Serbien, dann dort Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS), 1942–1943 vertrat er den SS- und Polizeiführer Lettland, 1943–1944 Führer des Einsatzkommandos 3, 1944 BdS Ostland/Ukraine. Nach 1945 an Jugoslawien ausgeliefert, 1946 in Belgrad zum Tode verurteilt, 1947 hingerichtet. 78 Nicht ermittelt.
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Antwort: Ich sagte bereits, dass die Behörden des SD und der Gestapo sich lediglich mit Verhaftungen von Kriegsgefangenen gemäß dem Befehl Hitlers seit 1943 befasst haben, und deshalb bezieht sich die Tatsache, über die der Zeuge Akmens berichtet, auf die Heeresaufklärung Abwehr. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Der Zeuge Agronom Kaulinsch, J. J.79, sagte am 30. Dezember 194580 aus: „Im Dezember 1942 wurden auf Befehl des Lagerkommandanten von Salaspils Krause81 auf dem Lagerplatz alle Häftlinge versammelt, um der öffentlichen Erschießung eines kriegsgefangenen Fliegerleutnants der Roten Armee beizuwohnen. Wie Sie sehen, haben Sie nicht nur 1943, sondern auch 1942 russische Kriegsgefangene verhaftet und umgebracht. Ich schlage ihnen vor, ihrer Verstockung ein Ende zu machen. Antwort: Über einen solchen Fall ist mir nichts bekannt. Frage: Zu welchem Zweck haben sie die Sonderkommandos des SD organisiert? Antwort: Die Sonderkommandos des SD sind 1942 zum Zweck der Durchführung von Strafaktionen gegen Sowjetpartisanen organisiert worden. So wurde z. B. vom Oktober 1943 bis zum Januar 1944 das Sonderkommando „Jagdverband“ unter Führung von Martinowski82 zum Kampf gegen die Partisanenbewegung im Raum Sebesch-Polozk verwandt. Dieses Kommando war damals meinem Mitarbeiter, dem Chef des SD und der Gestapo „Ostlands“ Panzinger83, unterstellt. Außerdem bestanden in jedem Bezirk des „Ostlands“ kleine Sonderkommandos, die gleichfalls zu Operationen gegen Sowjetpartisanen und Fallschirmjäger eingesetzt wurden. Frage: Zur Erschießung russischer Kriegsgefangener wurden die Sonderkommandos angewandt?
79 Nicht ermittelt. 80 Dieses nach der Datierung des Protokolls liegende Datum ist so im Protokoll angegeben. 81 Kurt Krause (1904–1944), SS-Obersturmführer, im Sanitäts- und Zolldienst sowie als Kriminalpolizist tätig, Angehöriger des Einsatzkommandos 2, 1941 Referent Abt. IV (Judenfragen) beim KdS Lettland, 1942 Kommandant des Rigaer Gettos, 1943–1944 Kommandant des Außenlagers Salaspils, vermutlich 1944 von Partisanen getötet. 82 Nikolaj A. Martynovskij (1920–1944), Kommandeur des Jagdkommandos „M“, Medizinstudent aus Leningrad, 1941 im Rücken der deutsch-sowjetischen Front abgesetzt und vom SD festgenommen, ab 1942 von diesem zur Bekämpfung sowjetischer Partisanen und Fallschirmagenten eingesetzt, bis 1944 wächst das Jagdkommando „M“ auf ca. 200 Personen an und wird schließlich den SS-Jagdverbänden unterstellt, Ende 1944 von den eigenen Leuten umgebracht, als er beabsichtigt, sich in die Schweiz abzusetzen. 83 Friedrich Panzinger (1903–1959), SS-Oberführer, seit 1927 Kriminalpolizist, promovierter Jurist, 1933 Beitritt zur SA, 1937 zur NSDAP und zur SS, 1941–1943 Leiter Amtsgruppe IV A (Gegnerbekämpfung) im RSHA, 1943–1944 Führer der Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD im Baltikum, zeitgleich BdS Ostland, 1944–1945 erneut Leiter Amtsgruppe IV A. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, danach Doppelagent beim BND, 1959 Suizid wegen Mordanklage.
4.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 27. Dezember 1945
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Antwort: Nein, sind nicht angewandt worden. Frage: Welche Bestimmung hatte das in Riga im Jahre 1944 bestehende Sonderkommando? Antwort: In Riga bestand am Kisch-See eine Aufklärungsschule „Zeppelin“84 die eine besondere Bestimmung hatte. Andere Sonderkommandos in Riga kenne ich nicht. Frage: Vielleicht würden sie sich dennoch auf die Tatsache massenhafter Verhaftungen und Erschießungen von Kriegsgefangenen der Roten Armee durch die Behörden des SD in Riga besinnen? Antwort: Solche Fälle hat es nicht gegeben. Frage: Der Zeuge Kewrell, B. I.85, Einwohnerin von Riga, sagte am 25. Dezember 1945 aus: „Vom 26. Juli bis zum 8. August 1944 sind auf Befehl vom Lagerkommandanten in Salaspils Krause, mit Hilfe eines aus Riga hergesandten Sonderkommandos, alle 250 Mann der ins Lager nach Salaspils gebrachten Soldaten der Roten Armee erschossen wurden. Die Erschießung fand außerhalb des Lagers im Wald, etwa 100–150 m von den Baracken entfernt statt. Nach der Erschießung wurden die Leichen der erschossenen 250 Kriegsgefangenen der Roten Armee auf Befehl von Krause mit Pech begossen und verbrannt, die Kleider der Erschossenen aber ins Lager gebracht und den Polithäftlingen zum Waschen gegeben. Diese Kleider habe auch ich persönlich gewaschen.“ Wie Sie sehen, ist ihre Verstockung zwecklos. Wir fordern sie nochmals auf, die Wahrheit zu sagen. Antwort: Solch einen Vorfall, wie ihn der Zeuge Kewrell schildert, ist mir nicht bekannt, und falls russische Kriegsgefangene im Juli–August 1944 tatsächlich aus den Lagern für Kriegsgefangene ins Salaspils-Lager überführt worden sind, so ist daran der Chef der Kriegsgefangenenlager im „Ostland“ Bruno Pawel schuld, da nur durch ihn russische Kriegsgefangene ins Lager nach Salaspils gebracht werden konnten. Seine Schuld ist nicht im mindesten geringer als die Schuld derjenigen, die die Erschießung der Kriegsgefangenen im Lager in Salaspils unmittelbar durchführten, wie es der Zeuge Kewrell aussagt. Frage: Nahm ihre Sicherheitspolizei am Transport und der Bewachung von Sowjetkriegsgefangenen teil? Antwort: Die mir unterstellte Sicherheitspolizei nahm am Transport und der Bewachung der Kriegsgefangenenlager keinen Anteil. Im Jahre 1941 wurden86 zwei lettische
84 In diesem Lager wurden Freiwillige aus der Sowjetunion für Kommandounternehmen des SD hinter den feindlichen Linien ausgebildet. 85 Nicht ermittelt. 86 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „von mir“.
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Polizeibataillone der militärischen Führung zur Verfügung gestellt. Diese Bataillone konnten natürlich am Transport russischer Kriegsgefangener per Bahn teilnehmen, dann aber waren sie schon nicht mehr mir, sondern der militärischen Führung unterstellt. Frage: Der Zeuge Witinsch, A. J.87, ehemals Hauptmann des 19. Bataillons SS88 sagte am 15. Dezember 1945 aus: „…Vor meinen eigenen Augen – da sich mein Haus dem Lager gegenüber befand (Pernaustraße, früher Kaserne des 5. Lettischen Regiments) – wurden fast täglich von den Sicherungskompanien der SD-Polizei Kriegsgefangene, die sich nicht mehr zu bewegen vermochten, erschossen, geschlagen, halblebend, halbtot auf Lastkraftwagen verladen und außerhalb der Stadt geführt. Den Kriegsgefangenen wurden fast gar keine Lebensmittel ausgegeben, sie wanderten über den Kasernenhof, wühlten in den Müllhaufen, rissen die Rinde von den Bäumen, sammelten Blätter und ernährten sich davon.“ Wie Sie sehen, hat Ihre Sicherheitspolizei die Kriegsgefangenen nicht nur bewacht, sondern auch umgebracht. Beginnen Sie, wahrhafte Aussagen zu machen? Antwort: Ich erkläre nochmals, dass die mir unterstellte Sicherheitspolizei und SDBehörden keinerlei Beziehung zur Bewachung der Kriegsgefangenlager hatte. Die mir unterstellte Polizei beteiligte sich lediglich an Razzien, um, im Falle, da diese aus den Lagern flüchteten, nach russischen Kriegsgefangenen zu fahnden. Frage: Und wer befasste sich mit der Brandmarkung der Kriegsgefangenen? Antwort: Mit der Brandmarkung der russischen Kriegsgefangenen befassten sich die Heerestruppenteile, unter deren Leitung sich die Lager für Kriegsgefangene befanden.89 Frage: Die Untersuchung verfügt über eine Verordnung über die Brandmarkung russischer Kriegsgefangener, die aus Berlin an die Ihnen unterstellten Polizeibehörden adressiert ist. Wie erklären Sie nun, dass Ihre Polizei russische Kriegsgefangene nicht brandmarkte? Antwort: Solch ein Befehl ist tatsächlich aus Berlin an den mir unterstellten Polizeiführer im „Ostland“ gerichtet gewesen, jedoch nicht darum, dass wir die Brandmarkung der russischen Kriegsgefangenen durchführten, sondern, damit wir wüssten, dass ein jeder russische Kriegsgefangene ein Brandmal besitzen muss, nach welchem ihn unsere Polizei ausfindig machen könnte, falls er aus dem Lager geflüchtet sein sollte.
87 Nicht ermittelt. 88 Das Bataillon unterstand dem Stab der 19. Waffen-Grenadier-Division der SS (lettische Nr. 2). 89 Sowjetische Kriegsgefangene erhielten ein V-förmiges Brandzeichen auf dem Gesäß.
4.6 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 29. Dezember 1945
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Frage: In der lettischen Zeitschrift Junda vom 17. September 1944 ist eine Photographie enthalten, die sie darstellt, mit der Aufschrift: „SS- Obergruppenführer Jeckeln nimmt am Verhör von Kriegsgefangenen teil; den Kriegsgefangenen abgenommene Dokumente und Briefe wurden ihm übergeben.“ Daraus folgt, dass Sie persönlich russische Kriegsgefangene verhörten. Das werden Sie nicht leugnen? Antwort: Ja, diese Photographie entspricht der Wirklichkeit. Im August 1944 befand ich mich an der Front an der lettisch-estnischen Grenze, beim 383 I[nfanterie]-Regiment90 zwischen Ruge und Ape. Laut meinen Worten richtig geschrieben und mir in meiner deutschen Muttersprache verlesen. Jeckeln Vernahm: Stellv. Chef der Abteilung der 2. Verwaltung des NKGB d. UdSSR Major Zwetajew Übersetzer: Suur Stenographin: Poljakowa91 Für die Richtigkeit der Übersetzung ins Deutsche: Übersetzer des Kriegsgefangenenlagers 277 des NKWD der UdSSR: Vogel92 Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 100–103R. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.6 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 29. Dezember 1945 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Sohn eines Fabrikbesitzers, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei im Baltikum. Das Verhör begann um 22.00 [Uhr]. Das Verhör war um 2.30 [Uhr] beendet. Das Verhör wurde mit Hilfe eines Übersetzers aus dem Russischen ins Deutsche – des älteren Sergeanten Suur geführt, der über die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung gemäß § 95 d[es] Strafgesetzbuchs d[er] UdSSR gewarnt ist. Unterschrift – Suur
90 Gemeint ist vermutlich die 383. Infanterie-Division, die im Sommer 1944 aufgerieben wurde. Ein 383. Infanterie-Regiment existierte im 1. Weltkrieg. Im 2. Weltkrieg gab es mit dieser Nummer ein Artillerie-Regiment und verschiedene Abteilungen. Alle Einheiten wurden im Juni 1944 bei der Operation Bagration der Roten Armee vernichtet. 91 Poljakova (?–?), 1945 Schreibkraft bei der 2. Verwaltung des NKGB der UdSSR. 92 Vogel (?–?), 1945 Übersetzer des Kriegsgefangenenlagers Nr. 277 des NKVD der UdSSR in Salaspils.
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Frage: Auf den vorhergehenden Verhören suchten Sie Ihre Beziehung zu den Lagern für Kriegsgefangene abzustreiten. Vielleicht würden Sie nunmehr dennoch wahrhafte Aussagen in dieser Frage machen? Antwort: Ich erkläre jetzt ebenso, dass weder ich noch die mir unterstellten Behörden des SD, der Gestapo und Polizei eine direkte Beziehung zu den Lagern für Sowjetkriegsgefangene hatten, mit Ausnahme solcher Fälle, wo uns von den Lagern für Sowjetkriegsgefangene – Kriegsgefangene, die arretiert worden waren, zur Verfügung gestellt worden sind. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Die Untersuchung verfügt über Original-Schriftstücke, aus denen hervorgeht, dass die Ihnen unterstellten Behörden der SS und SD, der Gestapo und Polizei direkte Beziehungen zu den Lagern für Kriegsgefangene hatten. Wir fordern Sie nochmals auf, mit wahrhaften Aussagen zu beginnen. Antwort: Über solche Dokumente kann die Untersuchung nicht verfügen. Frage: Ihnen wird ein Schriftstück vorgewiesen – das Schreiben des Dr. Ing. Weise93 (Generalkommissariat in Riga), an den Chef der SS und Polizei in Riga gerichtet, und die beigefügte Abschrift der Verordnung Dr. Weises betreffs der Überprüfung der Anwendung russischer Kriegsgefangenen bei Bauarbeiten, vom 2. September 1942. Haben Sie den Inhalt dieses Dokuments verstanden? Antwort: Das habe ich. Frage: Aus diesem Schriftstück geht hervor, dass die von Ihnen geleitete Polizei unmittelbaren Anteil an der Bewachung russischer Kriegsgefangener beim Straßenbau nahm und dass sie jedwelche Unterstützung den Baubehörden bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität der russischen Kriegsgefangenen zu erweisen hatte. Sind Sie damit einverstanden? Antwort: Aus dem mir vorgewiesenen Dokument der Untersuchung ist zu erkennen, dass die Polizeibehörden im „Ostland“ zur Bewachung von russischen Kriegsgefangenen beim Straßenbau, die in großer Entfernung von den Kriegsgefangenenlagern gelegen waren, verwandt wurden. Frage: Die Untersuchung verfügt auch über andere Dokumente, aus denen zu ersehen ist, dass die Ihnen unterstellten Polizeibehörden die Bewachung der Kriegsgefangenen bei Ihrem Einsatz auf den mannigfaltigsten Arbeiten trugen. Vielleicht machen Sie Ihrer Verstockung ein Ende und beginnen mit wahrhaften Aussagen?
93 Nicht ermittelt.
4.6 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 29. Dezember 1945
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Antwort: Ich halte es für möglich, dass die mir unterstellten Polizeibehörden an der Bewachung der Sowjetkriegsgefangenen bei ihrem Arbeitseinsatz teilnahmen, nicht aber in den Lagern selbst und beim Transport zur Arbeitsstelle. Frage: Sie bestätigen, dass die Ihnen unterstellten Polizeibehörden tierische Abrechnung an den Sowjetkriegsgefangenen bei der Erfüllung mannigfaltiger Arbeiten durch die letzteren abhielten? Antwort: Nein, das bestätige ich nicht. Frage: Ihnen wird eine Anweisung vom 8. September 1942 vorgewiesen über die Behandlung der Sowjetkriegsgefangenen bei ihrem Arbeitseinsatz, die von uns im Archiv der örtlichen SS- und Polizeibehörden in Libau aufgefunden worden ist. Ist Ihnen der Inhalt dieser Anweisung verständlich? Antwort: Ja, verständlich. Frage: Aus dieser Anweisung folgt, dass die Ihnen unterstellten Polizeieinheiten bei der Bewachung der Sowjetkriegsgefangenen auf den Arbeitsstellen verpflichtet waren, die grausamsten Maßnahmen, bis zur Erschießung, ihnen gegenüber anzuwenden und auch anwandten. Sie bestätigen das? Antwort: Diese Anweisung ging von der obersten deutschen Heeresleitung aus. Frage: War sie denn für Sie verpflichtend? Antwort: Für uns war sie nicht verpflichtend. Frage: Falls diese Anweisung für Sie nicht verpflichtend war, weswegen wurde sie dann vom Ihnen unterstellten Chef der SS und Polizei in Libau94 benutzt? Antwort: Diese Anweisung war von uns zur Kenntnis genommen. Frage: Und zur Vollstreckung? Antwort: Nein, nicht zur Vollstreckung. Frage: Nach Ihnen folgt, dass Heerestruppenteile, die Sowjetkriegsgefangene bewachten, das Recht besaßen, sie zu schlagen und zu erschießen, während Ihre Polizisten, die den selben Auftrag ausführten, nicht berechtigt waren, das zu tun. Wie Sie sehen, haben Sie sich endgültig verstrickt. Beenden Sie Ihre Verstockung?
94 Fritz Dietrich (1898–1948), SS-Obersturmbannführer, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, promovierter Chemiker, 1936 Beitritt zur NSDAP und SS, 1936–1939 Mitarbeiter des SD in Münster, Saarbrücken und München, dann wegen Unterschlagung entlassen, 1941–1943 SS- und Polizei-Standortführer in Libau, 1944 Polizeipräsident, später auch Kampfkommandant von Saarbrücken. Nach Kriegsende in alliierter Internierung, 1947 von US-Militärgericht in Dachau wegen Erschießung alliierter Flieger zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet.
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Antwort: Für die Polizisten war diese Anweisung nicht verpflichtend. Frage: Wir weisen Ihnen noch ein Dokument vor – die Anweisung mit Unterschrift von Bomharts95 vom 17. Januar 1942 aus Berlin über die Anwerbung und den Einsatz der Sowjetarbeitskraft. Aus diesem Schriftstück geht hervor, dass die Ihnen unterstellten Polizeibehörden nicht nur zur gewaltsamen Aushebung der Arbeitskraft, sondern auch zur Bewachung der Sowjetkriegsgefangenen Beziehung hatten. Sind Sie damit einverstanden? Antwort: Nein, nicht einverstanden. Frage: Wo und wann lernten Sie den Generalmajor des Deutschen Heeres Bruno Pawel kennen? Antwort: Ich selbst besinne mich nicht, wann ich Bruno Pawel kennen lernte, in den Gesprächen mit mir behauptete Bruno Pawel jedoch, dass er mit mir im März oder April 1944 in Riga bekannt wurde und dass er mir angeblich damals einen Besuch abstattete. Frage: Standen sie in dienstlicher Verbindung mit Bruno Pawel? Antwort: Nein, stand ich nicht. Frage: In den Archiven der Ihnen unterstellten SS- und Polizeibehörden wurden von uns Anweisungen über die Behandlungsweise Sowjetkriegsgefangener, die an den Abteilungschef für Kriegsgefangene beim Oberbefehlshaber der Truppen in „Ostland“ gerichtet waren, aufgefunden. Diese Stellung bekleidete, wie Sie ausgezeichnet wissen, Bruno Pawel. Daraus folgt, dass zwischen Ihnen und Bruno Pawel eine dienstliche Verbindung bestand. Es ist unverständlich, warum Sie das Gegenteil behaupten? Antwort: Ich selbst hatte keinerlei dienstliche Beziehungen zu Bruno Pawel, und die Schriftstücke, von denen augenblicklich die Rede ist, wurden nicht mir, sondern den örtlichen SS- und Polizeibehörden adressiert. Frage: Wer ist für die tierische Behandlung und die massenhafte Ausrottung der Sowjetkriegsgefangenen auf dem Territorium des „Ostlands“ verantwortlich? Antwort: Für die tierische Behandlung und Ausrottung der Sowjetkriegsgefangenen auf dem Territorium des „Ostlands“ haben die Leiter der Lager für Sowjetkriegsgefan-
95 Adolf von Bomhard (1891–1976), SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, 1910–1919 Berufssoldat, zuletzt als Hauptmann, 1920 Freikorps, danach Polizeioffizier, 1937 Beitritt zur NSDAP, 1938 zur SS, 1936–1942 Chef des Kommandoamtes im SS-Hauptamt Ordnungspolizei, 1942–1943 BdO im Reichskommissariat Ukraine, seit 1944 Inspekteur der Polizeischulen, 1944–1945 zugleich Chef der Ordnungspolizei in Mähren. 1945–1948 in US-Internierungshaft.
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gene im „Ostland“ die Verantwortung zu tragen. Im „Ostland“ waren solche Leiter: General Braemer und die ihm unterstellten Generäle in Fragen der Kriegsgefangenen im „Ostland“, im besonderen General Bruno Pawel, sowie die Lagerkommandanten für Sowjetkriegsgefangene. Frage: Berichten Sie konkret Ihnen bekannte Tatsachen über die verbrecherische Tätigkeit des Generalmajors des deutschen Heeres Bruno Pawels? Antwort: Auf diese Frage kann ich nicht antworten, da konkrete Tatsachen in dieser Frage mir unbekannt sind. Frage: Berichten Sie wahrhaft, wie die Ihnen unterstellten SS- und Polizeibehörden mit den aus den Lagern geflüchteten Sowjetkriegsgefangenen umgingen? Antwort: Ich sagte bereits, dass die mir unterstellten SS- und Polizeibehörden bei Entdeckung aus den Lagern geflüchteter Sowjetkriegsgefangener diese in die Lager für Kriegsgefangene zurückgaben. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Der Untersuchung ist bekannt, dass die aus den Lagern geflüchteten Sowjetkriegsgefangenen von den Ihnen unterstellten SS- und Polizeibehörden erschossen oder gehängt worden sind. Wir fordern Sie auf, die Wahrheit zu sagen. Antwort: Das bestreite ich. Frage: Der Zeuge Schaukauskas, M. A.96, Einwohner des Ortes Schaukjani des Bezirks Schauljai der Litauischen SSR sagte am 27. Dezember 1945 aus: „Im Frühling 1942 … ist von den in die Gemeinde Schaukjani aus Schauljai eingetroffenen SS- und Polizeibehörden eine Razzia unter der örtlichen Bevölkerung durchgeführt worden zwecks Festnahme von russischen Kriegsgefangenen, die aus den Lagern geflüchtet waren und sich bei Bauern versteckt hielten. Während dieser Razzia wurden beim Bauer des Dorfes Lektscheli –Kuprischtschenko97 … zwei russische Rotarmisten, die sich in seinem Hause versteckt hielten, aufgespürt … Kuprischtschenko und die beiden Rotarmisten wurden verhaftet … und in den Ort Schaukjani gebracht. Nach einigen Tagen wurden Kuprischtschenko und die beiden Rotarmisten hingerichtet … auf dem Marktplatz des Ortes Schaukjani gehängt.“ Wie Sie sehen, ist Ihre Verstockung zwecklos? Antwort: Den Aussagen dieses Zeugen glaube ich nicht. Frage: Den Aussagen des Zeugen Schaukauskas keinen Glauben zu schenken, ist zwecklos, da der Zeuge weiter aussagte, dass nach der Hinrichtung der erwähnten Personen die Erhängten von Ihren Behörden fotografiert worden sind, und den örtlichen Einwohnern verboten worden ist, die Leichen im Laufe von drei Tagen vom
96 Nicht ermittelt. 97 Nicht ermittelt.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Galgen zu entfernen. Wir weisen Ihnen die Photographie der erhängten beiden Rotarmisten und des Bürgers Kuprischtschenko vor, die von den Ihnen unterstellten SDund Polizeibehörden in Schaukjani hingerichtet worden sind. Was werden Sie jetzt sagen? Antwort: Auf der mir vorgelegten Photographie sehe ich, dass tatsächlich drei Personen erhängt worden sind, wer sie aber seien mögen, weiß ich nicht. Meinen Worten gemäß richtig niedergeschrieben und mir in meiner deutschen Muttersprache verlesen. Unterschrift Jeckeln Vernahm: Stellvertr. Chef der Abteilung der 2. Verwaltung des NKGB d[er] UdSSR Major Zwetajew. Übersetzer: Suur. Für die Richtigkeit der Übersetzung Übersetzer des Kriegsgefangenen Lagers 277 des NKWD d[er] UdSSR Vogel Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 129–132. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.7 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln vom 30. Dezember 1945 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei, ehemaliger höherer SS- und Polizeiführer in Ostland. Das Verhör angefangen um98 Das Verhör beendet um99 Verhör wurde mit Hilfe eines Dolmetschers aus dem Russischen ins Deutsche Feldwebel Suur geführt, der über die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung gemäß § 95 des Strafgesetzbuchs RSFSR gewarnt ist. Unterschrift: Suur Frage: Auf vorigen Verhören haben sie gesagt, dass Festungskommandant in der Stadt Riga war Generalmajor Ruff100. Wann wurde Generalmajor der deutschen Wehrmacht Ruff Festungskommandant?
98 Uhrzeit im Original nicht eingetragen. 99 Uhrzeit im Original nicht eingetragen. 100 Siegfried Ruff (1895–1946), Generalleutnant, seit 1913 Berufssoldat, seit 1938 Kommandeur verschiedener Artillerie-Einheiten, April 1944 Kommandant der Ortskommandantur 196 in Riga, 1944–
4.7 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945
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Antwort: Am 28. Dezember des Jahres 1945 sagte ich, dass Ruff im Februar 1944 als Kommandant der Stadt Riga eingestellt wurde. Jetzt gebe ich genauer zu, dass Ruff kam an in der Stadt Riga am Ende des Monats März im Jahre 1944 und übernahm die Dienststelle als Kommandant der Stadt Riga. Als Festungs-(Kampf-)Kommandant wurde Ruff in der Zeit eingestellt, als die Rote Armee mit Kampf schon bei der Stadt Mitau war. Das war Ende Juni 1944. Frage: Welche Rechte hatte Ruff als Festungs-(Kampf-)Kommandant? Antwort: Nachdem Ruff Festungskommandant in Riga wurde, hatte er Recht und Macht über alle bewaffneten Gruppen des Deutschen Heeres in Riga, Waffen-SS, SD, Polizeiorgane und Zivilverwaltungen. Frage: Hat Ruff seine Macht ausgenutzt? Antwort: Jawohl, er hat sie ausgenutzt. Ruff hatte als Kampfkommandant der Stadt Riga nicht nur über Heeresgruppen, Polizeiorgane und SS Macht, sondern auch über Ordnungspolizei. Ich muss noch hinzufügen, dass die Führung der Ordnungspolizei in Ostland ist aus Riga im August oder Anfang September des Jahres 1944 abgefahren. In Riga blieb als Führer der Ordnungspolizei Oberstleutnant der Polizei Flick101, der schon unmittelbar Ruff unterstand. Außerdem unterstanden Ruff auch Zivilverwaltungen. In dieser Zeit blieb in Riga der Vertreter des Reichskommissars im Ostland Matthiessen102, der die gewaltsame Evakuierung durchführte. Matthiessen unterstanden ebenfalls die wirtschaftlichen Fragen. Bei Ausführungen dieser Funktionen unterstand Matthiessen Ruff, und nur bei einzelnen Fällen, wenn er seine Meinung hatte, besprach er sie mit Koch. Frage: Welche Befehle und Anweisungen kamen von Ruff, und wie wurden sie ausgeführt? Antwort: Ich weiß nicht ganz genau über den Erhalt der Befehle von Ruff, aber bekräftige, dass übereinstimmend mit seinen Befehlen Zivilpersonen von Arbeitsstellen und Fabriken zwangsmäßig eingezogen und zu Festungsarbeiten eingesetzt wurden. Wie ich schon früher zeigte, forderte Ruff von Zivilverwaltungen und teils vom Vertreter des Reichskommissars Matthiessen, der in dieser Zeit in Riga saß, so schnell wie
1945 Festungskommandant von Riga, Februar 1945 Kommandeur der Division z. b. V. 609 in Breslau. 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, Anfang 1946 in Riga zum Tode verurteilt und hingerichtet. 101 Karl Flick (?–?), Oberstleutnant der Schutzpolizei, 1941–1942 KdO in Lettland, dann Ia beim BdO in Riga, gleichzeitig als Kommandeur der Schutzpolizei eingesetzt. 102 Martin Matthiessen (1901–1990), SS-Oberführer, Landwirt, Freikorps im Baltikum, 1928 Beitritt zur NSDAP, ab 1931 Reichstagsabgeordneter, 1936 Beitritt zur SS, seit 1938 Landesbauernführer Westfalen, 1941–1944 Abteilungsleiter Landwirtschaft beim Reichskommissar Ostland, ab 1942 gleichzeitig Hauptabteilungsleiter Wirtschaft. 1945–1948 in alliierter Internierungshaft, 1971 Einstellung eines 1968 begonnen Verfahrens wegen NS-Verbrechen.
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möglich und so viel wie möglich zwangsmäßig die Leute aus Riga nach Deutschland zu evakuieren. Zu diesem Zweck teilte Ruff aus ihm unterstehenden Heeresgruppen Kräfte ein, und zu diesen gehörten auch Polizeikräfte, die ihm (Ruff) schon unterstanden. Frage: Hat aber Ruff in der Stadt Riga „Treibjagden“ ausgeführt? Antwort: Ich weiß nur von einer „Treibjagd“. Die wurde ausgeführt im September 1944 auf meinen Befehl, was ich auch auf vorigen Verhören bezeugte. Außer dieser „Treibjagd“ wurde keine andere „Treibjagd“ ausgeführt. Frage: Die Voruntersuchung hat festgestellt, dass Anfang Oktober im Jahre 1944 auf Befehl Schörners Sie und Ruff in Riga massenhafte „Treibjagden“ ausgeführt haben. Bei diesen wurden Zivilleute gewaltsam ergriffen und zur zwangsmäßigen Arbeit nach Deutschland geschickt. Warum bezeugen Sie das nicht? Antwort: Im Oktober des Jahres 1944 bekam ich solche Befehle von Schörner nicht. Ob ich von Ruff solche Befehle bekam – ist mir nicht bekannt, ich muss aber aussagen, soviel wie mir bekannt ist, sind in Riga im Oktober 1944 keine Treibjagden gewesen. Frage: Darüber, dass Sie und Ruff massenhafte Treibjagden ausgeführt haben, wobei Zivilleute gegriffen und zwangsmäßig zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurden, sind Sie belangt durch das Verhör unseres Zeugen, Dozent der Reichsuniversität Riga Dr. med. stud. Wilde, Janis Janisowitz103, der beim Verhör am 24. Dezember 1945 bezeugte: „… Am 7. und 9. Oktober des Jahres 1944 wurden in der Stadt Riga auf Befehl von Jeckeln und Ruff massenhafte Treibjagden ausgeführt. Es wurden Männer und Jünglinge gegriffen. Auf diesen Befehl hin wurden große Teil der Stadt mit militärischen Kräften durchgekämmt. Leute wurden auf den Straßen gegriffen und in großen Kolonnen von 300–400 Mann zum Sammelpunkt auf dem Schlossplatz geführt. Aber von dort wurden sie zwangsmäßig zum Hafen geführt, wo die Leute schon auf bereite Schiffe gejagt und nach Deutschland transportiert wurden. Das war ein grausames Bild, welches schwer zu beschreiben ist. Militär hat ruhige Leute gegriffen, es wurde mit Kolben und Gewehren geschlagen, aber die, die nicht nach Deutschland zur Zwangsarbeit wollten und dagegen waren, wurden auf der Stelle erschossen. Ich zusammen mit meinen Sanitätern waren auch von Gendarmerie gegriffen worden. Die haben mich am Kragen genommen und führten mich zur Gruppe der „Letten“, stellten uns in eine Reihe und jagten uns zum Sammelpunkt. Und dank der Verwirrung an einer Straßenecke gelang es mir und meinen Sanitätern, aus der Kolonne zu flüchten. Wie ich später hörte, gingen Militär- und Polizeikräfte von Haus zu Haus, wo sie arbeitskräftige Leute ergriffen, Männer und Frauen, oft überließen sie die kleinen
103 Eventuell handelt es sich um Janis Vilde (1900–1971), Neurologe an der Medizinischen Fakultät der Universität Lettlands in Riga, in den 1920er Jahren anthropologische Forschungen, 1934–1939 Assistenzarzt am Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Riga.
4.7 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945
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Kinder mit Willkür dem Schicksal. Es waren solche Fälle, dass kleine Kinder zu ihren Eltern liefen und mit Tränen baten, die Eltern freizulassen, aber die Militärs ergriffen sie und schmissen sie zu Seite.“ Warum schweigen Sie darüber? Antwort: Mit der Aussage des Zeugen Wilde bin ich einverstanden. Der Zeuge spricht (bezeugt) über diese Ergreifung (Treibjagd), welche auf meinen Befehl erfolgte, übereinstimmend mit einer Anweisung (Direktive) von Koch an mich durch Konsul Jonas104. Am 22. Dezember 1945 sprach ich schon darüber105. In diesem Teil muss ich aber genauer aussagen. Als ich den Befehl von Koch durch Konsul Jonas bekam, gab ich meinerseits einem Offizier der Polizei, dessen Namen ich jetzt nicht erinnere, den Befehl, eine Treibjagd auszuführen in der Stadt Riga. Da aber in dieser Zeit die Polizei nicht mir unterstand, sondern dem Kampfkommandanten Ruff, war diese Frage mit Ruff abgestimmt. Alle Maßnahmen bei diesen Treibjagden auf Zivilleute wurden nicht unter meiner Führung, sondern unter der von Generalleutnant Ruff durchgeführt. Und an der „Treibjagd“ nahmen nicht nur die Polizei, sondern auch Feldgendarmerie und einige Heerestruppen teil. Ich muss noch zugeben, dass diese Aktion am ersten Tag nicht beendet war, und ich gab deshalb einen zusätzlichen Befehl an die Polizei, auch am nächsten Tag diese Aktion auszuführen. Auf diese Weise sind verantwortlich für die Treibjagd auf Zivilleute in der Stadt Riga: Koch, Konsul Jonas, ich, Jeckeln und Ruff. Frage: Sie sagten, dass Sie den Befehl, massenhafte Treibjagden in der Stadt Riga auszuführen, von Koch durch Konsul Jonas bekamen, so wie beim Verhör am 27. Dezember 1945 der verhaftete Ruff sagte: Am Anfang Oktober 1944 rief Schörner mich, Ruff und Jeckeln zu sich und gab Befehl, in der Stadt Riga zwei Treibjagden auszuführen. Sagen Sie, welche Bezeugungen sind wahrhaftiger? Antwort: Schörner gab mir über Treibjagden in Riga keine Befehle. Frage: Im selben Verhör sagte Ruff: „Im Einverständnis mit dem Befehl Schörners wurden durch uns in der Stadt Riga zwei Treibjagden ausgeführt. Im Einverständnis mit dem Befehl von Schörner gab Jeckeln Befehl, in welchem er zeigte, auf welche Weise die Treibjagd durchgeführt werden soll, aber ich als Festungs-(Kampf-)Kommandant gab Jeckeln 2 Panzerdivisionen, 150 Mann Sicherungsgruppen und 40 Mann Feldgendarmerie, und mit diesen Einheiten fing Jeckeln an, diese Treibjagden auszu-
104 Hans Jonas (1893–1967), Messedirektor, Historiker und Nationalökonom, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1914–1922 in russischer Kriegsgefangenschaft, 1917–1922 Fürsorger für Kriegsgefangene in Ostsibirien, 1922–1931 Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, 1924/25 auch Universitätsassistent für osteuropäische Geschichte in Berlin, 1931–1945 Direktor der Deutschen Ostmesse Königsberg und Leiter des ihr angegliederten Wirtschaftsinstituts für Russland und die Oststaaten, zugleich Honorar-Konsul Lettlands in Königsberg. 105 Das Verhör vom 22. 12. 1945 ist hier nicht dokumentiert. Siehe CA FSB, Akte Nr. N-18919, Bd. 1, Bl. 70–77.
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führen. Verantwortlich für Grausamkeiten bei dieser Treibjagd ist nur Jeckeln.“ Geht das mit Wahrscheinlichkeit zu? Antwort: Ich sagte schon, dass über die Treibjagden in der Stadt Riga bekam ich nicht Befehl von Schörner, sondern von Koch, durch Konsul Jonas. Panzergruppen und Wehrmachtsabteilungen gab Ruff mir zu dieser Aktion nicht. Ich wiederhole, dass ich persönlich der Ordnungspolizei den Befehl gab, diese Aktion auszuführen, aber alle andere Arbeit bei dieser führte nicht ich, sondern Ruff, der bei dieser Aktion auch Panzer- und andere Heeresgruppen einteilte. Jetzt verstehe ich, dass Ruff alle Verantwortlichkeit für die Treibjagden mir auferlegen will, wie er selbst verantwortlich ist. Geschrieben nach meiner Rede und mir vorgelesen. Jeckeln Fragte: Vertreter des Kommandeurs der 2. Abteilung Verwaltung NKWD UdSSR Major Zwetajew Vertreter des Kommandeurs von Voruntersuchungsabteilung NKWD LSSR Major Sukow106 Dolmetscher: Suur Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 154–160. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.8 Vernehmungsprotokoll des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 2. Januar 1946 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei, ehemals Chef der höheren SS und Polizei in „Ostland“. Das Verhör wurde mit Hilfe des Übersetzers aus dem Russischen ins Deutsche Suur geführt, der über die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung laut § 95 des Strafgesetzbuchs d[er] RSFSR gewarnt ist. Unterschrift: Suur Das Verhör begann um 11.30 [Uhr]. Das Verhör war um 13.15 [Uhr] zu Ende. Frage: Welchen Anteil nahmen die Ihnen unterstellten SS- und SD-Behörden und die Polizei an der Plünderung und Zerstörung der Volkswirtschaft, der kulturellen und historischen Werte im Sowjetbaltikum? Antwort: An der Plünderung der Volkswirtschaft, der kulturellen und historischen Werte im Sowjetbaltikum sind die deutsche Zivilverwaltung des „Ostlands“ und das
106 Nicht ermittelt.
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Ostministerium Deutschlands mit Rosenberg an der Spitze schuld. Noch im Jahre 1943, als die deutsche Armee und Regierung nicht im geringsten daran dachten, dass sie irgendwann genötigt sein würden, unter dem Ansturm der Roten Armee das Sowjetbaltikum zu räumen, begann das Ostministerium Rosenbergs die kulturellen und historischen Werte Lettlands, Litauens und Estlands zu plündern und nach Deutschland auszuführen. Am Vorabend unseres Rückzugs aus dem Ostland, im Juli 1944, traf in Riga auf Befehl des Reichkommissars Koch der größte Fachmann in Plünderungsfragen des Sowjetguts, der sogenannte Konsul namens Jonas, ein. Zusammen mit seinem Stab führte dieser Konsul Jonas auch den Raub an den Industrieunternehmungen im Sowjetbaltikum durch und organisierte die Ausfuhr der Industrieausrüstung und des Guts nach Deutschland. Anfangs wurde das Sowjeteigentum aus dem Baltikum per Eisenbahn ausgeführt, als aber die Bahnverbindung in Zusammenhang mit der Annährung der Front ans „Ostland“ unterbrochen wurde, begann man, das geraubte Gut auf dem Seewege hinaus zu führen. Zu diesem Zweck liefen in den Rigaer Hafen nicht weniger als 30 Schiffe ein. Die mir unterstellten Behörden des SD, der SS und der Polizei nahmen an diesen Plünderungen keinen unmittelbaren Anteil. Frage: Das ist nicht wahr. Wir verlangen von Ihnen auszusagen, wie es in der Wirklichkeit gewesen ist. Antwort: Im September 1944 hatte ich die Gelegenheit, auf einer Beratung im Reichskommissariat „Ostland“ zugegen zu sein, wo die Frage der Ausplünderung des Sowjetbaltikums besprochen wurde. Auf der Beratung waren zugegen: Koch, Matthiessen, ich – Jeckeln, der Konsul Jonas, Präsident Dargel107 (rechte Hand Kochs), Feldmarschall Schörner. Auf dieser Besprechung trat Koch auf und erklärte, dass die Rote Armee mit ihrem Vormarsch von Warschau nach Danzig Ostpreußen von Deutschland abzuschneiden droht, und da die Verteidigung des „Ostlands“ durch die Deutsche Wehrmacht hoffnungslos sei, müsse alles, was nur möglich ist, eiligst aus dem Sowjetbaltikum nach Ostpreußen ausgeführt werden, in erster Reihe – Industrieausrüstung. Diese Maßnahme – sagte Koch – ist für die Erweiterung der Industrie in Ostpreußen von lebenswichtiger Bedeutung, damit letzteres, falls es von Deutschland abgeschnitten werden sollte, in wirtschaftlicher Hinsicht selbständig existieren und sich verteidigen könnte. Koch erklärte auf dieser Beratung, dass die Ausplünderung des Sowjetbaltikums äußerst schnell durchgeführt werden müsse, und dass er die Hoffnung habe, dass Konsul Jonas, Fachmann in diesen Fragen, mit seiner Mission
107 Paul Dargel (1903–?), Regierungspräsident, Kaufmann, verlor nach Unterschlagung seine wirtschaftliche Existenz, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1930–1932 preußischer Landtagsabgeordneter, seit 1933 Organisationsleiter der NSDAP-Gauleitung Ostpreußen, seit 1937 Mitglied des Reichtags, seit 1940 Regierungspräsident in Zichenau, 1941–1944 Leiter der Hauptabteilung II (Verwaltung) des Reichskommissariats Ukraine und ständiger Vertreter des Reichskommissars in Rovno, 1943 bei einem Attentat schwer verwundet, 1944 Beauftragter der Reichsleitung der NSDAP für Ostfragen, 1945 stellv. Reichsverteidigungskommissar Ostpreußen. Lebte nach 1945 in Hannover.
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vollkommen fertig werden würde. Koch bat uns alle, dem Konsul Jonas jede mögliche Hilfe zu erweisen. Er verlangte gleichfalls von Feldmarschall Schörner, sich mit seinen Truppen nicht schnell abzusetzen, sondern möglichst länger auf dem Territorium des „Ostlands“ zu verweilen, damit Konsul Jonas mehr mannigfaltigen Guts im Sowjetbaltikum zusammenrauben könne. Der ehemalige Gebietskommissar des nordöstlichen Teils Estland Jenetzky108, der dem Reichskommissar Lohse nahe stand, erzählte mir, dass, als Lohse von Koch abgelöst wurde, zwischen beiden eine sehr interessante und kuriose Korrespondenz geführt worden sei, in der Koch Lohse beschuldigte, viel Gut im Sowjet-Baltikum sich angeeignet zu haben. Frage: Welche Hilfe erwiesen Sie persönlich dem Konsul Jonas und Koch in der Plünderung des Sowjeteigentums? Antwort: Auf vorhergegangenen Verhören habe ich bereits ausgesagt, dass auf Anweisung Kochs, mir von Konsul Jonas übergeben, ich 1800 Mann in Riga aufgreifen ließ, um sie im Rigaschen Hafen zur Verschiffung der zusammengeraubten Sowjetausrüstung nach Deutschland anzuwenden. Weiter habe ich der deutschen Zivilverwaltung beim Raub keinerlei Hilfe erwiesen. Frage: Sagen Sie, welche kulturellen und historischen Kostbarkeiten im Sowjetbaltikum geraubt worden sind? Antwort: Mir ist bekannt, dass auf Befehl Rosenbergs die Rigasche Staatsbibliothek und die Dorpater Staatsbibliothek (in Estland) geplündert wurden sind. Dabei sind einige Tausend Bände nach Deutschland ausgeführt wurden. Dieser Raub wurde mit Kräften des Reichkommissariats durchgeführt. Rosenberg interessierte sich sehr für verschiedenes historisches Silberzeug, das sich in Estland befand und nach Deutschland ausgeführt worden ist. Beim Reichskommissariat befand sich ein Vertreter des Ostministeriums, der Fachmann für Gemälde, Bildhauerarbeiten, u. a. Kunsterzeugnisse war. Dieser Mensch beschäftigte sich mit der Ausplünderung von Gemäldegalerien und Museen. Auf seinen Namen kann ich mich genau nicht besinnen, es scheint mir aber, dass es Prof. Busch109 gewesen ist. Ich möchte der Untersuchung mitteilen, dass ich im Juni oder Juli 1944 von Himmler einen Brief erhielt, aus dem hervorging, dass Himmler sich ebenfalls für Silberzeug und Bibliotheksfonds, die sich in Estland befanden, interessierte und in dieser Beziehung mit Rosenberg wetteiferte. Ich antwortete Himmler, dass er schon zu spät gekommen sei und das ganze alte Silberzeug und die Bibliotheksfonds Estlands bereits in sicheren Händen (d. h. in Händen Rosenbergs) wären.
108 Friedrich-Wilhelm Jenetzky (1907–?), 1938–1940 Regierungsrat in Flensburg, 1940–1942 Landrat in Husum, 1942 SS-Sturmbannführer, 1942–1944 Gebietskommissar in Narva. Lebte nach 1945 in Neumünster. 109 Nicht ermittelt.
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Frage: Der Untersuchung ist bekannt, dass sie auf dem Territorium des Sowjetbaltikums rechtgläubige110, katholische und lutheranische Kirchen ausplündern und einäschern ließen. Machen sie darüber konkrete Aussagen? Antwort: Im Jahre 1943 kam der Befehl von Göring, alle aus farbigem Metall [Buntmetall] gegossenen Glockentürme, Kronleuchter, Tür- und Fenstergriffe und allerhand Gerät der Einwohner und Kirchen aus den besetzten Gebieten, unter anderem aus dem Sowjetbaltikum, nach Deutschland auszuführen. Es ist vollkommen natürlich, dass, diesen Befehl erfüllend, die Zivilverwaltung in „Ostland“ von den Kirchen die Glockentürme und anderes aus farbigem Metall angefertigtes, kostbares Gerät abtrugen. Frage: Sagen Sie, was sie für sich selbst im Sowjetbaltikum geraubt haben? Antwort: Für mich persönlich habe ich im Sowjet-Baltikum nichts geraubt. Frage: Nicht wahr. Der Zeuge Brunner, Joseph111, Kriegsgefangener der deutschen Armee sagt am 12. Dezember 1945 aus: „Ich selbst habe persönlich gesehen, wie vor dem Abzug der Truppen aus Riga für General Jeckeln in Riga 4 Lastkraftwagen mit den verschiedensten Gegenständen und Kostbarkeiten verladen wurden. Diese Lastkraftwagen haben sich nach Libau, und von dort nach Deutschland begeben.“ Diese Tatsache wird gleichfalls von anderen Zeugen bestätigt. Wir fordern Sie auf, die Wahrheit zu sagen. Antwort: Es ist wahr, dass ich beim Abzug aus Riga 4 Lastkraftwagen mit mannigfaltigen Gegenständen, unter anderem 10112 Hühner, hinausgeführt habe. Diese Gegenstände sind indessen deutscher Herkunft und mein persönliches Eigentum. Frage: Die Hühner waren auch deutscher Herkunft? Antwort: Nein, lettischer. Jeckeln Vernahm: stellvert[retender] Chef der Abteilung der 2. Verwaltung des NKGB d[er] UdSSR Major Zwetajew Übersetzte: Suur Für die Richtigkeit der Übersetzung: Übersetzer des K[riegs]g[e]f[angenen]-Lagers 277 d[es] NKWD d[er] UdSSR Vogel Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 178–180R. Handschriftliches Original. Deutsch.
110 Hier sind russisch-orthodoxe Kirchen gemeint. 111 Nicht ermittelt. 112 Von Jeckeln wurde die ursprünglich dort stehende Zahl „20“ gestrichen und durch „10“ ersetzt.
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4.9 Vernehmungsprotokoll des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 2. Januar 1946 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Sohn eines Fabrikbesitzers, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei, ehemals Chef der SS und Polizei im Baltikum. Das Verhör begann um 13.30 [Uhr]. Das Verhör war um 23.00 [Uhr] beendet. Das Verhör wurde mit Hilfe des Übersetzers aus dem Russischen ins Deutsche, des älteren Sergeanten Suur geführt, der über die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung laut § 95 des Strafgesetzbuches d[er] RSFSR gewarnt ist. Unterschrift: Suur Frage: Die Außerordentliche Staatskommission zur Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eroberer und ihrer Helfershelfer hat festgestellt, dass: 1) auf dem Territorium der Lettländischen SSR von den Ihnen unterstellten Behörden der SS, SD und Gestapo sowie der Polizei mehr als 250.000 Sowjetbürger, unter ihnen 39.000 Kinder, umgebracht worden sind und außerdem 327.000 Sowjetkriegsgefangene und 175.000 in die deutsche Sklaverei vertriebene Bürger der Lettländischen SSR. 2) Auf dem Territorium der Litauischen SSR sind laut sehr unvollständigen Angaben 300.000 Mann Sowjetbürger und 165.000 Mann Sowjetkriegsgefangener umgebracht worden. 3) Auf dem Territorium der Estnischen SSR sind etwa 60.000 Sowjetbürger umgebracht worden. Daraus folgt, dass Sie auf den vorhergegangenen Verhören unwahrhafte, sehr verringerte Angaben über die Vernichtung der Sowjetbürger auf dem Territorium „Ostlands“ durch die ihnen unterstellten Behörden des SD, der Gestapo und Polizei gemacht haben. Wir verlangen von Ihnen, wahrhafte Aussagen zu machen. Antwort: Auf dem vorhergegangenen Verhör machte ich der Untersuchung umfassende Angaben über die von den mir unterstellten Behörden des SD, Gestapo und Polizei auf dem Territorium Lettlands, Litauens und Estlands umgebrachten Sowjetbürgern. Der Untersuchung kann ich irgendwelche andere Angaben in dieser Frage nicht machen, da ich keine genauen Angaben habe. Was nun die Vernichtung der Sowjetkriegsgefangenen auf dem Territorium des „Ostlands“ anbetrifft, so erkläre ich der Untersuchung nochmals, dass ich die Schuld dafür nicht auf mich nehmen kann, da die Lager für Sowjetkriegsgefangene dem Kommando der deutschen Armee unterstellt waren.
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Frage: Aus Ihren Aussagen und den der Untersuchung zur Verfügung stehenden offiziellen Dokumenten ist ersichtlich, dass zur Zeit der deutschen Okkupation in allen Sowjetgebieten, im besonderen im Sowjetbaltikum, ein frühzeitig ausgehecktes System der Ausrottung der friedlichen Sowjetbevölkerung bestand. Die Untersuchung fordert Sie auf auszusagen: Wie und von wem dieses System ausgearbeitet worden ist und welche tatsächlichen Resultate es zum Ziele hatte? Antwort: Die Vernichtung von113 Sowjetbürgern wurde auf direkte Anweisungen und Direktiven der deutschen Regierung und ihrer Behörden durchgeführt. Das wurde zum Zweck der schnellsten Unterwerfung der von uns besetzten Sowjetterritorien, vom Nazi-Programm der Eroberung von Lebensraum für die Deutschen ausgehend, getan. Von wem persönlich in jedem einzelnen Fall solche Anweisungen ausgingen, habe ich schon auf früheren Verhören ausgesagt. Ich kann hinzufügen, dass mir nach Worten Herfs folgendes bekannt ist: Herf sagte mir, dass von dem Bach ihm erzählt hätte, er, von dem Bach, habe von Himmler den Befehl zur Vernichtung von 20 Millionen Sowjetbürgern auf dem Territorium Weißrusslands und anderer Gebiete östlich von Weißrussland, gleich dem Vormarsch der deutschen Armee nach Osten folgend, erhalten. Frage: Sagen Sie über die politischen Absichten der deutschen Regierung bezüglich des Territoriums des Sowjetbaltikums, das zur Zeit der deutschen Okkupation zum sogenannten „Ostland“ gehörte, aus? Antwort: Die verschiedenen Leiter der deutschen Regierung besaßen mannigfaltige Schattierungen in ihren politischen Absichten bezüglich des Territoriums und der Völker Sowjetlettlands, -litauens, - estlands, -weißrusslands und des nordwestlichen Teiles der UdSSR, die zum sogenannten „Ostland“, was „östliches Land“ bedeutet, gehörten. Ungeachtet jedoch der Schattierungen in ihren Meinungen, waren sich alle Leiter der deutschen Regierung darin einig, dass das Territorium „Ostland“ dem Deutschen Reich einverleibt werden müsste. Es ist vollkommen klar, dass bei einer solchen Fragestellung keine Rede sein könne über die Erteilung von irgendwelchen Unabhängigkeitsrechten den Litauern, Esten, Letten, Russen und Bürgern anderer Nationalitäten, die das „Ostland“ bevölkerten. Hitler wollte das „Ostland“ dem Deutschen Reich mit Rechten eines „Reichsgaus“ anschließen, d. h. Einverleibung des Territoriums „Ostland“ dem Deutschen Reich als einzelne deutsche Provinzen. Hitler war äußerst negativ in Bezug auf die Bevölkerung des „Ostlands“, im besonderen auf die Letten, gestimmt, wegen ihrer schlechten Beziehung zu den Deutschen im Jahre 1919 und der entschädigungslosen Beschlagnahme des Eigentums der BaltischDeutschen während der Unabhängigkeit Lettlands. Hitler betrachtete das „Ostland“
113 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „Ausbeutung von“ gestrichen und durch „Vernichtung der“ ersetzt.
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als einen Ort, passend für die Übersiedlung dahin der überflüssigen deutschen Bevölkerung, verdienter Soldaten und Kriegsinvaliden. Ein Teil der Ortsbevölkerung, deren Verdeutschung nicht gelingen würde, sollte auf Beschluss Hitlers evakuiert und in der deutschen Industrie angewandt werden. Zum Zweck der Vorbereitung solcher Maßnahmen begannen auf Befehl Himmlers Ende 1942 die Behörden des „Reichskommissariats zur Stärkung des deutschen Volkstums“114 und das „Zentrum für Volksdeutsche“115 zu funktionieren. Zur Organisierung dieser Behörden erhielt Himmler den Befehl von Hitler. Außerdem waren im Jahre 1942 in Lettland, Estland und Litauen landwirtschaftliche Übersiedlungsschulen eröffnet worden. Seit Kriegsausbruch begann eine verstärkte Auserlesung von Kolonisten aus Deutschen zur Übersiedlung ins „Ostland“. Während meiner Tätigkeit als Führer der SS und Polizei in Düsseldorf gehörte ich zum Komitee für Staatsverteidigung des VI. Wehrkreises, dessen Leiter der Gauleiter Kommissar Dr. Meyer116 (später Staatssekretär im Ministerium „Ostland“) war. Dieses Komitee tagte einmal im Monat in Münster i. W. Hier stattete der örtliche Leiter des Bauerntums Matthiessen Bericht ab, welche Zahl deutscher Bauern nach Russland überzusiedeln hat. Wenn ich mich nicht irre, sollten als erste 200 000 Übersiedler aus Westfalen und Baden abreisen. Diese Übersiedler sollten, in Folge der Vereinigung von 2 oder 3 kleinen Höfen zu einem, freiwerden. Als Entschädigung sollten sie im „Ostland“ Grundstücke erhalten, die um ein vielfaches diejenigen, die sie in Deutschland besaßen, übertreffen sollten. Im Falle von Widerstand sollte die Aussiedlung ratsamerweise gewaltmäßig durchgeführt werden. Die Beziehung Rosenbergs zur „Ostland“-Frage war dieselbe wie bei Hitler. Indessen bezog sich Rosenberg noch strenger zu den „Ostland“-Völkern. Er war überhaupt gegen jedwelche Vereinbarungen mit ihnen. Bezüglich der Letten, Litauer und Esten hielt sich Rosenberg bei der Stellungnahme der Baltisch-Deutschen, die die Bevölkerung des Baltikums als Sklaven und nicht vollwertige Menschen betrachteten. Die Beziehung Himmlers zum „Ostland“ war noch schärfer, als die Einstellung Hitlers. Organisierung von sogenannten „Selbstverwaltungen“ lehnte er ab, da er sie als zu milde fürs „Ostland“ betrachtete. Himmler ging in seinen Absichten sehr weit. Er träumte davon, die Grenzen Deutschlands bis zum Ural zu erweitern und die fernöstlichen Gebiete unter Beobachtung zu nehmen. Darüber sprach er oft in seinen Vorträgen. Sein Ziel war die breiteste Übersiedlung der Deutschen in das „Ostland“ und die Verdrängung der ganzen ihm unbequemen Bevölkerung nach Osten oder ihre Ausrottung. Aus den Bemerkungen Himmlers in den höchsten Kreisen der SS war ersichtlich, dass er sich
114 Hier ist das Amt des Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volkstums gemeint. 115 Hier ist die Volksdeutsche Mittelstelle gemeint. 116 Alfred Meyer (1891–1945), Gauleiter und Staatssekretär, 1911–1920 Berufssoldat, promovierter Staatswissenschaftler, 1928 Beitritt zur NSDAP, 1930–1932 und seit 1933 Mitglied des Reichstags, 1931– 1945 Gauleiter Westfalen-Nord, ab 1933 auch Reichsstatthalter Lippe, ab 1941 zudem Staatssekretär und Stellvertreter Rosenbergs im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, 1942–1945 Reichsverteidigungskommissar Westfalen Nord, April 1945 Suizid.
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als Herr des „Ostlands“ betrachtete. In dieser Frage wetteiferte mit ihm Rosenberg, und auf Grund der Gier nach Selbstherrschung im Ostland kamen zwischen ihnen nicht selten ernste Konflikte vor. Der Reichskommissar des „Ostlands“ Lohse stand in der „Ostland“-Frage in der Hauptsache auf dem Standpunkt Hitlers. Er wünschte nicht, irgendeine Vereinbarung mit der Bevölkerung des „Ostlands“ zu haben, und betrachtete sie als Sklaven. Er ließ die Baltisch-Deutschen aus Deutschland deshalb wiederkehren, weil ihre Beziehung zur Bevölkerung mit seiner eigenen Beziehung übereinstimmte. Lohse besaß ein ungeheures Verlangen, im „Ostland“ allein zu regieren, und kämpfte gegen alle deutschen Leiter, die ihm in dieser Beziehung gefährlich sein könnten. Lohse – d. i. ein großer Egoist, der zur Erreichung seiner Ziele alle Mittel, auch Lüge und Intrigen, in Gang setzt, und dabei ist er ein Feigling. Bezeichnend für die Anschauungen Lohses ist die Tatsache, dass er in Mußestunden sich mit der Ausarbeitung einer Konstitution befasste, laut welcher seine Stellung als Reichskommissar erblich werden müsste. Nach der schmählichen Flucht Lohses nach Deutschland im August 1944 wurde Koch Reichskommissar im „Ostland“. Anfang September 1944 war Koch in Riga, wo er vor den versammelten „Ostlands“-Leitern die Bevölkerung des „Ostlands“ als minderwertig charakterisierte. Ich sagte bereits, dass Koch auf dieser Beratung erklärt habe, dass die Bevölkerung Lettlands noch zu gut gekleidet sei, dass es ihr doch nicht so schlecht gehe, und dass er, Koch, in der Ukraine schon eine andere Ordnung eingeführt hätte. Sich in Riga aufhaltend, forderte Koch die unbarmherzige, gewaltmäßige Evakuierung aller Arbeitsfähigen aus dem „Ostland“ zu Arbeit nach Deutschland. Ich habe desgleichen schon ausgesagt, dass der Vertreter Kochs, der sogenannte Konsul Jonas, großer Fachmann in Plünderungen, die Industrieausrüstungen und anderes den lettischen, estnischen und litauischen Völkern gehörendes Gut raubte. Ich habe ebenso berichtet, dass Minister Rosenberg noch im Jahre 1943 aus dem Ostland viele kulturelle, künstlerische und historische Kostbarkeiten ausgeführt hat. So waren nicht nur die Absichten, sondern die tatsächliche Beziehung der deutschen Regierung zum Territorium „Ostland“ und den dieses Territorium bevölkernden Nationen. Nach meiner Rede richtig geschrieben. Jeckeln Vernahm: Stellvert[retender] Chef d[er] Sektion der 2. Verwaltung des NKGB d[er] UdSSR Major Zwetajew Übersetzte: Suur Für die Richtigkeit der Übersetzung: Übersetzer des Kr[iegs]g[e]f[angenen-]Lagers 277 d[es] NKWD d[er] UdSSR Vogel. Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 185–188. Handschriftliches Original. Deutsch.
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4.10 Schreiben der Hauptverwaltung des Volkskommissariats für Staatssicherheitder UdSSR zum Kampf gegen das Banditentum zur Übergabe der Anklageschrift an den Angeklagten Friedrich Jeckeln, Riga, 3. Januar 1946 Bestätige: Chef der 2. Abteilung GUBB UdSSR Oberstleutnant Karlin117 3. Januar 1946 Bestimmung über das Bekanntgeben der Beschuldigung. Riga, den 3. Januar Jahr 1946. Ich, Stellvertretender Chef der Abteilung der 2. Verwaltung NKGB UdSSR Major Zwetajew, die Protokolle der Untersuchungssache Nr. 2783 durchsehend und in Acht nehmend, dass Jeckeln, Friedrich genügend bloßgestellt ist dadurch, dass er in der Zeitspanne, ab November 1941 bis Dezember 1944 als Höherer SS- und Polizeiführer im Ostland, bis Oktober 1942 in Weiß-Ruthenien, und an der Spitze von Straforganen der SS, SD, Gestapo und Polizei stehend, hat an Folterungen und Ausrottungen der friedlichen Sowjet-Bürger, gefangener Rotarmisten und Offiziere, an [der] Zerstörung [von] Städten und Dörfern, an Plünderungen der Bevölkerung, Staatsunternehmungen und Behörden, an Herausführen von Einrichtung der Industrie-Betriebe und gewaltsamer Ausweisung friedlicher Einwohner zur Zwangsarbeit nach Deutschland teilgenommen. In den Jahren 1941–1944 wurden von den SD, Gestapo und Polizeiorganen, die Jeckeln unterstellt waren, arretiert und in den Konz[entrations]-Lagern Tausende sowjetischer Bürger – Männer, Frauen, Greise und Kinder geworfen, den grausamsten Qualen, Schlägen und Folterungen unterzogen und erschossen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 wurden von den SS-, SD- und GestapoOrganen, die Jeckeln unterstellt waren, nach seiner Anweisung Gasautomobile (Seelenmörder) für die Vernichtung von verhafteten Sowjet-Bürgern, die in Salaspils und Rigaer Konz[entrations]-Lagern eingesperrt waren, ausgenutzt. Im März–April 1943 hat ein spezielles Kommando des SD im Salaspils-Lager Gas-Präperate für die Vernichtung von Kindern durch Gas ausgenützt (in Kinderbaracken). In den Jahren 1943–1944 sind in den Konzentrationslagern durch Vergiftung und durch Auspumpung des Blutes in großen Dosen viele Sowjetmenschen, darunter auch Kinder, getötet wurden.
117 Veniamin Z. Karlin (1912–1988), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1938 bei der Staatssicherheit, 1943–1944 Stellvertreter des Chef der Hauptverwaltung für den Kampf gegen das Banditentum des NKVD der UdSSR (GUBB), 1944 Chef der GUBB auf der Krim, 1944–1945 Chef des Operativsektors des NKGB der Litauischen SSR im Gebiet Kedajnskij, 1945–1946 Chef der 2. Abteilung der GUBB, 1946–1948 Chef der 1. Abteilung der GUBB, 1948–1950 Chef der 5. Abteilung der GUBB, ab 1951 Leiter der Abteilung Kinderlager des MVD im Gebiet Gorki, 1970 aus dem MVD wegen Krankheit entlassen.
4.10 Schreiben des NKGB zur Übergabe der Anklageschrift gegen Jeckeln
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Angefangen vom Jahre 1942 führten die Polizei, SS und SD in dem von Deutschen besetzten Baltikum und Weiß-Ruthenien Massenausrottung von Geisteskranken, die sich zur Heilung in Kliniken und Krankenhäusern befanden, durch, und Hunderte Sowjet-Frauen, die in gemischten Ehen lebten, wurden der Sterilisierung unterzogen. Ende November und Anfang Dezember 1941 und danach auch im Jahre 1942, sind auf persönlichen Befehl Jeckelns unweit der Stadt Riga zehntausende friedliche Bürger, die sich im Rigaer Getto und im Konzentrationslager Salaspils befanden, erschossen wurden. Auf seine Anweisung sind auch in den Jahren 1942–1943 im Rigaer Zentralgefängnis ohne Gericht und Untersuchung einige Hundert Sowjetkriegsgefangene, darunter auch Offiziere der Roten Armee, erschossen worden. Die Jeckeln unterstellten Polizeibehörden misshandelten tierisch, während der Überwachung der Sowjetkriegsgefangenen bis allmöglichen Arbeitseinsatz, darunter auch von Verteidigungsbedeutung, dieselben erschossen und straften sie durch Erhängung. Auf solche Weise trägt Jeckeln als höherer SS- und Polizeiführer im „Ostland“ ebenso wie das OKW die Verantwortung für die Vernichtung vieler tausender Kriegsgefangener der Roten Armee. Als höherer SS- und Polizeiführer führte Jeckeln persönlich Strafabteilungen gegen Partisanen (im September des Jahres 1942 im Gebiet Minsk und anderen Gegenden der UdSSR, im Frühling und Herbst des Jahres 1943 an der Ostgrenze Lettlands und ihr anliegenden Gegenden der RSFSR). Auf Befehl Jeckelns wurden zur Zeit dieser Strafaktionen viele Dörfer und Orte niedergebrannt, aber die friedlichen Sowjeteinwohner erschossen und bei lebendigen Leibe verbrannt, ihr Eigentum ist ausgeplündert und nach Deutschland verschleppt worden. Außerdem hat die deutsche Polizei, beim Vollziehen der Anweisungen Jeckelns, gewalttätig die friedliche Sowjet-Bevölkerung Lettlands, Litauens und Estlands zu Zwangsarbeiten nach Deutschland fortgetrieben. Im Besonderen führten im Oktober des Jahres 1944 Jeckeln und der Kampfkommandant der Stadt Riga Ruff, mit Hilfe deutscher Polizeitruppen und des SD, zwei Massenrazzien durch. Zur Zeit dieser Razzien war die friedliche Stadtbevölkerung grausamen Gewalttaten und Misshandlungen unterzogen worden, viele Einwohner erschlagen und Tausende von der Stadt Riga auf Sammelungspunkte zusammen getrieben und beim Verladen der Industrieausrüstung und anderen Sowjeteigentums eingesetzt worden, wonach die Sowjet-Menschen auf Schiffe getrieben und zur Zwangsarbeit nach Deutschland ausgeführt worden sind. Neben dem OKW trägt auch Jeckeln Verantwortung für die Zerstörung, die in Riga vor dem Abzug der deutschen Truppen durchgeführt worden sind. Beschluss: Vom Paragraphen 128 und 129 UPK118 d[er] RSFSR geleitet, Jeckeln als Angeklagten heranzuziehen laut Paragraph Nr. 1 des Erlasses des Präsidiums der
118 Ugolovno-processual’nyj kodeks (Strafprozessordnung).
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Obersten Rates d[er] UdSSR vom 19. April 1943, worüber ihm gegen Unterschrift in vorliegenden Beschluss bekannt gegeben wird. Die Abschrift des Beschlusses entsprechend § 146 d. UPK RSFSR dem Kriegsprokuror zuzustellen. Stellvertretender Chef der Abteilung der 2. Verwaltung NKGB der UdSSR Major: Zwetajew Einverstanden: Gehilfe des Chefs der Untersuchungsabteilung in besonders wichtigen Angelegenheiten d[es] NKGB d[er] UdSSR Oberstleutnant: Zepkow119 Der vorliegende Beschluss ist mir bekannt gemacht worden. 4. Januar 1946 Jeckeln Unterschrift des Angeklagten Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bl. 214–217. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.11 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 2. April 1948 Schmidt, Rudolf, 1886 in Berlin geboren, deutsch, ehemaliger Befehlshaber der 2. Panzerarmee an der Ostfront, letzter Wohnort: Northeim in der englischen Besatzungszone Deutschlands Frage: Bei welchen Operationen, an denen Sie teilgenommen haben, unterstanden Sie der Heeresgruppe „Nord“? Antwort: Am 23. August 1941 erhielt das XXXIX. Panzerkorps, das in seiner Ausgangsstellung in der Stadt Nowgorod angekommen war, vom Oberbefehlshaber der 8. Armee, Generaloberst Busch, den Befehl, die Städte Tschudowo und Tosno einzunehmen, sich mit der finnischen Armee zu vereinigen und weiter in Richtung Leningrad vorzudringen. In der Zeit vom 25. August bis zum 8. Oktober 1941 eroberte das XXXIX. Panzerkorps nach heftigen Kämpfen die Städte Tschudowo, Tosno, Kolpino, Mag, Schapki, Grusino und Schlüsselburg. Es rückte nach Leningrad vor, wo dem Korps die Blockade der Stadt gelang. Es gelang mir allerdings nicht, eine Verbindung zur finni-
119 Viktor G. Zepkov (1905–1976), sowjetischer Geheimdienstoffizier, seit 1938 bei der Staatssicherheit, dort seit 1939 bei verschiedenen Abteilungen als Untersuchungsführer tätig, 1944–1947 Gehilfe des Chefs der Untersuchungsabteilung für Sonderangelegenheiten beim NKGB/MGB der UdSSR, 1947–1950 Leiter der Untersuchungsgruppe des MGB in der Ukrainischen SSR, 1951–1953 stellvertretender Chef der Untersuchungsgruppe für Sonderangelegenheiten beim MGB der UdSSR, Ende März 1953 verhaftet, im August 1953 nach Einstellung der Ermittlungen (wegen Amtsmissbrauch) in die Reserve des MVD versetzt, 1954 stellvertretender Milizchef von Moskau, 1955 wegen Krankheit aus dem MVD entlassen.
4.11 Protokoll des Verhörs von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 2. April 1948
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schen Armee herzustellen, denn die Fähren über die Newa im Gebiet von Mag waren vom Gegner zerstört worden. Ich verfügte auch nicht über eine Pontonbrücke oder andere Möglichkeiten, den Fluss zu überqueren. Frage: Welche Einheiten unterstanden zu dieser Zeit dem XXXIX. Panzerkorps, das Sie befehligten? Antwort: Bei der Offensive auf Leningrad gehörten zum XXXIX. Panzerkorps die 12. Infanteriedivisionen von Generalleutnant Harpe sowie die 20. Infanteriedivision (mot.) von Generalleutnant Zorn, die 8. Panzerdivision von Generalleutnant Brandenberger120, das Luftlande-Sturm-Regiment 1 von Oberst Meindl121 und andere Spezialeinheiten. Frage: Wie entwickelten sich die Operationen des XXXIX. Panzerkorps in der folgenden Zeit? Antwort: Anfang Oktober 1941 übergab mir der Oberbefehlshaber der 8. Armee, Generaloberst Busch, von Hitler den Befehl, wonach das XXXIX. Korps in Richtung Tichwin über die Stadt Wolchow vordringen sollte, um die dortigen Bauxitlagerstätten zu erobern und anschließend dann das Wasserkraftwerk bei Wolchow einzunehmen und weiter in Richtung des Flusses Swir vorzustoßen. Frage: Haben Ihre Truppen die Stadt Tichwin eingenommen? Antwort: Ja. Nach erbitterten Kämpfen wurde Tichwin am 9. November 1941 von Teilen des XXXIX. Korps eingenommen. Während der Offensive auf Tichwin nahmen meine Truppen auch die Stadt Budgosch ein. Die weitere Offensive zur Eroberung der Bauxitlagerstätten von Tichwin, des Wasserkraftwerks von Wolchow und zum Vorstoß an den Fluss Swir wurde unterbrochen, da das Korps aufgefüllt werden sollte. Am 15. November 1941 erhielt ich vom Stab der 8. Armee die Nachricht, dass ich zur Heeresgruppe „Mitte“ versetzt werde. Hier sollte ich zeitweise den Oberbefehlshaber der 2. Armee, Generaloberst von Weichs, vertreten, der wegen einer Erkrankung Heimaturlaub erhalten hatte. Frage: Haben die Ihnen unterstellten Einheiten Leningrad beschossen?
120 Erich Brandenberger (1892–1955), General der Panzertruppen, seit 1911 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg Generalstabsausbildung, Stabsverwendungen, 1941–1943 Kommandeur der 8. Panzerdivision, 1943 Führerreserve, dann Kommandierender General des XXIX. Armeekorps, 1944–1945 Oberbefehlshaber der 7. Armee, 1945 mit der Führung der 19. Armee beauftragt. 1945–1948 in US-Kriegsgefangenschaft. 121 Eugen Meindl (1892–1951), General der Fallschirmtruppe, seit 1912 Berufssoldat, Artillerieoffizier, 1940 Wechsel vom Heer zur Luftwaffe, Mai 1941 Leiter des Unternehmens Merkur, der Landung in Kreta, Anfang 1942 wurde sein Regiment zur Luftwaffen-Felddivision „Meindl“ erweitert, 1942–1943 Kommandeur des XIII. Fliegerkorps, 1943–1945 des II. Fallschirmkorps. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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Antwort: Nein. Frage: Welche Gefangenenlager waren Ihnen unterstellt, als Sie sich an der Front bei Leningrad befanden? Antwort: Mir waren während dieser Zeit keine Lager unterstellt, denn das XXXIX. Panzerkorps war ständig in Bewegung. Die Gefangenen, die während der Offensive gemacht worden waren, wurden unverzüglich ins Hinterland gebracht. Frage: Haben Einheiten, die zu Ihrem XXXIX. Panzerkorps gehörten, an Strafaktionen gegen sowjetische Patrioten teilgenommen? Antwort: Während sich das XXXIX. Panzerkorps bei der Heeresgruppe „Nord“ befand, hat es nicht an Strafaktionen gegen Partisanen teilgenommen, denn seine Hauptaufgabe bestand in der Offensive auf Leningrad. Das Korps befand sich deshalb ständig an der Frontlinie. Frage: Wann übernahmen Sie den Oberbefehl über die 2. Armee der Heeresgruppe „Mitte“? Antwort: Anfang Dezember 1941, nach einem kurzen Urlaub, den ich in Berlin und Weimar verbrachte, kam ich zum Stab der Heeresgruppe „Mitte“ in Smolensk und erhielt dort die entsprechende Anweisung, den Oberbefehl über die 2. Armee zu übernehmen. Frage: Welche Aufgaben erhielten Sie vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe „Mitte“? Antwort: Die Heeresgruppe „Mitte“ von Generalfeldmarschall von Bock nahm an der Offensive auf Moskau teil. Die 2. Armee, die an der rechten Flanke der Heeresgruppe aktiv war, sollte die Fähre über den Don im Gebiet von Jelez erobern, Jelez einnehmen und dann die südliche Flanke der auf Moskau vorrückenden deutschen Truppen decken. Frage: Aus welchen Truppen bestand die 2. Armee, die Sie damals befehligten? Antwort: Der 2. Armee unterstanden das LV. Armeekorps des Generals der Panzertruppen Kempf mit dem Stab des Korps in Kursk, das XXXIV. Armeekorps des Generals der Infanterie Metz122, das XXXV. Armeekorps123 des Generals der Artillerie
122 Hermann Metz (1878–1959), General der Infanterie, seit 1897 Berufssoldat, 1908–1911 Generalstabsausbildung, Stabsverwendungen, 1931 verabschiedet, 1939 reaktiviert, 1939–1941 Befehlshaber Höheres Kommando XXXIV, Besatzungstruppe in Polen, dann Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion, 1943 endgültig in den Ruhestand verabschiedet. 123 Fehler in der russischen Übersetzung: Metz kommandierte das XXXIV. Armeekorps, während Kämpfe das XXXV. Korps führte.
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Kaempfe124 und andere Einheiten, an deren Bezeichnung ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Frage: Welchen Frontabschnitt besetzte die 2. Armee? Antwort: Der Frontabschnitt, den die 2. Armee besetzte, begann im Gebiet südlich von Kursk und endete an der Südgrenze von Orjol. Der Armeestab befand sich in Orjol. Frage: Welche Operationen wurden von der 2. Armee unter Ihrer Führung durchgeführt? Antwort: Mitte Dezember 1941 nahm die 134. Infanteriedivision des XXXV. Armeekorps Jelez ein und drang weiter bis zum Don vor. Dadurch dass aber die 2. Panzerarmee von Generaloberst Guderian, die links von der 2. Armee stand, bei Tula eine Niederlage erlitten hatte und sich ungeordnet in Richtung von Orjol und südlich davon zurückzog, war die linke Flanke der 2. Armee im Gebiet von Jefremow ungedeckt, so dass ich auf Befehl von Generalfeldmarschall Bock die 2. Armee in das Gebiet OrjolKursk zurückführte. Ende Dezember 1941 wurde ich dann zum Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee ernannt. Frage: Erläutern Sie, in welchem Zusammenhang und durch wen Sie zum Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee ernannt wurden. Antwort: Am 25. Dezember 1941 erhielt ich aus dem Stab der Heeresgruppe „Mitte“ ein Telegramm mit der Unterschrift Hitlers, in dem er die Entlassung von Generaloberst Guderian als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee und meine Ernennung auf diesen Posten mitteilte. Zugleich blieb ich der Oberbefehlshaber der 2. Armee. [Es folgt die Aufzählung von einem Dutzend verschiedener Armeekorps und Divisionen, die zur 2. Panzerarmee gehörten, die hier nicht wiedergegeben wird – die Herausgeber.] Frage: Welche Operationen wurden unter Ihrem Kommando von der 2. Panzerarmee durchgeführt? Antwort: Von Januar 1942 bis März 1943 führte die 2. Panzerarmee Verteidigungskämpfe im Gebiet von Orjol, Brjansk, Kursk, Wolchow, Suchinitscha, Jefremow, Dimitrowsk und Nowoarchangelsk. Frage: Bis wann blieben Sie Oberbefehlshaber der 2. Armee?
