Verheißung und Bedrohung: Die Oktoberrevolution als globales Ereignis [1 ed.] 9783412513559, 9783412511241


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Verheißung und Bedrohung: Die Oktoberrevolution als globales Ereignis [1 ed.]
 9783412513559, 9783412511241

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Verheißung und Bedrohung DIE OKTOBERREVOLUTION ALS GLOBALES EREIGNIS

JÖRG GANZENMÜLLER (HG.)

Jörg Ganzenmüller: Verheißung und Bedrohung

Jörg Ganzenmüller: Verheißung und Bedrohung

Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Volkhard Knigge Christiane Kuller in Verbindung mit Karl Schmitt Peter Maser Rainer Eckert Robert Traba

Jörg Ganzenmüller: Verheißung und Bedrohung

Verheißung und Bedrohung Die Oktoberrevolution als globales Ereignis

Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Redaktion Katharina Schwinde

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Jörg Ganzenmüller: Verheißung und Bedrohung

Gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung: Filmplakat zu Sergej Ėjsenštejns Oktjabr von 1927. © Russische Staatsbibliothek, Moskau; Künstler unbekannt Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51355-9

Jörg Ganzenmüller: Verheißung und Bedrohung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung: Filmplakat zu Sergej Ėjsenštejns Oktjabr von 1927. © Russische Staatsbibliothek, Moskau; Künstler unbekannt Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: büro mn, Bielefeld Druck und Bindung: v Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51124-1

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Inhalt

Inhalt

Einführung  ................................................................................................................ 

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Jörg Ganzenmüller Zwischen weltrevolutionären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen Europäische und globale Resonanzen auf die Oktoberrevolution  . . ............... 

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Gerd Koenen Ein Zeitalter wird besichtigt Kommunismus als Weltgeschichte, 1917 – 2017  .....................................................  25

Die Oktoberrevolution und die deutsche Linke  .................................  45 Bernhard H. Bayerlein Transnationalisierung und weltrevolutionäres Scheitern Die Komintern und Revolutionsvorbereitungen deutscher Kommunisten in der Zwischenkriegszeit  . . ........................................  47 Eva Oberloskamp Nachrichten aus einem gelobten Land? Die Sowjetunion im Urteil von Linksintellektuellen zur Zeit der Weimarer Republik  ...............................................................................  75

Antibolschewismus als Abwehrreaktion auf die Oktoberrevolution  . . .............................................................................  99 Karsten Brüggemann Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolschewismus? Max Erwin von Scheubner-­Richter und die Idee der ›Weißen Internationale‹  ...................................................................................................................  101 Agnieszka Pufelska Stabile Feindbilder gegen die instabile Zeit Der ›jüdische Bolschewismus‹ als Propagandainstrument in der Weimarer Republik  ..........................................................................................  127

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Die Resonanz auf die Oktoberrevolution in Europa  .. .......................  147 Thomas Kroll Die Resonanz der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien (1917 – 1921)  ........................................................................  149 Hans Woller Toxische Fernwirkungen Die Resonanz der Oktoberrevolution in Italien  ...................................................  173 Julia Richers Revolution und Gegenrevolution Die ungarische Räterepublik als Echoraum des Roten Oktober  .. ....................  189

Der globale Resonanzraum der Oktoberrevolution  ........................  213 Michael Dreyer ›Red Scare‹ in den USA  .............................................................................................  215 Gotelind Müller Vorbild Russland? China und die Oktoberrevolution  ...........................................................................  233 Gero Fedtke Zentralasiens Muslimkommunisten und die Revolution im Orient  . . .........  247 Autorinnen und Autoren  .........................................................................................  271 Abbildungsverzeichnis  .. ...........................................................................................  278 Personenregister  ........................................................................................................  279

Einführung

Jörg Ganzenmüller

Zwischen weltrevolutionären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen Europäische und globale Resonanzen auf die Oktoberrevolution

Der Staatsstreich der Bolschewiki am 25./26. Oktober 19171 in Petrograd veränderte die politische Tektonik Europas und der Welt. In Russland hatten zum ersten Mal Akteure die Macht errungen, die eine kommunistische Gesellschaftsordnung anstrebten. Zwar war die Art und Weise, in der die Bolschewiki die Provisorische Regierung gestürzt und die Macht an sich gerissen hatten, eine konzertierte Aktion und keine Erhebung der Massen gewesen, und dennoch fand in den folgenden Monaten und Jahren eine Revolution in Russland statt: ein grundständiger Umsturz der alten Ordnung und der Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems, welches die globale Geschichte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägen sollte. Zunächst war die Oktoberrevolution ein russisches Ereignis. Der Sturz der Provisorischen Regierung, die seit der Februarrevolution die Geschicke des Landes lenkte, erfolgte vergleichsweise geräuschlos. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober besetzten militärische Einheiten und bewaffnete Arbeitertrupps auf Befehl des Militärischen Revolutionskomitees wichtige strategische Punkte der Stadt: das Telegrafenamt, die Brücken über die Neva, die Bahnhöfe, die Staatsbank und das Hauptpostgebäude. Am nächsten Morgen verkündeten Flugblätter und Plakate, dass die Provisorische Regierung gestürzt und die staatliche Gewalt in die Hände des Petrograder Rats der Arbeiter- und Soldatendeputierten übergegangen sei. Das Zentrum der Stadt, einschließlich des Winterpalastes, befand sich allerdings noch immer in der Gewalt von regierungstreuen Truppen. Abgeschnitten von Kontakten zur Außenwelt und ohne eine Verstärkung durch Fronttruppen schmolz deren Loyalität zur Regierung jedoch rasch dahin. Als in der Nacht zum 26. Oktober schließlich auch der Winterpalast besetzt wurde, 1 Die Datumsangaben folgen dem bis 1918 in Russland noch gültigen Julianischen Kalender. Im 20. Jahrhundert war der Julianische gegenüber dem Gregorianischen Kalender 13 Tage im Rückstand. Der 25. Oktober 1917 als Tag der Oktoberrevolution fiel nach dem Gregoria­nischen Kalender auf den 7. November.

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um die noch anwesenden Mitglieder der Provisorischen Regierung zu verhaften, wurden diese nur noch von einigen Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigt.2 »Die Straßenbahnen fuhren wie gewöhnlich«3 – so fasste der amerikanische Journalist John Reed die Normalität in Petrograd am Tage nach der Revolution zusammen. Einen Sturm auf den Winterpalast hat es nie gegeben. Unser Bild­gedächtnis ist von heroischen Szenen geprägt, die allesamt von Nachinszenierungen oder aus Filmen stammen, nicht zuletzt aus Sergej Ėjzenštejns Oktober aus dem Jahr 1927.4 Schon bald wurde aus der Russischen Revolution ein europäisches, ja globales Ereignis. Nachrichten, Bilder, Motive und Argumente diffundierten über die Grenzen und weckten sowohl erwartungsvolle Begeisterung als auch scharfe Ablehnung.5 Einig waren sich die Zeitgenossen darin, dass die Revolution einen tiefen historischen Einschnitt darstellte, der nicht nur die Verhältnisse in Russland, sondern auch anderswo verändern würde.6 Der Philosoph Bertrand Russell sah nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Russland die Oktoberrevolution als »eines der größten weltgeschichtlichen Ereignisse. Es liegt nahe, sie mit der Französischen Revolution zu vergleichen, aber tatsächlich ist ihre Bedeutung noch größer.«7 Das vorliegende Buch geht der Frage nach, w ­ elche Resonanz die Oktoberrevolution in Europa und in der Welt hatte. Resonanz wird hier nicht im ­eigentlichen Wortsinn als bloßer ›Widerhall‹ verstanden. Vielmehr ist damit die Prämisse verbunden, dass die Resonanz auf ein Ereignis eine Antwort darstellt, die bereits eine Interpretation des Ereignisses in sich trägt. Damit rücken 2 Zur Ereignisgeschichte der Oktoberrevolution siehe grundlegend: Helmut Altrichter: Russland 1917. Das Jahr der Revolutionen. Zürich 1997, S. 216 – 230. Zur Einbettung der Oktober­revolution in die Geschichte von 1905 bis zum Ende des Bürgerkrieges siehe M ­ anfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905 – 1921. Frankfurt a. M. 1989. 3 John Reed: Zehn Tage die die Welt erschütterten. Berlin 1958, S. 120. 4 Siehe Alexander Schwarz: »Revolutionsbilder« − Das Bildgedächtnis der Oktober­ revolution in der Sowjetunion und in der DDR. In: Jörg Ganzenmüller/Franz-­Josef Schlichting (Hrsg.): Die Oktoberrevolution 1917: Vom Ereignis zum Mythos (Aufarbeitung Kompakt, 12). Weimar 2019. 5 Siehe Julia Richers: Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive. In: Heiko ­Haumann (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917. 2. überarb. u. erw. Auflage. Köln/­ Weimar/Wien 2016, S. 105 – 117. 6 Zu den vielfältigen Reaktionen und Deutungen siehe Dietrich Beyrau: 1917 – Der Rote Oktober in zeitgenössischen Deutungen. Bolschewistische Camouflage und bürgerliche ­Apokalypse. In: Jan Claas Behrends/Nikolaus Katzer/Thomas ­Lindenberger (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Berlin 2017, S. 29 – 56. 7 Bertrand Russell: Die Praxis und ­Theorie des Bolschewismus. Darmstadt 1920, S. 25.

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die Formen der Aneignung und die daraus folgenden Reaktionen in den Blick.8 Um diese zu bestimmen, muss zunächst geklärt werden, wie die Zeitgenossen die Oktober­revolution wahrnahmen und deuteten. Anschließend sind die politischen Antworten auf das Ereignis zu beleuchten. Beides soll in zweifacher Perspektive geschehen: erstens mit Blick auf die politischen Hoffnungen und weltrevolu­tionären Erwartungen, die durch den Oktober 1917 geweckt wurden, und zweitens im Hinblick auf die politischen Abwehrreaktionen und ideologischen Gegenentwürfe. Dieser vergleichende Blick auf die vielgestaltigen Resonanzen ermöglicht es, der Bedeutung der Oktoberrevolution für die Genese der weltanschaulichen Antagonismen des 20. Jahrhunderts nachzugehen. Denn in dem Spannungsverhältnis von hoffnungsvoller Zustimmung und scharfer Ablehnung lag ein Signum ­dieses »Zeitalters der Extreme«, wie Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert charakterisierte.9

1. Verheißung und Bedrohung: Zukunftserwartungen nach der Oktoberrevolution Auch wenn die politischen, sozialen und kulturellen Folgen der bolschewistischen Herrschaft im Oktober 1917 nicht ansatzweise überschaubar waren, so war die Oktoberrevolution von Beginn an ein Ereignis mit globalen Auswirkungen. Sie forderte nicht nur die Legitimität des liberal-­konstitutionellen Politikmodells heraus, sondern warf weltweit neue und fundamentale Fragen über die politische und soziale Ordnung von Gesellschaften auf. Das Jahr 1917 löste einen globalen Schub politischer Erwartungen aus, wozu neben der Russischen Revolution auch der Kriegseintritt der USA und der 14-Punkte-­Plan ihres Präsidenten Woodrow Wilson beitrugen. Die politischen Versprechen von Lenin und Wilson erweckten in Gesellschaften ganz unterschiedlicher Weltregionen die Hoffnung auf mehr Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.10 Nur sehr wenige Russlandkenner wurden Augenzeugen vom revolutionären Umbruch in Petrograd. Stattdessen stammten die ersten Informationen von zufälligen Beobachtern, die ihre Erlebnisse nicht einordnen konnten, oder von

8 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016, S. 187 – 202 und S. 246. 9 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. 10 Siehe Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des ­Ersten Weltkriegs. M ­ ünchen 2014, S. 683 und 706 f.