124 Rudolf Kämpfe (1883–1962), General der Artillerie, seit 1902 Berufssoldat, 1905–1908 Generalstabsausbildung, Stabsverwendungen, 1937–1941 Kommandeur der 31. Infanteriedivision, 1941 Befehlshaber des XXXV. Armee-Korps, 1942 Abgabe des Kommandos und Versetzung in die Führerreserve, 1944–1945 in Haft wegen des Attentates vom 20. 7. 1944. 1945–1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
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Antwort: Mitte Januar 1942 kehrte Generaloberst Weichs, den ich zeitweise vertreten hatte, aus dem Urlaub zurück und wurde erneut Oberbefehlshaber der 2. Armee. Von da an war ich nur noch Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee. Frage: Wer leitete die Strafaktionen gegen die sowjetischen Patrioten am Frontabschnitt der 2. Panzerarmee? Antwort: Generalleutnant Bernhard125, der mir unterstellt und Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 2. Panzerarmee war, leitete die Aktionen gegen Partisanen im Hinterland. Frage: Welche Einheiten unterstanden Bernhard zur Niederschlagung der patriotischen Aufstände der sowjetischen Bürger? Antwort: Der Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 2. Panzerarmee, Generalleutnant Bernhard, dessen Hauptaufgabe der Kampf gegen Partisanen war, befehligte einige Wachbataillone. Außerdem erhielt er für Strafaktionen gegen Partisanen einzelnen Fronttruppen unterstellt. Frage: Wurden die Pläne für die Strafaktionen gegen die sowjetischen Patrioten und die entsprechenden Befehle an die Truppen, die an diesen Operationen teilnahmen, von Ihnen ausgestellt? Antwort: Ja. Die Pläne für die Strafaktionen gegen Partisanen und die Truppenbefehle stellte ich aus. Frage: Erläutern Sie diese Strafaktionen gegen die sowjetischen Patrioten, die von Teilen der 2. Panzerarmee durchgeführt wurden. Antwort: Im Juni 1942 erhielt Generalleutnant Bernhard von mir den Befehl, Strafaktionen gegen Partisanen im Gebiet nördlich, nordöstlich und südlich von Brjansk durchzuführen, da sich die Aktivitäten der Partisanentruppen hier verstärkt hatten. Frage: Welche Einheiten nahmen an diesen Strafaktionen gegen die sowjetischen Patrioten teil? Antwort: Generalleutnant Bernhard verfügte für diese Aktion über einige Sicherungsbataillone, ein Aufklärungsbataillon und zwei speziell zusammengestellte Kompanien des XXXXVII. Panzerkorps, die mit Panzerspähwagen und leichten Panzern ausgestattet waren.
125 Friedrich-Gustav Bernhard (1888–1945), Generalleutnant, seit 1909 Berufssoldat, Fliegerausbildung im 1. Weltkrieg, 1917–1920 in russischer Kriegsgefangenschaft, 1939 Armee-Nachrichtenführer AOK 18, 1940–1941 Nachrichtenführer Heeresgruppe A bzw. Süd, 1942–1945 Kommandant rückwärtiges Armeegebiet (Korück) 532 der 2. Panzerarmee. 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Ende 1945 in Brjansk wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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Frage: Welche Ergebnisse erzielten Sie mit den Strafaktionen gegen die sowjetischen Patrioten? Antwort: Durch die Truppen der 2. Panzerarmee, die an den Operationen teilnahmen, wurden Lager entdeckt, die von den Partisanen verlassen worden waren. Die Einheiten zerstörten diese Lager. Anschließend wurden einige Partisanen getötet und sowjetische Zivilisten verhaftet, die unter dem Verdacht standen, den Partisanen zu helfen. Die verhafteten sowjetischen Zivilisten wurden von einem militärischen Standgericht verurteilt. Frage: Sagen Sie aus, wie viele sowjetischen Zivilisten verhaftet wurden und welches Schicksal sie ereilte. Antwort: Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie viele sowjetische Zivilisten während dieser Operation verhaftet wurden. Ich weiß nur, dass alle dem Standgericht der 2. Panzerarmee übergeben und verurteilt wurden. Welche Urteile diese sowjetischen Bürger erhielten, weiß ich allerdings nicht. Frage: Welche weiteren Strafoperationen wurden von Ihren Einheiten gegen sowjetische Patrioten durchgeführt? Antwort: Für die Durchführung einer großen Strafoperation im Gebiet zwischen Brjansk und Ljudinowo, nördlich und nordwestlich von Kirow und im Gebiet entlang der Desna, die unter dem Kommando von Generalleutnant Schenkendorff126 stand, stellte ich von der 2. Panzerarmee einige Sicherungsbataillone, die dem Kommando von Generalleutnant Bernhard unterstanden, sowie ein Infanteriebataillon und einige leichte Panzer zur Verfügung. Außerdem waren an dieser Aktion Einheiten der 4. Armee und der Luftwaffe beteiligt, die von der Heeresgruppe „Mitte“ zugeteilt worden waren. Weiterhin führte der Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 2. Panzerarmee, Generalleutnant Bernhard, mehrmals Strafexpeditionen und Razzien gegen Partisanen im Hinterland der Truppe durch. Daran waren rückwärtige Einheiten und das XXXXVII. Panzerkorps bis zum Umfang eines Bataillons beteiligt. Frage: Welche Ergebnisse erzielten diese Strafoperationen gegen die sowjetischen Patrioten? Antwort: Während dieser Aktionen gegen die Partisanen, die unter der Leitung von Generalleutnant Schenkendorff stattfanden, sowie anderer Strafoperationen, wurden
126 Max von Schenkendorff (1875–1943), General der Infanterie, seit 1894 Berufssoldat, 1903–1906 Generalstabausbildung, reformierte im 1. Weltkrieg die Heeres-Ausbildung, 1930 Abschied aus dem aktiven Dienst, 1933 Beitritt zur NSDAP, 1939 reaktiviert, Kommandeur des Grenzschutzkommandos 13, 1941–1943 Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes der Heeresgruppe Mitte, entwickelte Lehrgänge und Lehrmaterial für die „Partisanenbekämpfung“, verantwortlich für Massenhinrichtungen auch von Zivilisten, erlag 1943 während eines Heimaturlaubs einem Herzanfall.
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einige Dörfer niedergebrannt, viele Lager der Partisanen in den Wäldern zerstört und eine große Anzahl von Partisanen gefangenen genommen. Wie viele Partisanen getötet wurden und welches Schicksal die Gefangenen ereilte, ist mir unbekannt. Frage: Welche Befehle wandten Ihre Truppen im Umgang mit den sowjetischen Patrioten an? Antwort: 1942 wurde vom Oberkommando der deutschen Wehrmacht ein Befehl mit der Unterschrift Hitlers herausgegeben, der den Umgang mit Partisanen behandelte. Dieser Befehl wurde vom Oberkommando an alle Einheiten der deutschen Armee bis hinunter zu den Divisionen und den Kommandanten im rückwärtigen Gebiet verteilt. In diesem Befehl Hitlers hieß es, dass die Partisanen außerhalb des Gesetzes agierten, dass man sie eigentlich als „Banditen“ bezeichnen müsse und sie erbarmungslos zu töten seien. Weiter hieß es in diesem Befehl, dass ein Soldat, der einen Bewohner eines von Partisanen beherrschten Gebietes für verdächtig hält, irgendeine Handlung gegen den Soldaten zu begehen, entsprechend handeln sollte, was bis zur Vernichtung dieses Bewohners gehen konnte.127 Um diesen Befehl auszuführen, den ja alle Divisionen unmittelbar erhalten hatten, begingen meine Truppen zahlreiche Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung. Es ist aber schon so lange her, so dass ich mich nicht an alle Fakten der Übergriffe erinnern kann. Ich erinnere mich aber, dass zwei Soldaten, die mir unterstellt waren, zwei vollkommen unschuldige russische Bauern erschossen, nur weil sie ihnen verdächtig erschienen. In diesem Zusammenhang wandte sich die Tochter eines dieser beiden erschossenen Bauern mit einer Beschwerde an mich. Mitunter blieben deutsche Soldaten, die sich schuldig gemacht hatten, weil sie sowjetische Zivilisten erschossen hatten oder brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen waren, der Führung unbekannt. Frage: Welche Verwaltungs- und Straforgane befanden sich im Hinterland der 2. Panzerarmee unter Ihrer Leitung?
127 Am 18. 8. 1942 hatte Hitler mit der Weisung Nr. 46 „Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten“ erlassen. Zuvor hatte bereits der Kriegsgerichtsbarkeitserlass Barbarossa des OKW vom 14. 5. 1941 gefordert, „Freischärler […] schonungslos zu erledigen“, und den deutschen Soldaten Straffreiheit für Verbrechen gegen die sowjetische Bevölkerung zugesagt. Am 16. 12. 1942 bekräftigte OKW-Chef Keitel in einem Sonderbefehl, dass bei der Partisanenbekämpfung kein Deutscher wegen seines Verhaltens disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Verantwortung gezogen werden dürfe. Zudem sei in diesem Kampf ohne Einschränkung jedes Mittel, auch gegen Frauen und Kinder, einzusetzen.
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Antwort: Mir direkt unterstellt war der Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 2. Panzerarmee, Generalleutnant Agricola128 (bis April 1942), er wurde durch Generalleutnant Bernhard, über den ich bereits berichtet habe, ersetzt129. Bernhard war mir gegenüber verantwortlich für die Versorgung und Sicherheit der 2. Panzerarmee im rückwärtigen Gebiet. Er verfügte über einige Sicherungsbataillone, die für den Kampf gegen die Partisanen sowie zum Schutz der Eisenbahnstrecken vorgesehen waren, einen besonderen Verwaltungsapparat und ein Gericht. Außerdem waren Bernhard einige örtliche Kommandanturen in den Städten und Siedlungen im rückwärtigen Gebiet der Armee unterstellt sowie die Kreisadministration im Gebiet nördlich von Swesk, die der russische Ingenieur Kaminski leitete. Frage: Waren die Kommandanten der Städte Orjol, Brjansk und Kursk Ihnen ebenfalls unterstellt? Antwort: Ja, diese Kommandeure waren mir unterstellt. Zum Kommandanten von Orjol ernannte ich Generalleutnant Ondraza130, der im Herbst 1942 durch Generalmajor Hamann131 ersetzt wurde. Diese Entscheidung hatte das Oberkommando des Heeres getroffen. Frage: Welche Pflichten erhielten die Kommandanten von Orjol, Brjansk und Kursk von Ihnen? Antwort: Die Aufgabe der Kommandanten von Orjol und den anderen Städten bestand in der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in den Städten, der Stationierung der Truppen, ihrer Versorgung und der Organisation der Verteidigung der Städte. Frage: Waren Ihnen auch Gefangenenlager unterstellt?
128 Kurt Agricola (1889–1955), Generalleutnant, seit 1908 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, Kommandos über verschiedene Infanterie-Einheiten, zuletzt über die Heeresdienststelle 3 in Oppeln und die dortigen Befestigungen, 1938 verabschiedet, 1939 reaktiviert, 1939–1941 erneut Kommandant von Oppeln, 1941–1945 Korück 580 der 2. Armee. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, verstarb zweieinhalb Monate nach seiner Entlassung. 129 Hier irrt Schmidt, Agricola unterstand das rückwärtige Armeegebiet der 2. Armee (Korück 580), während Bernhard das rückwärtige Armeegebiet der 2. Panzerarmee befehligte (Korück 532). 130 Herbert von Ondraza (1878–1971), Generalleutnant, seit 1899 Berufssoldat, 1931 verabschiedet, 1939 reaktiviert, Kommandeur eines Artillerie-Regiments, 1940–1942 Artillerie-Kommandeur 17, 1942– 1943 Höherer Artillerie-Kommandeur 305, Mai 1943 verabschiedet. 131 Adolf Hamann (1885–1945), Generalleutnant, seit 1901 Berufssoldat, nach dem 1. Weltkrieg Wechsel von der Unteroffiziers- in die Offizierslaufbahn, 1939–1940 Kommandant eines Grenzabschnittes in Polen, 1941–1942 Kommandeur von Infanterieregimentern, 1942 Ortskommandant von Orël, 1942/43 Kommandant von Brjansk, 1943/44 von Bobrujsk, im Juni 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, dort Ende Juli 1944 mit 16 weiteren Wehrmachtgeneralen Unterzeichner eines Aufrufes, Hitlers Befehle zu verweigern. Ende 1945 in Brjansk wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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Antwort: Ja, mir unterstanden drei Lager für sowjetische Gefangene. Eines in Orjol, das andere in Brjansk und das dritte in Kursk. Frage: Wie viele Gefangene wurden in diesen Lagern festgehalten? Antwort: Im Lager von Orjol hielten sich zeitgleich 1200 bis 1500 Kriegsgefangene auf. Im Lager von Brjansk waren es 1500 bis 1800 Personen. Der Hauptteil der Gefangenen bestand aus Soldaten und Unteroffizieren. Sowjetische Offiziere wurden in das Offizierslager der Heeresgruppe „Mitte“ in Smolensk gebracht. Frage: Waren Sie selbst einmal in solch einem Lager? Antwort: Das Kriegsgefangenenlager in Orjol habe ich ein bis zwei Mal im Monat besucht. Im Lager von Brjansk war ich insgesamt nur zwei Mal während meiner Tätigkeit als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee. Frage: Unter welchen Bedingungen waren die sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager von Orjol untergebracht? Antwort: Das Lager in Orjol war 1941 errichtet worden. Bei meinem ersten Lagerbesuch am 28. Dezember 1941, d. h. kurz nachdem ich zum Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee ernannt worden war, stellte ich fest, dass die Kriegsgefangenen unter äußerst schlechten Bedingungen gefangen gehalten wurden. Das Lager, das in dem Gebäude einer alten Fabrik errichtet worden war, war vollkommen überfüllt. Die Räume, in denen die Gefangenen festgehalten wurden, wurden überhaupt nicht beheizt, obwohl es z. T. bis zu 40 Grad Frost gab. Verletzte und kranke Soldaten lagen mit den anderen Kriegsgefangenen zusammen. Sie erhielten keine medizinische Versorgung und die Nahrungsmittelversorgung war ebenfalls unzureichend. Die Kriegsgefangenen wurden zu schwerer Arbeit eingesetzt. Dies alles führte dazu, dass die Sterblichkeit im Lager von Orjol durch Kälte, Entkräftung und Krankheiten sehr hoch war. So erreichte die Sterblichkeit durch die genannten Gründe im Januar 1942 zehn bis 20 Prozent. Die toten Kriegsgefangenen wurden massenweise in Gruben hinter dem Lagergebäude beerdigt. In der ersten Zeit blieb dieser Zustand auch unter meinem Befehl bestehen, denn ich konnte nicht rasch für eine Verbesserung der Lage sorgen. Später dann, nachdem entsprechende Maßnahmen ergriffen worden waren, normalisierten sich die Bedingungen im Lager. Frage: Nennen Sie den Namen des Kommandanten des Kriegsgefangenenlagers von Orjol und die ihm unterstehenden Personen. Antwort: Kommandant des Lagers war der Major der Reserve Hoffmann.132 Weitere Mitarbeiter aus der Verwaltung und dem Wachkommando des Lagers kenne ich nicht.
132 Hoffmann (?–?), Major der Reserve, ab 1941 Kommandant der Armeegefangenensammelstelle 20 in Orël.
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Es handelte sich dabei hauptsächlich um Unteroffiziere und Soldaten aus den Wachbataillonen. Frage: Unter welchen Bedingungen lebten die Kriegsgefangenen in den Lagern von Brjansk und Kursk? Antwort: Als ich im Dezember 1941 den Oberbefehl über die 2. Armee erhielt, befand sich deren Kriegsgefangenenlager in Kursk. Die dazugehörige Verwaltung sowie die Wachtruppe standen unter dem Kommando des LV. Armeekorps, das von dem General der Panzertruppen Kempf befehligt wurde. Vier Wochen nach meiner Ernennung hatte ich keine Möglichkeit, das Lager zu besuchen, um mich von den Bedingungen, unter denen die sowjetischen Kriegsgefangenen gehalten wurden, zu überzeugen. Meine Untergebenen hatten mir nichts Negatives über die Bedingungen, unter denen die Gefangenen gehalten wurden, berichtet. Das Lager in Brjansk war, ebenso wie das in Orjol, im November 1941 errichtet worden. Im Lager von Brjansk war ich eineinhalb Monate nach meiner Ernennung zum Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee. In den Gebäuden und Baracken des Lagers befanden sich zeitgleich etwa 2000 sowjetische Kriegsgefangene. Die Situation im Lager von Brjansk war besser als in Orjol, denn es war weiter von der Frontlinie entfernt. Dennoch waren die Bedingungen auch in diesem Lager nicht optimal. Es gab in den Räumen keine Heizung, und die Versorgung der Verwundeten war unzureichend. An weitere Einzelheiten der Bedingungen im Kriegsgefangenenlager von Brjansk kann ich mich nicht erinnern. Frage: War Ihnen auch das Lager für die Zivilbevölkerung unterstellt? Antwort: Ja. Im Gebiet von Brjansk war auch ein Lager errichtet worden, wo man, soweit ich mich erinnere, einige hundert sowjetische Bürger gefangen hielt. Sie waren eingesperrt worden, weil sie sich Befehlen der deutschen Besatzungsmacht verweigert und Kontakt zu Partisanen gehabt hatten. Dieses Lager unterstand direkt dem Kommandanten des rückwärtigen Armeegebiets der 2. Panzerarmee, Generalleutnant Bernhard. In Ordzhonikidze (in der Nähe von Brjansk), Trubtschewsk und in anderen Orten, wo die Partisanen besonders stark waren, wurden von den mir unterstellten Kommandanten Sonderlager eingerichtet. In diesen Lagern wurden sowjetische Zivilisten als Geiseln gefangen gehalten. Dieses System der Geiselnahme hatten wir eingeführt, um Partisanen und Zivilbevölkerung abzuschrecken, damit sie sich nicht gegen die Deutschen erhoben. Wir nahmen Geiseln und gaben entsprechende Befehle heraus, die wir in allen Siedlungen des besetzten Gebietes aufhängten. In diesen Befehlen teilten wir mit, dass die in verschiedenen Gebieten festgenommenen sowjetischen Bürger umgehend erschossen werden würden, falls die Bevölkerung irgendwelche Versuche anstellen sollte, gegen die Deutschen vorzugehen. Frage: Wie viele sowjetische Bürger wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht?
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Antwort: Im Mai 1942 erhielt ich einen Befehl des Stabes, in dem stand, dass ich entsprechend einer Verfügung von Sauckel die größtmögliche Anzahl von sowjetischen Zivilisten, die sich im Bereich der 2. Panzerarmee aufhielten, zur Arbeit nach Deutschland schicken sollte. Die Ausführung dieses Befehls übergab ich dem Oberquartiermeister der 2. Panzerarmee – Oberstleutnant Neitzel133. Er leitete den Befehl an die örtlichen Kommandanten weiter, welche die Mobilisierung der sowjetischen Bürger zur Arbeit in Deutschland übernahmen. Durch diese Maßnahme wurden bis Ende 1942 mehr als 14 000 sowjetische Zivilisten nach Deutschland gebracht. Diese 14 000 sowjetischen Zivilisten wurden in einigen Güterzügen von jeweils 1200 bis 1500 Personen auf den Transport schickt. Die Listen der verschickten sowjetischen Zivilisten wurden von mir persönlich bestätigt. Ende Dezember 1942 erhielt ich noch einen Befehl, der von Zeitzler unterzeichnet worden war. In ihm stand, dass ich weitere 40 000 sowjetische Bürger nach Deutschland schicken sollte. Dadurch, dass ich bereits 14 000 sowjetische Bürger nach Deutschland geschickt hatte und die restliche Zivilbevölkerung selbst für die 2. Panzerarmee benötigte, erfüllte ich diesen Befehl unter Angabe verschiedener Ausflüchte nicht. Frage: In welcher Situation befanden sich die sowjetischen Bürger, die von Ihnen zur Arbeit nach Deutschland geschickt worden waren? Antwort: Die sowjetischen Zivilisten, die ich nach Deutschland geschickt hatte, schrieben ihren Verwandten, dass sie in Deutschland für schwere Arbeit eingesetzt wurden. Sie mussten in Lagern hinter Stacheldraht hausen und wurden schlecht ernährt. Die Briefe unterlagen der Zensur. Einige von ihnen wurden übersetzt, und ich las sie selbst. Frage: Wie viele Todesurteile gegen sowjetische Bürger haben Sie bestätigt? Antwort: Nachdem ich das Kommando über die 2. Panzerarmee übernommen hatte, erteilte ich den Befehl, dass von den mir unterstellten Straforganen im Falle einer Verurteilung von Zivilisten zum Tode mir die Urteile zur Bestätigung vorgelegt werden müssen. Ich erinnere mich, dass ich in Orjol 1943 die Todesurteile für vier sowjetische Zivilisten bestätigte. Wie viele weitere Todesurteile ich bestätigt habe, weiß ich nicht mehr. Frage: Wofür wurden die von Ihnen genannten vier sowjetischen Bürger zum Tode verurteilt?
133 Hasso Neitzel (1908–1964), Oberst, 1942 Oberquartiermeister der 2. Panzerarmee, 1943 Generalstabslehrgang, 1944 Kommandeur Grenadierregiment 96, 1945 Kommandeur des Panzergrenadierregimentes 74. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft, Studien u. a. über Sicherheit im rückwärtigen Gebiet in Russland für die Historische Abteilung der US-Armee.
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Antwort: Im Januar 1943 verhaftete die Stadtkommandantur, die dem Kommandanten der Stadt Generalmajor Hamann unterstand, vier sowjetische Bürger, weil sie einen Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht vorbereitet hatten, als die Rote Armee auf Orjol marschierte. Diese vier Personen, deren Namen ich nicht mehr weiß, wurden zum Tode durch ein deutsches Gericht der Kommandantur von Orjol verurteilt. Das Urteil unterzeichnete Hamann. Das Urteil wurde dann dem Hauptrichter im Stab der 2. Panzerarmee, Schikarski134 vorgelegt, der es mir zur Bestätigung weiterleitete. Nach meiner Bestätigung wurden die vier sowjetischen Bürger im Januar 1943 in Orjol hingerichtet. Frage: Wurden diese vier Personen öffentlich hingerichtet? Antwort: Daran erinnere ich mich nicht. Frage: Haben Sie Hitler getroffen, während Sie sich an der deutsch-sowjetischen Front aufhielten? Antwort: Als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee von Dezember 1941 bis zu meiner Entlassung im April 1943 nahm ich dreimal an Besprechungen teil, die Hitler leitete: im März 1942 in Hitlers Hauptquartier in Rastenburg (Ostpreußen), im Juli 1942 in Winniza und im März 1943 beim Stab der Heeresgruppe Mitte in Smolensk. Frage: Welche Fragen wurden bei diesen Sitzungen besprochen? Antwort: Die Besprechungen hatten rein militärischen Charakter. Im März 1942 rief Hitler den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Kluge, zu sich ins Hauptquartier nach Rastenburg und ebenso alle Armee-Oberbefehlshaber dieser Heeresgruppe, um den Bericht jedes Armeeoberbefehlshabers zu hören, nachdem die Heeresgruppe Mitte, nach ihrer Niederlage bei Moskau, erneut die Verteidigung aufgenommen hatte. Nachdem jeder Armeeoberbefehlshaber Hitler kurz die Lage an seinem Frontabschnitt dargelegt hatte, wandte sich Hitler mit einer Rede an uns und dankte für unsere Anstrengungen bei der Errichtung einer neuen Frontlinie. Auf unsere Bitte hin versprach Hitler Hilfe mit neuen Truppen und Kriegsmaterial. Kurz nach der Sitzung wurde eine Reihe von Generalen – darunter ich –, die die Armeen der Heeresgruppe Mitte befehligten, wie z. B. Model und Reinhardt, auf Hitlers Befehl zum Generaloberst befördert. Frage: Wer, außer den Befehlshabern der Heeresgruppe Mitte, nahm noch an diesem Treffen bei Hitler teil?
134 Otto Schikarski (1886–1944?), Generalrichter, promovierter Jurist, 1935 Oberregierungsrat, 1940 Oberkriegsgerichtsrat in Berlin, 1941–1943 Richter beim Generalstab der 2. Panzerarmee, später in Thessaloniki bei der Heeresgruppe E, ab September 1943 Chefrichter beim Militärbefehlshaber Belgien in Brüssel, angeblich Suizid.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Antwort: Bei dieser Sitzung im März 1942 und ebenso bei den beiden anderen Zusammenkünften, über die ich noch berichten werde, waren Keitel, Göring, Jodl, Bormann, Halder, Dietrich135 und andere Vertreter des Oberkommandos und der Nationalsozialistischen Partei anwesend. Frage: Welche Fragen wurden auf den beiden folgenden Treffen, die Hitler leitete, besprochen? Antwort: Mitte Juli 1942 wurde der Plan einer bevorstehenden Offensive an der Frontlinie der Heeresgruppe Mitte in Hitlers Stab in Winniza besprochen. Das Ziel war, die gegnerischen Kräfte zu binden und dadurch ihren Abzug nach Süden zu verhindern, wo das deutsche Kommando seine Hauptoffensive auf Stalingrad beginnen sollte. Gleichzeitig sollten die gegnerischen Truppen, die tief in die Linien der Heeresgruppe Mitte eingebrochen waren und dadurch eine Art „Sack“ gebildet hatten, abgeschnitten werden, und so die Frontlinie der deutschen Truppen verkürzt werden. Für die bevorstehende Offensive arbeitete der Generalschef des Oberkommandos des Heeres, Halder, detaillierte Anweisungen für die Heeresgruppe „Mitte“ aus. Danach äußerten die Armeebefehlshaber ihre Wünsche und brachten notwendige Vorschläge ein. In seiner kurzen Rede erteilte Hitler die Weisung zur Ausarbeitung von Befehlen vor Ort, nachdem er das Datum der Offensive und die Aufstellung der vorgesehenen Truppen bekannt gegeben hatte. Andere militärische oder politische Fragen wurden auf der Sitzung nicht besprochen. Nach dem Treffen hatten ich in Anwesenheit von Bormann, Jüttner136, Schmundt und Generaloberst Reinhardt die Möglichkeit, mit Hitler über die Möglichkeit der Errichtung einer russischen Selbstverwaltung in einigen Gebieten bei Orjol, die von meinen Truppen besetzt waren, zu sprechen. Frage: Weswegen berief Hitler im März 1943 eine Besprechung ein? Antwort: Am 18. März 1943 kam Hitler mit dem Flugzeug im Hauptquartier der Heeresgruppe „Mitte“ an und bei der von ihm einberufenen Sitzung hörte er sich die Berichte der Armeeoberbefehlshaber der Heeresgruppe „Mitte“ über den Zustand der Truppen nach den Verteidigungskämpfen an.
135 Otto Dietrich (1897–1952), Reichspressechef, Journalist, 1929 Beitritt zur NSDAP, 1931–1945 Reichspressechef der NSDAP, 1937–1945 Staatssekretär im Propagandaministerium. Seit 1945 in alliierter Internierung, 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess zu 7 Jahren Haft verurteilt, 1950 entlassen. 136 Hans Jüttner (1894–1965), SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Freikorps, Kaufmann, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, 1935 Wechsel zur SS-Verfügungstruppe (SS-VT), 1939 Inspekteur der Ersatztruppen der SS-VT-Division, 1940–1943 Chef des Kommandoamtes der SS-VT und Stabschef des SS-Führungshauptamtes, 1943–1944 Chef des SS-Führungshauptamtes, 1944–1945 Chef des Ersatzheeres. Seit 1945 in alliierter Internierungshaft, 1948 von einer Spruchkammer zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt, 1953 entlassen.
4.12 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel
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Jeder Armeeoberbefehlshaber kommentierte auf einer Landkarte kurz die Situation, während er die Positionen der Armee während der Winterkämpfe zeigte. Hitler äußerte sich auf diesem Treffen nicht, offensichtlich, weil er noch unter dem Eindruck der Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad stand. Andere Fragen wurden nicht erörtert. Frage: Erläutern Sie, unter welchen Umständen Sie als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee entlassen wurden? Antwort: Am 14. April 1943 wurde ich in Orjol verhaftet, weil ich mich negativ geäußert hatte. Ich wurde unter Bewachung nach Berlin gebracht und ins Gefängnis gesteckt. Kurz darauf, Dank des Einsatzes von Hitlers Adjutant Generalleutnant Schmundt, wurde ich freigelassen und am 30. September 1943 in den Ruhestand versetzt. Die Niederschrift meiner Worte, die mir in deutscher Sprache vorgelesen wurden, ist richtig. Schmidt, Rudolf Übersetzung: Entgegennahme der Aussage: Stellvertretender Leiter der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Oberstleutnant Waindorf Übersetzer der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Oberleutnant Smirinzkij Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21139, Bd. 2, Bl. 1–16. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.12 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 19. September 1951 Verhör des Angeklagten Stahel, Rainer vom 19. September 1951. Stahel, Rainer, 1892 in Bielefeld geboren (Deutschland), Deutscher, Deutscher Staatsbürger, parteilos, General-Leutnant der deutschen Armee, parteilos. Übersetzerin Oberleutnant Schilowa137 ist über die Verantwortung für eine vorsätzliche falsche Übersetzung mit (§ 95 UPK RSFSR) im Vorhinein informiert worden. Verhörbeginn: 12.40 Uhr Verhörende: 20.00 Uhr
137 Šilova (?–?), sowjetische Geheimdienstoffizierin, 1947 Übersetzerin bei der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, 1951 leitende Übersetzerin der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Frage: Im Verhör vom 12. Dezember 1950 nannten Sie unter den Ihnen bekannten Generalen auch Gerstenberg138. Präzisieren Sie, wo Sie ihn kennengelernt haben. Antwort: Ich sah Generalleutnant Gerstenberg erstmals 1943 im Quartier des Oberbefehlshabers der 4. Luftflotte, Feldmarschall Richthofen, wo ich ihn oberflächlich kennenlernte. Damals erfuhr ich, dass Gerstenberg Luftwaffenattaché und Kommandeur der deutschen Luftwaffe in Rumänien war. Ich lernte Gerstenberg erst in Rumänien näher kennen, als ich im August 1944 dort ankam. Frage: Was teilten Sie Gerstenberg über Ihre Ankunft in Rumänien mit? Antwort: Ich berichtete Gerstenberg, dass ich in Rumänien den Auftrag habe, die Militärmission aus der Gefangenschaft und die deutschen Truppen aus der Einkesselung zu befreien. Frage: Der von uns verhörte Gerstenberg gab am 10. Dezember 1947 folgendes zu Protokoll: „Am 27. August 1944 kam General Stahel im sogenannten „Waldlager“ in der Nähe von Bukarest an, wo sich der von mir geleitete Stab der deutschen Truppen aufhielt, die von rumänischen Einheiten eingeschlossen waren. Stahel erzählte mir, dass er gerade aus dem Hauptquartier Hitlers mit verschiedenen Aufträgen käme. Er habe den Auftrag persönlich vom Chef des Generalstabes des Heeres Guderian erhalten, der ihn schnellstmöglich aus Warschau abberief, wo Stahel Kriegskommandant gewesen war.“ Bestätigen Sie das? Antwort: Es ist wahr, dass ich Gerstenberg berichtete, dass ich aus Hitlers Stab mit Aufträgen käme, die mir der Chef des Generalstabs des deutschen Heeres Guderian persönlich erteilt hatte. Ich erzählte Gerstenberg ebenfalls, dass man mich für die Reise nach Rumänien aus Warschau abberufen hatte, wo ich Kampfkommandant gewesen war. Frage: Haben Sie Gerstenberg etwas über Ihre Arbeit als Kriegskommandant von Warschau erzählt? Antwort: Ich kann mich jetzt daran nicht erinnern. Frage: Berichteten Sie Gerstenberg über Ihre Teilnahme an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes?
138 Alfred Gerstenberg (1893–1959), Generalleutnant, seit 1912 Berufssoldat, Kavallerist, dann Flieger im 1. Weltkrieg, 1926 Abschied aus dem aktiven Dienst und bis 1932 im Büro der Reichswehr in Moskau tätig, 1934–1936 Generalstabschef der Luftwaffen-Reserve, 1938–1944 Luftwaffenattaché an den Botschaften in Warschau (bis 1939) und Bukarest, 1942–1944 Kommandierender General und Befehlshaber der deutschen Luftwaffe in Rumänien. 1944–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, 1959 an Tuberkulose verstorben.
4.12 Protokoll des Verhörs des Generalleutnants der Luftwaffe Rainer Stahel
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Antwort: Ich schließe es nicht aus, dass ich Gerstenberg etwas über meine Teilnahme an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes berichtete. Frage: Beim Verhör Gerstenbergs sagte dieser bezüglich Ihrer Teilnahme an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes folgendes aus: „Auf meine Frage hin antwortete Stahel ausweichend, dass es sich um ‚harte und anstrengende Arbeit‘ gehandelt habe, die er ‚nicht in der Lage war zu beenden‘.“ Meinten Sie damit die Grausamkeit, mit der Sie die Bewohner Warschaus niedergemacht haben, die sich gegen die Deutschen auflehnten? Antwort: Ich bestreite nicht, dass im Laufe der Straßenkämpfe mit den Aufständischen eine große Zahl an Zivilpersonen starb. Deswegen habe ich offenbar zu Gerstenberg auch von „harter und anstrengender Arbeit“ gesprochen, obwohl ich während der Niederschlagung des Aufstandes nicht das Ziel verfolgte, Warschau zu zerstören und seine Bevölkerung zu vernichten. Frage: Gerstenberg äußerte weiter über den Warschauer Aufstand: „Im Stab gab es viele Gespräche über die harten Kämpfe in Warschau. Keitel und Ribbentrop äußerten, dass nach der Niederschlagung des Aufstandes Warschau vom Antlitz der Erde getilgt werden müsse.“ Sie wussten nichts von der Meinung der faschistischen Führung? Antwort: Ich persönlich wusste von dem Befehl Hitlers bezüglich der beabsichtigten Vernichtung Warschaus und seiner Bevölkerung. Allerdings erfuhr ich davon erst kurz vor meiner Abfahrt aus Warschau nach Rumänien. Deswegen war ich auch an der praktischen Ausführung dieses Befehls Hitlers nicht beteiligt. Frage: Das ist nicht die Wahrheit. Sie begannen bereits in den ersten Tagen des Aufstandes, die polnische Hauptstadt Warschau gezielt zu zerstören und ihre Bewohner brutal zu töten. Äußern Sie sich dazu! Antwort: Ich bestreite nicht, dass ich den Befehl erteilte, auf polnische Bürger zu schießen, die sich gegen die Deutschen auflehnten. Ich hatte das Ziel, den Aufstand niederzuschlagen und nicht die Stadt und ihre Bevölkerung zu vernichten. Ich bestreite auch nicht, dass im Laufe der Niederschlagung des Aufstandes die Deutschen äußerst brutal gegen die Stadtbewohner vorgingen. Als Befehlshaber habe ich aber keine Sonderbefehle zum Einsatz von Terrormethoden erteilt. Frage: Sie versuchen, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Es wird Ihnen in deutscher Übersetzung die Aussage des Zeugen Walus, Augustyn Tadeusz139 über das
139 Augustyn Tadeusz Waluś (1895–1967), polnischer Offizier, Oberstleutnant der polnischen Armee, seit August 1944 Leiter der IV. Abteilung (Quartiermeister) des Oberkommandos der AK (Deckname „Kornel“). Anfang 1945 in NKVD-Haft in Warschau, im Mai 1945 von AK-Kämpfern befreit.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
brutale Vorgehen der Deutschen in den ersten Aufstandstagen vorgelesen140. Warum sagen Sie nichts hierzu? Antwort: Ich habe die Aussage des polnischen Staatsbürgers Walus in deutscher Sprache angehört. Alle Ereignisse, die er beschreibt, geschahen tatsächlich im Alltag meines Dienstes als Kriegskommandant Warschaus und während der Zeit, in der ich Befehlshaber der deutschen Truppen war, die den Warschauer Aufstand niederschlugen. Aber von den Brutalitäten, über die der Zeuge berichtet, wusste ich persönlich nichts. Frage: Ihnen wird ebenfalls die Aussage der polnischen Staatsbürgerin Monczka, Bronislawa vorgelesen141. Sagen Sie über Ihre Teilnahme an dem brutalen Vorgehen aus! Antwort: Die Angaben der Zeugin Monczka verstehe ich, und ich kann ihre Richtigkeit auch nicht bestreiten. Wie ich bereits vorher ausgesagt habe, leitete ich tatsächlich in den ersten Tagen die Niederschlagung des Aufstandes. Ich bestreite nicht mögliche Brutalitäten von Seiten der Deutschen an den Polen, aber ich persönlich habe daran keinen Anteil. Frage: Sie versuchen sich künstlich von den von Ihnen geführten Streitkräften zu distanzieren, die das brutale Vorgehen an den Tag legte. Aus den Zeugenaussagen der polnischen Staatsbürger Stanislawa Grabowska142, und Leokadia Cholodowska143, die Ihnen auf Deutsch vorgelesen wurden, wird ersichtlich, dass das brutale Vorgehen der Deutschen unter Ihrer Führung organisierten Charakter trug. Verschweigen Sie nichts, sagen Sie aus! Antwort: Die Aussagen von Grabowska und Cholodowska leuchten mir auch ein. Ihre Glaubwürdigkeit stelle ich nicht in Frage, aber ich persönlich organisierte das genannte brutale Vorgehen gegen die Bevölkerung Warschaus nicht. Ich schließe aber nicht aus, dass die Polizei diesbezüglich Anweisungen besaß. Aber ich persönlich habe der Polizei keinen Befehl zur Ausrottung der polnischen Bürger erteilt, auch wenn sie mir einige Zeit unterstand.
140 In seiner Zeugenaussage beschrieb Waluś am 21. 3. 1945 u. a. die deutschen Kriegsverbrechen in Warschau und die Luftwaffenangriffe auf die Stadt, abgedruckt in: Powstanie Warszawskie 1944 w dokumentach z archiwów służb specjalnych, Warszawa/Moskwa 2007, S. 562–569. 141 In ihrer Zeugenaussage vom 14. 3. 1945 beschreibt Bronisława Monczka (1885–?) die Hinrichtung von 17 Männern, darunter ihres Sohnes, am 1. 8. 1944 durch Polizeiangehörige. Abgedruckt in: ebd., S. 558–560. 142 In ihrer Zeugenaussage vom 14. 2. 1945 schildert die Zeugin Stanisława Grabowska (1895–?) die Hinrichtung von polnischen Männern am 2. 8. 1944 sowie Brandschatzungen und Übergriffe von Truppen, die zur Bekämpfung des Aufstandes eingesetzt waren, abgedruckt in: ebd., S. 548–551. 143 In ihrer Zeugenaussage vom 8. 3. 1945 äußert sich die Zeugin Leokadia Chołodowska (1915–?) zur Erschießung einer 70jährigen Frau durch SS-Angehörige am 9. 8. 1944 sowie zur Hinrichtung von 500 Männern, darunter ihres Vaters und ihres Ehemannes, in der Oper, abgedruckt in: ebd., S. 548–551.
4.13 Abschließende Anklage gegen Generalleutnant Rainer Stahel
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Frage: Ihnen wird ein Zeitungsartikel aus der Zeitung „Rzeczpospolita Polska“ vom 18. August 1944 mit der Nr. 29/101144 gezeigt, aus dem auch die geplante Zerstörung der polnischen Hauptstadt hervorgeht. Sagen Sie die Wahrheit! Antwort: Der Artikel aus der polnischen Zeitung wurde ins Deutsche übersetzt, und ich kenne seinen Inhalt. Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass, obwohl ich anfangs die Niederschlagung des Aufstandes leitete, ich keine Kenntnisse über das brutale Vorgehen der deutschen Truppen besaß. Mein Stab war blockiert, und ich war auf die Führung der Kampfhandlungen beschränkt. Was die Handlungen der SS-Brigade unter dem Kommando Kaminskis betrifft, so habe ich sie in keiner Weise befehligt. Die Brigade handelte selbstständig. Für die Handlungen der mir vorher unterstellten Truppen weise ich die Verantwortung nicht von mir, obwohl ich keine Befehle zur Vernichtung der Bevölkerung und Zerstörung der Stadt erteilt habe. Das Verhörprotokoll entspricht der Wahrheit und ist mir in das Deutsche übersetzt worden. Stahel Verhörführer: Abteilungsleiter der Untersuchungsabteilung der zweiten Hauptabteilung des MGB der UdSSR Major Lapschin145 Übersetzerin: Leitende Übersetzerin der zweiten Hauptabteilung des MGB der UdSSR, Schilowa Oberstleutnant Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21101, Bl. 158–170. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.13 Abschließende Anklage der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der UdSSRgegen den Generalleutnant der Luftwaffe Rainer Stahel, Moskau, 4. Dezember 1951 Untersuchungsfall Nr. 5083 Schlussanklage Stahel, Rainer wird, unter Berücksichtigung des Erlass Nr. 1 des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943, sowie nach Artikel 2, Absatz a), b) und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland, für folgende Verbrechen angeklagt: Für die Teilnahme an der Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges Deutschlands gegen die UdSSR wurde die Strafverfolgung gegen den Kriegsgefangenen Generalleutnant der ehemaligen deutschen Armee Stahel, Rainer eröffnet.
144 Abgedruckt in: ebd., S. 1070–1073. 145 Lapšin (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1951 Referatsleiter bei der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Während der Untersuchung des Falls wurde festgestellt, dass Stahel als Offizier der deutschen Armee 1918 an der Niederschlagung der finnischen Revolution teilnahm. Er organisierte dort freiwillige Brigaden aus konterrevolutionären Elementen und nahm aktiv an der Vernichtung der finnischen roten Garden teil. In der Folgezeit organisierte er das Schutzkorps, das den Kern der reaktionären weißfinnischen Armee bildete und nahm bis 1925 an dessen Ausbildung teil. Für die konterrevolutionäre Tätigkeit wurde Stahel von der reaktionären finnischen Regierung mit dem Orden „Weiße Rose“ ausgezeichnet (Blatt 15, 36, 37, 96–109, 141, 178, 235, 244). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war Stahel von 1925 bis 1933 einer der Führer des Kriegerbundes „Stahlhelm“. Er führte den ideologischen Kampf gegen die deutsche kommunistische Partei zur Gründung einer faschistischen Diktatur (Blatt 38, 142, 144–147, 178, 227). Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 trat Stahel freiwillig in den Dienst der deutschen Armee ein und übte dort verschiedene leitende Funktionen aus. Er war an der Schaffung und Aufrüstung der Hitlerarmee beteiligt, um diese für einen Aggressionskrieg gegen die freiheitsliebenden Völker vorzubereiten. (Blatt 15, 38, 39, 106–108, 142, 178, 227). Im Juni 1941 nahm Stahel als Kommandeur eines Flakregiments der faschistischen Armee unmittelbar am Überfall und dem folgenden verbrecherischen Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion teil. Er verletzte internationales Recht und Verträge. Die Truppen, die Stahel führte, nahmen an der Besetzung von Bialystok, Minsk, Roslawl, Brjansk, Bobruisk und Kursk sowie einer Reihe weiterer Städte der UdSSR teil und gingen dort brutal gegen sowjetische Bürger vor. (Blatt 15, 16, 17, 39, 40, 142, 179, 192–195, 197–201, 203–207, 228). Als eifrigem, faschistischem General vertraute ihm Hitler seit 1943. Für ihn erfüllte Stahel eine Reihe von Aufträgen, nicht nur an der sowjetisch-deutschen Front, sondern auch in anderen von den Deutschen besetzten Ländern. Auf Hitlers Anweisung wurde Stahel in solche Gebiete der sowjetisch-deutschen Front geschickt, wo sich die faschistischen Truppen in einer schwierigen Lage befanden, weil sie in „Kessel“ geraten waren. Stahel wurde von Hitler als „Kesselsprenger“ geschätzt. Stahel kommandierte die deutschen Truppen im Gebiet von Saporoschje und führte faschistische Gruppen, die bei Obliwskaja, Vilnius sowie an anderen Orten in eine Umfassung geraten waren, aus der Einschließung heraus. (Blatt 40, 63 –71, 79, 142, 179, 197–201, 215–220, 228). Im Juni 1943 war Stahel auf persönlichen Befehl Hitlers für die Verstärkung der Sicherung des Hinterlandes der deutschen Armee zuständig. Nachfolgend unterhielt er als Kommandant von Rom kriminelle Verbindungen mit dem Vatikan, um das faschistische Regime zu stärken. Er schloss mit dem Vatikan einen geheimen Vertrag über die gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen die demokratische Bewegung in Italien ab.
4.13 Abschließende Anklage gegen Generalleutnant Rainer Stahel
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Auf Befehl Stahels wurden in Rom mehr als 2000 italienische Patrioten festgenommen, deren weiteres Schicksal nicht ermittelt werden konnte. (Blatt 41, 42, 43, 44, 54–61, 74, 142, 227, 228, 229). Im Sommer 1944 wurde Stahel auf Befehl Hitlers zum Kommandanten Warschaus ernannt. Während des Aufstandes der Polen leitete er die Strafaktionen an der aufständischen Bevölkerung der polnischen Hauptstadt. Dabei führten die deutschen Truppen unter seiner Führung an der friedlichen Bevölkerung unerhörte Akte der Brutalität aus. (Blatt 17, 21–26, 48–52, 142 Rückseite, 155–157, 164, 165, 166, 167, 170, 180, 229, 231, 253, 255 256, 262). Stahel wurde später auf Anordnung Hitlers nach Rumänien geschickt, um Rumänien auf der Seite der Deutschen im Krieg gegen die UdSSR zu halten (Blatt 18–20, 53, 120 –124, 129–132, 180, 229). Für die aktive Teilnahme an dem verbrecherischen Krieg gegen die Sowjetunion und die Treue zur faschistischen Führung ehrte Hitler Stahel mit hohen Auszeichnungen, und er wurde in den Dienstrang eines Generalleutnants erhoben. (Blatt 64, 79, 143, 181, 215, 220, 228, 229). Zu den erhobenen Anschuldigungen hat Stahel, Rainer sich für schuldig bekannt. (Blatt 141–143, 227–229). Außerdem wird [Stahel] durch die Aussagen des ehemaligen Feldmarschalls der deutschen Armee Schörner, Ferdinand (Blatt 235–236), des ehemaligen Kommandeurs der deutschen Luftstreitkräfte in Rumänien General Gerstenberg, Alfred (Blatt 237–242), des ehemaligen Konsul in der Stadt Ploieşti, Adelmann, Rüdiger146 (Blatt 243–247), des ehemaligen Gehilfen des deutschen Militärattachés in Rumänien – Oberstleutnant Braun, Max147 (Blatt 248–250) und durch andere dokumentierte Beweise, die für den Fall herangezogen wurden, belastet. Auf der Grundlage des Dargelegten wird im Folgenden angeklagt: Stahel, Rainer, 1892 in Bielefeld geboren, Deutscher, deutsche Staatsbürgerschaft, aus einer Kaufmannsfamilie, Generalleutnant der ehemaligen deutschen Armee weil er: Von 1925 bis 1933 einer der Führer des „Stahlhelm“ war. Ideologisch kämpfte er gegen die kommunistische Partei Deutschlands, trat für die Gründung einer Regierung der faschistischen Diktatur ein.
146 Rüdiger Graf Adelmann von Adelmannsfelden (1893–1969), deutscher Diplomat, Jurist, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Gutsverwalter, 1923 Eintritt in den Auswärtigen Dienst, 1932–1935 in der Abteilung IV, Referat 2 (Polen, Danzig) des Auswärtigen Amtes, 1935–1937 Legationsrat in Bukarest, 1937– 1939 Gesandschaftsrat in Helsingfors, 1939 Generalkonsul in Kattowitz, 1939–1940 Gesandtschaftsrat in Kowno, 1940–1944 Konsul in Ploieşti. 1944–1955 in sowjetischer Gefangenschaft. 147 Max Braun (1893–?), Oberstleutnant, 1930–1934 Taktiklehrer in Dresden, 1934 Abschied, Übersiedlung in die Türkei, dort Lehrer an der Generalstabsakademie, 1940–1944 als Oberstleutnant Gehilfe des deutschen Militärattachés in Rumänien. 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, 1951 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Nachdem Hitler 1933 an die Macht gelangt war, trat er freiwillig in den Dienst der deutschen Armee und nahm dort verschiedene leitende Funktionen ein. Er beteiligte sich an der Aufrüstung Deutschlands, um einen Aggressionskrieg vorzubereiten. 1941 nahm Stahl als Kommandeur eines Flakregiments am Überfall und der Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die Sowjetunion teil, wobei er internationale Gesetze und Verträge verletzte. Als Vertrauter Hitlers erfüllte er an der sowjetisch-deutschen Front eine Reihe von Spezialaufträgen. Insbesondere leitete er die Militäroperationen der deutschen Truppen auf dem Territorium Litauens und im Gebiet von Rostow. Die Truppen, die Stahel unterstanden, waren für zahlreiche Verbrechen verantwortlich. Im Herbst 1943 wurde Stahel von Hitler zum Kommandanten Roms ernannt, wo er mit dem Vatikan eine kriminelle Abmachung traf. Zur Stärkung des faschistischen Regimes führte er Strafaktionen gegen die demokratische Bewegung Italiens durch. Auf Befehl Stahels wurden in Rom mehr als 2000 italienische Patrioten festgenommen, deren Schicksal nicht festgestellt werden konnte. Im August 1944 wurde Stahel, durch persönliche Weisung Hitlers, Kommandant von Warschau. Dort leitete er die Strafaktionen gegen die aufständische Bevölkerung der polnischen Hauptstadt. Im Laufe dieser Maßnahmen gingen die deutschen Truppen unter seinem Kommando brutal gegen die friedliche Bevölkerung vor. Danach wurde Stahel nach Rumänien geschickt, um das Land an der Seite Deutschlands im Kampf gegen die UdSSR zu halten. Für die aktive Teilnahem an dem verbrecherischen Krieg gegen die Sowjetunion und für die Treue zu Hitler wurde er mit hohen Orden ausgezeichnet, d. h. für Verbrechen nach Absatz 1 des Erlasses Nr. 1 des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943, sowie nach Artikel 2, Absatz a), b) und c) des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in Deutschland. In Übereinstimmung mit den Paragraphen 208 und 225 der Strafgesetzordnung der RSFSR unterliegt der vorliegende Fall der Untersuchung durch das Militärtribunal. Die Schlussanklage wurde am 4. Dezember 1951 in Moskau erstellt. Militärstaatsanwalt der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee Oberstleutnant der Justiz Gawriljak148 Quelle: CA FSB, Akte Nr, N-21101, Bl. 277–282. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
148 Michail I. Gavriljak (?–?), Militärjurist, 1951 als Oberstleutnant der Justiz Militärstaatsanwalt bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee.
4.14 Eigenhändig verfasste Ausführungen des Generals der Artillerie Helmuth Weidling
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4.14 Eigenhändig verfasste Ausführungen des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 10. Januar 1946 I. Befehl über Erschießung der politischen Kommissare II. Partisanen III. Zerstören bei Rückzügen 10. Januar 1946 Zu I. Soweit mir bekannt[,] wurde der Befehl, das[s] politische Kommissare der Roten Armee nach ihrer Gefangennahme sofort von der Truppe zu erschießen seien, von Hitler in den allerersten Tagen des russischen Feldzuges gegeben. Persönlich bin ich als Artillerie-Kommandeur [des] XXXX. Panzerkorps erst Ende Juli 1941 in Russland eingesetzt [worden] (Weliki-Luki). Da ich nicht Truppenkommandeur war, kann ich nicht sagen, wie dieser Befehl im Einzelnen in den ersten Monaten des Einsatzes des XXXX. Pz. Korps ausgeführt wurde. Ich weiß nur, dass sich ein Widerstreben in [der] Truppe gegen diesen Befehl mehr und mehr geltend machte. Fraglos sind aber eine Anzahl Erschießungen vorgekommen! Die Zahl dieser Erschießungen war abhängig von der inneren Einstellung der Kommandeure. Als ich am 2. Januar 1942 Kommandeur der 86. Infanteriedivision geworden war, trat sehr bald an mich die Frage heran, ob dieser Befehl Hitlers ausgeführt werden sollte. Mein Vorgänger, der Generalleutnant Witthöft, hatte nach Eingang des Befehls Hitlers sehr bald befohlen, dass die politischen Kommissare wie die übrigen Gefangenen in die Gefangenen-Sammellager abzugeben seien. Diesen Befehl Witthöfts ließ ich bestehen. Da außerdem aber eine Klärung dieser Frage, die gegen jedes Kriegsrecht verstieß und die nur tierische Instinkte großziehen konnte, dringend geboten schien, habe ich als Divisionskommandeur bei meiner vorgesetzten Dienststelle (XXVII. Armeekorps) um Aufhebung dieses Befehls Hitlers gebeten. Ich weiß, dass zahlreiche Divisions- Kommandeure denselben Weg beschritten haben! Im Spätsommer 1942, beziehungsweise Herbst 1942 wurde dieser Befehl Hitlers aufgehoben. Zu II. Durch einen grundlegenden Befehl Hitlers wurde die Anwendung des Wortes „Partisan“ im Jahre 1942 ausdrücklich verboten. Für das Wort „Partisanen“ musste das Wort „Banden“ Anwendung finden. In diesem Befehl war weiter gesagt, dass diese Banden außerhalb jeden Kriegsrechts stünden, und dass alle Bandenmitglieder bei Gefangennahme sofort zu erschießen wären. Meine Division, [die] 86. Infanteriedivision, nahm damals diesen Befehl zur Kenntnis. Da die Division ununterbrochen während meiner Führung in der Front eingesetzt war, sind uns Partisanenkämpfe erspart geblieben.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Im Sommer oder Herbst 1943 wurde auch dieser Befehl von Hitler aufgehoben. Begründung: Arbeitskräfte würden in Deutschland dringend benötigt! Die gefangenen Bandenmitglieder seien wie andere Gefangene in die Sammellager abzuschieben. Zu III. Der Truppe wurde bei Rückzügen immer wieder eingeimpft, dass alles, was dem nachfolgenden Gegner von Nutzen sein könnte, zu zerstören sei. Zum ersten Male bei dem Rückzug im Winter [19]41/42. Ich habe nur einen vorbereiteten Rückzug miterlebt. Im Februar/März 1943 wurde der Raum Rschew aufgegeben. Diese Bewegung (Deckname „Büffelbewegung“) wurde bis in alle Einzelheiten vorbereitet. Der Gegner sollte in eine „Wüste“ nachstoßen. Die Divisionen erhielten Streifen zugeteilt. Die Divisionen waren verantwortlich dafür, dass in diesen Streifen alles zerstört wurde. Die Bevölkerung wurde vorher nach Westen evakuiert, durch Organe der Armee. Zerstörungen wurden durch Divisions-Pioniere durchgeführt. Alle übrigen Rückzüge sind uns vom Gegner diktiert worden. Sie mussten meistens so schnell durchgeführt werden, dass für Zerstörungen im größeren Umfange oft die Zeit und die dazu notwendige Sprengmunition fehlten. Die Befehle für die Büffelbewegung wurden bis in alle Einzelheiten von der 9. Armee (Befehlshaber: Generaloberst Model) gegeben. 1) In der bisherigen Stellung mussten alle von der Truppe gebauten Stellungsbauten zerstört werden. Um den Gegner nicht aufmerksam zu machen, war befohlen worden, dass die Stellungsbauten, die in der Sicht des Feindes lagen, zu verseuchen waren. Sprengladungen mit Zeit-, Druck- und Zugzünder waren einzubauen. 2) Alle Brücken waren zu zerstören. 3) Um dem Gegner das Nachfolgen zu erschweren, waren Minen in größeren Mengen zu verlegen und Sperren anzulegen. 4) Die Ortschaften waren niederzubrennen, Steinhäuser, Fabrikanlagen zu sprengen. Von der Division aus wurden diese Aufgaben auf die Truppen verteilt. Der Rückzugsstreifen der Div. wurde in drei Streifen eingeteilt, jedes Infanterieregiment der Division erhielt einen solchen Streifen. Die Infanterieregimenter wurden wiederum durch eine Kompanie des Pionierbataillons verstärkt. Die Regimentskommandeure waren dann für die Durchführung der Zerstörung in den ihnen zugeteilten Streifen verantwortlich. Ausgeführt wurden diese Zerstörungen durch Spreng- und Brandkommandos. Die Führer dieser Kommandos mussten rechtzeitig Erkundungen durchführen, um alle in den Streifen gelegenen Objekte zu erfassen. Der Streifen, den die Division zugewiesen erhalten hatte, betrug in der Breite etwa 20 km, in der Tiefe etwa 160–200 km. Vor der Büffelbewegung lag die Division in Stellung im Lutschessatal südlich Olenin, nach der Büffelbewegung wurde die
4.15 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen
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Division etwa 30 km nördlich der Autobahn (Smolensk–Moskau) (hier verlief die neue Stellung!) aus dem Verbande der 9. Armee herausgelöst und in den Raum Orel verlegt. Der Raum, der durch die Zerstörungen der Büffelbewegung erfasst wurde, hat etwa in der Breite 300 km und in der Tiefe 200 km betragen. Weidling, Helmuth Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21146, Bd. 1, Bl. 131–134. Handschriftliches Original. Deutsch.
4.15 Protokoll des Verhörs des Generals der Kavallerie Erik Hansen, Moskau, 12. April 1948 [Auszug] […]149 Frage: Stellen Sie Ihre Beteiligung am Ostfeldzug der deutschen Armee detaillierter dar! Antwort: Wie ich bereits zu Protokoll gegeben habe, nahm ich am Krieg gegen die sowjetische Armee vom ersten Tag des Überfalls auf die UdSSR teil; vom 22. Juni 1941, als Befehlshaber des LIV. Armeekorps im Verband der 11. Armee von Ritter von Schobert150. Mein Korps nahm an der Besetzung Bessarabiens, der Ukraine und der Krim teil. Es folgte der Route Kischinau, Tiraspol, Odessa, Nikolajew, Cherson, Perekop, Sewastopol. Nach der Eroberung Sewastopols wurde mein Korps im September 1942 von der Krim abgezogen und an den nördlichen Abschnitt der deutsch-sowjetischen Front verlegt. Dort agierten wir bis Januar 1943 im Gebiet von Gatschina als Teil der 11. Armee von Generalfeldmarschall von Manstein. Später nahmen wir dann mit der 18. Armee von Generaloberst Lindemann an der Blockade Leningrads teil. Frage: Zählen Sie die Divisionen und ihre Kommandeure auf, die zum LIV. Korps gehörten. Antwort: Während mein Korps im Süden eingesetzt war, gehörten ihm abwechselnd folgende Einheiten an: [Es folgt die Aufzählung von zehn deutschen und rumänischen Divisionen mit ihren Kommandeuren – die Herausgeber]
149 Zuvor war Hansen von den Vernehmern zu den Umständen seiner Ernennung zum Befehlshaber der deutschen Heeresmission in Rumänien und zur Beteiligung Rumäniens am Angriff auf die UdSSR befragt worden. 150 Eugen Ritter von Schobert (1883–1941), Generaloberst, seit 1902 Berufssoldat, im 1. Weltkrieg mit dem persönlichen Adelsstand ausgezeichnet, Freikorps, Reichswehr, frühe Sympathien für Hitler, 1938–1940 Kommandierender General des VII. Armeekorps, 1940–1941 Oberbefehlshaber der 11. Armee, dehnte als solcher eigenmächtig den Kommissarbefehl auf Zivilisten aus, im September 1941 bei Erkundungsflug nach Notlandung in sowjetischem Minenfeld umgekommen.
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Während der Belagerung von Leningrad gehörten dem Korps folgende Einheiten an: [Es folgt die Aufzählung von vier deutschen Divisionen und der spanischen Blauen Division mit ihren Kommandeuren – die Herausgeber.] Frage: Welche Strafaktionen führten Ihre Truppen auf sowjetischem Territorium während der Besetzung durch? Antwort: Darüber weiß ich nichts. Frage: Kannten Sie die Befehle des deutschen Oberkommandos bezüglich des Verhaltens deutscher Truppen auf sowjetischem Territorium? Antwort: Im August 1941 unterrichtete mich der Oberbefehlshaber der 11. Armee, Ritter von Schobert, dass ein Befehl Hitlers und Keitels existiere, wonach alle gefangenen Kommunisten, Politoffiziere und Kommissare der Roten Armee erschossen werden sollten. Im Frühjahr 1942 erteilte der Nachfolger von Ritter von Schobert als Oberbefehlshaber der 11. Armee auf der Krim, Generalfeldmarschall von Manstein, den Befehl, gefangene sowjetische Partisanen ohne Ausnahme hinzurichten. Andere ähnliche Befehle des deutschen Kommandos sind mir nicht bekannt. Frage: Wie setzten Sie diese Befehle in die Praxis um? Antwort: Ich musste diese Befehle nicht umsetzen, denn die gefangenen Politoffiziere und Kommissare wurden vom Korps dem Armeestab überstellt. Wie man dann mit ihnen umging, weiß ich nicht. Frage: Haben Sie die Gefangenen verhört, bevor sie zum Armeestab kamen? Antwort: Ich persönlich habe keine sowjetischen Kriegsgefangenen verhört. Aber die Ic-Offiziere des Korps führten Verhöre durch. Frage: Wurden die Gefangenen bei den Verhören gefoltert? Antwort: Das weiß ich nicht. Frage: Nahmen Teile Ihres Korps an Kämpfen gegen sowjetische Partisanen teil? Antwort: Ja. Einige Einheiten meines Korps waren an Kämpfen gegen die Partisanen auf der Krim beteiligt. Diese Einheiten bewachten die Straßen Simferopol–Sewastopol und Simferopol–Aluschta. Bei Leningrad wurden Einheiten des Korps für solche Operationen aber nicht herangezogen. Frage: Welche Strafaktionen gegen Partisanen auf der Krim führten Ihre Truppen aus und wie gingen sie mit gefangenen Partisanen um? Antwort: Operationen gegen die Partisanen auf der Krim wurden direkt unter der Leitung von Manstein durchgeführt. Auf seine Anforderungen hin unterstellte ich ihm entsprechende Einheiten zu seiner Verfügung. Aus diesem Grund verfüge ich
4.16 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling
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auch nicht über konkrete Angaben, wie diese Aktionen durchgeführt wurden und was mit den gefangenen Partisanen passierte. Das Protokoll entspricht der Wahrheit und wurde mir in deutscher Übersetzung vorgelesen. Hansen Es verhörte: Der Gehilfe des Leiters des Referats 2 der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Major Maslennikow151 Übersetzerin: Bevollmächtige Untersuchungsführerin des Referats 2 der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, Leutnant Kuschtsch Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21140, Bl. 80–93. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.16 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 26. Oktober 1951 Weidling, Helmuth, geb. 1891 in Halberstadt, deutscher Staatsbürger, ehem. General der Artillerie und Kommandeur der Verteidigung von Berlin Verhörbeginn: 12.30 Uhr Verhörende: 19.20 Uhr Der Übersetzer Makeew152 ist über die Folgen einer Falschübersetzung nach Artikel 95 des Strafgesetzbuches der UdSSR informiert. Makeew Frage: Es ist bekannt, dass während des vergangenen Krieges die von Ihnen befehligten Truppen auf barbarische Weise sowjetische Städte und Dörfer zerstörten und die friedlichen Bewohner entweder töteten oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte. Erklären Sie sich hierzu! Antwort: Während des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion haben die mir unterstellten Einheiten mehrfach beim Rückzug sowjetische Städte oder Dörfer zerstört oder die friedliche Bevölkerung nach Westen getrieben. Dies geschah auf meinen Befehl hin, während ich ähnliche Befehle von oben erhielt. Im Februar/März
151 Maslennikov (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1948 als Major Gehilfe des Chefs des Referats 2 der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, 1951 Gehilfe des Chefs der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR. 152 Makeev (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1951 im Rang eines Leutnants Übersetzer bei der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
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1943 nahm meine 86. Division an der Umsetzung der sogenannten „Aktion Büffelbewegung“ teil. Dieser Plan war vorher erarbeitet worden und sah die Verheerung eines großen Territoriums durch die Taktik der „verbrannten Erde“ vor. Diesen Plan sollten die deutschen Truppen beim Abzug aus dem Gebiet von Rschew umsetzen. Frage: Wer hatte diesen Plan ausgearbeitet? Antwort: Der Plan „Büffelbewegung“ wurde unter der Leitung sowie der unmittelbaren Beteiligung des ehemaligen Oberbefehlshabers der 9. deutschen Armee, Generaloberst Model, erarbeitet. Man erzählt sich, dass er dabei von einem Ausspruch Hitlers geleitet wurde: „Die Deutschen geben nicht das freiwillig zurück, was sie erkämpft haben!“ Frage: Wie wurde dieser verbrecherische Plan umgesetzt? Antwort: Diesem Plan entsprechend sollten die 15 Divisionen der 9. Armee beim Rückzug aus dem sogenannten „Kessel von Rschew“ auf einem Territorium mit einer Ausdehnung von 300 Kilometer entlang der Front und 200 Kilometer zurück ins Landesinnere alle Siedlungspunkte zerstören. Der Befehl, den ich aus dem Stab der 9. Armee erhielt, sah vor, dass im Gebiet meiner Division alle Siedlungen niedergebrannt werden sollten, alle Steinbauten sowie Brücken waren zu zerstören und die Bevölkerung in Richtung Westen zu vertrieben. Meiner Division wurde ein Gebiet zur Zerstörung mit einer Breite von 20 Kilometern und einer Tiefe von 200 Kilometern zugeteilt. Ich teilte die entsprechenden Vernichtungszonen zwischen meinen Regimentern auf und erteilte die entsprechenden Befehle zur Umsetzung des Plans „Büffelbewegung“. Jedem Regiment wurde eine Pionierkompanie zugeteilt, die größere Gebäude sprengen, Straßen verminen sowie verschiedene Hindernisse errichten sollte, um die sowjetischen Truppen am Vordringen zu hindern. Alle vorgesehenen Aufgaben des Plans wurden umgesetzt, so dass ein riesiges Gebiet bei Rschew tatsächlich in „verbrannte Erde“ verwandelt wurde. Frage: Die barbarische Zerstörung von Dörfern und Städten durch deutsche Truppen war kein Einzelfall, berichten Sie über weitere Fälle. Antwort: Die von mir hier berichtete planvolle Zerstörung von Siedlungen und das Hinterlassen von „verbrannter Erde“ war die einzige dieser Art. In der Folge griffen die sowjetischen Truppen so schnell an, dass den deutschen Truppen keine Zeit blieb, die planvolle Zerstörung im Rückzugsgebiet entsprechend vorzubereiten. Natürlich wurde beim Rückzug der deutschen Truppen und auch danach alles zerstört, was den sowjetischen Truppen von Nutzen hätten sein können. Frage: Der Befehl zur Zerstörung von Siedlungen blieb bis Ende des Krieges in Kraft. Können Sie dies bestätigen? Antwort: Ich weiß nicht, ob es einen solchen Befehl bis zum Ende des Krieges gab.
4.17 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling
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Frage: Im Verhör vom 3. Januar 1946 haben Sie angegeben, dass dieser Befehl auch noch später in Kraft war. Verneinen Sie das jetzt? Erklären Sie diese Unterschiede in Ihren Aussagen! Antwort: Da diese Ereignisse bereits so lange zurückliegen, kann ich mich zum jetzigen Zeitpunkt daran nicht mehr erinnern. Mir scheint aber, dass der Befehl zur „Büffelbewegung“ danach nicht weiter in Kraft war. Ich möchte an dieser Stelle noch anmerken, dass die Zerstörung von Siedlungen durch die deutschen Truppen allein das Ziel hatte, die vorrückenden sowjetischen Truppen in eine erschwerte Lage zu bringen. Die Abschrift meiner Angaben ist richtig und mir wurde die Übersetzung ins Deutsche vorgelesen. Verhört durch: Gehilfe des Referatsleiters der Untersuchungsabteilung der zweiten Hauptverwaltung des MGB der UdSSR Oberstleutnant Lisowez153 Quelle: CA FSB, Akte Nr, N-21146, Bl. 201–204, Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.17 Protokoll des Verhörs des Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 23. November 1951 Weidling, Helmuth, geb. 1891 in Halberstadt, deutscher Staatsbürger, ehem[aliger] General der Artillerie und Kommandeur der Verteidigung von Berlin Der Übersetzer Makeew ist über die Folgen einer Falschübersetzung nach Artikel 95 des Strafgesetzbuches der UdSSR informiert. Makeew Frage: In Ihrer Funktion als Militärkommandeur der Stadt Toropez unterstanden Sie den Befehlen des Kommandeurs des XXXX. Armeekorps Stumme. Antwort: Richtig. Frage: Welche Befehle erhielten Sie? Antwort: Als Militärkommandant von Toropez sollte ich auf Befehl Stummes die Ordnung in der Stadt wiederherstellen. Frage: Welche Art von Ordnung hatte Stumme dabei im Sinn? Antwort: Dieselbe Ordnung, die die Deutschen in allen Städten und Dörfern im eroberten Gebiet der Sowjetunion etablierten.
153 Lisovec (?–?), sowjetischer Geheimdienstoffizier, 1951 Gehilfe des Referatschefs der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR.
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Frage: Es ist bekannt, dass die deutschen, faschistischen Truppen auf dem eroberten Territorium unschuldige, friedliche Bürger umbrachten, beraubten und sowohl Privathäuser als auch staatliches Eigentum verwüsteten. Meinten Sie diese Ordnung? Antwort: Nein. Ich sollte die Einquartierung der deutschen Truppen in der Stadt organisieren, für Disziplin sorgen und Kontakt zwischen den Truppen und der einheimischen Bevölkerung herstellen. Einer meiner ersten Befehle, der in der Stadt veröffentlicht wurde, war die Anordnung über die Abgabe von Feuerwaffen unter Androhung der Todesstrafe, die Abgabe von Radiogeräten sowie das Ausgehverbot nach einer bestimmten Uhrzeit. Außerdem organisierte ich einen Patrouillendienst. Frage: Welche zivilen Organe stellten Sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung zusammen? Antwort: Ich kann mich daran nicht erinnern. Frage: Haben Sie eine Polizeitruppe aus russischen Verrätern zusammengestellt? Antwort: Auch daran kann ich mich nicht erinnern! Frage: Was unternahmen Sie als Militärkommandant bezüglich der Kommunisten, sowjetischen Funktionäre und Gewerkschaftsaktivisten sowie der Juden, die in der Stadt geblieben waren? Antwort: Ich unternahm bezüglich dieser Personengruppen nichts, denn ich war nicht ständiger Kommandant in der Stadt. Frage: Erteilten Sie Befehle zur Erschießung oder zum Erhängen von sowjetischen Bürgern? Antwort: Solche Befehle habe ich nicht erteilt! Frage: Wer erteilte die Befehle sowjetische Bürger einzusperren? Antwort: Ich persönlich habe keine Erschießungsbefehle erteilt. Frage: Sie scheinen nun jegliche Art strafrelevanter Handlungen leugnen zu wollen, die auf dem Gebiet der Sowjetunion stattgefunden haben und versuchen, der Verantwortung mit Verweis auf Ihr schlechtes Gedächtnis aus dem Weg zu gehen. Die Untersuchungsführer raten Ihnen, über alles offen zu sprechen, denn sonst werden sie Beweise Ihres verbrecherischen Verhaltens vorlegen. Antwort: Ich bitte die Untersuchungsführer mir zu glauben, dass ich mich zehn Jahre nach diesen Ereignissen nicht mehr an Details meiner Tätigkeit als Militärkommandant in Toropez erinnern kann. Ich erinnere mich tatsächlich daran, dass meinen Befehlen entsprechend ein Starost, sein Stellvertreter sowie andere offizielle Personen aus der Bürgerschaft ernannt wurden und auch, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, eine Polizei aus
4.18 Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist
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Russen aufgestellt wurde. Mit dieser Aufgabe waren mein Vertreter Hauptmann Patow154 und Leutnant Weber155 aus der Ortskommandantur direkt betraut. Aber ich werde nicht die Verantwortung für die Handlungen ablehnen, die sie auf Basis meiner Anweisung durchgeführt haben. Frage: Bemühen Sie sich an einen Fall zu erinnern, in dem das deutsche Militär brutal gegen die Bevölkerung vorgegangen ist, sie ausgeraubt und sowjetische Bürger umgebracht hat. Antwort: Soweit ich mich erinnere, gab es solche Fälle mit Ausnahme eines Vorfalls nicht. Im September 1941 wurde das Kirchenkunstmuseum von Toropez ausgeraubt, weil es einzigartige Kunstgegenstände der Ikonenmalerei enthielt. Als Dieb stellte sich ein Soldat der Flaktruppen heraus. Der Vorfall wurde der Kommandantur berichtet und er wurde bestraft. Das Verhör wurde richtig aufgezeichnet und mir in deutscher Sprache vorgelesen. Weidling Verhört durch: Gehilfe des Referatsleiters der Untersuchungsabteilung der zweiten Hauptverwaltung des MGB der UdSSR Oberstleutnant Lisowez Es übersetzte: Der Übersetzer der Untersuchungsabteilung der zweiten Hauptverwaltung des MGB der UdSSR Leutnant Makeew Quelle: CA FSB, Akte Nr, N-21146, Bd. 2, Bl. 27–30. Handschriftliches Original. Russisch.
4.18 Protokoll des Verhörs von Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 28. November 1951 Ich, Militärstaatsanwalt der Obersten Militärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz, Gavriljak, verhörte den Angeklagten Kleist, Ewald, geb. 1881 in Braunfeld, deutscher Staatsbürger, Generalfeldmarschall der ehemaligen deutschen Armee Verhörbeginn: 14 Uhr Das Verhör wird mit Hilfe einer Übersetzerin der deutschen Sprache durchgeführt. Oberleutnant Kuschtsch ist über die Folgen einer Falschübersetzung nach Artikel 95 des Strafgesetzbuches der RSFSR unterrichtet. Frage: Gegen Sie wurde Anklage im Sinne des Artikels 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, § 1, Abschnitte a bis c
154 Nicht ermittelt. 155 Nicht ermittelt.
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des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland erhoben. Der Inhalt der Anklagepunkte wurde Ihnen erklärt. Haben Sie die Anklage verstanden? Antwort: Ja, den Sinn der Anklage habe ich begriffen. Frage: Bekennen Sie sich im Sinne der Anklage für schuldig? Antwort: Nein, ich bekenne mich nicht schuldig. Ich bekenne mich deswegen nicht schuldig, weil alles, was ich als Oberbefehlshaber in der deutschen Armee getan habe, auf Befehle höherer Dienstränge zurückgeht. Ich bestreite nicht, dass ich an der Vorbereitung einer Reihe von Kriegen gegen verschiedene Länder beteiligt war: Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, und dass ich mit meinen Truppen, die ich in den besetzten Gebieten befehligte, an Kriegshandlungen in diesen Gebieten teilnahm. Ich verneine außerdem nicht, dass ich am zweiten Tag nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, d. h. am 23. Juni 1941, als Befehlshaber von drei Panzerkorps mit meinen Truppen die Grenze der Sowjetunion überschritt und auf sowjetisches Territorium eindrang. Auf sowjetischem Territorium agierte ich bis April 1944 in der Ukraine, in Moldau, dem Nordkaukasus, dem Gebiet Krasnodarsk, auf der Krim sowie auf dem Gebiet der Sowjetrepublik Kabardino-Balkarien. In dieser Zeit war ich zuerst Befehlshaber der Panzergruppe 1, dann der Oberbefehlshaber der 1. Panzerarmee. Von Anfang Dezember 1942 befehligte ich die Heeresgruppe A. Ihr gehörten die 17. Armee, die 1. Panzerarmee sowie eine Reihe von Einheiten verbündeter Staaten an. Frage: Es ist festgestellt worden, dass in den Gebieten, die Sie aufgezählt haben und in denen sich deutsche Truppen befanden, die Ihrem Kommando unterstanden, massenhaft Fabriken, Gebäude, Anlagen und weitere Wertgegenstände ohne jeglichen militärischen Grund zerstört wurden. Außerdem wurde gewaltsam gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, indem man die Menschen bestahl und das Vieh sowie Nahrungsmittel konfiszierte. An all dem waren auch Ihre Truppen beteiligt. Warum sagen Sie darüber also nicht aus? Antwort: Ich bestreite nicht, dass auf meinen Befehl hin und auch auf den anderer Personen hin, von meiner Armee Eisenbahnbrücken sowie andere Transportwege und weitere Objekte zerstört wurden, was aber militärisch notwendig war. Ich gebe auch zu, dass zur Versorgung der Armee in den Kolchosen und bei der Bevölkerung Lebensmittel und Vieh beschlagnahmt wurden. Ich kann allerdings nicht bestätigen, dass meine Truppen an Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung beteiligt waren. Das gilt auch für Diebstahl oder Zerstörungen ohne militärischen Grund. Soweit mir bekannt ist, wurden diese Verbrechen vom Sicherheitsdienst (SD) begangen, der mir aber nicht unterstand. Frage: Und welche Verbrechen begingen Sie gegen die Partisanen auf der Krim?
4.19 Anklageschrift in der Strafsache Generalfeldmarschall Ewald von Kleist
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Antwort: Auf der Krim war die 17. Armee unter Generaloberst Jaene[c]ke156 stationiert. Welche konkreten Maßnahmen dort im Kampf gegen Partisanen angewandt wurden, ist mir nicht bekannt. Frage: Wo waren Ihre Truppen unmittelbar vor dem Überfall auf die Sowjetunion stationiert? Antwort: Meine Truppen befanden sich in Polen in der Nähe der sowjetischen Grenze im Gebiet von Zamosc und Tomaszow [Lubelski]. Frage: Daraus folgte, dass Sie bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion ihre Truppen in den genannten Gebieten konzentrierten, um den Angriff vorzubereiten. Antwort: Ja. Die Konzentration der Truppen in diesen Gebieten diente der Vorbereitung des Überfalls. Verhörende: 16.20 Uhr Das Protokoll wurde mir in deutscher Sprache verlesen. Meine Antworten sind richtig protokolliert worden. von Kleist Es verhörte: Der Staatsanwalt der Obersten Militärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz, Gawriljak Es übersetzte: Die Übersetzerin der deutschen Sprache, Oberleutnant Kuschtsch Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 2, Bl. 180–183. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.19 Anklageschrift in der Strafsache Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 7. Dezember 1951 Die Anklageschrift ist zu bestätigen. Die Strafsache wurde zur Prüfung ohne Anklage und Verteidigung an das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR übergeben.
156 Erwin Jaenecke (1890–1960), Generaloberst, seit 1911 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1920–1922 Generalstabsausbildung, Stabsverwendungen in der Reichswehr, 1937/38 Chef des Sonderstabes W der Legion Condor, 1938 Oberquartiermeister der 8. Armee, 1940–1942 Ober- bzw. Generalquartiermeister Belgien, Paris und West, 1942 Kommandeur der 389. InfanterieDivision, 1942–1943 Kommandierender General des IV. Armeekorps, 1943–1944 Oberbefehlshaber der 17. Armee, April 1944 Führerreserve, Kriegsgerichtsanklage wegen des Rückzuges von der Krim, Januar 1945 Verabschiedung. 1945–1947 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, 1947 in Sewastopol zu 25 Jahren Haft verurteilt, 1955 entlassen.
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Stellvertretender Oberster Militärstaatsanwalt der Sowjetarmee, Generalmajor D. Kitaew157 18. Dezember 1951 Anklageschrift Der Generalfeldmarschall der ehemaligen deutschen Armee, Ewald von Kleist, wurde aus folgenden Gründen inhaftiert und zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen: Teilnahme, Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die UdSSR und andere Länder sowie Gewalttaten und Verbrechen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Die Untersuchung hat Folgendes festgestellt: Kleist, der aus einer einflussreichen Familie von Großgrundbesitzern, den sogenannten Junkern, stammt, war Berufsoffizier in der deutschen „Schwarzen Reichswehr“158 und in der Armee Hitlers. Auf verschiedenen militärischen Posten tätig, nahm er an der Vorbereitung und Durchführung von Angriffskriegen teil, die internationale Gesetze und Abkommen verletzten. Als einer der Vertrauten Hitlers setzte Kleist dessen Eroberungspläne um. Kleist nahm dabei unmittelbar an den Überfällen auf Polen, Frankreich sowie Jugoslawien und der Besetzung dieser Länder teil. Dabei befehligte er umfangreiche Panzereinheiten, die den Namen „Panzergruppe Kleist“ trugen. Ende 1940 wurde Kleist von der faschistischen Führung beauftragt, neue Panzerverbände sowie motorisierte Einheiten zu inspizieren bzw. zusammenzustellen, um den Krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten. Im Februar 1941 wurde Kleist offiziell von Generalfeldmarschall von Rundstedt über das genaue Datum des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion informiert. Kleist übernahm hierbei das Kommando über drei Panzerkorps, die zur Heeresgruppe Süd unter der Führung von Rundstedts gehörten. Von April 1941 an arbeitete Kleist auf Befehl von Rundstedts die konkreten Pläne für den Überfall aus. Hierfür stellte er aus den Panzerkorps unter der Führung
157 Dimitrij I. Kitaev (1903–1985), Militärjurist, Ender der 1930er Jahre Gehilfe des Hauptmilitärstaatsanwalts der UdSSR, 1951–1953 im Rang eines Generalmajors der Justiz stellvertretender Hauptmilitärstaatsanwalt der Sowjetarmee. 158 Als „Schwarze Reichswehr“ galten illegale paramilitärische Formationen, die von 1920 bis 1935, dem Jahr der Wiedereinführung der Wehrpflicht und des offiziellen Beginns der Aufrüstung der Wehrmacht, von der im Versailler Friedensvertrag auf ein 100 000-Mann-Heer beschränkten Reichswehr gefördert und unterhalten wurden. Die Verbände waren vor allem zur militärischen Ausbildung, aber auch zum Einsatz gegen innere Feinde und zur Landesverteidigung vorgesehen. Kleist war 1934–1935 Befehlshaber der „Heeresdienststelle Breslau“, die im Geheimen die Aufstellung des VIII. Armeekorps vorbereitete.
4.19 Anklageschrift in der Strafsache Generalfeldmarschall Ewald von Kleist
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der Generale von Mackensen159, Kempf und Wietersheim160 eine neue Panzergruppe zusammen. Diese Truppen wurden auf polnisches Territorium ca. 15–30 Kilometer (bei Tomaszow [Lubelski] und Zamosc) von der polnisch-sowjetischen Grenze entfernt verlegt. Über diese Kriegsvorbereitungen hat von Kleist am 9. April 1949 folgendes ausgesagt: „Im Februar 1941, als ich in Bulgarien war, erfuhr ich zum ersten Mal von den Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion. Bis zum 18. April 1941 blieb ich in Jugoslawien. Anschließend kehrte ich mit meinem Stab nach Deutschland zurück. Am 25. April 1941, als ich in Breslau war, begann ich mit den Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion.“ „Nachdem mir von Rundstedt mitgeteilt hatte, welche Einheiten mir unterstellt sein würden, sowie die nächsten Aufgaben, arbeitete ich die Pläne für den Überfall aus. Mitte Juni schloss ich die Vorbereitungen zur Offensive auf das sowjetische Territorium ab. Anschließend fuhr ich mit meinem Stab in das Gebiet von Tomaszow und Zamosc, wo meine Einheiten bereits stationiert waren.“ Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland hinterhältig die UdSSR und verletzte damit den abgeschlossenen Nichtangriffspakt. Am 23. Juni setzte Kleist selbst die Eroberungspläne Hitlers in die Tat um, indem er mit seinen Truppen die Staatsgrenze der Sowjetunion überschritt und auf deren Territorium eindrang. Über diesen heimtückischen Überfall hat Kleist im bereits genannten Verhör folgendes ausgesagt: „Am 22. Juni 1941 überschritten die Truppen der Armee von Reichenau den westlichen Bug und begannen so die Offensive. Am 23. oder 24. Juni folgte meine Panzergruppe diesen Einheiten.“ „Mitte August 1941 gelangte mein Korps bis an den Dnjepr und kämpfte um Cherson, Nikopol und Saporoschje.“ Von Juni 1941 bis April 1944 nahm Kleist als Oberbefehlshaber der Panzergruppe 1, dann der 1. Panzerarmee und anschließend der Heeresgruppe A an der Eroberung sowie Besetzung der Ukraine, des Nordkaukasus, des Gebiets von Krasnodar, der Sowjetrepublik Kabardino-Balkarien, der sowjetischen Moldau und der Krim teil.
159 Eberhard von Mackensen (1889–1969), Generaloberst, seit 1908 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, Freikorps im Baltikum, Reichswehr, 1933 Chef des Stabes der Kavallerieinspektion, 1938 Stabschef des Heeresgruppenkommando V in Wien, 1939 Stabschef der 14. Armee, 1940 Kommandierender General des III. Aremeekorps (mot.), seit Ende 1942 Oberbefehlshaber der 1. Panzerarmee, 1943 Oberbefehlshaber der 14. Armee in Italien, verantwortete Massenerschießungen von Zivilisten. 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft, 1946 durch ein britisches Militärgericht in Rom zum Tode verurteilt, 1947 zu 21 Jahren Haft begnadigt, 1952 entlassen. 160 Gustav Anton von Wietersheim (1884–1974), General der Infanterie, seit 1902 Berufssoldat, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, Reichswehr, 1934–1936 Leiter der Heeresabteilung bzw. Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres, 1936–1938 Kommandeur der 29. Infanterie-Division, 1938 Kommandierender General des XIV. Armeekorps (mot.), das 1942 in XIV. Panzerkorps umbenannt wird, Ende 1942 auf Befehl Hitlers abgelöst und in die Führerreserve versetzt, weil er den Rückzug aus Stalingrad angeregt hatte.
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Die Truppen, die Kleist im zeitweise besetzten Gebiet unterstanden, begingen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, verfolgten brutal Partisanen, zerstörten Betriebe, Transportwege, Gebäude sowie weitere materielle sowie kulturelle Werte, ohne dass dafür militärische Gründe vorgelegen hätten. Sie stahlen und konfiszierten Vieh und Nahrungsmittel bei der Bevölkerung und bei den Kolchosen. Strafkommandos, die Kleist befehligte und die sich im Gebiet seiner Truppen aufhielten, liquidierten eine große Zahl von Zivilisten. Es wurde diesbezüglich festgestellt, dass die faschistischen Eroberer allein im Gebiet von Krasnodarsk, darunter auch die Truppen von Kleist und Ruoff161, während der Besatzung mehr als 61 000 Menschen erschossen, quälten, vergasten und auf andere Arte töteten. Sie zerstörten mehr als 63 000 Industrie- und Landwirtschaftsgebäude, stahlen und konfiszierten in Kolchosen und bei der Zivilbevölkerung mehr als fünf Millionen Zentner Getreide und Mehl, mehr als 300 000 Stück Rinder sowie ebenso viele Schweine, mindestens 275 000 Pferde und mehr als 2 Millionen Stück Geflügel. Mehr als 66 000 Landwirtschaftsmaschinen sowie mehr als 2000 Motoren, 6000 Autos und andere Besitztümer zerstörten sie oder brachten sie nach Deutschland. Sie vernichteten ungefähr eine Million Hektar Getreide und 100 000 Hektar anderer landwirtschaftlicher Kulturen. Sie beraubten Dutzende Kolchosen und steckten diese in Brand. Sie verbrannten oder sprengten neben anderen wertvollen Gebäuden ganze Teile von Krasnodar, 1334 Schulen, 368 Theater und Klubs, 377 Krankenhäuser und Polikliniken sowie 194 Einrichtungen für Kleinkinder. Über die Verbrechen Kleists sagten ehemalige deutsche Kriegsgefangene aus, die zu seinen Truppen gehörten und seine verbrecherischen Befehle unmittelbar ausführten. Der ehemalige deutsche Kriegsgefangene Bartels162 gestand im Verhör vom 4. Dezember 1947: „Als ich im 1. Bataillon des 2. Regiments der 1. Panzerarmee unter Generalfeldmarschall von Kleist diente, war ich u. a. in den Städten Schachty, Kropotkin, Armawir, Prochladny.“ „Während des Überfalls durch die 1. Panzerarmee war es den Soldaten erlaubt, die Zivilbevölkerung zu berauben und den Besitz der Kolchosen, d. h. Vieh, Brot und andere Lebensmittel für die deutschen Soldaten zu konfiszieren.“ „Als wir am 30. Dezember 1942 in Prochladny waren, verlas uns unser Kompanieführer einen Befehl von Generalfeldmarschall von Kleist. Auf unserem Rückzug sollten wir Industriegebäude, Eisenbahnwege und Gebäude zerstören und in dem Gebiet eine Wüste hinterlassen. Damit sollte die Rote Armee am Nachrücken gehindert werden.“ „Zur
161 Richard Ruoff (1883–1967), Generaloberst, seit 1903 Berufssoldat, Ausbildung zum Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, Reichswehr, 1934–1939 Generalstabsverwendungen, 1939 Kommandierender General des V. Armeekorps, 1942 Ernennung zum Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee, im gleichen Jahr Oberbefehlshaber des Armeeoberkommandos 17, im Sommer 1943 in die Führerreserve versetzt. 162 Nicht ermittelt.
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Umsetzung dieses Befehls wurden bei jeder Einheit spezielle Sprengkommandos gebildet, die diese Sprengungen und Zerstörungen durchführten.“ Zu diesem Tatbestand sagte der Kriegsgefangene Weips, Georg163 im Verhör vom 18. Dezember 1947 aus: „Ich diente in der SS-Einheit „Wiking“, die der Armee von Generalfeldmarschall von Kleist unterstand. Von Juli 1941 bis März 1944 nahm ich persönlich an Konfiszierungen von Kolchose-Besitz teil. Auch während des Abzugs konfiszierten wir Lebensmittel von den Kolchosen.“ Der ehemalige deutsche Kriegsgefangene Brandes164, der im Panzerarmee-Nachrichtenregiment diente, sagte im Verhör vom 9. Dezember 1947 aus: „Während der Angriffe der Roten Armee konfiszierten Angehörige der 1. Panzerarmee bei der Zivilbevölkerung Vieh und Nahrungsmittel.“ „Beim Abzug von Teilen der 1. Panzerarmee unter Generalfeldmarschall von Kleist aus dem Kaukasus wurden aus den Städten Naltschik, Pjatigorsk und Mineralnyje Wody beinahe alle Rinder konfisziert und gen Westen getrieben. Außerdem habe ich in Artemowsk selbst gesehen, wie Verwaltungsgebäude und Wohnhäuser zerstört wurden.“ Der Militärangehörige Berndt165 gestand am 10. Dezember 1947: „Teile der deutschen Armee, die zur Panzergruppe von Generalfeldmarschall von Kleist gehörten und auf dem Gebiet der Sowjetunion waren, stahlen im Allgemeinen überall. Des Weiteren waren sie der Zivilbevölkerung gegenüber gewalttätig und erschossen viele. Diese Verbrechen geschahen besonders während des Abzugs der deutschen Truppen aus dem Kaukasus. Alles, was man nicht mitnehmen konnte, wurde auf dem Rückzug verbrannt und vernichtet. In Bataisk und Rostow erschossen deutsche Truppen massenhaft sowjetische Bürger, weil es sich dabei angeblich um Partisanen handelte.“ Der Militärangehörige der ehemaligen deutschen Armee Erich Blass166 sagte am 15. Dezember 1947 aus: „Als sich Teile der 1. Panzerarmee von Generalfeldmarschall von Kleist aus dem Nordkaukasus zurückzogen, zerstörten sie auf dem Weg alle großen Gebäude und sprengten oder verbrannten in allen Dörfern und Städten Klubs, Theater und andere Kultureinrichtungen sowie Fabriken, Betriebe, Eisenbahnstationen und Brücken. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie in den Städten Kropotkin und Georgijewsk eine Molkerei, eine Zuckerfabrik sowie eine Ziegelei in die Luft gesprengt wurden.“ Ähnliche Verbrechen begingen die faschistischen Besatzer unter der Führung von Kleists in der Sowjetrepublik Moldau, dem Nordkaukasus, der Republik Kabardino-Balkarien sowie in der Ukraine und auf der Krim. Kleist ging mit Hilfe der 17. Armee unter Führung von Generaloberst Jaenecke verbrecherisch gegen Partisanen vor. Um deren Bewegung einzuschränken, wurde Giftgas
163 Nicht ermittelt. 164 Nicht ermittelt. 165 Nicht ermittelt. 166 Nicht ermittelt.
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eingesetzt, ferner legte man sogenannte „Todeszonen“ an, in denen alle Ortschaften niedergebrannt worden waren. Über diese Verbrechen auf Befehl von Kleists hat der gefangene Generaloberst der ehemaligen deutschen Armee Jaenecke am 22. November 1947 folgendes zu Protokoll gegeben: „Um die Region von Kuban wirtschaftlich lahm zu legen, war in allen Befehlen von Kleists folgendes vorgesehen: Abtransport aller Nahrungsmittelvorräte, des Viehs, von Getreide, Öl, Wein und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnisse sowie von Industriematerial und entsprechenden Einrichtungen. Alles andere, was nicht mitgeführt werden konnte, sollte zerstört werden.“ Weiterhin sagte Jaenecke aus: „Von Kleist hatte in seinem Befehl an die 17. Armee auf der Krim verfügt, die Partisanen zu vernichten. Ich als Armee-Befehlshaber sollte daher selbst Maßnahmen zur Erfüllung des Befehls erarbeiten. Über die entsprechenden Aktivitäten habe ich bereits ausgesagt, darunter auch die Errichtung von ‚Todeszonen‘. Ich berichtete von Kleist täglich vom Fortgang des Ausbaus der ‚Todeszonen‘ sowie über die Aktionen in den Steinbrüchen von Kertschensk, wo wir Partisanen vergasten167. Kleist war daher permanent über den Stand der Dinge informiert. In den Berichten wurde Kleist auch über die Anzahl der verbrannten Dörfer und anderer Aktionen unterrichtet. Ich weiß nicht mehr, wann Kleist über die Vergasung sowjetischer Partisanen berichtet wurde. Es gab aber einen Sonderbericht über den Einsatz des Spezialkommandos beim Stab der Heeresgruppe Süd unter von Kleist bei den Höhlen von Kertsch, das diese Operation durchführte.“ Der Angeklagte Ewald von Kleist hat sich für unschuldig erklärt. Jedoch hat er nicht bestritten, an der Vorbereitung und Durchführung des Kriegs gegen die Sowjetunion beteiligt gewesen zu sein. Er hat auch nicht verneint, dass seine Truppen im besetzten Gebiet Vieh und Nahrungsmittel bei der Zivilbevölkerung und in Kolchosen konfisziert haben. Das verbrecherische Verhalten von Ewald von Kleist wird durch die Dokumente der Außerordentlichen Staatskommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eroberer und ihrer Komplizen bestätigt. Ausgesagt haben hier folgende deutsche Kriegsgefangene: Schörner, Jaenecke, Angelis168, Bartel, Weips, Dorfer, Brandes, Berndt und andere (insgesamt 23 Personen). Des Weiteren wird dies von folgenden Augenzeugen und Opfern unter
167 1942 setzten deutsche Einheiten auf der Kertsch-Halbinsel ein Gasgemisch aus Methan und Luft, das nachfolgend zur Explosion gebracht wurde, gegen Partisanen ein, die sich in einem Höhlensystem verschanzt hatten. Mehr als 3000 Menschen sollen dabei ihr Leben verloren haben, Die Alliierten werteten diese Art der Partisanenbekämpfung als Einsatz von chemischen Kampfstoffen. 168 Maximilian de Angelis (1889–1974), General der Artillerie, seit 1908 Berufssoldat im k. u. k. Heer, Generalstabsausbildung im 1. Weltkrieg, seit 1919 im österreichischen Bundesheer, dort konspirativer Anhänger der NSDAP, 1938 Staatssekretär für Landesverteidigung, zuständig für die Eingliederung des Bundesheeres in die Wehrmacht, 1939–1942 Kommandeur der 76. Infanteriedivision, 1942–1943 Kommandierender General des XXXXIV. Armeekorps, 1943–1944 mit der Führung der 6. Armee beauftragt, 1944–1945 Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee. 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, kurz darauf an Jugoslawien übergeben, dort 1948 zu 20 Jahren Haft verurteilt, dann in die Sowjetunion überstellt, dort zu zweimal 25 Jahren Haft verurteilt, 1955 entlassen.
4.19 Anklageschrift in der Strafsache Generalfeldmarschall Ewald von Kleist
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den sowjetischen Bürgern bestätigt: Gowenko, Baldinoi, Serbina, Izjumowoi, Rjabowolenko169 und anderen (insgesamt 28 Personen). Auf der Grundlage des Vorgebrachten wird Anklage erhoben gegen: Kleist, Ewald, geboren 1881 in Braunfeld, Hessen, deutscher Staatsbürger mit deutschen Wurzeln, parteilos, höhere Bildung, ehemaliger Großgrundbesitzer, diente in der deutschen Armee seit 1900; von 1941 bis 1944 nahm er am Krieg gegen die UdSSR als Generalfeldmarschall teil. Zuletzt befehligte er die Heeresgruppe A, für die aktive Teilnahme am Krieg gegen Russland wurde er mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse ausgezeichnet sowie mit dem Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern. Am 25. April 1945 wurde er in Bayern gefangen genommen. Er wird angeklagt, weil er den Posten eines Oberbefehlshabers der ehemaligen deutschen Armee bekleidete, aktiv an der Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die UdSSR teilnahm. Während der Besatzungszeit von Juni 1941 bis 1944 beging er mit seinen Truppen und anderen Strafkommandos im Gebiet der Sowjetunion zahlreiche Zerstörungen, Verbrechen und andere Straftaten, die nach Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, § 1 a–c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden. Entsprechend den Artikeln 208 und 225 der Strafprozessordnung der RFSFR liegt die Strafsache von Kleist, Ewald nun zur Prüfung beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR. Die Anklageschrift wurde am 7. Dezember 1951 in Moskau erstellt. Militärstaatsanwalt des Obersten Militärgerichts der Sowjetarmee, Oberstleutnant Gawriljak Weitere Angaben Der Angeklagte Kleist, Ewald befindet sich seit dem 6. März 1949 in Haft. Der Anklage liegen keine gegenständlichen Beweisstücke vor. Militärstaatsanwalt des Obersten Militärgerichts der Sowjetarmee, Oberstleutnant Gawriljak Zum Gerichtsverfahren geladene Personen: Angeklagter Kleist, Ewald, inhaftiert im Butyrka-Gefängnis des MGB Militärstaatsanwalt des Obersten Militärgerichts der Sowjetarmee, Oberstleutnant Gawriljak Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21135, Bd. 2, Bl. 216–228. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
169 Die genannten Personen konnten nicht ermittelt werden.
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4.20 Abschließende Anklageschrift in der Strafsache Nr. 5125 gegen den General der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 11. Dezember 1951 Die abschließende Anklageschrift wurde bestätigt. Die Strafsache ist zur Prüfung an das Militärtribunal ohne Anklage und Verteidigung übergeben worden. Stellvertreter des obersten Militärstaatsanwalts der Sowjetarmee, Generalmajor der Justiz D. Kitaev, 18. 12. 1951 Angeklagt ist: Weidling, Helmuth für Verbrechen nach Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie Artikel 2, Paragraph 1 a), b), und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland. Wegen der Teilnahme an verbrecherischen Kriegen sowie Verbrechen und Gewalt gegen sowjetische Bürger wurde eine Strafverfolgung gegen den kriegsgefangenen General der Artillerie der ehemaligen deutschen Armee Helmuth Weidling eröffnet. Die vorläufigen Untersuchungen ergaben, dass Weidling ein langjähriger Kaderoffizier war, der seit dem Ersten Weltkrieg mit zur Militarisierung Deutschlands beitrug. Nach Hitlers Machtergreifung hatte Weidling verschiedene leitende militärische Positionen in der deutschen-faschistischen Armee inne (Band I, Blatt 142; Band II, Blatt 45). Weidling nahm als Kommandeur eines Artillerieregiments und dann eines Artilleriekorps am gewaltsamen Anschluss des Sudetenlandes (Tschechoslowakei) an das Deutsche Reich teil. Genauso war er an der Umsetzung der aggressiven Pläne des deutschen Faschismus gegen Polen, Belgien, Holland, Frankreich, Griechenland sowie Jugoslawien beteiligt (Band I, Blatt 40, 41, 142, 144, Band II, Blatt 44, 45). Von Beginn des heimtückischen Überfalls des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion bis zur Kapitulation der deutschen Armee befand sich Weidling ohne Unterbrechung an der sowjetisch-deutschen Front und setzte die Eroberungspläne Hitlers gegen die UdSSR direkt um (Band I, Blatt 144, 179–181; Band II, Blatt 1–3, 16–18, 23). Als Befehlshaber der Artillerie des XXXX. Panzerkorps erfüllte Weidling ebenso die Pflichten eines Militärkommandeurs der Stadt Toropez im Gebiet von Velikoluksk (August–September 1941) und der Stadt Rusa im Moskauer Gebiet (Oktober–November 1941), wo auf seinen Befehl hin die deutschen Besatzer brutale Strafaktionen gegen die friedlichen sowjetischen Bevölkerung durchführten (Band I, Blatt 24–26, 32–35, 41, 42, 111–115, 137–139, Band II, Blatt 45). Nach der Zerschlagung der faschistischen Truppen bei Moskau im Dezember 1941 war Weidling als Kommandeur der 86. Infanteriedivision Initiator eines Jagdkommandos gegen die Partisanen. Bei der Umsetzung der unmenschlichen Befehle Hitlers, erschossen die Truppen, die Weidling unterstellt waren, Politoffiziere der Roten Armee sowie sowjetische Partisanen, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren (Band I, Blatt 44, 188–190, 196, 197, Band II, Blatt 2, 54–58, 235).
4.20 Abschließende Anklageschrift in der Strafsache Weidling
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„Nachdem ich den Befehl Hitlers erhalten hatte, ergänzte ich ihn um meinen Befehl und gab ihn an die Einheiten der 86. Infanteriedivision weiter. Der Chef der Ic‑Abteilung meines Stabs Hauptmann Liertz170 war für die unmittelbare Umsetzung von Hitlers Befehl der Erschießung von Partisanen zuständig“ (Verhörprotokoll vom 28. 11. 1951; Band I, Blatt 189). Soldaten der 86. Division erschossen sogar einfache Soldaten der sowjetischen Armee, was Weidling im Protokoll vom 25. November 1951 zugab: „Ich bekenne, dass mir unterstellte Truppen der 86. Division Kriegsgefangene, Soldaten der Roten Armee, erschossen. Dieses Vorgehen wurde mir zwar berichtet, aber ich unternahm nichts dagegen.“ (Band II, Blatt 56) Da er an der Ausarbeitung und Umsetzung des verbrecherischen Plans der deutschen Militärführung, die eroberten Gebiete als Zone einer „verbrannten Erde“ zu hinterlassen, beteiligt war, erteilte Weidling im Frühjahr 1943 seiner Division den Befehl, beim Rückzug alles in die Luft zu sprengen und zu verbrennen, die sowjetischen Bürger nach Westen zu vertreiben, wer Widerstand leistete, war zu erschießen. Dadurch erlitten die Gebiete von Kalininsk und Smolensk enorme materielle Verluste, viele sowjetische Bürger verhungerten oder erfroren auf dem Weg, andere wurden zu Tode gefoltert oder von deutschen Soldaten erschossen (Band I, Blatt 46, 146, 147, 201–304; Band II, Blatt 60–63, 235). Hierüber sagte Weidling am 25. November 1951 folgendes aus: „Im März 1943 erteilte ich den Befehl, das Gebiet bei Rschew zu verlassen und beim Rückzug alle Wege zu verwüsten, die Bevölkerung nach Westen zu vertreiben und die Widerstandleistenden zu erschießen. Mein Befehl wurde umgesetzt. Nach dem Rückzug aus dem Kessel von Rschew hinterließen wir nur Ruinen, alles war verbrannt und gesprengt, und die Menschen gen Westen vertrieben. Der Befehl war nicht aus militärischer Notwendigkeit entstanden“ (Band II, Blatt 61). 1942 errichtete Weidling bei seiner Division ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene. Die Gefangenen wurden gequält und gefoltert sowie grundlos verprügelt. Diejenigen, die versuchten zu fliehen, wurden auf Weidlings Befehl hin erschossen (Band II, Blatt 81–83). Von Oktober 1943 bis Juni 1944 befehligte er das XXXXI. Panzerkorps. Die Soldaten des Korps richteten im Gebiet von Bobruisk und Pollesk in Weißrussland große materielle Schäden an. Sie raubten unschuldige Menschen aus und brachten sie um (Band II, Blatt 114–118, 139–141). Im Frühjahr 1944 arbeitete die deutsche Führung einen barbarischen Plan zur Vernichtung von sowjetischen Zivilisten durch die Ansteckung mit Flecktyphus in besonderen „Todeslagern“ bei der Ortschaft Osaritschi im Gebiet von Pollesk aus und
170 Heinrich Liertz (1914–1942), Hauptmann, 1938 Zugführer im Infanterieregiment 35, 1942 Ic der 86. Infanteriedivision, Ende 1942 an der Ostfront gefallen.
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brachte diesen auch zur Ausführung. Damit sollte auch eine Ausbreitung der Krankheit in den von der Roten Armee befreiten Gebieten befördert werden. Als direkter Teilnehmer an diesem unsäglichen Verbrechen berichtete Weidling folgendes: „Ungefähr im März 1944 befahl mir der Oberbefehlshaber der 9. Armee, General der Panzertruppen Harpe, alle Typhuskranken sowie Evakuierten, die sich im Gebiet des XXXXI. Panzerkorps befanden, in ein Lager bei Osaritschi zu bringen. […] Entsprechend dieser Anordnung erteilte ich meinem Korps folgenden Befehl: Unter der Androhung des Todes durch Erschießen werden alle Typhuskranken sowie Flüchtlinge aus anderen Gebieten in das Lager bei Osaritschi verbracht. Viele sowjetische Bürger verhungerten, erfroren oder starben an Krankheiten bereits auf dem Weg dorthin. Manche wurden erschossen, als sie sich von der Kolonne entfernten“ (Verhörprotokoll 26. 11. 1951, Band II, Blatt 93–95). Im Todeslager bei Osaritschi starben Hunderte von sowjetischen Bürgern, die Hälfte von ihnen waren Kinder (Band II, Blatt 93–97, Band II, Blatt 251). Für seine Verdienste für das faschistische Deutschland erhielt Weidling hohe Auszeichnungen von der Hitlerregierung (Band I, Blatt 47, 170, 171). Im April 1945 wurde Weidling von Hitler zum Befehlshaber der Verteidigung Berlins ernannt. Gemeinsam mit Hitler arbeitete er militärische Pläne gegen die Sowjetarmee aus und befehligte den Widerstand der deutschen Truppen bis kurz vor seiner Verhaftung (Band I, Blatt 23, 43, 213, 214; Band II, Blatt 120). Weidling hat sich in allen ihm zur Last gelegten Verbrechen für vollständig schuldig erklärt (Band II, Blatt 122–135). Außerdem wurden seine Verbrechen durch die Verhöre folgender Personen bestätigt: Schörner, Ferdinand (Band II, Blatt 142–144), Schmidt, Rudolf (Band II, Blatt 145– 148), Mohnke, Wilhelm171 (Band II, Blatt 149–152), Rattenhuber, Johann172 (Band II, Blatt 153–154) sowie durch die Materialien der Außerordentlichen Staatskommission und andere schriftliche Beweise.
171 Wilhelm Mohnke (1911–2001), SS-Brigadeführer, 1931 Beitritt zur NSDAP und SS, 1933–1942 Leibstandarte Adolf Hitler (LSSAH), seit 1940 als Kommandeur des II. Bataillons der LSSAH, 1943–1944 Kommandeur des 2. SS-Panzergrenadierregiments, 1943 umbenannt in SS-Panzergrenadierregiment 26, 1944–1945 Kommandeur der 1. SS-Panzerdivision, 1945 Befehlshaber der Verteidigungskräfte des Regierungsviertels in Berlin. 1945–1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 172 Johann Rattenhuber (1897–1957), Generalleutnant der Polizei und SS-Gruppenführer, Offizier im 1. Weltkrieg, 1920 Eintritt in die bayerische Polizei, 1933 Adjutant des Polizeipräsidenten von München, Heinrich Himmler, von diesem mit der Bildung eines Polizei-Kommandos zum Schutze Hitlers beauftragt, Eingliederung in die SS, 1934–1945 Chef des aus dem Kommando hervorgegangenen Reichssicherheitsdienstes. 1945–1956 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
4.21 Anklage im Untersuchungsvorgang Schörner
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Auf der Grundlage des Dargelegten wird angeklagt: Weidling, Helmuth, geb. 1891 in Halberstadt, deutscher Staatsbürger, ehem. General der Artillerie und Kommandeur der Verteidigung Berlins Weidling wird angeklagt, als Kaderoffizier der Hitlerarmee von 1939 bis 1941 an Angriffskriegen und der Verletzung internationaler Verträge sowie Abkommen im Fall von Polen, Belgien, Holland, Frankreich, Griechenland sowie Jugoslawien beteiligt gewesen zu sein. Von Anfang bis Ende des verbrecherischen Krieges gegen die Sowjetunion hielt sich Weidling an der sowjetisch-deutschen Front auf. Dort verletzten deutsche Truppen unter seiner Führung Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung, begingen Verbrechen gegen die friedliche sowjetische Bevölkerung, liquidierten Gefangene und Partisanen, verschleppten sowjetische Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland, zerstörten absichtlich Städte und Dörfer, obwohl keine militärischen Gründe hierfür vorlagen. Dies sind Verbrechen im Sinne des Artikels 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, Paragraph 1 a), b) und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland vom 20. Dezember 1945. In Übereinstimmung mit den Artikel 208 und 225 der Strafprozessordnung der RSFSR liegt die Strafsache zur Prüfung beim Militärtribunal. Die abschließende Anklageschrift wurde am 11. Dezember 1951 in Moskau erstellt. Militärstaatsanwalt des obersten Militärstaatsanwalts der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz Gawriljak Nachweise: 1. Weidling, Helmuth befindet sich seit 2. Mai 1945 in Arrest. 2. Die schriftlichen Beweise zur Strafsache sind in einzelnen Paketen abgelegt (Band II, Blatt 249, 251, 164–234, 235). Militärstaatsanwalt des obersten Militärstaatsanwalts der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz Gawriljak Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21146, Bd. 2, Bl. 242–249. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.21 Anklage im UntersuchungsvorgangNr. 5089 gegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 12. Dezember 1951 Die Anklage ist zu bestätigen. Der Vorgang ist zur Durchsicht an das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR ohne Teilnahme der Anklage und der Verteidigung zu senden. Vertreter des Hauptmilitärstaatsanwalts der Sowjetarmee, Generalmajor der Justiz Kitaew 18. 12. 1951
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Anklageschrift Untersuchungsvorgang Nr. 5089 zur Anklage Schörners, Ferdinand für Verbrechen gemäß Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und gemäß Artikel 2 Absatz 1 a), b) und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland Der kriegsgefangene Generalfeldmarschall der ehemaligen Hitlerarmee, Schörner, Ferdinand, wurde verhaftet und zur rechtlichen Verantwortung für feindliche Handlungen gezogen, die sich in der Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die UdSSR und andere Länder zeigten sowie für begangene Brutalitäten und Verbrechen auf dem zeitweilig besetzten Gebiet der Sowjetunion. Durch die Untersuchungen konnte in der Sache festgestellt werden, dass Schörner als Kaderoffizier der deutschen Armee und als Kommandeur auf verschiedenen Posten aktiv an der Vorbereitung und Durchführung eines aggressiven Krieges und der Verletzung internationaler Gesetze und Vereinbarungen beteiligt war. Bereits 1919 nahm Schörner in der Brigade Epp173 an der Niederschlagung der Sowjetrepublik in Bayern teil und war ebenfalls an der Niederschlagung der Revolutionsbewegung im Rheingebiet beteiligt174 (Untersuchungsakte Schörner, 1. Aktenband, Blatt 142). 1920 schloss sich Schörner der faschistischen Bewegung an, als er im 19. Bayerischen Regiment diente, das „Schwarze Reichswehr“ genannt wurde. Er verbreitete propagandistisch die nationalsozialistische Idee unter den Armeeangehörigen und ermöglichte damit auch die Machtübernahme Hitlers in Deutschland. Weiterhin erzog er als Lehrer an der Militärschule in Dresden seine Schüler im Geist des Revanchismus, Militarismus und Chauvinismus, wodurch er mit zur Vorbereitung von neuen Angriffskriegen beitrug (Band I, Blatt 142, 143, s. o.). 1935 wurde Schörner in den Generalstab der Hitlerarmee versetzt, wo er als Spezialist und Referent für Italien arbeitete. Er hatte unmittelbaren Anteil an der Stärkung des Militärbündnisses zwischen Deutschland und Italien und an der Ausarbeitung gemeinsamer Pläne für einen neuen Weltkrieg (Band I, Blatt 144). Als Regimentskommandeur nahm Schörner an der Eroberung Österreichs und der Tschechoslowakei teil, wodurch er die verbrecherischen Pläne Hitlers realisierte. Des Weiteren nahm er 1940 als Kommandeur einer Division am Überfall auf Frankreich und der Besetzung Griechenlands teil (Band I, Blatt 146, 147, 148).
173 Freikorps Epp, aufgestellt am 11. 2. 1919 auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf in Thüringen unter der Leitung des bayerischen Obersts Franz von Epp (1868–1947). Das Freikorps half im Mai 1919 bei der Niederschlagung der Räterepublik in München und wurde anschließend als 1. Bayerisches Schützen-Regiment/Reichswehr-Schützen-Brigade 21 unter der Leitung Epps in die Bayerische Reichswehr übernommen. Ihm gehörten später führende Nationalsozialisten wie Rudolf Heß, Ernst Röhm sowie Otto und Gregor Strasser an. 174 Hier ist die Niederschlagung des Ruhraufstandes im März 1920 gemeint, an der auch die Reichswehr-Schützen-Brigade 21 unter Epp beteiligt war.
4.21 Anklage im Untersuchungsvorgang Schörner
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Im Oktober 1941 gelangte Schörner, als er zunächst eine Division und dann ein Korps befehligte, in das Gebiet der Stadt Murmansk, um sowjetisches Territorium zu besetzen. Er war aktiv am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligt, wo er gegen die Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung verstieß. Im Rahmen der Weisungen der Hitlerführung zur Vernichtung der sowjetischen Bürger wurden auf Befehl Schörners bei Murmansk ungefähr 160 sowjetische Armeeangehörige erschossen, die sich in Gefangenschaft befanden. Andreas Ginsch175, ein Angehöriger der Hitlerarmee, der am 10. Oktober 1947 verhört wurde, sagte aus: „Mitte Dezember 1941 wurden in der Nähe der Stadt Barkino bei extremer Kälte sowjetische Kriegsgefangene erschossen… Die Erschießungen leitete General Schörner selbst… Kurz vor Sonnenaufgang erteilte Schörner den Befehl, den Gefangenen in die Brust zu schießen und diejenigen, die dann noch lebten, mit einem Kopfschuss zu erledigen… Die Zahl der Getöteten lag zwischen 140 und 160 Personen…“ (Band II, Blatt 3, 122, 123, 124, 151, 152)176. Für die aktive Umsetzung der Hitlerpläne bei der Durchführung eines Angriffskrieges gegen die sowjetischen Truppen erhielt Schörner einen hohen Orden Hitlers. Er wurde zum General der Gebirgstruppe ernannt und Hitler dankte ihm persönlich, indem er ihn zum Oberbefehlshaber der Armee an der Südfront im Gebiet der Stadt Nikopol ernannte (Band I, Blatt 150, 152; Band II, Blatt 4, 5). Als überzeugter Nationalsozialist und Vertrauter Hitlers wurde Schörner zum Generaloberst befördert. Im März 1944 ernannte ihn Hitler zum Chef des NS-Führungsstabes des Heeres beim Oberkommando des Heeres. Auf diesem Posten erarbeitete Schörner eine Reihe von Anweisungen für die nationalsozialistische Erziehung der deutschen Truppen im Geist des Hasses gegen die sowjetischen Völker (Band I, Blatt 155, 156, 157, 158; Band II, Blatt 29, 30, 31, 32, 33). Im Anschluss daran war Schörner Oberbefehlshaber der Heeresgruppen „Süd“ und „Nord“, der Truppen in Kurland und von Januar 1945 bis zur Kapitulation war er der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen der Heeresgruppe „Mitte“ im Range eines Generalfeldmarschalls (Band II, Blatt 4, 5, 6, 7). „Ich war Adolf Hitler als Staatsoberhaupt und als Oberkommandierender treu. Ich befürwortete den nationalsozialistischen Staat.“ Zitat aus den eigenhändig angefertigten Aussagen Schörners vom 20. 08. 1945. (Band I, Blatt 73).
175 Andreas Ginsch (1915–?), deutscher Unteroffizier, 1934 Eintritt in die Polizei, 1938 Wechsel zum Heer, 1938–1941 als Unteroffizier im 139. Gebirgsjäger-Regiment , 1941–1943 im Rang eines Feldwebels Zugführer im 141. Gebirgsjäger-Regiment. Nach 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 176 Andreas Ginsch sagte bei seinem Verhör am 10. 10. 1947 im Lager Nr. 467 zur Erschießung von 140–160 Angehörigen der Roten Armee auf direkte Weisung von General Schörner im Dezember 1941 bei Murmansk aus. Demnach habe Schörner die Hinrichtung als Vergeltung für die „grausame Behandlung von deutschen Kriegsgefangenen“ befohlen. Vgl. CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Bl. 149–159.
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„(…) Hitler vertraute mir auf besondere Weise, denn im März 1944 ernannte mich Hitler persönlich zum Chef des NS-Führungsstabes des Heeres beim Oberkommando des Heeres.“ (Band II, Blatt 134). Der gefangene Oberst der ehemaligen deutschen Armee, Chevallerie, Bernhard177, schreibt in seinen eigenhändig angefertigten Aussagen vom 9. bis 12. August 1945 über diese Angelegenheit: „In der Zeit vor der Kapitulation war er [Schörner] der engste, wenn nicht sogar der einzige Berater und die einzige Vertrauensperson Hitlers. Hitler vertraute ihm als überzeugten Nationalsozialisten und militärischem Führer vollkommen, so dass er ihm stets die schwierigsten Frontabschnitte anvertraute …“ (Band II, Blatt 140). Maximilian Angelis, ehemaliger Befehlshaber der zweiten Panzerarmee sowie General der Artillerie, sagte im Verhör vom 1. September 1951 aus: „Von politischer Seite kenne ich Ferdinand Schörner als engsten Gehilfen Hitlers, der treu dessen Willen umsetzte sowie die militärischen und politischen Pläne Hitlers realisierte … Schörners Lebenssinn und Aktivitäten waren darauf ausgerichtet, die Befehle Hitlers schnell und genau auszuführen, egal ob sie zweckmäßig waren oder nicht“ (Band II, Blatt 173, 174). Die Truppen und Vernichtungskommandos, die Schörner auf dem vorübergehend besetzten sowjetischen Gebiet Estlands, Lettlands, der Ukraine, der Krim und Moldawiens unterstellt waren, töteten eine große Anzahl der zivilen sowjetischen Bevölkerung. Sie zerstörten massenhaft Industriebetriebe, Transportwege, Bauwerke und andere materielle und kulturelle Schätze. Sie begingen Verbrechen gegen sowjetische Bürger, Diebstähle, konfiszierten das Vieh und Nahrungsmittel von Bürgern und Kolchosarbeitern. Allein im sowjetischen Estland erschossen, quälten und töteten die faschistischen Besatzer während der Besatzung auf verschiedene Arten, darunter auch die Truppen Schörners, ungefähr 30 000 sowjetische Zivilisten. Sie zerstörten die Betriebe zur Schiefer- und Metallbearbeitung völlig, brannten 9200 Häuser nieder und konfiszierten von den Bauern 107 000 Pferde und brachten diese nach Deutschland. Ähnliche Verbrechen wurden von den faschistischen Besatzern unter dem Befehl Schörners auch auf dem Territorium des sowjetischen Lettlands, der Ukraine, Moldawiens sowie der Krim begangen (Band II, Blatt 16, 17, 18, 21, 22, 23, 220–251). Im Zusammenhang mit dem Fall Berlins am 2. Mai 1945 gab Schörner folgenden Befehl an die Soldaten und Offiziere der deutschen Armee heraus, in dem er zu Folgendem aufrief: „Ihr Soldaten der Heeresgruppe ‚Mitte‘: Hitler ist gefallen. Er kämpfte als Märtyrer für seine Idee und seinen Glauben, als Soldat der europäischen Zivilisation bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus. Sein Auftrag und seine
177 Bernhard von der Chevallerie (1902–?), Oberst, Generalstabsoffizier, 1939–1942 Ib bzw. Ia der 21. Infanteriedivision, 1942–1943 stellv. Generalstabschef des XXVIII. Armeekorps, 1943–1944 Chef des Generalstabs des I. Armeekorps, dann des Festungskommandanten Kreta, im Herbst 1944 Chef des Generalstabs des XXXIV. Armeekorps, Oktober 1944 offenbar von jugoslawischen Partisanen gefangengenommen. 1945 in die Sowjetunion überstellt, wo er in Gefangenschaft verstarb.
4.21 Anklage im Untersuchungsvorgang Schörner
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Mission sind das strahlende Vermächtnis für unsere Nachfahren. Wir Überlebenden sind dazu verpflichtet weiterzukämpfen, indem wir sein Testament befolgen und seinen Auftrag beenden …“ (Band II, Blatt 76, 218). Nach der Kapitulation der deutschen Armee am 8. Mai 1945 weigerte sich Schörner, deren Befehle auszuführen. Er setzte den Widerstand gegen die angreifenden sowjetischen Truppen bis zur endgültigen Vernichtung der Heeresgruppe „Mitte“ fort (Band II, Blatt 180). Der als Angeklagter verhörte Ferdinand Schörner bekennt sich in den gegen ihn erhobenen Punkten, mit Ausnahme der Verbrechen gegen sowjetische Zivilisten, schuldig (Band II, Blatt 11, 132, 133, 134, 135). Die verbrecherischen Aktivitäten von Ferdinand Schörner werden durch Beweisunterlagen der Außerordentlichen Staatskommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eroberer und ihrer Komplizen (Band II, Blatt 220–251), durch dokumentierte Beweise (Band II, Blatt 190–218, 252–256) sowie durch die Aussagen der Gefangenen Bernhard Chevallerie (Band II, Blatt 13–148), Andreas Ginsch, (Band II, Blatt 149–156), Max Braun (Band II, Blatt 160–163), Wilhelm Rodde178, (Band II, Blatt 164–167), Maximilian Angelis (Band II, Blatt 171–175), Ewald Kleist (Band II, Blatt 176–183) und Franz Bentivegni (Band II, Blatt 184–187), bestätigt. Auf Grundlage des Dargelegten wird – Schörner, Ferdinand, 1892 in München (Deutschland) geboren, Deutscher mit deutscher Staatsangehörigkeit, akademischer Ausbildung, entstammend einer Polizeibeamtenfamilie, diente in der deutschen Armee seit 1911, von 1941 bis 1945 nahm er am Krieg gegen die UdSSR im Range eines Generalfeldmarschalls teil, in der letzten Zeit war er Kommandeur der Heeresgruppe „Mitte“ – für seine Treue zur nationalsozialistischen Partei und seine Verdienste in diesem Zusammenhang wurde er mit dem goldenen Parteiabzeichen der NSDAP geehrt, für die Teilnahme am Krieg gegen die UdSSR erhielt er von Hitler eine Reihe von Ehrungen, darunter das Ritterkreuz mit Eichenlaub und Brillanten – angeklagt, Befehlsposten in der ehemaligen deutschen Armee inne gehabt zu haben, aktiv an der Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die UdSSR beteiligt gewesen zu sein und internationale Gesetze und Verträge verletzt zu haben. Die ihm unterstellten Truppen und Vernichtungskommandos führten mit seinem Wissen und auf seinen Befehl hin auf dem vorübergehend besetzten Gebiet der Sowjetunion massenhaft Zerstörungen durch, verübten Verbrechen und gingen gewalttätig gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene vor. Das bedeutet Straftaten, die in Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April
178 Wilhelm Rodde (1893–1949), SS-Oberführer und Generalkonsul, kaufmännische Ausbildung in New York, Infanterie-Offizier im 1. Weltkrieg, Freikorps, 1924 Bankrott, 1924–1931 in Brasilien, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1934 Referent in der Dienststelle Ribbentrop, 1935 Beitritt zur SS, seit 1937 im diplomatischen Dienst, 1937–1939 Konsul in Winnipeg, 1939–1944 Leiter des Generalkonsulats in Kronstadt (Rumänien). Seit 1944 in sowjetischer Gefangenschaft, dort verstorben.
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1943 und im Artikel 2 Paragraph 1 a), b) und c) des Gesetztes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland benannt sind. In Übereinstimmung mit den Paragraphen 208 und 225 der Strafprozessordnung der RSFSR unterliegt der Vorgang Schörner, Ferdinand der Begutachtung durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR. Die Anklageschrift wurde am 12. Dezember 1951 in Moskau erstellt. Militärstaatsanwalt der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz Gawriljak Auskunft: 1. Der Angeklagte Ferdinand Schörner befindet sich seit dem 26. Mai 1945 in Gefangenschaft. 2. Sachliche Beweise für den Vorgang sind nicht vorhanden (Blatt 88). Militärstaatsanwalt der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz Gawriljak Personen, die zur Gerichtsverhandlung eingeladen sind: 1. Angeklagter Schörner, Ferdinand – im Gefängnis Butyrka des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR Militärstaatsanwalt der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Sowjetarmee, Oberstleutnant der Justiz Gawriljak Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Blatt 265–273. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
4.22 Protokoll der geheimen Gerichtsverhandlung des Militärkollegiumsdes Obersten Gerichts der UdSSR gegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 11. Februar 1952 Anwesend: Vorsitzender: Generalmajor der Justiz Tschertkow179 Mitglieder: Oberst der Justiz Artjuchow180 Oberst der Justiz Senin181
179 Dimitrij D. Čertkov (1895–1953), Militärjurist, 1944 Ernennung zum Generalmajor der Justiz, 1949 Vorsitzender des Militärtribunals beim Militärbezirk Fernost, dort an der Verurteilung von japanischen Kriegsgefangenen beteiligt, 1952 Jurist beim Militärkollegium beim Obersten Gericht der UdSSR. 180 Nikolaj I. Artjuchov (1924–1983), Militärjurist, 1952–1955 im Rang eines Obersten der Justiz Mitglied des Militärkollegiums beim Obersten Gericht der UdSSR. 181 A. P. Senin (?–?), Militärjurist, 1952–1955 im Rang eines Obersten der Justiz Mitglied des Militärkollegiums beim Obersten Gericht der UdSSR, 1959–1963 Vorsitzender des Militärgerichts der Garni-
4.22 Protokoll der geheimen Gerichtsverhandlung gegen Schörner
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Protokollführung durch Oberleutnant Afanasew, M.182 ohne Anwesenheit von Vertretern der staatlichen Anklage und der Verteidigung. Um 16 Uhr eröffnete der Vorsitzende die Gerichtsverhandlung und erklärte, dass der Vorgang zur Anklage von Schörner, Ferdinand, der wegen Verbrechen nach Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. 4. 1941 sowie nach Artikel 2 Absatz 1 a), b) und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland verhandelt wird. Der Sekretär erläuterte, dass der Angeklagte Schörner, Ferdinand dem Gericht unter Geleit überstellt wurde und bewacht wird. Zeugen wurden für diese Verhandlung nicht vorgeladen. Dadurch, dass der Angeklagte der russischen Sprache nicht mächtig ist, wohnt der Gerichtsverhandlung eine Übersetzerin für Deutsch bei: Potapowa, M. A. Der Vorsitzende informiert die Übersetzerin über ihre strafrechtliche Verantwortung gemäß Artikel 95 des Strafgesetzbuchs der UdSSR für wissentlich falsche Übersetzungen. Zur Bestätigung leistet die Übersetzerin beim Sekretär eine entsprechende Unterschrift. Der Vorsitzende prüfte die Personendaten des Angeklagten, der über sich selbst ausgesagt hatte: „Ich, Schörner, Ferdinand, wurde 1892 in München (Deutschland) geboren. Ich bin deutscher Staatsbürger, verfüge über eine zivile Ausbildung und über eine nicht abgeschlossene Hochschulausbildung. Ich besitze eine höhere militärische Ausbildung und habe die Akademie des Generalstabs abgeschlossen. Ich spreche Italienisch, Französisch und Englisch. Ich kann Russisch lesen, verstehe es aber schlecht. Mein Vater war ein Polizeibeamter im mittleren Dienst (Blatt 89), meine Mutter Hausfrau. Ich bin verheiratet. Meine Frau lebt in Bayern mit drei Kindern im Alter von 22, 20 und 12 [Jahren]. Ich bin parteilos und habe keine Vorstrafen. Ich befand mich seit 1911 im Militärdienst. Mein letzter militärischer Rang war Generalsfeldmarschall, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe ‚Mitte‘. Ich bin im Besitz folgender Auszeichnungen: Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, Ritterkreuz mit Schwertern, Eichenlaub und Brillanten. Im Ersten Weltkrieg wurde ich fünf Mal verwundet und erhielt den Orden „Pour le Mérite“. Ich wurde am 15. Mai 1945 gefangen genommen, einige Tage befand ich mich in amerikanischer Gefangenschaft. Seit dem 15. Juni 1945 sitze ich in Moskau im Gefängnis. Der Haftbeschluss wurde mir am 7. August 1951 vorgelegt. Die Anklageschrift ist mir am 26. Januar 1952 übermittelt worden.“
son Moskau, später Abteilungsleiter bei der Verwaltung Militärtribunale beim Justizministerium der UdSSR. 182 M. V. Afanas’ev (?–?), sowjetischer Offizier, 1952–1960 im Rang eines Oberleutnants (später Majors) des Verwaltungsdienstes Gerichtssekretär beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR.
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Der Vorsitzende benennt die Zusammensetzung des Gerichts, nennt den Sekretär und die Übersetzerin und erläutert dem Angeklagten seine Rechte in der Gerichtsverhandlung. Angeklagter: „Zur Zusammensetzung des Gerichts sowie zum Sekretär und der Übersetzerin erhebe ich keinen Einspruch. Ich habe meine Rechte während der Verhandlung verstanden. Derzeit habe ich keinen Antrag an das Gericht.“ Gerichtliche Untersuchung Der Vorsitzende verliest die Anklageschrift und erläutert dem Angeklagten den Kern der erhobenen Vorwürfe. Angeklagter: „Die erhobene Anklage habe ich verstanden. Ich bekenne mich schuldig, möchte aber dem Gericht einige Anklagepunkte erläutern.“ Aussage des Angeklagten „Ich bestätige meine Teilnahme an der Niederschlagung der Sowjetmacht in Bayern und der Niederschlagung der revolutionären Bewegung im Rheingebiet.183 Ich bitte aber das Gericht zu beachten, dass ich zu diesem Zeitpunkt nur Kompaniechef war und dazu verpflichtet, die Befehle auszuführen, die vorgesetzte Stellen erteilten. Politische Aktivitäten führte ich überhaupt nicht aus. Ich handelte als Soldat. Ich bekenne mich auch schuldig in dem Anklagepunkt, die Schüler an der Militärschule von Dresden im Geist des Revanchismus, Militarismus und Chauvinismus ausgebildet zu haben. 1935 hatte ich direkten Anteil an der Schließung eines Militärbündnisses mit Italien und an der Ausarbeitung gemeinsamer Kriegspläne. Hierfür bekenne ich mich schuldig. Als Kommandeur eines Regiments hatte ich unmittelbaren Anteil an der Eroberung Österreichs und der Tschechoslowakei und als Kommandeur einer Division an der Eroberung Frankreichs und Griechenlands. In beiden Fällen führte ich aber nur die Befehle des Oberkommandos aus. Ich bekenne mich aber nicht schuldig im Sinne der Anklage, an Erschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen im Gebiet von Murmansk beteiligt gewesen zu sein. Die 6. Gebirgsdivision, die ich damals befehligte, traf im Oktober 1941 im Gebiet Murmansk ein. Die Division führte eine längere Zeit keine aktiven Angriffe durch, wodurch sie auch kaum Gefangene hatte. Ich erinnere mich, dass damals die Division in einem Monat lediglich zwei oder drei Personen gefangen nahm, die alsbald dem Stab meines Korps überstellt wurden.
183 Gemeint sind die Münchener Räterepublik bzw. der Ruhraufstand von 1920, an deren Niederschlagung auch das Freikorps Epp bzw. die Reichswehr-Schützen-Brigade 21 beteiligt waren.
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Kein einziger Soldat meiner Division war im Gebiet von Barkino, wo sich der Stab unseres Korps befand, das von General Dietrich184 befehligt wurde, der ein sehr ehrenhafter Mensch war. Es fanden überhaupt keine Strafaktionen von Truppen des Korps statt. Wenn es solche Fälle gegeben hätte, so wäre es nicht nötig gewesen, Truppen aus dem Frontgebiet abzuziehen, denn bei Barkino lagen viele andere Militäreinheiten. In der Stadt Barkino befanden sich die örtliche finnische Kommandantur und ihr operativer Stab. Ich bat bei der Untersuchung darum, Leute zu befragen, die dort damals gearbeitet hatten, und nannte Familiennamen von Zeugen, aber eine entsprechende Prüfung wurde mir abgeschlagen. Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Fall, bei dem sowjetische Kriegsgefangene erschossen wurden. 1942 war ich bereits Kommandierender General eines Korps und damals hatten wir sehr viele sowjetische Gefangene. Wenn das Gericht irgendjemand von ihnen verhören würde, so hätten sie zweifellos die gute Behandlung durch die deutschen Soldaten und das Kommando bestätigt. Die Kriegsgefangenen wurden mit allem Nötigen versorgt: normale Lebensmittelversorgung sowie medizinische Betreuung. Ihnen wurden regelmäßig Zeitungen zur Verfügung gestellt usw. Ich bin mutig genug zu behaupten, dass dieser Anklagepunkt nicht der Wahrheit entspricht. In den letzten sieben Jahren, die ich im Gefängnis gesessen habe, konnte das Oberste Gericht diese Fakten überprüfen. Ich äußere mich dazu hier nicht nur, weil die Erschießung von sowjetischen Gefangenen ein Verbrechen ist, sondern, weil es für mich eine Frage der Ehre darstellt.“ Auf die Frage des Vorsitzenden antwortete der Angeklagte: „Zum Chef des NS-Führungsstabes des Heeres im OKH wurde ich vom Leiter des Heerespersonalamts befördert. Den Befehl für diese Ernennung hatte Hitler unterzeichnet. Diesen Posten hatte ich lediglich zwei Wochen inne und habe deshalb so gut wie keine praktische Tätigkeit durchgeführt. Ich arbeitete lediglich eine Direktive zur nationalsozialistischen Erziehung der Soldaten aus. Nach der Beförderung auf diesen Posten hatte ich ein Gespräch mit Hitler, in dem ich ihm mitteilte, dass ich theoretisch nicht für die Aufgabe der Erziehung der Armee vorbereitet sei und dass ich an der Front bleiben möchte. Dieser Umstand sowie die missliche Beziehung zu Keitel waren die Gründe für meine kurzzeitige Übernahme dieses Postens. Ich war ein überzeugter Nationalsozialist und war stets bemüht, alle operativen und militärischen Pläne Hitler auszuführen, aber ich war niemals sein Berater. Nachdem ich von der Position des Chefs des NS-Führungsstabes des Heeres abgesetzt worden war, wurde ich zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe ‚A‘ ernannt.
184 Hier ist dem Protokollanten offensichtlich ein Fehler unterlaufen. Kommandierender General des Gebirgs-Korps Norwegen, dem die 6. Gebirgs-Division unterstand war General der Gebirgstruppe Eduard Dietl.
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Diese befand sich auf der Krim. Diese Berufung war eine ganz normale Versetzung innerhalb des Dienstes. Ja, ich genoss bei Hitler in den letzten Jahren und sogar in den letzten Monaten ein großes Ansehen. Ich habe die Akten der Außerordentlichen Staatlichen Kommission mehrmals gelesen und erkenne diese Dokumente wieder. Bevor ich sie aber zu Gesicht bekam, wusste ich nichts von den dort genannten Verbrechen, die durch deutsche Truppen verübt worden waren. Als Militärhistoriker halte ich sie für die schlimmsten Verbrechen in der Kriegsgeschichte. In dem Dokument der Außerordentlichen Kommission über die Verbrechen in Estland werde ich gemeinsam mit meinem Vorgänger Model genannt. Vor ihm gab es aber noch zwei weitere Oberbefehlshaber. Ich weiß nicht, wie viel Zeit zwischen dem Kommando von Model und meinem bei der Heeresgruppe ‚Nord‘ lag, aber ich weiß genau, dass unter meiner Führung die deutschen Truppen bereits jenseits der Grenzen Estlands standen. Ich bat darum, die Untersuchung der Verbrechen, für die meine Truppen verantwortlich waren, zu konkretisieren, denn es ist unmöglich, sich für alle diese schrecklichen Verbrechen schuldig zu bekennen. Als Beweis kann ich auf meine schriftlichen und mündlichen Befehle verweisen, in denen ich über die guten Beziehungen zu den Kriegsgefangenen sprach. Des Weiteren kann ich die Urteile des Militärgerichts anführen, die deutsche Soldaten für solche Übergriffe erhielten. Ich war immer stolz auf die Disziplin in meinen Truppen. Ich war nur hart in meinen Forderungen, wenn Soldaten, Kriegsgefangene oder die Zivilbevölkerung gegen meine Befehle und gegen die Disziplin verstießen. Ich war der Meinung, dass Truppen, die Verbrechen begehen, der Kommandogewalt ihrer Befehlshaber entgleiten können, und deswegen hielt ich unter meinen Truppen eiserne Disziplin. Für meine Härte und meine Ansprüche wurde ich von den Truppen nicht geliebt.“ Um 17.10 Uhr erteilte der Vorsitzende eine Pause. Um 18.10 Uhr wurde die Gerichtsverhandlung fortgesetzt. Angeklagter: „Ich möchte noch etwas zum Anklagepunkt bezüglich Verbrechen auf dem Gebiet Kurlands (Lettland) erläutern. Ich war sehr viel zwischen den einzelnen Einheiten der Korps unterwegs und hätte über Verbrechen Bescheid wissen müssen, wenn sie von meinen Soldaten verübt worden wären. In diesem Gebiet hielten sich auch SS-Truppen und die Polizei auf. Sie waren ebenfalls in der Lage, Verbrechen zu begehen. Die Truppen, die mir unterstellt waren, kämpften auf einer Länge von 100 km an der Front. Die Bedingungen waren sehr schwierig, und manchmal war eine Woche nötig, damit meine Befehle zu den Einheiten gelangten. Aber ich betone noch einmal, dass ich auf dem Gebiet Lettlands meine Truppen fest unter Kontrolle hatte.
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Alle meine Kommandeure waren ordentliche Leute, und ich weiß ganz genau, dass es im Gebiet Kurland durch die deutschen Truppen keine Verbrechen gegeben hat. Falls es sie doch gegeben hat, dann war das vor meiner Zeit als Truppenoberbefehlshaber in diesem Bereich. Ich weiß nicht, ob ich dafür die Verantwortung zu tragen habe. Als ich in das Gebiet der Stadt Jassa einrückte, hatten die deutschen Truppen bereits die Krim und Odessa verlassen. Bessarabien gehörte zu diesem Zeitpunkt zu Rumänien und hier war viel rumänische Polizei stationiert, die Verbrechen hätte begehen können. Davon weiß ich aber nichts. Ich weiß auch nichts über irgendwelche Verbrechen, die in der Ukraine bei Nikopol begangen wurden. Ich möchte für meine Soldaten einstehen, diese trifft keine Schuld. Wenn es Verbrechen gab, so wurden sie von SS-Truppen durchgeführt. Ich hatte deswegen auch Auseinandersetzungen mit dem Kommandeur der SS-Truppen, Gruppenführer Treis185, der auf meinen Antrag hin von diesem Posten entbunden wurde. Im Mai 1943 war ich in Simferopol. Die deutschen Truppen zogen sich schon von der Krim zurück. Hier kann ich auch nichts über Verbrechen berichten. Diese Truppen wurden damals meinem Befehl entzogen und unterstanden direkt dem Oberkommando des Heeres. Mit meinem Aufruf zur Fortsetzung des Widerstands wandte ich mich nur an die Soldaten und Offiziere der Heeresgruppe ‚Mitte‘. Ich denke, dass jeder andere Befehlshaber an meine Stelle in diesem kritischen Moment die gleiche Entscheidung getroffen hätte. Die Initiative, sich an die Soldaten mit einem Aufruf zu wenden, ging von Dönitz aus, der sich entsprechend an das deutsche Volk und die Soldaten gewandt hatte. Mein Aufruf entsprach inhaltlich dem von Dönitz. Den Kapitulationsbefehl vom 8. Mai 1945 führte ich nicht aus, weil ich dazu keine Möglichkeit hatte. Am 5. Mai 1945 hatte das Oberkommando des Heeres den Befehl ausgegeben, alle Truppen auf die alten deutschen Grenzlinien zurückzuziehen. Ich hielt diese Anweisung für den letzten Befehl. Entsprechend erteilte ich eine Weisung, in der ich die Soldaten dazu aufrief, die Disziplin und Kampffähigkeit bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Während des Rückzuges der Truppen zu den Grenzen traf der Kapitulationsbefehl ein. Solange mein Stab noch Verbindung zu den anderen Einheiten hatte, versuchten wir den Befehl weiterzugeben. Es gab aber keine Möglichkeit mehr ihn umzusetzen, denn keine Kraft war mehr in der Lage, die Soldaten unseren Befehlen zu unterwerfen.
185 Hier dürfte SS-Gruppenführer Karl von Fischer-Treuenfeld gemeint sein, der von Februar bis November 1943 als Befehlshaber der Waffen-SS Russland-Süd und Ukraine amtierte.
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Der Stabschef (General O. von Natzmer186) sagte zu mir, dass wenn wir Lumpen wären, wir den Befehl an alle Abteilungen weitergeben würden, denn ihn auszuführen wäre sowieso unmöglich. Wenn wir das getan hätten, so wären jetzt die Kommandeure der Abteilungen und die untergeordneten Offiziere schuldig. Ich kann nicht unehrlich sein und andere Leute in Gefahr bringen. Ich berichtete darüber an das Oberkommando des Heeres, aber ich erhielt keine Antwort. Die Lage war sehr kritisch. Ich hatte keine Zeit, Entscheidungen zu überdenken, denn sie mussten schnell getroffen werden. Ich versuchte noch zwei Befehle an meine Truppen auszugeben: 1. Alle Angriffe zu beenden, 2. Alle schweren Waffen vor Ort zu übergeben (Artillerie, Panzer usw.). Im Gefängnis bewertete ich mein Verhalten in diesem Moment und kam zu dem Schluss, dass ich richtig gehandelt hatte. Ich bitte Sie lediglich zu berücksichtigen, dass ich nicht den Befehl gegen die Kapitulation erteilte. Den Kapitulationsbefehl überbrachte mir Oberst Meyer, Offizier des Oberkommandos des Heeres187. Ich persönlich traf ihn nicht. Mein Stabschef sprach mit ihm.“ Der Vorsitzende verliest die Aussagen des Angeklagten Schörner, F. (Band I, Blatt 180). Angeklagter: „Ich bedauere es sehr, aber an diese Aussage kann ich mich nicht erinnern. Ich habe Oberst Meyer persönlich nicht getroffen, als er mit dem Kapitulationsbefehl zu mir kam. Meyer kam mit irgendeinem amerikanischen Offizier. Der Stabschef riet mir, nicht mit ihm zu sprechen. Ich erinnere mich daher auch nicht daran, dass ich mit ihnen gesprochen hätte.“ Der Angeklagte antwortete auf die weiteren Fragen des Vorsitzenden: „Am 15. Mai 1945 wurde ich von amerikanischen Truppen festgenommen. Ich hörte, dass einzelne Einheiten, die mir unterstellt gewesen waren, bis zu diesem Tag kämpften. Ich versuchte, diese Kämpfe zu beenden, aber ich hatte schon keine Verbindung mehr zu den Truppen, die sich auf dem Gebiet der Tschechoslowakei befanden. Wäre es möglich gewesen, diesen Truppen einen Befehl zu erteilen, so hätte es auf keinen Fall mehr Widerstand gegeben. Ich schickte ihnen fünf Flugzeuge mit Verbindungsoffizie-
186 Oldwig von Natzmer (1904–1980), Generalleutnant, 1925 Eintritt in die Reichswehr, 1936–1938 Generalstabsausbildung, seit 1938 im Generalstab des Heeres, ab 1941 Stabschef verschiedener Großverbände an der Ostfront, Januar 1945 Stabschef der Heeresgruppe Mitte. Mai 1945 in US-Kriegsgefangenschaft. 187 Wilhelm Meyer-Detring (1906–2002), Oberst, 1925 Eintritt in die Reichswehr, 1936–1938 Generalstabsausbildung, 1939–1942 Generalstabsoffizier in Infanterie-Divisionen, 1942–1944 im Stab des Oberbefehlshabers West, seit 1944 Generalstabsoffizier des Heeres im Wehrmachtführungsstab. 1945–1946 in alliierter Kriegsgefangenschaft.
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ren, aber sie wurden abgeschossen. Mein Prinzip war: keine weiteren Opfer, denn der Krieg ist bereits verloren. Bei der Untersuchung habe ich sofort erklärt, dass ich wahrheitsgemäß aussagen werde, und deswegen habe ich eigenhändige Aussagen für das Kommando der Sowjetarmee verfasst. Ich habe keine Aussage dazu gemacht, dass es durch meine Verweigerung der Kapitulation weitere sinnlose Opfer gegeben hat. Ich habe überhaupt erst bei der Untersuchung davon erfahren, dass meine Truppen nach der Kapitulation weiterkämpften.“ Der Vorsitzende verliest die Aussage des Angeklagten Schörner, F. (Band I, Blatt 181). Angeklagter: „Soweit ich mich erinnere, habe ich so eine Aussage nicht gemacht. Ich werde keine Handlungen zurücknehmen, von denen ich dem Gericht bereits erzählt habe. Ich bekenne mich auch in den Fällen schuldig, in denen mir nicht bekannt war, dass meine Truppen noch nach der Kapitulation kämpften. Wenn dem so war, dann nur bei den Einheiten auf tschechoslowakischem Territorium, denn dorthin bestand überhaupt keine Nachrichtenverbindung mehr. Der Vorsitzende verliest ein Schriftstück der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über die Verbrechen deutscher Truppen in Estland (Band II, Blatt 220–229). Angeklagter: „In diesem Dokument werden schwerste Verbrechen genannt. Ich bat wiederholt bei der vorläufigen Untersuchung darum, meine Schuld im Zusammenhang mit diesen Verbrechen zu konkretisieren und die genauen Gebiete dieser Verbrechen zu nennen.“ Der Vorsitzende verliest ein Schriftstück der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über die Verbrechen deutscher Truppen in Lettland (Band II, Blatt 241 Rückseite). Angeklagter: „Die Schlussfolgerung, wonach ich angeblich verbrecherische Befehle erteilt haben soll, entspricht nicht der Wahrheit. Ich habe meinen Soldaten niemals befohlen, in Lettland Verbrechen zu begehen. Model hat ein Jahr vor mir die Truppen dort befehligt. Ich weiß nicht, was bei ihm dort passiert ist. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mit ihm zusammen in dem Schriftstück der Kommission als Teilnehmer dieser schrecklichen Verbrechen genannt werde. Ich denke doch, dass Euer Ehren bekannt ist, dass ich immer für militärische Ordnung und Disziplin bei meinen Truppen gesorgt habe. Bei der vorläufigen Untersuchung wurde mir gesagt, dass es unwichtig ist, ob ich Befehle für Verbrechen erteilt hätte oder nicht, sondern wichtig sei, ob meine Truppen diese Verbrechen begangen hätten. Aber ich versichere dem hohen Gericht erneut, dass mir überhaupt nichts über solche Verbrechen bekannt ist.“ Der Vorsitzende verliest den Befehl Hitlers (Band II, Blatt 190–191).
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Angeklagter: „Ich wurde durch den Chef des Heerespersonalamts auf den Posten des Chefs des NS-Führungsstabes des Heeres beordert, den Befehl aber hatte Hitler unterschrieben. Auf Basis dieses Befehls arbeitete ich eine Direktive für die Truppen zur nationalsozialistischen Erziehung beim Heer aus. Diese Direktive befindet sich in meiner Akte (Band II, Blatt 212–216). In dieser Position befand ich mich lediglich zwei Wochen lang.“ Der Vorsitzende verliest „Aufruf an die Soldaten“ (Band II, Blatt 218). Angeklagter: „Ich habe diesen Aufruf verfasst, wobei ich vom Befehl des Oberkommandos des Heeres ausging. Als Grundlage verwendete ich den Aufruf von Dönitz. Das hätte aus meiner Sicht jeder Kommandeur an meiner Stelle getan.“ Der Vorsitzende verliest die Zeugenaussage von Chevallerie (Band II, Blatt 140–141). Angeklagter: „Diese Aussagen sind merkwürdig fantastisch. Ich kenne Chevallerie sehr gut, aber er konnte vom Inhalt meines Gesprächs mit Hitler nichts wissen, denn im Oktober 1944 geriet Chevallerie in Gefangenschaft. Vorher diente er als Stabschef der deutschen Truppen auf der Insel Kreta. Ich habe ihm persönlich nichts über meine Gespräche mit Hitler gesagt. Außerdem gab es solche Gespräche zwischen mir und Hitler gar nicht. Chevallerie sagt weiterhin aus, dass ich eine Reihe von Anweisungen zur nationalsozialistischen Erziehung ausgegeben habe, dabei war es nur eine. 1944 war ich wirklich bei Hitler. Er verlangte einen Bericht über die Lage an der Ostfront. Solche Berichte hatte ich schon einige Male vorher abliefern müssen. Es waren meistens eine große Anzahl von Generalen zugegen sowie Mitarbeiter von Hitlers Stab. Nach dem Bericht setzten sie die Besprechungen fort, an denen ich nicht mehr teilnahm. Ich leugne nicht, überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein, aber ich erkläre entschieden, dass ich niemals Berater Hitlers war. Es ist wahr, dass er mich als Militärexperten schätzte. Wir hatten aber niemals eine enge zwischenmenschliche Beziehung, denn Hitler war ein sehr willensschwacher Mensch und hatte Angst vor anderen Menschen, die Einfluss auf ihn ausüben könnten. Der nationalsozialistischen Partei Deutschlands bin ich nie beigetreten. Das goldene Abzeichen der NSDAP wurde mir als militärische Auszeichnung verliehen. Solche Auszeichnungen erhielten viele Generale, darunter auch Jodl und Dönitz. Die Abzeichen, die wir erhielten, waren nicht nummeriert, sowie auch damals die Abzeichen der Mitglieder der NSDAP nicht nummeriert waren.“ Der Vorsitzende verliest die Aussage des Zeugen Ginsch, A. (Band II, Blatt 149–153). Angeklagter: „Ich weise die Aussagen des Zeugen Ginsch zurück. Als Grundlage meiner Beweisführung kann dienen, dass meine Division im Dezember 1941 an der finnisch-russischen Front nicht über eine so große Anzahl von Gefangenen verfügte.
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Hätte es Fälle gegeben, in denen meine Soldaten sowjetische Gefangene erschossen hätten, so hätte ich davon gewusst. Außerdem hätten davon auch viele Soldaten und Offiziere wissen müssen, die damals in dieser Division gedient haben und von denen sich möglicherweise jetzt ein Teil in russischer Gefangenschaft befindet. Außer dem Zeugen Ginsch, den ich überhaupt nicht kenne, hat niemand eine Aussage zu diesem Vorfall gemacht, obwohl diese Division aus dem 91., 143. und 141. Regiment bestand. Ginsch gehörte dem 141. Regiment an, wie er selbst ausgesagt hat.“ Der Vorsitzende verliest die Aussage des Zeugen Braun, M. (Band II, Blatt 160–162). Angeklagter: „Ich kenne diese Aussagen, aber ich hoffe, dass das Gericht sie nicht in die Urteilsfindung einbezieht, denn Braun selbst war einer der größten deutschen Kriegsverbrecher und seine Aussagen sind falsch.“ Der Vorsitzende verliest die Aussagen des Zeugen Rodde, W. (Band II, Blatt 164). Angeklagter: „Euer Ehren, ich denke, dass Militärs verstehen, dass man einen hohen Dienstrang nicht ohne Strenge ausüben kann. Ich wusste nicht, dass man mich „Blutiger Ferdinand“ nannte. Meinen Untergebenen war bekannt, dass sie mir immer ihre Meinung sagen konnten. Ich hatte aber etwas gegen Leute, die ein negatives Verhältnis zu ihrer Dienstpflicht hatten. Gegenüber solchen Leuten war ich erbarmungslos.“ Der Vorsitzende verliest die Aussagen des Zeugen Angelis, M. (Band II, Blatt 173–174). Angeklagter: „Die Aussagen von Angelis stimmen nicht. Angelis war mir unterstellt. Er befehligte die 6. Armee bei Stalingrad188 und die 2. Armee auf dem Balkan. Ich war niemals Berater Hitlers, aber ich führte seine Befehle immer genau aus. Angelis hat ausgesagt, dass ich angeblich Befehle Hitlers auch dann umsetzte, wenn sie unzweckmäßig waren. Er vergisst dabei allerdings, dass ich ohne Befehl Hitlers die Truppen von der Krim und Odessa evakuierte. Hitler war darüber sehr ungehalten. Angelis ist ein guter und ordentlicher Mann, aber er hat ein schlechtes Gedächtnis. Ich bestreite nicht, dass Eisenbahnbrücken und Gleise, Wege und Fähren von den deutschen Truppen zerstört wurden. Das geschah aber nur aus militärischer Notwendigkeit. In dieser Hinsicht sind die Aussagen von Angelis ebenfalls falsch, denn er übernahm die Führung der Armee im Gebiet von Odessa, als ich mit meinen Truppen nicht in der Lage war, die genannten Objekte im Gebiet von Majkop zu zerstören.“ Der Vorsitzende verliest die Aussagen des Zeugen Kleist, E. (Band II, Blatt 181–182).
188 Hier irrt Schörner, die 6. Armee wurde in Stalingrad von Paulus geführt, Angelis übernahm die neu aufgestellte 6. Armee erst Ende 1943.
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Angeklagter: „Der Zeuge Kleist kommt zu falschen Ergebnissen. Wenn ich wirklich das vollständige Vertrauen Hitlers genossen hätte, dann hätte ich mich ständig in seiner Nähe aufhalten müssen. Ich gehörte aber nicht zu dieser Personengruppe, die Hitler umgab. Davon zeugen meine Berichte an Hitler, die die sowjetischen Truppen möglicherweise besitzen. Ich war ungefähr zehn Mal bei Hitler, um Berichte abzuliefern, und er war nicht immer mit mir zufrieden.“ Auf weitere Fragen der Mitglieder des Gerichts antwortete Schörner: „Ja, ich war ein Anhänger Hitlers in Bezug auf einen Krieg mit Russland. Ich erfüllte immer seine Befehle, allerdings nur dann, wenn ich auch von ihrer Richtigkeit überzeugt war. Über einzelne Militärmaßnahmen und Operationen hatten Hitler und ich unterschiedliche Ansichten. Wie mir die Mehrzahl meiner Unterstellten ins Gesicht sagte, sei es unter den gegebenen Umständen nicht möglich, den Befehl über die Kapitulation ausführen. Ich hielt es deshalb nicht für richtig, einen solchen Befehl zu geben. Ich gehe davon aus, dass die Truppen nicht meiner Anweisung zur nationalsozialistischen Erziehung folgten, denn als die Direktive zu ihnen gelangt war, hatte ich bereits den Posten gewechselt. Ich bin der Meinung, dass man für die Erfüllung eines jeglichen Befehls jemanden benötigt, der die Umsetzung dieser Anweisung fordert. Ich persönlich habe mich bei meinen späteren Dienststellungen im Heer von den Ideen dieser Direktive leiten lassen. Ich gebe zu, dass der Befehlshaber für die Handlungen seiner Truppen verantwortlich ist, sogar dann, wenn er nichts von diesen Handlungen weiß. Ich überlasse es dem Ermessen des Gerichts meine Verantwortung für Handlungen deutscher Truppen im Baltikum festzustellen, die dort vor meiner Ankunft geschahen. Ich habe keine Befehle zur Zerstörung von Objekten erteilt, wenn es militärisch nicht erforderlich war. Ich war niemals Mitglied der nationalsozialistischen Partei Deutschlands, denn ich war mein gesamtes Leben lang im Militärdienst. Ich habe mich mit der Kriegsgeschichte befasst und bin deswegen der Meinung, dass die Verbrechen, die deutsche Truppen an sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung begangen haben, die schlimmsten in der Menschheitsgeschichte sind.“ Auf die Frage des Vorsitzenden antwortete Schörner: „Ich möchte dem Gericht noch einmal bestätigen, dass ich niemals Berater Hitlers war. Wenn Offiziere, die mich kannten, gehört hätten, dass ich mich als Berater Hitlers bezeichne, hätten sie mich nur ausgelacht. Ich kann der Gerichtsuntersuchung nichts weiter hinzufügen.“ Der Vorsitzende verkündet die Gerichtsuntersuchung als beendet und gewährt dem Angeklagten das letzte Wort.