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Emigranten, die im Zuge der Revolution ihren Besitz und ihre Heimat verloren hatten und als erklärte Gegner der Bolschewiki ablehnend über die Ereignisse berichteten. Auch in den Jahren des Bürgerkrieges füllten tendenziöse Berichte die Lücke, die durch den Ausfall der regulären Presseberichterstattung entstanden war. In ihren Darstellungen überwog das Bild einer plebejischen Terrorherrschaft, die Mord und Zerstörung über das Land brachte. Veröffentlichte Fotos, die von der sowjetischen Geheimpolizei erschossene Geiseln zeigten, verfestigten das Bild einer Gewaltorgie, die über das Land zog.11 Angst und Gerüchte prägten eine Berichterstattung, die jede nur erdenkliche Gewaltphantasie als Herrschaftsrealität darstellte.12 Dies löste bei allen Gegnern der Revolution Furcht und Schrecken aus. Gleichzeitig mündete das Ringen um die Macht in Russland in einen blutigen Bürgerkrieg, der von allen Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde: Die Realität holte die düstersten Szenarien somit bald ein.13 Bald stand der Vorwurf im Raum, dass die Schilderungen der Ereignisse in Russland einseitig ­seien. Lenin hielt die Weltöffentlichkeit durch »anglo-­französische imperialistische Herren«, ihre »Angst vor dem Bazillus des Bolschewismus« und seinem Versprechen von Gleichheit und Frieden für manipuliert.14 Das Misstrauen in die öffentliche Berichterstattung führte dazu, dass Sympathisanten der Revolution sich selbst ein Bild von den Verhältnissen machen wollten. Franzosen, Deutsche, Briten und insbesondere Skandinavier reisten seit den 1920er Jahren in die Sowjetunion, der jährliche Besucherstrom wuchs bald auf mehrere Zehntausend an. Die anschließend publizierten Reiseberichte waren wiederum Bestandteil jener scharfen öffentlichen Auseinandersetzung um den eigentlichen

11 Siehe dazu Gerd Koenen: Der Russland-­Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945. München 2005, S. 218 – 231. 12 Siehe Robert Gerwarth/John Horne: Bolshevism as Fantasy. Fears of Revolution and Counter-­Revolutionary Violence, 1917 – 1923. In: dies. (Hrsg.): War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War. Oxford/New York 2012, S. 40 – 51. 13 Zur Gewalt in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution siehe Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: ­Stéphan Courtois u. a. (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München/Zürich 1999, S. 45 – 295, hier 67 – 94. – Den Bürgerkrieg als ein Szenario der Gewalt beschreibt Orlando Figes: Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 – 1924. München 2001, S. 623 – 761. – Die Ähnlichkeit der Gewaltanwendung bei allen Bürgerkriegsparteien und deren Wurzeln im E ­ rsten Weltkrieg betont Peter Holquist: Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914 – 1921. Cambridge 2002. 14 W. I. Lenin: Rede zur internationalen Lage auf dem 6. Außerordentlichen Gesamtrussischen Sowjetkongress am 8. November 1918. In: W. I. Lenin: Werke. Band 28. Juli 1918 – März 1919. Berlin 1959, S. 145 – 159, hier S. 156.

Zwischen weltrevolutionären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen  |

Charakter der Oktoberrevolution, bei der alle Seiten vermeintlich authentische Nachrichten anführten, um ihrer Deutung der Revolution eine höhere Glaubwürdigkeit zu verleihen.15 Anfangs prägten nicht zuletzt Erwartungen und Zukunftsvorstellungen das Bild von der Oktoberrevolution. In der deutschen Sozialdemokratie überwog die Begeisterung darüber, dass eine sozialistische Partei die Macht in Russland errungen hatte, da sich mit den Bolschewiki die Hoffnung auf einen baldigen Frieden verband. Als Lenin im Januar 1918 die Verfassungsgebende Versammlung, bei deren Wahl die Bolschewiki nur ein Drittel der Stimmen erhalten hatten, auflösen ließ, wich diese positive Erwartungshaltung zunehmend dem Vorwurf, die Bolschewiki würden nicht den Sozialismus aufbauen, sondern eine Gewaltherrschaft errichten.16 Die Kritik an ­diesem Schritt gipfelte in Rosa Luxemburgs berühmten Satz: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich ­seien – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.«17 Der beginnende Bürgerkrieg und die politische Gewalt gegen konkurrierende sozialistische Parteien bestätigten schon bald die schlimmsten Befürchtungen. Die Oktoberrevolution wurde nun als ein Irrweg gesehen, der nicht in den Sozialismus, sondern in die Diktatur führe, und verfestigte sich zu einem »negativen Mythos«.18 Auch die politische Linke in Frankreich und in Großbritannien verband zunächst große Hoffnungen mit der Oktoberrevolution, die für ein Fanal der Revolution im eigenen Land gehalten wurde. In Großbritannien verflog der Enthusiasmus allerdings rasch. Die reformistische Tradition der britischen Arbeiterbewegung übte eine mäßigende Wirkung aus, so dass die Kommunistische Partei zu keiner Zeit politische Bedeutung erlangte. Zwar weitete sich ein Streik britischer Bergarbeiter im Jahr 1926 zu einem landesweiten Generalstreik aus, brachte aber nicht den Umsturz der politischen Verhältnisse, so wie die Kommunisten es erhofft hatten. In Frankreich gründeten die Anhänger der Revolution hingegen eine Kommunistische Partei, die über Jahrzehnte eine wichtige politische Rolle 15 Siehe Sophie Cœuré: Sowjetrussland in einem nicht-­revolutionären Europa. Grenzen, Propaganda und Mythen. In: 1917 Revolution. Russland und die Folgen, hrsg. v. Deutschen Historischen Museum und dem Schweizerischen Nationalmuseum. Dresden 2017, S. 110 – 112, hier 117 f. 16 Siehe Detlef Lehnert: Die Oktoberrevolution in der Wahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2017, S. 117 – 130. 17 Rosa Luxemburg: Zur Russischen Revolution. In: Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin (Ost) 1974, S. 332 – 365, hier S. 353. 18 Siehe Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903 – 1920. Berlin 1967, S. 137 – 157, Zitat 138.

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spielte. Unterstützt von einer starken Präsenz der Internationale in Paris, wurde der Mythos der Oktoberrevolution ein bedeutsamer Teil der politischen Kultur der französischen Linken.19

2. Weltrevolutionäre Hoffnungen und ihr Scheitern: Revolutionsexport und Gegenrevolution Sozialisten und Kommunisten in ganz Europa erwarteten, dass auf die Russische Revolution die Weltrevolution folgen würde. John Reed, der mit der Revolution stark sympathisierte, sah in den Ereignissen vom 25. Oktober ein globales Fanal: Der Petrograder Sowjet hatte die Provisorische Regierung niedergezwungen und dem Sowjetkongress den Staatsstreich aufgedrängt. Nun hieß es: Russland gewinnen und dann – die Welt! Würde Russland folgen und sich erheben? Und die übrige Welt, was würde sie tun? Würden die Völker dem Rufe folgen und aufstehen zu einem roten Weltsturm?20

Die weltrevolutionären Hoffnungen ruhten in erster Linie auf den starken Arbeiter­bewegungen in den industrialisierten Ländern Westeuropas, insbesondere in Deutschland. Nachdem die Novemberrevolution 1918 den ­Kaiser vom Thron gestürzt hatte, versuchten die KPD und Anhänger der USPD im Januar 1919, die Macht an sich zu reißen. Sie riefen zum Generalstreik auf, erklärten den Rat der Volksbeauftragten für abgesetzt und verkündeten die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch einen Revolutionsausschuss unter Leitung des USPD-Politikers Georg Ledebour und des Spartakisten Karl Liebknecht. Das Vorgehen glich demjenigen der Bolschewiki in Petrograd: Eine instabile Situation sollte dazu genutzt werden, um eine revolutionäre Übergangsregierung abzusetzen und konkurrierende revolutionäre Kräfte aus dem Weg zu räumen. Und auch die politische Losung »Alle Macht den Räten« hatte man den Bolschewiki entlehnt.21 Der Aufstandsversuch scheiterte allerdings, die Novemberrevolution von 1918 führte das Deutsche Reich schließlich in eine Republik. Nur in Bayern war die Etablierung einer Räterepublik für wenige Wochen erfolgreich.

19 Siehe den Beitrag von Thomas Kroll in d ­ iesem Band. – Grundsätzlich zu den Reaktionen auf die Oktoberrevolution in Frankreich siehe Sophie Cœuré: La grande lueur à l’Est. Les Français et l’Union soviétique 1917 – 1939. Paris 1999, S. 28 – 48. 20 Reed: Zehn Tage (wie Anm. 3), S. 163. 21 Heinrich August Winkler: Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993, S. 54 – 57.

Zwischen weltrevolutionären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen  |

Dies tat der weltrevolutionären Hoffnung im Deutschen Reich jedoch keinen Abbruch. Im März 1921 scheiterte in Mitteldeutschland ein von der Komintern initiierter Aufstandsversuch innerhalb weniger Tage.22 Und 1923 sollte nach den Vorstellungen der Bolschewiki und der KPD eine ›deutsche Oktoberrevolution‹ stattfinden. Die Russische Revolution diente dabei nicht nur als Vorbild, die Initiative ging vielmehr von den Bolschewiki selbst aus. Eine vierköpfige Kommission mit Karl Radek an der Spitze wurde auf Beschluss des Moskauer Zentralkomitees nach Deutschland entsandt, um in der KPD auf einen Entschluss zur Revolution hinzuwirken, diese zu koordinieren und anschließend zu sichern. Auch wenn ein ›Deutscher Oktober‹ schließlich nicht stattfand, da die Ausrufung eines Generalstreiks an dem Unwillen der Arbeiterschaft und dem Widerstand der SPD scheiterte, so war dieser letzte Versuch eines Arbeiteraufstandes in Deutschland ebenso wie sein Scheitern eine Resonanz auf die Oktoberrevolution: Er folgte den strategischen Vorstellungen der Bolschewiki und scheiterte, weil sich die Militanz der deutschen Arbeiterschaft als bloße Imagination der Bolschewiki herausstellte.23 Die Novemberrevolution 1918 weckte bei den alten Eliten nicht nur Angst vor dem Machtverlust, sondern auch die Furcht vor der Gewalt der revolutionären Massen. Und diese Furcht speiste sich nicht zuletzt aus den Schreckensnachrichten aus dem revolutionären Russland. Zur Inkarnation des Revolutionärs, der den Bolschewismus nach Deutschland bringen wollte, wurde Karl Liebknecht. Und tatsächlich berief sich Liebknecht in öffentlichen Reden auf die Bolschewiki und feierte seine Freilassung aus dem Gefängnis am 23. Oktober 1918 mit Revolutionären in der russischen Botschaft.24 Zudem schien die militante Gewaltbereitschaft der Soldaten, die Liebknecht und den Spartakisten nahestanden, den schlimmsten Befürchtungen Recht zu geben. Trotz alledem war Liebknecht in erster Linie eine Projektionsfläche von Revolutionsängsten. Er galt als Drahtzieher eines bolschewistischen Umsturzes nach russischem Vorbild, und viele glaubten an der Jahreswende 1918/19, dieser stünde unmittelbar bevor. 22 Siehe Sigrid Koch-­B aumgarten: Der Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921. Frankfurt a. M. 1986. 23 Siehe den Beitrag von Bernhard H. Bayerlein in ­diesem Band. – Zu den Ereignissen 1923 siehe außerdem Otto Wenzel: 1923. Die gescheiterte deutsche Oktoberrevolution. Münster 2003. – Der Einfluss der Bolschewiki lässt sich in einer Dokumentation aus Beständen des ehemaligen Parteiarchivs des ZK der KPdSU und des Kominternarchivs gut nachvollziehen, siehe Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern. Berlin 2003. 24 Siehe Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017, S. 74 – 94.