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Schlussworte des Angeklagten: „Ich habe an zwei großen Kriegen teilgenommen. Ich musste oft, besonders aber im Ersten Weltkrieg, mein Leben für die Erfüllung meiner dienstlichen Pflichten riskieren. Nun bin ich alt und man hält mich für einen Verbrecher, weil ich meine Pflicht erfüllt habe. Die Herren Richter sind ebenfalls Militärs und ich hoffe, dass Sie mich richtig verstehen werden. Das hohe Gericht versteht, dass es in Deutschland eine starke nazistische Propaganda gab, so dass es selbst uns Oberbefehlshabern unmöglich war, einen anderen Weg zu wählen, als den, den Hitler für Deutschland vorgesehen hatte. In den sieben Jahren, die ich nun bereits im Gefängnis sitze, habe ich alles verstanden. Mir fällt es schwer, anzuerkennen, dass ich mein gesamtes Leben umsonst gearbeitet habe, und dass ich neben anderen Schuld daran habe, dass sich das deutsche Volk nun ein einer so schwierigen Lage befindet. Ich trage auch Schuld daran, dass Russland in diesen Krieg mit hineingezogen wurde und dessen Völker so hohe Opfer davontrugen. Ich bitte das Hohe Gericht, den Unterschied zwischen einem Menschen anzuerkennen, der Verbrechen unbewusst beging und einem Verbrecher, der weiß, dass er Verbrechen begangen hat. Während meines gesamten Militärdienstes habe ich versucht, meinen Untergebenen das Gefühl von Gerechtigkeit und Humanität zu vermitteln. Ich weiß nicht, welche Haltung das Hohe Gericht zu den Zeugenaussagen hat, dennoch möchte ich hinzufügen, dass ich in meinen Truppen ein höheres Ansehen genoss, als es die Zeugen ausgesagt haben. Ich hätte kein Interesse daran in meine Heimat zurückzukehren, wenn ich dort nicht Familie hätte, die ich bereits neun Jahre lang nicht gesehen habe. Mein jüngstes Kind sah ich zum letzten Mal, als es drei Jahre alt war. Für mich ist das die schlimmste Strafe. Wenn mir das Hohe Gericht die Möglichkeit geben würde, meine Familie wiederzusehen und mich um sie zu kümmern, so bitte ich darum. Das Gericht zieht sich eine Viertelstunde lang in das Beratungszimmer zurück. Um 22.20 Uhr verliest der Vorsitzende nach der Rückkehr aus dem Beratungszimmer, das Urteil des Militärkollegiums, erläutert es dem Angeklagten und erklärt die Gerichtsverhandlung für beendet. Vorsitzender: Tschertkow Sekretär: Afanasew Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Blatt 279–290. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
4.23 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSRgegen Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 11. Februar 1952 Urteil Im Namen der UdSSR Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Bestehend aus: Vorsitzender – Generalmajor der Justiz Tschertkow Mitglieder: Oberste der Justiz Astachow und Senin Sekretär: Oberleutnant Afanasew In der geschlossenen Gerichtsverhandlung in Moskau wurde am 11. Februar 1952 folgende Anklage verhandelt: Schörner, Ferdinand, 1892 in München geboren, Deutscher mit höherem Bildungsabschluss, verheiratet, ehemaliger Generalfeldmarschall der deutschen Armee, angeklagt für Verbrechen gemäß Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. 4. 1943 sowie gemäß Artikel 2 Absatz 1 a), b) und c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland. Durch die vorangegangene Gerichtsuntersuchung wurde festgestellt: Schörner, der Berufsoffizier der deutschen Armee war und Kommandoposten inne hatte, beteiligte sich von 1941 bis 1945 unter Verletzung internationaler Gesetze und Verträge aktiv an der Vorbereitung und Durchführung eines verbrecherischen Krieges gegen die UdSSR. Von 1939 bis 1940 hatte Schörner als Regimentskommandeur Anteil an der Eroberung Österreichs und der Tschechoslowakei. Als Divisionskommandeur war er am Angriff auf Frankreich und der Besetzung Griechenlands beteiligt. Im Oktober 1941 gelangte er in den Raum Murmansk, um sowjetisches Gebiet zu besetzen. Anfangs befehligte er eine Division, anschließend ein Korps, das Militär operationen durchführte und dabei ungeschriebene Kriegsbräuche verletzte. Danach befehligte Schörner eine Armee im Gebiet von Nikopol. Im März 1944 wurde Schörner von Hitler zum Chef des NS-Führungsstabes des Heeres beim Oberkommando des Heeres ernannt. Auf diesem Posten arbeitete Schörner eine Anweisung zur nationalsozialistischen Erziehung der deutschen Truppen im Geist des Hasses gegen die Völkerschaften der Sowjetunion aus. Anschließend befehligte Schörner die Heeresgruppen Süd, Nord sowie die Heeresgruppe Kurland. Von Januar 1945 bis zur Kapitulation Deutschlands war er Oberkommandierender der Heeresgruppe Mitte.
4.23 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR
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Für die Umsetzung der Pläne Hitlers zur Führung eines Eroberungskrieges gegen die UdSSR wurde Schörner zum Generalfeldmarschall ernannt und erhielt hohe Auszeichnungen. Die Truppen, die Schörner unterstellt waren, töteten auf dem zeitweilig besetzten sowjetischen Gebiet Estlands, Lettlands, der Ukraine, auf der Krim und in Moldawien eine große Anzahl sowjetischer Bürger, zerstörten in großem Umfang Industriebetriebe, Transportwege sowie materielle und kulturelle Güter, begingen Diebstahl, konfiszierten Vieh sowie Nahrungsmittel in den Dörfern. Im Zusammenhang mit dem Fall von Berlin am 2. Mai 1945 erließ Schörner einen Aufruf an die Soldaten und Offiziere der Heeresgruppe Mitte, den Kampf gegen die Bolschewiken fortzusetzen. Am 8. Mai 1945 weigerte er sich, die Kapitulation anzunehmen, und setzte den Widerstand gegen die sowjetischen Truppen bis zur völligen Vernichtung der Heeresgruppe Mitte fort. Die Verbrechen Schörners und die Verbrechen seiner Truppen in Estland und Lettland werden durch das Material der Außerordentlichen Staatlichen Kommission bestätigt. Des Weiteren werden sie durch die Aussagen der Zeugen Chevallerie, Braun, Rodde, Angelis und Kleist sowie anderer bestätigt, gleichfalls durch die Dokumente und eigenen Aussagen von Schörner. Schörner wird für schuldig befunden, Verbrechen gemäß Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. 4. 1941 sowie gemäß Artikel 2 Absatz a), b), c) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland begangen zu haben. Entsprechend Artikel 319 und 320 der Strafprozessordnung der RFSSR fällt das Militärkollegium folgendes Urteil: Schörner, Ferdinand wird auf der Grundlage von Artikel 2 a) und Artikel 3 a) des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland zu einem Freiheitsentzug im Zwangsarbeitslager von 20 Jahren verurteilt, er wird auf der Grundlage des Artikels 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 auf Grund der Gesamtheit der begangenen Verbrechen zu 25 Jahren Freiheitsentzug im Zwangsarbeitslager sowie zur Konfiszierung seines Besitzes verurteilt. Beginn der Strafverbüßung ist der 7. August 1951. Das Urteil ist endgültig und unterliegt nicht der Berufungsmöglichkeit. Vorsitzender: Tschertkow Mitglieder: Artjuchow, Senin Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Blatt 291–293. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
4.24 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSRgegen Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 21. Februar 1952 Urteil Im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Vorsitzender – Generalmajor der Justiz Tschertkow Mitglieder: Oberst der Justiz Senin und Oberst der Justiz Artjuchow unter Anwesenheit des Sekretärs Oberleutnant Afanasew hat in einer geschlossenen Sitzung in Moskau am 21. Februar 1952 die Strafsache gegen den Angeklagten: Kleist, Ewald, geboren 1881 in Braunfeld, Hessen, Deutscher, verheiratet, ehemaliger Generalfeldmarschall der deutschen Armee geprüft. Er ist für Verbrechen nach folgenden Artikeln angeklagt: Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, Paragraf 1 a bis c des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in Deutschland. Durch Gerichtsuntersuchungen wurde Folgendes festgestellt: Ende 1940 stellte Kleist auf Befehl des faschistischen Kommandos Panzereinheiten und motorisierte Truppen für den bevorstehenden Krieg mit der UdSSR zusammen. Im Februar 1941 wurden ihm drei Panzerkorps unterstellt. Er begann dann, konkrete Pläne zum Überfall auf die Sowjetunion auszuarbeiten. Hierfür bildete er eine Panzergruppe und stationierte diese auf polnischem Territorium ca. 15–30 Kilometer von der sowjetischen Grenze entfernt. Am 23. Juni 1941, dem zweiten Tag des heimtückischen Überfalls des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion, drang Kleist mit seinen Truppen auf sowjetisches Territorium vor. Von Juni 1941 bis April 1944 nahm Kleist als Oberbefehlshaber der Panzergruppe 1, dann der 1. Panzerarmee und anschließend der Heeresgruppe A an der Eroberung sowie Besetzung der Ukraine, des Nordkaukasus, des Gebiets von Krasnodar, der Sowjetrepublik Kabardino-Balkarien, der sowjetischen Moldau und der Krim teil. Die Truppen, die Kleist auf dem zeitweise besetzten Gebiet unterstanden, begingen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, zerstörten Betriebe, Transportwege, Gebäude sowie weitere materielle und kulturelle Werte, ohne dass dafür militärische Gründe vorgelegen hätten. Sie stahlen und konfiszierten Vieh sowie Nahrungsmittel bei der Bevölkerung sowie in den Kolchosen. Strafkommandos der regulären Truppen, die Kleist Befehl unterstanden, liquidierten eine große Anzahl von Zivilisten. Allein im Gebiet von Krasnodar töteten die faschistischen Besatzer, darunter auch unter dem Befehl von Kleist stehende Truppen, mehr als 61 000 friedliche Sowjetbürger, zerstörten mehr als 63 000 Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe, raubten
4.24 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts gegen Kleist
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in den Kolchosen und bei der Bevölkerung mehr als 500 000 Stück Vieh, zündeten Dutzende Eisenbahnstationen an und zerstörten viele Schulen, Krankenhäuser und Kindereinrichtungen. Ähnliche Verbrechen begingen die faschistischen Besatzer unter der Führung von Kleists in anderen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Auf der Krim ging die 17. Armee, die Kleist unterstand, verbrecherisch gegen Partisanen vor. Es wurden sogenannte „Todeszonen“ in den Gebieten eingerichtet, in denen Partisanen aktiv waren. Die Verbrechen Kleists sind durch das Material der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Untersuchung von Verbrechen der faschistischen Eroberer bewiesen, welches Aussagen von mehr als 20 deutschen Kriegsgefangenen enthält: [es folgt die Aufzählung der Namen – die Herausgeber]. Außerdem enthält das Material Aussagen von Augenzeugen und Opfern unter den Sowjetbürgern: [es folgt die Aufzählung von Namen – die Herausgeber], insgesamt 28 Personen. Kleist wird für Verbrechen nach folgenden Gesetzen für schuldig befunden: Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, Paragraf 1 a bis c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollratsgesetzes in Deutschland sowie nach den Artikeln 319 und 320 des Strafgesetzbuches der UdSSR. Das Militärkollegium des Obersten Gerichts verurteilt Kleist, Ewald auf Grundlage des Artikels Nr. 2, § 3 Abschnitt c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats in Deutschland zu 25 Jahren Freiheitsentzug und Zwangsarbeit im Lager und zur Konfiszierung seines Besitzes. Er wird ebenfalls auf Grundlage von Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 auf Grund der von ihm begangenen Verbrechen zu Freiheitsentzug und Umerziehung im Arbeitslager zu 25 Jahren Haft verurteilt und sein Besitz wird auch auf Grundlage dieses Gesetzes konfisziert. Die Haftzeit hat am 6. März 1949 begonnen. Das Urteil steht unwiderruflich fest. Hiergegen kann keine Berufung eingelegt werden. Vorsitzender Tschertkow Mitglieder: Senin, Artjuchow Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21185, Bd. 3, Bl. 261–262R. Handschriftliches Original. Russisch.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
4.25 Berufungsklage des verurteilten Generals der Artillerie Helmuth Weidling, Moskau, 29. Februar 1952 Moskau 29. 02. 1952 An das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Übergeben durch das Militärtribunal der Truppen des MGB der UdSSR Entsprechend Artikel 400 der Strafprozessordnung der UdSSR möchte ich gegen das Urteil vom 27. Februar 1952 beim Militärtribunal des Moskauer Bezirks aus folgenden Gründen Berufung einlegen: 1. Die formale Begründung des Urteils entspricht meiner Meinung nach nicht den Fakten. Man klagt mich für Verbrechen an, die ich nicht begangen habe. 2. Das Strafmaß entspricht meiner Meinung nach nicht den Verbrechen, die ich begangen habe. Weidling 4/III. 1952 Übersetzer: Hauptmann Stesnowa189 Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21146, Bd. 2, Bl. 281. Handschriftliches Original. Russisch.
4.26 Gerichtsbeschluss Nr. SP-0077/51 des Militärkollegiums des Obersten Gerichtsder UdSSR im Fall Generalfeld marschall Ferdinand Schörner, Moskau, 9. April 1945 Oberstes Gericht der UdSSR Gerichtsbeschluss Nr. SP-0077/51 Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Die Militärkommission des Obersten Gerichts der UdSSR hat im Bestand: Vorsitz Generalleutnant der Justiz Tschepzow190
189 Anna L. Stesnova (1914–?), Geheimdienstoffizierin, seit 1939 bei der Staatssicherheit, 1943–1946 Untersuchungsführerin bei der 2. Abteilung der „Smerš“, 1946–1948 in gleicher Funktion bei der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB, 1948–1950 Ermittlerin bei der Untersuchungsabteilung des MGB der UdSSR, ab 1950 Übersetzerin bei der 3. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR, 1956 aus dem KGB in die Reserve entlassen. 190 Aleksandr A. Čepcov (1902–1980), Militärjurist, Generalleutnant der Justiz (1949), 1939–1942 Jurist beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 1942–1945 Sektorenleiter bei der Kaderverwaltung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, 1946–1948 stellvertretender Hauptmilitärstaatsanwalt und 1948–1957 Vorsitzender des Militärkollegiums beim Obersten Gericht der UdSSR, dann in die Reserve entlassen.
4.27 Erlass zur Begnadigung Schörners
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Mitglieder: Generalmajor Dimitrijew191 und Generalmajor Zarjanow192 am 9. April 1952 entsprechend Artikel 461 des Strafgesetzbuches der RSFSR die Strafsache Schörner, Ferdinand, verurteilt am 11. Februar 1952 auf Grundlage des Artikels 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und nach Artikel 2 § 3 Abschnitt „c“ des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats in Deutschland zu Freiheitsentzug und Zwangsarbeit im Zwangsarbeitsbesserungslager von 25 Jahren sowie Konfiszierung seines Besitzes, geprüft und nach dem Vortrag von Genosse Zarjanow festgestellt, dass der Verurteilte Schörner, Ferdinand ein besonders gefährlicher Verbrecher ist, der von der Gesellschaft durch strenge Isolationshaft ferngehalten werden muss. Beschluss Auf Grundlage des Artikels 461 der Strafprozessordnung der RSFSR ist in das Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 11. Februar 1952 dahingehend zu ändern, dass der verurteilte Schörner seine Strafe nicht in einem Strafarbeitslager, wie es im Urteil des Militärkollegiums vorgesehen war, sondern im Gefängnis verbüßen soll. Vorsitzender: Tscherpzow Mitglieder: Dmitriew, Zarjanow Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Bl. 296. Handschriftliches Original. Russisch.
4.27 Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Begnadigung des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner, Moskau, 12. April 1952 Antrag zur Begnadigung des ehemaligen Generalfeldmarschall der deutschen Armee Schörner, F. H., verurteilt zu 25 Jahren Straflager und Konfiszierung seines Besitzes vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR am 11. Februar 1952 auf der Grundlage von Artikel 2 Paragraf 3 des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland und auf der Grundlage von Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943.
191 Leonid D. Dmitriev (1893–1968), Militärjurist, in den 1930er Jahren Jurist beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 1941–1942 Vorsitzender des Militärtribunals der Brjansker Front, 1942–1952 im Rang eines Generalmajors der Justiz Jurist beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR. 192 Ivan M. Zarjanov (?–?), Militärjurist, 1938 Jurist beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR., danach u. a. Chef der militärjuristischen Fakultät an der Rechtsakademie der UdSSR, 1952 im Rang eines Generalmajors der Justiz Jurist beim Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Dem Antrag von Schörner, Ferdinand Hans auf Begnadigung und Verkürzung seines Strafmaßes, das durch das Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR am 11. Februar 1952 auf 25 Jahre festgesetzt wurde, wird stattgegeben. Das Strafmaß wird auf zwölf Jahre und sechs Monate verkürzt, da sich Schörner bereits seit dem 26. Mai 1945 in sowjetischer Gefangenschaft befindet. Die Konfiszierung seines Besitzes wird aufgehoben. Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, N. Schwernik193 Sekretär des Präsidiums des Obersten Rats der UDSSR, A. Gorkin194 Moskau, Kreml 12. April 1952 Bestätigt: Gerichtssekretär des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, Oberleutnant Afanasew Notiz von F. Schörner über die Erklärung der Verordnung des Präsidiums des Obersten Rats der UdSSR vom 12. April 1952 und vom 15. April 1952 Mir, Schörner, Ferdinand Hans wurde die Verordnung des Präsidiums des Obersten Rats der UdSSR vom 12. April 1952 mitgeteilt, wonach das Strafmaß, das im Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 11. Februar 1952 insgesamt 25 Jahre Freiheitsentzug beträgt, auf zwölf Jahre und sechs Monate herabgesetzt wurde, unter Einbeziehung der Zeit der Gefangenschaft in der UdSSR seit dem 26. Mai 1945. Die Konfiszierung meines Besitzes wurde revidiert. Schörner, 15. 4. 1952 Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21138, Bd. 2, Blatt 299–300. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
4.28 Richterspruch Nr. SP-0078/51 des Militärkollegiums des Obersten Gerichtsder UdSSR in der Strafsache gegen Generalfeldmarschall Ewald von Kleist, Moskau, 17. April 1952 Oberstes Gericht der Union der SSR Richterspruch Nr. SP-0078/51 Das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR hat im Bestand: Vorsitz Generalleutnant der Justiz Tschepzow Mitglieder: Generalmajor Dimitrijew und Generalmajor Zarjanow
193 Nikolaj M. Švernik (1888–1970), Gewerkschaftsfunktionär, 1946–1953 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, danach Vorsitzender der Parteikontrollkommission und befasst mit Rehabilitierungen. 194 Aleksandr F. Gorkin (1897–1988), Parteifunktionär, Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets, ab 1957 Vorsitzender des Obersten Gerichts der UdSSR.
4.29 Gutachten der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Streitkräfte
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Am 17. April 1952 entsprechend Artikel 461 des Strafgesetzbuches der RSFSR die Strafsache Kleist, Ewald, verurteilt am 21. Februar 1952 auf Grundlage des Artikels 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UDSSR vom 19. April 1943 und nach Artikel 2 § 3 Abschnitt „c“ des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats in Deutschland zu Freiheitsentzug und Zwangsarbeit im Zwangsarbeitsbesserungslager von 25 Jahren sowie Konfiszierung seines Besitzes, geprüft und nach dem Vortrag von Genosse Zarjanow festgestellt, dass der Verurteilte Kleist, Ewald ein besonders gefährlicher Verbrecher ist, der von der Gesellschaft durch strenge Isolationshaft ferngehalten werden muss. Beschluss: Auf Grundlage des Artikels 461 des Strafgesetzbuches der RSFSR ist das Urteil des Militärkollegiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 21. Februar 1952 zu ändern. Der Verurteilte Kleist, Ewald soll seine Strafe nicht im Umerziehungsarbeitslager, wie im Urteil vorgesehen, verbüßen, sondern im Gefängnis. Vorsitzender: Tschepzow Dimitrijew Zyrjanow Quelle: CA FSB Akte Nr. N-21185, Bd. 3, Bl. 266. Handschriftliches Original. Russisch.
4.29 Gutachten der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Streitkräfteder Russischen Föderation Nr. 5ud-1758–95 zur Ablehnung der Rehabilitierung von Helmuth Weidling, Moskau, 16. April 1996 Stellvertretender Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation – Hauptmilitärstaatsanwalt 16. April 1996 Durch das Urteil des Militärtribunals des Moskauer Bezirks vom 27. Februar 1952 auf der Grundlage von Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie von Artikel 2, Paragraph 1, a, b, und c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland vom 20. Dezember 1945 wurde der deutsche Staatsbürger Weidling Helmuth zu 25 Jahren Freiheitsentzug in einem Besserungsarbeitslager verurteilt. Weidling, Helmuth wurde 1891 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geboren, deutscher Staatsbürger mit einem mittleren Bildungsabschluss, General der Artillerie, vor der Kapitulation Deutschlands war er Befehlshaber der Verteidigung Berlins, am 2. Mai 1945 wurde er von sowjetischen Truppen in Berlin gefangen genommen, am 24. August 1951 durch die Untersuchungsorgane des MGB der UdSSR verhaftet.
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4 Kriegsverbrechen und Besatzungspolitik
Das Gericht hat Weidling für schuldig befunden, seit 1912 Kaderoffizier gewesen und an zahlreichen Eroberungskriegen beteiligt gewesen zu sein, sowie seit August 1941 als Teil der deutschen Truppen auf dem eroberten sowjetischen Territorium gewesen zu sein, wo er die Pflichten eines Chefs der Artillerie des 40. Panzerkorps erfüllte. Im Anschluss daran war er Kommandeur der 86. Infanteriedivision und dann Befehlshaber des 41. Panzerkorps. Da er das Vertrauen Hitlers genoss, wurde er im April 1945 zum Befehlshaber der Verteidigung Berlins ernannt. Während sich die Truppen Weidlings auf dem sowjetischen Territorium befanden, begingen sie Verbrechen und zerstörten Städte und Dörfer, was militärisch nicht erforderlich war. Außerdem erschossen sie Politkommissare der Roten Armee sowie Partisanen. Dabei erteilte Weidling selbst den Befehl zur Schaffung einer Zone der „verbrannten Erde“ in dem Gebiet, das die deutschen Truppen beim Rückzug hinterließen.195 Er war darüber hinaus der Initiator zur Bildung einer speziellen Jagdeinheit gegen Partisanen, die gefangenen Partisanen ohne Prozess niedermachte. Außerdem initiierte er die Vernichtung friedlicher sowjetischer Bürger durch die Verseuchung mit Flecktyphus in einem „Todeslager“ bei Osaritschi im Gebiet Polessk. In diesen Lagern starben viele sowjetische Bürger, mehr als die Hälfte davon waren Kinder (aus dem Urteil: Band II, Blatt 270–271). Durch den Erlass des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR Nr. 2–0871 vom 29. März 1952 blieb das Urteil ohne Änderungen in Kraft. Die Berufungsklage des Verurteilten wurde abgewiesen (Band II, Blatt 290). Entsprechend den Gesetzen hatte Weidling als deutscher Kriegsverbrecher seine Strafe in einem Speziallager des MWD der UdSSR abzusitzen (Band II, Blatt 292). Das Rehabilitierungsgesuch der deutschen Botschaft in Moskau für Weidling ist in keiner Weise begründet. Durch die Untersuchung der Strafakte wurde festgestellt, dass Weidling berechtigt zur Verantwortung gezogen wurde und es keinen Grund für eine Rehabilitierung gibt. Im Laufe der vorläufigen Untersuchung und der Gerichtssitzung, hat sich Weidling selbst für schuldig erklärt, indem er bekannte, dass er von September 1941 tatsächlich seinen Militärdienst im besetzten Gebiet der Sowjetunion auf den bereits genannten Posten verrichtete. Gleichzeitig war er auch Militärkommandant der Städte Toropez und Rusa (Gebiete Velikoluksk und Moskau) wo es auf seinen Befehl hin zu Strafaktionen gegen die friedliche Bevölkerung kam (Band II, Blatt 24–26, 32–35, 41–42, 111–115, 137–139, 261–269). Außerdem bestätigte Weidling, dass auf Grundlage der Befehle der deutschen Militärführung seine Soldaten Politkommissare der Sowjetarmee sowie Partisanen erschossen (Band I, Blatt 44, 188–190 196, 197; Band II, Blatt 54–58, 235) und bei der
195 Den Befehlen der Truppenkommandeure zur „verbrannten Erde“ gingen Weisungen des OKW voraus, die Konkretisierung lag allerdings bei den Kommandeuren der Frontabschnitte.
4.29 Gutachten der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Streitkräfte
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Räumung des Gebiets Rschew im März 1943 alle Rückzugswege verwüsteten, Siedlungen sowie Betriebe zerstörten, die Bevölkerung nach Westen vertrieben und Personen, die Widerstand leisteten, erschossen (Band I, Blatt 46, 146–147, 201–204, Band II, Blatt 60–63). Weidling hat zugegeben, den barbarischen Plan zur Tötung sowjetischer Bürger durch die Infektion mit Flecktyphus in speziellen „Todeslagern“ in der Nähe von Osaritschi (Gebiet Polessk) in die Tat umgesetzt zu haben, indem er im März 1944 die Anordnung des Befehlshabers der 9. Armee persönlich an die ihn unterstellten Truppen des 41. Korps weitergab und veranlasste – unter Androhung der Todesstrafe durch Erschießen – alle Typhuskranken sowie andere Sowjetbürger in das Lager zu treiben. Die Mehrheit dieser Menschen starb; einige wurden erschossen (Band II, Blatt 93–97, 252). Die Schuld Weidlings für die ihm zur Last gelegten Vergehen beweisen, neben den persönlichen Bekenntnissen, auch die Unterlagen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission sowie weitere dokumentarische Sachzeugnisse (Band II, Blatt 164– 235, 290 a). Damit wird festgestellt, dass Weidling als faschistischer Eroberer und in den Jahren 1941–1944 als Befehlsgeber für Gewaltverbrechen und Tötungen im Gebiet von Moskau, Welikoluksk und Polessk an der friedlichen Bevölkerung verantwortlich war. Das gilt auch für die Liquidierung von gefangenen Partisanen sowie Soldaten der Roten Armee. Des Weiteren wurden auf seinen Befehl hin Städte, Dörfer und Betriebe zerstört. Weidling hat auf diese Weise Verbrechen nach Artikel 1 des Erlasses des Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 sowie nach Artikel 2, Paragraf 1 a, b und c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland vom 20. Dezember 1945 begangen. Die verhängte Strafe entspricht der Schwere der Schuld. Entsprechend den Artikeln 4, 8 und 9 des Gesetzes der Russischen Föderation „Über die Rehabilitation von Opfern politischer Repressionen“ vom 18. Oktober 1991 ersuche ich hiermit Weidling, Helmuth nicht zu rehabilitieren. Generalleutnant der Justiz W. N. Panitschew196 Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21146, Bd. 2, Bl. 301–302. Handschriftliches Original. Russisch.
196 Valentin N. Paničev (*1941), Militärjurist, 1987–1992 Staatsanwalt des Gebietes Rostov, 1992–1997 im Rang eines Generalleutnants der Justiz Hauptmilitärstaatsanwalt der Russischen Föderation.
5 Judenmord 5.1 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richter1 über die Lösung der Judenfrage in Deutschland, Moskau, 10. Oktober 1944 Schriftliche Aussage des ehemaligen deutschen Polizeiattachés in Rumänien, Richter, Gustav vom 10. Oktober 1944 Lösung der Judenfrage in Deutschland Anfang 1933 lebten ungefähr 450 000 Juden in Deutschland. Die Lösung der Judenfrage kann zeitlich in zwei Abschnitte unterteilt werden: 1. Von 1933 bis 1938 wurden die Juden aus dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands ausgeschlossen. 2. Von 1938 bis 1943 fand die Deportation der Juden aus Deutschland statt. Nachdem die nationalsozialistische Partei 1933 an die Macht gekommen war, wurden die Juden zunächst aus den verschiedenen Ministerien und staatlichen Einrichtungen entfernt. Gleichermaßen wurde mit Juden verfahren, die in Kultur- und Bildungseinrichtungen tätig waren, wie z. B. bei der Presse, im Verlagswesen, beim Theater, Kino, Radio usw. Jüdische Ärzte und Anwälte behielten zunächst ihre Arbeitserlaubnis. Später wurde ihre Betätigung aber stark eingeschränkt, und sie durften nur noch Juden als Patienten oder Klienten annehmen. Während diese Maßnahmen keine nennenswerten Engpässe im kulturellen Leben Deutschlands bewirkten, führte das gleiche Vorgehen in der Wirtschaft zu erheblichen Schwierigkeiten, die gelöst werden mussten. Die Juden wurden daher dort nur dann entfernt, wenn sich Personen fanden, die in der Lage waren, die Arbeit ohne Produktionsverluste fortzusetzen. Dieser Prozess, durch den die Juden aus dem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben des Landes bis 1938 ausgeschlossen wurden, ist unter dem Begriff „Arisierung“ bekannt. Gleichwohl war das jüdische politische Leben keinen Maßnahmen der staatlichen oder politischen Ordnung unterworfen. Es existierten weiterhin
1 Gustav Richter (1912–1997), SS-Sturmbannführer und Diplomat, Jurist, seit April 1932 NS-Schülerbund, 1933 Beitritt zur NSDAP und SS, 1934 zum SD, dort ab 1935 im Referat Judentum des SD-Oberabschnitts Südwest in Stuttgart tätig, 1939 Stellvertreter des Abteilungsleiters, 1940 beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Mülhausen, 1941–1944 „Berater für Judenfragen“ und Polizeiattaché bei der deutschen Gesandtschaft in Bukarest. Nach dem Seitenwechsel Rumäniens am 23. 8. 1944 mit anderen Gesandtschaftsangehörigen an die Rote Armee ausgeliefert und in der Sowjetunion interniert, Ende 1951 als Kriegsverbrecher angeklagt, 1952 von der Sonderversammlung des MGB der UdSSR zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, 1955 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen, 1961 Einleitung eines Verfahrens, u. a. 1969 vor dem Landgericht Frankenthal wegen der Deportation der rumänischen Juden verhört, in dieser Sache Anfang 1982 dort zu 4 Jahren Haft verurteilt.
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verschiedene jüdische Organisationen der Zionisten, der Assimilanten sowie Kulturund Bildungsvereine. Erst 1937 oder 1938 wurde an Stelle der verschiedenen jüdischer politischen Gruppen in Berlin die „Reichsvereinigung der deutschen Juden“ geschaffen. Die Aufgabe dieser Vereinigung bestand in der Interessenvertretung der Juden gegenüber dem Staat2. Anstelle der jüdischen Kultur- und Bildungseinrichtungen wurde in Berlin der „Kulturbund Deutscher Juden“ gegründet. Er sollte die kulturellen Interessen der Juden in Deutschland bedienen.3 1937 wurde per Sondergesetz die jüdische Freimaurerloge „B’nai B’rith“4 aufgelöst. (Ihr Vermögen ging an den Staat über). Auf dem Reichsparteitag in Nürnberg wurden im September 1935 die ersten antijüdischen Gesetze beschlossen. Dabei ging es um folgende Regelungen: a) Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Gesetz zum Rassenschutz); b) Reichsbürgergesetz, das sogenannte „Rassengesetz“. Das erstgenannte Gesetz verbot unter Androhung einer hohen Gefängnisstrafe den intimen Kontakt (Reinhaltung der Rasse) zwischen Juden und Deutschen sowie der deutschen Rasse artverwandten Volksvertretern. Das zweite Gesetz legte die Definition von „Jude“ fest. Anhand dieses Gesetzes wurde bestimmt, wer ein Jude war. Als Volljuden bezeichnete man z. B. eine Person, deren Eltern Juden waren. Ein Halbjude war, wer ein jüdisches Elternteil besaß und beim Inkrafttreten des Gesetzes zur mosaischen Konfession gehörte. 1938 traten Gesetze in Kraft, die die Juden aus dem wirtschaftlichen Leben ausschlossen und dazu führten, dass ihr Lebensstandard extrem abnahm. Im April 1938 wurde ein Gesetz erlassen, welches besagte, dass alle deutschen Juden ihr Vermögen registrieren lassen mussten, das 5000 Mark überstieg (einschließlich Aktien, Immobilien im Ausland und Spareinlagen). Diese Vermögen wurden eingefroren. Juden durften ab diesem Zeitpunkt im Monat nur noch über eine genau festgesetzte Summe verfügen.
2 Die 1933 gebildete Reichsvertretung der deutsche Juden wurde 1938 zum Reichsverband der deutschen Juden umgebildet und 1939 als Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Zwangsorganisation für Juden im Deutschen Reich. 3 1933 als Reaktion auf den Ausschluss jüdischer Künstler gebildet und 1935 zur Zwangsorganisation umgebildet. 4 1843 in New York gegründete Geheimloge, die seit 1882 auch in Deutschland tätig war.
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Nachdem der Jude Grynszpan5 im Herbst 1938 ein Attentat auf den Sekretär der deutschen Botschaft in Paris vom Rath verübt hatte6, legte Göring als Bevollmächtigter für den Vierjahresplan den deutschen Juden eine Strafe von 2 Milliarden Reichsmark auf. (Das gesamte jüdische Vermögen in Deutschland belief sich laut Statistik auf 8 Milliarden Mark.) In einem weiteren Gesetz war außerdem vorgesehen, alle jüdischen Handelsunternehmen, die noch nicht arisiert worden waren, in kürzester Zeit in zuverlässige Hände zu geben. Teilweise wurden sie abgewickelt oder gingen in Staatsbesitz über. Als die Nachricht über den Mord am Botschaftssekretär vom Rath in Deutschland bekannt wurde, organisierte die Partei, auf der Grundlage einer Rede von Goebbels, im ganzen Land eine „Vergeltungskampagne“ gegen Juden und ihren Besitz. Dies führte zur sinnlosen Zerstörung von deutschem Volkseigentum und zu den maßlosesten Exzessen gegen die Juden in verschiedenen Reichsgebieten. In Stuttgart zerschlug die Bevölkerung z. B. die Schaufenster jüdischer Geschäfte und stahl die ausgestellten Waren. In Mannheim wurde ein Jude aus seiner Wohnung geschleppt und die wütende Menge zerriss vor seinen Augen eine echte Wagnerpartitur, die er mitgenommen hatte, obwohl er mahnte, das Original zu verschonen. In Heidelberg wurden aus einem jüdischen Büro im dritten oder vierten Stock Schreibmaschinen auf die Straße geworfen. Die Möbel in jüdischen Wohnungen wurden sinnlos zerstört. Der an zerstörten Fensterscheiben auf Grund dieser Ereignisse entstandene Sachschaden umfasste allein im Südwesten Deutschlands (Saargebiet, Pfalz, Baden und Württemberg) ungefähr 6 Millionen Mark. Am nächsten Tag wurden durch das Eingreifen der Polizei weitere Ausschreitungen verhindert. Kurz darauf erschien eine Anordnung Heydrichs für die Sicherheitspolizei, die einzelne Aktionen verbot, eine solche Verfügung wurde auch für die Partei erlassen. Nachdem der Großteil der jüdischen Bevölkerung durch die Verdrängung aus der Wirtschaft arbeitslos geworden war und teilweise keine Mittel mehr besaß, um überhaupt zu überleben, wurden die Juden als Arbeiter u. a. im Bauwesen und bei der Straßenreinigung eingesetzt. Mit Beginn des Krieges arbeiteten sie sogar in wichtigen Rüstungsbetrieben. Z. B. waren 1942 in verschiedenen Unternehmen in Berlin und Umgebung ungefähr 15 000 Juden eingesetzt.
5 Herschel Grynszpan (1921–1942?), in Hannover geborener polnischer Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1935 über Belgien Emigration nach Frankreich, Anfang November 1938 Nachricht von der Ausweisung seiner Eltern aus Deutschland, aus Protest dagegen am 7. 11. 1938 Attentat auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath, die Tat diente zur Auslösung der Novemberpogrome im Deutschen Reich, 1940 aus französischer Haft an Deutschland übergeben, nach September 1942 wahrscheinlich im Zuchthaus Magdeburg ermordet. 1960 offiziell für tot erklärt. 6 Ernst vom Rath (1909–1938), deutscher Diplomat, Jurist, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1933 zur SA, 1934 Eintritt in den Auswärtigen Dienst, 1935/36 Vorbereitungsdienst an der Botschaft in Paris, 1936–1938 am Generalkonsulat in Kalkutta, Mitte 1938 als Legationssekretär an die deutsche Botschaft in Paris, dort am 7.11. von Herschel Grynszpan angeschossen, erlag zwei Tage später seinen Verletzungen.
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Im Zusammenhang mit zahlreichen Einschränkungen (bestimmte Zeiten für die Erledigung der Einkäufe, für Spaziergänge, Verbot der Nutzung von Straßenbahnen sowie anderen öffentliche Transportmittel), wurde für die Juden im September 1941 ein Erkennungszeichen eingeführt. Alle, die nach den Nürnberger Gesetzen Juden waren, mussten den sechseckigen gelben Stern tragen, in dessen Mitte „Jude“ stand. Eine Ausnahme gab es nur für die Juden, die sich im Ersten Weltkrieg hervorgetan hatten und an der Front mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet worden waren.7 Am 25. November 1941 erschien eine weitere Verordnung, wonach Juden, die im Ausland lebten und dort weiterhin leben würden, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Hierin war weiterhin festgelegt, dass mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft der Besitz dieser Personen auf den deutschen Staat überging. Diese Verordnung wurde im November 1942 auf das Protektorat Böhmen und Mähren ausgeweitet. Am 18. Dezember 1942 wurde vom Auswärtigen Amt in Abstimmung mit dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD ein Erlass an die deutschen Vertretungen im Ausland herausgegeben. Dessen Inhalt betraf den Umgang mit Juden der ersten und zweiten Gruppe (Halbjuden und Vierteljuden) sowie Personen, die in Mischehe lebten. Der Regelung zufolge hatten die Juden der ersten Gruppe, die sich im Ausland aufhielten, zurückzukehren, oder sie würden die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Weiterhin sah die Verordnung für die Juden der zweiten Gruppe vor, dass sie bei Gesetzesverstößen ihre Staatsangehörigkeit, d. h. die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich verlieren. Von Deutschen, die in einer Mischehe lebten, wurde verlangt, dass sie sich scheiden ließen und den Partner verlassen. Bei Zuwiderhandlung würde auch ihnen die Staatsangehörigkeit aberkannt. In der Frage zur Einrichtung von Ghettos zur Isolation der Juden von der übrigen deutschen Bevölkerung kam man darüber ein, dass dies nicht praktikabel sei. Lediglich in Prag und Wien wurde die jüdische Bevölkerung in einzelnen Bezirken konzentriert. Diese Stadtteile waren aber nicht vom Rest der Stadt abgetrennt. Durch diese Konzentration sollte der bisherige Wohnraum der Juden für die deutsche Bevölkerung freigemacht werden, wodurch die Wohnungsnot gelöst werden sollte. Später, 1942 wurde in Theresienstadt8 bei Prag ein Ghetto für 35 000 Personen geschaffen.
7 Die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden vom 1. 9. 1941 nahm die Frontsoldaten des 1. Weltkrieges nicht aus. Lediglich jüdische Gatten einer sog. „Mischehe“ mit einem nichtjüdischen Partner, die gemeinsame Kinder hatten, sowie kinderlose jüdische Ehefrauen eines nichtjüdischen Partners mussten das diskriminierende Abzeichen nicht tragen. 8 Das Ghetto Theresienstadt wurde im November 1941 als Sammellager für Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren eingerichtet. Insgesamt wurden mehr als 141 000 Personen durch das Lager geschleust, von denen 33 500 aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in Theresienstadt verstarben, weiter 88 000 Menschen wurden von dort aus in Vernichtungslager deportiert. Ab 1943 wurde Teile des Lagers als Musterlager ausgebaut und für Propagandazwecke verwendet. Kurz vor Kriegsende gelang es dem Roten Kreuz, rund 2000 Menschen aus Theresienstadt ausreisen zu lassen. Am 8. 5. 1945 von der Roten Armee befreit.
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Von 1933 bis 1941 verlief die Aussiedlung der Juden aus Deutschland besonders erfolgreich. Die Regierung behinderte die Ausreise der Juden nicht, sondern förderte sie mit allen Mitteln. Damals herrschte die Meinung vor, dass die Judenfrage in Deutschland erst dann gelöst sei, wenn der letzte Jude Deutschland verlassen habe. Es steht natürlich außer Frage, dass die Umsiedlung mit einer Reihe von Formalitäten verbunden war. So musste jeder Jude, der vor hatte auszureisen, die sogenannte Auswandererabgabe bezahlen, die sich prozentual an seinem Vermögen orientierte. Seine Möbel, Kleidung sowie andere Wäsche usw. durfte er teilweise mitnehmen, außerdem war es ihm erlaubt, bis zu tausend Mark mitzuführen. Als sich aber im Reich die Geldsituation verschlechterte, wurde dann verboten, diese tausend Mark auszuführen. Die Auswanderer-Abgabe sammelte man in einem gesonderten Fond, womit die Evakuierung der Juden finanziert wurde, die die Umsiedlung nicht selbst bezahlen konnten (z. B. Preis für die Schiffspassage).9 Nach dem Anschluss Österreichs (März 1938) wanderten von den 330 000 Juden, die in Wien lebten, innerhalb eines Jahres 120 000 aus. Die Auswanderung wurde auch nach Kriegsbeginn fortgesetzt. Göring, der für die Durchführung des Vierjahresplans zuständig war, hatte befohlen, die Auswanderung auch während des Krieges fortzuführen. Ende 1941 wurde die Auswanderung der Juden beendet. Die Gründe, die zur Änderung des bisherigen Vorgehens führten, waren propagandistischer sowie militärischer Natur. Aus politischen Gründen wurde die Auswanderung deswegen beendet, weil durch die Umsiedlung der Juden nach Palästina dort in der Zwischenzeit eine Dominanz der Juden entstanden war. Das aber tangierte die Interessen der Araber, zu denen die Deutschen gute Beziehungen pflegten. An dieser Stelle ist es wichtig hinzuzufügen, dass in den Anweisungen der deutschen Propaganda an staatliche und Parteistellen verfügt wurde, das Wort „Antisemitismus“ gegenüber den Arabern nicht zu verwenden, sondern die Bezeichnung „antijüdisch“ zu benutzen (Erklärung: Die Araber gehören auch der semitischen Rasse an). Die Auswanderung wurde auch deswegen eingestellt, weil jeder Jude, der Deutschland verließ, im Ausland gegen Deutschland agitieren konnte und außerdem alle möglichen Informationen ausführte. Die militärischen Gründe, die zum Ende der Abschiebungen führten, lagen darin begründet, dass die Juden, die nach Palästina gingen, vor allem in der Industrie arbeiten würden und zum Militärdienst auf Seiten der Alliierten eingezogen wurden. Es war auch bekannt, dass die gesamte jüdische Wirtschaft in Palästina für die Alliierten tätig war. Von jüdischer Seite versuchte man daher, möglichst jene Juden zu evakuieren, die Spezialisten in kriegswichtigen Bereichen waren.
9 Die 1938 eingeführte Auswandererabgabe, die 20 % der Reichsfluchtsteuer betrug und von Auswanderern entrichtet werden musste, deren Vermögen 1000 RM überstieg, hatten im Auftrag der NSVerwaltung die Auswanderer-Abteilungen der jüdischen Landesgemeinden einzuziehen. Diese Mittel sollten zur Abschiebung mittelloser jüdischer Personen genutzt werden.
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Um die Juden aus den deutschen Gebieten zu entfernen, brachte man sie seit Ende 1941 in verschiedene Lager im Osten (Polen), wo sie angeblich verpflichtet waren zu arbeiten. In erster Linie war die Abteilung IV für die Evakuierung und dort der Bereich IV B unter der Leitung von SS-Obersturmbannführer Eichmann10 zuständig. Gegen Ende 1943 war Deutschland vollständig von Juden befreit. Die Anzahl der Juden, die nach Polen gebracht wurden, ist mir unbekannt. Richter, Gustav Die Aussage wurde von Sonderbevollmächtigten der 2. Abteilung der Hauptverwaltung Gegenspionage „Smersch“, Oberleutnant Solowow entgegengenommen. Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21099, Bd. 1, Bl. 99–105. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
5.2 Schriftliche Aussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richterüber die Lösung der Judenfrage in Europa, Moskau, 12. Oktober 1944 Schriftliche Aussage des ehemaligen deutschen Polizeiattachés in Rumänien, Richter, Gustav vom 12. Oktober 1944 Die Lösung der Judenfrage in Europa Nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte und eine Reihe von anderen Staaten besetzt worden waren, gingen die höheren Staats- und Parteistellen in Deutschland daran, die Judenfrage auch dort einer Lösung zuzuführen. Mit dem Ziel die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen, beschloss man, alle Juden auf die französische Insel Madagaskar umzusiedeln. Dieser Plan geriet aber in Vergessenheit.11 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD hatte die zentrale Leitung für die Maßnahmen zur Lösung der Judenfrage in den besetzten Gebieten inne.
10 Adolf Eichmann (1906–1962), SS-Obersturmbannführer, Handelsvertreter, 1932 Beitritt zur NSDAP und SS, 1934–1938 SD-Hauptamt, dort seit 1935 Referatsleiter II 112 (Zionisten), 1938–1939 Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, 1939 in Prag, ab Ende 1939 Sonderreferent des RSHA für die Räumung der annektierten Ostprovinzen, nachfolgend Referatsleiter IV D 4 (Räumungsangelegenheiten und Reichszentrale für jüdische Auswanderung), 1941 umbenannt in Referatsleiter IV B 4 (Juden- und Räumungsangelegenheiten), 1942 Protokollführer der Wannsee-Konferenz. 1945 Inhaftierung durch US-Truppen, Anfang 1946 Flucht, lebte unter falschem Namen in der Lüneburger Heide, 1950–1960 in Argentinien untergetaucht, 1960 vom Mossad nach Israel entführt, dort 1961 zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet. 11 Im Sommer 1940 arbeiteten das Auswärtige Amt und das RSHA Pläne aus, 4 Mio. europäische Juden auf die vor der Ostküste Afrikas gelegene Insel Madagaskar, eine französische Kolonie, zu deportieren. Ende 1940 wurde das Vorhaben aufgegeben.
5.2 Schriftliche Aussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richter
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Auf Befehl Görings vom 31. Juli 1941 erhielt der damalige Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Gruppenführer Heydrich, den Auftrag, die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen und entsprechende Vorschläge Göring persönlich vorzulegen. Dieser Befehl wurde nicht veröffentlicht. Der Chef der Sicherheitspolizei übertrug dann diese Aufgabe an den Leiter des Referats IV B 4, SS-Obersturmbannführer Eichmann, der entsprechende Vorschläge ausarbeiten sollte. Um diese Anweisung entsprechend umzusetzen, führte Eichmann Ende August und Anfang September 1941 mit Vertretern beteiligter Institutionen einige Arbeitssitzungen, wie dem Chef der Sicherheitspolizei, dem Reichsinnenministerium, der Parteikanzlei, dem Bevollmächtigten für den Vierjahresplan, dem Auswärtigem Amt und anderen durch. Auf einer dieser Zusammenkünfte diskutierte man die Definition von „Jude“ entsprechend den Nürnberger Gesetzen für die besetzten Gebiete. In den einzelnen Besatzungsgebieten waren die Methoden zur Lösung der Judenfrage verschieden. Im Allgemeinen jedoch begann man zunächst mit der Registrierung der Juden in diesen Ländern und bezog auch die Halbjuden (Mischlinge) mit ein. Nach der Erfassung wurden die verschiedenen politischen und kulturellen Organisationen der Juden aufgelöst. An ihre Stelle trat ein zentrales Judenbüro als einzige, von den Deutschen anerkannte, Vertretung der Juden in diesen Ländern. Dem Beispiel Deutschlands folgend, wurden die Juden in diesen Ländern zunehmend aus der Wirtschaft verdrängt. Nachdem die Aussiedlung der deutschen Juden abgeschlossen war, ging man schrittweise dazu über, auch die Juden aus den besetzten Gebieten in die Lager nach Polen abzuschieben, wo sie angeblich als Arbeiter eingesetzt werden sollten. In einigen besetzten Gebieten, wie z. B. in Polen, waren die Juden vor ihrer Umsiedlung in Ghettos eingeschlossen. In den Staaten, die eine prodeutsche und antijüdische Haltung einnahmen, war es sofort möglich, die Judenfrage der Endlösung entgegenzuführen. In der Slowakei wurden Ende 1940 die ersten Erfahrungen gemacht. Auf Grund von Absprachen mit der slowakischen Regierung und entsprechend eines Gesuches des Auswärtigen Amts entsandte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD einen Berater für jüdische Angelegenheiten an die deutsche Botschaft nach Preßburg (SS-Hauptsturmführer Wisliceny12).
12 Dieter Wisliceny (1911–1948), SS-Hauptsturmführer, Journalist, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, 1934 Wechsel zur SS, 1937 Leiter des „Judenreferats“ im SD, 1940–1943 „Spezialist und Berater in jüdischen Angelegenheiten“ der slowakischen Regierung, 1943 zunächst Chef des „Sonderkommandos für Judenangelegenheiten“ in Thessaloniki, dann Leiter des „Judenreferats“ beim BdS in Athen, 1944 als Mitglied des „Sonderkommandos Eichmann“ für die Deportation der ungarischen Juden zuständig. 1945 von den Alliierten verhaftet, Zeuge der Anklage in den Nürnberger Prozessen, anschließend an die Tschechoslowakei ausgeliefert, dort 1948 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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Die Exponenten der antijüdischen Politik der slowakischen Regierung waren damals Innenminister Mach13 und die Hlinka-Garde14. Soweit ich informiert bin, war es Mach, der von den Vertretern des Deutschen Reiches in Preßburg einen Experten für Juden-Fragen anforderte. Dadurch gelang es den Deutschen bereits 1942, 60 000 von 100 000 Juden aus der Slowakei nach Polen zu deportieren. In ähnlicher Weise wurde dann versucht, Einfluss auf die Lösung der Judenfrage in Rumänien, Bulgarien und Kroatien zu erreichen. Wie sich die deutsche Reichsregierung die Endlösung der Judenfrage vorstellte, geht aus der Rede Hitlers hervor, die er vor „Alten Kämpfern“ zum Jahrestag der Gründung der Partei am 24. Februar 1942 in München hielt. In dieser Rede erklärte er, dass am Kriegsende die Vernichtung der Juden stehe.15 Ergänzung: Der Befehl Görings ist mir nicht im Detail bekannt. Er war an Heydrich persönlich gerichtet und lautete: Hiermit erteile ich Ihnen die Vollmacht eine Endlösung für die Judenfrage in Europa auszuarbeiten und mir entsprechende Vorschläge für die sachliche, organisatorische und technische Umsetzung vorzulegen. Diese Anweisung habe ich auf dem Schreibtisch Eichmanns während einer Sitzung liegen sehen. Richter, Gustav Die Aussage wurde von Sonderbevollmächtigten der 2. Abteilung der Hauptverwaltung Gegenspionage „Smersch“, Oberleutnant Solowow entgegengenommen. Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21099, Bd. 1, Bl. 112–114. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
13 Alexander Mach (1902–1980), Politiker und Journalist, Priesterseminar, seit 1922 Funktionär der Slowakischen Volkspartei, Anhänger des faschistischen Flügels, 1938 Chef der Propagandaabteilung, 1939–1944 Oberbefehlshaber der Hlinka-Garde, 1940–1945 slowakischer Innenminister und Vize-Ministerpräsident, zuständig für die Entrechtung und Deportation der Juden. 1945 von den Alliierten an die Tschechoslowakei ausgeliefert, dort 1947 zu 30 Jahren Haft verurteilt, 1968 entlassen. 14 Die Hlinka-Garde war eine paramilitärische Vereinigung der Slowakischen Volkspartei von Andrej Hlinka (1864–1938), 1938 während der Sudentenkrise gegründet, 1942 mitverantwortlich für die Deportation slowakischer Juden, 1944 nach dem Slowakischen Nationalaufstand von der SS übernommen. 15 Hitler kam zu diesem Termin nicht nach München, sondern sandte den versammelten Parteimitgliedern eine Botschaft, die er vom Münchener Gauleiter Adolf Wagner (1890–1944) verlesen ließ. Wörtlich hieß es in der Botschaft: „Heute haben die Gedanken unserer nationalsozialistischen und die der faschistischen Revolution große und gewaltige Staaten erobert, und meine Prophezeiung wird ihre Erfüllung finden, dass durch diesen Krieg nicht die arische Menschheit vernichtet, sondern der Jude ausgerottet werden wird. Was immer auch der Kampf mit sich bringen, oder wie lange er auch dauern mag, dies wird sein endgültiges Ergebnis sein.“
5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945
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5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945 Jeckeln, F. geboren 1895, in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Sohn eines Fabrikanten, Mitglied der National-Sozialistischen Partei vom Jahr 1929 an, SS-Obergruppenführer und General der Polizei. Ehemaliger Höherer SS- und Polizeiführer im Ostland. Das Verhör [wurde] angefangen um 21 Uhr 45 Min. Das Verhör [wurde] beendet um 2 Uhr 20 Min. Am Verhör nahm teil der Dolmetscher für russisch-deutsche Sprache Feldwebel Suur, der gewarnt ist über die Richtigkeit der Übersetzung nach § 95 Strafgesetzbuch RSFSR. Frage: Welche Aufgaben bekamen Sie in Berlin, als Sie zum höheren SS- und Polizeiführer im Ostland eingestellt wurden? Antwort: Am 10. oder 11. November des Jahres 1941 wurde ich von Himmler nach Berlin ins Gestapo-Haus (Prinz-Albrecht-Straße) gerufen, um über die Frage meiner Einstellung als höherer SS- und Polizeiführer im Ostland zu sprechen. Himmler sagte mir, dass ich alle seine Befehle ausführen werden müsse, schlug mir vor, die im Ostland schon organisierten Polizeiorgane, bestehend aus Letten, Litauern und Esten auszunutzen. Himmler sagte auch, dass ich alle SS- und Polizei-Dienstfragen mit dem Reichskommissar Lohse besprechen solle. Bei dieser Besprechung räumte mir Himmler sehr große Vollmachten ein und befahl mir, in seinem Namen zu handeln: zu kontrollieren und zu befehlen in dem Falle, falls seine, das heißt Himmlers, Befehle nicht ausgeführt werden. Ebenso habe ich die Vollmacht erhalten, nicht nur in Beziehung auf SS und Polizei…16 Frage: Es ist festgestellt, dass Sie von Himmler auch andere Aufgaben bekamen. Warum schweigen Sie darüber? Antwort: Himmler sagte mir, dass ich meine Arbeit im Ostland so organisieren müsse: dass auf dem ganzen Territorium im Ostland und Weiß-Ruthenien vollständige Ruhe und Ordnung herrsche, und dass alle sich im Ostland befindenden Juden bis zum letzten Mann vernichtet werden müssen. Himmler sprach auch über andere Völker, die im Ostland wohnten. Besonders betonte er seinen Hass gegen Litauer, als niedrige Rasse. Über Letten äußerte er sich etwas milder, aber es wären nur 30 % nützliche Menschen zu gebrauchen. Über Esten sprach Himmler auch als niedrige Rasse, besonders über die, die vom Baltischen Meere entfernt lebten. Himmler sagte auch, dass nach dem endgültigen Siege alle die Letten und Esten, die sich deutschfreundlichen gezeigt haben, zu germanisieren seien. Alle anderen werden aus dem Ostland
16 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „…sondern auch in Beziehung zum Reichskommissariat und Chef der Waffen-SS im Ostland.“
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nach Deutschland zur Arbeit ausgewiesen, um den befreiten Raum mit Reichsdeutschen zu besetzen. Weiß-Ruthenen zählte Himmler auch zu den niedrigen Rassen, über Russen sprach er wie über ein kulturell zurückgebliebenes Volk, das unfähig wäre, einen großen Staat zu leiten. Mehr erklärte Himmler damals über meinen Dienst im Ostland nicht, außer dem konkreten Befehl, dass alle Juden aus dem Rigaschen Ghetto vernichtet werden müssen. Frage: Über welchen Befehl von Himmler sprechen Sie? Antwort: Himmler sagte mir, die Judenfrage im Ostland ist beendet. Nur in Riga ist das nicht liquidierte Ghetto übriggeblieben und ich solle diese Liquidierung durchführen. Himmler sagte, dass mein Vorgänger [Hans-]Adolf Prützmann, der vor mir SS- und Polizeiführer in Ostland war, gesagt hat, dass Lohse gegen die Liquidierung des Ghettos ist. Himmler sagte, ich solle das mit Lohse durchsprechen und auch wenn er dagegen ist, soll das Rigasche Ghetto liquidiert werden. Sagen Sie dem Lohse, es ist mein Befehl, was auch des Führers Wunsch ist. Frage: Zeigen Sie, wie haben Sie den Himmler-Befehl ausgeführt? Antwort: Einige Tage nach meiner Ankunft in Riga war ich bei Reichskommissar Lohse und sagte, dass Himmler verlangt, das Ghetto in Riga zu liquidieren. Sind Sie damit einverstanden? Lohse antwortete, dass er nichts dagegen hat, und ich das als Befehl nehmen kann. Nach einiger Zeit gab ich Befehl, alle Juden aus dem Rigaschen Ghetto zu liquidieren. Frage: Bevor Sie über diese Missetat berichten, sagen Sie, wann wurde das Ghetto in Riga organisiert? Antwort: Ich weiß nicht ganz genau, wann das Ghetto in Riga organisiert wurde. Es war schon da, als ich in Riga ankam. Ich glaube, in Riga wurde das Ghetto schon im Jahr 1941 organisiert. Frage: Wie viele Juden waren im Rigaer Ghetto? Antwort: Bei meiner Ankunft in Riga, im November 1941, waren 20–25 Tausend Juden im Ghetto. Außer den Juden aus dem Ostland waren hier auch Juden, die mit Transporten aus dem Reich ankamen. Frage: Nennen Sie die Zahl, wieviel Juden wurden auf Ihren Befehl aus dem Rigaschen Ghetto vernichtet? Antwort: Die genaue Zahl, wieviel auf meinen Befehl erschossen wurden, ist schwer zu sagen. Ich kann nur sagen, dass alle Juden aus dem Ghetto vernichtet wurden, außer wenigen, die in verschiedenen Werkstätten arbeiteten. Frage: Es kann nicht sein, dass Sie die Zahl, wieviel Juden aus dem Ghetto vernichtet wurden, nicht wissen. Sprechen Sie die Wahrheit?
5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945
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Antwort: Ich wiederhole, die Zahl der vernichteten Juden aus dem Ghetto ist schwer zu nennen. Ich glaube, es sind nicht weniger als 20–25 Tausend Mann gewesen.17 Frage: Sie sprechen nicht die Wahrheit. Der Voruntersuchung ist bekannt, dass die Zahl der erschossenen Juden aus dem Rigaschen Ghetto viel höher war. Wie erklären Sie das? Antwort: Mir ist aus dem Reichkommissariat Ostland nur diese Zahl bekannt: 20–25 Tausend, die auf meinen Befehl aus dem Rigaschen Ghetto vernichtet wurden. Andere Zahlen kenne ich nicht. Frage: Zu dieser Frage kommen wir noch zurück. Jetzt aber sagen Sie, wem und wann gaben Sie den Befehl, die Juden aus dem Rigaschen Ghetto zu vernichten? Antwort: Den Befehl, die Juden aus dem Rigaschen Ghetto zu vernichten, gab ich Generalmajor Stahlecker18, Kommandeur des SD und der Gestapo, und Knecht19, Kommandeur der Schutzpolizei in Lettland. Das war Ende November 1941. Frage: Wo und wann wurde die Vernichtung ausgeführt? Antwort: Alle Juden aus dem Rigaschen Ghetto wurden Ende November und Anfang Dezember im Laufe einer Woche erschossen. Erschossen wurde 3 km außerhalb von Riga, nicht weit von der Straße Riga-Dünaburg, auf der linken Seite von der Straße ab, zwischen der Straße und den Eisenbahnlinien, in einem kleinen Wäldchen. Frage: Waren Sie persönlich bei der Erschießung? Antwort: Erschossen wurde unter Führung von Oberst Dr. Lange20 (Kommandeur des SD und der Gestapo in Lettland). Die Schutzführung um die Vernichtungsstelle unterlag dem Knecht. An den Erschießungen nahm ich, Jeckeln, 3 Mal teil, ebenso Lange, Knecht, Lohse und Oberstleutnant Osis, Kommandeur der Ordnungspolizei der Stadt Riga.
17 Die Zahl der Anfang Dezember 1941 bei Riga erschossenen Juden beträgt nach aktuellem Forschungsstand 27 800. 18 Franz Walter Stahlecker (1900–1942), SS-Brigadeführer, promovierter Jurist, 1921 Beitritt zur NSDAP, Kommunalbeamter, 1933 Wiederbeitritt zur NSDAP, 1934–1937 Leiter der politischen Polizei in Württemberg, 1939–1940 BdS Böhmen und Mähren, 1940 BdS in Norwegen, 1941 Führer der Einsatzgruppe A, dann BdS Ostland, im März 1942 im Kampf mit Partisanen tödlich verwundet. 19 Karl Knecht (1888–?), Oberst der Schutzpolizei, 1933 Beitritt zur NSDAP, 1934 Leiter KommandoAbteilung Schutzpolizei Bremen, 1941 Kommandeur der Schutzpolizei Hannover, 1941–1943 KdO Lettland. 20 Rudolf Lange (1910–1945), SS-Standartenführer, promovierter Jurist, 1936 Beitritt zur SS, 1937 zur NSDAP, 1938–1939 bei der Gestapoleitstelle Wien tätig, 1941 Leiter des Gruppenstabes der Einsatzgruppe A, danach KdS in Lettland, an der Wannsee-Konferenz und zahlreichen Massenhinrichtungen direkt beteiligt, 1945 BdS im Warthegau, Februar 1945 bei Posen verwundet, Suizid.
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Frage: Wer hat geschossen? Antwort: Geschossen haben 10 oder 12 deutsche SD-Soldaten. Namen kenne ich nicht. Frage: Wie wurde Ihr Befehl praktisch ausgeführt? Antwort: Aus dem Rigaschen Ghetto gingen alle Juden zur Vernichtungsstelle zu Fuß. Nicht weit weg von den Gruben sollten sie ihre Überkleider ablegen, welche nach Reinigung und Sortierung nach Deutschland geschickt wurden. Die Juden, Männer, Frauen und Kinder, gingen durch deutsche Polizeispaliere bis zu den Gruben, wo sie durch deutsche Soldaten erschossen wurden. Frage: Was wurde mit den Leichen gemacht? Antwort: Vor den Erschießungen wurden von der deutschen und lettischen Polizei große Gruben gegraben, in welchen die Leichen eingegraben wurden. Frage: Haben Sie die Befehlsausführung Himmler gemeldet? Antwort: Jawohl! Durch Fernsprecher habe ich Himmler gemeldet, dass das Rigasche Ghetto liquidiert ist. Und als ich im Dezember 1941 in Lötzen (Ostpreußen) bei Himmler war, habe ich auch mündlich gemeldet.21 Himmler war zufrieden und sagte, dass im Ostland noch neue Transporte ankommen werden, die [ich] auch vernichten muss. Frage: Erzählen Sie darüber genauer? Antwort: Ende Januar 1942 war ich bei Himmler in Lötzen in Ostpreußen wegen der Organisationsfrage der lettischen SS-Legionen.22 Dort sagte mir Himmler, dass im Salaspils-Konzentrationslager (2 km von Riga nach Dünaburg) noch mehrere Transporte mit Juden aus dem Reich und aus anderen Ländern ankommen werden. Himmler sagte, dass er noch nicht festgelegt hat, auf welche Weise diese zu vernichten sind; in Transporten in Salaspils zu erschießen, oder irgendwo in den Sumpf zu jagen. Frage: Wie wurde die Sache entschieden? Antwort: Von meiner Seite stellte ich dar, dass es der leichtere und schnellere Tod wäre, zu erschießen. Himmler sagte, er wird darüber noch nachdenken und später durch Heydrich befehlen. Frage: Zuerst sagen Sie, wer und wann hat man das Konzentrationslager in Salaspils ausgebaut?
21 Himmlers Hauptquartier in Ostpreußen befand sich 20 Kilometer von Hitlers „Wolfsschanze“ entfernt in Großgarten bei Lötzen, trug bis 1942 den Decknamen „Hegewald“ und wurde dann in „Hochwald“ umbenannt. Am 4. 12. 1941 berichtete Jeckeln Himmler u. a. über die Ermordung von 1035 Berliner Juden, die er eigenmächtig bei ihrer Ankunft in Riga hatte erschießen lassen. Vgl. Dienstkalender Himmler, S. 284. 22 Jeckeln war am 25. 1. 1942 bei Himmler. Vgl. Dienstkalender Himmler, S. 326.
5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945
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Antwort: Es wurde angefangen das Konzentrationslager in Salaspils zu bauen Anfang November 1941 und fertig wurde es im März 1942. Das war ein gemischtes Lager, nicht nur für Juden, sondern auch für andere Völker. Dieses Lager wurde genannt Zentrallager für das ganze Ostland. Das Lager in Salaspils wurde organisiert und unterstand dem Kommandeur des SD und der Gestapo in Riga – Oberstleutnant Dr. Lange. Frage: Aus welchen Ländern wurden in das Salaspils-Lager Juden gebracht? Antwort: Ins Salaspils-Lager wurden aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, Tschechoslowakei und aus anderen okkupierten Ländern Juden hergebracht. Die genaue Zahl der Juden, die im Salaspils-Lager waren, ist schwer zu nennen. Aber alle Juden aus diesem Lager wurden vernichtet. Ich möchte aber noch zu dieser Frage aussagen. Frage: Was wollen Sie aussagen? Antwort: Ich möchte noch aussagen, dass an der Judenvernichtung aus anderen Ländern auch Göring schuldig ist. In der ersten Hälfte des Februar 1942 bekam ich einen Brief von Heydrich. In diesem Brief schrieb er, dass Reichsmarschall Göring sich selbst in die Judenfrage eingemischt habe, und dass jetzt nur mit Görings Erlaubnis Juden nach Ostland zur Vernichtung geschickt werden. Frage: Damit wird Ihre Schuld nicht weniger. Zeigen Sie, welche Rolle bei der Judenvernichtung in Salaspils Sie gespielt haben. Antwort: Ich sagte schon, dass ich in Lötzen mit Himmler über die Judenvernichtungsfrage in Salaspils gesprochen habe. Damit bin ich auch Teilnehmer an diesem Verbrechen. Außerdem wurden im Salaspils-Lager Juden erschossen durch Kräfte des mir unterstehenden SD und der Sicherungspolizei. Unmittelbar führte die Erschießungen der Kommandeur des SD und der Gestapo in Lettland, Oberstleutnant Dr. Lange. Über Judenerschießungen im Lager haben mir außer Lange gemeldet: der Befehlshaber der SD und der Gestapo im Ostland Generalmajor Jost23, der Oberst der Polizei Pifrader24 und der Oberst der Polizei Fuchs.
23 Heinz Jost (1904–1964), SS-Brigadeführer, Jurist, 1928 Beitritt zur NSDAP, Rechtsanwalt, 1933 Polizeidirektor von Worms, dann von Gießen, seit 1934 beim SD, Amtschef III (Abwehr) im SD-Hauptamt, 1938 Chef Einsatzgruppe Dresden in der Tschechoslowakei, 1939–1942 Chef des RSHA-Amtes VI (SDAusland), 1942–1944 BdS im Ostland, zugleich 1942 Chef der Einsatzgruppe A, Januar 1945 verabschiedet. Wenig später von den Alliierten interniert, 1948 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1952 entlassen. 24 Humbert Achamer-Pifrader (1900–1945), SS-Oberführer, promovierter Jurist, seit 1926 im österreichischen Polizeidienst, 1935 Flucht nach Deutschland, übernommen von der Bayerischen Politischen Polizei, Beitritt zur SS, 1936 zur Gestapo in Berlin, 1940 Leiter der Gestapo in Darmstadt, 1942 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Wiesbaden, 1942–1943 Führer Einsatzgruppe A und BdS Ostland, 1943– 1944 Gruppenleiter B und Leiter Referat B1 (Politischer Katholizismus) der RSHA-Amtsgruppe IV (Gegner), 1945 SSPF Oberdonau, April 1945 bei einem alliierten Luftangriff auf Linz ums Leben gekommen.
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Frage: Was nämlich haben die gemeldet? Antwort: Sie meldeten, dass im Salaspils-Lager jede Woche 2–3 Transporte mit Juden ankommen, die auch der Vernichtung unterliegen. Frage: Damit sollte auch die Zahl bekannt sein, wieviel Juden im Salaspils-Lager erschossen wurden. Ist es nicht so? Antwort: Jawohl! Ungefähre Zahlen kann ich sagen. Die ersten Judentransporte nach Salaspils kamen schon im November 1941 an. In der ersten Hälfte 1942 kamen regelmäßig nacheinander Transporte. Ich glaube im November des Jahres 1941 kamen nicht mehr als 3 Transporte an, aber in den nächsten 7 Monaten von Dezember 1941 bis Juni 1942 kamen jeden Monat 8–12 Transporte. So kommt heraus, dass in den 8 Monaten im Lager Minimum 55 und Maximum 87 Judentransporte ankamen. Wenn zu rechnen ist, dass sich in jedem Transport Tausend Mann befanden, dann wurden 55–87 Tausend Juden vernichtet, die aus dem Reich und aus anderen Ländern ins Salaspils-Lager kamen.25 Frage: Sie geben eine geringere Zahl zu. Zeigen Sie die Wahrheit. Antwort: Genauere Zahlen sind mir nicht bekannt. Ich muss aber noch sagen, dass schon vor meiner Ankunft in Riga schon eine Menge Juden in Ostland und WeißRuthenien vernichtet war. Darüber hat man mir gemeldet. Frage: Wer nämlich? Antwort: Stahlecker, Prützmann, Lange, Generalmajor der SS- und Polizeiführer in Lettland Schröder26, Generalmajor Möller27, der SS- und Polizeiführer in Estland, und Generalmajor Wysocki28, der SS- und Polizeiführer in Litauen.
25 Jeckeln schätzt hier die Zahl der Deportierten; im Lager Salaspils selbst wurden nach aktuellem Forschungsstand zwischen 3000 und 4000 Menschen ermordet. 26 Walther Schröder (1902–1973), SS-Brigadeführer, 1922–1925 Freikorps, 1925 Beitritt zur NSDAP und SA, Ingenieur, seit Mai 1933 Senator der Inneren Verwaltung und Polizeiherr in Lübeck, 1937–1941 Polizeipräsident in Lübeck, 1938 Übernahme in die SS, 1941–1944 SSPF in Lettland, 1944 Rückkehr nach Lübeck, Januar 1945 dort wieder Polizeipräsident. 1945 von britischen Truppen verhaftet, von einem Spruchgericht zu 2 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. 27 Hinrich Möller (1906–1974), SS-Brigadeführer, Kaufmann, 1929 Beitritt zur NSDAP, 1930 zur SS, 1933 Eintritt in den Polizeidienst, Polizeichef in Neumünster, 1934 SS-Standartenführer in Flensburg, 1937 Polizeipräsident, dann Polizeidirektor in Flensburg, 1941–1944 SSPF in Estland, September 1944 zum SS-Oberabschnitt Ost, dann zur Heeresgruppe Weichsel kommandiert. 1945 zu drei Jahren Zuchthaus, 1947 vom Landgericht Kiel zum Tode verurteilt, 1948 in lebenslange Haft umgewandelt, 1958 entlassen. 28 Lucian Wysocki (1899–1964), SS-Brigadeführer, Freiwilliger im 1. Weltkrieg, Bergmann, 1929 Beitritt zur NSDAP und SA, 1932–1945 Mitglied des Reichstages, seit 1933 hauptamtlicher SA-Führer in Würselen, Duisburg und Wuppertal, 1937–1939 Polizeipräsident in Oberhausen, 1939–1940 in Duisburg, 1940 Wechsel von der SA zur SS, 1941 SSPF in Wilna, 1941–1943 SSPF im Generalbezirk Litauen, 1943 zur „Bandenbekämpfung“ nach Minsk versetzt, 1944–1945 Polizeipräsident in Kassel.
5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945
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Frage: Geben Sie konkret an, was haben die gemeldet? Antwort: Schröder hat mir gemeldet, dass außer dem Rigaschen Ghetto in Lettland 70–100 Tausend Juden vernichtet wurden sind. Die unmittelbare Ausführung dieser Erschießungen unterstand Dr. Lange. Hauptsächlich wurde in Dünaburg und Rositten erschossen. Möller meldete mir, dass in Estland mit der Judenfrage alles in Ordnung wäre. In Estland waren überhaupt wenig Juden, ungefähr 3–5 Tausend Mann. Von dieser Zahl blieb niemand übrig. Die meisten Juden wurden in Reval vernichtet. Wysocki meldete, dass auf Befehl Stahleckers in Litauen 100–200 Tausend Juden vernichtet und erschossen wurden. In Litauen unterstand die Judenvernichtung dem Kommandeur des SD und der Gestapo Polizeioberstleutnant Jäger29. Später hat Jäger mir erzählt, er wäre durch diese Erschießungen nervenkrank geworden. Jäger wurde pensioniert und ist zur Heilung gefahren. Bei der Aktion [Addition] der oben genannten Zahlen, erhalten wir für die im Ostland vernichteten Juden die Zahl 190,5 Tausend bis 253,5 Tausend Mann. Frage: Aber in Weiß-Ruthenien? Antwort: Mit der Judenvernichtung in Weiß-Ruthenien wurde gleich nach dem Einzug des deutschen Heeres angefangen. Am 28. oder 29. Oktober 1941, als ich in Riga einflog, traf ich den aus Weiß-Ruthenien angekommenen SS-Obergruppenführer von dem Bach. Er erzählte mir, dass in Weiß-Ruthenien im okkupierten Gebiet schon nicht weniger als 150–200 Tausend Juden vernichtet sind. Wie er mir erzählte, haben die Vernichtung der Befehlshaber des SD und der Gestapo Generalmajor Stahlecker und der Kommandeur des SD und der Gestapo in Weiß-Ruthenien Oberstleutnant Dr. Strauch ausgeführt. Frage: Der Voruntersuchung ist bekannt, dass Juden aus dem Rigaer Ghetto nicht nur Ende November und Anfang Dezember, sondern auch in späteren Zeiten erschossen wurden. Warum schweigen Sie darüber? Antwort: Ich sagte schon früher, dass im Rigaschen Ghetto auch aus anderen Ländern Judentransporte ankamen. Sie kamen deswegen, weil das Salaspils-Lager nicht alle Juden annehmen und unterbringen konnte. Ich gebe zu, dass aus dem Rigaschen Ghetto nicht nur Ende November und Anfang Dezember 1941 Juden vernichtet wurden, sondern auch in nachfolgenden Zeiten. Ich erinnere mich, dass im Jahr 1942
29 Karl Jäger (1888–1959), SS-Standartenführer, Instrumentenbauer und Prokurist, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Freikorps, 1923 Beitritt zur NSDAP, 1932 zur SS, seit 1936 hauptamtlicher SS-Führer, 1938 im SD-Hauptamt, 1939 Leiter des SD-Abschnittes Münster, 1941 Chef des Einsatzkommandos 3, 1941–1944 KdS Litauen, 1944–1945 Polizeipräsident von Reichenberg im Sudetenland. 1945 als Landarbeiter untergetaucht, 1959 verhaftet, Suizid in der Untersuchungshaft.