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Die Herrschaft der Bolschewiki in Russland wurde in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft mit Gewalt und Hungersnot gleichgesetzt. Diese Vorstellung teilten auch Sozialdemokraten.25 Den revolutionären Matrosen warf der Vorwärts vor, sie würden »in der Aufrichtung einer asiatischen Hunger- und Schreckensherrschaft wie in Russland ihr Ziel erblicken«, und die sozialdemokratische Führung charakterisierte die Spartakisten als diejenigen, »denen die russische Wüste und ihr verhungerndes Volk noch nicht genug sind, die noch eine Wüste anstreben: Deutschland!«26 Diese weitverbreitete Angst wurde durch Gerüchte und Falschmeldungen zusätzlich angeheizt und trug ganz wesentlich zur Entgrenzung der Gewalt in Deutschland 1918/19 bei. In München fand die Furcht vor einer bolschewistischen Gewaltherrschaft ihre größte Resonanz. Als Angehörige der Miliz des kommunistischen Räteregimes im April 1919 zehn Gefangene erschossen, schien d­ ieses Ereignis die Schreckensmeldungen aus Russland zu bestätigen und ließ die Furcht vor einer Terrorherrschaft ansteigen. Die Münchner Betriebs- und Soldatenräte konnten mit einer einstimmigen Distanzierung von dieser Bluttat die öffentliche Erregung nicht mehr beruhigen. Die Freikorps gingen infolgedessen mit rücksichtsloser Gewalt und äußerster Brutalität gegen echte und vermeintliche Anhänger der Räterepublik vor, die als ›Diktatur der Russen und Juden‹ stigmatisiert wurde. Für lange Zeit setzte sich auch deren Deutung durch, ­welche die Münchner Räterepublik mit Geiselerschießungen gleichsetzte und die Gewalt der Gegenrevolutionäre als die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung verharmloste.27 Auch in Ungarn etablierte sich von März bis August 1919 eine Räterepublik. In ­diesem Fall bestand sogar eine direkte Verknüpfung zur Oktoberrevolution. Zu den maßgeblichen Akteuren in Budapest zählten ungarische Soldaten, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten und nach der Oktoberrevolution von den Bolschewiki politisch agitiert worden waren. Noch in Russland formierten sich kleine revolutionäre Zellen, die nach ihrer Rückkehr einen entscheidenden Einfluss auf die politischen Verhältnisse in Ungarn nehmen sollten. Dennoch war der Weg zur ungarischen Räterepublik keine bloße Kopie der Oktoberrevolution. Im Gegenteil: Die ungarischen Kommunisten um Béla Kun kamen nicht durch 25 Siehe Jürgen Zarusky: Vom Zarismus zum Bolschewismus. Die deutsche Sozialdemokratie und der »asiatische Despotismus«. In: Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917 – 1924. München 1998, S. 99 – 133. 26 Zit. in ebd., S. 127 und S. 132. 27 Siehe Hans Günter Hockerts: Warum München? Wie Bayerns Metropole die ›Hauptstadt der Bewegung‹ wurde. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München. München 2015, S. 387 – 397, hier S. 388.

Zwischen weltrevolutionären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen  |

einen Staatsstreich an die Macht, der konkurrierende Sozialisten von der Herrschaft fernhalten sollte, sondern vielmehr in einem Bündnis mit den Sozialdemokraten und toleriert vom liberalen Bürgertum. Zwar orientierte man sich mit dem Ausrufen einer Räterepublik an den revolutionären Organisationsformen in Russland, doch agierten die ungarischen Kommunisten dabei eigenständig: Béla Kun war nicht von Moskau gesteuert. Die Resonanz der Oktoberrevolution bestand in Ungarn folglich darin, dass die Arbeiter und Soldaten in ihr eine politische Hoffnung und die ungarischen Kommunisten sich von der vermeintlich beginnenden Weltrevolution getragen sahen.28 Nimmt man ganz Europa in den Blick, dann vertiefte die Oktoberrevolution allerdings die Gräben innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung. In Italien führte die Frage nach der Haltung zur Oktoberrevolution zur endgültigen Spaltung einer seit langem zerstrittenen sozialistischen Partei.29 In Deutschland ging Ende 1918 die KPD aus dem Spartakusbund hervor und ließ sich freiwillig auf das sowjetische Modell verpflichten. Wie vielen erschien ihnen nach dem Sieg der Bolschewiki in Russland Lenins Revolutionsstrategie die einzig erfolgversprechende zu sein. Spätestens nach dem Scheitern einer ›deutschen Oktoberrevolution‹ im Jahre 1923 erfolgte die ›Bolschewisierung‹ der KPD im Rahmen einer weltweiten Übertragung der sowjetischen Parteistrukturen auf die kommunistischen Parteien. Ein unabhängiger politischer Kurs war der KPD längst nicht mehr möglich, sie musste sich an der Politik des Kremls orientieren, und das hieß ab den späten 1920er Jahren an den Vorgaben Stalins. So unterblieb nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten jeglicher Gedanke an einen Aufstand oder Generalstreik, da Stalin zu dieser Zeit die ›Sozialfaschismusthese‹ vertrat, ­welche die Sozialdemokratie als ›linken Flügel des Faschismus‹ denunzierte und in ihr den Hauptfeind der Revolution ausmachte.30 Auch wenn die Herrschaft der Bolschewiki keine ungebrochene politische Strahlkraft auf die deutsche Linke jenseits der KPD ausüben konnte, so profitierte die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit von dem politischen Nimbus, das erste sozialistische Land der Erde zu sein. Deutsche Linksintellektuelle berichteten von ihren Reisen in die Sowjetunion zwar auch über soziale Missstände und staat­liche Gewalt, tendierten jedoch dazu, diese zu rechtfertigen oder zu relativieren.31 Auch 28 Siehe den Beitrag von Julia Richers in ­diesem Band. 29 Siehe den Beitrag von Hans Woller in ­diesem Band. 30 Siehe dazu den Beitrag von Bernhard H. Bayerlein in ­diesem Band. – Zum Einfluss Stalins auf die KPD siehe ferner Bert Hoppe: In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928 – 1933. München 2007. 31 Siehe den Beitrag von Eva Oberloskamp in ­diesem Band.

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französische Linksintellektuelle neigten dazu, die Verhältnisse in der Sowjetunion positiv zu zeichnen, wenn auch auf Basis anderer Wertvorstellungen.32 Der europäischen Linken fiel es in der Zwischenkriegszeit schwer, grundsätz­liche Kritik an den Bolschewiki zu üben oder sich fundamental von der Sowjetunion zu distanzieren. Der russische Bürgerkrieg und der radikale Antibolschewismus forcierten das politische Freund-­Feind-­Denken im Europa der Zwischenkriegszeit. Dies machten sich die Bolschewiki zunutze. Es gelang ihnen nicht nur im eigenen Land, konkurrierende sozialistische Parteien auszuschalten und die Partei auf den Kurs Stalins einzuschwören, sondern brachte ihre machtpolitischen und ideologischen Vorstellungen in der kommunistischen Weltbewegung zur Geltung. Der politisch radikale Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der sich 1912 von den Mehrheitssozialisten abgespalten hatte und zu den radikalsten Kräften der politischen Linken in ganz Europa gehörte, hatte im Zuge der Oktober­ revolution nicht nur die Macht im Russischen Reich erobert, sondern die ideologische Deutungshoheit in der weltrevolutionären Frage sowie die grundsätzliche Gefolgsbereitschaft weiter Teile der globalen Linken gewonnen. Ohne den erfolgreichen Staatsstreich im Oktober 1917 hätten die Bolschewiki diese welthistorische Bedeutung nie erreicht.

3. Gegenideologie und politische Gegenstrategie: Die Geburt des Antibolschewismus Eine Resonanz auf die Oktoberrevolution war auch die Entstehung des Antibolschewismus. Er fußte auf den negativen Berichten aus Russland sowie den politischen Auseinandersetzungen mit Räteregierungen im eigenen Land. Auch wenn der Antibolschewismus keine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Faschismus und Nationalsozialismus war, so verstanden sich die italienischen Faschisten durchaus als radikale Gegner eines revolutionären Sozialismus. Und in Deutschland fand der Antibolschewismus in völkischen Kreisen einen fruchtbaren Nährboden und wurde zu einem wichtigen Element der nationalsozialistischen Weltanschauung. Der Antibolschewismus verschmolz zudem schnell mit antisemitischen Vorstellungen zur einflussreichen Denkfigur des ›jüdischen Bolschewismus‹, zunächst in München und bald darauf in ganz Deutschland, aber auch in Polen oder Ungarn. Die Verbindung von Bolschewismus und Antisemitismus war in ihrem Kern die Folge einer spezifischen Deutung der Oktoberrevolution. Der Umstand, dass 32 Siehe dazu grundlegend Eva Oberloskamp: Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917 – 1939. München 2011.

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Juden unter den Bolschewiki im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Russischen Reiches überproportional vertreten waren, war dabei nicht die Ursache für das Aufkommen dieser Denkfigur. Vielmehr handelt es sich um ein antisemitisches Ideologem, in dem der Antibolschewismus nur eine weitere Facette in der Vorstellung einer ›jüdischen Weltverschwörung‹ darstellte. Somit wurde die Herrschaft der Bolschewiki in Russland lediglich in ein bereits existierendes antisemitisches Weltbild integriert. Dabei entstand ein Ideologem, das die Ursachen für die eigene Kriegsniederlage externalisierte und revolutionäre Umwälzungen als aufziehende Fremdherrschaft brandmarkte.33 Diese Mischung aus Exkulpation hinsichtlich der militärischen Niederlage im ­Ersten Weltkrieg und Legitimation der alten politischen und sozialen Ordnung trug maßgeblich zum Erfolg dieser Denkfigur in völkischen Kreisen bei. Der ›jüdische Antibolschewismus‹ war somit – anders als Ernst Nolte es dargestellt hat – keine Abwehrreaktion auf die Herrschaft der Bolschewiki in Russland, sondern vielmehr die Resonanz, ­welche die Oktoberrevolution bei Antisemiten hervorrief.34 Er fügte sich als ein weiteres Element in eine völkische Weltanschauung ein, die sich in Europa bereits seit dem späten 19. Jahrhundert formiert hatte. Seine Bedeutung liegt nicht zuletzt darin, dass sich die radikale Rechte nun dem konservativen Milieu erfolgreich als wirk­samer Schutz vor den sozialen Umwälzungen des Bolschewismus anbieten konnte.35 Der Antibolschewismus diente somit nicht nur der ideologischen Selbstvergewisserung von Revolutionsgegnern, sondern hatte eine funktionale Bedeutung als Integrationsideologie der politischen Rechten. Oswald Spengler, einer der Väter des rechten autoritären Denkens, sah beispielsweise schon sehr früh die weitverbreitete Furcht vor der Revolution als eine politische Chance. So schrieb er nach dem Ausbruch der Revolution in München 1918 an einen Freund: »Ich sehe in der Revolution ein Mittel, das uns nützen kann, wenn diejenigen, ­welche für die Gestaltung unserer Zukunft in Betracht kommen, sie zu nützen verstehen.«36 Emigranten aus Sowjetrussland, die als echte oder vermeintliche Zeugen von Revolution und Bürgerkrieg sowie als Russlandexperten auftraten, spielten eine 33 Siehe den Beitrag von Agnieszka Pufelska in ­diesem Band. 34 Nolte sieht den Antibolschewismus als »elementarste Voraussetzung« des Faschismus und den Faschismus wiederum als »Widerstandbewegung« gegen den Bolschewismus. Damit verengt er den Faschismus auf den Antibolschewismus, siehe Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. München 1997, S. 36 und S. 48. 35 Für Mussolini war der Antibolschewismus sogar weitestgehend in ­diesem Sinne funktional, siehe den Beitrag von Hans Woller in ­diesem Band. 36 Brief Oswald Spenglers an Hans Klöres vom 18. 12. 1918, abgedruckt in: Gerhrad Schmolze (Hrsg.): Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten. ­München 1978, S. 155 – 156, hier S. 156.