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Lohse mit mir sprach, dass aus Deutschland Judentransporte ankamen, die auch vernichtet wurden. Frage: Der Voruntersuchung ist bekannt, dass auf Ihren Befehl auch an anderen Stellen Juden vernichtet wurden. Erzählen Sie darüber. Antwort: Ich kann nur über einzelne Fälle erzählen, die ich erinnere. Ende November und Anfang Dezember wurden 6–8 Tausend Juden nördlich Minsk vernichtet. Die unmittelbare Ausführung dieser Erschießung unterstand von dem Bach und General Gottberg30. Anfang des Jahres 1944 wurden in der Stadt Wilna ungefähr 50 Juden erschossen. Im Jahr 1944, Ostland war schon Kampfgebiet, kam von Hitler und Himmler der Befehl, alle Juden aus dem Ostland zu evakuieren. In diesem Befehl wurde gesagt, dass nicht ein Jude der Roten Armee in die Hände fallen soll und wenn irgendwo, wegen Transporten, es nicht möglich ist zu evakuieren, müssen die Juden auf der Stelle vernichtet werden. Das wurde deswegen gemacht, damit keine Spuren von unseren Verbrechen übrigbleiben. Solchen Befehl bekam der Befehlshaber des SD und der Gestapo im Ostland Fuchs und der Generalintendant SS-Oberführer Bachl31, der mir darüber auch meldete. Fuchs sagte, dass in Estland, in Kiviöli 3–5 Tausend Juden vernichtet wurden. Frage: In Verbindung mit dem Angriff der Roten Armee wollten Sie die Spuren Ihrer Verbrechen vernichten. Wollen Sie das verneinen? Antwort: Nein, ich beabsichtige, die Wahrheit zu sprechen. Frage: Sprechen Sie. Antwort: Im Januar 1944 kam zu mir in Riga aus Berlin der Mitarbeiter der Gestapo Blobel32 und sagte, dass er persönlich von Himmler einen heimlichen Befehl bekom-
30 Curt von Gottberg (1896–1945), SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Freikorps, 1923 Teilnahme am Hitlerputsch, Landwirt und Siedlungsunternehmer, 1931 Beitritt zur SA, 1932 zur NSDAP und Wechsel zur SS, seit 1933 hauptamtlicher SS-Führer, 1937 Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, 1939 Leiter des Prager Bodenamtes, 1940 Chef des Erfassungsamtes im SS-Hauptamt, 1942–1944 SSPF Weißruthenien, 1944 Kommandierender General des XII. SS-Armeekorps. 1945 Suizid in britischer Kriegsgefangenschaft. 31 Eduard Bachl (1899–?), SS-Oberführer, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, Handlungsgehilfe und Buchhalter, 1923 und wieder 1925 Beitritt zur NSDAP und SA, 1926 Wechsel zur SS, seit 1931 in der Verwaltung beim Reichsführer SS (RFSS), 1934–1938 Personalreferent beim RFSS, 1938–1939 Verwaltungschef beim SS-Oberabschnitt Elbe, 1939–1940 IVa (Stabsintendant, zuständig für Versorgung) bei der 12. SS-Totenkopfstandarte, 1940–1942 Verwaltungschef beim SS-Oberabschnitt West, 1942–1945 IVa beim Stab des HSSPF Ostland, Anfang 1945 in gleicher Funktion bei der Kampfgruppe Jeckeln, dann beim Befehlshaber der Waffen-SS in Norwegen. Seit Mai 1945 Kriegsgefangener in Norwegen. 32 Paul Blobel (1894–1951), SS-Standartenführer, Zimmermann, Soldat des 1. Weltkrieges, Architekt, 1931 Beitritt zur NSDAP, 1932 zur SS, 1933–1934 bei der Staatspolizei Düsseldorf, ab 1934 beim SDAbschnitt Düsseldorf, 1941–1942 Chef des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C, befehligte zahl-
5.3 Ausforschungsprotokoll des Verhafteten Friedrich Jeckeln, Riga, 14. Dezember 1945
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men hatte, alle Judenleichen in den okkupierten Gebieten33 durch Verbrennen zu vernichten. Blobel sagte, es sei eine sehr ernste Aufgabe und alle, die zu diesem Kommando gehören, sind treue und für die Geheimhaltung verantwortliche Leute. Ich sagte Blobel, wo die Judenleichen aus dem Rigaschen Ghetto liegen, und frage, wie wird man die Leichen vernichten? Blobel sagte, die Leichen werden ausgegraben und zu Haufen geschichtet. Eine Reihe Leichen, die andere Holz usw. Die Haufen werden mit Brennstoff übergossen und angezündet. Solch ein Prozess dauert so lange, bis Spuren von Menschenleichen nicht übrig bleiben. Diese Aufgabe war so geheim, dass das Kommando sogar mit einer Nummer, 1189, bezeichnet wurde.34 Frage: Hat Blobel den Befehl von Himmler ausgeführt? Antwort: Jawohl, er hatte angefangen, diesen Befehl auszuführen. Es wurden zu diesem Zweck Juden aus mehreren Lagern benutzt, die die Leichen ausgruben. Danach wurden die Juden erschossen und mit den anderen Leichen angezündet. Ohne schriftlichen Schein von Blobel konnte niemand, sogar die höheren SS- und SD-Führer [nicht], zu diesen Stellen kommen. Frage: Sie wollen nicht alles über ihre Verbrechen gegen das sowjetische Volk zugeben. Darüber sollen Sie im nächsten Verhör erzählen. Verhör beendet um 2 Uhr 20 Min. Aus meiner Rede richtig geschrieben, und mir vorgelesen. Jeckeln Befragte: der Vertreter des Kommandeurs der 2. Abteilung der Verwaltung NKWDUdSSR Major Zwetajew Dolmetscher: Feldwebel Suur Quelle: CA FSB Akte Nr. N-18313, Bd. 1, Bl. 33–40. Maschinenschriftliches Original. Deutsch.
reiche Massenmorde, 1942–1944 Führer des Sonderkommandos 1005 für die Beseitigung der Spuren des Judenmords, September 1944 Führer der Einsatzgruppe „Iltis“ beim BdS Steiermark für den Partisanenkampf in Jugoslawien, Winter 1944–1945 erkrankt. Mai 1945 in alliierte Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess zum Tode verurteilt und 1951 hingerichtet. 33 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Ostland“ gestrichen und durch „okkupierten Gebieten“ ersetzt. 34 Die sog. „Enterdungsaktion“ trug die Tarnbezeichnung „Sonderkommando 1005“. Häftlinge, die anschließend selbst ermordet wurden, mussten die toten Körper ausgraben und verbrennen.
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5.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 21. Dezember 1945 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Sohn eines Fabrikbesitzers, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und Polizeigeneral, gew[esener] Leiter der SS-Polizei im Baltikum. Vernehmungsbeginn 11 Uhr, Vernehmungsschluss 2 Uhr. Die Vernehmung wird mit Anteilnahme des Dolmetschers vom Russischen ins Deutsche, älterer Sergeant Suur geführt, der über die Verantwortung für falsches Übersetzen l[au]t § 95 Strafgesetzbuch RSFSR gewarnt ist. Frage: Sind im Ostland Gasautomaschinen (Seelenmörder) angewendet worden? Antwort: Ja, sie wurden angewendet, zum Ausrotten der Juden. Frage: Von wem erhielten Sie die Anweisung, die Seelenmörder im Ostland anzuwenden? Antwort: Solche Anweisungen wurden von Heydrich oder Kaltenbrunner an die mir unterstellten Führer von SD und Gestapo, Jost oder [Achamer-]Pifrader oder auch Panzinger (jetzt entsinne ich mich nicht mehr genau) erteilt worden. Aber ich entsinne mich, dass ich durch alle diese Personen über die Anwendung der Gasautomaschinen im Ostland beim Vernichten der Juden unterrichtet wurde. Außerdem, als ich im Dezember 1941 in Lötzen Himmler mündlich die Ausführung seines Befehls betreff Erschießen der Juden des Rigaschen Ghettos meldete, sagte mir Himmler, dass das Erschießen eine zu komplizierte Operation wäre35. Zum Erschießen, sagte er, brauche man Leute, die erschießen können, und dass dieses auf die Leute schlecht einwirke. Daher, sagte Himmler weiter, wäre es doch am bestem, die Menschen durch Anwendung von Gasautomaschinen zu liquidieren, welche laut seinen Anweisungen in Deutschland angefertigt worden sind, und dass bei der Anwendung dieser Gasautomaschinen alle Unbequemlichkeiten, die mit dem Erschießen zusammenhängen, wegfallen. Ich kann mich jetzt an den genauen Wortlaut der Äußerungen Himmlers über diese Frage nicht mehr entsinnen, aber es entstand der Eindruck, als ob der Gedanke, vom Anwenden der Gasautomaschinen, von Himmler selbst stamme. Frage: Wo und wann wurden die Gasautomaschinen im Ostland angewendet?
35 Jeckeln erstattet am 4. 12. 1941 Himmler persönlich Bericht über die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Riga, siehe hier aber auch: Meldung des Einsatzkommandos 2 über den Massenmord an den lettischen Juden im Herbst 1941, o. Datum (Anfang 1942), abgedruckt in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I, München 2011, S. 588–590.
5.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 21. Dezember 1945
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Antwort: Durch die oben genannten Führer von SD und Gestapo im Ostland war es mir bekannt, dass Gasautomaschinen, in der Anzahl von 3–5 Stück, in der zweiten Hälfte 1942 zum Vernichten der Juden in Salaspils und Riga angewendet wurden. Ende 1942 und Anfang 1943 erzählte mir der Führer des SD in Lettland, Dr. Lange, im Laufe eines Gesprächs über die Anwendung der Gasautomaschinen und erklärte mir ihre Einrichtung. Er forderte mich auch auf, zum Besichtigen hinzufahren, wovon ich mich entsagte. Er erzählte auch, dass die Menschen in der Maschine stark zu schreien anfangen, an die Wände der Maschine mit Fäusten klopfen, nachdem sie dort 5 Minuten gewesen sind, dann die Besinnung verlieren und zuletzt auch das Leben. Frage: Wie viele Menschen wurden durch Sie auf solche Weise vernichtet? Antwort: Ich kann die Zahlen, der auf solche Weise vernichteten Juden nicht nennen, aber kann sagen, dass die Zahl verhältnismäßig nicht groß gewesen ist, da SD und Gestapo es vorzogen, die Juden zu erschießen, als [sie] in den Gasautomaschinen zu ersticken. Ich entsinne mich jetzt nicht genau, ob es mir Lange oder Fuchs meldete, dass man die Gasautomaschinen zur Vernichtung der Juden nicht groß ausnutzen kann, wegen Mangel an Brennstoff und ihrer kleinen Nutznießung [Kapazität]. Sie sagten, dass die Leute, die in der Maschine getötet würden, an starker Übelkeit litten, und daher war nach jeder Todesfahrt eine sehr unangenehme und schmutzige Arbeit zu erledigen, das Säubern der Maschine und Ausladen der Leichen, was auch viel Zeit beanspruchte. In Anbetracht solcher Unbequemlichkeiten zogen Lange und Fuchs das Erschießen vor, da das ein viel leichteres und schnelleres Mittel zur Vernichtung lebender Menschen wäre. Frage: Wer leitete im Ostland die Konzentrationslager und Gefängnisse? Antwort: Die Konzentrationslager und Gefängnisse für Polithäftlinge36 waren in Verwaltung der mir unterstellten Dienststellen von SD und Gestapo. Im Maßstab des ganzen Ostlandes waren die Konzentrationslager und Gefängnisse den Führern von Gestapo und SD im Ostland unterstellt: Stahlecker, Jost, [Achamer-]Pifrader, Panzinger und Fuchs. In Lettland stand den Konzentrationslagern und Gefängnissen für Polithäftlinge37 der Führer von SD und Gestapo Lettlands, Oberstleutnant der Polizei Dr. Lange, vor, in Estland der Führer von SD und Gestapo Estlands, Oberstleutnant
36 Folgendes ließ Jeckeln ins Protokoll einfügen: „für Polithäftlinge“. 37 Folgendes ließ Jeckeln ins Protokoll einfügen: „für Polithäftlinge“.
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der Polizei Dr. Sandberger38 und nach ihm Polizeioberstleutnant Baatz39, in Litauen der Führer von SD und Gestapo, Polizeioberst Jäger. Frage: Welche Rolle spielten Sie in der Leitung der Konzentrationslager und Gefängnisse? Antwort: Alle Befehle, die sich auf den SD und die Gestapo bezogen, wurden aus Berlin unmittelbar den mir unterstellten Führern von SD und Gestapo im Ostland zugesandt. Letztere machten mir Meldung über die Befehle aus Berlin und der von ihnen im Ostland durchgeführten Arbeit. Woraus hervorgeht…40 Frage: Zählen Sie die von Ihnen im Ostland erbauten Konzentrationslager auf. Antwort: In Lettland befanden sich 5 Konzentrationslager: Das Konzentrationslager Salaspils, von welchem ich schon ausgesagt habe, und vier Konzentrationslager in Riga: Konzentrationslager im Mezapark, Konzentrationslager an der Pleskauer Straße am Jegelsee, Konzentrationslager am linken Ufer der West-Düna, unweit der Fabrik Lonta und ein Hilfslager der SS zwischen dem Wiestur-Prospekt und der Bahnlinie. In Estland befanden sich Konzentrationslager bei Tallinn und dem Flecken Kiviöli. In Litauen gab es Konzentrationslager in den Städten: Schaulen, Kowno, Wilna. In Lettland gab es außer den oben genannten Konzentrationslagern noch welche in den Städten Libau, Dünaburg und Rossiten, aber wie mir erinnerlich ist, sind sie vor meiner Ankunft in Ostland aufgelöst worden. Ein kleines Konzentrationslager befand sich in Pleskau.41
38 Martin Sandberger (1911–2010), SS-Standartenführer, 1931 Beitritt zur NSDAP und SA, promovierter Jurist, 1936 Übertritt zur SS und Mitarbeiter des SD-Oberabschnitts Südwest, 1939–1941 Leiter der Einwandererzentrale Nord-Ost, 1941 Chef des Sonderkommandos 1a, 1941–1943 KdS Estland, 1944– 1945 Abteilungsleiter VI A (Organisation des Auslandsnachrichtendienst) im RSHA. Seit Mai 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, 1948 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess zum Tode verurteilt, 1951 zu lebenslanger Haft begnadigt, 1958 entlassen. 39 Bernhard Baatz (1910–1978), SS-Obersturmbannführer, 1932 Beitritt zur NSDAP und SS, Jurist, Referendariat u. a. bei der Staatspolizeileitstelle in Berlin, seit 1937 bei der Gestapo, 1940 Leiter des Referats II O (besetzte polnische Gebiete), umbenannt in Referat IV D2 (Generalgouvernement, Polen im Reich), 1941–1943 Referatsleiter Ausländische Arbeiter, 1943–1944 Führer des Einsatzkommandos 1, zugleich KdS Estland, 1944–1945 KdS Sudetenland. Nach dem Krieg zunächst untergetaucht, dann Aufstieg als Manager, 1967 verhaftet, 1969 wegen Verjährung der Taten als Mordgehilfe aus der Untersuchungshaft entlassen. 40 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „…dass ich die Verantwortung in Fragen der Konzentrationslager und Gefängnisse trage.“ 41 Das KZ Riga-Kaiserswald hatte 17 Außenlager. In Estland gab es mindestens 27 Konzentrationslager, von denen die meisten vom Stammlager Vaivara verwaltet wurden, das hier fälschlich mit Kiviöli gleichgesetzt wird. Einige waren als Arbeitslager für die Ölschieferindustrie konzipiert. Die Konzentrationslager in Litauen wurden nach der Ermordung der Juden aufgelöst bzw. als Außenlager von Kaiserswald betrieben.
5.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 21. Dezember 1945
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Frage: Wie viele Gefängnisse waren42 im Ostland und wo befanden sie sich? Antwort: Ich kann der Untersuchung solche Daten nicht bringen, da ich über sie nicht verfüge, aber zweifellos befand sich in jeder Stadt Ostlands ein deutsches Gefängnis. Frage: Wie viele sowjetische Bürger haben Sie durch die Konzentrationslager und Gefängnisse passieren lassen? Antwort: Ich verfüge auch nicht über solche Daten, aber dennoch kann ich Ihnen meine Meinung über die Anzahl arretierter Sowjetbürger mitteilen, die in die Konzentrationslager und Gefängnisse kamen. In der Zeitspanne von 1941–1944 haben SD und Polizei täglich Sowjetbürger verhaftet. Schätzungsweise43 verhafteten wir in Litauen und Lettland, aus sogenannten politischen Motiven, täglich bis zu 20 Personen, in Estland – 10 Personen. Wenn man rechnen soll, dass die Leitung von SS und Polizei im Ostland ca. 1000 Tage war44, so ergibt das in Litauen 20 Tausend, in Lettland 20 Tausend und in Estland 10 Tausend Personen, die verhaftet worden sind. Also total von ganz Ostland, rein orientierend gerechnet, 50 Tausend Mann. Ich wiederhole, dass in dieser Zahl nur Verhaftungen aus rein politischen Gründen in Betracht gezogen sind, jedoch eine sehr große Anzahl Verhaftungen für sogenannte zivile Verbrechen45 nicht eingerechnet ist. Frage: Die von Ihnen angegeben Zahlen entsprechen in keiner Weise der Wirklichkeit. Wir fordern Sie auf, wahrheitsgemäße Daten anzugeben! Antwort: Ich verkünde nochmals der Untersuchung, dass ich die genaue Zahl der von uns verhafteten Sowjetbürger nicht kenne. Frage: Wofür verhafteten Sie Sowjetbürger? Antwort: Die Sowjetbürger wurden von uns hauptsächlich deshalb verhaftet, weil sie Sowjetpatrioten waren und [sich] gegen uns Okkupanten betätigten. Wir verhafteten auch deshalb Leute, weil sie vor unserer Okkupation Sowjetaktivisten oder Mitglieder der Kommunistischen Partei waren. Eine große Anzahl Sowjetbürger wurde aus Gründen verhaftet, wie der Weigerung, für uns in den Fabriken, Werken und Unternehmungen zu arbeiten, Ankauf großer Mengen landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die für die Wehrmacht notwendig waren, zwecks Wiederverkauf und auch für das
42 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „hatten Sie“ gestrichen und durch „waren“ ersetzt. 43 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „Im Durchschnitt“ gestrichen und durch „Schätzungsweise“ ersetzt. 44 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „ich hatte“ gestrichen und durch „war“ ersetzt. 45 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „resp. Spekulation“.
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kleinste antideutsche Vergehen. Wir wollten durch die Repression46 die im Ostland wohnenden Sowjetbürger zur Loyalität uns gegenüber zwingen. Frage: Wie verhielten Sie sich zu den verhafteten und eingekerkerten Sowjetbürgern? Antwort:47 Auf Grund diesbezüglicher Instruktionen aus der Gestapo-Zentrale in Berlin unterzogen SD und Gestapo im Ostland einige48 Verhaftete ebenso wie in Deutschland und anderen okkupierten Gebieten und Ländern Prügeleien, Hungerqualen, Erschöpfungen durch niedrige Temperatur,49 Verdrehen der Hände zu den Füßen, was große physische Qualen verursachte. Ich unterstreiche nochmals, dass diese tierischen Beeinflussungsmethoden, den verhafteten und eingekerkerten Sowjetbürgern gegenüber, von den höherstehenden Organen von SD und Gestapo erlaubt waren. Dieses alles führte zu50 Sterblichkeit bei den Verhafteten und Eingekerkerten in den Gefängnissen und Konzentrationslagern. Frage: Der Untersuchung sind Massenanwendungsfälle sadistischer Maßnahmen an den Verhafteten und Eingekerkerten bekannt, die in der Geschichte der Menschheit noch nie gehört worden sind. Warum verschweigen Sie sie? Antwort: Ich habe von sadistischen Methoden den Verhafteten und Eingekerkerten gegenüber nicht gehört.51 Frage: Es kann ja nicht sein, dass Sie von den systematisch durchgeführten Gräuelund Schreckenstaten der Ihnen unterstellten Beamten von SD und Gestapo an den friedlichen Sowjetbürgern nicht unterrichtet waren, wie auch davon, wie sie in Folterkammern und Konzentrationslager gezerrt wurden. Wir fordern wahrheitsgemäße Aussagen! Antwort: Ich kann der Untersuchung [keine] konkreten Fälle der sadistischen Methodenanwendung der mir unterstellten Beamten von SD und Gestapo den verhafteten und eingekerkerten Sowjetbürgern gegenüber anführen, da ich diesbezügliche Meldungen nicht empfangen habe.52
46 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Terror“ gestrichen und durch „Repression“ ersetzt. 47 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „Ich muss sagen, dass die verhafteten und eingekerkerten Sowjetbürger von uns viehisch behandelt wurden.“ 48 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „die“ gestrichen und durch „einige“ ersetzt. 49 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „In Ketten schmieden.“ 50 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „großer“. 51 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „aber wenn solche vorgefallen sein sollten, bin ich zweifellos dafür verantwortlich.“ 52 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „Aber ich bin dran Schuld, dass ich in dieser Frage kein Interesse gezeigt und keine Schritte unternommen habe, gegen die Anwendung solcher sadistischer Methoden in der Tätigkeit von SD und Gestapo.“
5.4 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 21. Dezember 1945
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Frage: Sagen Sie offen aus, auf welche Weise Sie außerdem die verhafteten und eingekerkerten Sowjetbürger gequält haben? Antwort: Von Arten der Quälereien kann ich nichts mehr aussagen, aber ich muss gestehen, dass wir von all den Verhafteten sehr viele erschossen haben, bei denen es uns nicht gelungen ist, sie an unsere Seite heranzuziehen. Wobei Erschießungen nur nach diesbezüglicher Korrespondenz mit Berlin erfolgt sind (Heydrich und Kaltenbrunner). In die Gestapo-Zentrale wurden Aufstellungslisten der zur Erschießung bestimmten Personen und ihre kurze Charakteristik gesandt. Aus Berlin kamen gewöhnlich sehr schnell Telegramme, die das Erschießen der von uns bestimmten Opfer befahlen53. Frage: Welche Rolle spielten Sie persönlich dabei? Antwort: Die Listen der Kandidaten zum Erschießen wurden von den entsprechenden Führern von SD und Gestapo, wie Konzentrationslagerchefs, aufgestellt. Ich war nicht im Stande, die Tätigkeit von SD und Gestapo in allen Fragen zu kontrollieren. Besonders Listen der Sowjetbürger, die zum Erschießen bestimmt waren, habe [ich] nicht gesehen54. Frage: Sie versuchen sich vergebens von den Fragen abzusondern, die mit der Tätigkeit von SD und Gestapo im Ostland in Verbindung stehen. Die Untersuchung kennt Ihre führende Rolle in dieser Sache. Wir fordern Sie auf, die Wahrheit auszusagen! Antwort: Konkret gestaltete sich meine Rolle in den Fragen von SD und Gestapo folgendermaßen: Die Befehlshaber von SD und Gestapo machten mir Meldung über die wichtigsten aus der Gestapo-Zentrale in Berlin erhaltenen Befehle. Besonders meldeten sie mir die aus Berlin erhaltenen Anweisungen über die Durchführung von Razzien und Verhaftungen von Antifaschisten, Kommunisten, Fahnenflüchtigen aus der deutschen Wehrmacht; Befehle über Suche und Verhaftung der aus den Lagern in Ostpreußen entlaufenden Kriegsgefangenen – englischer und amerikanischer Flieger. Ich konnte nicht alle Befehle, die SD und Gestapo aus Berlin erhielten, lesen, daher stellten mir die mir unterstellten Führer von SD und Gestapo kurze Memoranden dieser Befehle zusammen, die ich las. Außerdem legten mir die Führer von SD und Gestapo Rechenschaft ab über die getätigte Arbeit im Ostland. In der Regel zeigten sie mir ihre Berichte, die für Berlin angefertigt waren. In den Berichten wurde die politische Gesinnung der Bevölkerung in Estland, Lettland und Litauen beleuchtet, es wurden einzelne, durch unsere Agentur entdeckte, Fälle angeführt, über die Verbindung der baltischen Chauvinisten mit Schweden, konkrete Fälle von bemerkbarem sowjetischen Patriotismus,
53 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „sanktionierten“ gestrichen und durch „befahlen“ ersetzt. 54 Von Jeckeln wurden die ursrpünglich dort stehenden Worte „wurden von mir persönlich nicht geprüft“ gestrichen und durch „habe nicht gesehen“ ersetzt.
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allerhand antideutsche Gesinnungen in den Kreisen der Arbeiterschaft des Baltikums, die Gesinnung der Letten, Litauer und Esten im Zusammenhang mit der Organisierung der SS-Legionen aus der Bevölkerung des Baltikums, über die Gesinnung der SS-Legionäre selbst, darüber z. B., dass Bangerskis55 in Lettland zur SS-Legion nur Arbeiter und Landwirte mobilisierte, und die reichere Bevölkerungsschicht unberührt ließ, über die herrschende Gesinnung zwischen den Soldaten und Offizieren der deutschen Armee usw. Sie trugen mir auch ihre Pläne und Vorschläge vor, die sie zum Versand nach Berlin anfertigten, in Fragen der durchzuführenden Razzien, Verhaftungen und verschiedenerlei Operationen. Ich muss der Untersuchung mitteilen, dass ich den Meldungen der mir unterstellten SD und Gestapo nicht immer Glauben schenkte, denn ihre Angaben basierten auf Agenturangaben, die oftmals übertrieben und falsch waren, da die Offiziere von SD und Gestapo ihnen für gute Angaben über antideutsche Gesinnung Almosen gaben und daher taten sie es ihnen zum Danke. Ich habe oft gemerkt, dass unsere Agenten aus einer Fliege einen Elefanten machten, und das führte zum Anwachsen der Repressionen. Frage: Sagen Sie aus, welche Rolle den so genannten Ortsverwaltungen in Litauen, Lettland und Estland in der Durchführung ihrer Strafpolitik zufiel, den Völkern des Baltikums gegenüber. Antwort: Ich hatte die Gelegenheit, oftmals mit den Leitern der lettländischen „Selbstverwaltung“ Dankers56 und Bangerskis, mit dem Leiter der litauischen „Selbstverwaltung“ Kubiliunas57 und dem Leiter der estländischen „Selbstverwaltung“ Dr. Mäe58
55 Rudolfs Bangerskis (1878–1958), General der lettischen Armee, seit 1901 Offizier in der russischen Armee, im 1. Weltkrieg Bataillons-Kommandeur, im russischen Bürgerkrieg Offizier der Weißen Armee, 1924 Divisions-Kommandeur in der lettischen Armee, 1924–1928 wiederholt Kriegsminister, 1937 verabschiedet, 1943 zum Generalinspekteur der Lettischen Legion im Rang eines SS-Gruppenführers und Generals der Waffen-SS ernannt, Februar 1945 Präsident des Lettischen Nationalkomitees in Potsdam. 1945–1946 von der britischen Armee in Fallingbostel interniert, anschließend im deutschen Exil. 56 Oskars Dankers (1883–1965), General der lettischen Armee, seit 1903 Offizier in der russischen Armee, im 1. Weltkrieg Bataillons-Kommandeur, 1919 Regiments-Kommandeur der lettischen Armee, dann Divisions-Kommandeur, 1940 Flucht nach Deutschland, 1941 als Generaldirektor für Innere Angelegenheiten der lettischen Selbstverwaltung eingesetzt, 1944 Flucht nach Deutschland. 1945–1948 von der US-Armee interniert, 1947–1948 Aussagen in den Nürnberger Prozessen, 1957 Emigration in die USA. 57 Petras Kubiliunas (1894–1946), Generalleutnant der litauischen Armee, im 1. Weltkrieg Offizier der russischen Armee, 1919 Eintritt in die litauische Armee als Bataillons-Kommandeur, 1929 Generalstabschef, 1934–1937 nach Putschversuch in Haft, 1940 verhaftet, 1941 aus dem Gefängnis befreit, Erster Generalrat der litauischen Selbstverwaltung, des sog. Vertrauensrates, Ende 1944 Flucht nach Deutschland. Im August 1945 von NKVD-Agenten in der britischen Besatzungszone verhaftet und nach Moskau gebracht, 1946 vom Obersten Militärgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. 58 Hjalmar Mäe (1901–1978), estnischer Politiker, 1927–1930 Studium in Deutschland und Österreich, promovierter Jurist und Physiker, Lehrer und Politiker, 1935 als faschistischer Verschwörer
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zusammenzutreffen. Ich muss sagen, dass sie alle große Freunde der Deutschen waren. Diese Leute vertraten nur deutsche Interessen und machten sich über das Schicksal ihrer eigenen Völker keine Gedanken. Das waren nicht mehr als deutsche Marionetten. Wie ich aus ihren Gesprächen verstand, wollten sie nicht in kleinerem, sondern in größerem Maße als wir Deutschen die Kommunisten ausrotten. Sie meinten wahrscheinlich59, dass wenn auch Deutschland den Krieg verliere, wird es sowieso sehr gut sein, wenn Deutschland alle Sowjetpatrioten vernichtet, insbesondere die Kommunisten, denn ohne Kommunisten wird es ihnen leichter fallen, ihre Völker an die stärksten Mächte der Welt zu verraten. Frage: Wurden ausschließlich alle verhafteten Sowjetbürger erschossen? Antwort: Nein, nicht alle. Aus der Haft wurde eine unbedeutende Zahl entlassen60, aber ich muss sagen, dass mir aus den Meldungen von [Achamer-]Pifrader und Fuchs bekannt ist, dass ein großer Teil der verhafteten und eingekerkerten Sowjetpatrioten nicht erschossen, sondern zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurde, da sich in Deutschland eine kolossale Not an Arbeitskraft fühlbar machte. Frage: Wurden die verhafteten Sowjetbürger nur zur Befriedigung der Notwendigkeit an Arbeitskraft in Deutschland bei Zwangsarbeiten ausgenutzt? Antwort: Die Zwangsarbeiten waren eins der Mittel zu ihrer Vernichtung. Alle Verhafteten, soweit es mir bekannt ist, wurden in 2 Klassen eingeteilt. Zur ersten Klasse gehörten Personen, die zum Vernichten vorausbestimmt waren, solchen Leuten wurden Arbeiten zugeteilt, die zur schnellen Auszehrung und dem Tode führten. Den Leuten aus der zweiten Klasse wurde leichtere Arbeit gegeben. Noch vor dem Anfang des Krieges erzählte mir Himmler, wo und zu welchem Anlass kann ich mich jetzt nicht mehr entsinnen, dass in seinem eigenen Unternehmen in Mauthausen (bei Regensburg) bei den Arbeiten Verhaftete aus dem Konzentrationslager in Mauthausen ausgenutzt werden. Er erzählte, dass die Verhafteten Steine aus den Gebirgsarten brachen, sie transportierten und dann aus ihnen große Blöcke61 anfertigten, die für den Bau einer großen neuen Parteihalle62 in Nürnberg bestimmt waren, wo die
zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1938 amnestiert, 1940 Flucht vor der sowjetischen Besetzung nach Deutschland, 1941 Gründer des Estnischen Befreiungskomitees, 1941–1944 Generaldirektor für innere Angelegenheiten der estnischen Selbstverwaltung, September 1944 Flucht nach Deutschland. 1945–1947 in US-Internierungshaft, Zeuge in den Nürnberger Prozessen, seit 1948 Exil in Österreich. 59 Folgendes wurde von Jeckeln ins Protokoll eingefügt: „wahrscheinlich“. 60 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „befreit“ gestrichen und durch „entlassen“ ersetzt. 61 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „geschliffene Platten“ gestrichen und durch „Blöcke“ ersetzt. 62 Von Jeckeln wurde das ursprünglich dort stehende Wort „Schlosses“ gestrichen und durch „Parteihalle“ ersetzt.
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Zusammenkünfte der National-Sozialistischen Partei abgehalten werden sollten, wie auch für Bauten militärischer Bedeutung. Himmler erzählte weiter, dass die Verhafteten, die bei dieser Arbeit beschäftigt wurden, schon früher zum schnellen Tode vorbestimmt worden sind, da sie nicht mal das Minimum der Verpflegung erhalten, welche zum Erhalten des menschlichen Lebens absolut notwendig ist, und außerdem arbeiten sie immer im Wind, was zu Lungenentzündungen und zum Tode führt. Ende 1943 oder Anfang 1944 erzählte mir Himmler in Lötzen, dass er mit den Menschen, die er nicht mehr benötigt, ganz einfach vorgeht, indem er Befehl erteilt, keine Fettstoffe zu verabreichen, sondern nur mit63 Margarine zu füttern, die absolut keine dem menschlichen Körper notwendige Vitamine enthält, und die in Folge dessen im Laufe einiger Monate umkommen.64 Nachdem die Rote Armee das Baltikum von unseren Truppen gereinigt hatte, war ich im Quartier Himmlers im oberen Rheingebiet. Im Januar 1945 erzählte mir der Generalleutnant des Ingenieurdienstes der SS, Dr. Kammler65, folgendes66: Als man am Ufer des La Manche die Startplätze für Raketenflugzeuggeschosse errichtete, wurden sie schnell von der englischen Luftwaffe entdeckt, so dass es zu starkem Bombardements kam.67 Im Zusammenhang damit befahl Hitler, diese Plätze im Bergfelsen zu verstecken. Über diese Frage wurde eine Beratung zusammengerufen, an welcher Himmler, Rüstungsminister Speer, Vertreter von Göring und viele andere technische Experten teilnahmen. Alle diese Leute waren der Meinung, dass
63 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „einer speziell angefertigten“. 64 Die SS führte in mehreren Konzentrationslagern Ernährungsversuche u. a. mit Ersatzstoffen durch, etwa einer aus Erdöl hergestellten Margarine, die sich als nicht verwertbar für den menschlichen Stoffwechsel erwies. Das Treffen mit Himmler, auf dem der RFSS diese Aussage machte, fand entweder am 7. 12. 1943 oder am 11. 2. 1944 statt. Vgl. Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Bestand 500, Findbuch 12493, Akte Nr. 5, Diensttagebuch Himmler 1943–1944, Bl. 157 und Bl. 374. 65 Hans Kammler (1901–1945?), SS-Obergruppenführer, 1919 Reichswehr, dann Freikorps, Architekt, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1933 zur SS, 1933–1936 Referent für bäuerliches Siedlungswesen im Reichsministerium für Landwirtschaft und Ernährung, 1936–1940 Referent für Bauangelegenheiten im Reichsluftfahrtministerium, 1940 Mitarbeiter im SS-Hauptamt Verwaltung und Wirtschaft, 1941 Chef des SS-Hauptamtes Haushalt und Bauten, 1942–1945 Chef der Amtsgruppe C (Bauwesen) im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, für zahlreiche KZ-Bauvorhaben, einschließlich der Gaskammern, und unterirdische Rüstungsprojekte zuständig, 1943 Sonderbeauftragter des RFSS für das Raketenbau-Programm A4, später für weitere Rüstungsprogramme verantwortlich. Am 9. 5. 1945 Suizid auf der Flucht aus Prag, 1948 amtlich festgestellt und später durch Zeugenaussagen bestätigt. Neueren Forschungen zufolge fingierte Kammler angeblich seinen Suizid und setzte sich zu den US-Truppen ab, wurde in den USA inhaftiert, um sein Wissen abzuschöpfen, und verübte erst 1947 in Haft Suizid. 66 Das beschriebene Treffen fand am 18. 1. 1945 bei Himmler in Forbach-Gausbach statt. Vgl. Dienstkalender Himmler, Dezember 1944–März 1945, BA Berlin, NS-19/1793, Bl. 61. 67 Hier ist der an der Kanalküste 10 km von Saint-Omer gelegene Bunker von Éperlecques gemeint, der seit 1943 als Abschussbasis für V-2 Raketen gegen Großbritannien gebaut wurde. Im Sommer 1944 zerstörten britische Bombenangriffe die Baustelle des Bunkers so stark, dass von dessen Fertigstellung abgesehen wurde.
5.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945
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man den genannten Befehl Hitler nicht ausführen kann, dass es eine unmenschliche Arbeit erfordere, und dass zu diesem Zweck die Arbeitskraft fehle. Dann erklärte Himmler, dass er den Befehl Hitlers nur durch die Anwendung von Gefangenenarbeitskraft durchführen könnte. Danach schickte Himmler auf die unterirdischen Bauplätze für Flugzeuggeschosse68 Häftlinge. Der Befehl Hitlers war schnell ausgeführt auf Kosten des Todes vieler Menschen, die durch Steinstaub und unmenschliche Arbeit umkamen. Aus dem oben Erwähnten folgt, dass von den Sowjetbürgern, die zur Zwangsarbeit in Deutschland eingesetzt wurden, eine große Menge umkam.69 Nach meinen Worten richtig geschrieben und von mir in deutscher Sprache gelesen Jeckeln. Vernahm: Vertr[eter] d[es] Chefs der 2. Verwaltung des NKGB UdSSR Major Zwetajew Dolmetscher Suur Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bd. 1, Bl. 57–63. Maschinenschriftliches Original. Deutsch.
5.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945 Jeckeln, Friedrich, geboren 1895 in Hornberg (Deutschland), Deutscher, Mitglied der NSDAP ab 1929, Obergruppenführer der SS und General der Polizei, ehemals Chef der SS und Polizei im Baltikum. Das Verhör begann um 12 h. Das Verhör war um 16.30 [Uhr] beendet. Die Vernehmung wurde mit Hilfe des Übersetzers aus dem Russischen ins Deutsche, des älteren Sergeanten Suur geführt, der für die Verantwortlichkeit für falsche Übersetzung gemäß § 95 Strafgesetzbuchs d[er] RSFSR gewarnt ist. Suur Frage: Sagen Sie, sich im Ostland befindend, haben Sie persönlich Juden erschossen? Antwort: Nein, persönlich habe ich Juden nicht erschossen. Frage: Ist dem so?
68 Folgendes ließ Jeckeln im Protokoll streichen: „schon früher zum Tode vorbestimmte“. 69 Allein beim Ausbau des unterirdischen Anlagen des Mittelwerkes bei Nordhausen, wo die Serienfertigung der V2 erfolgte, verstarben von den rund 10 000 eingesetzten KZ-Häftlingen zwischen Oktober 1943 und März 1944, dem Beginn der Raketenproduktion, rund 3000 Menschen, weitere 3000 völlig entkräftete Häftlinge deportierte die SS zur Vernichtung in die KZ Lublin-Maidanek und BergenBelsen.
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Antwort: Jawohl. Frage: Sie sprechen die Unwahrheit. Der Zeuge Blaschek, F. L.70, ehemals Chef der Bauinspektion der SS im „Ostland“, sagte am 23. Dezember 1945 aus: „… Während der Erschießung fiel ein Greis in die Grube, der augenscheinlich versuchte, seinem Leiden durch Selbstmord ein Ende zu machen, indem er ein Messer hervorzog und sich die Arterien zu durchschneiden bemühte; dies bemerkend, trat Jeckeln an den Rand der Grube und rief: ‚Du hast kein Recht, Dir das Leben zu nehmen‘ und erschlug den Greis (Juden) mit seiner Pistole… All dies oben Erzählte teilten mir Hauptsturmführer List71 und Obersturmführer Meyer72 mit… List war persönlich auf der Erschießung zugegen.“ Wie Sie sehen, ist Ihre Verstockung zwecklos. Antwort: Blaschek spricht die Unwahrheit. Frage: Der Zeuge Ljew, F. S. – Einwohner von Riga – sagte am 13. Dezember 1945 aus: „Im Jahre 1942 wurden die Polizeiräume durch Jüdinnen aufgeräumt. Als Jeckeln einmal an den Frauen vorbeiging und bemerkte, dass sie rauchten, befahl er, sie sofort zu ergreifen, und noch am selben Tage sind sie erschossen worden.“ Sie bestreiten diese Tatsache nicht? Antwort: Die Jüdinnen arbeiteten in meiner Residenz, nicht aber bei der Aufräumung von Dienstzimmern, sondern in der Küche, und ich gab tatsächlich den Befehl, sie ins Ghetto zu stecken. Frage: Der Untersuchung ist bekannt, dass Juden nicht nur erschossen, sondern auf den Straßen erhängt wurden. Bestätigen sie dies? Antwort: Nein, [ich] bestätige [es] nicht. Frage: Ihre Verstockung ist zwecklos, der Zeuge Kriegsgefangener, ehemals Flieger der deutschen Wehrmacht Plett, Peter sagte am 22. Oktober 1945 aus: „… Jeckeln
70 Fritz Blaschek (1903–?), SS-Obersturmbannführer, Architekt, bis 1942 Leiter des Amtes C IV (Künstlerische Fachgebiete) im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA), 1942 Leiter der Baugruppe C in Riga, dann bis 1944 Leiter des SS-Bauwesens im Ostland. Nach 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 71 Maximilian List (1910–nach 1980), SS-Sturmbannführer, Bauingenieur, 1930 Beitritt zur NSDAP und SS, seit 1937 beim Verwaltungsamt München des RFSS, Abteilung V 5 (Bauwesen), 1939 Übernahme in das SS-Hauptamt Haushalt und Bauten, Leiter der Hauptabteilung II C (KL und Polizei), 1941– 1942 Leiter der Baugruppe „Ostland“, Bauinspektion der Waffen-SS und Polizei 101 in Riga, 1942–1944 Führer der SS-Baubrigade I, zunächst in Düsseldorf, ab März 1943 Kommandant des Außenlagers des KZ Neuengamme „Sylt“ auf der Kanalinsel Alderney zum Ausbau des „Atlantikwalls“, April 1944 Leiter der Baugruppe „Nord“ beim HSSPF Nord in Oslo, Juli 1944 Leiter der Baugruppe „Italien“ beim HSSPF Italien, Ende 1944 im SS-WVHA. In den 1970er Jahren wurde in Hamburg ein Prozess gegen List vorbereitet, es erfolgte jedoch keine Anklage. 72 Meyer konnte, wie auch Ljew, Plett, Brunner, Kaplan und Kirchenstein nicht ermittelt werden.
5.5 Vernehmungsurkunde des Arretierten Friedrich Jeckeln, Riga, 30. Dezember 1945
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war durch seine Grausamkeit und seine Vergeltungsmaßnahmen bekannt, auf seinen Befehl sind im Juni–Juli 1942 in Riga und Mitau alle Juden zusammengetrieben worden, die dann auf Lastkraftwagen durch die Stadt gefahren und an Bäumen gehängt wurden.“ Ist es für Sie nicht besser, völlig augenscheinliche Tatsachen einzugestehen? Antwort: Im Juni–Juli 1942 befand ich mich bei Leningrad. Dienstlich war ich natürlich äußerst streng, was man von mir verlangte, forderte ich auch von meinen Untergebenen. Frage: Der Untersuchung ist bekannt, dass Sie persönlich nicht nur Juden, sondern auch Personen anderer Nationalität erschossen. Gestehen Sie das ein? Antwort: Nein, ich bestreite das. Frage: Der Zeuge, der deutsche Kriegsgefangene Brunner E. S. sagte am 12. Dezember 1945 aus: „Im Herbst 1944, als eine der Razzien in Riga unter der Leitung des Generals Jeckeln selbst durchgeführt wurde, sind bei einem der festgenommen Männer 2 Patronen in der Tasche gefunden wurden. Diesen Mann erschoss Jeckeln selbst.“ Wie Sie sehen, sprechen Sie auch im gegebenen Fall die Unwahrheit. Antwort: Diesen Tatbestand73 bestreite ich ebenfalls. Frage: Am 22. Dezember 1945 verschwiegen Sie der Untersuchung eine ganze Reihe Tatsachen, betreffs Ihrer Verantwortlichkeit für die gewaltsame Aushebung der Bevölkerung im „Ostland“ zu Zwangsarbeiten nach Deutschland. Vielleicht würden sie nunmehr wahrhafte Aussagen in dieser Frage machen? Antwort: Auf dem Verhör am 22. Dezember 1945 leugnete ich nicht und leugne auch jetzt nicht, dass ich mit Hilfe der mir unterstellten Polizei im Jahre 1943, wie auch 1944 im Herbst den deutschen Zivilbehörden bei der gewaltsamen Evakuierung der Bevölkerung (zuerst in Litauen, das zweite Mal in Riga) aktive Unterstützung erwies. Frage: Die Zeugin Kaplan B. D., Einwohnerin von Riga, sagte am 13. Dezember 1945 aus: „… Im September, Oktober 1944 setzten in Riga Massenrazzien ein… Plünderungen der Zivilbevölkerung, die gesunde Bevölkerung wurde zu Bauarbeiten mobilisiert, und vor der Räumung Rigas wurde die Bevölkerung im Hafen zusammengetrieben, von wo aus sie nach Deutschland abtransportiert wurde. Wer sich nicht evakuieren [lassen] wollte, wurde erschossen. Die Stadt wurde verstärkt miniert, Wohnhäuser und andere Gebäude wurden in Brand gesteckt… Die Verhaftungen, Vertreibung der Bevölkerung wurde auf Befehl des Polizeiführers General Jeckeln durchgeführt.“ Bestätigen Sie diese Zeugenaussage?
73 Von Jeckeln wurden die ursprünglich dort stehenden Worte „Diese Tatsache“ gestrichen und durch „Diesen Tatbestand“ ersetzt.
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Antwort: Auf dem Verhör am 22. Dezember 1945 berichtete ich der Untersuchung, dass nach dem Auftrag Kochs auf meinen Befehl im Herbst 1944 Razzien unter der Bevölkerung Rigas durchgeführt worden sind. Über die Erschießung der Rigaschen Bevölkerung im Hafen ist mir nichts bekannt. Was nun die Minierung und Brandstiftung in Riga zur Zeit der Evakuierung seiner Bevölkerung betrifft, so erfüllte diese Mission, wie ich schon früher aussagte, der Festungskommandant von Riga, Generalleutnant Ruff, dem damals nicht nur Heerestruppen, sondern bereits auch Polizeieinheiten zur Verfügung standen. Frage: Der Untersuchung ist bekannt, dass im Jahre 1944 Sie aktiven Anteil an der Mobilisierung der Bevölkerung zur Arbeit nach Deutschland, nicht nur aus Riga, sondern auch aus anderen Gebieten Lettlands und den anliegenden Ostbezirken der RSFSR nahmen. Warum verschweigen Sie das? Antwort: Das bestreite ich. Frage: Die vollkommene Leugnung ihrer Taten ist nicht zu ihren Gunsten. Der Zeuge Hauptsturmführer des Stabs der 19. SS-Division Kirchenstein, W. F. sagte am 22. Dezember 1945 aus: „… Beim Rückzug der 19. SS-Division… angefangen mit Opotschka und bis Kurland, in der lettischen SSR wurde im Bereich der 19. SS-Division der gesamten Bevölkerung anbefohlen, ihren Wohnort zu verlassen und sich nach Libau und in Richtung Riga zu begeben. Von der 19. SS-Division sind gewaltsam 80 Tausend Mann der friedlichen Bevölkerung, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder, aber auch Männer, vertrieben worden. Bei der gewaltsamen Vertreibung der friedlichen Einwohner nach Deutschland ist das gebliebene Hab und Gut, Lebensmittel und Vieh geplündert und nach Deutschland verschleppt worden… Südöstlich der Stadt Ostrow, wo die Welikaja einen Bogen beschreibt, sind von der 19. SS-Division alle Gebäude und Dörfer der friedlichen Bevölkerung mit all ihrem Hab und Gut niedergebrannt worden und die Bevölkerung hatte man vordem in die rückwärtigen Gebiete Lettlands vertrieben. Etwa 2 Tausend Häuser sind vollkommen niedergebrannt worden, Fruchtgärten und Bäume sind vollkommen abgeholzt worden…“ All dieses bezieht sich auf die Zeitspanne März–April 1944. Werden Sie jetzt die Wahrheit erzählen? Antwort: Opotschka gehörte nicht zum Territorium des „Ostlands“. Die gesamte gewaltsame Evakuierung im Raum der sich absetzenden Truppen wurde vom Heere selbst durchgeführt. Über Plünderungsfälle, die der Zeuge schildert, ist mir nichts bekannt. Man sprach mir davon, dass die zurückweichenden deutschen Soldaten die lettische Bevölkerung plünderten und Häuser in Brand steckten. Dies wurde aber vom Kommando der deutschen Armee und der 19. SS-Division verübt (Der Kommandeur Streckenbach war Walter Krüger unterstellt). Frage: Sie wälzen die ganze Schuld auf die Führung Ihres Heeres ab. Derselbe Zeuge Kirchenstein sagte indessen ferner aus: „Anfang 1944 bis zum Ende des selben Jahres waren von General Jeckeln zur Verfügung des Generals Streckenbach Offiziere, insge-
5.6 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richter
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samt 45 Mann, hergesandt worden und ebenso die Ersatzgestellung an Mannschaften dieser Division, insgesamt etwa 4 Tausend Mann, die im März 1944 eintraf… Die letzteren waren von General Bangerskis auf Anweisung von Jeckeln hergesandt worden. Streckenbach ist in diesen Angelegenheiten mehrmals nach Riga befohlen worden, wo er mit General Jeckeln und Bangerskis zusammentraf.“ Daraus folgt, dass nicht nur die Heerestruppen, sondern auch Sie und Bangerskis für die gewaltsame Evakuierung der friedlichen Bevölkerung im gegebenen Fall und die Plünderung und Einäscherung des Eigentums und der Häuser von Sowjetbürgern verantwortlich sind. Antwort: Streckenbach sind tatsächlich Offiziere und Soldaten zur Verfügung gestellt worden. Das geschah aber nicht auf meinen Befehl, sondern auf Befehl des Befehlshabers der SS-Truppen General Krüger. In dieser Angelegenheit sprach Streckenbach nicht mit mir, sondern mit Krüger und Pannier74, Oberst der SS-Truppen. Meinen Worten gemäß richtig nieder geschrieben und mir in der deutschen Muttersprache verlesen. Jeckeln Vernahm: Stellvertr[ender] Chef der Abteilung der 2. Verwaltung des NKGB d[er] UdSSR Zwetajew. Für die Richtigkeit der Übersetzung: Übersetzer des Kriegsgefangenenlagers 277 des NKWD d[er] UdSSR Vogel Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-18313, Bd. 1, Bl. 137–140. Handschriftliches Original. Deutsch.
5.6 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richterüber die jüdische Militärorganisation „Irgun“ in Palästina und im Nahen Osten, Moskau, 10. April 1947 Schriftliche Aussage des ehemaligen deutschen Polizeiattachés in Rumänien, Richter, Gustav vom 10. April 1947, Moskau Die Mitglieder und Anhänger dieser Organisation haben sich deswegen zusammengefunden, weil England nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Verpflichtungen der
74 Rudolf Pannier (1897–1978), SS-Standartenführer und Oberst der Schutzpolizei, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1919–1920 Freikorpskämpfer, u. a. im Baltikum, seit 1920 bei der Hamburger Schutzpolizei, 1941 Kompaniechef in der 4. SS-Polizei-Division, 1942 Kommandeur des II. Bataillons des SS-Polizei-Schützenregiments 2, 1942–1943 Kommandeur des Rekrutendepots der SS-Polizei-Division auf dem SS-Truppenübungsplatz bei Dębica, 1943–1944 Kommandeur der SS-Truppenübungsplätze und Rekrutendepots „Waldlager“ bei Bobruisk, dort kurzzeitig auch Kommandeur des aus rumäniendeutschen Freiwilligen rekrutierten SS-Jäger-Bataillons 500, und „Moorlager“ bei Bereza, 1944–1945 Kommandeur des aus ukrainischen Freiwilligen rekrutierten 31. Waffen-Grenadier-Regiments der SS.
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Balfour-Deklaration zur Gründung eines „jüdischen nationalen Staates“, die es selbst beschlossen hatte, umsetzte.75 Des Weiteren sind die Mitglieder von „Irgun“ der Meinung, dass England systematisch Zwietracht zwischen den Arabern und Juden schürt, um für sich möglichst großen Nutzen daraus zu ziehen. Der Peel-Plan ist dafür Beweis genug.76 Auf Grund von dessen Kenntnis, nahmen die Organisationsmitglieder von „Irgun“ Abstand von der Zusammenarbeit mit England und entschieden sich klar für den Kampf gegen die englische Politik in Palästina. Ungefähr 1942 machte mich der damalige Leiter der Presseabteilung des jüdischen Zentralrats in Rumänien, Dr. Willmann (sein richtiger Name war Matej Grünberg77) auf die Organisation „Irgun“ aufmerksam. Er teilte mir mit, dass er in Bukarest ein Mitglied bzw. Anhänger dieser Organisation, den jüdischen Anwalt Dr. Leidermann (Vorname Konstantin oder Jakob78), kennengelernt hatte. Ich bat Willmann dann darum, ein Treffen mit Dr. Leidermann zu organisieren. Das Treffen fand in der deutschen Botschaft statt. Dr. Leidermann erläuterte mir die Grundzüge des Programms von „Irgun“, das, wie bereits beschrieben, darauf ausgerichtet war, gegen die englischen Interessen in Palästina zu kämpfen. Außerdem sah ich die Möglichkeit, die Mitglieder von „Irgun“ und die gesamte Arbeit dieser Organisation im Interesse der deutschen Aufklärung in Palästina und dem Nahen Osten zu nutzen. Dazu gehörte: a) Verwendung für die reine Spionagetätigkeit, da „Irgun“ über einen großen Geheimdienstapparat verfügte, b) Verwendung für subversive Tätigkeiten. Zum Programm von „Irgun“ gehörte die Sabotage der Ölindustrie, wichtiger Eisenbahn- und Verkehrsverbindungen sowie öffentlicher Gebäude der Briten. Es wurden auch Attentate auf hochgestellte Beamte der britischen Verwaltung in Palästina verübt, die, soweit ich weiß, auch auf die Aktivitäten von „Irgun“ zurückzuführen sind.
75 Am 2. 11. 1917 erklärte Großbritanniens Außenminister Arthur James Balfour (1848–1930) im Namen seiner Regierung die Bereitschaft, im soeben eroberten Palästina eine „nationale Heimstatt für das jüdische Volk“ einzurichten. 76 Die nach dem britischen Politiker William Peel (1867–1937) so genannte Peel-Kommission unterbreitete 1937 den Vorschlag, Palästina in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen, zu teilen. Jerusalem sollte britisches Mandatsgebiet bleiben. 77 Matias Grünberg-Willman (1893–?), rumänischer Anwalt, Jurist und Journalist, Studium in Bukarest, Spezialisierung in Deutschland, Anhänger der antizionistischen „Territorialbewegung“ in Rumänien, die die Auswanderung der Juden nach Madagaskar angestrebt hatte, 1942–1944 Mitglied des Zentralen Judenrates in Rumänien, Leiter der Presseabteilung, ab Mai 1942 Redakteur der „Jüdischen Zeitung – Gazeta Evreiască“, Informant von Gustav Richter. Im September 1944 verhaftet, 1946 vom rumänischen Volksgerichtshof als Kriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1955 amnestiert und entlassen, danach Emigration nach Israel. 78 Leidermann, promovierter Jurist (?–?), rumänischer Anwalt, Jurist, 1941–1944 Mitglied der zionistischen Untergrundorganisation Irgun in Bukarest.
5.6 Schriftliche Selbstaussage des SS-Sturmbannführers Gustav Richter
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Wie mir Dr. Leidermann mitteilte, bildet „Irgun“ seine Mitglieder militärisch aus. Sie haben zahlreiche illegale Waffenlager, die über das ganze Land verteilt sind. Er berichtete mir darüber hinaus, dass einer der wichtigsten Funktionäre von Irgun, mit Namen Schieber79, von Zeit zu Zeit nach Istanbul reist, um sich dort mit Mitgliedern der Organisation zu treffen. Ursprünglich stammt er aus Mersin. Ein jüdischer Kapitän, der zwischen Haifa und Mersin verkehrt und Vertrauensperson sowie Kurier ist, informiert ihn über die dortigen Ereignisse. Ich erklärte Dr. Leidermann daher, dass die Arbeit von „Irgun“ für Deutschland von Interesse sei. Ich versuchte so, persönlichen Kontakt zu Schieber zu erhalten. Leidermann stimmte zu und teilte mir kurze Zeit später mit, dass Schieber informiert sei. Es gäbe die Möglichkeit, Schieber während eines Aufenthalts in Istanbul zu treffen. Er würde mich rechtzeitig darüber informieren. Ich verfasste darüber einen ausführlichen Bericht an den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, der, soweit ich weiß, dem Hauptbeauftragten des Reichssicherheitshauptamts – Amt VI – in der Türkei80 den Auftrag erteilte, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Schieber ließ mir rechtzeitig durch Dr. Leidermann sein Ankunftsdatum in Istanbul mitteilen. Ich informierte den Chef der Sicherheitspolizei umgehend. Ab diesem Moment hatte ich mit dieser Angelegenheit nichts mehr zu tun. Ich nehme an, dass der Hauptbeauftragte des Reichssicherheitshauptamts – Amt VI – diesen Kontakt benutzt hat. Richter, Gustav Die Aussage wurde vom Sonderermittler der 4. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Hauptmann Solowow, entgegengenommen. Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21099 Bd. 1, Bl. 311–313. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
79 Nicht ermittelt. 80 Gemeint ist Ludwig Carl Moyzisch (1902–?), SS-Sturmbannführer, österreichischer Journalist, u. a. Mitarbeiter der „Wiener Neuesten Nachrichten“, 1932 Beitritt zur NSDAP, seit 1938 Pressereferent der Reichsstatthalterei Wien, 1940–1944 Bevollmächtigter des Amtes VI (SD-Ausland) des RSHA in Ankara, getarnt als Assistent des Handelsattachés der deutschen Botschaft, anschließend im RSHA, Referat VI C 12 (Türkei, Iran, Afghanistan). Im Mai 1945 in Österreich untergetaucht, im Juli vom britischen Nachrichtendienst aufgespürt und vernommen, danach wieder als Journalist tätig.
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5.7 Protokoll des Verhörs von SS-Sturmbannführer Gustav Richter, Moskau, 5. Oktober 1947 Verhörprotokoll des ehem[aligen] Polizeiattachés der deutschen Botschaft in Rumänien Gustav Richter vom 5. Oktober 1947 Richter, Gustav, geboren 1912 in Stadtprozelten (Deutschland), Deutscher, mittlere Bildung, Mitglied der faschistischen Partei, ehemaliger Angehöriger des SD, SSSturmbannführer. Frage: Wann und unter welchen Umständen wurden Sie zum deutschen Berater für „Judenangelegenheiten“ ernannt? Antwort: Zum deutschen Berater für Judenangelegenheiten in Rumänien wurde ich im März 1941 von der Personalabteilung des Reichssicherheitshauptamtes auf Empfehlung des Referenten für Personalfragen SS-Obersturmbannführer Braune81 ernannt, der mich durch unseren gemeinsamen Dienst beim SD in Stuttgart kannte. Er schlug mich als Person vor, die große Erfahrungen in der Lösung des Judenproblems in Deutschland und dem von ihm besetzen Ländern hatte. Frage: Welche Anweisungen erhielten Sie in Berlin vor der Abreise nach Rumänien zur dortigen Durchführung von Strafmaßnahmen gegen die Juden? Antwort: Besondere Instruktionen erwiesen sich nicht als notwendig, da ich sehr gut mit den politischen und praktischen Maßnahmen der deutschen Regierung in der Judenfrage vertraut war. Ich verstand, dass meine Aufgabe in der Hilfe der rumänischen Regierung bei der Lösung des Judenproblems entsprechend dem deutschen Vorbild liegen wird. Was einige Details dieser Arbeit betrifft, so machte ich mich vor meiner Abreise aus Berlin im Reichssicherheitshauptamt mit den Berichten unseres Mitarbeiters Wisliceny vertraut, der bereits zu dieser Zeit in der Slowakei umfangreiche Vorbereitungsarbeiten durchgeführt hatte, die auf die dortige Endlösung der Judenfrage ausgerichtet waren. Frage: Welche Strafmaßnahmen wurden von Wisliceny gegen die Juden in der Slowakei durchgeführt? Antwort: Wisliceny ließ, gestützt auf pronationalsozialistische Elemente in der Slowakei, ein Gesetz über den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus dem Kulturund Wirtschaftsleben des Staates sowie zur gewaltsame Enteignung ihres Vermögens und ihrer Wertsachen verabschieden, organisierte einen zentralen Judenrat und
81 Fritz Braune (1910–nach 1973), SS-Obersturmbannführer, Kaufmann, 1931 Beitritt zur NSDAP, 1935 zur SS, 1940–1941 Referent I A 4 (Personalien des SD) im RSHA, 1940 beim SD in Oslo, 1941–1942 Führer des Sonderkommandos 4b in der Einsatzgruppe C, verantwortlich für zahlreiche Massenmorde, ab 1942 erneut als Referent I A 4 im RSHA. 1973 in Düsseldorf zu 9 Jahren Haft verurteilt.
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registrierte die jüdische Bevölkerung. Für die Bearbeitung der jüdischen Organisationen und einzelner Personen schuf er sein eigenes Agentennetz. Bis 1942 wurden von 100 000 in der Slowakei lebenden Juden rund 60 000 deportiert und in Konzentrationslager in Polen verbracht. Mein unmittelbarer Vorgesetzter SS-Obersturmbannführer Eichmann sagte mir, dass ich die gleiche Vorbereitungsarbeit in Rumänien durchführen solle, danach würde ich von ihm weitere Weisungen im Sinne der Endlösung der Judenfrage erhalten. Frage: Was ist unter „Endlösung der Judenfrage“ zu verstehen? Antwort: Die Endlösung der Judenfrage bedeutete die vollständige physische Vernichtung der Juden in allen Ländern Europas, die von den deutschen Streitkräften besetzt waren. Die erste geheime Anordnung zur Vernichtung der Juden wurde am 31. Juli 1941 von Göring an den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich gegeben. Diese Anweisung habe ich persönlich in Berlin gelesen, als ich bei Eichmann, der auf Weisung Heydrichs unmittelbar die Vernichtung der Juden leitete, empfangen wurde. Die deutsche Politik gegenüber den Juden war von Hitler in seiner Rede, die er am 24. Februar 1942 vor „alten Kämpfern“ zum Jahrestag der Gründung der nationalsozialistischen Partei hielt, eindeutig klar formuliert worden. Hitler erklärte, dass bis zum Ende des Krieges alle Juden ohne Ausnahme zu vernichten seien. Frage: Welche konkreten Anweisungen erhielten Sie weiterhin von Eichmann zur Durchführung von Strafmaßnahmen gegen die Juden? Antwort: Während meines Aufenthalts in Rumänien erhielt ich von Eichmann eine ganze Reihe von Weisungen, die auf die praktische Lösung des Judenproblems ausgerichtet waren. Diese Anweisungen liefen auf folgendes hinaus: aus der Zahl von rumänischen Politikern einen geeigneten Kandidaten für den Posten eines Bevollmächtigten für Judenfragen auszuwählen und der rumänischen Regierung vorzuschlagen, in Rumänien alle jüdischen Vereinigungen, Organisationen und Gesellschaften aufzulösen und einen jüdischen Zentralrat zu schaffen, für die Leitung dieser Organisation zuverlässige Personen aus der jüdischen Bevölkerung auszuwählen; eine Erfassung der jüdischen Bevölkerung durchzuführen; ein Agentennetz für die Bearbeitung jüdischer Organisationen zu organisieren; den Ausschluss der Juden aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes zu erreichen; keine Flucht der Juden aus Rumänien ins Ausland zuzulassen; bei der rumänischen Regierung den Abtransport der jüdischen Bevölkerung in die Konzentrationslager in Polen zu erreichen. Frage: Welches Ziel verfolgte der sogenannte „Jüdische Zentralrat“ in Rumänien? Antwort: Um vor den Augen der Öffentlichkeit in Rumänien die eigentlichen Ziele der aufgeführten Maßnahmen in der Judenfrage zu maskieren, wurde mir empfohlen,
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einen jüdischen Zentralrat zu schaffen, mit welchem die Vergeltungspolitik gegen die Juden leichter zu verschleiern war, da das von Seiten der letzteren keinen starken Widerstand oder Verdacht hervorrief. Frage: Mit wem aus der rumänischen Regierung haben Sie Ihre Arbeit koordiniert? Antwort: Alle Gespräche von prinzipieller Bedeutung habe ich mit Mihai Antonescu82 geführt. Noch während meiner ersten Visite bei ihm, hat er mich über die antijüdischen Maßnahmen die von der rumänischen Regierung durchgeführt wurden informiert und seine Hoffnung ausgedrückt, dass ich mit ihm in ständigen Kontakt stehen und meine Empfehlungen auf der Grundlage der Erfahrungen in Deutschland geben würde. Auf seinen Rat hin habe ich Verbindung mit dem Minister für Rumänisierung General Zwiedenek83 aufgenommen, der die Beschlagnahme von Vermögen und Wertgegenständen der Juden leitete und meine Informationen über die deutsche Praxis in dieser Frage benötigte. Besonders engen Arbeitskontakt unterhielt ich mit dem Bevollmächtigen der rumänischen Regierung für Judenfragen Lecca84, der im Oktober 1941 auf meine Empfehlung hin auf diesen Posten berufen wurde. Frage: Woher war Ihnen Lecca bekannt und warum haben Sie gerade ihn der rumänischen Regierung für den Posten des Bevollmächtigten für Judenfragen vorgeschlagen? Antwort: Mit Lecca wurde ich während meiner Reise nach Rumänien im Frühjahr 1941 durch den Konsularsekretär der deutschen Botschaft Wohler85 bekannt gemacht.
82 Mihai Antonescu (1904–1946), rumänischer Jurist und Politiker, Rechtsanwalt und Dozent für Internationales Recht in Bukarest, Rechtsbeistand von Ion Antonescu, der ihn nach seinem Putsch in sein Kabinett holte, 1940–1941 Justizminister, 1941–1944 stellvertretender Ministerpräsident, Propaganda- und Außenminister, maßgeblich an der Verfolgung der rumänischen Juden beteiligt. 1944 Auslieferung an die UdSSR, 1946 vom rumänischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. 83 Eugen Zwiedenek (1886–1956), rumänischer Brigadegeneral und Politiker, Angehöriger der deutschen Minderheit, 1901–1907 militärische Ausbildung in Wien, 1936 Brigadegeneral, 1941 Unterstaatssekretär für Kolonisierung und die evakuierte Bevölkerung, Ende 1941 Unterstaatssekretär für Rumänisierung, Kolonisierung und Inventar, im August 1942 in die Reserve versetzt. 1950 verhaftet, im April 1955 in den Hausarrest entlassen, wo er verstarb. 84 Radu Lecca (1890–1980), rumänischer Politiker und Journalist, 1911–1915 Jura- und Ökonomiestudium in Paris, 1916–1918 Soldat im 1. Weltkrieg, scheiterte in den 1920er Jahren mit verschiedenen Geschäften in Italien und Frankreich, 1933–1936 nach Deutschlandaufenthalt Korrespondent des „Völkischen Beobachters“ in Bukarest, 1941–1943 Bevollmächtigter für die Judenfrage in der Regierung Antonescu, 1943–1944 Generaldirektor für jüdische Angelegenheiten beim Arbeitsministerium. 1944 verhaftet und 1945 der UdSSR übergeben, 1946 vom rumänischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, dann zu lebenslanger Zwangsarbeit begnadigt, 1963 nach Generalamnestie entlassen. 85 Wohler (?–?), deutscher Diplomat, 1941 Botschaftssekretär an der deutschen Botschaft in Bukarest, 1941 zur Wehrmacht einberufen.
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Während des Treffens teilte mir Lecca mit, dass er früher der antijüdischen Partei von Cuza und Goga86 angehörte und mich detailliert über die Judenfrage in Rumänien informieren kann. Außerdem wusste ich, dass Lecca, als er in Deutschland lebte, eng mit Rosenberg befreundet war und vollkommen die deutsche Politik hinsichtlich der Juden teilte. All dies gab mir die Möglichkeit, Lecca der rumänischen Regierung für den Posten des Regierungsbevollmächtigten für Judenfragen in Rumänien zu empfehlen. Frage: Welche antijüdischen Gesetze haben Sie in Rumänien einführen lassen? Antwort: Von mir wurden zusammen mit Lecca in erster Linie drei antijüdische Gesetze ausgearbeitet: das Gesetz über die Auflösung der Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Rumänien, das Gesetz über die Organisation eines jüdischen Zentralrats, als eine vom Staat anerkannte Vertretung der jüdischen Interessen, das Gesetz über die Durchführung der Registrierung der jüdischen Bevölkerung. Alle Gesetze wurden von Marschall Antonescu unterzeichnet und am 17. Dezember 1941 im rumänischen Gesetzblatt veröffentlicht. Frage: Wen haben Sie für die Leitung des jüdischen Zentralrats ausgewählt? Antwort: Ich habe mich auf jene Juden orientiert, die unter der jüdischen Bevölkerung bekannt waren und mit denen ich eine gemeinsame Sprache finden konnte. Bei der Auswahl dieser Personen hat mir der Journalist Willmann, der jüdischer Nationalität war, große Hilfe erwiesen. Frage: Sagen Sie geradeheraus, war Willmann Ihr Agent? Antwort: Willmann kann ich nicht im vollen Sinn als Agenten bezeichnen. Ich wurde mit ihm durch den Mitarbeiter der Informationsabteilung der deutschen Botschaft von Ritgen87 bekannt gemacht. Willmann war der Führer der sogenannten „Will-
86 Gemeint ist die 1935 gegründete antisemitische Nationalchristliche Partei unter Führung von Octavian Coga (1881–1938) und Alexandru Cuza (1857–1947), die nach dem Willen König Carols II. im Winter 1937/38 für wenige Wochen mit Coga als Ministerpräsident und Cuza als Außenminister regierte, um die faschistische Eiserne Garde von der Macht fernzuhalten. Die unpopuläre Regierung scheiterte und wurde durch die persönliche Diktatur Carols II. abgelöst, der die Macht 1940 an Marschall Antonescu abgeben musste. 87 Hermann von Ritgen (1895–1952), deutscher Diplomat und Journalist, Studium der Staatswissenschaft, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, Kaufmann, dann Journalist, 1922–1923 Redakteur der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes, 1925–1927 Vertreter der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Wolffs Telegraphisches Bureau (WTB) in Konstantinopel, 1934 Vertreter des staatlichen Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) in Stockholm, 1935–1936 in gleicher Funktion in Wien, 1936–1939 in gleicher Funktion in Bukarest, dort auch Pressebeirat an der deutschen Gesandtschaft, 1939 im Reichspropagandaministerium, Abteilung Auslandspresse, 1939–1944 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und erneut Pressebeirat an der Gesandtschaft in Bukarest, am 13. 6. 1944 als Verschwörer von der Gestapo verhaftet, nach Berlin überstellt, 1945 im KZ Sachsenhausen. 1946 vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet,
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mannschen Bewegung“ und zusammen mit seinen Anhängern der Meinung, dass die Lösung der Judenfrage nicht nur in Rumänien, sondern auch allgemein nicht zu verhindern sei, sondern im Gegenteil diese Maßnahmen unterstützt werden müssen, ungeachtet davon, wer der Initiator ist. Er war für die Aussiedlung aller Juden aus Rumänien und anderen Staaten der Welt in irgendeinen einzelnen Staat oder auf eine einzelne Insel, aber auf keinen Fall nach Palästina (um Auseinandersetzungen mit den Arabern zu verhindern), wo sie ein selbständiges Staatsleben entfalten konnten. Ausgehend von diesen Überzeugungen Willmanns erklärte ich ihm, dass Deutschland beabsichtige, in Polen einen unabhängigen jüdischen Staat zu errichten. In Verbindung damit erklärte Willmann freiwillig seine Bereitschaft mir zu helfen und empfahl seine Gesinnungsgenossen für die Leitung des jüdischen Zentralrats. So hat er mich u. a. mit dem Juden Dr. Gingold88 bekannt gemacht, den Lecca auf meine Empfehlung hin zum Präsidenten des jüdischen Zentralrats ernannte. Außerdem habe ich Lecca eine ergänzende Liste von 12 Juden mit dem Ziel gegeben, sie für Führungspositionen zu verwenden. Frage: Sie versuchen die Untersuchung zu täuschen, indem Sie erklären, dass Sie keine Agenten unter der jüdischen Bevölkerung hatten, sondern einzelne Personen als blindes Werkzeug für Ihre verbrecherische Vergeltungstätigkeit benutzen? Antwort: Es ist möglich, dass einige Juden, die mir und Lecca geholfen haben, eigene Interessen verfolgt haben. Zum Beispiel nahm Gingold zwei Jahre nach seiner Arbeit als Präsident des jüdischen Zentralrats den christlichen Glauben an und wurde Rumäne. Gleichwohl hatte ich unter den Juden kein Agentennetz, da ich die nötigen Informationen auch ohne deren Hilfe erhielt. Frage: Wer hat Ihnen diese Informationen geliefert? Antwort: Ich hatte einige fähige schweizerische, rumänische und deutsche Agenten, von denen ich die notwendigen Nachrichten erhielt. Zum Beispiel gab mir der Schweizer Hans Welti89 Berichte über jüdische Organisationen und ihre Pläne zur Emigra-
1947 in Moskau von einer Sonderversammlung des MGB der UdSSR zu 12 Jahren Haft verurteilt, verstarb in Haft. 88 Nandor Gingold (1905–1986), rumänischer Arzt, Promotion 1929, Assistent am Institut für Hygiene und öffentliche Gesundheit in Bukarest, 1941–1944 Vorsitzender des Zentralen Judenrats in Rumänien, in dieser Eigenschaft versuchte er, die Lage der jüdischen Bevölkerung in Rumänien zu verbessern, stellte sich 1944 den neuen rumänischen Behörden und trat zum Christentum über. 1946 vom rumänischen Volksgerichtshof zu lebenslanger Haft verurteilt, 1962 nach Generalamnestie entlassen. 89 Hans Welti (1914–?), Schweizer Journalist, Korrespondent für Schweizer Zeitungen in Rumänien, 1942–1944 Kurier für jüdische Organisationen zwischen der Schweiz, Rumänien und der Türkei, zugleich Informant Gustav Richters. 1945 in St. Gallen von den schweizerischen Behörden verhaftet und 1946 wegen „wiederholten Betrugs“ und Tätigkeit für einen „verbotenen Nachrichtendienst“ zu 2 Jahren Zuchthaus und 4 Jahren Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
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tion aus Rumänien. Mein anderer Informant Karl Gyr90 bearbeitete jüdische Kreise in Rumänien, Bulgarien, der Türkei usw., darüber habe ich bereits detailliert in meinen Selbstaussagen berichtet. Frage: Wie haben Sie dieses Agentenmaterial verwendet? Antwort: Auf der Grundlage der Agentenberichte hatte ich die Möglichkeit, die Politik der rumänischen Regierung in der Judenfrage zu kontrollieren und in die aus meiner Sicht nötige Richtung zu lenken. Nach der Feststellung des Sachverhaltes der Flucht von Juden ins Ausland wurde die rumänische Regierung mit dem Ziel informiert, künftig derartige Fälle zu verhindern und eine Bearbeitung der Tätigkeit jüdischer Organisationen und Einzelpersonen durchzuführen. Frage: Sagen Sie, welche Vergeltungsmaßnahmen wurden in Rumänien gegen die Juden durchgeführt? Antwort: Durch mich wurde eine jüdische Organisation unter der Führung eines gewissen Tabacinic91 aufgedeckt, die die Flucht von Juden aus Lagern in Polen und Transnistrien organisierte. Alle Mitglieder dieser Organisation wurden durch den Polizeipräfekten Bukarests Palangeanu92 verhaftet und zu verschiedenen Gefängnisstrafen verurteilt. An dem Abtransport der Juden aus Rumänien in die Lager in Polen und Transnistrien war ich nicht unmittelbar beteiligt, auch nicht an der Enteignung von jüdischem Vermögen. Meine Rolle beschränkte sich auf Konsultationen und ich beriet die rumänischen Organe bei der Judenfrage nach dem Beispiel Deutschlands, d. h. ich tat alles von mir abhängende, um die Aufgaben des SD und des Parteiprogramms in der Rassenfrage zu erfüllen.
90 Karl Gyr (1890–1960), Schweizer Journalist, studierter Ingenieur, seit 1924 in Bukarest, arbeitete zunächst als Journalist für die deutschsprachige „Bukarester Tagespost“, seit den 1930er Jahren auch für Schweizer Zeitungen und Nachrichtenagenturen, unterhielt gute Kontakte zur deutschen Botschaft, 1942–1944 Kurier für jüdische Organisationen zwischen der Schweiz, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und der Türkei, zugleich Informant Gustav Richters. Nach dem Sturz des AntonescuRegimes im August 1944 aus dem Verband der Auslandspresse in Bukarest ausgeschlossen, lebte vom Schwarzhandel, 1950 nach jahrelanger Observation vom rumänischen Geheimdienst verhaftet, 1954 in die Schweiz abgeschoben. 91 Gherş (Sunea) Tabacinic (Tabenkin) (1921–1981), zionistischer Führer aus Bessarabien, Generalsekretär der zionistischen Jugendorganisation „Gordonia“, während des 2. Weltkrieges prominenter Führer der illegalen zionistischen Bewegung in Rumänien, Anfang 1944 zusammen mit anderen zionistischen Führern verhaftet. Nach dem Sturz des Antonescu-Regimes entlassen, Emigration nach Palästina, wo er seinen Familienname in Tabenkin änderte. 92 Nicolae Pălăngeanu (1889–1950), rumänischer Divisionsgeneral, 1910 Absolvent der Infanterieoffiziersschule und der Kriegsschule, Teilnehmer des 1. Weltkrieges, 1941–1942 Stellvertretender Chef des rumänischen Generalstabes, 1942–1944 Polizeipräfekt von Bukarest, 1944–1945 Befehlshaber des 2. Armeekorps, 1945 in die Reserve versetzt. Nach jahrelanger Observation starb er 1950 während der Verhaftung durch den rumänischen Geheimdienst.
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Frage: Sie sprechen nicht die Wahrheit. Aus der Untersuchung ist bekannt, dass Sie von der rumänischen Regierung den Abtransport der Juden nach Polen mit dem Ziel ihrer physischen Vernichtung forderten! Antwort: Ich gebe zu, als ich im Sommer 1942 bei Mihai [Antonescu] zu einem Empfang war, habe ich ihm zu verstehen gegeben, dass es notwendig sei, die jüdische Bevölkerung in die polnischen Konzentrationslager abzutransportieren. Als Beispiel habe ich dabei auf die slowakische Regierung verwiesen, die ihr Land erfolgreich von den Juden gesäubert hatte. Mihai Antonescu drückte seine Bereitschaft aus, dem Beispiel der Slowakei zu folgen und bat mich, Berlin mitzuteilen, dass die rumänische Regierung einverstanden ist, mit dem Abtransport der jüdischen Bevölkerung nach Polen zu beginnen. Ich äußerte die Bitte, die deutsche Botschaft mit einer offiziellen Note über diese „Absicht“ in Kenntnis zu setzen, wozu Mihai Antonescu sein Einverständnis gab. Im Juli 1942 händigte er mir ein Schreiben mit folgenden Inhalt aus: „Ungeachtet dessen, dass ich es nach unserem mündlichen Gespräch nicht für nötig gehalten habe, eine schriftliche Bestätigung zu geben, teile ich Ihnen mit, dass die rumänische Regierung mit der Aussiedlung der Juden aus den Gebieten Turda, Timişoara, Cluj und Hunedoara einverstanden ist, wenn Ihre Behörden jetzt mit deren Abtransport beginnen. Dies ist auch der Wunsch von Marschall Antonescu.“ Frage: Was unternahmen Sie, als Sie die Zustimmung Antonescus zum Abtransport in die polnischen Konzentrationslager erhalten haben? Antwort: Ich habe dies dem deutschen Botschafter in Rumänien von Killinger93 und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD in Deutschland mitgeteilt, im August 1942 wurde ich von Eichmann zum persönlichen Vortrag nach Berlin befohlen. Zusammen mit mir reiste der Bevollmächtigte für Judenfragen der rumänischen Regierung Lecca nach Berlin. Eichmann drängte auf den Abschluss der organisatorischen Vorbereitungen und wies an, den erforderlichen Transportraum für die Verschickung der Juden in die Konzentrationslager bereitzustellen. Frage: Haben Sie die Befehle Eichmanns ausgeführt?
93 Manfred von Killinger (1886–1944), deutscher Marineoffizier, Politiker und Diplomat, 1904–1920 Berufssoldat, zuletzt Kapitänleutnant, 1921 militärischer Führer der terroristischen Organisation Consul (OC), befahl den Mord an Matthias Erzberger, 1921/22 deswegen in Untersuchungshaft, Juni 1922 freigesprochen, 1923–1928 Führer der OC-Nachfolgeorganisation Bund Wiking, nach dessen Verbot 1928 Beitritt zur NSDAP und SA, Fraktionsführer im Sächsischen Landtag, 1933–1935 Ministerpräsident von Sachsen, 1935 Mitglied des Volksgerichtshofes, 1937 Berufung in den diplomatischen Dienst, 1940 Gesandter in Preßburg, 1940–1944 Gesandter in Bukarest, 1944 entzog er sich durch Suizid der Gefangennahme durch sowjetische Truppen.
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Antwort: Ja, für den Abtransport der Juden in die Konzentrationslager Polens war alles fertig, wir haben einen entsprechenden Entwurf der Operation ausgearbeitet und über Mihai Antonescu an Marschall Antonescu zur Bestätigung weitergeleitet. Es vergingen zwei Monate, aber es wurden von den rumänischen Behörden keine praktischen Schritte unternommen. Während dieser Zeit rief mich Eichmann mehrmals aus Berlin an und forderte, die Durchführung der Operation zu beschleunigen. Ich erklärte ihm, dass ich alles von mir abhängige täte, aber meine Bemühungen durch die Langsamkeit der rumänischen Stellen behindert werden. Ungefähr im November 1942 hat mir Lecca in schriftlicher Form eine Entscheidung Marschall Antonescus mit folgendem Inhalt übergeben: „Die Durchführung der Aktion ist zeitweilig verschoben. Die Frage erfordert weitere Untersuchungen und Ausarbeitungen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten.“ Frage: Was war der Grund? Antwort: Marschall Antonescu unterstützte einige deutsche antijüdische Maßnahmen nicht besonders. Dies wurde nach der Niederlage der deutschen und rumänischen Streitkräfte bei Stalingrad verstärkt bemerkbar. Als sich die militärische und politische Lage Deutschlands verschlechterte und weite rumänische Kreise zu der Überzeugung kamen, dass der Krieg Deutschland in den Ruin führt, änderte die rumänische Regierung ihren Kurs, den sie bisher gegenüber den Juden geführt hatte, sichtbar. Frage: Aber bei diesem Verhalten der rumänischen Regierung hat sich die deutsche diplomatische Vertretung in Rumänien nicht auf die Rolle eines Beobachters beschränkt? Antwort: Natürlich nicht. Der deutsche Botschafter von Killinger begann Gespräche mit prodeutschen Elementen über die Bildung einer neuen Regierung für Rumänien zu führen. Frage: Aber was haben Sie getan? Antwort: Ich begriff, dass es bei der existierenden Lage schwierig sein wird, dass Judenproblem radikal nach dem deutschen Beispiel zu lösen, weshalb ich mich ab Januar 1943 auf die Ausweisung von Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft ins Reich beschränkte, von wo aus sie in Konzentrationslager in Polen zur physischen Vernichtung abtransportiert wurden. Gleichzeitig habe ich zusammen mit der Wirtschaftsabteilung der Botschaft und der Ortsgruppe der nationalsozialistischen Partei an der Entfernung der Juden aus deutschen Firmen in Rumänien gearbeitet. Außerdem prüfte ich auf Anweisung von Botschafter Killinger die Anträge von Ausländern für die Ausstellung von Visa. Lecca besuchte mich gelegentlich und informierte über seine weitere Arbeit.
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Ende 1943 wurde ich, in Verbindung mit der Abberufung des deutschen Polizeiattachés Böhme94 vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD Kaltenbrunner zum Polizeiattaché bei der deutschen Botschaft ernannt und von den Judenangelegenheiten abgezogen. Frage: Sagen Sie über ihre Tätigkeit als Polizeiattaché in Rumänien aus! Antwort: Entsprechend den Instruktionen des Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Himmler gehörten zu meinen Funktionen als Polizeiattaché folgende Aufgaben: Registrierung der deutschen Staatsbürger, die in Rumänien lebten und die Überwachung ihrer politischen Zuverlässigkeit; die Überprüfung von Personen, welche den Erhalt eines Visums zur Einreise nach Deutschland beantragt hatten; die Zusammenarbeit mit der rumänischen Polizei und konkrete Hilfe bei der Organisation des Polizeidienstes; die Information des deutschen Botschafters über die politische Lage im Land. Für die erfolgreiche Erfüllung der mir gestellten Aufgaben hatte ich ein breit aufgestelltes Agentennetz und unterhielt Arbeitskontakte zu offiziellen und getarnten deutschen Behörden des Nachrichtendienstes und der Spionageabwehr. Bei der Zusammenarbeit mit deutschen Strafverfolgungsbehörden – u. a. der Geheimen Feldpolizei (GFP) – habe ich Agentenmaterial übergeben, auf dessen Grundlage durch diese Verhaftungen politisch unzuverlässiger Deutscher vorgenommen wurden. Gleichzeitig verweigerte man rumänischen Staatsbürgern die Reise ins Ausland, wenn diese verdächtigt wurden, Verbindungen zu Gegnern Deutschlands zu unterhalten. Es lässt sich sagen, dass sich mein Dienst als Polizeiattaché als Tarnung erwies, da ich faktisch dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt war und dessen Aufgaben auf dem Gebiet des Nachrichtendienstes erfüllte. Über meine nachrichtendienstliche Tätigkeit in Rumänien habe ich bereits in meiner Selbstauskunft vom 5. Februar 1945 berichtet.95 Das Verhörprotokoll wurde nach meinen Worten niedergeschrieben und mir in die deutsche Sprache übersetzt vorgelesen. Richter Es verhörte: Der Leitende Sonderermittler der 3. Abteilung der 3. Hauptverwaltung des MGB der UdSSR für Spionageabwehr, Hauptmann Solowow Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21099, Bd. 2, Bl. 17–27. Maschinenschriftliches Original. Russisch.
94 Horst Böhme (1909–1945?), SS-Oberführer, schon als Jugendlicher in rechtsradikalen Wehrverbänden aktiv, 1930 Beitritt zur NSDAP und SS, seit 1933 beim SD in Sachsen, ab 1935 beim SD-Hauptamt, 1939–1942 BdS in Prag, 1942–1943 Polizeiattaché in Bukarest, 1943 Chef der Einsatzgruppe B, 1943–1944 Chef der Einsatzgruppe C, 1944–1945 BdS in Ostpreußen. Seit Kriegsende verschollen, 1954 offiziell für tot erklärt. 95 Hier nicht abgedruckt. Vgl. CA FSB, Akte Nr. N-21099, Bd. 1, Bl. 22–27.
6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit 6.1 Vorschläge von Generalleutnant Eberhard von Kurowski1 zur militärischen Besetzung Deutschlands, Gebiet Iwanowo, 16. Februar 1945 Kopie Streng geheim Exemplar Nr. 4 7. März 1945 An das Staatliche Verteidigungskomitee – Genossen I. W. Stalin An den Rat der Volkskommissare der UdSSR – Genossen W. M. Molotow An den Generalstab der Roten Armee – Genossen Antonow2 Hiermit stelle ich ein Dokument vor, das vom kriegsgefangenen Generalleutnant der deutschen Armee von Kurowski angefertigt worden ist. Hierin legt er seine Überlegungen über die seiner Meinung nach zweckmäßigsten Richtungen der weiteren Offensivoperationen der Roten Armee in Deutschland dar. Von Kurowski ist Berufsmilitär und dient in der deutschen Armee seit 1914. 1933 schloss er die Akademie des deutschen Generalstabs ab. Die letzte Dienststellung Kurowskis war die des Kommandeurs der 110. Infanteriedivision. Er geriet am 21. Juli 1944 bei Minsk in Kriegsgefangenschaft. Kurowski wird im Lager Nr. 48 des NKWD im Gebiet Iwanowo festgehalten. Der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der Union der SSR L. Berija Übersetzung aus dem Deutschen 16. 02. 1945 Kurowski, Generalleutnant 1 Eberhard von Kurowski (1895–1957), Generalleutnant, seit 1914 Berufssoldat, 1919 Freikorpskämpfer im Baltikum und beim Grenzschutz Ost, 1920 in die Reichswehr übernommen, absolvierte er mehrere Lehrgänge, darunter die Generalstabsausbildung, und diente in verschiedenen Truppen- und Stabsverwendungen, u. a. 1931–1934 in der Organisationsabteilung des Truppenamtes im Reichswehrministerium, 1935–1937 im Stab des Wehrkreiskommandos X, dann im Stab des 10. Armeekorps, 1937–1939 Ia beim Stab der 21. Infanterie-Division, seit August 1939 Ia beim Generalstab des XXI. Armeekorps, Anfang 1940 Chef des Generalstabs des XXXX. Panzerkorps, dann von 1941–1943 der 2. Panzerarmee, seit Juni 1943 Führung der 110. Infanteriedivision. Juli 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, im Dezember 1947 in Gomel‘ zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und im Oktober 1955 entlassen. 2 Aleksej I. Antonov (1896–1962), sowjetischer Militär, seit 1918 bei der Roten Armee, 1926–1931 Studium an der Frunze-Militärakademie, 1935 Chef der Operationsabteilung des Militärbezirks Charkow, 1936 Generalstabsakademie, dann kurzzeitig Stabschef des Militärbezirks Moskau, 1938–1941 Taktiklehrer an der Frunze-Militärakademie, 1941–1942 Stabschef verschiedener Fronten, 1943–1945 Chef der Operationsabteilung des Generalstabes, 1945–1946 Generalstabschef, 1949–1953 Befehlshaber des Militärbezirks Transkaukasien, 1954–1962 Stabschef der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Vertrages.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
Überlegungen zur Fortsetzung der Kriegshandlungen Bald steht das Ende des Krieges bevor, der jeglichen Sinn verloren hat, woran nicht nur die alliierten Staaten, sondern Deutschland selbst ein Interesse hat. Die Aufgabe ist nun, die letzten menschlichen und materiellen Ressourcen zu erhalten, die für den Wiederaufbau Deutschlands so notwendig sind. Die Pflicht eines jeden deutschen Patrioten besteht darin, dieser Aufgabe zu dienen. Innerhalb kurzer Zeit (ein Monat) wurde die gesamte deutsche Armee im Osten total vernichtet. Das gesamte Polen, aber ebenso Teile Ostpreußens, Pommerns, Brandenburgs und Schlesiens mussten geräumt werden. Was bedeuten diese Verluste für die weitere Kriegsführung? Ein bedeutsamer Teil der Divisionen ist vollständig vernichtet worden und kann für weitere Kämpfe nicht mehr genutzt werden. Andere Verbände sind so weit zerschlagen, dass sie nur noch bedingt eingesetzt werden können. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Ausfall ungefähr 60 Divisionen beträgt. Darüber hinaus gibt es große Verluste an Kriegsmaterial aller Art, besonders an Waffen und an Kraftfahrzeugen. Darunter fallen nicht nur die Bewaffnung der Truppenteile, sondern auch militärische Depots und Werkstätten, die nicht geräumt werden konnten, weil die Rote Armee so schnell vorrückte. Einen ebenso großen Verlust stellt das Zurücklassen von Verteidigungsanlagen dar. Es sind nicht nur die Frontstellungen verloren gegangen, die über Monate hinweg errichtet wurden. Durchbrochen ist auch der langjährig ausgebaute Ostwall, der die letzte Verteidigungslinie des deutschen Kernlandes war. Dort, wo noch darum gekämpft wird, diese Linie zu halten, ist ihr Fall nur noch eine Frage von wenigen Tagen. In außerordentlich kurzer Zeit kapitulierten die Festung Lötzen und die Bunkerlinie im Heilsberger Dreieck der Verteidigungslinie Pommerns zwischen Schneidemühl und Neu-Stettin sowie die Befestigungsanlagen östlich von Frankfurt an der Oder (bei Glogau und Oppeln). So wichtige Hindernisse wie die Weichsel und die Oder wurden überwunden, ohne dass sie die vorrückenden russischen Truppen wesentlich aufzuhalten vermochten. Daher befanden sich die Reste der Wehrmacht im Osten und die zu ihrer Verstärkung herangezogenen Reserven in schwierigster Lage. Unter dem Druck des überlegenen Gegners fehlten die nötigen Mittel für eine erfolgreiche Verteidigung. Die Folgen der Katastrophe des Heeres im Osten zeigten sich nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch in nicht geringerem Maße in der Wirtschaft. Das Rüstungspotenzial eines jeden Staates, der Krieg führt, ist extrem angespannt. Aus diesem Grund wirkt sich die Verringerung der Rüstung früher oder später auf den Fortgang des Krieges und dadurch unmittelbar auf die weiteren Kampfhandlungen aus. Hier geht es aber nicht nur um eine Verringerung, sondern um den vollständigen Verlust der wichtigsten Zentren der Rüstungsindustrie und Rohstoffe. Wenn schon der Verlust der polnischen Industriezentren – Krakau, Lodz und Posen – ein herber Schlag war, so wirkt die Besetzung des Oberschlesischen Industriegebiets tödlich. Dieser Raum war eines der wichtigsten Rüstungsarsenale für die Kriegsmaschinerie Hitlers. Dieses Gebiet mit seinen reichen Vorkommen an Steinkohle weist eine der stärksten Konzentrationen der Schwerindustrie Deutschlands auf.
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Nachdem der zunehmende Luftkrieg einen bedeutsamen Teil der westdeutschen Industrie vernichtet oder lahmgelegt hatte, wurde sie hauptsächlich in den Osten, entweder in das Oberschlesische Industriegebiet oder an das Ufer der Oder evakuiert. Bei Gleiwitz befinden sich die größten Zinkvorkommen Deutschlands. Von dort wurden auch die Rohstoffe für die Herstellung von Benzin geliefert. Von hier kamen auch Stahl- und Eisenteile für Maschinen, Waggons und Fahrzeuge. Walzwerke lieferten den Großteil der Panzerplatten für den Panzerbau. Hinzu kam, dass Oberschlesien der Hauptlieferant für Brennstoff und Halbfabrikate für den Werkzeugmaschinenbau und Motorenbau in Sachsen war. Die norditalienische Industrie war in hohem Maße ebenso abhängig von der oberschlesischen Kohle. Dieser kurze, zudem unvollständige Überblick zeigt, dass die russische Offensive nicht nur die deutsche Armee zerschlug, sondern auch das Rüstungspotenzial Deutschlands tödlich traf. Es ist nicht schwierig nachzuvollziehen, welche Folgen das haben wird. Deutschland ist ein Industrieland. Die landwirtschaftlich produzierenden Gebiete befinden sich hauptsächlich im Osten. Entweder litten sie durch den Krieg oder sie sind durch die Besetzung verloren gegangen. Eine Folge davon wird der baldige Ausbruch einer Hungersnot sein. Den Transport aus Gebieten, die noch Vorräte aus der vergangenen Ernte haben, erschwert das zerstörte Verkehrswesen. Die Versorgung der Städte und dicht besiedelter Gebiet wird eines der schwierigsten Probleme werden, nicht nur zum jetzigen Zeitpunkt, sondern auch nach dem Krieg. Durch die Befreiung Hunderttausender von Fremdarbeitern fehlen Deutschland Arbeitskräfte, mit deren Hilfe Industrie und Landwirtschaft unterstützt wurden. Neben diesen unwiederbringlichen Verlusten lässt sich bei Wehrmacht und Volk ein moralischer Niedergang beobachten. Das zeigt sich an der Anzahl der Gefangenen und der gesteigerten Unruhe, die aus zahlreichen Berichten sichtbar wird. Die äußeren Anzeichen davon sind der Terror und die drakonische Maßnahmen denen gegenüber, die versuchen, sich vom Joch Hitlers zu befreien. Eine unvermeidliche Folge wird sein, dass der Aufruhr der ausländischen Arbeiter innerhalb Deutschlands zunimmt, was zu vielen Sabotageakten führen wird. Alle diese Anzeichen des inneren Zerfalls werden durch die Schwierigkeiten verschärft, die mit dem Flüchtlingsstrom aus dem Osten ins Reich verbunden sind. Zusammen mit den Nöten der Bombenopfer sorgen sie für Bedingungen, die eine normale Verwaltung und staatliche Führung unmöglich machen. Die Notwendigkeit, zahlreiche Einrichtungen aus Berlin und anderen bedrohten Städten zu evakuieren, führt zum Chaos, was sich auf den Fortgang des Krieges Hitlerdeutschlands auswirken wird. Trotz der oben genannten Anzeichen des Zerfalls und des Verlustes der Ostgebiete sind Hitler noch beschränkte Möglichkeiten zur Fortsetzung des Krieges geblieben. Leider muss man sagten, dass es der Propaganda von Goebbels gelang, das deutsche Volk zu betrügen. Es ist davon überzeugt, dass ein Verteidigungskrieg geführt wird, um das deutsche Volk zu retten.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
Die Äußerungen einzelner Staatsführer wie z. B. Churchill3 oder de Gaulle4, die sich für eine Abtrennung von deutschen Gebieten in West und Ost ausgesprochen haben, kann zu einer extremen Verstärkung des Widerstandwillens sogar in den Kreisen führen, die gegen Hitler eingestellt sind. Das sollte nicht vergessen werden, um die Möglichkeiten Hitlers für eine Fortsetzung des Krieges richtig einzuschätzen. Die deutsche Armee, die durch die enormen Verluste der letzten Wochen geschwächt ist, muss in großem Umfang die natürlichen Verteidigungslinien nutzen. Die noch vorhandenen Befestigungen sind z. T. durchbrochen, oder um sie wird wie z. B. um Küstrin und Glogau noch gekämpft. Innerhalb des Landes gibt es keine Befestigungsanlagen mehr, die für die Verteidigung in einem modernen Krieg genutzt werden könnten. Daher kann die Verstärkung der natürlichen Verteidigungslinien nur durch die eilige Errichtung von Feldbefestigungen realisiert werden. Es darf nicht vergessen werden, dass der Westwall und hinter ihm das Rheinland bis zu einem gewissen Grad den Vormarsch der westlichen Armeen in das Land hinein aufhalten werden. Der Kampf innerhalb Deutschlands wird in der nächsten Zeit hauptsächlich von der Roten Armee geführt werden. Berücksichtigt man die derzeitige Situation, so besteht die einzige Möglichkeit einer Verteidigungslinie des Hitlerführung im Oder-Neiße-Gebiet: von Stettin über Frankfurt an der Oder bis Görlitz (siehe Anlage 1) und von Görlitz über den Bergrücken der Sudeten nach Mährisch-Ostrau und weiter durch die Ausläufer der Karpaten nach Preßburg. Der entsprechende Verteidigungsbereich im Westen ist der Rhein in Richtung Süden und Südosten bis zu den Alpen. Falls der Frühling frühzeitig kommen sollte (im März), kann die Oder zu einem Hindernis werden, das nicht unterschätzt werden darf. Die Berge sind bewaldet, was die Verwendung von großen Panzerverbänden unmöglich macht und sie können längere Zeit mit geringen Kräften, wie z. B. Volkssturmeinheiten, verteidigt werden. Ausgesprochene Schwachpunkte gibt es zwischen Görlitz und der Oder. Die Neiße stellt kein ernsthaftes Hindernis dar. Die mährische Ebene stellt ebenfalls einen Schwachpunkt dar. Sie liegt auf beiden Seiten Ostraus, das zum Tor nach Böhmen werden kann. Die Elbe mit der Verlängerung über den Bergrücken des böhmisch-bayerischen Waldes kann zur nächsten Verteidigungslinie werden. Diese Linie muss als großes
3 Winston Churchill (1874–1965), britischer Politiker, seit 1908 wiederholt Ministerämter, 1929–1939 Ausstieg aus der aktiven Politik, 1940–1945 Premierminister. Churchill favorisierte die Teilung des Deutschen Reiches in einen Nord- und Südstaat, konnte sich damit jedoch auf der Teheraner Konferenz 1943 nicht durchsetzen; auf der Konferenz in Jalta 1945 stimmte er der Westverschiebung der polnischen Grenzen zu. 4 Charles de Gaulle (1890–1970), französischer General und Politiker, 1940 jüngster General Frankreichs, im britischen Exil Gründer der Widerstandsbewegung Freies Frankreich, 1944 provisorischer Ministerpräsident, 1946 Rücktritt. De Gaulle favorisierte ein Nachkriegsdeutschland als losen Staatenbund, blieb aber von den Konferenzen der Alliierten während des 2. Weltkrieges ausgeschlossen.
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Hindernis angesehen werden. Das trifft besonders auf das bergige Gelände zu. Die Elbe zwischen Dresden und Wittenberg stellt jedoch kein ernstliches Hindernis dar, außer während des Frühjahrshochwassers. Als letzte überhaupt mögliche Verteidigungslinie muss die Linie Weser – Harz – Thüringer Wald – Bayerischer Wald ins Auge gefasst werden. Um Süddeutschland zu isolieren ist es nötig, die Armeen vom Taunus aus über den Main hinweg bis zum Rhein zu vereinigen. Für diese Verteidigungsstellung stellt das Gebiet um Plauen, zwischen dem Thüringischen und Bayerischen Wald, einen Schwachpunkt dar. Die Alpen im Süden und Südosten mit ihren Ausläufern sind eine leicht zu verteidigende Barriere, die für das Heer der Alliierten in Italien nicht zugänglich ist. Es ist möglich, von Wien entlang der Donau nach Linz – Passau durchzubrechen. Das ist aber mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die im Gelände begründet sind. Die genannten Linien können verschieden kombiniert werden, was vom Fortgang der Ereignisse abhängt. Die genannten Räume sind nur von Bedeutung, wenn es dem deutschen Kommando gelingt, sie mit den nötigen Kräften zu sichern. Eine kurze Berechnung zeigt, dass die Länge der Oder-Neiße Linie von Stettin nach Görlitz 300 km beträgt. Die Länge der bergigen Front, die sich zwischen Ostrau und Preßburg anschließt, beträgt 500 km. Für die erste Linie benötigt man mindestens 20 Divisionen, für die zweite Linie 25. Für vier wichtige Punkte: Berlin, Görlitz, Ostrau und Preßburg benötigt man jeweils sechs Divisionen. Das sind insgesamt 24 Divisionen. Von ihnen sollten die Hälfte Panzerdivisionen sein, die als operative Reserve dienen. Es ist zweifelhaft, dass eine solch große Anzahl an Divisionen rechtzeitig zur Verfügung steht. Darin besteht allerdings der ganze Sinn. Die zur Verfügung stehenden deutschen Reserven befinden sich alle bereits im Kampf und ein großer Teil von ihnen ist bereits verbraucht. Folglich sind im Interesse der Ostfront die anderen Fronten notwendigerweise zu schwächen. Das kann auf folgende Weise geschehen: a) An der Westfront: im südlichen Gebiet durch den Rückzug auf den Rhein und den Westwall im Mittelabschnitt. Wenn auch das nördliche Gebiet geschwächt wird, dann können aus dem Süden 15 Divisionen abgezogen werden. b) An der Südfront: durch die schrittweise Rücknahme der Front zu den Alpen. Dadurch werden 8 bis 10 Divisionen frei. c) Transport von Teilen der Heeresgruppe Nord über das Meer: 5 bis 8 Divisionen. d) Auffüllung von angeschlagenen Divisionen, was im ungarischen und böhmischen Gebiet möglich sein wird. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass die Anzahl der Divisionen, die für ein Aufhalten der russischen Offensive notwendig sind, nicht annähernd vollständig gedeckt werden kann. Ihre Kampfkraft ist bereits erschöpft und wird auch bei erneut aufgefüllten Divisionen nur sehr gering sein. Die Lücken müssen mit Einheiten des Volkssturms ergänzt werden. Deren Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung sind absolut ungenügend für schwere Kämpfe. Hinzu kommt, dass eine neue Front ohne Vorbereitung nicht so schnell errichtet werden kann.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
Die Reserven können von den anderen Fronten nur schrittweise herantransportiert werden. Nicht selten müssen sie kurzfristig in den Kampf um gefährdete Orte geworfen werden. Für eine Stabilisierung der Front werden ein bis eineinhalb Monate benötigt. Es ist zweifelhaft, dass die Russen den Deutschen diese Frist geben. Es gibt keine Zweifel, dass die deutsche Industrie vor dem russischen Einmarsch einen hohen Produktionsausstoß aufwies. Sie erreichte in den Bereichen der Material- und Rüstungsproduktion, besonders bei Panzern und selbstfahrenden Geschützen, ein hohes Niveau. Trotzdem werden die vorhandenen Reserven nicht in der Lage sein, auch nur annähernd die unglaublichen Materialverluste im Osten zu decken. Die Möglichkeiten der Kriegsführung durch die deutsche Führung werden von der derzeitigen verzweifelten Situation bestimmt. Zukünftig wird die Verbindung zwischen einzelnen Frontabschnitten nicht mehr gesichert werden können. Daher muss sich die Führung auf die Verteidigung der wichtigsten Gebiete bzw. Stützpunkte beschränken. Das schließt örtliche Gegenangriffe nicht aus. Eine effektive Gegenoffensive auf deutschem Gebiet kann nicht realisiert werden. Der Widerstand in dem einen oder anderen Gebiet wird von der Qualität der Truppen abhängen, die ins Gefecht geschickt werden. Über welche Möglichkeiten verfügt Deutschland nach dem Verlust der polnischen und oberschlesischen Gebiete noch im Rüstungsbereich (siehe Anlage 2)? Das Ruhrgebiet ist ein sehr wichtiges Territorium, obwohl es stark unter den Bombardements leidet. Die Kohle, die hier gewonnen wird, kann teilweise die Verluste der oberschlesischen Kohle decken. Nachfolgend ist das Industriegebiet in Sachsen zu nennen, das sich über das Dreieck Wittenberg – Dresden – Plauen erstreckt. Neben der verarbeitenden Industrie gibt es dort Braunkohle und bei Leuna große Betriebe zur Treibstoffherstellung. Von besonderer Bedeutung sind auch die Gebiete Ostrau (Kohle), Wien (Öl) und Linz (Eisen). Wichtige Zweige der verarbeitenden Industrie befinden sich auch im Gebiet Jena – Eisenach, München – Augsburg und Prag – Pilsen. Unter dem Einfluss der schweren Bombenangriffe hat die Industrie im Westen und Nordwesten in hohem Maße an Produktivität verloren. Das Gebiet Mannheim– Frankfurt hat seine Bedeutung allerdings noch nicht eingebüßt. Die Versorgungslage hat sich enorm verschlechtert. Nur die Bezirke in Norddeutschland sind als landwirtschaftlich produzierende Gebiete verblieben. Die Nahrungsmittellager werden nicht bis zur nächsten Ernte ausreichen. Die Situation wird sich durch die Zunahme der Flüchtlingsströme in Mittel- und Süddeutschland noch verschlimmern. Die personellen Ressourcen sind ebenfalls erschöpft. Die Mobilisierung von Alten und Kindern im „Volkssturm“ beweist das. In der Armee gibt es nicht genügend ausgebildete Soldaten, besonders Offiziere und Unteroffiziere. Es ist möglich, dass es irgendwo Leute gibt, aber aus ihnen Soldaten und Kämpfer zu machen, ist unmöglich. Jeder Mann, der aus der Rüstungsindustrie in die Wehrmacht einberufen wird, senkt damit gleichzeitig die Produktivität. Das bedeutet, dass die Arbeits-
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produktivität des einzelnen deutschen Arbeiters auf das niedrigste Niveau gefallen ist. Welche Schlüsse muss das russische Kommando für eine schnelle Beendigung des Krieges aus dem Dargelegten ziehen? 1. Die Erfolge, die bis jetzt erreicht wurden, müssen mit äußerster Energie ausgenutzt werden. Die nächsten Operationen sollten ohne Zeitverluste durchgeführt werden, ohne auf Unterstützung durch die westlichen Verbündeten zu warten. Jede Verzögerung wird Deutschland die Möglichkeit geben, die Front zu stabilisieren. Der beginnende Frühling und das Hochwasser der Flüsse können die Operation verlangsamen. Der Ausgang des Krieges sollte bis zu diesem Zeitpunkt entschieden sein. Die Beschleunigung der Maßnahmen verhindert weiteres Blutvergießen auf beiden Seiten und verringert die Zerstörungen in Deutschland. 2. Das Ziel der Hauptangriffsschläge und die Hauptaufgabe der Offensive sollten darin bestehen, das militärische Potenzial entscheidend zu treffen, um die Möglichkeit einer Verteidigung Hitlerdeutschlands zu verhindern. Dadurch kann eine schnelle Beendigung des Krieges erreicht werden. Die Einnahme der Hauptstadt Berlin bedeutet einen großen faktischen wie auch moralischen Erfolg. Dann muss das Rüstungspotenzial so getroffen werden, dass jede weitere Kriegsführung durch Hitler gestoppt wird. Das kann durch die Besetzung der Industriegebiete in Sachsen, Böhmen und Österreich geschehen. Gleichzeitig müssen die Westmächte das Ruhrgebiet besetzen. 3. Wenn danach noch eine Fortsetzung der Kämpfe nötig sein sollte, so wird ein gemeinsamer Schlag der russischen Streitkräfte aus Sachsen und Böhmen und der Westmächte entlang des Mains bis nach Nürnberg Süddeutschland isolieren und den Frieden bringen. Zumindest für Norddeutschland, wo übergangsweise eine Volksregierung gebildet werden kann. Die Vereinigung der westlichen und östlichen alliierten Armeen nördlich des Harzes im Raum Hannover wäre unzweckmäßig. Diese Richtung würde genau den Teil Deutschlands treffen, der am wenigsten wertvoll für die Fortsetzung des Krieges durch Hitler ist. Hitler selbst wäre aber die Möglichkeit gegeben, sich in die Berge Mitteldeutschlands zurückzuziehen. So würde das Kriegsende lange hinauszögert werden. Es könnte aber Sinn machen, einen ergänzenden Schlag über Kassel auf Eisenach durchzuführen. Die Bemühungen Englands zur Besetzung der Nordseeküste sollten, im Interesse eines schnellen Kriegsendes, zurückgestellt werden. Die beschriebene Operation benötigt eine sichere Basis als Ausgangsposition (siehe Anlage 3). Der derzeitige Kampf entwickelt sich in folgende Richtung. Die Linie Elbe – Neiße ist im Norden beinahe auf der gesamten Länge erreicht worden. Die Vernichtung von Widerstandsnestern in Ostpreußen, Pommern und Schlesien wird fortgesetzt. Nachdem Budapest gefallen ist, sind die Voraussetzung dafür geschaffen, den südlichen Frontabschnitt auf die Linie Mährisch-Ostrau – Preßburg zu verschieben. Zur Fortsetzung der Operation ist es nötig, Kräfte im Gebiet östlich der Neiße
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
(Panzertruppen), sowie im Gebiet Komarno – Preßburg und Mährisch-Ostrau zu konzentrieren. Diese Ausgangsposition muss als Brückenkopf für die entscheidende Offensive angesehen werden. Drei Hauptstoßrichtungen sind dabei möglich: a) Von der Linie Görlitz – Sommerfeld5: über die linke Flanke nach Dresden, über die rechte Flanke nach Cottbus, dann zwischen Elbe und Spree in Richtung Norden zur Bedrohung von Berlin. Dieser Schlag kann durch die später unternommene schrittweise Forcierung der Oder im Gebiet nordwestlich von Küstrin und durch den Vorstoß starker Kräfte in Richtung Berlin unterstützt werden. Das Ziel dieser Maßnahme ist, die Linie Dresden – Wittenberg – Berlin – Finowkanal zu erreichen. Die Errichtung eines Brückenkopfes bei Dresden und Wittenberg dient der Vorbereitung der weiteren Operationen. b) Unabhängig von den militärischen Handlungen im Gebiet von Berlin, muss ein Schlag im Gebiet Mährisch-Ostrau gegen die Linie Prag – Pilsen durchgeführt werden. Die Truppen, die aus dem Gebiet nördlich von Preßburg angreifen, werden die Truppen, die aus Ostrau vorrücken, unterstützen. c) Gleichzeitig werden die Streitkräfte, die bei Budapest frei geworden sind, entlang der Donau angreifen, Wien einnehmen und den Vorstoß über Linz in Richtung Passau fortsetzen. Es ist anzunehmen, dass dann die anglo-amerikanische Offensive in Italien und im Westen beginnen wird. Im Süden wird sie die deutsche Verteidigung in Richtung der Alpen zurückdrängen. Im Westen werden sie das Rheingebiet einnehmen und dort einen Aufmarschraum von Holland aus bis östlich des Rheins errichten. Die folgende Etappe (siehe Anlage 4) schafft die Voraussetzungen für die letzte Kampfphase, falls das Hitlerregime noch nicht gestürzt wurde und der Krieg dadurch sein Ende gefunden hat. Von Berlin aus wird in Richtung Nordwesten das Gebiet bis zur Linie Magdeburg – Anklam besetzt werden, während zur gleichen Zeit die Hauptstreitkräfte, besonders die Panzerarmeen, über die Elbe südwestlich auf Sachsen bis zur Linie Magdeburg – Plauen vorrücken. Daran können auch die Truppen teilnehmen, die bis dahin die letzten Widerstandsnester in Schlesien, Pommern und Ostpreußen beseitigt haben. Es ist anzunehmen, dass während der genannten Operationen in Richtung Berlin diese Truppen sich im Raum Dresden – Görlitz – Cottbus konzentrieren werden. Gleichzeitig wird im Westen das Ruhrgebiet besetzt und bei Mainz ein Brückenkopf errichtet. Damit könnten die Kampfhandlungen beendet werden. Sollte Hitler dennoch Widerstand leisten, so werden die Alliierten versuchen, sich über den kürzesten Weg zu vereinigen, um die Isolierung Süddeutschlands zu erreichen.
5 Gemeint ist Sommerfeld im Landkreis Crossen, heute Lubsko (Polen).
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Für dieses Ziel ist folgende Operation möglich (siehe Anlage 5). Den Hauptschlag wird die Rote Armee aus Sachsen in Richtung Osten vom Thüringer Wald auf Nürnberg und von Pilsen auf Regensburg führen. Gleichzeitig werden die Westmächte entlang des Mains gen Norden vorrücken. Die anderen Armeen können sich im Weserbergland über Eisenach oder Kassel vereinigen. Eine weitere russische Armee wird von Passau aus nach München vorstoßen. Da davon auszugehen ist, dass in Norddeutschland wenig bzw. überhaupt kein Widerstand geleistet wird, kann die Besetzung in Richtung Hamburg und Bremen mit vergleichsweise geringen Kräften realisiert werden können. Wenn die Streitkräfte schnell und richtig aufgeteilt werden, ist der Krieg in spätestens drei Monaten beendet. In dieser letzten Phase fällt die Hauptlast des Kampfes auf die Russen. Aus diesem Grund wird Russland eine Hauptrolle bei der Organisation des Friedens nach dem Krieg spielen. Möge dieser Frieden für Deutschland hart, aber gerecht sein! Möge das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung auch der deutschen Nation zuteil werden, um das Böse zu vermeiden, das einst durch den Vertrag von Versailles geboren wurde. Die ganze Welt wird sehen, dass das deutsche Volk nicht so ist, wie Hitler es sich vorgestellt hat. Indem unermüdlich die durch den Krieg entstandenen Zerstörungen beseitigt werden, wird das deutsche Volk mit seiner Hände Arbeit und seinem Verstand zeigen, dass es bereit ist, seine Zukunft auf sozialistischer Grundlage zu errichten. von Kurowski, Generalleutnant
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
Anhang Nr. 1 Skizzen der möglichen Verteidigungslinien I. gegenwärtige Frontlinie II. Linie: Oder – Neiße – Sudeten – Karpaten III. Linie: Elbe – Böhmerwald – Bayerischer Wald IV. Linie: Weser – Harz – Thüringer Wald V. Linie: Taunus 1. Stettin 2. Frankfurt/Oder 3. Görlitz 4. Mährisch Ostrau 5. Bratislava 6. Berlin 7. Lübeck
8. Magdeburg 9. Dresden 10. Wien 11. Linz 12. Eisenach 13. Passau 14. Mainz
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Anhang Nr. 2 Skizze der Deutschland verbleibenden Gebiete der Rüstungsindustrie Frontlinie – 12. 2. 1945 1. Industriegebiet Berlin – Brandenburg – Magdeburg. 2. Essen und das Ruhrgebiet. 3. Jena – Eisenach, thüringisches Industriegebiet. 4. Sächsisches Industriedreieck Wittenberg, Dresden Plauen, Leipzig. 5. Industriegebiet Frankfurt/Main – Mannheim. 6. Böhmische Rüstungsindustrie, Prag – Pilsen 7. Bautzen und Zentren der oberschlesischen Rüstungsindustrie 8. Ostrau mit dem Mährischen Industriegebiet 9. Wiener Gebiet – Erdöl. 10. Linz – Eisenerzgebiet. 11. Industriegebiet München – Augsburg.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
Anhang Nr. 3 Skizze I zu den vorgeschlagenen Militäroperationen I. Bis zum 12. 2. 1945 erreichte Linie. II. Linie, die bis zum Beginn der Entscheidungsoffensive erreicht werden sollte. III. Linie der Nahziele der Angriffsoperation Gebiete die vorrangig befreit werden sollten 1. Stettin 2. Berlin 3. Wittenberg 4. Dresden 5. Görlitz 6. Mährisch Ostrau 7. Prag
8. Pilsen 9. Bratislava 10. Wien 11. Passau 12. Köln 13. Mainz
6.1 Vorschläge von Generalleutnant Eberhard von Kurowski
Anhang Nr. 4 Skizze II zu den vorgeschlagenen Militäroperationen I. Ausgangslinie für den zweiten Schlag II. Ziele des zweiten Schlages 1. Stettin 2. Berlin 3. Magdeburg 4. Wittenberg 5. Dresden 6. Plauen
7. Prag 8. Nürnberg 9. München 10. Passau 11. Köln 12. Mainz
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Anhang Nr. 5 Skizze III zu den vorgeschlagenen Militäroperationen Ausgangslage für den letzten Schlag. 1. Hamburg 2. Bremen 3. Hannover 4. Magdeburg 5. Essen 6. Kassel 7. Eisenach
8. Mainz 9. Plauen 10. Nürnberg 11. Regensburg 12. Pilsen 13. München 14. Passau
Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 93, Bl. 299–317. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburg
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6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburg6 über das deutsche Chemiewaffenprogramm, 10. März 1945 Kopie Streng geheim Exemplar Nr. 5 10. März 1945 An das Staatliche Verteidigungskomitee – Genossen I. W. Stalin An den Rat der Volkskommissare der UdSSR – Genossen W. M. Molotow An das Volkskommissariat für Verteidigung der UdSSR – Genossen Bulganin7 An den Generalstab der Roten Armee – Genossen Antonow Hiermit stelle ich die Selbstaussagen des kriegsgefangenen Oberstleutnants der deutschen Armee, Doktor der chemischen Wissenschaften Gerhard Westerburg über die Vorbereitungen Deutschlands auf den Gaskrieg vor. Westerburg arbeitete seit 1940 in einer Experimentalabteilung des Heeres und hatte die Position des Chefs der Gruppe individueller Gasschutz inne. Danach wurde er an die Front kommandiert, wo er das 51. Werfer-Regiment8 befehligte und bei Stalingrad in Gefangenschaft geriet. Der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der Union der SSR L. Berija Kopie Streng geheim Übersetzung aus dem Deutschen Selbstaussagen des kriegsgefangenen Oberstleutnants der Wehrmacht Gerhard Westerburg, ehemaliger Chef der III. Abteilung des 51. Werfer-Regimentes.
6 Gerhard Westerburg (1896–?), Oberstleutnant, 1916–1918 Soldat im 1. Weltkrieg, 1919–1924 Ausbildung zum Apotheker, 1928 Promotion im Fach Chemie, 1932 Oberassistent an der Universität Marburg, Referent für Gas- und Luftschutz beim Stahlhelm, 1933 in die SA als Obersturmführer übernommen, 1934 in der Reichswehr reaktiviert und nach weiterer Ausbildung Kommandeur einer Nebeltruppbatterie, 1940 Lehrer an der Nebeltruppschule, dann zum Heereswaffenamt (HWA) in die Abteilung Wa Prüf 9 (Gasschutz), 1942 erneut zur Nebeltruppschule Celle, dann Abteilungschef im Werfer-Regiment 51. Am 22. 1. 1943 in Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 7 Nikolaj A. Bulganin (1895–1975), sowjetischer Politiker, 1931–1940 Bürgermeister von Moskau, 1941 Vorsitzender der Staatsbank, im 2. Weltkrieg Politoffizier, 1944–1945 Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees, 1947–1949 und 1953–1955 Verteidigungsminister, 1955–1957 Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR, 1957 gestürzt und auf den Posten der Leiter der Energieverwaltung des Gebiets Stavropol‘ versetzt. 8 Die Werfer-Regimenter waren mit dem sog. Nebelwerfer ausgerüstet, der ursprünglich für den Abschuss von Nebel- und Kampfstoffmunition vorgesehen worden war. Da der Gaskrieg jedoch ausblieb, wurden die Werfer als Flächenfeuerwaffe zum Abfeuern von Spreng- und Flammölraketen, ähnlich der bekannten sowjetischen Katjuscha, eingesetzt.
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An die sowjetische Regierung Ich, Oberstleutnant Westerburg, Chef der III. Abteilung des 51. Werfer-Regiments, bin bereit, umfassende Auskünfte zu geben, über die Vorbereitungen Deutschlands zum Gaskrieg und über alle damit verbundenen Fragen. Ich bin bereit, Angaben zu allen Fakten auf diesem Gebiet zu machen, die mir durch meine Arbeit in der Experimentierabteilung für chemische Mittel des HeeresWaffenamts im OKH, Gruppe individueller Gasschutz, wo ich von Dezember 1940 bis Ende Juli 1942 tätig war, bekannt sind. Ich gebe sogar Auskunft zu diesen Fragen, die mir aus anderen Quellen bekannt sind. Mein gesamtes Wissen über die Fragen der Vorbereitung Deutschlands zum Gaskrieg stelle ich der sowjetischen Regierung ehrlich und bedingungslos zur Verfügung. Die Vorbereitungen Deutschlands zum Gaskrieg 1. Mit den Vorbereitungen zum deutschen Gaskrieg haben sich folgende Behörden beschäftigt: a) Generalstab b) General der Nebeltruppen beim OKH c) Inspektion der Nebeltruppen und Gasschutz (Inspektion 9 Allgemeines Heeresamt OKH) d) Inspekteur Gaskrieg beim Ersatzheer, zusammenarbeitend mit Inspektion 9 e) Heereswaffenamt f) Luftwaffe g) Marine h) SS Die allgemeine Leitung der Vorbereitungen Deutschlands zum Gaskrieg lag in den Händen von Hitler, als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und des Wehrmachtsführungsstabes. 2. Mit der Vorbereitung zum Gaskrieg beschäftigten sich die deutschen Streitkräfte bereits vor 1933. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde, in Verbindung mit der Vergrößerung der Streitkräfte, der Gaskrieg aktiv vorbereitet. Mit der praktischen Vorbereitung zum Gaskrieg war zunächst der Inspekteur der Nebeltruppen und Gasabwehr – General Theißen9 beauftragt. Während des Krieges
9 Edgar Theißen (1890–1968), Generalleutnant, seit 1908 Berufssoldat, Artillerieoffizier im 1. Weltkrieg, von der Reichswehr übernommen, 1936–1939 Inspekteur der Nebeltruppen und Gasabwehr im OKH, 1939–1942 Kommandeur der 262. Infanterie-Division, 1942–1944 Kommandierender General des LXI. Reserve-Armeekorps, 1944 in die Führerreserve, dann verabschiedet. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburg
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wurden Oberst Ochsner10 und später Oberst Selle11 Nachfolger auf diesem Posten. Oberst Selle hat diese Stelle in etwa Mitte 1940 angetreten. General Ochsner wurde zu dieser Zeit General der Nebeltruppe beim OKH. Zu seinen Pflichten gehörte die praktische Leitung und Führung aller Fragen, die mit der Vorbereitung des Gaskrieges verbunden waren. Mit Beginn des Krieges bekamen die Arbeiten für die Vorbereitungen zum Gaskrieg und zur Gasabwehr größere Bedeutung. Neben den bereits existierenden Führungsstellen zur Vorbereitung des Gaskrieges („Inspektion der chemischen Truppen und Gasabwehr“ und der 1940 geschaffenen Dienststelle eines „Generals der Nebentruppe und Gasabwehr“) wurde Ende 1940 noch die Stelle eines „Inspekteurs der chemischen Truppen und Gasabwehr“ geschaffen, die sich innerhalb des Ersatzheeres mit dem Gaskrieg befasste. 1942 waren führende Persönlichkeiten bei den Fragen zur Vorbereitung des Gaskriegs: 1. Der Oberkommandierende Hitler 2. Chef des Wehrmachtsführungsstabes Generalfeldmarschall Keitel 3. Chef des Generalstabs Generaloberst Halder 4. General der Nebentruppe beim OKH Ochsner 5. Inspekteur der Nebeltruppe und Gasabwehr beim Ersatzheer General Leister12 6. Chef des Heereswaffenamts im OKH General Leeb13 7. Chefinspekteur Nebeltruppe und Gasabwehr (Inspektion 9 im AHA OKH) Oberst Selle
10 Hermann Ochsner (1892–1951), Generalleutnant, seit 1911 Berufssoldat, Artillerieoffizier im 1. Weltkrieg, 1919 Freikorps Epp, 1920 Reichswehr, 1930–1934 im Reichswehrministerium Sachbearbeiter für Gasschutz und künstlichen Nebel in der Inspektion der Artillerie, seit 1934 bei den für den Gaskrieg geschulten Nebeltruppen, 1936–1940 Stabschef der Inspektion der Nebeltruppen und Gasabwehr im OKH, 1940 General der Nebeltruppen beim OKH, Befürworter eines Giftgaseinsatzes. 1945–1947 in USKriegsgefangenschaft, verfasste dort eine Studie zur chemischen Kriegsführung. 11 Gerhard Selle (1896–1954), Oberst, seit 1934 bei den Nebeltruppen, Veröffentlichungen zum Gasschutz. 12 Erwin Leister (1886–1969), Generalleutnant, seit 1908 Berufssoldat, Artillerieoffizier im 1. Weltkrieg, 1920 Reichswehr, 1934–1941 Kommandant der Heeresgasschutzschule in Berlin, ab 1939 in Celle, 1941–1944 Inspekteur der Nebeltruppen und Gasabwehr im OKH, 1944 in die Führerreserve und verabschiedet. 1945–1947 in britischer Kriegsgefangenschaft. 13 Emil Leeb (1881–1969), General der Artillerie, seit 1901 Berufssoldat, Generalstabsoffizier im 1. Weltkrieg, 1933–1935 Leiter des Beschaffungswesens beim HWA, 1935–1939 Kommandeur der 15. Infanterie-Division, 1939–1940 Kommandierender General des XI. Armeekorps, 1940–1945 Chef des HWA, Anfang 1945 verabschiedet. 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
8. Leiter der Gasschutzabteilung, chemische (Wa Prüf 9) Oberst Hirsch14 (357) 9. Chef der Heeresgasschule Graf von Kanitz15
Sonderaufgaben,
Gasabwehr
Die Ausbildung des chemischen Personals des Heeres wurde zunächst an der Heeresgasschutzschule in Berlin durchgeführt. Diese Schule wurde später nach Celle verlegt und wesentlich erweitert. 1940 wurde die Ausbildungsbasis für Chemieexperten Dank der Gründung einer neuen Heeresgasschutzschule in Bromberg (Bydgoszcz) nochmals erweitert. An diesen Schulen wurden Offiziere und Unteroffiziere zu Spezialisten des chemischen Dienstes ausgebildet. 3. Die Bearbeitung wissenschaftlich-technischer Fragen, die mit der Entwicklung von Kampfstoffen verbunden waren, hat die Abteilung für Gasschutz (Prüf 9) durchgeführt, die von Oberst Hirsch geleitet wurde. Die wichtigsten wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu Kampfstoffen und zur chemischen Abwehr führten durch: a) Heeres-Gasschutz-Laboratorium in Berlin-Spandau. b) Die Labore der chemischen Betriebe: IG16 in Leverkusen, Degea17 in Lübeck, Hiag18 in Konstanz (Bodensee). c) Das Labor der Universität Heidelberg. d) Die Labore der Universität Wien. e) Das Labor der Universität Würzburg.
14 Walter Hirsch (?–1951), Oberst, promovierter Chemiker, ab 1942 Chef von Wa Prüf 9, 1943 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Blitzableiter“ (Erforschung biologischer Kampfstoffe). 1945–1947 in US-Kriegsgefangenschaft, verfasste dort eine Studie über sowjetische chemische und biologische Kampfstoffe. 15 Hans Graf von Kanitz (1893–1968), Generalmajor, seit 1913 Berufssoldat, Kavallerieoffizier im 1. Weltkrieg, seit 1937 Leiter der Unteroffiziers-, dann der Offiziersausbildung an der Heeresgasschutzschule in Berlin, ab 1939 in Celle, 1941–1944 deren Chef, Ende 1944 in die Führerreserve, im Winter 1944/45 in Gestapo-Haft wegen Verbreitung christlicher Rundbriefe unter Offizieren, Februar 1945 entlassen und verabschiedet. 16 Zur IG Farbenindustrie AG, dem 1924 erfolgten Zusammenschluss 8 großer deutscher Chemiefirmen, gehörte auch das Bayer-Farbenwerk in Leverkusen, wo u. a. Gase produziert wurden. 17 Die Degea war ein Tochterunternehmen der Degussa AG, die 1934 die Deutsche Gasglühgesellschaft-Aktiengesellschaft in Berlin übernommen hatte, sie stellte u. a. Atemschutzgeräte her. Allerdings befanden sich ihre Produktionsstätten in Oranienburg, so dass hier möglicherweise eine Verwechslung mit dem Drägerwerk in Lübeck, dem wichtigsten Konkurrenten der Degea auf dem Gebiet der Atemschutztechnik, vorliegt. 18 Die Hiag war ein Tochterunternehmen der Degussa AG, die 1930 die Konstanzer HolzverkohlungsIndustrie AG übernommen hatte. Sie besaß ein faktisches Monopol auf die Herstellung von Holzkohlefolgeprodukten, so von Aktivkohle, wie sie für die Filter von Gasschutzmasken benötigt wurde.
6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburg
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Wichtige Erprobungen und Testschießen wurden auf Truppenübungsplätzen in Raubkammer bei Munster19 durchgeführt. Eine führende Rolle bei der Entwicklung neuer Kampfstoffe und Mittel für die chemische Abwehr, die in der deutschen Armee durch die Gasschutzabteilung (Prüf 9) beim Heereswaffenamt im OKH durchgeführt wurde, spielten folgende Personen: 1. Professor Dr. Wirth20 war mit den Fragen des Erkennens und Entgiftens von Kampfstoffen beschäftigt. Er arbeitet in der Experimentierabteilung für chemische Mittel. 2. Professor Dr. Wirth21, Oberstabsarzt, beschäftigte sich mit der physiologischen Wirkung von Kampfstoffen. Er arbeitet in der Versuchsabteilung für chemische Stoffe. 3. Oberregierungsrat Prof. Dr. Wagner22 arbeitet über allgemeine wissenschaftliche Fragen auf dem Gebiet der Kampfstoffe. Er ist in der Versuchsabteilung für chemische Stoffe tätig. 4. Oberregierungsrat Dr. Hoffmann23 beschäftigt sich mit der Geschichte der Entwicklung von Kampfstoffen. 5. Ministerialrat Dr. Stantien24 bearbeitet chemische Mittel zur Blockierung von Motoren. Er arbeitet in der Versuchsabteilung für chemische Stoffe. 6. Prof. Dr. Kuhn25, Universität Heidelberg.
19 Gemeint ist die Heeresversuchsstelle Munster-Nord im Forst Raubkammer in der Lüneburger Heide. 20 Fritz Wirth (1883–1971), Chemiker, seit den 1920er Jahren Professor an der TH Berlin, Leiter des dortigen Instituts für Gasanalyse, mehrmals in der Sowjetunion zu Gasversuchen der Reichswehr, 1939–1945 als Oberregierungs-, dann Ministerialrat beim HWA, Leiter der Gruppe VII bei Wa Prüf 9, zugleich Leiter der Gruppe III der Abteilung Wissenschaft und Gesundheitsführung bei der HeeresSanitätsinspektion. 21 Wolfgang Wirth (1898–1996), Oberstarzt, Mediziner und Chemiker, Toxikologe, seit 1924 Mitarbeiter der Biologischen Reichsanstalt, 1926–1932 mehrmals in der Sowjetunion zu Gasversuchen der Reichswehr, seit 1927 Assistent, dann Dozent am Pharmakologischen Institut der Universität Würzburg, 1936 Regierungsrat beim HWA, 1940 Ernennung zum Professor, zugleich Leiter des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Militärärztlichen Akademie, unternahm zahlreiche Kampfstoffversuche, auch an Menschen. 1945–1946 in US-Internierungshaft. 22 Gustav Wagner (1895–1957), Chemiker, Oberregierungsrat beim HWA, Forschungsleiter bei Wa Prüf 9, seit 1937 Professor an der Wehrtechnischen Fakultät der TH Berlin. 23 Ch. Hoffmann (?–?), Ministerialrat beim HWA, Leiter der Gruppe V bei Wa Prüf 9, zuständig für Bearbeitung und Überwachung der in- und ausländischen Literatur über die chemischen Kampfstoffe, seit 1935 Anlage eines „Archivs über die bestehende Literatur der Gaskampfstoffe“ in Kooperation mit der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 24 Kurt Stantien (1890–1949), Ministerialrat, promovierter Chemiker, 1924 Leiter eines von der Reichswehr unterstützten privaten Gasschutzlaboratoriums in Berlin, 1925 Beitritt zur NSDAP, um 1935 Eintritt in die Gasschutzabteilung Wa Prüf 9 beim HWA, 1936–1938 Leiter des Bundes Deutscher Chemiker, Berater des Franco-Regimes, seit 1941 Leiter des Referats X (Sonderentwicklungen) der Wa Prüf 9, zugleich Sekretär der Arbeitsgemeinschaft „Blitzableiter“ (Erforschung biologischer Kampfstoffe). 25 Richard Kuhn (1900–1967), Professor für Biochemie, 1926 Professor an ETH Zürich, 1928 nach Heidelberg berufen, 1929 dort Abteilungsleiter beim Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für medizinische
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7. Prof. Dr. Ebert26, Hochschule in Wien. Er arbeitete über Schaumlost. 8. Prof. Dr. Flury27, Universität Würzburg. Er arbeitete über die physiologische Wirkung von Kampfstoffen. 9. Dr. Marin28, Angehöriger des Heeresgasschutzlabors in Spandau, arbeitete über Schwelstoffe und künstlichen Nebel. 10. Dr. Hildebrandt29, Angehöriger des Heeresgasschutzlabors in Spandau, arbeitete über Schwelstoffe. 11. Dr. Strauss30, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über Einzelschutz, Gasbekleidung und Gasplanen. Seine Versuche führt er im Heeresgasschutzlabor in BerlinSpandau durch. 12. Dr. v. Müllenheim31, Regierungsrat, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über Gaserkennung und Entgiftung. 13. Oberregierungsrat Dr. Schmidt32, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über die Gasmaske. 14. Major Schneider33, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über Kampfstoff-Artilleriegeschosse. 15. Major Wobit34, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über die Gasmaske.
Forschung, 1937 dessen Direktor, 1938 Nobelpreis für Chemie, seit 1938 an die Kampfstoffentwicklung des HWA beteiligt, 1943/44 Entwicklung eines Nervengiftgases. Nach Kriegsende Lehre in den USA, ab 1953 wieder in Deutschland. 26 Ludwig Ebert (1894–1956), Professor für Physikalische Chemie, 1926–1928 bei Fritz Haber am KWI für Physikalische Chemie in Berlin, 1928 außerordentlicher Professor in Würzburg, 1934 ordentlicher Professor an der TH Karlsruhe, seit 1940 Professor und Direktor des 1. Chemischen Instituts an der Universität Wien. 1946–1947 Kooperation mit US-Geheimdiensten, verneinte ihnen gegenüber aber seine Beteiligung an der Kampfstoffforschung. 27 Ferdinand Flury (1877–1947), Professor für Pharmakologie und Generalarzt, Toxikologe, 1901–1910 im Sanitätsdienst, 1915 außerordentlicher Professor für Pharmakologie an der Universität Würzburg, 1916–1920 am KWI für Physikalische Chemie in Berlin zusammen mit Fritz Haber in der Kampfstoffforschung tätig, 1920–1945 ordentlicher Professor für Pharmakologie an der Universität Würzburg, seit 1929 für das HWA Forschungen zu Kampfstoffen, Autor von Standardwerken über giftige Gase, 1937 Beitritt zur NSDAP, 1939–1945 erneut im Sanitätsdienst. 28 Marin (?–?), Chemiker, Mitarbeiter von Wa Prüf 9, 1940 an Nebel- und Kampfstoffversuchen der Kriegsmarine beteiligt, leitete 1944 zusammen mit Dr. Hildebrandt das Labor VI L im Komplex der Heeresgasschutzlaboratorien in Spandau. 29 Hildebrandt (?–?), 1943/44 Leiter des Labors VI L im Komplex der Heeresgasschutzlaboratorien in Spandau. 30 Gerhard Strauss (?–?), 1943 Leiter der Gruppe II b2 bei Wa Prüf 9, die für Fragen der „Chemie des Einzelschutzes“ zuständig war. 31 Nicht ermittelt. 32 Eventuell Siegfried Schmidt (?–?), 1943 Mitarbeiter der Gruppe V von Wa Prüf 9. 33 Nicht ermittelt. 34 Helmut Wobit (?–?), Oberstleutnant, Gasschutzoffizier und Ingenieur, seit 1937 bei Wa Prüf 9 tätig.
6.2 Selbstaussagen von Oberstleutnant Dr. Gerhard Westerburg
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Die Mehrheit der Wissenschaftler der Versuchsabteilung für Kampfstoffe (Prüf 9) hat eigene Forschung im Labor Berlin-Spandau und auf dem Versuchsgelände Munster durchgeführt. 5. In der Bewaffnung der Wehrmacht befanden sich im Jahr 1942 folgende Kampfstoffe: 1. „Weißkreuz“ – Tränengas, Chlorazethophenon 2. „Grünkreuz“ – Erstickungsgas, Phosgen 3. „Blaukreuz“ – mit reizender Wirkung auf die Atemwege, Adamsit 4. „Gelbkreuz“ – hautschädigende Wirkung, Yperit Bereits am Anfang des Krieges existierten ausgearbeitete Dienstvorschriften und Schusstabellen für das Verschießen von Gasgranaten, die mit diesen Kampfstoffen befüllt waren. Diese Vorschriften waren bis hinunter zu den Regimentsstäben des Feldheeres ausgegeben. Diese Vorschriften wurden in versiegelten Umschlägen aufbewahrt, die nur nach einem bestimmten Befehl geöffnet werden durften. Beim Rückzug der deutschen Armee Ende 1941 fiel ein Exemplar dieser Dienstvorschrift – wahrscheinlich vom Werfer-Regiment 52 – an der Ostfront in russische Hände und wurde veröffentlicht. Danach wurden diese Dokumente von der kämpfenden Truppe zurückgezogen. Die Versuchsabteilung für Kampfstoffe (Prüf 9) führte Arbeiten zur Modernisierung von Kampfstoffen durch und Forschungsarbeiten zur Entwicklung neuer Arten von Kampfstoffen durch. Folgende Mittel wurden weiterentwickelt In der Gruppe „Grünkreuz“ Arsenat-Wasserstoff. Man hat folgende Forschungen mit Arsenwasserstoff durchgeführt: Dem französischen Geheimdienst wurden falsche Informationen darüber zugespielt, dass die Deutschen Arsenwasserstoff als Kampfstoff einsetzen könnten. Auf Grund dieser Falschinformationen ging Frankreich unverzüglich zu Forschungen über und führte in den Streitkräften Gasmasken ein, die als Mittel des persönlichen Schutzes mit Filtern ausgestattet waren, die man mit Kupfervitirollösung imprägniert hatte. Diese Gasmasken wurden 1939 an der Westfront erbeutet und die deutsche Abwehr fand heraus, dass deren Filter den bei den Deutschen angeblich vorhandenen Kampfstoff Arsenwasserstoff abwehren sollten. Später erbeutete französische Militärarchive bestätigten diese Untersuchungen. Nach diesen Meldungen ging die deutsche Seite unverzüglich zu Versuchen über, die zeigten, dass die französischen Filter gegen Arsenwasserstoff keine Wirkung hatten. Mit der Bearbeitung dieser Frage wurde 1940 Oberregierungsrat Dr. Schmidt beauftragt, welcher Versuche im Heeres-Gaslaboratorium in Berlin-Spandau durchführte. Im Ergebnis der Arbeiten fand er heraus, dass versilberte Aktivkohle als Mittel gegen diesen Kampfstoff wirkte. Da Deutschland nicht über größere Mengen an Silber
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verfügte, wurde bei weiteren Versuchen festgestellt, dass auch verkupferte Aktivkohle als gutes Mittel gegen Arsenwasserstoff wirkt (wahrscheinlich wurde an diesem Problem auch bei der Hiag in Konstanz geforscht). Weiterhin wurde festgestellt, dass konzentrierter Trockenarsenwasserstoff eine geringere Wirkung hat als frisch hergestellter. Es wurden schließlich weitere Versuche durchgeführt. In erster Linie war man daran interessiert, einen haltbaren Kampfstoff zu entwickeln. Im Juni 1942 wurden mit diesem Kampfstoff Laborversuche durchgeführt. Arsenwasserstoff hat eine zersetzende Wirkung auf das Blut. Es wirkt sehr schnell und bei ausreichender Dosis tritt der Tod innerhalb von 24 Stunden ein. Mit weiteren Forschungen in dieser Frage wurde, nach dem die Frage des Schutzes erfolgreich gelöst worden war, die I. G. Farbenindustrie beauftragt. In der Versuchsabteilung hat sich mit dieser Frage der Oberst des Sanitätsdienstes Prof. Dr. Wirth beschäftigt, der die physiologische Wirkung dieses Gases untersuchte. Yperitaerosol Es wurden erfolgreiche Schießversuche mit der Ausbringung von Yperit als Aerosol durchgeführt. Beim Einatmen dieser kleinsten Tropfen war die Wirkung auf die Lungen sehr viel stärker als beim Einatmen der Verdampfungsgase, die bei der Vergiftung des Geländes mit den üblichen Methoden entstehen. Allerdings gewährleisteten die Schutzmasken für die Lungen einen vollständigen Schutz bei dieser Ausbringungsmethode des Yperits. Das Aerosol entsteht Dank einer Erhöhung der Sprengstoffmenge im Artilleriegeschoss. Diese Forschungen wurden von Professor Wagner unter Laborbedingungen und auf dem Truppenübungsplatz Raubkammer durchgeführt. Blausäure Die deutsche Abwehr stellte Anfang 1942 an der Ostfront fest, dass die sowjet-russische Armee Blausäure als Kampfstoff einsetzen könnte. Diese Vermutungen führten zu der Annahme, dass dessen Verbreitung nur durch das Abwerfen von leichtzerbrechlichen Behältern durch Flugzeuge erfolgen kann. General Ochsner befahl darauf hin, Versuche durchzuführen, die prüfen sollten, ob eine derartige Verbreitungsmethode möglich und ob damit die nötige Konzentration von Blausäure in einem bestimmten Gebiet erreicht werden kann. Eine Untersuchung der sowjetischen Schutzmasken zeigte, dass diese ungewöhnlich widerstandsfähig gegen Blausäure waren. In diesem Faktum sahen wir eine Bestätigung der Angaben, die wir von der Abwehr erhalten hatten. In Deutschland konnten diese Versuche jedoch nicht durchgeführt werden, weil kein deutsches Industrieunternehmen flüssige Blausäure in der nötigen Menge liefern konnte. Selbst den Werken der I. G. Farbenindustrie gelang es nicht, diesen Stoff zu produzieren, da es bis zu diesem Zeitpunkt unmöglich war, eine Stabilisierung der Blausäure zu erreichen, da diese in Folge der Explosion zur Selbstzerlegung neigt. Schließlich übergab die I. G. Farbenindustrie in kleiner Anzahl Ampullen mit 25 Kubikzentimetern Blausäure für Versuche mit Schutzmasken.
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Englischen Chemikern ist wahrscheinlich eine Stabilisierung von Blausäure gelungen, da eine britische Firma eine große Menge diese Säure zum Export nach Indien als Schädlingsbekämpfungsmittel angeboten hat. Deutsche Schädlingsbekämpfungsmittel, die in ihrer Zusammensetzung Blausäure enthalten, gibt es zum Verkauf nur in fester Form und die Freisetzung der Blausäure erfolgt so langsam, dass von einem Kampfstoff nicht die Rede sein kann. Die Ausbringung von trockenem Pulver in ausreichender Menge und ausreichender Dichte wäre außerordentlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Ähnliche Versuche mit Kalziumcyanid gaben ebenfalls keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Die Versuche wurden im Frühjahr 1942 von Oberstleutnant Schneider auf dem Truppenübungsplatz Raubkammer durchgeführt. Gegenüber der I. G. Farbenindustrie wurde der Wunsch geäußert, mit Versuchen zur Stabilisierung von flüssiger Blausäure zu beginnen. Eine kleinere Menge von Blausäure wurde für Versuche vermutlich aus Leverkusen geliefert. Bei erfolgreichem Abschluss der Versuche zur Stabilisierung von Blausäure, wären weitere Arbeiten zu deren Einsatz erfolgt. Gelan35 Ein weiterer sehr wirksamer Kampfstoff aus der Grünkreuz-Gruppe ist Gelan, dessen Zusammensetzung streng geheim ist. Auch vor mir wurden die Inhaltsstoffe geheim gehalten, mir ist lediglich bekannt, dass der Kampfstoff Stickstoff und Phosphor enthält. Dieses Gas wirkt außerordentlich schnell: bei kleineren Mengen verengen sich die Pupillen, das Einatmen in größeren Mengen verursacht Bewusstlosigkeit und Krämpfe, nicht selten folgt der Tod. Zunächst wurde dieser Stoff lediglich als Schädlingsbekämpfungsmittel angesehen, bis Oberst des Sanitätsdienstes Dr. Wirth bei der Untersuchung der physiologischen Wirkung des Mittels auf die oben beschriebenen Ergebnisse stieß. Die Herstellung des Stoffes in für Versuche ausreichende Mengen traf auf beträchtliche Schwierigkeiten. Es gab eine ganze Reihe von Problemen und Fehlschlägen. Am Ende gab es aber die Hoffnung, dass es möglich sei, das Mittel in großen Mengen herstellen zu können. Versuche auf dem Testgelände wurden von Prof. Wagner durchgeführt. Die für die Versuche nötige Menge an Gas lieferte die I. G. Farbenindustrie. Ob die Tests erfolgreich verliefen, weiß ich nicht, Die Erprobungen wurden in Spandau und Raubkammer durchgeführt. Kohlenstoffoxid (FeCo5 ) Die Versuche zur Verwendung von Kohlenstoffoxid in der Form von FeCo5 (Eisenpentacarbonyl) als Kampfstoff endeten mit einem völligen Fehlschlag. Beim Verschießen von Artilleriegeschossen aus der Feldkanone 15 cm (500 Schuss) auf einen Gelände-
35 Gelan, auch als Trilon bezeichnet, tabunähnlicher Stoff, später bei der Sowjetarmee unter der Bezeichnung R-35 als Kampfstoff eingesetzt.
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abschnitt mit 20 Katzen und 5 Hunden starben nur 2 Katzen durch Geschoßsplitter. Ich war selber bei dem Versuch anwesend. Am Aufschlagpunkt der Granate konnte man bei der Explosion das FeCo5 in Form einer dichten rostbraunen Wolke ausmachen. Bei keiner der Katzen wurden irgendwelche Krankheitsanzeichen festgestellt. Bei den technischen Geräten, die während der Tests Luft ansaugten, konnte in deren Filter kein Kohlenstoffoxid nachgewiesen werden. Diese Versuche führte im Frühjahr 1942 Professor Wagner durch, die Tests stellte man wenig später ein, da keine Aussicht auf Erfolg bestand. Gruppe Blaukreuz Adamsitschwelkerzen Von den Franzosen wurden Schwelkerzen erbeutet, die man mit dem Gas Adamsit gefüllt hatte. Tests zeigten, dass diese sehr bequem in der Anwendung waren. Die Franzosen planten, einen Angriff vorbereitend, die deutschen Stellungen auf breiter Front über mehrere Tage hinweg einzunebeln. Damit sollte der entsprechende Durchbruch vorbereitet werden, denn früher oder später würden die gegnerischen Soldaten gezwungen sein, ihre Schutzmasken abzunehmen, da die Filter bereits verbraucht und die Ventilation in den Bunkern unwirksam sein würde. Das Gewicht einer Schwelkerze lag bei 5 Kilogramm. An der Verbesserung der Adamsitschwelkerze arbeitete Oberregierungsrat Weinberg36. Die Versuche wurden auf dem Truppenübungsplatz Raubkammer Ende 1940 durchgeführt, anschließend genehmigte man die Herstellung von Adamsitschwelkerzen. Gruppe Gelbkreuz Yperit Neben normalen Yperit ist auch „N-Yperit“ bekannt. Dieser Kampfstoff befand sich 1942 im Stadium der Entwicklung und Verbesserung. Der Stoff setze sich aus NCH2CH2Cl3 zusammen. Er hat einen schwächeren Geruch als gewöhnliches Yperit. Es lässt sich nur schwer oder gar nicht durch Chlorkalk neutralisieren. Seine Wirkung entspricht dem von Yperit. 1942 wurden entsprechende Versuche mit dem Verschuss von Artilleriegranaten durchgeführt, die mit diesem Kampfstoff befüllt waren. Die Wirkung beim Schießen war ungefähr so wie die von Yperit. Die Schießtests mit „N-Yperit“ führte man unter der Leitung von Prof. Wagner auf dem Schießplatz in Raubkammer durch. Um zu verhindern, dass das Yperit in den Boden eindringt, wurde versucht, dem Stoff eine höhere Viskosität zu geben. Das Ziel konnte durch die Zugabe einer Reihe von verschiedenen Stoffen, z. B. Styrol, erreicht werden. Da Yperit bei Temperaturen unter null Grad Celsius in den festen Zustand übergeht, unternahm man mit verschiedenen Substanzen Versuche, um den Schmelz-
36 Karl Weinberg (?–?), Oberregierungsrat, Vertreter des OKM bei Wa Prüf 9.
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punkt herabzusetzen. Zu diesem Zweck setzte man eine ganze Reihe von Stoffen ein, darunter auch unverdünntes Arsen(III)chlorid. Die Forschungen mit diesen Substanzen endeten bereits 1940, genaue Ergebnisse sind mir nicht bekannt. Yperit mit Anthrazit-Teer Während des Polenfeldzuges sperrte die polnische Armee eine Brücke bei Jaslo, indem sie ein Gemisch aus Yperit und Anthrazit-Teer auftrug. Die zur Beseitigung der Sperre eingesetzten Pioniere bemerkten lediglich einen Geruch von Karbol, das in Deutschland auf Baustellen häufig als Holzschutzmittel eingesetzt wird. Eine Reihe von Soldaten erkrankte schwer und erlitt Hauptverätzungen. Beim Transport der Geschädigten ins Lazarett erkrankten auch die Soldaten des Sanitätsbusses durch das Einatmen von Dämpfen schwer. Ein großer Teil der mit Yperit Vergifteten starb. Deutsche Soldaten hatten gleichfalls mit der Mischung die Trennwände in einem Pferdestall bestrichen, einige Pferde gingen ein und eine Reihe von Soldaten erkrankte. Untersuchungen mit diesem Stoff wurden auf dem Truppenübungsplatz Raubkammer durchgeführt. Die Tests führten Oberstleutnant Schneider und Dr. Gabel37 durch. Die Versuche ergaben keine praktischen Ergebnisse. Winter-Yperit Die Suche nach Winter-Yperit erhielt neue Impulse durch die Auswertung von französischen Beutedokumenten. Unter diesen fanden sich Unterlagen über gemeinsame Versuche der Briten und Franzosen, die diese auf einem Testgelände in Nordafrika durchgeführt haben. Dort wurden Tests zum Versprühen von englischen „NT-Yperit“ aus großen Höhen vorgenommen. Die Wirkung des Yperits ereignete sich bei hohen Temperaturen. Dank der hohen Temperaturen befanden sich ca. 40 % des Stoffs in einem ätherartigen Zustand, während normaler Yperit flüssig ist. Der Erstarrungspunkt des ätherähnlichen Yperits sinkt auf ca. minus 15 Grad. Die physiologische Wirkung dieses Kampfstoffes unterscheidet sich nicht von gewöhnlichem Yperit. Zudem verteilt sich das ätherähnliche Yperit leichter und weist weiterhin eine höhere Viskosität als gewöhnliches Yperit auf. „NT“ wurde als bedeutende Erfindung eingestuft. 1942 waren die Tests mit dem Kampfstoff noch nicht abgeschlossen und es erfolgte noch keine Massenproduktion. Die Versuche fanden auf dem Truppenübungsplatz in Raubkammer unter der Leitung von Oberstleutnant Schneider und Dr. Gabel statt. Beide gehörten zur Versuchsabteilung für chemische Stoffe (WaPrüf 9) im Heereswaffenamt des OKH. gez. Westerburg, Oberstleutnant Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 93, Bl. 353–368. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch.
37 Gabel (?–?), Mitarbeiter von Wa Prüf 9 im HWA, während des 2. Weltkrieges bei der Heeresversuchsstelle Raubkammer an Versuchen zu Yperit und Tabun beteiligt.
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6.3 Schreiben von Generalleutnant Fritz Franek38 an die sowjetische Regierungzur Aufstellung österreichischer Verbände, bei Moskau, 28. März 1945 Streng geheim Exemplar Nr. 3 12. April 45 An Genossen I. W. Stalin An Genossen W. M. Molotow Anbei übergebe ich eine Erklärung an die Regierung der UdSSR von dem österreichischen Kriegsgefangenen Generalleutnant Fritz Felix Franek mit dem Vorschlag, Militäreinheiten aus antifaschistisch eingestellten österreichischen Kriegsgefangenen zum Kampf gegen die Deutschen aufzustellen. Franek kommandierte die 73. Infanteriedivision und wurde im Juli 1944 bei Warschau gefangengenommen. Franek befindet sich in einem Lager des NKWD bei Moskau. Der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der Union der SSR L. Berija Generalleutnant Dr. Fritz Franek An die Regierung der U. d. S. S. R. Die entscheidenden Erfolge der Roten Armee in den vergangenen Monaten und besonders die in den letzten Tagen angelaufenen Offensiven der Verbündeten an allen Fronten machen den Zusammenbruch Hitlerdeutschlands in absehbarer Zeit wahrscheinlich. Gleichzeitig sprechen aber auch viele Anzeichen dafür, dass die deutschen Machthaber auch dann noch einen zähen Widerstand in dem sogenannten „Alpen-Reduit“ und den in den diesem Reduit vorgelagerten Gebieten, also vor allem in großen Gebirgsgegenden Österreichs vorbereiten. Ein solcher Widerstand kann unter Umständen verhältnismäßig lange dauern, die Befreiung Österreichs und benachbarter Teile von Deutschland, Italien und Jugoslawien erheblich verzögern und stören.
38 Fritz Franek (1891–1976), Generalleutnant, seit 1910 Berufssoldat, Infanterist im k. u. k. Heer, 1920 ins österreichische Bundesheer übernommen, zum Studium der Staats- und Wirtschaftswissenschaften kommandiert, 1925 Fachprüfung für den höheren militärischen Dienst und Promotion, Verwendungen u. a. im Kriegsarchiv und als Taktiklehrer, 1938 von der Wehrmacht übernommen, 1939 Bataillonskommandeur, 1940 Kommando über das Infanterie-Regiment 634, seit Oktober 1940 über das Infanterie-Regiment 405 im Osten, im September 1941 schwer verwundet und in die Führerreserve versetzt, seit März 1942 Kommandeur der 196. Infanteriedivision zur Sicherung Norwegens, Anfang 1944 Kommandeur der 44. Reichsgrenadier-Division, seit Juni 1944 der 73. Infanteriedivision in den Kämpfen um Warschau. Vom 29. 7. 1944–22. 7. 1948 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
6.3 Schreiben von Generalleutnant Fritz Franek an die sowjetische Regierung
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Gerade in dieser Phase des Krieges kann ein Beitrag Österreichs zur Erringung seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit für die Verbündeten von realem Wert, für Österreich aber auch praktisch möglich sein. Dem österreichischen Volk in der Heimat, das gerade in den betroffenen Landesteilen unter stärkstem Druck und schärfster Überwachung durch die dann sehr starken militärischen und terroristischen Machtmittel Hitlers und Himmlers stehen wird, werden diese Möglichkeiten trotz bestem Willen nur sehr beschränkt gegeben sein. Hingegen würden österreichische Truppen, im Verbande der Roten Armee kämpfend, in dem starken Bewusstsein, tatsächlich unmittelbar die eigene Heimat von einer verhassten Gewalt befreien zu helfen, gestützt auf ihre Vertrautheit mit dem Gebirge und größtenteils sogar auf direkte Ortskenntnisse, eine wirklich ernsthafte Mithilfe leisten können. Das Erscheinen österreichischer Truppen auf österreichischem Boden wird überdies die Mitwirkung der Bevölkerung entscheidend vorwärts treiben. Die Tatsache, dass österreichische Truppen gemeinsam mit der Roten Armee kämpfen, würde schließlich das Vertrauen des österreichischen Volkes zu dieser und den Wunsch nach dauernder Freundschaft mit der Sowjetunion zweifellos erheblich stärken und auf eine breite Basis stellen. In zahlreichen Resolutionen aus verschiedenen Lagern haben österreichische Kriegsgefangene, Offiziere und Soldaten, ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, kämpfend, mit der Waffe, ihren Beitrag für Österreich leisten zu wollen. Ich selbst habe bis zu meiner Gefangennahme an die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens ohne völligen Zusammenbruch Großdeutschlands geglaubt, war der Meinung, dass ein solcher Kriegsausgang auch zum Wohle des österreichischen Volkes wäre und habe daher dafür gekämpft. Ich habe jedoch bald nach meiner Gefangennahme – nicht erst unter dem Eindruck der seit Anfang August 1944 eingetretenen Ereignisse – erkannt, dass mein Glaube falsch war, und habe in einer Reihe von Erklärungen sowie in einer Mitte Oktober 1944 dem General des Kriegsgefangenenwesens der Roten Armee vorgelegten Denkschrift meine Bereitschaft zum Kampfe gegen die Hitlerherrschaft, für ein freies, selbständiges, unabhängiges Österreich, für dessen Zusammenarbeit mit seinen slawischen Nachbarn und für eine dauernde Freundschaft mit der Sowjetunion zum Ausdruck gebracht. Ich trete daher in meinem Namen und im Namen aller derjenigen österreichischen Offiziere und Soldaten, die den Wunsch haben, mit der Waffe für die Befreiung Österreichs zu kämpfen, an die Regierung der Sowjetunion heran mit der Bitte, sobald als möglich österreichische Kampfformationen in einem geeigneten Rahmen aufzustellen und sie zur Mitwirkung bei der Vernichtung der deutsch-faschistischen Herrschaft in Österreich einzusetzen. 28. März 1945 Generalleutnant FRANEK Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 95, Bl. 10. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Russisch, und ebd., Bl. 12–14. Beglaubigte maschinenschriftliche Kopie. Deutsch.