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bedeutende Rolle bei der Verbreitung d­ ieses Ideologems. So führte der Deutschbalte Alfred Rosenberg in einer ganzen Reihe von Schriften den angeblichen Beweis, dass die Bolschewiki überwiegend Juden und die Oktoberrevolution lediglich Bestandteil ihrer Weltverschwörung gewesen s­ eien. Von Russland gehe deshalb die Gefahr einer ›Bolschewisierung‹ Deutschlands und der ganzen Welt aus. Es stehe ein Überlebenskampf z­ wischen Europa und ­diesem »neuen Aufmarsch des vorderasiatischen Geistes«37 bevor. Rosenberg trug entscheidend dazu bei, dass die Vorstellung vom ›jüdischen Charakter‹ der Russischen Revolution auch das Denken Adolf Hitlers prägte und von ­diesem in Mein Kampf in epischer Breite ausgeführt wurde.38 Auch Max Erwin von Scheubner-­Richter war »eine zentrale Figur der deutschvölkischen Szene in München«.39 Er hatte die Eroberung Rigas durch die Rote Armee 1919 selbst miterlebt, war von lettischen Kommunisten verhaftet worden und führte nach seiner Emigration in Deutschland einen ›Abwehrkampf‹ gegen die ›Bolschewisierung‹ Deutschlands. Er propagierte die Vorstellung eines ›jüdischen Bolschewismus‹, war im völkischen Milieu ebenso gut vernetzt wie mit der russischen Emigration sowie anderen europäischen Antibolschewisten. Die ›Abwehr des Bolschewismus‹ verstand Scheubner-­Richter als globales Projekt, für das er weltweit nach Mitstreitern suchte.40 Einen besonders fruchtbaren Boden fand der Antibolschewismus bei den Freikorps. Diese Überreste von Fronttruppen der kaiserlichen Armee, die vielfach mit Freiwilligen aufgefüllt wurden, setzte das Deutsche Reich nicht nur zur Nieder­ schlagung der Revolution ein. Sie kämpften insbesondere im Baltikum direkt gegen die Bolschewiki sowie gegen einheimische nationale Verbände. Unter ihnen grassierte jene Verbindung aus Antibolschewismus und Antisemitismus, die sich auch bei polnischen und ukrainischen Verbänden desselben Kriegsschauplatzes fand. Das östliche Europa war ­zwischen 1918 und 1921 nicht nur Schauplatz von Bürgerkrieg und Gewalt, sondern auch von antisemitischen Pogromen.41 37 Alfred Rosenberg: Pest in Russland. Seine Häupter, seine Handlanger und seine Opfer, mit 75 Lichtbildern aus Sowjetrussland. München 1922, S. 94. – Siehe dazu auch den Beitrag von Agnieszka Pufelska in ­diesem Band sowie Ernst Piper: »Pest in Russland« – Alfred Rosenberg und die Russische Revolution. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2017, S. 201 – 215. 38 Zum Einfluss Rosenbergs in der ideologischen Formierungsphase des Nationalsozialismus siehe Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005, S. 55 – 75. 39 Koenen: Der Russland-­Komplex (wie Anm. 11), S. 267. 40 Siehe den Beitrag von Karsten Brüggemann in ­diesem Band. 41 Piotr J. Wróbel: Foreshadowing the Holocaust. The Wars of 1914 – 1921 and Anti-­Jewish Violence in Central and Eastern Europe. In: Jochen Böhler/Włodzimierz B ­ orodziej/ Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War. München 2014, S. 169 – 208.

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Überhaupt war die Verbindung von Antibolschewismus und Antisemitismus kein deutsches Phänomen. Auch wenn sich der weltweit formierende Antibolschewismus in den jeweiligen Ländern gegen eine durchaus spezifische Zusammensetzung von echten und eingebildeten Feinden richtete, so waren die Juden meistens unter ihnen. Im polnisch-­sowjetischen Krieg entstand auf polnischer Seite das Feindbild der ›Judäo-­Kommune‹, welches das polnische Nationsverständnis im 20. Jahrhundert prägen sollte.42 Und in Ungarn wurde nach der gewaltsamen Gegenrevolution der Antibolschewismus zu einer innen- und außenpolitischen Leitplanke der gesamten Horthy-­Ära. Auch hier amalgamierten der Antibolschewismus und der Antisemitismus zu einem Feindbild, das Gewalt gegen Juden legitimierte.43 Ganz anders war die Situation in Italien. Mussolini zeigte sich von den Ereignissen in Russland wenig beeindruckt. Er hielt Lenin und die Bolschewiki für ein russisches Phänomen. Der Antibolschewismus wurde somit nicht zum ideologischen Bestandteil des italienischen Faschismus oder gar zu einer politischen Triebfeder Mussolinis. Und doch fand die Oktoberrevolution ihre Resonanz auch in Italien. Mussolini schürte nämlich gezielt Bedrohungsängste, ­welche die Oktoberrevolution insbesondere in konservativen Kreisen ausgelöst hatte, und wurde am 31. Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten einer antisozialistischen Koalitionsregierung ernannt.44

4. Antikoloniale Aneignungen und strategische Bündnisse: Die außereuropäische Resonanz auf die Oktoberrevolution Mitte der 1920er Jahre war eine Revolutionierung Europas offensichtlich gescheitert. Nun verlegten sich die Bolschewiki darauf, die Entkolonialisierung mit ihren weltrevolutionären Zielen zu verknüpfen. In China prägten zunächst die Anarchisten die Rezeption der Oktoberrevolution und sie berichteten vor allem vom Gewaltregime der Bolschewiki. Diese Darstellung wurde jedoch bald von einem positiven Bild abgelöst, da der Westen in den Nachkriegsjahren als Gegner wahrgenommen wurde. Aus außenpolitischen Erwägungen pflegten Sun Yat-­sen und die Guomindang in den frühen 1920er Jahren ein freundschaftliches Verhältnis 42 Siehe Agnieszka Pufelska: Die »Judäo-­Kommune« – ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939 – 1948. Paderborn 2007, S. 46 – 58. 43 Siehe den Beitrag von Julia Richers in ­diesem Band. 44 Siehe dazu den Beitrag von Hans Woller in d­ iesem Band und dessen Biografie: Mussolini. Der erste Faschist. München 2016.

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zur Sowjetunion. Die Bolschewiki unterstützten die Guomindang mit Geld und Beratern, die wiederum Vertreter der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei in die Regierung aufnahmen und eine Einheitsfront bildeten. Die Kommunisten gewannen zwar schnell viele Anhänger, wurden aber von Stalin dazu genötigt, in der Einheitsfront zu bleiben, bis Chiang Kai-­shek 1927 durch ein brutales Massaker an den Kommunisten den Bruch herbeiführte.45 Jenseits sozialistischer und kommunistischer Vorstellungen übte die Oktoberrevolution auch als Vorbild der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung Einfluss aus. So dachte zum Beispiel Mustafa Kemal kurze Zeit darüber nach, inwieweit sich die Ziele der türkischen Nationalbewegung mit einer sowje­ tischen Ordnung in Einklang bringen ließen.46 In der islamischen Welt glaubte man zudem, dass auch in Afghanistan und Persien revolutionäre Umbrüche ­folgen würden. Der erste Kongress der Völker des Ostens fand 1920 in Baku unter dem Motto Der Osten wird rot statt, und der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Komintern, Grigorij Zinov’ev, hielt die Begrüßungsrede.47 Man musste sich allerdings nicht für das kommunistische Projekt oder die Weltrevolution begeistern, um Kommunist zu werden. In Turkestan erkannten muslimische Progressisten in der Sowjetmacht einen Bündnispartner für ihr Projekt der Modernisierung und dienten sich den Bolschewiki als ›Kommunisten‹ an. Gerade in kaum industrialisierten Weltgegenden, in denen es keine nennenswerte Arbeiterschaft gab, eigneten sich dortige Protagonisten die Ziele der Revolution recht eigenwillig an und schrieben sich in die Begriffswelt der Bolschewiki ein.48 Auch außerhalb Europas nutzten die Gegner der Oktoberrevolution das Schreckens­bild einer kommunistischen Herrschaft für ihre eigenen Ziele. In den Vereinigten Staaten wurde die Oktoberrevolution zu einer Projektionsfläche für inneramerikanische Konflikte. Als Reaktion auf die Streikbewegung und Rassenunruhen des Jahres 1919 schürte die US-Regierung die Panik vor einem unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Umsturz, die sich wiederum in rassistischer Gewalt entlud.49 In Argentinien formierten sich im Januar 1919 als Reaktion auf 45 Siehe den Beitrag von Gotelind Müller in ­diesem Band. 46 Siehe Abdulhamit Kırmızı: After Empire, Before Nation: Competing Ideologies and the Bolshevik Moment of the Anatolian Revolution. In: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hrsg.): Revolutions and Counter-­Revolutions. 1917 and its Aftermath from a Global Perspective. Frankfurt a. M./New York 2017, S. 119 – 137. 47 Siehe Richers: Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive (wie Anm. 5), S. 114 f. 48 Siehe den Beitrag von Gero Fedtke in ­diesem Band. 49 Siehe den Beitrag von Michael Dreyer in ­diesem Band. – Siehe zudem Helke Rausch: Red Scare. Bodenwellen der russischen Oktoberrevolution in den USA 1918/19. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2017, S. 131 – 148.

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einen Streik der Metallarbeiter ›weiße‹, konterrevolutionäre Freikorps, die den Arbeitsausstand gewaltsam beendeten. Die Herrschaft der Bolschewiki in Russland diente auch hier als Projektionsfläche und Propagandainstrument. Infolgedessen attackierten die Weißen Garden auch die jüdische Bevölkerung in der Nachbarschaft, denn diese waren zumeist aus Russland eingewandert, galten deshalb als ›Russen‹ und wurden nun mit ›Kommunisten‹ gleichgesetzt.50 Ende der 1920er Jahre verschwand die Weltrevolution zunächst von der politischen Agenda der Bolschewiki. Stalin setzte sich mit seiner politischen Linie durch, zunächst den ›Sozialismus in einem Land‹ aufzubauen. Die Ausweitung des sowjetischen Einflussbereiches auf das östliche Europa und der Aufstieg der Sowjetunion zu einer Weltmacht war in erster Linie ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, weniger der Oktoberrevolution. Der vorliegende Band wirft einige Schlaglichter auf die globale Resonanz der Oktoberrevolution. Im folgenden Beitrag wird Gerd Koenen ihre Bedeutung für das 20. Jahrhundert umreißen und die Frage stellen, was von ihr geblieben ist. Des Weiteren ist das Buch in vier Teile gegliedert: Die ersten beiden Teile nehmen die Resonanzen in Deutschland in den Blick. Bernhard H. Bayerlein beleuchtet die Revolutionsvorstellungen der deutschen Kommunisten und die Versuche, eine deutsche Oktoberrevolution zu initiieren. Eva Oberloskamp zeigt anhand der Reiseberichte linker Intellektueller, dass deren Schilderungen bereits jene Rechtfertigungen von Missständen und politischer Gewalt in sich trugen, wie sie im linken Milieu der Zwischenkriegszeit üblich waren. Der zweite Teil des Bandes widmet sich der Entstehung des Antibolschewismus, insbesondere der Vorstellung eines ›jüdischen Bolschewismus‹. Karsten Brüggemann lotet dabei die Rolle deutschbaltischer Akteure aus, die als wichtige Katalysatoren ­dieses Ideologems bei der Formierung der nationalsozialistischen Weltanschauung gelten. Agnieszka Pufelska nimmt das Ideologem des ›jüdischen Bolschewismus‹ selbst in den Blick und zeigt, dass diese Denkfigur weniger eine Neuerfindung als eine antisemitische Deutung der Oktoberrevolution ist. Der dritte Teil wendet den Blick nach Europa. Zunächst analysiert Thomas Kroll die Bedeutung der Oktoberrevolution für die politische Linke in Frankreich und Großbritannien. Anschließend untersucht Hans Woller die Bedeutung des Antibolschewismus für die Genese des Faschismus in Italien. Schließlich zeigt 50 Siehe María Inés Tato: Global Moments, Local Impacts: Argentina at the Critical Juncture of 1917. In: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hrsg.): Revolutions and Counter-­ Revolutions. 1917 and its Aftermath from a Global Perspective. Frankfurt a. M./New York 2017, S. 219 – 234, hier 231 ff.

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Julia Richers die Verbindungen ­zwischen der Oktoberrevolution und der Räterepublik sowie des entstehenden Antibolschewismus in Ungarn auf. Der vierte Teil wagt schließlich den Blick über die europäischen Grenzen hinaus und betrachtet exemplarisch drei sehr unterschiedliche Gesellschaften, in denen die Oktoberrevolution eine beachtliche Resonanz fand. Michael Dreyer beleuchtet die Hintergründe jener hysterischen Furcht vor einem kommunis­ tischen Umsturz, ­welche die Oktoberrevolution in den USA auslöste. Grotelind Müller-­Saini zeichnet die Gründung der Kommunistischen Partei in China nach, die erheblich Zulauf hatte und bis heute die Geschicke des Landes leitet. Und Gero Fedtke zeigt, wie muslimische Reformer in Turkestan vor der Herausforderung standen, die Ziele der Revolution mit ihren politischen Anliegen zu verbinden. Mit dieser kleinen Fallauswahl ist die globale Resonanz der Oktoberrevolution bei weitem nicht abgesteckt. Dennoch sollen für die weitere Forschung an dieser Stelle zwei wichtige Zwischenergebnisse festgehalten werden: Es war häufig fehlendes Wissen über die Verhältnisse in Sowjetrussland, das die Vorstellungen von den Ereignissen bei Sympathisanten wie Gegnern der Revolution prägte und infolgedessen zu verzerrten Zukunftserwartungen führte. Und: Die Fehlperzeption der Ereignisse wurde von Akteuren beider politischen Lager zudem bewusst initiiert und vorangetrieben, um eine politisch gewünschte Resonanz hervorzurufen oder eigenes Handeln zu legitimieren. Einen »kausalen Nexus« ­zwischen Oktoberrevolution und dem Aufkommen der Idee vom ›jüdischen Bolschewismus‹ herzustellen greift also zu kurz, und erst recht die empiriefreie Fortführung ­dieses Gedankens, der Gulag sei »ursprünglicher als Auschwitz«, da der »›Klassen­mord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten« gewesen sei.51 Der globale Vergleich zeigt vielmehr, dass Antibolschewismus für ganz unterschiedliche politische Ziele instrumentalisiert werden konnte, und dort, wo er antisemitisch aufgeladen wurde, wiederum keineswegs ›logisch‹ in den Völkermord führte.

51 So Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. In: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München/Zürich 1987, S. 39 – 47, hier S. 45.

Gerd Koenen

Ein Zeitalter wird besichtigt Kommunismus als Weltgeschichte, 1917 – 2017

Als Historiker darf man die Tugend des Staunens nicht verlieren. Die Geschichte des modernen ›Kommunismus‹, das heißt der von Kommunistischen Parteien begründeten Staats- und Gesellschaftsformationen seit 1917, steckt voller präzedenzloser, ›unwahrscheinlicher‹ und jedenfalls hochinterpretationsbedürftiger Ereignisse und Phänomene – die den Verlauf des 20. Jahrhunderts entscheidend bestimmt haben, aber auch unsere Gegenwart unverändert prägen. Der große Umbruch von 1989 war sicherlich ein Schlüsselereignis der neue­ ren Geschichte – aber keines, das das »Ende der Geschichte« (im Sinne Francis Fukuyamas), das heißt des Übergangs in eine Weltordnung markiert hätte, die nach mehr oder weniger gleichen liberal-­demokratischen Regeln funktioniert. Fast im Gegenteil: Wir sind in ein Zeitalter neuer, komplexerer, virulenterer Mächtespiele, Systemkonflikte, Religionskriege und Kulturkämpfe eingetreten, denen gegenüber die Zeiten des ›Kalten Krieges‹ manchen schon fast idyllisch erscheinen; sehr zu Unrecht allerdings, denn die vierzig Jahre nach 1945 waren eine der blutigsten Perioden der menschlichen Geschichte, voller ›heißer‹ Kriege und Bürgerkriege, die bis an den Rand eines Atomkriegs führen konnten. Inmitten dessen dehnte sich das ›sozialistische Weltlager‹ über drei Jahrzehnte hinweg immer noch weiter aus, trotz aller internen Krisen und Erschütterungen, bis es 1979/80 mit rund 22 von Kommunisten geführten ›Volksrepubliken‹ auf allen Kontinenten seinen Zenit erreichte und rund ein Drittel der Menschheit umfasste. Umso unerwarteter war (auch für professionelle Beobachter und Auguren), was 1989/90 binnen weniger Wochen und Monate passierte. Man kann das kaum überzeichnen: So wie die Sowjetunion ist noch keine Weltmacht der Geschichte abgetreten. Dabei ist d­ ieses Megastaatswesen weder von außen besiegt noch von innen gestürzt oder unterminiert worden, im Gegenteil, der Kollaps kam nach einer ­kurzen Phase der Entspannung und Abrüstung, im Augenblick des vielleicht tiefsten Friedens, den Europa und die Welt im gesamten 20. Jahrhundert gekannt haben. Mit den Wahlen in Polen und dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 stürzte der um Moskau gescharte politisch-­militärische Block wie eine Kette von Dominosteinen zusammen, und nach einem letzten Putschversuch im August 1991 auch die UdSSR selbst, die eben noch als die zweite ›Supermacht‹ gegolten hatte.

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Aber genau im selben historischen Moment startete die Volksrepublik China unter der Ägide des greisen Deng Xiaoping und der Kommunistischen Partei Chinas eine völlig neue Karriere – und nicht ohne zuvor die im Frühjahr 1989 auf den Plan getretene demokratische Studentenbewegung auf dem Tienanmen-­ Platz in Peking sowie die Unruhen im ganzen Land blutig niederzuschlagen und seither auch alle anderen Formen der politischen Dissidenz mit den Mitteln einer fast fugenlosen Diktatur niederzuhalten. Aber mit seiner kühnen, fast totalen Ausrichtung auf den kapitalistischen Weltmarkt, ohne die ›Kommandohöhen‹ von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Geringsten aus der Hand zu geben, ist China, gerade auch durch eine fast manisch vorangepeitschte ökonomische Expansion, zum eigentlichen Motor der kapitalistischen Globalisierung und mittlerweile zur neuen, zweiten Supermacht neben den USA geworden, die sich ihrerseits im Sinkflug befinden. Im Herbst 2017 standen zwei Daten daher nebeneinander: einerseits das einhundertjährige Jubiläum des ›Roten Oktober‹, des Machtstreichs Lenins und der Partei der Bolschewiki im Oktober/November 1917, ein Ereignis, das noch in der Jubiläumsrede Gorbačëvs im Jahr 1987 als ein Wendepunkt der Menschheitsgeschichte gefeiert wurde, während es dem heutigen Russland Vladimir Putins wie eine Gräte im Hals seiner nationalfundamentalistischen Rückerfindungen steckt; und andererseits der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, auf dem die KP Chinas ihres eigenen ›Roten Oktober‹ gedachte – des Einmarschs einer ›Roten Arbeiter- und Bauernarmee‹ in Peking im Oktober 1949 und der Proklamation der Volksrepublik China von der Tribüne des Platzes des Himmlischen Friedens durch ihren Parteivorsitzenden und Bürgerkriegsstrategen Mao Zedong. 2017 fügte der zunehmend autokratisch herrschende neue Parteichef Xi Jingping seine Regierungslosung vom ›Chinesischen Traum‹ und seine esote­rische Theorieformel von den ›Vier Umfassenden‹ unter dem Label der ›Xi Jingping-­Ideen‹ dem bisherigen marxistisch-­leninistisch-­maoistisch und zugleich konfuzianisch inspirierten Parteiprogramm hinzu – einem Programm, das mit dem Satz beginnt: »Das höchste Ideal und das endgültige Ziel der Partei ist die Verwirklichung des Kommunismus.«1 Diese alle historischen Kategorien und Parameter sprengende Geschichte der Volksrepublik China, die nach sozialen, psychischen und ökologischen Maßstäben durchaus katastrophal, nach rein politischen und wirtschaftlichen Kriterien aber 1 Statut der Kommunistischen Partei Chinas sowie Text auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas am 24. Oktober 2017 beschlossenen Resolution über einen Zusatz zum Statut der KPCh. Abgerufen unter URL: http://www.xinhuanet.com/english/2017-10/24/c_136702726. htm, letzter Zugriff 24. 04. 2019.

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beispiellos erfolgreich war, zwingt womöglich dazu, die seit 1989 geläufige Formel vom ›Ende des Kommunismus‹ mindestens zu relativieren. Jedenfalls stellt sie alle konventionellen Weisheiten in Frage, wonach eine sozialökonomische Höherentwicklung sich früher oder später in einem Bedürfnis nach Demokratie, Rechtstaatlichkeit, persönlicher Selbstbestimmung und liberaler Selbsttätigkeit geltend machen müsse. Stattdessen wird all das, was man im 20. Jahrhundert als ›Kommunismus‹ bezeichnet hat, gerade noch einmal neu erfunden oder zumindest neu definiert und reformatiert. Freilich, auch das muskulöse politisch-­militärische Wiederauftrumpfen Russlands unter der Ägide Vladimir Putins und seiner aus der jüngeren sowjetischen Parteielite hervorgegangenen ›Machtvertikale‹, seine Versuche, die ›geopolitische Katastrophe‹ von 1991, den Auseinanderfall der UdSSR, so weit möglich zu revidieren, sowie das Agieren Moskaus als Problembär in der internationalen Arena lassen sowohl Brüche wie Kontinuitäten zur alten sowjetischen Weltpolitik erkennen. Vielleicht, so könnte man rückblickend fragen, hatte der Kommunismus als eine politische Kampfbewegung ja von Anfang an schon viel weniger mit Gemeinwirtschaft in einem empathischen Sinne als mit der forcierten Akkumulation und Zentralisierung staatlicher, ökonomischer und militärischer Macht in den Händen einer neuen, als Nomenklatura verschweißten politischen Klasse zu tun, und statt mit sozialer Gerechtigkeit oder Egalität eher mit beschützender Kollektivität und einem (imaginären) Aufgehobensein in einem großen, starken, unhinterfragbaren Ganzen. Nicht zufällig waren in allen postsowjetischen Republiken die neuen Führer zunächst die alten oder kamen aus den bisherigen Machtclans – und schlüpften fast übergangslos in das Gewand eines ›Vaters‹ ihrer jeweiligen frisch gebackenen Nation. Vielleicht konnte das angesichts des Mangels alternativer Eliten und demokratischer Prozeduren und Institutionen auch nicht anders sein. Aber das Faktum dieser soziopolitischen Kontinuität als solches muss – fern aller Konspirationstheorien – erst einmal festgehalten werden und macht den widerstandslosen Übergang der alten Regimes und Nomenklaturen in die neuen Verhältnisse jedenfalls sehr viel plausibler. In diesen vergleichsweise reibungslosen und unblutig verlaufenen Transformationen könnte man, so problematisch sie waren, durchaus auch einen zivilisato­ rischen Fortschritt sehen. Eine rundum tröstliche Erkenntnis ist das allerdings nicht. Denn der ›postkommunistische Zustand‹ ist großteils der einer sozialen Anomie, geprägt von einem weltanschaulichen und moralischen Zynismus auf Seiten der Herrschenden wie der Beherrschten, der sich wie das sarkastische Gegenbild der universellen Ideologisierung und Moralisierung von einst ausnimmt. Das neue Betriebssystem der postkommunistischen Staaten ist – soweit nicht die Europäische