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6.4 Schriftstück von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner über Adolf Hitler, Moskau, 25. August 1945 Schörner, Meine Stellung, 25. 8. 1945 Meine Stellung Adolf Hitler gegenüber Ich war nicht treu gegenüber Adolf Hitler, sondern loyal gegenüber dem Staatsoberhaupt. Ich stand zum Führer als Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Das Parteiprogramm habe ich nie unterschrieben (z. B. Rassenfrage, sozialistische Punkte u. a.). Ich stand zum nationalsozialistischen Staat, nicht zur Partei, die vielfach andere Wege ging. Manches davon muss ich heute mit voller Überzeugung sachlich verurteilen; ich kann deshalb aber nicht schimpfen und beleidigen oder gar ehemalige Kameraden schmähen, was mir auch nicht zusteht. 25. 8. 1945. Schörner Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 1, Bl. 74. Handschriftliches Original. Deutsch.
6.5 Eigenhändige Selbstaussage von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Moskau, 15. September 1945 I.) Meine Hauptschuld sehe ich darin, dass Model und ich die Oberbefehlshaber waren, die den Krieg verlängert haben und zwar durch ihren Geist, durch das blinde Vertrauen zum Führer, das wir dauernd auf unsere Untergebenen zu übertragen verstanden, durch die scharfe Führung, um die Truppe zum Halten bis zum letzten zu befähigen. Über meine operative und taktische Führung habe ich nicht zu urteilen. So habe ich durch meinen persönlichen Einsatz die Heeresgruppen Süd, Nord und Mitte nach schweren Rückschlägen immer wieder zum Kampf und zu neuen Opfern gebracht, die ich heute als zwecklos erkennen und bedauern muss. Ich habe derart gehandelt, weil ich [es] für meine vornehmste Aufgabe betrachtete, die Front zu halten, um dem Führer für diplomatische Möglichkeiten Zeit zu geben. Sollte es sich herausstellen, wie ich heut[e] vermute, dass derartige Möglichkeiten im Gegensatz zu dem, was ich mehrmals von Hitler erfuhr, überhaupt nicht ernstlich in Frage standen, dann war ich betrogen. II.) Meine allgemeine Schuld liegt darin, dass ich Nationalsozialist war und damit diese Politik aktivistisch unterstützt habe. Alle einzelnen Handlungen oder Unterlassungen, die ich heute zu verantworten habe, gehen auf diese grundsätzliche Haltung zurück.
6.5 Eigenhändige Selbstaussage von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner
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In meinen niedrigeren Dienststellung habe ich nur eine Mitschuld mit den übrigen Nat[ional]-Soz[ialisten] gehabt, größere Entschlüsse waren damals nicht zu fassen. Meine höhere Verantwortung begann im wesentlichen mit der Gründung der Nat[ional-]Soz[ialistischen] Führung des Heeres und der Übernahme des Oberbefehls von Heeresgruppen. Immerhin habe ich mich in voller Überzeugung für die Vorbereitung des Krieges als Taktiklehrer an der Kriegsschule Dresden und als Gruppenleiter im Generalstab des Heeres eingesetzt. Ich habe die Jugend im kämpferischen nat[ional]-soz[ialistischen] Geist erzogen, den Gedanken an die Freiheit und Größe Deutschlands in ihr erweckt und [ihr] blinden Gehorsam und unbeirrbare Treue gegenüber dem Führer nahe gebracht. Im Vertrauen auf das politische Genie des Führers habe ich die Politik des dauernden Bruches internationaler Verträge gebilligt, obwohl mir schon u. a. 1939 im Herbst durch ein Gespräch mit dem Reichsführer SS bekannt war, dass auch der RusslandVertrag nur eine vorübergehende „taktische“ Maßnahme darstellte, um die Feinde zu trennen und Zeit zu gewinnen. Ich habe den Kampf um den deutschen „Lebensraum“ überzeugt gebilligt. Als Bearbeiter de[r] Kriegswehrmacht fremder Länder in der 3. Abt[eilung des] Gen[eralstabes des] Heer[es] habe ich vor allem durch Annäherung des Nat[ional]Soz[ialismus] an den Faschismus und an die faschistische Wehrmacht die Vorbereitungen zum gemeinsamen Eroberungskrieg gefördert. Diese Förderung erfolgte weiterhin durch eine Reihe von Besuchen im Kriegsmin[isterium] zu Rom, bei Manövern, Übungen und durch literarische Arbeiten. III.) Nat[ional-]Soz[ialistische] Führung als General Meine Schuld liegt darin, durch Aktivierung dieser Führung, die durch Hitlers Befehl gleichberechtigt neben die taktische treten sollte, gleichfalls den Krieg verlängert zu haben. Die nat[ional-]soz[ialistische] Ideologie wurde dadurch tiefer ins Heer hineingetragen, deren Methoden und Übergriffe einzelner ihrer Repräsentanten schon bekannt waren[,] wenn auch nicht annähernd in vollem Umfang. Hierzu zählen auch die Fanatisierung der Truppe zum Kampf und die [sic!] Erwecken des Gedankens im deutschen Soldaten. Die Gründung und Stärkung des Führungsprinzips sollte volles Vertrauen zu Hitler und der Partei sicherstellen; dies war letzten Endes gleichbedeutend mit der Möglichkeit, den Boden für Rassen- und Judenhass sowie andere nat[ional-] soz[ialistische] Methoden vorzubereiten. 15.9.45 Schörner Quelle: CA FSB, Akte Nr. N-21138, Bd. 1, Bl. 78–80. Handschriftliches Original. Deutsch.
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
6.6 Informationen des Generalarztes Walter Schreiber39 über deutsche Forschungen zu bakteriologischen Waffen, 10. April 1946 Moskau, den 10. April 1946 An die Regierung der Sowjetunion. Im Zusammenhang mit dem Ablauf des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg halte ich es als Professor für Hygiene und Bakteriologie an der Militärärztlichen Akademie in Berlin und als ehemaliger Generalarzt des deutschen Heeres für meine Pflicht gegenüber unserem so schwer geprüften Volke und gegenüber der Welt eine Seite der deutschen Kriegsvorbereitungen, die in Nürnberg bisher nicht behandelt wurde, aufzudecken. Neben der ehemaligen deutschen politischen und militärischen Führung haben auch deutsche Wissenschaftler und vor allem deutsche Ärzte eine schwere Schuld auf sich geladen. Wenn diese Kriegsvorbereitung zur Ausführung gekommen wäre, dann wären die großen Entdeckungen Robert Kochs40, dessen Heimat unser Vaterland ist, und der einer der großen Lehrer der Ärzte Deutschlands und der ganzen Welt war, auf das Schändlichste missbraucht worden. Es handelt sich um die Vorbereitung des Krieges mit krankheitserregenden Bakterien gegen die Gegner im Osten. Trotz der mehrfachen eindeutigen Gutachten der Heeres-Sanitätsinspektion darüber, dass von Seiten der Sowjetunion die Anwendung von krankheitserregenden Bakterien als Waffe nicht zu erwarten sei, die Gutachten stützten sich auf Abwehrnachrichten und die laufenden Meldungen der an der Ostfront tätigen Armeeärzte – hat der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, im Jahre 1943 nach der Niederlage in Stalingrad den Befehl erlassen, den bakteriologischen Krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten. Lediglich der schnelle Vormarsch der Roten Armee hat Europa und die Menschheit vor einer furchtbaren Katastrophe bewahrt. Nicht auszudenken wären die Folgen gewesen, wenn die bereits von deut-
39 Walter Schreiber (1893–1970), Generalarzt, Medizinstudium, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, zunächst als Infanterist, nach einer schweren Verwundung 1914 bis zum Kriegsende Truppenarzt, 1920 promoviert, anschließend epidemiologische Feldstudien in Afrika, seit 1921 Militärarzt, seit 1929 auch Dozent für Hygiene an der Universität Freiburg im Breisgau, 1939–1940 Divisionsarzt der 96. Infanterie-Division, 1940–1942 beim Stab Heeresarzt im OKH, seit 1940 auch Dozent für Bakteriologie und Hygiene an der Berliner Universität, 1942–1943 Chef der Abteilung Wissenschaft und Gesundheitsführung der Heeressanitätsinspektion, beteiligt an Häftlingsversuchen mit Fleckfieber, 1943–1945 Professor und Chef der Lehrgruppe C an der Militärärztlichen Akademie in Berlin, April 1945 Festungsarzt von Berlin. Ende April 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, 1946 Zeuge der sowjetischen Anklage im Nürnberger Ärzteprozess, 1948 aus der Sowjetunion in die SBZ entlassen. 40 Robert Koch (1843–1910), Mediziner und Mikrobiologe, Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie, 1905 Nobelpreis für Medizin.
6.6 Informationen des Generalarztes Walter Schreiber
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scher Seite beabsichtigte Anwendung der Erreger der Pest als Waffe gegen die damals schon im polnischen Raum stehenden russischen Truppen erfolgt wäre. Bevor ich die einzelnen Tatsachen der Vorbereitung dieser entsetzlichen Kriegsform schildere, möchte ich die Mentalität beleuchten, aus der heraus allein ein solcher Plan reifen und zu greifbarem Handeln gebracht werden konnte. Die Irrlehre des Nazismus mit ihrer Rassentheorie hat dahin geführt, dass auch ein Teil der deutschen Ärzte den slawischen Menschen und den Juden als minderwertig zu beurteilen sich vermaß und es billigen konnte, dass gegen die Völker des Ostens der bakteriologische Krieg vorbereitet wurde. Aus der gleichen Mentalität heraus ist es allein zu verstehen, dass nicht, wie bisher, nur das Tier, sondern von einem Teil der deutschen Ärzte auch der slawische Mensch als so genannter „Angehöriger einer niederen Rasse“ als Objekt für medizinische Versuche verwendet und dementsprechend auf die Stufe des Tieres gestellt wurde. Zwölf Jahre Hitlerherrschaft haben es vermocht, im Lande Goethes und Wilhelm von Humboldts, sowie Virchows41, Robert Kochs und Emil von Behrings42 einen solchen Sündenfall des Geistes herbeizuführen. In diesem Zusammenhang will ich über die mir bekannten Tatsachen berichten. Im Juli 1943 wurde vom Oberkommando der Wehrmacht in Berlin zu einer geheimen Besprechung einberufen, zu der ich als Vertreter der Heeres-Sanitätsinspektion zusammen mit Oberstabsarzt Professor Kliewe43 berufen wurde. Die Besprechung fand in den Räumen des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, Berlin, Bendlerstraße statt. Außer Oberstabsarzt Professor Kliewe und mir nahmen an der Besprechung teil: Ministerialdirigent Professor Schumann44 vom Oberkommando der Wehrmacht, Abteilung Wissenschaft, Ministerialrat Stantien vom Heereswaffenamt, Waffenprüfwesen, neunte
41 Rudolf Virchow (1821–1905), Arzt und Politiker, Ausbildung zum Militärarzt, 1848 Revolutionär, seit 1856 Professor für Pathologie an der Universität Berlin, Prosektor an der Charité, linksliberaler Abgeordneter in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, im Preußischen Landtag und im Reichstag, engagiert für den Ausbau der staatlichen Gesundheitsfürsorge. 42 Emil von Behring (1854–1917), Bakteriologe und Serologe, Ausbildung zum Militärarzt und Einsatz als Truppenarzt, seit 1895 Professor für Hygiene an der Universität Marburg, 1901 erster Träger des Nobelpreises für Medizin. 43 Heinrich Kliewe (1892–1969), Oberstabsarzt, Bakteriologe und Hygieniker, 1931 außerplanmäßiger Professor an der Universität Gießen, 1933 Beitritt zur NSDAP und SA, seit 1939 am Hygiene-Institut der Militärärztlichen Akademie in Berlin, zudem Referent der Heeressanitätsinspektion und Referatsleiter VIIc (Sonderfragen) der Gasschutzabteilung (Wa Prüf 9) des HWA, Auswertung der Forschungen zur biologischen Kriegführung in Warschau und Paris, ab 1943 gehört er zur Arbeitsgemeinschaft „Blitzableiter“ (Erforschung biologischer Kampfstoffe). 44 Erich Schumann (1898–1985), Ministerialdirigent, Musikwissenschaftler und Physiker, 1932–1944 Leiter der Forschungsabteilung des HWA, 1933 Beitritt zur NSDAP, Professor für experimentelle und theoretische Physik an der Universität Berlin, seit 1939 Organisator der Kernwaffenforschung. Nach dem Krieg untergetaucht, stellte sich 1947 der britischen Besatzungsmacht, nach umfänglichen Aussagen freigelassen.
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Abteilung, Generalveterinär Professor Richters45 und ein jüngerer Veterinäroffizier, beide als Vertreter der Heeres-Veterinärinspektion. Ferner waren anwesend je ein Stabsoffizier der Luftwaffe, als Vertreter des Oberkommandos der Luftwaffe, und des Heeres als Vertreter des Heereswaffenamtes. In dieser Besprechung erklärte der Chef des Stabes des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, ein Oberst, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, im Namen des Generalfeldmarschalls Keitel und des Generals Reinecke46, daß das Oberkommando der Wehrmacht zur Frage der aktiven Anwendung von krankheitserregenden Bakterien als Waffe nunmehr eine andere Haltung einnehmen müsse, als die bisher von der Heeres-Sanitätsinspektion vertretene. Adolf Hitler habe den Reichsmarschall Hermann Göring zur Durchführung aller Vorbereitungen zum bakteriologischen Krieg einen besonderen Auftrag und besondere Vollmachten erteilt. Eine Arbeitsgemeinschaft „Bakteriologischer Krieg“ wurde bei dieser Besprechung gegründet. Ihr gehörten an: Ministerialdirigent Professor Schumann vom Oberkommando der Wehrmacht, Abteilung Wissenschaft, Ministerialrat Stantien vom Heereswaffenamt, Generalveterinär Professor Richter[s] und ein jüngerer Veterinäroffizier von der Heeres-Veterinärinspektion, Oberstabsarzt Professor Kliewe als Beobachter von der Heeres-Sanitätsinspektion. Ferner waren noch in der Arbeitsgemeinschaft ein Stabsoffizier der Luftwaffe als Vertreter des Oberkommandos der Luftwaffe und ein Stabsoffizier des Heeres als Vertreter des Heereswaffenamtes, sowie je ein namhafter Botaniker und Zoologe. Hermann Göring seinerseits hat, wie ich einige Tage nach der ersten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft „Bakteriologischer Krieg“47 vom Chef des Stabes der Heeres-Sanitätsinspektion, Oberstarzt Dr. Schmidt-Brücken48 erfuhr, den
45 Claus Eduard Richters (1884–1957), Generalveterinär, seit 1903 im Heeres-Veterinärdienst, ab 1920 beim Heeresveterinäruntersuchungsamt, seit 1930 dessen Chefveterinär, ab 1940 Honorarprofessor für Pharmakologie und Toxikologie der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Berlin, Forschungsgebiet Bakteriologie, Serologie sowie Gas- und Luftschutz von Tieren. 1945–1946 in USKriegsgefangenschaft. 46 Hermann Reinecke (1888–1973), General der Infanterie, seit 1905 Berufssoldat, seit 1928 Abteilungsleiter für Heeresfachschulen und Versorgungswesen im Heeres-Verwaltungsamt des Reichswehrministeriums, seit 1931 in gleicher Funktion im Wehramt, 1935 im Wehrmachtamt, seit 1937 dort Organisation der „nationalpolitischen Lehrgänge“ für Offiziere, 1938 Chef der Amtsgruppe Allgemeine Wehrmachtangelegenheiten im OKW, aus der 1939 das Allgemeine Wehrmachtamt hervorging, in dieser Funktion bis Kriegsende tätig, erteilte 1941 grundlegende Instruktionen, die sowjetischen Kriegsgefangenen im Reich ohne Beachtung der Haager Landkriegsordnung „scharf“ zu behandeln, seit 1943 zusätzlich Chef des NS-Führungsstabes der Wehrmacht. Seit 1945 in US-Kriegsgefangenschaft, u. a. im Camp Ashcan interniert, 1948 im Nürnberger OKW-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1954 als letzter Verurteilter entlassen. 47 Gemeint ist die Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung und Abwehr biologischer Kampfstoffe mit dem Decknamen „Blitzableiter“ unter Vorsitz von Oberst Walter Hirsch von Wa Prüf 9, die sich bis Ende 1944 mindestens sechsmal traf. 48 Wolfgang Schmidt-Brücken (1895–nach 1947), Generalarzt, 1939–1940 Arzt der 93. Infanteriedivision, 1940–1944 Chef des Stabes der Heeres-Sanitätsinspektion, 1944 Armeearzt 16, Ende 1944 Arzt der Heeresgruppe H. Lebte 1947 als Pensionär in Heiligenhafen.
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stellvertretenden Reichsärzteführer Professor Blome49 mit der unmittelbaren praktischen Durchführung aller ärztlich-fachlichen Aufgaben der Vorbereitung des bakteriologischen Krieges beauftragt. Die Arbeitsgemeinschaft tagte etwa einmal im Monat in den Räumen des Allgemeinen Wehmachtsamtes (General Reinecke) in Berlin, Bendlerstraße. Im Rahmen der Maßnahmen zur forcierten Vorbereitung des bakteriologischen Krieges gegen Russland wurde ein Institut in der Gegend von Posen errichtet, in dessen Laboratorien Bakterien, darunter auch Pestkulturen, wie auch Pflanzenschädlinge gezüchtet und Versuche an Nutzpflanzen und Nutztieren durchgeführt wurden. Leiter des Instituts war Prof. Blome. Wichtige Gutachter waren Ministerialdirigent Professor Schumann und Ministerialrat Stantien. Von Professor Blome erfuhr ich später, dass in diesem Institut auch Einrichtungen zur Durchführung bakteriologischer Versuche am Menschen bereitgestellt waren. Ein Versuchsplatz im offenen Gelände in der Nähe des Instituts diente der Erprobung des waffentechnischen Einsatzes von Bakterien und Pflanzenschädlingen im offenen Gelände. Absprühversuche von Bakterienemulsionen vom Flugzeug aus wurden versuchsweise durchgeführt. Ende März 1945 besuchte mich Professor Blome in Berlin und erzählte mir, dass er wegen des raschen Vormarsches der Roten Armee sein Institut in Posen habe fluchtartig verlassen müssen. Es sei ihm nicht mehr gelungen, das Institut sprengen zu lassen. Er sei deshalb in Sorge, dass die Einrichtungen für Menschenversuche, die das Institut hatte, den Russen unversehrt in die Hände gefallen seien. Während des Gesprächs erfuhr ich von Blome, dass der Plan der Anwendung des bakteriologischen Krieges gegen die vormarschierende Rote Armee trotz des Verlustes des polnischen Raumes nicht fallen gelassen worden war. Blome rettete aus dem Institut seine Pestkulturen. Wie er mir sagte, wollte er die Arbeit mit ihnen in seinem inzwischen in Thüringen schleunigst errichteten Ausweichinstitut in einigen Tagen fortsetzen. Er bat mich, dafür zu sorgen, dass für die Zwischenzeit diese Pestkulturen im bakteriologischen Institut in der Sachsenburg untergebracht werden könnten. Da mir die Sachsenburg seit langem nicht mehr unterstand, verwies ich ihn an den Chef des Wehrmachtsanitätswesens, Generaloberstabsarzt Professor Dr. Handloser50. Am fol-
49 Kurt Blome (1894–1969), Generalarzt, NS-Funktionär, Soldat im 1. Weltkrieg, 1918–1920 Mitglied in Freikorps und der terroristischen OC, Assistenzarzt an der Universität Rostock, dann niedergelassener Arzt, 1922 Beitritt zur NSDAP, zwischenzeitlich in der DNVP aktiv, 1931 erneuter Beitritt zur NSDAP und zur SA, dort bis 1945 Führer im Sanitätsdienst, nach 1933 Karriere als Ärztefunktionär, 1939 Reichshauptamtsleiter der NSDAP und stellvertretender Reichsärzteführer, Generalarzt der Wehrmacht, 1943–1944 Leiter des Zentralinstituts für Krebsforschung in Nesselstedt bei Posen und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Blitzableiter“, hier Forschungen zur bakteriologischen Kriegsführung. 1945 verhaftet, im Nürnberger Ärzteprozess 1947 freigesprochen. 50 Siegfried Handloser (1885–1954), Generaloberstabsarzt, seit 1904 im Sanitätswesen des Heeres, 1938 Heeresgruppenarzt des Heeresgruppenkommandos 3 in Wien, dort 1939 zum Honorarprofessor für Wehrmedizin ernannt, 1940 in die Sanitätsinspektion des Heeres kommandiert, 1941–1944 Heeressanitätsinspekteur und Heeresarzt beim Generalquartiermeister des OKH, 1942–1945 Chef des
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genden Tage erfuhr ich von Generaloberstabsarzt Professor Handloser fernmündlich, dass Blome ihm einen Befehl Himmlers vorgelegt habe, der die Unterbringung der Stämme auf der Sachsenburg anordnete. Die bakteriologischen Laboratorien auf der Sachsenburg waren ursprünglich nur als Ersatz für die durch feindliche Fliegerangriffe zerstörten Pestlaboratorien in Berlin beim Robert-Koch-Institut und in Hamburg beim Tropeninstitut gedacht. Am 1. September 1942 wurde ich der Leitung der Sachsenburg, die bei Frankenberg in Sachsen liegt, auf Befehl der Heeres-Sanitätsinspektion enthoben. Die Laboratorien der Burg, die auch im Dezember 1944 fertiggestellt wurden, sind dann von meinem Nachfolger, Professor Dr. Eugen Gildemeister51, Präsident des Robert Koch-Instituts, Berlin, in den Rahmen der bakteriologischen Kriegsvorbereitungen einbezogen worden und sollten neben ihrer eigentlichen Bestimmung der Herstellung von Impfstoffen als Abwehrmaßnahme auch der Produktion von Pestkulturen dienen. Potentiell verfügten die Laboratorien dazu über erhebliche Möglichkeiten. Eine so entsetzliche, bisher in Kriegen niemals angewendete Maßnahme der Kriegsführung, wie sie der Einsatz von Pesterregern zur Erzeugung von Pestepidemien darstellt, stand gegen Ende des Krieges kurz vor der Anwendung. Der Plan, auf Grund dessen hier vorgegangen wurde, übertrifft alle bisher im Nürnberger Prozess behandelten Gräuel und Kriegsverbrechen. Er zeigt das wahre Gesicht der auf der Anklagebank in Nürnberg sitzenden Kriegsverbrecher, sowie auch derjenigen, welche nicht vor ihrem Richter stehen werden. Ich komme nun zu dem traurigen Kapitel der während des zweiten Weltkrieges in Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern von deutschen Ärzten durchgeführten verbrecherischen medizinischen Versuche an lebenden Menschen. Im Oktober 1943 habe ich zusammen mit dreißig anderen Hygienikern und Bakteriologen an einer wissenschaftlichen Tagung in der Militärärztlichen Akademie in Berlin teilgenommen. Unter anderen Ärzten hielt auf dieser Tagung auch der Obersturmbannführer der SS Dr. Ding52 einen Vortrag. Er berichtet über Versuche an lebenden Menschen, die er im Konzentrationslager in Buchenwald zur Prüfung der
Wehrmachts-Sanitätswesens im OKW, ab 1943 auch Honorarprofessor für Wehrmedizin in Berlin und im Kuratorium des KWI für Hirnforschung. Seit 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft, 1947 im Nürnberger Ärzteprozess zu lebenslanger Haft verurteilt, Ende 1953 wegen tödlicher Erkrankung Haftverschonung. 51 Eugen Gildemeister (1878–1945), Bakteriologe, seit 1915 Leiter der Bakteriologischen Abteilung am Reichsgesundheitsamt in Berlin, 1918 Titularprofessor an der Universität Berlin, 1935 geschäftsführender Direktor des Robert-Koch-Instituts am Reichsgesundheitsamt, seit 1942 dessen Präsident und zugleich Vizepräsident des Reichsgesundheitsamtes, im KZ Buchenwald an Fleckfieberversuchen beteiligt. Suizid im Mai 1945 nach dem Fall Berlins. 52 Erwin Ding-Schuler (1912–1945), SS-Sturmbannführer, Arzt, 1932 Beitritt zur NSDAP, 1936 zur SS, 1938 Lagerarzt in Buchenwald, 1939 Adjutant des Divisionsarztes der SS-Division Totenkopf, ab 1941 am Hygiene-Institut der SS in Graz, 1941–1945 Leiter der Fleckfieberversuchsabteilung des Instituts im KZ Buchenwald. August 1945 Suizid in US-Internierungshaft.
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Wirksamkeit von verschiedenen Fleckfieberimpfstoffen durchgeführt hatte. Aus den Listen Dr. Dings ging hervor, dass zahlreiche gesunde Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald gegen Fleckfieber mit verschieden Impfstoffen schutzgeimpft und dann künstlich mit Fleckfiebererregern infiziert worden waren. Aus der danach bei den Versuchspersonen auftretenden beziehungsweise ausbleibenden Fleckfieber erkrankung hat Dr. Ding den Wirkungsgrad der verschieden Fleckfieberimpfstoffe bestimmt. Infolge dieser Versuche, bei denen auch weniger wirksame Impfstoffe geprüft wurden, gab es zahlreiche Todesfälle. Ich muss besonders betonen, dass der Inhalt des Vortrages Dr. Dings kein wissenschaftliches Interesse darstellte, da alles schon längst aus der Praxis bekannt war. Dr. Ding war ein junger für wissenschaftliche Arbeiten vollkommen unqualifizierter Arzt. Da er aber von der nazistischen Rassentheorie durchdrungen war, konnte er straflos Versuche an russischen Kriegsgefangenen machen, um damit im Deutschland Adolf Hitlers eine „wissenschaftliche“ Laufbahn zu begründen. In einem Arbeitslager der Waffen SS in Norwegen, in dem sich etwa 400 jugoslawische Kriegsgefangene befanden, brach im Jahre 1944 eine Fleckfieberepidemie aus. Die Kranken wurden nicht behandelt, sondern zum Zwecke der Bekämpfung der Epidemie kurzer Hand erschossen. Das wurde dem Armeearzt, Generalarzt Dr. Mantel53, nachträglich dienstlich gemeldet. Besonders grausam behandelte das Oberkommando der Wehrmacht die russischen Kriegsgefangenen. Die russischen Kriegsgefangenen wurden unzureichend ernährt. Vor allem war die Kost arm an tierischem Eiweiß[,] auf die dann also eine Mangelkost [folgte]. Der Heeresarzt sowie die Heeressanitätsinspektion hatten auf die daraus zu erwartenden Gefahren, Seuchen, insbesondere Tuberkulose, das Oberkommando der Wehrmacht, „Abteilung Kriegsgefangene“ (General von Graevenitz54) sowie auch den Generalquartiermeister General Wagner55 oftmals dringend hingewiesen und Verbesserung der Kost gefordert. Sowohl das Oberkommando der Wehrmacht wie auch der Generalquartiermeister verhielten sich ablehnend. Der von der Heeres-Sanitätsinspektion unternommene Versuch, die russischen Kriegsgefangenen beim Abtransport nach Deutschland der Reihenröntgenuntersuchung auf Lungentuberkulose zu unterziehen, um auf diese Weise die Frühdiagnose zu stellen und damit die Frühbehandlung und Trennung der Kranken von den Gesunden zu
53 Hans Mantel (1886–?), Generalarzt, 1938–1940 Korpsarzt, 1940–1944 Armeearzt Norwegen, 1944 entlassen. 54 Hans von Graevenitz (1894–1963), Generalleutnant, seit 1912 Berufssoldat, 1939–1942 Abteilungschef Wehrmachtfürsorge und Versorgung im OKW, 1942–1944 Chef der Amtsgruppe Kriegsgefangenenwesen im OKH, danach Kommandeur der 237. Infanteriedivision. 1945–1950 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft. 55 Eduard Wagner (1894–1944), General der Artillerie, seit 1912 Berufssoldat, 1939 Stabschef des Generalquartiermeisters des Heeres, 1940–1944 Generalquartiermeister des Heeres, beteiligt am Attentat auf Hitler am 20. 7. 1944, 3 Tage später Suizid angesichts der drohenden Verhaftung durch die Gestapo.
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erreichen, wurde vom Reichsgesundheitsführer Dr. Conti56 abgelehnt. Im Jahre 1943 nahm dann die Lungentuberkulose in den russischen Kriegsgefangenenlagern stark zu. Die „Abteilung Kriegsgefangene“ des Oberkommandos der Wehrmacht (General von Graevenitz) fragte damals schriftlich bei der Heeressanitätsinspektion an, ob es zweckmäßig wäre, die schwerkranken Tuberkulosen zu beseitigen. Die Heeressanitätsinspektion lehnte das ab. Es entzieht sich meiner Kenntnis, welches das weitere Schicksal dieser Kriegsgefangenen war. Im März 1945 erhielt ich vom Heeressanitätsinspekteur, Generalleutnant Dr. Paul Walter57[,] den Befehl, nach Ostpommern und Danzig zu fahren, um ärztlich-hygienische Maßnahmen zu treffen gegen etwaige Epidemiegefahren, die bei der aus Ost- und Westpreußen nach Westen flüchtenden Bevölkerung drohten. In Prenzlau meldete ich mich bei dem Heeresgruppenarzt. Das war der SS Obergruppenführer Professor Gebhardt58. Er orientierte mich über die sanitäre Lage der Flüchtlinge, die sich in seinem Gebiete befanden. Dabei sagte er mir, dass in der Nähe der Stadt Lauenburg in Ostpommern unter den auf dem Marsch befindlichen Insassen eines weiblichen Konzentrationslagers Fleckfieberfälle aufgetreten sein sollen. Er gab mir den Befehl, die festgestellten Kranken erschießen zu lassen. Ich suchte dann das Lager auf und veranlaßte die Entlausung sämtlicher Insassinnen. Sie wurde unter der Leitung des Hygienikers Stabsarzt Dr. Jusatz59 durchgeführt. Derselbe Professor Gebhardt übertraf die Scheußlichkeit dieses Befehls noch durch den folgenden Menschenversuch, den er durchführte. Als Chefarzt der Kranken-
56 Leonardo Conti (1900–1945), Reichsgesundheitsführer, Arzt, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1918– 1923 Mitglied der terroristischen Organisation Consul und des Wehrverbandes Wikingbund, 1923 Beitritt zur SA, 1927 zur NSDAP, 1929 Mitbegründer des NSD-Ärztebundes, 1930 Übertritt zur SS, seit 1939 Reichsgesundheitsführer und Staatssekretär im Reichsinnenministerium, in dieser Funktion an der Aktion T4 zum Massenmord an Kranken und Behinderten beteiligt, 1944 Rücktritt als Reichsgesundheitsführer. Seit Mai 1945 in alliierter Haft, Suizid im Nürnberger Gefängnis. 57 Paul Walter (1889–1957), Generalleutnant, seit 1921 Militärarzt, 1938–1940 Divisionsarzt der 6. Infanterie-Division, zugleich Kommandeur der Sanitätsabteilung 6, 1940–1942 Korpsarzt XVII. Armeekorps, 1943–1944 Wehrkreisarzt VIII. in Breslau, 1944–1945 Heeres-Sanitätsinspekteur und Heeresarzt. 58 Karl Gebhardt (1897–1948), SS-Gruppenführer, Chirurg und Sportmediziner, Freiwilliger des 1. Weltkrieges, 1919 im Freikorps Epp, Jugendfreund Himmlers und später dessen Leibarzt, 1933 Beitritt zur NSDAP, 1935 zur SS, 1933–1945 Leiter des Sanatoriums Hohenlychen, das er zum Sportsanatorium und SS-Lazarett umbaute, zugleich Leiter des medizinischen Instituts für Leibesübungen und Leiter der Medizinischen Abteilung der Reichsakademie für Leibesübungen in Berlin, 1937 Ordinarius für Sportmedizin an der Universität Berlin, seit 1942 führte er vielfach tödliche Experimente und Operationen an KZ-Häftlingen durch. 1945 zusammen mit Himmler von britischen Truppen auf der Flucht gefasst, 1947 im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. 59 Helmut Jusatz (1907–1991), Stabsarzt, Hygieniker, einer der Begründer der sog. Geomedizin, Mitarbeiter der Preußischen Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene in Berlin, 1940 Habilitation für das Fach Hygiene und Mikrobiologie, Dozent an der Universität Berlin, 1941–1945 im Auftrag der Heeressanitätsinspektion beteiligt an der Erarbeitung eines „Seuchenatlasses“, in dem u. a. das Kriegsgebiet im Osten geomedizinisch untersucht wurde. 1945–1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
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anstalten in Hohenlychen, Provinz Brandenburg, und des dortigen SS Lagers nahm er an gesunden russischen Kriegsgefangenen Schädeloperationen vor. In bestimmten Zeitabständen tötete er dann die Operierten, um die pathologischen Veränderungen zu studieren. So sind der verbrecherischen Laune gewissenloser deutscher Ärzte eine ganze Reihe von Menschen zum Opfer gefallen. Im Jahre 1943 wurde ich zu einer wissenschaftlichen Tagung des Oberkommandos der Luftwaffe in Nürnberg kommandiert. Hier hörte ich Vorträge, welche der Oberstabsarzt der Luftwaffe, Professor Dr. Holzlöhner60, Professor der Physiologie an der Universität Kiel, und der Stabsarzt der Luftwaffe Dr. Cramer61 vor einem geladenen Kreis von etwa fünfzig Ärzten hielten über sogenannte Unterkühlungsversuche durch kaltes Wasser an gesunden Menschen. Über dem Kanal (la manche) waren zahlreiche deutsche Flieger abgeschossen worden. Zufolge des Aufenthaltes im kalten Meerwasser war bei einem großen Teil von ihnen der Tod eingetreten, bevor ein Seenotflugzeug zur Stelle sein konnte, weil die Körperwärme in dem kalten Wasser zu stark abgesunken war. Um nun eine Fliegerbekleidung zu finden, welche im Wasser an der Körperoberfläche eine wärmeisolierende Schicht (Schaumschicht) bildet und so einen zu starken Wärmeverlust und damit den Tod des Fliegers verzögert, hatten die genannten Luftwaffenärzte auf Befehl des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, Hermann Göring[,] in Dachau den folgenden Versuch durchgeführt. Insassen des Konzentrationslagers Dachau wurden narkotisiert und dann in verschiedenen Fliegerbekleidungen in große Bottiche mit kaltem Wasser verschieden tiefer Temperaturen gelegt. Durch Messungen, deren Ablauf vom Vortragenden mit Lichtbildern demonstriert wurde, wurden die Geschwindigkeit und die Grade des Abfalls der Körperwärme bei den einzelnen Bekleidungsformen festgestellt, außerdem noch verschiedene andere Untersuchungen durchgeführt. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden für die Herstellung eines geeigneten Fliegeranzuges entsprechend ausgewertet: Selbstverständlich ist ein Teil der Menschen, welche zu jenen Versuchen verwendet wurden, infolge zu starker Herabsetzung der Körpertemperatur gestorben. Ich habe hier eine Reihe von Tatsachen aufgezeigt, welche die mir bekannt gewordenen Vorbereitungen des bakteriologischen Krieges und verbrecherischen Handlungen eines Teiles der deutschen Ärzteschaft betreffen. Ich bin überzeugt, dass es nur ein Bruchteil dessen ist, was tatsächlich auf dem Gebiete der Menschenversuche geschehen ist. Immerhin genügen diese Tatsachen, um die tiefe moralische Schuld zu beweisen, die ein Teil der deutschen Ärzte unter dem Naziregime auf sich geladen hat.
60 Ernst Holzlöhner (1899–1945), Stabsarzt, Physiologe, 1933 Beitritt zur NSDAP, ab 1934 Professor und Direktor des Physiologischen Instituts an der Universität Kiel, im 2. Weltkrieg bei der SanitätsVersuchs- und Lehrabteilung der Luftwaffe in Jüterbog, 1942–1943 Unterkühlungsexperimente mit KZHäftlingen in Dachau, 1945 Rektor der Universität Kiel. 1945 in britischer Internierungshaft, beging nach einem Verhör Suizid. 61 Bernhard Cramer (?–?), Luftwaffenarzt, 1942 zum Oberstabsarzt befördert.
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Ich will mit meiner Erklärung jedem deutschen Menschen vor Augen führen, wie allumfassend die Katastrophe ist, in welche uns Hitler, Göring, Keitel und die anderen politischen und militärischen Führer des Naziregimes hineingezogen und in Schuld verstrickt haben. Nur wenn jeder Deutsche, darunter auch jeder deutsche Arzt und medizinische Forscher, sich der Tragweite dieser Mitschuld bewusst werden und die verbrecherischen Irrlehren der zwölfjährigen Naziherrschaft aus ihren Herzen ausmerzen, kann die moralische Gesundung des deutschen Volkes erfolgen. Professor Dr. med. Walter Schreiber ehemaliger Generalarzt des deutschen Heeres. Quelle: GARF, Bestand 7455, Findbuch 2, Akte Nr. 136, Bl. 364–380. Handschriftliche Kopie. Deutsch.
6.7 Schreiben von Oberstleutnant Gerhard Westerburg an die sowjetische Regierungüber das deutsche Chemie waffenprogramm, 26. Juni 1946 26. Juni 1946 An die sowjetische Regierung Ich ehemaliger Oberstleutnant des deutschen Heeres, Westerburg, Gerhard, Abt[eilungs-] K[omman]d[eu]r III/Werfer Reg[imen]t 51, bin bereit, volle Angaben über die deutschen Gaskriegsvorbereitungen und alle hiermit verbundenen Fragen zu machen. Ich bin bereit, mir bekannte Tatsachen in diesen Fragen aus meiner Tätigkeit in der Einsatzgruppe des Waffenamts WaPrüf 9 anzugeben, wo ich von Dezember 1940 bis Ende Juli 1942 tätig war. Gleichzeitig teile ich auch mit, was mir auf andere Weise bekannt geworden ist. Alle meine Kenntnisse über diese Fragen von Deutschlands Gaskriegsvorbereitungen teile ich der Sowjetregierung ehrlich und bedingungslos mit. Vor und während des Krieges 1939–1945 hat sich Deutschland aktiv für einen Gaskrieg vorbereitet. Das ergibt sich aus folgenden mir bekannten Tatsachen: 1.) In der allgemeinen Leitung der Vorbereitung des Gaskrieges waren folgende Dienststellen maßgebend tätig. A) der Wehrmachtführungsstab B) der Generalstab des Heeres C) der General der Nebeltruppe beim Oberbefehlshaber des Heeres D) die Inspektion der Nebeltruppe und für Gasabwehr (Inspektion 9, Allgemeines Heeresamt des Oberkommandos des Heeres (OKH)) E) Inspekteur der Nebeltruppe des Ersatzheeres, der seine Tätigkeit in Zusammenarbeit mit der Inspektion 9 der Nebeltruppe ausführte
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F) Das Heereswaffenamt Abteilung WaPrüf 9 G) Die Luftwaffe H) Die Kriegsmarine I) Das Reichssicherheitshauptamt J) Das Rüstungsministerium Die Gesamtführung lag in der Hand Hitlers, als oberster Befehlshaber der Wehrmacht und des Wehrmachtführungsstabes. 2.) Die Wehrmacht befasste sich mit den Fragen des Gaskrieges noch vor dem Jahr 1933, nach der Machtübernahme wurde mit der Vergrößerung der Wehrmacht rege gearbeitet an der Vorbereitung des Gaskrieges. Mit der praktischen Durchführung der Vorbereitung des Gaskrieges waren beauftragt der Inspekteur der Nebeltruppe und für Gasabwehr General Theis[s]en. Seine Nachfolger im Kriege 1939–1945 waren Oberst Ochsner, später Oberst Selle. Oberst Selle übernahm die Dienststelle etwa Mitte 1940. General Ochsner war in dieser Zeit General der Nebeltruppe beim Ob[erbefehlshaber] d[es] H[eeres]. In dieser Dienststelle hatte er die Aufgabe, alle den Gaskrieg betreffenden Fragen zu bearbeiten. Mit Kriegsbeginn 1939 wurden die Arbeiten über die Vorbereitung des Gaskrieges und der Gasabwehr auf eine breitere Grundlage gestellt. So wurde neben den vorhandenen Dienststellen (Inspektion der Nebeltruppe und für Gasabwehr und der 1940 neu geschaffenen Dienststelle General d[er] Nebeltruppe beim Ob[erbefehlshaber] d[es] H[eeres]) Ende 1940 die Dienststelle Inspekteur der Nebeltruppe und für Gasabwehr geschaffen. Sein Arbeitsgebiet beschäftigte sich mit dem Ersatzheer. Im Jahre 1942 waren in den Gaskriegsfragen folgende Persönlichkeiten führend tätig: –– Hitler als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht –– Generalfeldmarschall Keitel als Chef der Wehrmachtsführungsstabes –– Generaloberst Halder als Chef des Generalstabes –– General Ochsner als General der Nebeltruppe beim Ob[erbefehlshaber] d[es] H[eeres] –– General Leister als Inspekteur der Nebeltruppe im Ersatzheer –– Oberst Selle als Chef der Inspektion der Nebeltruppe und Gasabwehr –– General Leeb als Chef des Heereswaffenamtes –– Oberst Hirsch als Abteilungschef WaPrüf 9 –– Reichsmarschall Göring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe –– Generaladmiral Raeder als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine –– Reichsführer der SS Himmler als Chef des Sicherheitshauptamtes –– Reichsminister Speer als Minister des Rüstungsamtes62
62 Speer wurde Anfang 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, seit Juni 1943 lautete seine Amtsbezeichnung Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion.
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Die Gasausbildung wurde zunächst an der Heeresgas[schutz]schule in Berlin durchgeführt. Diese siedelte 1938 nach Celle über und unterstand 1942 dem Obersten Grafen v. Kanitz. Etwa 1940 wurde die Heeresgasschule erweitert durch die Aufstellung der Heeresgasschutzschule Bromberg. An diesen Schulen wurden Offiziere und Unteroffiziere als Fachkräfte im Gaskrieg ausgebildet. 3.) Die Leitung der wissenschaftlich-technischen Fragen auf dem Gebiet der Kampfstoffe lag in den Händen der Abteilung des Waffenamts WaPrüf 9 unter der Führung von Oberst Hirsch. WaPrüf 9 ist im Rahmen des Heereswaffenamtes diejenige Dienststelle, die beauftragt war, für die Wehrmacht die Möglichkeiten der Verwendung von Kampfstoffen zu studieren, Einsatzformen und -geräte zu entwickeln, die Abwehr zu studieren und zu entwickeln. Als Versuchsplatz diente hierzu der Versuchsplatz Raubkammer in der Lüneburger Heide. Dort waren für die Versuche notwendige Voraussetzungen geschaffen, auch eine Versuchsanlage zur technologischen Herstellung von Kampfstoffen. Die Luftwaffe hatte ihre Versuchsstelle in Raubkammer angeschlossen. Als nachgeordnete Dienststelle diente für WaPrüf 9 das Heeresgasschutzlaboratorium in Spandau. Es diente der wissenschaftlichen Erforschung von Kampfstoffen auf ihre Eignung, Wirksamkeit und Eigenschaften. Dort wurden auch Einsatzformen entwickelt und Abwehrmöglichkeiten, Erkennung und die dazu erforderlichen Geräte im Laboratorium erprobt, während in Raubkammer Geländeversuche stattfanden. Da die Einrichtung und die personelle Besetzung für diese Aufgaben nicht ausreichten, hat WaPrüf 9 zur Unterstützung seiner Tätigkeit zusätzlich Außenstellen für die Mitarbeit gewonnen, d. h. Laboratorien von Hochschulen und die Laboratorien der Industrie, die nach ihrem Arbeitsgebiet hierfür in Frage kamen. Wissenschaftlich-technisch befassten sich mit Kampfstoffen folgende Dienststellen: 1. die Heeres[gas]schutzlaboratorien in Spandau 2. Laboratorien der Industrie; darunter der I. G. [Farben] in Leverkusen, der Degea in Lübeck, der Hiag in Konstanz 3. Laboratorien der Universität Heidelberg und einer Hochschule in Wien63 4. Laboratorium in Würzburg (Universität)
63 Gemeint ist das Laboratorium des 1. Chemischen Instituts der Universität Wien unter Leitung von Ludwig Ebert.
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4.) Im Dienst von WaPrüf 9 bzw. unter der Führung von WaPrüf 9 arbeiteten führend auf dem Gebiet der Kampfstoffe und Gasabwehr folgende Persönlichkeiten: 1. Prof. Dr. Wirth, Angehöriger von WaPrüf 9. Er arbeitete über Gaserkennung und Entgiftung. 2. Oberarzt Prof. Dr. Wirth, Angehöriger von WaPrüf 9. Er arbeitete über die physiologische Wirkung von Kampfstoffen. 3. Oberregierungsrat Prof. Dr. Wagner, Angehöriger von WaPrüf 9. Er arbeitete über die allgemeinen wissenschaftlichen Fragen auf dem Gebiet der Kampfstoffe. 4. Oberregierungsrat Prof. Dr. Hoffmann, Angehöriger von WaPrüf 9. Er bearbeitete die Geschichte des Gaskrieges. 5. Ministerialrat Dr. Stantien, Angehöriger von WaPrüf 9, bearbeitete Motorstoppmittel. 6. Prof. Dr. Kuhn, Universität Heidelberg. Arbeitsgebiet unbekannt. 7. Prof. Dr. Ebert, Hochschule in Wien. Er arbeitete über Schaumlost. 8. Prof. Dr. Flury, Universität Würzburg. Er arbeitete über die physiologische Wirkung von Kampfstoffen. 9. Reg. Rat Dr. Marin, Angehöriger des Heeresgasschutzlabors in Spandau, arbeitete über Schwelstoffe und künstlichen Nebel. 10. Reg. Rat Dr. Hildebrand, Angehöriger des Heeresgasschutzlabors in Spandau, arbeitete über Schwelstoffe. 11. Angestellter Dr. Strauss, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über Einzelschutz, Gasbekleidung und Gasplanen. 12. Reg. Rat Dr. v. Müllenheim, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über Gaserkennung und Entgiftung. 13. Major Wobit, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über die Gasmaske. 14. Major Schneider, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über die Verwendung von Gasluftgemischen zu Sprengzwecken und über Kampfstoff-Artilleriegeschosse. 15. Oberregierungsrat Dr. Schmidt, Angehöriger von WaPrüf 9, arbeitete über die Gasmaske, insbesondere die Filtereinsätze. Die meisten Wissenschaftler von WaPrüf 9 arbeiteten in den Laboratorien in Spandau und bei Geländeversuchen in Raubkammer. 5.) Mitte 1942 waren folgende Gasarten in der deutschen Wehrmacht eingeführt und der Industrie in Fertigung gegeben: 1. Weißkreuz: Augenreizstoff Chlorazetophenon 2. Grünkreuz: Erstickend wirkender Stoff Phosgen 3. Blaukreuz: Nasen-Rachenreizender Stoff Adamsit 4. Gelbkreuz: Hautreizender Stoff Lost. Für diese Granaten waren Schießvorschriften bei Beginn des Krieges bereits vorhanden und bis zu den Regimentsstäben des Feldheeres ausgegeben. Die Vorschriften waren in verschlossenen Umschlägen ausgegeben, mit dem Vermerk, dass sie nur
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auf besonderen Befehl zu öffnen seien. Da jedoch ein Exemplar dieser Vorschrift bei einem Werferregiment während des Rückzuges an der Ostfront Ende 1941 verloren ging, wurde die Vorschrift wieder aus der Front zurückgezogen. Unter Führung von WaPrüf 9 waren noch weitere Kampfstoffe 1942 in Prüfung und Entwicklung seiner Anwendungsmöglichkeiten: 1. Arsenwasserstoff als geruchloser und blutzersetzender Kampfstoff 2. Lost als Grünkreuzkampfstoff zur Verätzung des Atmungsapparates durch stärkeres Verstäuben beim Zerplatzen der Artilleriegeschosse 3. Stickstofflost, von geringerem Geruch als normaler Lost und von schwereren Entgiftungsmöglichkeiten als normaler Lost 4. Blausäure als schnellstwirkender, erstickender Kampfstoff, falls es technisch gelang, genügende Konzentration im Gelände zu erzeugen. 5. Gelan, später Trilon genannt, als krampferzeugender und hierdurch Erstickung hervorrufender Kampfstoff mit schneller Wirkung. 6. Als Gruppenleiter der Einsatzgruppe von WaPrüf 9 habe ich an wichtigen Versuchen auf dem Versuchsgelände Raubkammer teilgenommen. Während der Zeit von Ende 1940 bis Juli 1942 sind folgende Versuche besonders zu nennen: Als ich Ende November 1940 von der Nebeltruppenschule in Celle nach Berlin zum Waffenamt versetzt wurde, um die Gruppe VI der WaPrüf 9 zu übernehmen, erfuhr ich zum ersten Mal von dem neuen Kampfstoff „Gelan“, der später[,] als die Fertigung in die Hand der Industrie überging[,] „Trilon“ genannt wurde. Der Stoff war eine Entdeckung von WaPrüf 9 (Oberstarzt Dr. Wirth und eines weiteren Herrn64) insofern, als er bis dahin lediglich als Schädlingsbekämpfungsmittel galt und diese Herren an ihm die hervorragenden Eigenschaften als Kampfstoff auf Grund der physiologischen Wirkung feststellten. Im Gegensatz zu anderen Kampfstoffen wirkt Trilon auf Lebewesen sofort ein. Der Stoff ist eine nach Obst riechende Flüssigkeit, die wasser- und hitzeempfindlich ist. Der Kampfstoff wurde von Fachkräften des Waffenamtes als der wirksamste Kampfstoff der deutschen Wehrmacht angesehen. Er wirkt sehr bald nach seiner Einwirkung auf den Gegner, bei genügend starken Einatmen sogar schnell tötend, unter Erscheinungen, die auch den gesund bleibenden Gegner moralisch stark treffen müssen. Der Tod oder schwerste Erkrankungen unter heftigen Krampferscheinungen treten schon zwei Minuten nach Einwirkung ein. Bereits 1940 war die Entwicklung der Artilleriemunition für die 10,5 cm und die 15 cm Feldhaubitze in vollem Gange und ist 1941 und 1942 ständig fortgesetzt worden. Die Versuche lagen meist in den Händen von Prof. Dr. Wagner. 64 Der Chemiker Gerhard Schrader (1903–1990) hatte das auch als Tabun bezeichnete Nervengift bereits 1936 im Hauptlabor der IG Farben in Leverkusen entwickelt und 1940 gemeinsam mit Wolfgang Wirth seine Tauglichkeit als Kampfstoff erprobt. Ab 1942 wurde es industriell als Kampfstoff hergestellt.
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Als Beispiele kann ich folgende Versuche nennen: a) im September 1941 fand mit vier 15 cm Feldhaubitzen ein Versuchsschießen mit Trilon statt. Je Geschütz wurden vier Granaten verfeuert. Nach dem Versuchsschießen starben die meisten von den 20 Versuchstieren unter schweren Krampf erscheinungen. An dem Versuch nahm[en] Teil: Prof. Wagner, Prof. [Wolfgang] Wirth, Dr. Nobbe65, Leiter der Versuchsfüllstelle, Regierungsrat Weinzierl66, Leiter der Analysestation Raubkammer, ich Oberstleutnant Dr. Westerburg. b) Ende Juli 1942 fand in Raubkammer erstmals ein Versuchsschießen mit Trilon aus dem Do-Werfer 15 cm67 statt. Verwendet wurden 8 Do-Werfer – diese Zahl war ursprünglich für die Werferbatterie vorgesehen. Das Wirkungsschießen wurde mit 48 Schuss durchgeführt. Das Schießen wurde von mir geleitet. Anwesend waren Oberstleutnant Dr. Rittler68, ein Arzt der Tierstation Raubkammer und Regierungsrat Dr. Büll69. c) Im Winter 1941/42 fand in Raubkammer ein Versuchsschießen mit Trilon im Abprallerschießverfahren gleichzeitig als Vorführung für die zu einem anderen Versuchsschießen in Raubkammer eingetroffenen Herren verschiedener Dienststellen statt. Die Leitung bezüglich der Organisation lag in den Händen von Ministerialrat Dr. Stantien, das Schießen selbst leitete Oberregierungsrat Prof. Dr. Wagner. Es wurden etwa 50 Schuss 15 cm Granaten aus der schweren Feldhaubitze verschossen. Das Schießen und vor allem die Wirkung auf die Tiere machten auf die Zuschauer einen starken Eindruck. Etwa 50 % der Tiere waren beim Betreten des Zielfeldes tot, 30 % sehr schwer mit Krankheitssymptomen behaftet. d) Im Herbst 1941 nahm ich an einem Luftwaffenversuch mit einer 50 kg TrilonBombe teil. Diese wurde innerhalb einer Tieraufstellung gesprengt. Beim Betreten des Sprengfeldes war ein Teil der aufgestellten Tiere tot, ein anderer Teil erkrankt. An diesem Versuch nahm[en] teil: Fliegerstabsingenieur der Luftwaffe Schiegler70, ein Arzt der Tierstation Raubkammer, ein Vertreter der Analysestation Raubkammer und ich als Vertreter von WaPrüf 9. e) Im Juli oder August 1942 fand in Raubkammer der Versuch der Luftwaffe mit einer 50 kg Trilon-Bombe im Abwurfverfahren mit hohem Luftsprengpunkt statt. Das Flugzeug flog schätzungsweise in einer Höhe von 300 m. Die Bombe krepierte
65 Paul Nobbe (1905–?), promovierter Chemiker, 1940 an Versuchen der Kriegsmarine mit ClarkKampfstoff beteiligt, bis 1944 an der Heeresversuchsstelle Raubkammer, Bereich R VI (Kampfstoffmunition). 66 Nicht ermittelt. 67 Gemeint ist der Nebelwerfer 41, „Do“ steht für Walter Dornberger (1895–1980), Generalmajor, 1936–1943 Chef der Raketenabteilung im HWA. 68 Willy Rittler (1893–?), Oberstleutnant, promovierter Chemiker, 1942 im HWA bei Wa Prüf 9. 69 Nicht ermittelt. 70 Leo Schiegler (?–?), Fliegerstabsingenieur, Maschinenbauingenieur, bis 1939 im Rüstungskonzern Rheinmetall-Borsig AG beschäftigt, 1945 Gruppenleiter beim Chef Technische Luftrüstung/FL E-2.
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mit Zeitzündung in etwa 80 m Höhe. Die Größe der getroffenen Zielfläche betrug etwa 200 x 300 m. Der Versuch fiel sehr aussichtsreich aus und sollte fortgesetzt werden. Die Versuche waren so ausgefallen, dass man eine chemische Verbesserung nicht für erforderlich hielt. Alle Versuche gingen auf das Ziel hinaus, die günstigste Anwendung in technischer und darauf beruhend in taktischer Beziehung zu erreichen. Dies war der Stand Mitte 1942. In Raubkammer war eine Versuchsanlage zur Herstellung im halbtechnischen Maßstab für Trilon geschaffen. In den langwierigen Versuchen gelang die Entwicklung der technologischen Herstellung, so dass die Industrie (I. G. Farben) die Erfahrungen von WaPrüf 9 im Sommer 1942 für die Großherstellung übernehmen konnte. Die Geschosse mit Trilonfüllung waren äußerlich durch zwei nebeneinander gemalte Ringe, die den Geschosskörper umlaufen, gekennzeichnet und wurden dementsprechend als Doppelgrünringgeschosse bezeichnet. Während meiner Zugehörigkeit zum Waffenamt wurden auch mehrere Versuche mit verschiedenen Loststoffen durchgeführt. a) Im April 1942 wurde versucht, Stickstofflost beim Zerplatzen der Granaten so weitgehend zu versprühen, dass der fein verteilte Lost auf die Haut und durch stärkste Einatmung auch schnell auf die Lunge wirken musste. Der Versuch verlief aussichtsreich. b) Im Jahre 1941 wurden teilweise unter meiner Führung, teilweise unter Leitung von Major Schneider Versuche mit Zählost durchgeführt. Zugegen war stets ein Arzt der Tierstation Raubkammer und Angestellte. Der Zählost erwies sich im Gelände als haltbarer als normaler Lost. c) Im Frühjahr 1942 wurden Versuche begonnen, mit Zählost gefüllte Glaskugeln durch leichtes Eingraben in das Gelände als unerkennbare und unbegrenzt haltbare Sperre zu verwenden. Von Zeit zu Zeit wurde das Versuchsfeld überprüft. Der Zweck wurde bezüglich der Unerkennbarkeit und der Haltbarkeit erreicht, da auch starker Regen und Sonne den Kampfstoff nicht beeinflussen konnten, und durch die Unmöglichkeit der Verdunstung auch das Grün der Pflanzen nicht verfärbt wurde. Die Bruchsicherheit der Glaskugeln war bei der Belastung durch Überkriechen von gummigeschützten Versuchspersonen noch zu groß. Die Versuche liefen aber aussichtsreich. d) Einen Versuch der Luftwaffe mit einer Zählostbombe sah ich 1942. Die 50 kg Bombe wurde aus einem Flugzeug aus etwa 250–300 m Höhe abgeworfen. Sie war mit Zeitzünder versehen und platzte in etwa 80–120 m Höhe über dem Gelände. Dass in einem stumpfen Keil getroffene Gelände hatte eine größte Breite von ca. 70 m und eine größte Länge von etwa 120–150 m. Die feiner verteilten Tropfen waren am dichtesten und auf die größere Entfernung und Breite versprüht und auch am leichtesten erkennbar. Da dieser erste Versuch aussichtsreich verlief, war beabsichtigt ihn fortzusetzen.
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Es wurden außerdem noch Lostarten wie Stickstofflost, Winterlost, Schwelllost und Schaumlost in Versuchen erprobt und verschiedene Zählostgemische zur Prüfung ihrer Haltbarkeit hergestellt und ihre Einsatzfähigkeit erprobt. Gleichzeitig wurden verschiedene Munitionsarten laboriert. Als ich 1940 nach Berlin versetzt wurde, waren Versuche mit Chlorazetophenon als Zusatz zu Artilleriegeschossen nahezu abgeschlossen. Die Vorbereitungen waren so getroffen, dass es zu jedem Sprenggeschoss der Artillerie zugesetzt werden konnte. Für Panzerabwehrmunition war die Entwicklung 1942 noch im Gang. Die Versuche waren Raumversuche mit lediglich analytischer Auswertung und lagen in der Hand von Prof. Wagner, später von Reg. Rat Dr. Büll und wurden im Sprengraum in Spandau durchgeführt. Auch die Luftwaffe hatte das Chlorazetophenon (O-Salz) für ihre Zwecke in Versuch genommen. Die Entwicklung ging nach zwei Richtungen. Erstens erstrebte sie eine Bombe[,] mit der sie das Betreten des Geländes durch die Ausbreitung des O-Salzes auf einer großen Fläche für längere Zeit und den Aufenthalt darin ohne Gasmaske unmöglich machen konnte. Zweitens wollte sie eine Bombe schaffen, die eine große Stoffmenge entweder von Land oder als Schwimmboje von See her abschwelte. Ich nahm an einem Versuch etwa im Juni 1941 in Raubkammer teil. Eine 50 kg Bombe wurde aus etwa 600 m Höhe in den Wald von Raubkammer geworfen. Auf 60–80 m unter Wind der Einschlagstelle waren einzelne winzige kleine Bröckchen zu erkennen, deren Zahl mit Annäherung an die Einschlagstelle zunächst etwas zunahm. Später überwogen die dickeren Körner. Auf etwa 150 m unter Wind der Einschlagstelle war ein längerer Aufenthalt im Gelände ohne Maske nicht möglich. Noch nach 14 Tagen war bei dem herrschenden Trockenwetter die Wirkung merklich. Den Versuch leitete Fliegerstabsingenieur Schiegler, ich nahm als Vertreter von WaPrüf 9 teil. Außer diesen Versuchen wurden noch die Stoffe Blausäure, Chlorcyan, Arsenwasserstoff, Calziumcyanid und eine Anzahl anderer auf ihre Eignung als Kampfstoffe in Versuchen geprüft und die Verwendung in verschiedenen Munitionsarten erprobt. Zum Schluss sind noch zu erwähnen, die Versuche, die man zu Sprengzwecken mit Kohlenoxydluftgemisch anstellte, wobei jedoch eine gleichzeitige chemische Einwirkung auf lebende Ziele eingeschlossen war. In Zusammenarbeit zwischen der Pionierabteilung des [Heeres-]Wa[ffen-]A[mtes] und WaPrüf 9 wurden in dem Gemisch von Kohlenoxyd und Luft ein ungemein wirksames Sprenggas in geschlossenen Räumen gefunden. Das Kohlenoxyd sollte in unverdünnter Form in die Bunker geleitet werden, sich mit der darin befindlichen Luft vermischen und dann durch die Einleitungsröhre, der zuletzt Sauerstoff eingeblasen wurde, gezündet werden. Das Einbringungsverfahren war 1942 noch nicht durchentwickelt. Versuche fanden im Sommer 1941 an der Maginotlinie, an einem größeren französischen Festungswerk und im Herbst 1941 an einem Werk der tschechischen Bunkerlinie statt. Das Ergebnis der Versuche wurde als gut bezeichnet.
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Dies sind die aktiven Gaskriegsvorbereitungen seitens Deutschlands. Westerburg Ehemaliger Oberstleutnant und Gruppenleiter VI von WaPrüf 9. Quelle: GARF, Bestand 9401, Findbuch 2, Akte Nr. 137, Bl. 408–419. Handschriftliche Kopie. Deutsch.
6.8 Begnadigungsgesuch von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 6. Februar 1952 An das Militärtribunal des Obersten Gerichts der UdSSR Ich richte das folgende Gesuch an Generalissimus Stalin bezüglich der Erleichterung meines Strafmaßes vom 4. 2. 1952. Großer Generalissimus Stalin! Das Militärtribunal des Moskauer Gebiets hat mich am 4. Februar 1952 zu 25 Jahren Haft in einem Arbeitsbesserungslager verurteilt. Das geschah auf Grundlage der Verbrechen, die in Artikel 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und Absatz 58–6, Paragraph 1 des Strafgesetzbuches der UdSSR sowie nach Artikel 2, Paragraph 1, Punkt a), b), c), des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates in Deutschland kodifiziert sind. Ich, Generaloberst der ehemaligen deutschen Armee, Rudolf Schmidt, geboren 1886 in Berlin, wende mich an Sie, großer Generalissimus Stalin [,] mit der unterwürfigen Bitte, mein Strafmaß zu erleichtern. Die Begründung meiner Bitte lege ich im Folgenden dar. Von der Gründung der Reichswehr an diente ich in dieser Organisation. Ich durchlief meinen Dienst abwechselnd in den Linientruppen und im Generalstab, wo ich Truppen und Offiziere ausbildete. Von 1928 bis 1934 war ich zunächst Ausbilder, ab 1932 arbeitete ich als Leiter der illegalen Militärakademie. Ich bildete Hunderte von Generalstabsoffizieren aus. Während dieser Tätigkeit bildete ich auch höhere sowjetische Offiziere aus, die auch in der deutschen Armee dienten. Dies tat ich mit großer Freude (1928–1929 und 1932–1933). Ich war schon immer freundschaftlich gegenüber den Russen eingestellt, da ich nur die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland für richtig hielt. Zusammen mit dem ehemaligen Major der deutschen Armee (später war er Militärattaché in Moskau), Köstring, verteidigten wir die engen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Diese Ansicht habe ich immer vertreten und halte an ihr bis zum heutigen Tage fest. Ich freute mich über den Vertrag von 1939, den Deutschland und die Sowjetunion abschlossen. 1941 war ich verzweifelt und fühlte mich unglücklich, als Hitler sein Wort brach und die Sowjetunion überfiel. Ich begriff, welche Folgen das für
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Deutschland haben würde. Der sowjetische Botschafter Chinschuk71 (1932–1933) in Berlin, bei dem ich privater Gast war, kannte meine wahren Gefühle gegenüber der Sowjetunion. Zwischen 1935 und 1937, als ich als Oberquartiermeister [II] im Generalstab des Heeres tätig war, musste ich in Routineangelegenheiten den Chef des Generalstabes vertreten. Zu dieser Zeit war mir über irgendwelche Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die Sowjetunion nichts bekannt. Deswegen war es für mich absolut unerwartet, und ich war verzweifelt, als mich im April 1941 der damalige Generalleutnant Paulus in meinem Stabsquartier an der spanisch-französischen Grenze besuchte und mich über den Plan „Barbarossa“, d. h. den bevorstehenden Überfall auf Sowjetunion, unterrichtete. In dem späteren Krieg nahm ich an folgenden Aktionen teil: Von Mitte November 1941 als Befehlshaber eines Korps, von Dezember 1941 bis zum 15. April 1943 als Armeeoberbefehlshaber. Anfangs war ich an einem zentralen Frontabschnitt eingesetzt, im August 1941 dann im Norden und schließlich seit Dezember 1941 bis April 1943 erneut am zentralen Frontabschnitt (im Gebiet Orjol – Brjansk und bis Ende Januar 1942 im Gebiet von Kursk). Ich wurde für Verbrechen verurteilt, die meine Truppen und die mir unterstellten Organe in den genannten Gebieten begangen haben. Vergehen wie Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, Verschleppung der Zivilbevölkerung zur Arbeit nach Deutschland und die schlechte Behandlung von Kriegsgefangenen. Ich musste den Oberbefehlshaber der 2. Armee von dem Moment an vertreten, als der Angriff der Heeresgruppe Mitte auf Moskau begann. Ende Dezember geriet ich in die sowjetische Gegenoffensive, die durch den misslungenen Angriff entstanden war. Die 2. Panzerarmee von Generaloberst Guderian trat den Rückzug an. Sie war nur noch ein Häufchen Elend. Die 2. Armee, die ich befehligte, sah nicht besser aus. Diese Lage führte zur unerwarteten Entlassung von Guderian als Oberbefehlshaber. Ich wurde zu seinem Nachfolger ernannt, gleichzeitig blieb ich aber auch Oberbefehlshaber der 2. Armee. Ich musste also zwei zerschlagene Armeen in der schwierigsten und hoffnungslosesten Situation führen. Tag und Nacht war ich damit beschäftigt, meine Armeen vor der drohenden vollständigen Katastrophe zu bewahren. Daher hatte ich keine Zeit, mich um administrative Dinge zu kümmern oder Angelegenheiten, die mit der Zivilbevölkerung zu tun hatten. Im Gebiet von Orjol wurden, mit Ausnahme von April bis Juli 1942, die ganze Zeit über schwere Kämpfe geführt. Was den Umgang mit den Partisanen von Anfang 1942 an betrifft, so erteilte ich meinen Kommandeuren den Befehl, entsprechend der Haager Konvention zu handeln.
71 Lev M. Chinšuk (1886–1944), ursprünglich Menschewik, später Unterstützer Stalins, 1930–1934 sowjetischer Botschafter in Berlin, 1937 verhaftet, starb im Lager.
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Der brutale Befehl Hitlers, wie mit den Partisanen umzugehen sei, der meinen Anweisungen widersprach, führte zu einer großen Unsicherheit in der Truppe, wie man sich zu verhalten habe. Meine mündlichen Befehle, die ich den Befehlshabern der Korps erteilt hatte und die widersprüchlichen Befehle Hitlers drangen durch den Teilaustausch von Truppen nicht immer zu den unteren Einheiten vor. Dadurch begingen meine Truppen diese Verbrechen, über die ich zu dieser Zeit nichts wusste. Ich kannte nur den Fall von zwei Bauern, die von zwei deutschen Soldaten ermordet worden waren. Aber in dieser Angelegenheit beantragte ich eine Untersuchung. Die Soldaten wurden, meiner Meinung nach, zum Tode verurteilt. Im Februar bestätigte ich vier Todesurteile an sowjetischen Bürgern, die vom Gericht der Kommandantur von Orjol vollstreckt wurden. Andere Personen, die in diesem Zusammenhang verurteilt worden waren, begnadigte ich aber. Es handelte sich dabei um eine terroristische Gruppe, die meinen Stab hatte überfallen und vernichten wollen. Mein Stab hatte zu dieser Zeit keine Wachtruppe, denn der gesamte persönliche Stab musste an die Front, wo es einen Durchbruch gegeben hatte. Wenn diese kühne und durchdachte Aktion geglückt wäre, wäre die Armee, ohne Befehlshaber, unweigerlich vernichtet worden. Daher erteilte ich den Befehl, ein Lager für kriminelle Zivilisten und jene[,] die Partisanen unterstützten[,] einzurichten. Ebenso befahl ich, Geiseln zu nehmen, aber ich habe niemals befohlen, diese Geiseln zu erschießen. Ich erteilte auch den Befehl zum Abtransport von Arbeitskräften nach Deutschland. Es ging hier aber nur um Personen, die sich dazu bereit erklärt hatten. Hierfür war in großem Maße auch geworben worden. Anfangs gab es viele Freiwillige. Später verringerte sich ihre Anzahl zusehends. Vom Oberkommando, d. h. von Hitler, kamen seit Anfang November Befehle[,] mit allen Mitteln die Mobilisierung von Arbeitskräften voranzutreiben, auch mit Zwangsmaßnahmen. Diesbezüglich erteilte ich einen kategorischen schriftlichen Befehl, dass das Prinzip der Freiwilligkeit bei der Mobilisierung von Arbeitskräften einzuhalten sei. Anhand der Berichte, die von den mir unterstellten Organen kamen, zweifelte ich nicht an der Ausführung meines Befehls. Doch bei der Untersuchung musste ich erfahren, dass ich betrogen worden war und dass die Berichte der Organe nicht der Wahrheit entsprachen. Ich bin schuldig, weil ich nicht persönlich überprüft habe, ob meine Anweisungen richtig ausgeführt wurden. Durch die damalige katastrophale Lage nach Stalingrad an verschiedenen Frontabschnitten war ich dazu nicht in der Lage. Nachdem ich das Kommando über die Armee von Guderian übernommen hatte, war das erste, was ich tat, ein Kriegsgefangenenlager in Orjol zu besuchen. Ich stellte dort fest, dass die Gefangenen unter ungehörig schwierigen Bedingungen lebten. Sie litten unter der unglaublichen Kälte, hungerten und waren krank. Die Sterblichkeitsrate war sehr hoch. Ich tat alles, was ich konnte, um den Kriegsgefangenen zu helfen. Aber es verging noch einige Zeit, bis diese Hilfe ihre Wirkung zeigte, weil die Armee infolge ihrer Zerschlagung selbst alles benötigte. Während meiner häufigen Besuche in der Folgezeit
6.8 Begnadigungsgesuch von Generaloberst Rudolf Schmidt, Moskau, 6. Februar 1952
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im Lager von Orjol interessierte ich mich für die Gefangenen, für ihre Anliegen und Klagen und gab in diesem Zusammenhang die entsprechenden Anweisungen. Nun begreife ich, dass ich durch falsche Berichte betrogen wurde und man die Quälereien und Verbrechen vor mir geheim hielt. In Bezug auf alle weiteren Rechtsverletzungen und Verbrechen, die gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen begangen wurde, sollte ich mich schuldig bekennen, denn ich habe es versäumt zu kontrollieren und mich energisch einzumischen, ebenso, weil ich für alles verantwortlich war, was in meinem Zuständigkeitsgebiet durch meine Truppen geschah. Als Begründung, die meine Schuld vermindert, bitte ich zu beachten, dass durch die andauernden Kampfhandlungen und die Schwierigkeiten bei der Organisation der Verteidigung, selbst in den Monaten, in denen es ruhiger war, ich mich völlig von Fragen, die nicht militärischer Natur waren, fernhielt und die Überwachung den mir unterstellten Organen überließ. Diese Begründung ändert natürlich nichts an meiner Lage als Mittäter. Am 15. April 1943 wurde ich unerwartet gefangen genommen und von meinem Posten enthoben. Der Geheimen Staatspolizei Himmlers waren meine Briefe in die Hände gefallen, die beleidigende und kritische Bemerkungen enthielten. Obwohl ich bei dem darauf folgenden Prozess begnadigt wurde, entließ man mich dennoch am 23. September 1943 aus dem Heeresdienst. Nach meiner Entlassung aus der Armee und auch nach der Kapitulation arbeitete ich im kaufmännischen Bereich, um meine frühere Zugehörigkeit zum Militärdienst zu verbergen. Zuerst lebte ich in der Ostzone, aber von 1946 an dann in der westlichen Besatzungszone. Ich hatte gerade geplant, ein neues Leben zu beginnen, aber am 6. September 1947 wurde ich entdeckt und vom englischen Geheimdienst gefangen genommen. Man ließ mich zwar frei, aber ich sollte in regelmäßigen Abständen zur englischen Administration kommen, um mich registrieren zu lassen. Da ich Angst hatte, dass ich erneut verhaftet und ins Gefängnis gesperrt werden würde und dadurch wieder meine Pläne, ein neues, ziviles Leben zu beginnen, zerstört worden wären, gab ich einem englischen Geheimdienstoffizier verschiedene militärische und wirtschaftliche Informationen über die Ostzone. Ich berichtete alles, was ich von meinen Verwandten und Restaurantbesuchern, die mit mir an einem Tisch zu sitzen kamen, erfuhr. Ich erkannte, dass sich der englische Geheimdienstoffizier für solche Informationen interessierte. Solche Berichte lieferte ich vier bis fünf Mal ab. Ich verpflichtete mich den Engländern gegenüber zu nichts, und ich erhielt auch keine Belohnung. Lediglich am 6. Oktober 1947 reiste ich illegal aus rein persönlichen Gründen und Angelegenheiten in die Ostzone. Als ich legal die Ostzone verlassen wollte, wurde ich an der Zonengrenze festgenommen. Kurz nachdem ich vom englischen Geheimdienst entdeckt worden war, lernte ich durch einen Bekannten, der im Rheingebiet wohnte (Leverkusen), den amerikani-
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6 Rechtfertigung und Zusammenarbeit
schen Oberst Dixon72 kennen. Er gab sich als Verbindungsoffizier des amerikanischen Kommandos im englischen Hauptquartier in Deutschland aus. Ich traf mich zwei Mal mit ihm in seiner Wohnung. Dixon wollte von mir lediglich, dass ich meine Kriegserfahrungen während der Winterkämpfe in Russland von 1941 bis 1942 niederschrieb. Während unseres Gesprächs interessierte er sich für meine Ansichten über eine mögliche Wiedererrichtung einer Monarchie in Deutschland. Er bat mich außerdem, die ehemaligen hohen deutschen Offiziere zu beurteilen, die für Kommandeursposten geeignet waren. Während unseres zweiten Treffens erzählte mir Dixon überaus interessante Dinge über militärische, technische und politische Fragen. Diese Informationen gab ich auf eigene Initiative während der Untersuchung preis, denn ich war davon überzeugt, dass sie für Russland von großer Bedeutung sind. Großer Generalissimus Stalin! Ich bitte diese langen Erläuterungen zu entschuldigen. Ich beabsichtigte damit, ein Verständnis von mir als Person zu vermitteln, um zu zeigen, dass ich weder ein grausamer und grober Mensch war noch bin, dass ich kein Feind der Sowjetunion bin, sondern im Gegenteil ihre geniale Führung hoch schätze und von ihr begeistert bin. Dadurch, dass ich für die Handlungen meiner Untergebenen verantwortlich war, bin ich in die Lage eines Verbrechers geraten. Ich habe eine Verurteilung verdient, aber ich bitte darum, durch eine Begnadigung meine Strafe zu mildern, um erneut das Licht der Freiheit erblicken zu können. Rudolf Schmidt Übersetzer: Potapowa 9. 2. 1952, 17.30 Uhr Quelle: CA FSB, Akte Nr. N -21139, Bd. 2, Bl. 434–444. Handschriftliches Original. Russisch.
72 Nicht ermittelt.
Anhang
7 Kurzbiographien der Vernommenen 7.1 Bentivegni, Franz-Eccard von (* 18. Juli 1896 Potsdam; † 4. April 1958 Wiesbaden) Der Sohn eines Artillerieoffiziers besuchte Gymnasien in Sprottau, Köln und Potsdam. Nach der Reifeprüfung trat er im Juli 1915 in das Garde-Feldartillerieregiment Potsdam ein und wurde im Juli und August 1916 zur Artillerieschule Jüterbog kommandiert. Nach anderthalb Jahren Einsatz an der Westfront wurde er im April 1918 verwundet und war bis zum Juli im Hospital. Von 1918 bis 1927 war er u. a. als Adjutant verschiedener Artillerie-Bataillone sowie als Ordonnanz- und Gerichtsoffizier eingesetzt. Von 1928 bis 1932 absolvierte er seine Generalstabsausbildung, u. a. im Reichswehrministerium. Es folgten verschiedene Truppen- und Stabsverwendungen auf Divisions- und Korpsebene. 1939 wurde er in die Abwehrabteilung im Kriegsministerium versetzt. Seit März 1939 war er Chef der Abwehrabteilung III (Spionageabwehr und Gegenspionage). Von September 1943 bis Mai 1944 in die Führerreserve versetzt, vertrat er in dieser Zeit den Chef seiner Abteilung Amt Ausland Abwehr III im OKW. Beurteilung vom 1. März 1944: „Kluge, sehr energische zielsichere Persönlichkeit von einwandfreier nationalsozialistischer Haltung.“1 Nach Absolvierung eines Divisionsführerlehrgangs im März und April 1944 wurde Bentivegni im Mai 1944 mit der Führung der 170. Infanteriedivision betraut. Im Januar 1945 zum Generalleutnant befördert, geriet er im März 1945 sowjetische Kriegsgefangenschaft. In der UdSSR als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und 1955 in die Bundesrepublik entlassen.
7.2 Dönitz, Karl (* 16. September 1891 Grünau bei Berlin; † 24. Dezember 1980 Aumühle bei Hamburg) Der Sohn eines Ingenieurs besuchte ein Realgymnasium in Weimar. Nach der Reifeprüfung trat er 1910 als Seekadett in die Marine ein. Seit 1912 war er auf dem Kreuzer „Breslau“ stationiert, der im Ersten Weltkrieg unter türkischem Befehl im Schwarzen Meer eingesetzt wurde. 1916 zur U-Boot-Waffe berufen, geriet Dönitz im Oktober 1918 als Kommandant eines U-Boots in britische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr im Juli 1919 war er Kommandant einer Torpedobooteinheit, 1923 begann sein Admiralstabslehrgang, während dessen er 1923/24 als Referent für U-Boot-Wesen bei der Inspektion des Torpedo- und Minenwesens und bis 1927 als Dezernatsleiter in der Marineabteilung des Reichswehrministeriums diente. Nach verschiedenen Flottenkommandos in Nord- und Ostsee war Dönitz 1930 bis 1934 Erster Admiralstabs-
1 BA MA Pers. 6/443.
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7 Kurzbiographien der Vernommenen
offizier bei der Marinestation der Nordsee in Wilhelmshaven. 1934 übernahm er das Kommando des Kreuzers „Emden“ und 1935/36 der U-Boot-Flottille „Weddingen“. 1936 Führer der im Zuge der Aufrüstung neu aufgebauten U-Boot-Waffe, seit 1939 deren Befehlshaber. 1943 übernahm Dönitz mit der Beförderung zum Großadmiral zusätzlich den Oberbefehl der Kriegsmarine. Am 30. 4. 1945 ernannte ihn Hitler testamentarisch zum Reichspräsidenten und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht. Am 23. 5. 1945 wurde Dönitz mit seiner Regierung durch die britische Armee verhaftet. 1946 als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zu zehn Jahren Haft verurteilt und 1956 nach Verbüßung der Strafe entlassen.