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Union den Beitrittskandidaten elementare Rechts- und Sozialstandards vorgegeben hat – ein mehr oder weniger mafiös organisierter, von keiner Gewerkschafts- und Sozialbewegung begrenzter, durch keine gesetzlichen Normen oder demokratischen Öffentlichkeiten eingehegter, überwiegend auf den Weltmarkt und auf bare Devisengewinne ausgerichteter, monopolistischer Kapitalismus. Darin verbindet sich eine neue Oligarchie mit den politischen Funktionsträgern aller Ebenen zu einer ›herrschenden Klasse‹ zugleich älteren und neueren Typs. Das verrät aber weniger über ›den entfesselten Kapitalismus‹ von heute, schon gar nicht im Gegensatz zu einem ideellen ›Sozialismus‹ von einst; sondern es verrät primär etwas über den Grad der Zerstörung aller sozialen Bindungen und Verbindlichkeiten, sicheren Rechtsgrundsätze und etablierten Aushandlungsverfahren nach Jahrzehnten kommunistischer Parteidiktatur. Es ist also gerade ein ›postkommunistischer‹ Zustand, der diese ›frühkapitalistischen‹, in Wirklichkeit eher ›spätkapitalistischen‹ Verhältnisse ermöglicht hat. Tatsächlich waren die Grenzen z­ wischen Staatswirtschaft, Monopolwirtschaft, Kollektivwirtschaft und Privatwirtschaft längst vor 1989 schon schwimmend geworden. Was als eine zentrale Planwirtschaft unter dem Primat politischer Vorgaben daherkam, war im Laufe der Jahrzehnte zu seinem direkten und ironischen Gegenteil geworden: einem naturwüchsig sich selbst fortschreibenden und reproduzierenden Wirtschaftsprozess, der im Wesentlichen den partikularen Interessen seiner lokalen oder betrieblichen Akteure folgte oder unter der Hand schon zu einer monopolistisch-­mafiotisch strukturierten Privatwirtschaft mutierte. Daran konnten die nur scheinbar ›neoliberalen‹ Privatisierungen der 1990er Jahre, die in Wirklichkeit ganz den monopolistischen Mustern eines sowje­ tischen Indus­triefeudalismus folgten, organisch anknüpfen. Die eingeflogenen ›Chicago Boys‹ mit ihren monetaristischen Ideologien und Politiken waren nur die nützlichen Idioten der handstreichartigen Übernahme von Betriebsanlagen, Fuhrparks, Lände­reien und Rohstoffquellen für rein symbolische Kaufpreise mittels inflationierter Währungen und wertloser ›Coupons‹ für die Bürger, die die Kriegskosten des ganzen Sowjetunternehmens zu tragen hatten.

1. Der Urakt der bolschewistischen Machteroberung Dieses hier knapp skizzierte Bild der Umbrüche und Evolutionen vor und nach 1989 macht es natürlich nur umso fragwürdiger, wie die sieben Jahrzehnte des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs dieser Union Sozialistischer Sowjetrepubli­ken sich im historischen Rückblick erklären. Man könnte die Geschichte ­dieses Machtstaats neuen Typs als eine einzige, nicht abreißende Kette von Unwahrscheinlichkeiten

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und Fehlgedanken, von Illusionen und Katastrophen erzählen – aber gleichzeitig eben auch als eine Geschichte beispielloser Triumphe und historischer Siege, großer emotionaler, intellektueller oder künstlerischer Attraktionen sowie einer existenziellen Opferbereitschaft und Hingabe für die ›Sache‹, die ihresgleichen gesucht haben. Historisch beispiellos war von Anfang an auch das Phänomen einer auf Moskau orientierten ›kommunistischen Weltbewegung‹, die eine Zeitlang trotz aller Differenzen und Spaltungen als die größte und tiefgreifendste Massen­ bewegung des 20. Jahrhunderts gelten konnte, bevor sie nach 1989 ähnlich überstürzt und sang- und klanglos die Bühne verließ. ›Unwahrscheinlich‹ war schon die Situation im Herbst/Winter 1917, als niemand es für möglich gehalten hatte, dass die extremistische Aktionspartei der Bolschewiki die Staatsmacht, die sie in einem ­kurzen Moment des Patts und der Erschöpfung aller sozialen und politischen Kräfte in den Hauptstädten Russlands an sich gerissen hatte, für mehr als ein paar Wochen oder Monate würde festhalten können. Nicht einmal die Mehrzahl der Bolschewiki selbst glaubte das. Gerade erst hatte ihr Gründer und Führer Lenin in einer kühnen, von den eigenen Genossen noch kaum aufgenommenen theoretischen Improvisation die These aufgestellt, dass es möglich sei, auf Basis der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft des alten Regimes auf direktem Weg zu einem diktatorisch exekutierten ›Kriegskommunismus‹ unter der ausschließlichen Diktatur ihrer Partei überzugehen.2 Das war eine Perspektive, die alle Kategorien eines noch so radikal formulierten Marxismus außer Kraft setzte, so wie die halb konspirative, halb offene Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner, dem Deutschen Kaiserreich, alle Begriffe einer revolutionären Realpolitik überschritt. In ­diesem Sinne bedeutete der Griff nach der Staatsmacht im Oktober/November 1917 für Lenin und seine Parteigänger den Aufbruch in ein Niemandsland der Geschichte, aus dem es allerdings kein Zurück gab und der sich am ehesten vielleicht mit dem Zug der kleinen Scharen spanischer Conquistadoren ins Herz der unbekannten indianischen Großreiche Südamerikas vergleichen ließ, für die sie keine Karten besaßen und über die sie fast nichts wussten. Die Zahl der Opfer des Bürgerkrieges und der anschließenden Hungersnot überstieg die des Weltkrieges bei weitem. Aber gerade inmitten ­dieses Chaos konsolidierten die Bolschewiki ihre Macht. 2 Diese Position entwickelte Lenin schon im Exil in Umrissen und verfocht sie 1917 in einer Vielzahl von Artikeln und Reden. In einem expliziten Programm formulierte er diese Auffassung im Oktober 1917 – unmittelbar vor dem Machtstreich – in einer Zeitschrift, später auch in einer als Broschüre verbreiteten Schrift. Siehe Wladimir I. Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? In: Lenin Werke (LW) 26. Berlin 1972, S. 71 – 113.

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In der Realität war der Lenin’sche ›Kriegskommunismus‹ wenig mehr als eine salbungsvolle Umschreibung der bedingungslosen Ausrichtung aller Produktions- und sonstigen Potenziale auf die Erfordernisse eines Bürgerkrieges, den die Bolschewiki offensiv eröffneten und mit allen Mitteln von Konfiskation, Aushungerung, Zwangsarbeit, Geiselnahme und Massenterror vorantrieben. Die Resultate ihres Siegs nach drei Bürgerkriegsjahren waren rundum desaströs. Die materielle Produktion war auf einen Bruchteil der Vorkriegsziffern gefallen, das ganze Land in einen Zustand des primitiven Naturaltauschs zurückgefallen und damit eine ›klassenlose Gesellschaft‹ im schlimmsten Sinne geworden. Nicht nur ein Großteil des Adels, Klerus und Bürgertums war sozial oder physisch verschwunden. Auch eine Überschüsse produzierende Bauernschaft gab es kaum noch, so wenig wie regulär arbeitende Handwerker und Händler. Die großen Fabrikzentren waren nach einer Serie großer, ›konterrevolutionärer‹ Streiks großteils aufgelöst, geplündert und stillgelegt. Wie Lenin in einer schneidenden Replik auf die parteiinterne »Arbeiteropposition« 1921 feststellte, gab es in Russland überhaupt keine Arbeiterklasse mehr.3 Diese rhetorisch unablässig beschworene, ›führende Klasse‹ verkörperten allein sie selbst, die Bolschewiki, kraft ihres ›Klassenbewusstseins‹. Noch ›unwahrscheinlicher‹ war die Tatsache, dass es der im Bürgerkrieg mit drakonischer Härte neu formierten Roten Arbeiter- und Bauernarmee gelang, in einer Kette von Feldzügen bis 1922/23 die meisten der abgefallenen, in selbständige Republiken verwandelten Gebiete der Ukraine, des Kaukasus und Zentralasiens zurückzuerobern und – anders als das untergegangene Habsburger Reich oder das zerfallene Osmanische Reich – das Russische Vielvölkerreich wieder in einen zentralisierten Staatsverband zurückzubringen. Damit hatten die Bolschewiki, wie nationalistische Emigranten reuevoll anerkannten, »mit roten Händen die Sache Russlands« vollbracht: nämlich den Kern des alten Imperiums wiederhergestellt.4 3 Wladimir I. Lenin: Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR (B) (an den XI . Partei­tag), 27. März 1921. In: LW 33. Berlin 1972, S. 249 – 309. – Die Vertreter der »Arbeiteropposition« (Schljapnikow, Kollontai u. a.) erklärten, dass von allen Klassen der Russischen Sowjetrepublik »die Arbeiterklasse die einzige Klasse ist, die ein Sträflings-, ein schmähliches, elendes Dasein fristet«. Ihre Kritik wurde von Lenin mit der Feststellung abgefertigt, es gebe doch in den meisten Betrieben überhaupt keine Arbeiter im marxistischen Sinne mehr, sondern nur noch Leute, die sich vor dem Militärdienst drückten oder »allerlei zufällige Elemente«. Zitat siehe ebd., S. 286. 4 So der ›weiße Rückkehrer‹ Nikolaj Ustrjalov in dem Almanach Smena Vech (Wechsel der Wegzeichen). Hier zit. nach Michail Heller: Geschichte der Sowjetunion. Bd. 1: 1914 – 1939. Frankfurt/M. 1985, S. 137 f.

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Freilich waren sie weit davon entfernt, d­ ieses gewaltsam zusammengeflickte Riesenreich auch wirklich zu beherrschen und zu durchdringen. Noch weniger waren sie in der Lage, die vitale ›Anarchie der Kleinproduzenten‹, die im Zuge der 1922 hastig eingeführten ›Neuen Ökonomischen Politik‹ zu einer kräftigen kleinkapitalistischen Erholung geführt hatte, ihrem Kommando zu unterwerfen. Vor allem deshalb rüsteten sie Ende der 1920er Jahre unter Führung Stalins zu einem neuen Feldzug, der einem noch ›unwahrscheinlicheren‹ Ziel diente: nämlich der totalen Kollektivierung aller agrarischen und industriellen Produktion im Rahmen zentraler ›Fünfjahrpläne‹ sowie der Ersetzung jeglichen freien Handels durch ein System staatlicher Versorgung und Zuteilung. Parallel dazu wurden die letzten Äußerungen kultureller Eigenständigkeit und geistiger Unabhängigkeit, von der Religion bis zur Kunst in einer wilden ›kulturrevolutionären‹ Kampagne unter die Diktatur und Zensur der Partei gestellt. Eine s­ olche Totalisierung des Anspruchs einer alleinherrschenden Partei auf die Lebensgestaltung aller ihrer Subjekte hatte es noch nie und nirgends in der Geschichte gegeben.

2. Stalin – Der eigentliche Staatsgründer Diese 1929 eingeleitete Politik der totalen Kollektivierung und Gleichschaltung bedeutete nichts Geringeres als einen von oben entfesselten, zweiten Bürgerkrieg, dessen sozialökonomische Folgen abermals verheerend waren: ein über Jahre dauernder Kollaps der agrarischen Produktion durch die Vernichtung des Bauerntums und der ländlichen Welt des alten Russland sowie seiner ukrainischen, jüdischen und muslimischen Grenzgebiete; die Einebnung fast aller historisch gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und Arbeitsteilungen; der erneute Tod von Millionen Menschen durch Terror, Zwangsarbeit, Deportation, Hunger, Krankheit, Verzweiflung. Aber so wie es Lenin gelungen war, gerade im Chaos des ersten Bürgerkrieges einen eisern zusammengeschmiedeten neuen Machtapparat zu formen, so gelang es Stalin im blutigen Morast der Kollektivierung, einen neuen, ihm völlig ergebenen Machtkörper und einen weit überdimensionierten militärisch-­industriellen Komplex und Staatsmoloch aus dem Boden zu stampfen. Die Motive dieser gewaltsamen Neuformierung lagen vorwiegend im Inneren, weniger im Äußeren und schon gar nicht im Aufstieg der faschistischen Mächte, wie die spätere Antifa-­Legende es wollte. Mit Mussolinis faschistischem Italien befand die Sowjetunion sich im besten Einvernehmen. Und die Machteroberung der Nazis in Deutschland 1933 wurde anfangs mit bemerkenswerter Neutralität oder sogar mit spekulativen Erwartungen verfolgt, solange die ›imperialistischen Widersprüche‹ sich weiter verschärften. Die Umstellung der von Moskau

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dirigierten Kommunistischen Internationale 1935 auf eine Strategie der antifaschistischen ›Volksfront‹ und ›kollektiven Sicherheit‹ folgte tatsächlich rein taktischen Erwägungen der Moskauer Außenpolitik und wurde bereits Ende 1938 stillschweigend wieder revidiert. Der überfallartig abgeschlossene Hitler-­ Stalin-­Pakt vom August 1939, mit dem der Zweite Weltkrieg eröffnet wurde, war unter der Hand längst vorbereitet und traf jedenfalls weder in Moskau noch in Berlin auf Hindernisse prinzipieller Art.5 In einem bezeichnenden Gegensatz zu diesen kaltblütigen Schachzügen auf der Weltbühne stand der paranoide Verfolgungswahn, der den engeren Stalin’schen Machtzirkel in den 1930er Jahren infiltriert hatte und von dem berechtigten Gefühl bestimmt war, mit all ihrer totalen Macht auf sozialem Treibsand zu stehen. Die Art und Weise, wie die herrschende Partei der Bolschewiki in den Jahren des sogenannten Großen Terrors von 1934 bis 1939 im ­­Zeichen des ­Kampfes gegen ›Judas Trockij‹ und seine fiktiven Agenten sich selbst und ihren aktiven Funktionärskader, ihre Fach- und Wissenschaftseliten, ihre erprobten Militärs usw. zerfleischte, gehörte wieder zu den ›unwahrscheinlichsten‹ Seiten des Aufstiegs der UdSSR zur Weltmacht. Für ein solches Massaker in Friedenszeiten gab und gibt es keinerlei historische Präzedenz. Und es ist eine bis heute kaum zu beantwortende Frage, wie ­dieses Staats- und Gemeinwesen einen derartigen monströsen ›Blutaustausch‹ seines eigenen, aktiven Personals überhaupt überleben konnte – von den Millionen sozial oder physisch vernichteten ›Volksfeinden‹ und ›Schädlingen‹ aller Kategorien noch ganz zu schweigen. Zu den Opfern des ›Großen Terrors‹ der späten 1930er Jahre gehörten auch Zehntausende in die Sowjetunion emigrierter Nazigegner, spanischer Bürgerkriegskämpfer, exilierter ausländischer Parteiführer und Mitarbeiter der Internationale, kurzum: die Blüte der um das ›rote Moskau‹ gescharten kommunistischen Weltbewegung. Das ergänzte sich mit einem neuartigen Massenterror gegen alle ›feindliche Nationalitäten‹ im Inneren der Sowjetunion: gegen Polen, Deutsche, Finnen, Esten, Koreaner, Griechen, Türken usw. – gegen alle, die ein ›fremdes Vaterland‹ außerhalb der Grenzen der UdSSR hatten. Das Mutterland des ›proletarischen Internationalismus‹, in dem es der neuen Verfassung von 1936 zufolge keine Klassen mehr gab und alle Nationalitäten gleichberechtigt waren, verwandelte sich damit in einen Hexenkessel der Xenophobie und ethnischen Säuberungen. 5 Zu der langen Kontinuität des von Lenin eröffneten strategischen Zusammenspiels z­ wischen bolschewistischer Revolutions- und sowjetischer Weltpolitik einerseits und den imperialen Bestrebungen des Deutschen Reichs zum Umsturz bzw. zur Revision der gegebenen Weltordnung vom ­Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg siehe meine Darstellung in Gerd Koenen: Der Russland-­Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945. München 2005.

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Aber dieser Schrecken ohne Ende war noch immer nicht der Tiefpunkt. Der kam, als das zynische Spiel mit dem von Hitler entfesselten Weltkrieg, bei dem die Sowjetunion sich die östliche Hälfte Mitteleuropas kampflos (bis auf das widerborstige Finnland) als Beute einverleibt hatte, während Stalin auf eine gegenseitige Schwächung der ›alten‹ und ›jungen‹ Mächte im Westen hoffte,6 sich im Juni 1941 plötzlich gegen die Sowjetunion wendete. Diese monströse Fehlkalkulation, mit der der Führer der Sowjetunion alle Warnungen seiner Diplomaten und Agenten und dringende Vorstellungen seines Generalstabs in den Wind schlug, führte zum katastrophalsten Zusammenbruch der Militärgeschichte. Binnen weniger Tage und Wochen verlor die hochgerüstete, offensiv aufgestellte Rote Armee das Gros ihres Materials und ihrer Truppen. Millionen Rotarmisten wanderten in eine Gefangenschaft, die sie nicht überleben sollten. Das Land lag, fast wie in Hitlers wahnwitzigsten Fieberträumen, dem deutschen Versklavungs- und Vernichtungsfeldzug offen. Erst in zweijährigen auf Messers Schneide stehenden Winterschlachten vor Moskau, Stalingrad und Leningrad rannten die deutschen Armeen sich schließlich fest. In dieser Stunde der äußersten existenziellen Herausforderung scharte sich vor allem das alte und neue Staatsvolk der Russen tatsächlich noch einmal um einen Führer, der es plötzlich mit ›Brüder und Schwestern‹ ansprach und statt zur Verteidigung des Sozialismus zu einem ›Großen Vaterländischen Krieg‹ aufrief. Unter beispiellosen Menschenverlusten trat die mit amerikanischer Hilfe neu ausgerüstete Rote Armee ab 1943 wieder den Vormarsch an, der sie im Frühjahr 1945 bis nach Berlin führen würde – während hinter den Fronten, noch mitten im Krieg, und erst recht dann nach dem Endsieg, sich bereits ein neues, ungeheuerliches Strafgericht vollzog, nicht nur an den Millionen Kollaborateuren, sondern an allen als unzuverlässig erklärten Völkerschaften der Sowjetunion, die (wie etwa die Tschetschenen) mit Frauen, Kindern und Greisen unter mörderischen Bedingungen in die unwirtlichsten Gebiete des Reiches deportiert wurden. 6 So erklärte Stalin dem Chef der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitrov, in einer Unterredung am 7. September 1939: »Der Krieg wird ­zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Staaten (armen und reichen in bezug auf Kolonien, Rohstoffe usw.) um die Aufteilung der Welt und um die Weltherrschaft geführt. Wir haben nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegeneinander Krieg führen und sich schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn durch die Hand Deutschlands die Position der reichsten kapitalistischen Länder (besonders Englands) zerrüttet werden würde. Ohne es zu wissen und zu wollen, untergräbt Hitler das kapitalistische System […]. Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere aufhetzen, damit sie sich umso heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nichtangriffspakt hilft Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit muss man die andere Seite aufhetzen.« Siehe Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933 – 1943. Hrsg. v. Bernhard H. Bayerlein. Berlin 2000, S. 273.

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Aber auch die von den Deutschen verschleppten Zwangsarbeiter und selbst die Kriegsgefangenen, die die nationalsozialistischen Lager überlebt hatten, wanderten als verdächtige ›Landesverräter‹ zu Hunderttausenden weiter in die Lager. Alle Hoffnungen auf eine Milderung oder Demokratisierung des Regimes, die sich an die antifaschistische Kriegskoalition mit den westlichen Demokratien geheftet hatten, wurden schon vor dem Ende des Krieges radikal frustriert. Und doch konnte sich Stalin 1945 im milden Lichte eines überlebensgroßen Ruhmes als Sieger des Weltkrieges und Retter des Vaterlands sonnen. So hart am Abgrund sein Regime in den Jahren der Kollektivierung, des Terrors und des militärischen Zusammenbruchs gestanden hatte, so ungefährdet konnte es sich nun in der verwüsteten Nachkriegslandschaft des abermals erweiterten Sowjetimperiums von neuem etablieren. Mehr noch: In einem absurden Akt retrospektiver Sinnstiftung erschienen vielen Menschen nach den Schrecken des Weltkrieges die vorausgegangenen ›Säuberungen‹ als ein Beweis der Weitsicht des Führers und die wiedergewonnene Weltmacht als eine Kompensation aller Leiden und Entbehrungen. Dem entsprach Stalins überragende Statur auf der Weltbühne. Zu seinem siebzigsten Geburtstag im Dezember 1949 wurde er in allen Sprachen als Führer des Weltproletariats, Befreier der Völker, Koryphäe aller Wissenschaften, ­bester Freund der Kinder, der Frauen und überhaupt aller Menschen gerühmt und besungen, wie kein lebender Mensch vor und nach ihm. Und zu seiner Rechten stand Mao als Führer der neuen Volksrepublik China, zu seiner Linken sein Ostberliner Statthalter Walter Ulbricht und die Führer aller neuen ›Volksrepubliken‹, die sich jetzt zu einem neuen sozialistischen Weltlager ›von der Elbe bis zum Jangtse‹ gruppierten.