7.3 Franek, Friedrich (* 16. Juli 1891 Wien; † 8. April 1976 Wien) Der Sohn eines Bäckermeisters besuchte die Kadettenschule Liebenau bei Graz. 1910 trat er in ein Infanterieregiment ein und wurde 1913 zum Leutnant befördert. Während des Ersten Weltkrieges wurde Franek mehrfach verwundet. 1917 wurde er im Preußischen Lehr-Infanterieregiment 17 ausgebildet und baute dann Sturmlehrkurse für die k. u. k. Armee auf. 1920 als Hauptmann in die Österreichischen Streitkräfte übernommen und zum Studium der Staats- und Wirtschaftswissenschaften kommandiert, legte er 1925 die Fachprüfung für den höheren militärischen Dienst ab und wurde zum Dr. phil promoviert. Es folgten verschiedene Verwendungen u. a. im Kriegsarchiv und als Taktiklehrer. 1938 von der Wehrmacht übernommen, war er zunächst Bataillonskommandeur beim Überfall auf Polen. Von Februar bis August 1940 übernahm er das Kommando über das Infanterie-Regiment 634; seit Oktober 1940 führte er das Infanterie-Regiment 405 im Osten. Im September 1941 wurde er schwer verwundet und anschließend in die Führerreserve versetzt. Seit März 1942 war Kommandeur der 196. Infanteriedivision zur Sicherung Norwegens. Von seinen Vorgesetzten wurde der „famose, allseitig anerkannte Divisionskommandeur“ als „fester Nationalsozialist“ beurteilt.2 Von Januar bis Mai 1944 kommandierte Franek als Generalleutnant die 44. Reichsgrenadier-Division, seit Juni 1944 schließlich die 73. Infanteriedivision, die bei den Kämpfen um Warschau vernichtet wurde. In einer Beurteilung vom 16. 8. 1944 hieß es: „In dem Glauben, seiner schwer kämpfenden Division besser helfen zu können, verließ er seinen Gefechtsstand erst, als die feindlichen Panzer schon vor der Tür standen. Beim Versuch im Volkswagen sich nach vorn zu seinen Regimentern durchzuschlagen, fuhr er sich fest und wurde gefangen genommen. Nach Charakter und geistiger Einstellung halte ich es für ausgeschlossen,
2 BA MA Pers. 6/556.
7.4 Göring, Hermann
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dass General Franek sich freiwillig der russischen Propaganda zur Verfügung stellt.“3 Vom 29. 7. 1944 bis 22. 7. 1948 befand er sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
7.4 Göring, Hermann (* 12. Januar 1893 Rosenheim; † 15. Oktober 1946 Nürnberg [Suizid]) Der Sohn eines Juristen und führenden Kolonialbeamten besuchte seit 1905 eine Kadettenanstalt, zunächst in Karlsruhe, dann in Berlin-Lichterfelde, die er 1911 mit dem Fähnrichsexamen abschloss. 1912 trat er in ein Infanterieregiment ein; 1913 bestand er die Reifeprüfung und das Offiziersexamen. 1914 Leutnant in einem Infanterieregiment im Elsass, wo er an ersten Kriegshandlungen teilnahm. Im Herbst 1914 wechselte er zur Fliegertruppe, wo er zunächst als Luftbeobachter, dann als Pilot, und schließlich seit Juli 1918 als Kommandeur des Jagdgeschwaders „Freiherr von Richthofen“ diente. 1920 nahm er als Hauptmann seinen Abschied; schon seit 1919 arbeitete er als Militärberater und Pilot in Dänemark und Schweden, u. a. als Chefpilot der Svenska Lufttrafik. 1921/22 begann er ein Studium der Geschichte und Nationalökonomie in München und machte dort Bekanntschaft mit Hitler. 1922 trat er der NSDAP bei und erhielt von Hitler den Auftrag zum Aufbau der Sturmabteilung (SA), die er beim Putschversuch 1923 führte. Verwundet flüchtete Göring zunächst nach Österreich, wo er bei einem Klinikaufenthalt vom Schmerzmittel Morphin abhängig wurde. 1924 im Auftrag Hitlers in Venedig und Rom, dann ab Frühjahr 1925 erneut in Schweden, wo er in den Folgejahren seinen Morphinismus mehrmals in psychiatrischen Kliniken behandeln lassen musste. 1926 konnte Göring nach Aufhebung des Haftbefehls nach Deutschland zurückkehren, trat 1928 wieder der NSDAP bei, der er als Spitzenkandidat für die Reichstagswahlen diente. Von 1928 bis 1945 war er Mitglied des Reichstages, zunächst als zweiter Fraktionsvorsitzender, dann als Fraktionsschriftführer und schließlich seit August 1932 Reichstagspräsident. Vom 30. 1. 1933 bis zum 5. 5. 1933 amtierte er als Reichsminister ohne Geschäftsbereich, vom 11. 4. 1933 bis 1945 als preußischer Ministerpräsident; 1933/34 war Göring zugleich Innenminister und Chef der preußischen Polizei. Zugleich wurde er im Januar 1933 zunächst Reichskommissar für Luftfahrt, seit Mai 1933 Reichsminister für Luftfahrt, beauftragt und mit dem Aufbau der Luftwaffe. Bereits im Januar 1933 wurde er zum General der Infanterie ernannt, im Mai 1935 zum General der Flieger und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, die er seit 1940 mit dem höchsten militärischen Rang des Reichsmarschalls führte. Seit 1936 war er zudem Reichsbeauftragter für Rohstoff- und Devisenfragen, zugleich Beauftragter für den Vierjahresplan und damit für die Rüstungswirtschaft, von 1937 bis 1945 Hauptleiter („Schirmherr“) der Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten „Hermann Göring“, seit 1938 Beauftragter für die Regelung der Judenfrage, seit 1939 Vorsitzen-
3 BA MA Pers. 6/556, gleichlautend Beurteilung durch Vormann in: Pers. 6/299654.
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7 Kurzbiographien der Vernommenen
der des Ministerrats für die Reichsverteidigung, seit 1940 Leiter der Kriegswirtschaft, seit 1941 Leiter des Wirtschaftsführungsstabs Ost, verantwortlich für die Ausbeutung der besetzten sowjetischen Gebiete. Am 23. 4. 1938 bestimmte Hitler Göring zu seinem Stellvertreter in allen Ämtern für den Fall, dass Hitler durch „Erkrankung oder andere Ereignisse“ an der Erfüllung seiner Aufgaben verhindert sei, am 1. 9. 1939 folgte die offizielle Ernennung zum Stellvertreter und Nachfolger Hitlers als Reichskanzler. Nach einem Versuch, die Macht von Hitler zu übernehmen, wurde Göring am 23. 4. 1945 auf Weisung Hitlers aller Ämter enthoben, verhaftet und schließlich von Hitler noch testamentarisch aus der NSDAP ausgeschlossen. Am 8. 5. 1945 vom USMilitär verhaftet und im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt, entzog Göring sich der Vollstreckung des Urteils durch Suizid.
7.5 Hansen, Erik (* 24. März 1889 Hamburg; † 20. März 1967 Hamburg) Der Sohn eines Großkaufmanns besuchte das Realgymnasium des Johanneums in Hamburg. Nach der Reifeprüfung trat er 1907 als Fahnenjunker in ein Dragonerregiment ein und erhielt 1909 das Leutnantspatent. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er zunächst an der Westfront, ab Oktober 1914 an der Ostfront, vorwiegend im Baltikum. Nach der Beförderung zum Rittmeister 1917 auch in Stabsstellungen verwendet, u. a. als Quartiermeister. In der Reichswehr war er u. a. im Generalstab der 1. Kavallerie-Division eingesetzt, ab Sommer 1933 diente er als Chef des Stabes der 3. Kavallerie-Division. Von Oktober 1934 bis Oktober 1936 war er Kommandeur eines Infanterie-Regiments, danach im Generalstab des Heeres Chef der Operationsabteilung. Seit November 1938 Kommandeur der 4. Infanterie-Division, eingesetzt beim Überfall auf Polen und im Westen. Seit Oktober 1940 war er als General der Kavallerie Chef der Deutschen Heeresmission in Rumänien. Im Juni 1941 wurde er zum Kommandierenden General des neu gebildeten LIV. Armeekorps ernannt, mit dem er am Überfall auf die Sowjetunion teilnahm. Seine Beurteilung vom 8. 2. 1943 lautete: „Sehr geschickt in der Behandlung der Bundesgenossen. Einwandfreie Einstellung zur nat. soz. Staatsauffassung.“4 Anfang 1943 war Hansen erneut Befehlshaber der Deutschen Heeresmission in Rumänien geworden, wo er im August 1944 in rumänische Kriegsgefangenschaft geriet. Kurze Zeit später wurde Hansen in die Sowjetunion überstellt und am 18. Februar 1952 vom Militärtribunal des Militärbezirks Moskau zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Oktober 1955 vorzeitig entlassen und nach Deutschland repatriiert. 2002 lehnte die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation Hansens Rehabilitierung ab.
4 BA MA Pers. 6/177.
7.7 Jodl, Alfred
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7.6 Jeckeln, Friedrich (* 2. Februar 1895 Hornberg; † 3. Februar 1946 Riga [hingerichtet]) Jeckeln wurde als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren und besuchte nach der Oberrealschule für ein Semester das Polytechnikum in Köthen. 1913 trat er in ein ArtillerieRegiment des Preußischen Heeres in Freiburg im Breisgau ein, mit dem er im Ersten Weltkrieg an Kämpfen im Westen teilnahm. 1916 schwer verwundet, wechselte er zur Fliegertruppe, aus der er 1919 verabschiedet wurde. Er war Mitglied eines Freikorps und arbeitete bis Mitte der 1920er Jahre als Gutsverwalter bei Danzig. 1929 trat er der NSDAP bei und wurde im Januar 1930 in die SS aufgenommen. Wegen seiner militärischen Erfahrungen und seines Organisationstalents stieg er innerhalb der SS rasch auf und wurde bereits 1931 SS-Oberführer im SS-Abschnitt IV (Provinz Hannover und Schleswig-Holstein) sowie seit 1932 Mitglied des Reichstages. Nach der Machtübernahme war er in Braunschweig zugleich Polizeichef des Landes, seit 1938 als Höherer SS- und Polizeiführer. Seit Mai 1940 kommandierte Jeckeln ein Bataillon in der SS-Division Totenkopf, amtierte nach dem Frankreichfeldzug jedoch wieder als Höherer SS- und Polizeiführer, jetzt in Düsseldorf. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde Jeckeln zum Höheren SS- und Polizeiführer Russland-Süd ernannt. In seine Verantwortung fielen sogenannte Auskämmungsaktionen mit zehntausenden Ermordeten. Die Massenmorde von Kiew und Baby Jar fanden ebenfalls in seinem Bereich statt. Am 11. 10. 1941 wurde Jeckeln zum Höheren SS- und Polizeiführer Russland-Nord und Ostland (Baltikum und Teile Weißrusslands) ernannt und nach Riga versetzt. Hier ließ er das örtliche Ghetto liquidieren, im August 1942 leitete er die Aktion „Sumpffieber“, 1943 die Aktion „Winterzauber“ gegen sowjetische Partisanen, in deren Verlauf auch zehntausende Zivilisten ermordet wurden. Nach der Flucht aus Riga wurde Jeckeln im Februar 1945 zum Kommandierenden General des V. SSGebirgskorps ernannt und geriet im Kessel von Halbe als General der Waffen-SS in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die Verhöre dauerten mehrere Monate. Das von der neuen Regierung der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland eingesetzte Kriegsgericht in Riga tagte vom 26.1. bis 3. 2. 1946. Jeckeln wurde mit den anderen Angeklagten zum Tode geurteilt und an der Promenade an der Düna im Beisein von mehreren tausend Zuschauern gehenkt.
7.7 Jodl, Alfred (* 10. Mai 1890 Würzburg, † 16. Oktober 1946 Nürnberg [hingerichtet]) Der Sohn eines bayerischen Artillerieoffiziers besuchte von 1903 bis 1910 die Bayerische Kadettenschule in München und trat nach der Reifeprüfung 1910 in ein ArtillerieRegiment des Bayerischen Heeres in Augsburg ein. Beim Einsatz seines Regimentes an der Westfront des Ersten Weltkrieges wurde Jodl schon im August 1914 als Leutnant schwer verwundet, 1917 war er als Batteriekommandant sowie als Regimentsadjutant
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7 Kurzbiographien der Vernommenen
an der Ostfront im Einsatz, bevor er Anfang 1918 als Generalstabsoffizier wieder an die Westfront versetzt wurde. 1921 bis 1924 absolvierte er die Generalstabsausbildung u. a. im Reichswehrministerium. Nach verschiedenen Stabs- und Truppenverwendungen wurde er 1932 Gruppenleiter in der Operationsabteilung des Truppenamtes im Reichswehrministerium. 1934 für einige Wochen zur türkischen Armee kommandiert, war er ab 1935 Oberst und Chef der Abteilung Landesverteidigung im Wehrmachtführungsamt, dessen Chef er im März 1938 mit der Eingliederung in das OKW wurde. Nach einem Truppenkommando als Artilleriekommandeur der 44. Infanterie-Division in Wien und Brünn von Oktober 1938 bis August 1939 kehrte er wieder als Chef des Wehrmachtführungsamtes (seit 1940 Wehrmachtführungsstab) ins OKW zurück und war in dieser Position der engste militärische Berater Hitlers. Jodl und seine Mitarbeiter waren 1940/41 an der Ausarbeitung von Plänen für einen Angriff gegen die Sowjetunion beteiligt und formulierten die zughörigen mörderischen Befehle wie den Kommissar-Befehl. Am 7. 5. 1945 unterzeichnete Generaloberst Jodl als Bevollmächtigter des Großadmirals Dönitz in Reims die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht gegenüber den westlich Alliierten. Nach der Verhaftung Keitels am 13. 5. 1945 ernannte Dönitz Jodl zum geschäftsführenden Chef des OKW. Jodl wurde mit der Regierung Dönitz am 23. 5. 1945 von britischen Truppen verhaftet und am 1. 10. 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde am 16. 10. 1946 vollstreckt.
7.8 Keitel, Wilhelm (* 22. September 1882 Helmscherode im Harz, † 16. Oktober 1946 Nürnberg [hingerichtet]) Der Sohn eines Gutsbesitzers trat nach dem Abitur in Göttingen 1901 in ein Artillerieregiment des preußischen Heeres in Wolfenbüttel ein. 1908 wird er Regimentsadjutant. Während des Ersten Weltkrieges wurde er zunächst bei der Artillerie an der Westfront eingesetzt, seit 1915 dann ohne die übliche Ausbildung Einsatz als Generalstabsoffizier, u. a. beim Marinekorps Flandern. Nach der Übernahme in die Reichswehr durchlief Keitel verschiedene Stabs- und Truppenkommandos, von 1925 bis 1927 war er Gruppenleiter der Heeres-Organisationsabteilung im Truppenamt des Reichswehrministeriums. Von 1929 bis 1933 war er dann Chef dieser Abteilung des Truppenamtes. Zu seinen Aufgaben gehörte der illegale Ausbau des Heeres; Keitel reiste in diesem Zusammenhang auch in die Sowjetunion, wo er geheime Ausbildungslager der Reichswehr inspizierte. Von Oktober 1933 bis März 1934 hatte er ein Truppenkommando als Artillerieführer III und stellvertretender Kommandeur der 3. Division in Frankfurt (Oder), ebenso von Oktober 1934 an als Infanterieführer VI in Bremen, wo er mit der Aufstellung der 22. Infanterie-Division befasst war. Im Oktober 1935 wurde Keitel Chef des Wehrmachtsamts im Reichskriegsministerium, wo er sich für eine einheitliche Führung aller Waffengattungen der Wehrmacht einsetzte. Im Frühjahr
7.9 Kesselring, Albert
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1938 wurde diese Idee umgesetzt und Keitel zum Chef des neuen Oberkommandos der Wehrmacht berufen, sein Hauptaufgabengebiet war die Verwaltung der Streitkräfte. Er fungierte als Bindeglied zwischen Hitler und der Generalität, wobei er die Weisungen Hitlers prinzipiell ohne Widerspruch oder Eigeninitiative weitergab, das galt auch für die mörderischen Befehle zur Kriegführung im Osten. Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnete am 8. 5. 1945 als Bevollmächtigter von Großadmiral Dönitz die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht gegenüber der Roten Armee in BerlinKarlshorst. Am 1. 10. 1946 wurde er im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt und am 16. 10. 1946 hingerichtet.
7.9 Kesselring, Albert (* 30. November 1885 Marktsteft [Unterfranken], † 16. Juli 1960 Bad Nauheim) Der Sohn eines Lehrers trat nach dem Abitur 1904 in Bayreuth in ein in Metz stationiertes Artillerie-Regiment des bayerischen Heeres ein. Im Juni 1912 absolvierte er einen Ballonbeobachter-Kurs in einer Luftschiffabteilung. Während des Ersten Weltkrieges diente er als Adjutant und Generalstabsoffizier bei der Artillerie auf Bataillons-, Divisions- und Korpsebene. Nach der Übernahme in die Reichswehr wurde er 1922 ins Reichswehrministerium versetzt, wo er u. a. in der Heeres-Ausbildungsabteilung des Truppenamtes und im Stab des Chefs der Heeresleitung verwendet wurde. 1933 wechselte Kesselring, inzwischen Oberst, in das neu gebildete Reichsluftfahrtministerium, wo er die Leitung des Amtes D (später Luftwaffenverwaltungsamt) zum Aufbau der späteren Luftwaffe übernahm. Für diesen neuen Aufgabenbereich legte Kesselring 1934 die Flugzeugführerprüfung ab. Im Juni 1936 wurde er zum Chef des Generalstabs der Luftwaffe ernannt. Ein Jahr später übernahm er als General der Flieger den Befehl im Luftkreis III (Dresden). Anfang 1938 wurde er Befehlshaber des Luftwaffengruppenkommandos 1 in Berlin, der späteren Luftflotte 1. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war seine Luftflotte u. a. für die schwere Bombardierung Warschaus verantwortlich. Im Januar 1940 übernahm er den Befehl über die Luftflotte 2 im Westen, die unter seinem Kommando den schweren Bombenangriff auf Rotterdam ausführte. Während der Luftschlacht um England war seine Luftflotte für die Angriffe auf Südostengland und später auch auf London zuständig. Beim Überfall auf die Sowjetunion unterstützte sie den Vormarsch auf Moskau. Im November 1941 wurde die Luftflotte 2 nach Italien verlegt. Kesselring erhielt zusätzlich den Titel eines Oberbefehlshabers Süd beim italienischen Oberkommando. Seine Aufgabe war vor allem die Sicherung des Nachschubs nach Nordafrika. Im Oktober 1942 wurde seine Befehlsgewalt auf alle Wehrmachtverbände im Mittelmeerraum mit Ausnahme der Panzerarmee Afrika ausgedehnt. Seit 1943 war Kesselring Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd (Mittelmeer-Raum, Italien). Nach der Landung der Alliierten in Italien wurde er Oberbefehlshaber Südwest und der Heeresgruppe C. Von April 1944 an leitete er auch den Kampf gegen die italienischen Partisanen und war für Geiselerschießungen ver-
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7 Kurzbiographien der Vernommenen
antwortlich. Im Oktober 1944 schwer verwundet, wurde er nach seiner Genesung im März 1945 zum Oberbefehlshaber West ernannt. Ende April 1945 wurden ihm auch die Oberbefehlshaber Südwest und Südost unterstellt. Am 15. 5. 1945 geriet Kesselring in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Am 6. Mai 1947 wurde er von einem britischen Militärgericht bei Venedig wegen Geiselerschießungen und seiner sonstigen Befehle zur „Bandenbekämpfung“ in Italien zum Tod durch Erschießen verurteilt, im Juli jedoch zu lebenslanger Haft begnadigt und in ein Militärgefängnis nach Deutschland verlegt. 1948 war seine Haftstrafe bereits auf 21 Jahre verkürzt worden; Kesselring kam jedoch schon 1952 frei, u. a. wegen einer Krebserkrankung.
7.10 Kleist, Ewald von (* 8. August 1881 Braunfels [Hessen], † 13. oder 16. November 1954 Lager Wladimirowka [Sowjetunion]) Der Sohn eines Schulrates trat nach dem Abitur 1900 in ein Artillerie-Regiment des Preußischen Heeres ein. 1910 bis 1913 absolvierte er die Generalstabsausbildung an der Kriegsakademie. Im März 1914 wurde er als Rittmeister in den Stab des Leibhusarenregiments Nr. 1 versetzt, mit dem er zu Beginn des Ersten Weltkrieges an der Schlacht bei Tannenberg teilnahm. Von 1915 bis 1918 wurde er als Stabs- und Truppenoffizier an der Westfront verwendet, u. a. als I a im Generalstab des VII. Armeekorps. 1919 trat er in ein Freikorps ein, für das er im Baltikum kämpfte. Nach der Übernahme durch die Reichswehr 1920 diente Kleist weiterhin in verschiedenen Stabsfunktionen. 1931 wurde er Kommandeur des 9. Infanterie-Regiments in Potsdam und mit Beginn des Jahres 1932 Kommandeur der 2. Kavalleriedivision. Im Oktober 1934 war Kleist Befehlshaber der Heeresdienststelle Breslau. Seit der Enttarnung der Verbände 1935 trug er ebendort den Titel des Befehlshabers im Wehrkreis VIII und war Kommandierender General des neu gebildeten VIII. Armeekorps. Im Februar 1938 wurde er im Zuge der Umgestaltung der Wehrmacht verabschiedet, aber bereits bei der Mobilmachung 1939 reaktiviert und Kommandierender General des XXII. Armeekorps (mot.). Im Mai 1940 war die „Panzergruppe Kleist“ im Westen eingesetzt. Im April 1941 nahm er mit der Panzergruppe 1 am Krieg auf dem Balkan teil. Seit Juni 1941 führte er seine Panzergruppe beim Überfall auf die Sowjetunion in der Ukraine und seit Sommer 1942 die neu gebildete „Armeegruppe Kleist“. Im November 1942 übernahm er den Oberbefehl über die Heeresgruppe A (seit März 1943: Heeresgruppe Südukraine) und wurde 1943 zum Generalfeldmarschall befördert. Nach wiederholten Konflikten mit Hitler über die Kriegführung im Osten wurde Kleist im März 1944 entlassen. Nach dem Attentat vom 20. 7. 1944 verhaftete ihn die Gestapo, ließ ihn aber wieder frei. Ende April 1945 wurde Kleist von US-Truppen verhaftet, an die britische Armee übergeben und von dieser im September 1946 an Jugoslawien ausgeliefert, wo er wegen Kriegsverbrechen zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. 1948 wurde er an die Sowjetunion übergeben und dort wiederum wegen Kriegsverbrechen im Februar 1952
7.12 Lindemann, Georg
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von einem Moskauer Militärtribunal zu lebenslanger Haft verurteilt, in der er Ende 1954 verstarb.
7.11 Kurowski, Eberhard von (10. September 1895 Stettin; † 11. September 1957 Stanzach in Tirol) Der Sohn eines Generals der Infanterie besuchte Gymnasien in Weimar, Allendorf, Kassel, Ulm und Koblenz, wo er im September 1914 die Reifeprüfung ablegte. Im August 1914 trat von Kurowski als Fahnenjunker in ein Infanterie-Regiment ein. Ab 1915 an der Westfront und in Galizien eingesetzt, wurde er mehrfach verwundet. 1919 trat er einem Freikorps bei und kämpfte in Lettland und beim Grenzschutz Ost. 1920 in die Reichswehr übernommen, absolvierte er mehrere Lehrgänge, darunter die Generalstabsausbildung, und diente in verschiedenen Truppen- und Stabsverwendungen, u. a. von Oktober 1931 bis April 1934 in der Organisationsabteilung des Truppenamtes im Reichswehrministerium, von Mai 1935 bis November 1937 im Stab des Wehrkreiskommandos X, dann im Stab des 10. Armeekorps, von November 1937 bis August 1939 Ia beim Stab der 21. Infanterie-Division und ab August 1939 Ia beim Generalstab des XXI. Armeekorps. Seit Februar 1940 war er Chef des Generalstabs des XXXX. Panzerkorps, dann seit Mai 1941 der 2. Panzerarmee. Eine Beurteilung beschrieb Kurowski am 1. 3. 1943 als „aufrechten, lauteren Charakter“. Er stehe „fest auf dem Boden der nationalsoz[ialistischen] Weltanschauung.“ Er sei ein „sehr guter Generalstabsoffizier“ mit klarem Blick für das Mögliche. „Ausgesprochene Führerpersönlichkeit von Format.“5 Obwohl ihm seine Vorgesetzten bescheinigten, dass er zum Armeeführer befähigt sei, wurde er im April 1943 in die Führerreserve versetzt. Anfang Juni 1943 wurde er dann mit der Führung der 110. Infanteriedivision betraut und geriet im Juli 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Im Dezember 1947 in Gomel von einem Militärtribunal als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und im Oktober 1955 entlassen.
7.12 Lindemann, Georg (8. März 1884 Osterburg; † 25. September 1963 Freudenstadt) Der Sohn eines preußischen Landgerichtsrats trat nach dem Abitur in Hannover 1903 in ein Dragoner-Regiment in Mainz ein, im April 1914 zur Generalstabsausbildung abkommandiert, die er jedoch wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges nicht beenden konnte. Während des Krieges hatte er Generalstabsverwendungen an der Ost-, dann an der Westfront, zuletzt war er Generalstabschef von Infanterie-Divisi-
5 BA MA Pers. 6/2573.
442
7 Kurzbiographien der Vernommenen
onen. 1919 war er in Freikorps tätig, u. a. beim Grenzschutz Ost und im Generalstab der Freiwilligen-Division von Lettow-Vorbeck. In der Reichswehr hatte er verschiedene Truppen- und Stabskommandos, u. a. war Lindemann von 1934 bis 1936 Kommandeur der Kriegsschule Hannover. 1936 wurde er zum Generalmajor befördert und Kommandeur der neu aufgestellten 36. Infanterie-Division, mit der er 1939/40 am Krieg im Westen teilnahm. Im Sommer 1940 wurde Lindemann mit der Aufstellung des L. Armeekorps beauftragt und wenig später zu dessen Kommandierenden General ernannt. 1941 war das Korps zuerst auf dem Balkan eingesetzt und dann beim Überfall auf die Sowjetunion, wo es an den Angriffen auf Leningrad und Moskau beteiligt war. Im Januar 1942 wurde Lindemann Oberbefehlshaber der 18. Armee in Nordrussland und zum Generaloberst befördert. Im Frühjahr 1944 übernahm er den Oberbefehl über die Heeresgruppe Nord, bereits im Sommer desselben Jahres wurde er nach einem Rückzugsbefehl in die Führerreserve versetzt. Anfang 1945 erfolgte die Ernennung zum Wehrmachtsbefehlshaber in Dänemark, wo er erst im Juni 1945 von britischen Truppen festgenommen wurde, die ihn schließlich 1947 erneut verhafteten und an Dänemark überstellten. Dort wurde er 1948 ohne Strafverfolgung aus der Haft entlassen.
7.13 Piekenbrock, Hans (*3. Oktober 1893 Essen; † 16. Dezember 1969 Porz-Wahn) Der Sohn eines Bauunternehmers machte 1913 in Essen Abitur und begann ein JuraStudium in Freiburg im Breisgau. Im August 1914 trat er als Freiwilliger in ein Husaren-Regiment in Krefeld ein und war ab Dezember 1914 an der Ostfront im Einsatz, bis März 1918 in der Ukraine, dann in die Champagne versetzt. Bei Kriegsende war er Regimentsadjutant, als der er 1919 auch in einem Freikorps diente. 1920 in die Reichswehr übernommen, absolvierte er dort von 1926 an eine Generalstabsausbildung, zunächst im Stab der 6. Division in Münster, dann 1927 bis 1929 in der Heeresstatistischen Abteilung des Truppenamtes im Reichswehrminsterium. Im Oktober 1934 wurde Piekenbrock als Ia in den Stab des Infanterieführers III nach Liegnitz versetzt und dort nach der Enttarnung der Verbände Mitte Oktober 1935 Ia der 18. Infanterie-Division. Seit Oktober 1936 war er Chef der Abteilung I (Geheimer Meldedienst, zuständig für Auslandsspionage und Nachrichtenbeschaffung) der Abwehr im Stab von Vizeadmiral Wilhelm Canaris im Reichskriegsministerium. Mit der Beurteilung „einwandfreie Einstellung zum Nationalsozialismus“ verabschiedete ihn Canaris am 1. 3. 1943 in ein Truppenkommando.6 Im März 1943 wurde Piekenbrock zum Generalmajor befördert und Kommandeur der 208. Infanterie-Division, die an der Ostfront eingesetzt war. Am 1. März 1944 erfolgte die Beförderung zum Generalleutnant. Seit
6 BA MA Pers. 6/800, Bl. 42.
7.15 Schmidt, Rudolf
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März 1945 war er stellvertretender Kommandierender General des LIX. Armeekorps und zeitweise mit dessen Führung beauftragt. Am 12. 5. 1945 geriet er in der Tschechoslowakei in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Im März 1952 wurde er von einem Militärtribunal als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und im Oktober 1955 entlassen.
7.14 Richter, Gustav (* 19. Dezember 1912 Stadtprozelten; † 5. Juni 1997) Richter gehörte seit April 1932 dem NS-Schülerbund an und trat im Mai 1933 der NSDAP sowie im Dezember 1933 der SS bei. Nach seinem Jurastudium trat er 1934 in den SD ein und war dort ab 1935 im Referat Judentum des SD-Oberabschnitts Südwest in Stuttgart tätig, wo er 1939 Stellvertreter des Abteilungsleiters wurde. Ab 1940 unterstand er dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Mülhausen und war auch zeitweise in Dijon eingesetzt. Von April 1941 bis zum August 1944 war Richter als „Berater für Judenfragen“ und Polizeiattaché bei der deutschen Gesandschaft in Bukarest tätig, zuletzt im Rang eines SS-Sturmbannführers. Seine Aufgabe war die Unterstützung der rumänischen Regierung bei Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung des Landes. Er betrieb die Entrechtung der rumänischen Juden und war an der Ermordung von 250 000 rumänischen Juden beteiligt, auch weil aufgrund seines Einflusses rumänischen Juden die Emigration nach Palästina verwehrt blieb. Nachdem Rumänien durch den Staatsstreich des Königs im August 1944 die Seiten wechselte, wurde Richter am 23. 8. 1944 mit anderen Angehörigen der deutschen Gesandtschaft an die Rote Armee ausgeliefert und in der Sowjetunion interniert. Ende 1951 wurde er als Kriegsverbrecher angeklagt und 1952 von der Sonderversammlung des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR wegen Verbrechen gegen § 1, Absatz 2 des Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, 1955 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen. Er wurde nach einem 1961 eingeleiteten Verfahren unter anderem 1969 vor dem Landgericht Frankenthal aufgrund seiner Verwicklung in die Deportation der rumänischen Juden verhört. Wegen seiner Mitwirkung an der Deportation der rumänischen Juden wurde er vom Landgericht Frankenthal Anfang 1982 zu vier Jahren Haft verurteilt.
7.15 Schmidt, Rudolf (* 12. Mai 1886 Berlin; † 7. April 1957 Krefeld) Der Sohn eines Gymnasialdirektors trat nach dem Abitur 1906 in ein InfanterieRegiment in Kassel ein. Von November 1911 bis September 1912 war er zur Ausbildung in ein Telegraphen-Bataillon kommandiert, und im April 1913 wurde er zur Telegraphentruppe versetzt. Im Ersten Weltkrieg war er als Nachrichtenoffizier tätig,
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7 Kurzbiographien der Vernommenen
zunächst in Fernsprech-Abteilungen an der Ostfront, dann im Herbst und Winter 1915/16 als Adjutant der Telegraphentruppe des Armeeoberkommandos 12 auf dem Balkan und anschließend im Frühjahr 1916 als Leiter der Fernsprech-Abteilung beim Gardekorps an die Westfront. Im Rahmen seiner Generalstabsausbildung von April 1917 bis September 1918 war Schmidt u. a. als Nachrichtenoffizier im Stab des Chefs der Feldtelegraphen im Großen Hauptquartier sowie im Generalstab des XIV. und VII. Reserve-Korps tätig. Anschließend wurde er in den Generalstab der 4. Armee versetzt. Nach dem Krieg wurde Schmidt in die Reichswehr übernommen und war wiederholt im Reichswehrministerium tätig, u. a. als Leiter der Chiffrierstelle der Abwehr-Abteilung des Truppenamtes, Nach Einsätzen bei der Truppe wurde er 1931 Chef des Stabes der Inspektion der Nachrichtentruppen, 1932 Kommandeur der Offiziers-Lehrgänge an der Kriegsakademie, 1934 Kommandeur des 13. Infanterie-Regiments und 1935 Oberquartiermeister II im Generalstab des Heeres. 1937 übernahm er als Generalmajor das Kommando über die 1. Panzer-Division. Schmidts Division nahm 1938 an der Besetzung des Sudetenlandes teil und gehörte 1939 zu den deutschen Verbänden, die Warschau eroberten. 1940 wurde er Kommandierender General des neu aufgestellten XXXIX. Armeekorps, mit dem er Mitte Mai am Angriff im Westen sowie im Juni 1941 am Überfall auf die Sowjetunion teilnahm, zunächst im Raum Smolensk, dann vor Leningrad. Ende 1941 wurde Schmidt mit der Führung der 2. Armee vor Moskau beauftragt, zusätzlich übernahm er ab Januar 1942 als Generaloberst das Oberkommando der 2. Panzerarmee. Kurz darauf gab er die Führung über die 2. Armee wieder ab. Nach wiederholter, teils heftiger Kritik an der Führung des Krieges im Osten durch Hitler wurde Schmidt im April 1943 von seinem Posten abgezogen und im Juli in die Führerreserve versetzt. Ein Prozess vor dem Reichskriegsgericht konnte nur abgewendet werden, indem ein Gutachten Schmidt eine zeitweilig eingeschränkte Willensfreiheit bescheinigte. Im September 1943 wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Seine Versuche, in den Dienst zurück zu gelangen, scheiterten. 1947 wurde Schmidt bei einer Reise in die SBZ verhaftet und in die Sowjetunion überstellt, wo er 1952 von einem Militärtribunal in Moskau als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Erst 1955 erfolgte seine Freilassung in die Bundesrepublik.
7.16 Schörner, Ferdinand (* 12. Juni 1892 München; † 2. Juli 1973 München) Der Sohn eines Polizeioberinspektors diente nach dem Abitur 1911/12 als EinjährigFreiwilliger bei einem Infanterie-Regiment der Bayerischen Armee. Anschließend studierte er Philosophie und neueren Philologie in München, Lausanne und Grenoble. 1914 wurde Schörner zu seinem Infanterie-Regiment reaktiviert, war im Einsatz an der Westfront sowie auf dem Balkan und an der Front gegen Italien, 1918 wechselte er als Oberleutnant von der Reserve zum aktiven Dienst. 1919 gehörte er zum Freikorps Epp und wurde 1920 in die Reichswehr übernommen, wo er von 1923 bis 1926 die
7.17 Schreiber, Walter
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Generalstabsausbildung absolvierte. Nach verschiedenen Truppen- und Stabskommandos war Schörner von 1935 bis 1937 Gruppenleiter für Süd- und Südosteuropa in der Abteilung Fremde Heere im Generalstab. Im Oktober 1937 wurde er Kommandeur des Gebirgsjäger-Regiments 98, mit dem er am Angriff auf Polen und Frankreich teilnahm. Im Mai 1940 wurde er Kommandeur der neu aufgestellten 6. Gebirgsjäger-Division im Einsatz gegen Frankreich, Griechenland und beim Überfall auf die Sowjetunion. Seit Herbst 1941 an der Eismeer-Front eingesetzt, übernahm Schörner Anfang 1942 die Führung des Gebirgskorps Norwegen, des späteren XIX. Gebirgskorps, das er ab Juni 1942 als General der Gebirgstruppen kommandierte. Im Oktober 1943 wurde Schörner Kommandierender General des XXXX. Panzerkorps in der Ukraine und übernahm noch im selben Monat bis zum Frühjahr in einem Brückenkopf die Führung von drei Korps, die zur Armeeabteilung Nikopol zusammengefasst wurden. Von März bis Mai 1944 war Schörner Chef des Nationalsozialistischen Führungsstabs im Oberkommando des Heeres, und von Anfang März bis Juli 1944 Oberbefehlshaber verschiedener Heeresgruppen im Süden der Ostfront. Im Juli 1944 übernahm Schörner das Kommando der Heeresgruppe Nord im Baltikum, im Januar 1945 das der Heeresgruppe A an Weichsel und Oder und ab Ende Januar 1945 das der Heeresgruppe Mitte in Schlesien und im Sudetenland. Am 5. 4. 1945 noch zum Generalfeldmarschall befördert, floh Schörner am 9. 5. 1945 nach Tirol, wo er durch US-amerikanisches Militär verhaftet und an die Sowjetunion ausgeliefert wurde. Dort wurde er im Februar 1952 von einem Moskauer Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und 1955 in die DDR entlassen, von wo er in die Bundesrepublik ausreiste. Hier verurteilte ihn das Landgericht München 1957 wegen Totschlags an zwei deutschen Soldaten zu viereinhalb Jahren Haft, aus der er 1960 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen wurde.
7.17 Schreiber, Walter (* 21. März 1893 Berlin; † 5. September 1970 San Carlos de Bariloche [Argentinien]) Der Sohn eines Postbeamten studierte nach dem Abitur in Berlin Medizin in Berlin, Tübingen und Greifswald. Im Ersten Weltkrieg diente er als Freiwilliger zunächst in einem Infanterie-Regiment, nach einer schweren Verwundung im September 1914 wurde er nach seiner Genesung bis zum Ende des Krieges als Truppenarzt an der Westfront eingesetzt. 1920 wurde Schreiber dann in Greifswald promoviert, anschließend unternahm er epidemiologische Feldstudien in Afrika. Seit 1921 als Militärarzt und seit 1929 auch als Dozent für Hygiene an der Universität Freiburg im Breisgau tätig, diente er im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1940 als Divisionsarzt der 96. Infanterie-Division, dann von 1940 bis 1942 beim Stab Heeresarzt im OKH. Seit 1940 war er auch Dozent für Bakteriologie und Hygiene an der Berliner Universität. Von 1942 bis 1943 diente Schreiber als Chef der Abteilung Wissenschaft und Gesundheitsführung der Heeressanitätsinspektion. In dieser Funktion war Schreiber an Häftlingsversu-
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chen mit Fleckfieber beteiligt. Zum Generalarzt befördert war er von 1943 bis 1945 Professor und Chef der Lehrgruppe C an der Militärärztlichen Akademie in Berlin. Im April 1945 diente er als Festungsarzt von Berlin und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1946 trat er als Zeuge der sowjetischen Anklage gegen NS-Ärzte in Nürnberg auf und wurde schließlich 1948 aus der Sowjetunion in die SBZ entlassen. Noch im gleichen Jahr floh er nach West-Berlin, wo er mit dem US-Geheimdienst CIC kooperierte, der ihn als Arzt in einem Stützpunkt der US-Armee in Oberursel unterbrachte. 1951 wurde Schreiber im Rahmen der Operation „Paperclip“ als Arzt an eine Schule für Flugmedizin auf einem Stützpunkt der US-Armee nach Texas verbracht. 1952 emigrierte Schreiber nach Presseberichten über seine Vergangenheit schließlich auf Drängen des Direktors der Joint Intelligence Objectives Agency nach Argentinien.
7.18 Stahel, Rainer (* 15. Januar 1892 Bielefeld; † 30. November 1955 Lager Woikowo [Sowjetunion]) Nach dem Abitur 1911 trat Stahel in ein Infanterie-Regiment des Preußischen Heeres ein. Im Ersten Weltkrieges war er als Zugführer zunächst an der Westfront, Ende Mai 1916 wurde Stahel als Chef einer Maschinengewehr-Kompanie in das 27. Königlich Preußische Jäger-Bataillon (Finnische Jäger) an die Ostfront in Lettland versetzt. Im Finnischen Bürgerkrieg Anfang 1918 wurde er mit seiner Kompanie nach Finnland verlegt und wechselte im Frühjahr als Hauptmann und Bataillonskommandeur in die Weiße Finnische Armee. Im Sommer 1918 wurde er zum Stabschef der 1. Division, Anfang September zum Kommandeur des Infanterieregiments Helsingfors ernannt. Nach seinem Abschied aus der finnischen Armee als Oberstleutnant im November 1919 wechselte Stahel zur Finnischen Grenzschutzpolizei, wo er als Kommandeur eines Schutzkorps an der Südwestküste Finnlands eingesetzt war. Anfang 1934 trat Stahel als Landesschutzoffizier in die Reichswehr ein. Als Hauptmann war er zunächst Referent im Heereswaffenamt des Reichswehrministeriums in Berlin. Im Juni 1935 wechselte er zur Luftwaffe und war im Reichsluftfahrtministerium an der Entwicklung der Flakartillerie beteiligt. Seit 1938 war Stahel Batteriechef, seit 1939 dann Kommandeur in verschiedenen der neuen Flak-Abteilungen der Wehrmacht. Im Sommer 1940 wurde er als Luftwaffen-Kontrolloffizier zur Kontrollkommission I in den unbesetzten Teil Frankreichs versetzt. Seit März 1941 war Stahel Kommandeur des neuen Flak-Regiments 34, das beim Überfall auf die Sowjetunion eingesetzt wurde. Im April 1942 wurde er Kommandeur des Flak-Regiments 99 im Süden der Ostfront und war dann im Sommer und Herbst des Jahres mit der Aufstellung und Ausbildung der 4. Luftwaffen-Felddivision betraut. Im Winter 1942/43 führte Stahel dann eine Luftwaffen-Kampfgruppe im Süden der Ostfront nahe Stalingrad. Anfang 1943 wurde er zum Generalmajor befördert und Ende Mai 1943 zum Kommandeur der neuen 22. Flak-Brigade in Italien ernannt. Im Herbst 1943 war Stahel Kommandant von Rom, dann Führer des Sonderstabs Stahel, Anfang Juli 1944 Kommandant
7.20 Warlimont, Walter
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des Festen Platzes Wilna, und Ende Juli 1944 als Generalleutnant für einen Monat Stadtkommandant von Warschau, wo er den Beginn des brutal niedergeschlagenen Warschauer Aufstandes erlebte. Ende August 1944 wurde Stahel nach dem Staatsstreich des rumänischen Königs und dem Seitenwechsel Rumäniens für kurze Zeit Kampfkommandant von Bukarest, wo er in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Im August 1951 vom Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR als Kriegsverbrecher festgenommen und im Februar 1952 vom Militärtribunal der Truppen des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR zu 25 Jahren Gefängnishaft verurteilt. Am 30. 11. 1955 im Sondergefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR verstorben.
7.19 Stolze, Erwin (*6. Dezember 1891 Charlottenburg; † 26. März 1952 Moskau [hingerichtet]) Der Sohn eines Universitätsprofessors machte sein Abitur in Berlin und nahm ein Studium der Naturwissenschaften auf. 1911 diente er als Einjährig Freiwilliger und leistete ab 1914 Kriegsdienst bei der Feldartillerie. 1915/16 an der Ostfront eingesetzt, wechselte er auf eigenen Wunsch 1916 an die Westfront. Im September 1918 wurde Stolze verschüttet, wobei er schwere Schädelverletzungen erlitt. Nach seiner Genesung nahm er 1919 an der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes in Berlin als Gerichtsoffizier teil. Ab dem Herbstsemester 1919 studierte er Nationalökonomie und Handelswissenschaften in Berlin. 1923 erhielt er eine Stelle in der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums. 1933 wurde er mit dem Dienstgrad eines Leutnants reaktiviert, 1935 zum Hauptmann und 1938 zum Major befördert. Seit 1939 war er stellvertretender Leiter der Abteilung II (Sabotage und Sonderdienste) im Amt Abwehr/ Ausland des OKW und Leiter der Abwehrstelle Berlin, seit Mai 1944 auch Leiter der Abwehrstelle Brüssel. 1945 geriet Stolze als Oberst in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde im Januar 1952 in Moskau zum Tode verurteilt und im März hingerichtet.
7.20 Warlimont, Walter (* 3. Oktober 1894 Osnabrück; † 9. Oktober 1976 Kreuth [Oberbayern]) Der Sohn eines Buchhändlers trat nach dem Abitur 1913 in ein Artillerie-Regiment des Preußischen Heeres ein. Im Ersten Weltkrieg war er u. a. als Adjutant und Batterieführer an der Westfront und in Italien eingesetzt. Nach dem Krieg diente er in einem Freikorps, bevor er 1919 in die Reichswehr übernommen wurde. Seit 1925 Generalstabsausbildung, u. a. im Reichswehrministerium als 2. Adjutant beim Chef des Truppenamtes, in der Wehrwirtschaftlichen Abteilung sowie in der Abteilung Fremde Heere. 1929 war Warlimont für ein Jahr als Beobachter zur US-Armee kommandiert, um die Methoden der wirtschaftlichen Mobilmachung zu studieren. Seit 1933 diente er erneut im Reichswehrministerium und war dort seit 1934 Chef der Wirt-
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schaftsabteilung. Nach Truppenkommandos wurde er 1936/37 Bevollmächtigter des Reichskriegsministers bei General Franco im Spanischen Bürgerkrieg. Seit Mitte der 1930er Jahre unternahm Warlimont zahlreiche weitere offizielle Reisen nach Belgien, in die Niederlande, nach Frankreich und Großbritannien. 1937 bis 1938 hatte er Truppenkommandos in Trier und Düsseldorf. Seit November 1938 war Warlimont Chef der Abteilung Landesverteidigung im Wehrmachtführungsamt (seit 1940: Wehrmachtführungsstab) und war als solcher ständiger Vertreter des Amtschefs Alfred Jodl. Er war an der Ausarbeitung der Pläne für den Überfall auf die Sowjetunion beteiligt, ebenso an der Formulierung der damit verbundenen mörderischen Befehle. Seit Dezember 1941 war Warlimont offiziell stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes. Nach dem Attentat vom 20. 7. 1944, bei dem er verletzt worden war, verschlechterten sich Warlimonts Gesundheit und Gemütszustand angesichts der sich abzeichnenden Niederlage zusehends. Anfang September wurde er beurlaubt und Mitte November 1944 als General der Artillerie zur Führerreserve versetzt. Seit Mai 1945 war er in alliierter Haft und wurde 1948 im Nürnberger OKW-Prozess wegen Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt, 1951 zu 18 Jahren Gefängnis begnadigt und bereits 1957 entlassen.
7.21 Weidling, Helmuth (* 2. November 1891 Halberstadt; † 17. November 1955 Lager Wladimirowka [Sowjetunion]) Nach dem Abitur 1911 trat Weidling in ein Artillerie-Regiment des Preußischen Heeres in Breslau ein. 1912 wurde er Leutnant im Luftschiffer-Bataillon Nr. 1 in Berlin-Tegel. Während des Ersten Weltkrieges war er Wachoffizier, dann Kommandant verschiedener Zeppeline, 1917 diente er im Stab des Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte und nach Einstellung der Heeresluftschifffahrt als Artillerieoffizier in seinem Stammregiment. 1919 wurde Weidling in die Reichswehr übernommen und durchlief verschiedene Truppen- und Stabsverwendungen in der Artillerie und Infanterie. Im November 1938 wurde er als Oberst Kommandeur des Artillerieregiments 56, mit dem er 1939 am Überfall auf Polen teilnahm. Im April 1940 wurde Weidling zum Artilleriekommandeur 128 beim XXXX. Panzerkorps ernannt, mit dem er am Angriff auf Frankreich und am Überfall auf die Sowjetunion teilnahm. Anfang 1942 wurde er Kommandeur der 86. Infanterie-Division. Im Oktober 1943 wurde er Kommandierender General des XXXXI. Panzerkorps, das im Sommer und Herbst 1944 bis an die Weichsel zurückgeworfen und weitgehend vernichtet wurde. Im April 1945 wurde Weidling Kommandierender General des LVI. Panzerkorps und Kampfkommandant von Berlin. In dieser Funktion übergab der General der Artillerie am 2. 5. 1945 Berlin an die Rote Armee und befand sich seit dem 3. 5. 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Im Februar 1952 verurteilte ihn ein Moskauer Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager. Weidling starb 1955 in sowjetischer Haft.
7.22 Westerburg, Gerhard
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7.22 Westerburg, Gerhard (* 4. Februar 1896 Oberursel; † ?) Nach dem Abitur trat der Sohn eines Pfarrers 1916 in ein Jägerbataillon ein und wurde nach kurzer Ausbildung bei den Stellungskämpfen in den Karpaten eingesetzt. Nach der Ausbildung als Fahnenjunker folgte der Einsatz an der Westfront, wo er im September 1918 in britische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach seiner Rückkehr im Oktober 1919 absolvierte Westerburg eine Ausbildung zum Apotheker, die er 1924 mit der pharmazeutischen Staatsprüfung abschloss. 1928 wurde er an der Universität Marburg als Chemiker promoviert und 1932 dort Oberassistent. Westerburg engagierte sich im „Stahlhelm“ als Referent für Gas- und Luftschutz und wurde nach dessen Auflösung 1933 in die SA als Obersturmführer überführt. 1934 wurde Westerburg in der Reichswehr reaktiviert und nach weiterer Ausbildung zum Kommandeur einer Nebeltruppenbatterie ernannt. 1940 wurde er Lehrer an der Nebeltruppenschule und kam dann zum Heereswaffenamt in die Abteilung Wa Prüf 9 (Gasschutz). 1942 wurde er zum Oberstleutnant befördert und kam im August 1942 erneut zur Nebeltruppenschule Celle, wurde dann Abteilungschef im Werfer-Regiment 51 und geriet am 22. 1. 1943 in Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
Abkürzungsverzeichnis Ia Erster Generalstabsoffizier, Leiter der Abteilung Führung und Ausbildung Ic Dritter Generalstabsoffizier, Leiter der Abteilung Feindlage und Abwehr IVa Stabsintendant, Versorgungsoffizier A4 Aggregat 4, ballistische Boden-Boden-Rakete der Wehrmacht Abt. Abteilung AHA Allgemeines Heeresamt (des OKH) AK Armia Krajowa – Heimatarmee (der polnischen Exilregierung) Aktion T4 Aktion Tiergartenstraße 4 – benannt nach dem Sitz der Zentraldienststelle zur Organisierung des Massenmordes an Kranken und Behinderten von 1939 bis 1941 AOK Armeeoberkommando BA Bundesarchiv BA MA Bundesarchiv Militärarchiv (in Freiburg im Breisgau) BdO Befehlshaber der Ordnungspolizei BdS Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD BdU Befehlshaber der Unterseeboote Bl. Blatt BND Bundesnachrichtendienst CA FSB Сentral’nyj archiv FSB – Zentralarchiv des FSB CAMO Central’nyj Archiv Ministerstva Oborony – Zentralarchiv des (Russischen) Verteidigungsministeriums (in Podolsk) CIC Counter Intelligence Corps – Spionage-Abwehr-Abteilung (der US-Armee) d. R. der Reserve Degea Deutsche Gasglühgesellschaft-Aktiengesellschaft Degussa Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt DNB Deutsches Nachrichtenbüro DNVP Deutschnationale Volkspartei Fi 156 Leichtbauflugzeug der Gerhard-Fieseler-Werke, genannt „Storch“ Flak Flugabwehrkanone FSB Federal’naja služba bezopasnosti – Föderaler Sicherheitsdienst (der Russischen Föderation) GARF Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii – Staatsarchiv der Russischen Föderation GFP Geheime Feldpolizei GKO Gosudarstvennyj komitet oborony – Staatliches Komitee für Verteidigung Grf. Gruppenführer (der SS) GRU Glavnoe razvedyvatel’noe upravlenie – Hauptverwaltung Aufklärung (der Roten Armee) GUBB Glavnoe upravlenie po bor’be s banditizmom – Hauptverwaltung zum Kampf gegen das Banditentum (des NKWD/NKGB) GUKR Glavnoe upravlenie kontrrasvedki – Hauptverwaltung Abwehr (der Roten Armee) Hiag Holzverkohlungs-Industrie AG HMS His Majesty’s ship – Schiff seiner Majestät (der Königlichen Flotte Großbritanniens) HSSPF Höherer SS- und Polizeiführer HWA Heereswaffenamt (der Wehrmacht) i. G. im Generalstab IG Interessengemeinschaft (Farbenindustrie AG)
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Abkürzungsverzeichnis
Inostrannyj Otdel – Auslandsabteilung (des NKWD/NKGB) INO Irgun Irgun Tzwa’i Le’umi – Nationale Militärorganisation (der Zionistischen Revisionisten) Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD KdS Kommandeur der Ordnungspolizei KdO Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti – Komitee für Staatssicherheit KGB Kommandant rückwärtiges Armeegebiet Korück Kommunistische Partei Deutschlands KPD k. u. k. kaiserlich und königlich (Institutionen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie) Kaiser-Wilhelm-Institut KWI Konzentrationslager KZ Strahlgetriebener Jagdbomber der Messerschmitt AG Me-262 Maschinengewehr MG MG 42 Maschinengewehr-Modell, das 1942 in der Wehrmacht eingeführt wurde MGB Ministerstvo gosudarstvennoj bezpasnosti – Ministerium für Staatssicherheit (der UdSSR) MVD Ministerstvo vnutrennych del – Ministerium für Innere Angelegenheiten (der UdSSR) Mossad HaMosad leModi’in uleTafkidim Mejuchadim – Institut für Aufklärung und Sonderaufgaben (Auslandsgeheimdienst des Staates Israel) motorisiert mot. North Atlantic Treaty Organization – Nordatlantikpaktorganisation NATO NKGB Narodnyj komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti – Volkskommissariat für Staatssicherheit (der UdSSR) NKWD (NKVD) Narodnyj komissariat vnutrennych del – Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (der UdSSR) Nationalsozialismus, nationalsozialistisch NS Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund NSD-Ärztebund Organisation Consul OC OGPU Ob’edinennoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie – Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung Oberkommando des Heeres OKH OKM Oberkommando der Marine Oberkommando der Wehrmacht OKW OUN Organizacija ukrajins’kych nacionalistiv – Organisation Ukrainischer Nationalisten Personal Pers. PIAT Projector, Infantry, Anti Tank – (britischer) Infanterie-Ladungswerfer zur Panzerbekämpfung Rakete 4 kg Minenkopf R4M RFSS Reichsführer SS RGVA Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv – Russisches Staatliches Militärarchiv Smersch (Smerš) Smert‘ špionam – Tod den Spionen (alternative Abkürzung für GUKR) RSFSR Rossijskaja Socialističeskaja Federativnaja Sovetskaja Respublika – Russländische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Reichssicherheitshauptamt RSHA Sturmabteilung (der NSDAP) SA
Abkürzungsverzeichnis
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SBZ Sowjetische Besatzungszone SD Sicherheitsdienst (der SS) Skl. Seekriegsleitung SHAEF Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force – Hauptquartier der alliierten Expeditionsstreitkraft SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SS Schutzstaffel (der NSDAP) SSPF SS- und Polizeiführer SSR Socialističeskaja Sovetskaja Respublika – Sozialistische Sowjetrepublik TH Technische Hochschule U-Boot Unterseeboot UdSSR (SSSR) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Sojuz Sozialističkich Sovetskich Respubliki) UPK Ugolovno-processual’nyj kodeks – Strafprozessordnung (der RSFSR) US United States – Vereinigte Staaten (von Amerika) V2 Vergeltungswaffe 2, propagandistischer Name der Rakete A4 VČK Vserossijskaja črezvičainaja komisija – Allrussische Außerordentliche Kommission (zum Kampf mit Konterrevolution und Sabotage) VKP(b) Vsesojuznaja kommunističeskaja partia bol’ševikov – Kommunistische Allunionspartei der Bolschewiken Wa Prüf Waffenprüfabteilung (des HWA) WTB Wolffs Telegraphisches Bureau WVHA SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt z. b. V. zur besonderen Verwendung ZK Zentralkomitee
Literatur (Auswahl) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
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Register A
Abakumov, Viktor S. 5, 6, 14, 17, 355 Achamer-Pifrader, Humbert 351, 356, 357, 363 Adelmann von Adelmannsfelden, Rüdiger Graf 289 Afanasʼev, M. V. 317, 327, 328, 330 Afanasʼev, Nikolai P. 17 Agricola, Kurt 277 Akmens, J. K. 247 Angelis, Maximilian de 306, 314, 315, 325, 329 Antonescu, Ion 110, 112, 169, 374, 375, 378, 379 Antonescu, Mihai 374, 378, 379 Antonov, Aleksej I. 40, 43, 381, 395 Arps, Theodor 60 Artjuchov, Nikolaj I. 316, 329, 330, 331 Aschmoneit, Christoph 73
B
Baatz, Bernhard 358 Bachl, Eduard 354 Bach-Zelewski, Erich von dem 222, 223 Backe, Herbert 119 Balck, Hermann 56 Balfour, Arthur James 370 Bandera, Stepan 154 Bangerskis, Rudolfs 362, 369 Baumbach, Norbert von 59, 60 Baun, Hermann 147 Behring, Emil von 411 Below, Nicolaus von 30, 138, 209, 210, 211, 214, 216, 227 Bentivegni, Franz Eccard von 23, 159, 315, 433 Berija, Lavrentij P. 4, 17, 40, 43, 47, 48, 381, 395, 406 Berndt 305 Bernhard, Friedrich-Gustav 274, 275, 277, 279 Bertolius 51 Bezymenskij, Lev A. 49, 78, 95, 121, 133, 139, 143 Blaschek, Fritz 366 Blaskowitz, Johannes 52, 150 Blass 305 Blobel, Paul 354, 355 Blomberg, Werner von 18, 119, 135 Blome, Kurt 413, 414
Bock, Fedor von 161, 272, 273 Bodenschatz, Karl-Heinrich 138, 215 Boetticher, Friedrich von 53 Böhme, Horst 380 Bomhard, Adolf von 254 Borgmann, Heinrich 138 Bormann, Martin 54, 55, 63, 64, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 91, 93, 123, 124, 176, 180, 182, 239, 282 Bouhler, Philipp 93 Braemer, Walter 246, 255 Brandenberger, Erich 271 Brandes 305 Brandt, Heinz 137 Brauchitsch, Walther von 26, 101, 107, 108, 118, 157, 160, 162, 166, 192, 193, 195, 197, 207 Braune, Fritz 372 Braun, Eva 120, 180, 215 Braun, Max 289, 315, 325, 329 Briesen, Kurt von 118 Brunner, Joseph 263, 367 Bubnov 159 Buhle, Walter 138, 171 Bulganin, Nikolaj A. 395 Büll 423 Buraschnikow, Nikolaj N. 156 Burgdorf, Wilhelm 174, 176, 177 Bürkner, Leopold 53, 158 Busch 262 Busse, Theodor 63, 175
C
Canaris, Wilhelm 31, 87, 88, 116, 117, 127, 145, 146, 147, 155, 157, 158, 159, 442 Čertkov, Dimitrij D. 316, 328, 329, 331 Chevallerie, Bernhard von der 314, 315, 324, 329 Chinschuk, Lev M. 427 Chołodowska, Leokadia 286 Churchill, Winston 1, 91, 384 Coga, Octavian 375 Conti, Leonardo 416 Cramer, Bernhard 417 Cuza, Alexandru 375
462
Register
D
Dankers, Oskars 362 Dargel, Paul 261 Dietl, Eduard 150, 151, 171 Dietrich, Fritz 253 Dietrich, Josef 233 Dietrich, Otto 282 Ding-Schuler, Erwin 414, 415 Dirlewanger, Oskar 36, 224 Dixon 430 Dmitriev, Leonid D. 333 Dönitz, Karl 47, 52, 53, 55, 78, 123, 321, 324, 434, 438, 439 Dornberger, Walter 423 Dufving, Theodor von 13, 14
E
Ebert, Ludwig 400, 420, 421 Egorova 167, 168, 170 Eichmann, Adolf 344, 345, 346, 373, 378, 379 Eisenhower, Dwight D. 48
F
Fegelein, Hermann 138, 171, 215 Fischer, Ludwig 227, 228, 229 Fischer-Treuenfeld, Karl von 240, 321 Flick, Karl 257 Flury, Ferdinand 400, 421 Forster, Albert 89 Frank, Bernhard 54, 82 Frenkina 49, 78, 95, 121, 133, 139, 143 Frick, Wilhelm 238 Fritsch, Werner von 118 Frumkin, Naum S. 49, 78, 95, 120, 132, 139, 143 Fuchs, Wilhelm 247, 351, 354, 357, 363 Funck, Hans von 162
G
Gabel 405 Galland, Adolf 2 Gaulle, Charles de 11, 384 Gavriljak, Michail I. 290, 299, 301, 307, 311, 316 Gebhardt, Karl 416 Gehlen, Reinhard 128 Geibel, Paul 228 Gerstenberg, Alfred 284, 285, 289
Gildemeister, Eugen 414 Gille, Herbert 225 Gingold, Nandor 376 Ginsch, Andreas 313, 315, 324, 325 Goebbels, Joseph 64, 86, 119, 120, 123, 124, 176, 177, 180, 182, 238, 341, 383 Goljakov, Ivan T. 17 Göring, Hermann 23, 29, 30, 33, 47, 49, 50, 51, 52, 54, 55, 56, 67, 95, 104, 124, 128, 138, 144, 172, 175, 178, 215, 238, 263, 282, 341, 343, 345, 346, 351, 364, 373, 412, 417, 418, 419, 436 Gorkin, Aleksandr F. 334 Gottberg, Curt von 354 Govorov, Leonid A. 140 Grabowska, Stanisława 286 Graevenitz, Hans von 415, 416 Gräser, Fritz-Hubert 56 Graziani, Rodolfo 213 Greim, Robert Ritter von 104, 178 Greiser, Arthur 90 Grosbergs, Janis 245 Grünberg-Willman, Matias 370 Grynszpan, Herschel 341 Guderian, Heinz 108, 114, 131, 161, 163, 164, 165, 184, 217, 227, 273, 284, 427, 428 Gyr, Karl 377
H
Halder, Franz 3, 26, 83, 107, 111, 138, 157, 166, 193, 282, 397, 419 Hamann, Adolf 277, 281 Handloser, Siegfried 413, 414 Hansen, Erik 23, 170, 295, 436 Hansen, Georg Alexander 127 Harpe, Josef 164, 166, 271, 310 Heinrichs, Axel Erik 99, 115 Heinrici, Gotthard 123 Herf, Eberhard 243, 265 Heß, Rudolf 238, 312 Heusinger, Adolf 138 Hewel, Walter 171, 176, 177, 215 Heydrich, Reinhard 18, 60, 238, 341, 345, 346, 350, 351, 356, 361, 373 Hildebrandt 400 Hildebrandt, Friedrich 89 Himmler, Heinrich 24, 65, 66, 85, 86, 87, 91, 92, 94, 113, 117, 118, 120, 124, 131, 148,
Register
149, 215, 222, 233, 234, 235, 236, 237, 239, 240, 242, 243, 244, 262, 265, 266, 310, 347, 348, 350, 351, 354, 355, 356, 363, 364, 365, 380, 407, 414, 416, 419, 429 Hirsch, Walter 398, 412, 419, 420 Hitler, Adolf 2, 3, 8, 15, 18, 23, 24, 25, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 40, 41, 47, 52, 53, 54, 55, 57, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 92, 94, 95, 96, 97, 98, 101, 102, 103, 104, 107, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 134, 135, 136, 137, 138, 140, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 151, 156, 157, 158, 160, 161, 162, 164, 166, 168, 171, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 180, 181, 184, 185, 186, 188, 189, 192, 195, 197, 198, 199, 202, 204, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 222, 227, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 242, 243, 246, 247, 248, 265, 266, 267, 271, 273, 276, 277, 281, 282, 283, 285, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 296, 302, 303, 308, 309, 310, 312, 313, 314, 315, 319, 320, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 336, 346, 354, 364, 365, 373, 383, 384, 387, 388, 389, 396, 397, 407, 408, 409, 412, 415, 418, 419, 426, 428, 434, 435, 436, 438, 439, 440, 444 Hoffmann 278 Hoffmann, Ch. 399, 421 Hoffmann, Eduard 186 Hoffmeister, Edmund 179 Holzlöhner, Ernst 417 Hoth, Hermann 161, 163, 164, 165, 166 Hube, Hans-Valentin 173
J
Jaenecke, Erwin 305, 306 Jäger, Karl 353, 358 Jeckeln, Friedrich 17, 18, 19, 37, 38, 41, 45, 46, 238, 245, 251, 256, 260, 263, 267, 270, 365, 369, 437 Jedicke, Georg 241, 242 Jenetzky, Friedrich-Wilhelm 262 Jeschonnek, Hans 210, 211, 213, 215 Jodl, Alfred 24, 26, 29, 34, 52, 53, 54, 55, 62, 67, 102, 103, 118, 132, 133, 134, 135, 136,
463
137, 145, 147, 154, 156, 166, 171, 172, 215, 217, 282, 324, 438, 448 Johannmeyer, Willy 177 Jonas, Hans 259, 260, 261, 262, 267 Jost, Heinz 351, 356, 357 Jusatz, Helmut 416 Jüttner, Hans 282
K
Kaltenbrunner, Ernst 238, 356, 361, 380 Kaminski, Bronislav Vladislavovič 36, 224, 230 Kammler, Hans 364 Kämpfe, Rudolf 273 Kanitz, Hans Graf von 398, 420 Kaplan 367 Karlin, Veniamin Z. 268 Kartaschow, Sergej N. 232 Kaufmann, Karl 68 Kaulinsch, J. J. 248 Keitel, Wilhelm 8, 23, 24, 26, 27, 28, 29, 32, 47, 49, 50, 52, 53, 54, 55, 62, 67, 120, 122, 123, 124, 127, 133, 134, 135, 136, 137, 145, 154, 155, 156, 158, 159, 166, 171, 172, 213, 215, 216, 235, 276, 282, 285, 294, 319, 397, 410, 412, 418, 419, 438, 439 Kempf, Werner 246, 272, 279, 303 Kesselring, Albert 52, 93, 144, 212, 440 Kewrell, B. I. 249 Killinger, Manfred von 378, 379 Kinzel, Eberhard 146 Kirchenstein 368 Kitaev, Dimitrij I. 302, 308, 311 Kitzinger, Karl 173 Klaus, Edgar 31 Kleinbergs, Alberts 245 Kleist, Ewald von 16, 20, 25, 26, 27, 31, 32, 46, 205, 206, 208, 301, 307, 315, 325, 326, 329, 331, 335, 441 Kleist, Peter 31 Klepsch, Johann 242 Kliewe, Heinrich 411, 412 Kluge, Günther von 111, 281 Knecht, Karl 349 Kobulov, Amajak S. 17 Koch, Erich 152, 227, 235, 239, 257, 259, 260, 261, 262, 267, 368 Koch, Robert 410, 411 Koller, Karl 81
464
Register
Komorowski, Tadeusz 223 Konrad, Rudolf 122 Kopeljanskij, Danil G. 156, 217, 233 Koppe, Wilhelm 228 Körner, Paul 93 Korotkov, Aleksandr M. 48, 50 Korten, Günther 215 Krause, Kurt 248, 249 Krebs, Hans 62, 103, 123, 174, 175, 176, 180, 182 Kreipe, Werner 171 Krüger, Walter 143, 368, 369 Kruglov, Sergej N. 17 Kube, Wilhelm 239 Kubiliunas, Petras 362 Küchler, Georg von 243, 244 Kühl, Bernhard 90 Kuhn, Richard 399, 421 Kuprischtschenko 255 Kurowski, Eberhard von 40, 389, 441 Kušč, Lidija M. 208, 295, 299 Kuzmischin, Aleksandr N. 159
L
Lahousen, Erwin von 146, 147, 153, 154, 155, 156, 158 Lammers, Hans Heinrich 81, 117, 118 Lange, Rudolf 349, 351, 352, 353, 357 Lapschin 287 Lasch, Otto 56 Lecca, Radu 374, 375, 376, 378, 379 Leeb, Emil 2, 397, 419 Leeb, Wilhelm von 166 Leidermann 370, 371 Leister, Erwin 397, 419 Ley, Robert 86, 238 Liertz, Heinrich 309 Lindemann, Georg 52, 143, 293, 442 Lisovec 297, 299 Lisso, Johannes 185 List, Maximilian 366 List, Wilhelm 121, 169, 197, 198 Ljew 366 Loerzer, Bruno 93 Löhr, Alexander 56 Lohse, Hinrich 239, 246, 262, 267, 347, 348, 349, 354 Lotter, Karl 185
Lubbe, Marinus van der 92 Lüdde-Neurath, Walter 53
M
Mach, Alexander 346 Mackensen, Eberhard von 303 Mäe, Hjalmar 362 Makeev 295, 297, 299 Malinin, Michail S. 49, 56 Mannerheim, Carl Gustav 99, 115, 116 Manstein, Erich von 110, 112, 173, 201, 204, 212, 216, 293, 294 Mantel, Hans 415 Marin 400, 421 Martinowski, Nikolaj A. 248 Maslennikov 295 Matthiessen, Martin 257, 261, 266 McKasski 51 Meckel, Hans 71 Meija, Osvalds 244 Meindl, Eugen 271 Melichov 183, 187 Melnyk, Andrij 154 Merkulov, Vsevolod N. 5, 6 Metz, Hermann 272 Meyer, Alfred 266 Meyer-Detring, Wilhelm 322 Mihailović, Dragoljub 202 Milch, Erhard 83 Model, Walter 112, 175, 179, 281, 292, 296, 320, 323, 408 Mohnke, Wilhelm 310 Möller, Hinrich 352, 353 Molotov, Vjačeslav M. 25, 40, 43, 47, 97, 395, 406 Monczka, Bronisława 286 Morell, Theodor 176 Moyzisch, Ludwig Carl 371 Müllenheim 400, 421 Mussolini, Benito 31, 85, 99, 100, 192, 213
N
Natzmer, Oldwig von 322 Naumann, Werner 176 Nehring, Walther 56 Neitzel, Hasso 280 Nobbe, Paul 423
Register
O
Ochsner, Hermann 397, 402, 419 Oelfken, Heinrich 73 Ohnesorge, Wilhelm 119 Ondraza, Herbert von 277 Osis, Roberts 244, 349 Oster, Hans 158
P
Pălăngeanu, Nicolae 377 Pancke, Günther 142, 143 Panitschew, Valentin N. 337 Pannier, Rudolf 369 Panzinger, Friedrich 248, 356, 357 Pariani, Alberto 149 Patow 299 Paulus, Ernst Alexander 185 Paulus, Friedrich 122, 160, 179, 185, 325, 427 Pawel, Bronislaw 246, 249, 254, 255 Peel, William 370 Piekenbrock, Hans 23, 24, 148, 158, 443 Plett 366 Poljakova 251 Potapova, Maria A. 148, 206, 317, 430 Potaschew, Aleksej I. 48, 49, 50, 51, 55, 56, 78, 95, 120, 132, 139, 143, 144 Potašev, Aleksej I. 50 Prützmann, Hans-Adolf 125, 348, 352 Puttkamer, Karl-Jesko von 137, 215
R
Radowitz, Joseph von 185 Raeder, Erich 2, 419 Rath, Ernst vom 341 Rattenhuber, Johann 310 Reichel, Joachim 109 Reichenau, Walter von 8, 18, 118, 191, 303 Reinecke, Hermann 37, 412, 413 Reinhardt, Georg-Hans 161, 163, 243, 281, 282 Rendulic, Lothar 114, 116, 119 Reymann, Hellmuth 180 Ribbentrop, Joachim von 31, 50, 94, 99, 102, 115, 171, 176, 177, 215, 285 Richter, Gustav 19, 20, 39, 45, 344, 346, 371, 380, 443 Richters, Claus Eduard 412 Richthofen, Wolfram von 93, 209, 212, 284
465
Ritgen, Hermann von 375 Rittler, Willy 423 Roatta, Mario 149 Rodde, Wilhelm 315, 325, 329 Röhm, Ernst 18, 134, 237, 312 Rohr, Günther 228 Rosenberg, Alfred 94, 117, 141, 238, 261, 262, 266, 267, 375 Rosenberg, Wilhelm von 229 Rudolf, Friedrich 156 Ruff, Siegfried 38, 256, 257, 258, 259, 260, 269, 368 Rundstedt, Gerd von 26, 188, 189, 194, 207, 234, 302, 303 Ruoff, Richard 304 Ryčkov, Nikolai M. 17 Ryti, Risto 115, 116
S
Sack, Karl 185 Sandberger, Martin 358 Sauckel, Fritz 93, 280 Schaukauskas, M. A. 255 Schellenberg, Walter 87, 88 Schenkendorff, Max von 275 Scherff, Walter 125, 138, 171, 213, 215 Schieber 371 Schiegler, Leo 423, 425 Schikarski, Otto 281 Schilowa 283 Schimana, Walter 240 Schindler, Max 232 Schmalschläger, Heinz 147 Schmidt-Brücken, Wolfgang 412 Schmidt, Hans-Thilo 185, 186 Schmidt, Rudolf 21, 26, 36, 37, 38, 167, 187, 283, 310, 430, 444 Schmidt, Siegfried 400, 401, 421 Schmundt, Rudolf 137, 171, 212, 213, 282, 283 Schneider 400, 421 Schobert, Eugen Ritter von 293, 294 Schörner, Ferdinand 15, 16, 21, 24, 32, 33, 34, 56, 119, 153, 178, 258, 259, 260, 261, 262, 289, 306, 310, 316, 327, 333, 334, 408, 409, 445 Schrader, Gerhard 422 Schreiber, Walter 39, 40, 42, 418, 446 Schröder, Walther 352, 353
466
Register
Schulz, Otto 60, 61 Schumann, Erich 411, 412, 413 Schwede-Coburg, Franz 89 Schwerin von Krosigk, Lutz Graf 64, 65, 118 Schwernik, Nikolaj M. 334 Selle, Gerhard 397, 419 Selzner, Nikolaus 152 Senin, A. P. 316, 328, 329, 330, 331 Serov, Ivan A. 47, 52, 57 Seydlitz-Kurzbach, Walther von 94 Seyß-Inquart, Arthur 64 Smirnickij, Vladimir M. 167 Smyslov, Aleksandr M. 49 Sodenstern, Georg von 189 Solovov, Boris A. 206, 344, 346, 371, 380 Speer, Albert 32, 65, 199, 364, 419 Sperrle, Hugo 93 Stahel, Rainer 20, 30, 31, 35, 36, 37, 38, 41, 217, 226, 232, 287, 290, 447 Stahlecker, Franz Walter 349, 352, 353, 357 Stalin, Iosif V. 4, 14, 19, 22, 23, 39, 40, 41, 43, 45, 79, 94, 97, 98, 173, 202, 381, 395, 406, 426, 427, 430 Stantien, Kurt 399, 411, 412, 413, 421, 423 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 54, 137, 138, 216 Stesnova, Anna L. 332 Stolze, Erwin 23, 156, 447 Strauch, Eduard 240, 353 Strauß, Adolf 161 Strauss, Gerhard 400, 421 Strong, Kenneth 48, 49, 50, 51, 56 Stumme, Georg 152, 153, 297 Stumpff, Horst 163 Stürtz, Emil 90 Sukow 260 Suur 239, 245, 251, 256, 260, 263, 264, 267, 347, 355, 356, 365 Sverčuk, Jakov 148 Swoboda, Fritz 45 Szymonski, Gerhard von 216
T
Tabacinic, Gherş 377 Terboven, Josef 93 Thälmann, Ernst 91, 92 Theißen, Edgar 396 Thierack, Otto Georg 119
Tippelskirch, Kurt von 146 Tito, Josip Broz 25, 202 Torgler, Ernst 92 Tschammer und Osten, Eckart Hans von 242
U
Ustinov, Dimitrij F. 43
V
Vilde, Janis 258 Virchow, Rudolf 411 Vogel 251, 256, 263, 267, 369 Volkov 208 Vormann, Nikolaus von 229, 435 Voß, Hans-Erich 138, 215
W
Wagner, Eduard 8, 415 Wagner, Gerhard 53 Wagner, Gustav 399, 402, 403, 404, 421, 422, 423, 425 Waindorf, Abram I. 167, 283 Walter, Paul 416 Waluś, Augustyn Tadeusz 286 Warlimont, Walter 23, 24, 34, 35, 52, 54, 125, 138, 147, 154, 155, 156, 158, 215, 448 Weber 299 Wedel, Hasso von 156 Weichs, Maximilian von 109, 198, 271, 274 Weidling, Helmuth 13, 14, 16, 17, 41, 42, 182, 293, 297, 299, 311, 332, 337, 448 Weinberg, Karl 404 Weinzierl 423 Weips, Georg 305 Weise 252 Welti, Hans 376 Wenck, Walther 63, 103, 123, 124, 217 Westerburg, Gerhard 40, 41, 405, 426, 449 Wietersheim, Gustav Anton von 303 Wirth, Fritz 399, 421 Wirth, Wolfgang 399, 402, 403, 421, 422, 423 Wisliceny, Dieter 345, 372 Witinsch, A. J. 250 Witthöft, Joachim 181, 291 Wobit, Helmut 400, 421 Wohler 374
Register
Wöhler, Otto 205 Wolff, Hans von 118 Wysocki, Lucian 352, 353
Z
Zeitzler, Kurt 111, 129, 136, 171, 173, 189, 211, 212, 215, 280 Zenker, Karl-Adolf 70 Zenner, Carl 242 Zepkov, Viktor G. 270 Zorn, Hans 163, 166, 271 Žukov 183, 187 Žukov, Georgij K. 40 Zvetaev, Evgenij A. 239, 245, 251, 256, 260, 263, 267, 268, 270, 355, 365, 369 Zwiedenek, Eugen 374 Zyrjanov, Ivan M. 335
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