3. Realität und Fiktion eines Weltkommunismus Richtet man den Blick auf die schon erwähnte politisch-­systemische Weltkarte der 1980er Jahre, die den ›Weltkommunismus‹ im Zenit zeigt, erschließen sich die innere Dynamik und Struktur dieser historischen Bewegung und die Triebkräfte ihrer weiteren Entfaltung noch deutlicher, sowohl geografisch wie auch chronologisch. Den historischen und geografischen Kern bildete die Sowjetunion mit dem Gürtel ihrer ostmitteleuropäischen, 1955 im Warschauer Pakt zusammengefassten Satellitenstaaten. Den zweiten Schwerpunkt bildeten China sowie eine Reihe ostasiatischer ›Volksrepubliken‹: Nordkorea, das vereinte Vietnam, Laos und Kambodscha/Kampuchea. Einen dritten, äußeren, wenn man so will südlichen

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Abb. 1  Der Kommunismus auf dem Höhepunkt seiner Macht (Ende der 1970er Jahre)

Ring bildeten Kuba, das teils auf eigene Rechnung, teils im Verein mit der Sowjetunion seit den 1960er Jahren eine Art eigenen Revolutionsexport betrieb, sowie eine Reihe neuer ›Volksrepubliken‹ im Nahen Osten und in Afrika, von Afghanistan und Jemen über Äthiopien bis Mosambik, Simbabwe und Angola. Auf dieser Weltkarte einzuzeichnen wären darüber hinaus noch eine Reihe lateinamerikanischer Guerillabewegungen, in Nicaragua, El Salvador, Kolumbien oder Peru, sowie maoistischer ›Volksarmeen‹, die in den meisten ost-, südost- und südasiatischen Ländern kämpften. Last, not least gab es in so gut wie allen Ländern der Welt mehr oder weniger starke, meist an Moskau orientierte, teils legale, teils illegale und in Bündnisse eingebundene Kommunistische Parteien, die eine gewisse, oft konstruktive historische Rolle gespielt haben, von der KP Italiens, die in den 1970er Jahren die Republik gegen den Linksterrorismus und Neofaschismus verteidigte, bis zur KP Südafrikas, die das stille Rückgrat des African National Congress (ANC) Nelson Mandelas war, der 1990 freigelassen wurde und 1994 die Regierung übernahm. Chronologisch betrachtet schlugen sich in d­ iesem Panoramabild drei große historische Wellen kommunistischer Aufschwünge und Machteroberungen nieder. So war die nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg gegründete Union Sozialistischer Sowjetrepubliken (UdSSR ) zum Zentrum einer Kommunistischen Internationale als einer vollkommen präzedenzlosen supranationalen Organisation geworden. Und obwohl sie als eine kommunistische ›Weltpartei‹ eklatant versagte, vor allem in der großen kapitalistischen Weltwirtschaftskrise 1929/30,

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wurde sie zur Petrischale aller später siegreichen oder sieglosen Kommunistischen Parteien und aller wichtigen Führerfiguren der ersten Generation, von Ho Chi Minh über Tito bis Mao. Die Machteroberungen der faschistischen Bewegungen, namentlich Hitlers und des deutschen Nationalsozialismus 1933, und dann die Aggressionen und Okkupationen Deutschlands, Italiens, Japans z­ wischen 1936 und 1945 brachten die beinahe vernichteten Kommunistischen Parteien von ­Jugoslawien bis China durch die Bildung nationaler Befreiungsfronten dann wieder in die Vorhand. So wurden, sehr pauschal gesagt, der Faschismus und der Zweite Weltkrieg zur großen, eigentlichen Trittleiter des Weltkommunismus. Diese 1917 eröffnete historische Sequenz setzte sich ab 1947 fort in der Gründung einer Reihe neuer, von Kommunisten geführter ›Volksrepubliken‹, nachdem die Rote Armee bis Berlin und bis in die Mandschurei, also Nordchina, vorgerückt war. Aber die Gründung der VR China am Ende eines mehrjährigen, mit eigenen, regulären roten Armeen geführten Bürgerkrieges war dann doch ein zweites, epochales Ereignis. Und auch die Proklamation der Demokratischen Republik Vietnam durch Ho Chi Minh, der Föderativen Sozialistischen Republik ­Jugoslawien durch Tito und selbst der Volksrepublik Albanien durch Enver Hoxha, waren kein bloßes Ergebnis der sowjetischen Vormärsche, sondern konnten sich jeweils auf beachtliche autochthone Kräfte stützen. Das gilt ebenso für die dritte Welle kommunistischer Staatsgründungen, die mit der Konversion des 1959 zum ›Maximo Líder‹ gewordenen Nationalrevolutionärs Fidel Castro im Vorfeld der Kubakrise von 1962/63 zum Marxismus-­Leninismus begann; gefolgt von der Gründung einer Reihe arabischer und afrikanischer ›Volksrepubliken‹, teils im Zuge des Zusammenbruchs des letzten, nämlich portugiesischen Kolonialreichs, teils infolge der weltpolitischen Orientierung an die Macht geputschter, von kleinen KPs infiltrierter Offiziersgruppen wie in Afghanistan, im Südjemen und vor allem im Vielvölkerreich Äthiopien, die sich dann allerdings nur noch mit sowjetischer Finanz- und Militärhilfe behaupten konnten. Dieses schon stark aufgelockerte, keinesfalls monochrome Bild sehr unterschiedlicher Umstürze und Staatsgründungen, die sich über mehr als sechs Jahrzehnte hinzogen, würde sich noch einmal erheblich differenzieren, würden wir die Vielzahl der politisch-­ideologischen Spaltungen und Schismen mit einbeziehen, die sich beispielsweise in der Gründung einer ephemeren und doch langlebigen ›IV. Internationale‹ der Trotzkisten niederschlug, sowie – weit gravierender – die von handfesten nationalen oder auch imperialen Interessen und Differenzen getriebenen Konflikte ­zwischen den zur Macht gekommenen Kommunistischen Parteien und den von ihnen begründeten ›Volksrepubliken‹. Das begann 1947 mit dem Konflikt ­zwischen Tito und Stalin, also ­zwischen Jugoslawien und dem gesamten, um die Sowjetunion gescharten Block. Dazu trat

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in den 1960er Jahren das tiefe, fast tödliche Schisma z­ wischen der Sowjetunion und der VR China, ein Konflikt, der 1969/70 fast an den Rand eines großen, potenziell sogar atomar geführten Weltkonflikts geführt hätte. Die KP Chinas griff damals die Sowjetunion und die KP dSU als eine ›revisionistische‹ und ›sozialimperialistische‹ Macht an, die sogar noch aggressiver und reaktionärer sei als die USA – während die Sowjetunion das maoistische, in kulturrevolutionären Wirren versunkene China eine ›sozialfaschistische‹ Macht nannte, die nur mit Hitler verglichen werden könne. Dieses große Schisma z­ wischen der KPdSU und KP Chinas hatte bereits mit Weltgeltung zu tun, sogar mit welthistorischen Suprematieansprüchen. Man denke an die Unmassen wiederaufgelegter Lenin-­Texte hier und von Mao-­Schriften dort sowie an eine Broschürenliteratur, die von Moskau beziehungsweise von Peking aus in allen Weltsprachen und in astronomischen Auflagen verbreitet wurden – mittels derer die UdSSR sich als das unbesiegbare Bollwerk eines antiimperialistischen ›Weltfriedenslagers‹ und die VR China als die militante Speerspitze einer Front der kolonial und hegemonial unterdrückten Länder und Völker präsentierten. Just auf dem Höhepunkt dieser Konflikte, parallel zum immer noch weiter tobenden Krieg der USA in Vietnam und Indochina, tauchten Präsident Nixon und der Metternich der Kalten-­Kriegs-­Ära, Henry Kissinger, 1972 in Peking auf und konstituierten im Zusammenspiel mit Tschou En-­lai ein neues, weltpolitisches Dreieck, das den Rahmen des bisherigen ›Ost-­West-­Gegensatzes‹ oder einer kapitalistisch-­sozialistischen ›Systemkonkurrenz‹ bereits sprengte. Dabei lauerte der ›Faschismus‹ in diesen internen Kämpfen immer gleich um die Ecke. Die ›Trotzkisten‹ waren in den Augen der Stalinisten verkappte Faschisten, so wie umgekehrt (tendenziell) auch. Dasselbe galt für die als Agenten und Abtrünnige gebrandmarkten, verhafteten und erschossenen osteuropäischen Parteiführer, wie Rudolf Slánský 1952 in der ČSSR oder Imre Nagy in Ungarn 1956. Als 1971 der Stellvertreter Maos und Kompilator des Roten Buches, Marschall Lin Piao, nach einem angeblichen Putschversuch auf der Flucht in die Sowjetunion, mit dem Flugzeug abstürzte oder abgeschossen wurde, war er über Nacht vom treuesten Gefährten des Großen Steuermanns zum Faschisten geworden – so wie auch Maos Witwe Tschiang Tsching mit ihrer Kamarilla, der ›Viererbande‹, nach ihrem vergeblichen Griff nach der Staatsmacht 1976 sofort zu einer faschistischen Verschwörung mutierten. Naheliegender, aber historisch nicht präziser war es, dass in der Propaganda Moskaus und Hanois auch der Führer der ›Roten Khmer‹, Pol Pot, mit Hitler verglichen wurde, nachdem er sich in einer blutigen Säuberungskampagne gegen alle geheimer Kontakte mit Vietnam verdächtigen Parteikader und gegen die ethnischen Vietnamesen in Kambodscha insgesamt gewandt hatte, und gleichzeitig

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auch gegen alle als urban, gebildet, ›verwestlicht‹ und daher moralisch ›korrumpiert‹ geltenden städtischen Bewohner seines Landes. Das war nur die Begleit­ musik zu einem fast sofort nach der Befreiung 1975 aufgebrochenen Grenzkonflikt des ›Demokratischen Kampuchea‹ mit dem eben erst wiedervereinten Vietnam, der sich um sehr alte Land- und Hegemonialansprüche dreht, die bis in die Zeit der mittelalterlichen Königreiche zurückreichten und teilweise Züge eines ethnischen oder Rassenkriegs annahm. Es waren die Kommunisten Vietnams, nicht die westliche Öffentlichkeit, die zuerst gegen das Regime der ›Roten Khmer‹ den Vorwurf des ›Genozids‹ erhoben, kurz bevor ihre kampferprobten Divisionen Phnom Penh militärisch überrannten; was wiederum dazu führte, dass die Sozialistische Republik Vietnam sich in einen Konflikt mit der Volksrepublik China verstrickte, die sich – mit stillschweigender Rückendeckung der USA! – 1979/80 ermutigt und berechtigt sah, einen eigenen, äußerst blutig und brutal geführten Militärschlag gegen seinen südlichen Nachbarn zu führen, um ­diesem eine ›Lektion‹ zu erteilen und die im Dschungel weiterkämpfenden und international weiterhin als legitime Regierung anerkannten ›Roten Khmer‹ zu entlasten. Kurzum, wir befinden uns hier in einer Sphäre ›roter Kriege‹, die keineswegs primär in rein doktrinären und systemischen Differenzen begründet waren, sondern entweder einen profanen, machtpolitischen Charakter trugen oder um sehr alte historische Titel und Ansprüche ausgetragen wurden – kaum anders als der parallel geführte, ähnlich vernichtende Krieg z­ wischen dem islamisch-­ revolutionären Iran Khomeinys und dem panarabisch-­revolutionären Irak ­Saddam Husseins.

4. Die realen Triebkräfte kommunistischer Staatsgründungen Ein paar allgemeine Schlussfolgerungen lassen sich aus dem bisher Gesagten ziehen. Da ist zunächst der offenkundig essenzielle Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen: Damit relativ kleine Kommunistische Parteien jeweils nach der Macht greifen konnten, bedurfte es des Zusammenbruchs von Staaten und Reichen, die durch alte Eliten getragen waren sowie der durch den Krieg und die Okkupationen hervorgebrachten sozialen Destruktionen und Umwälzungen. Das war das Feld, in dem Kommunistische Parteien die Vorteile ihrer ureigenen politisch-­ militärischen Verfassung als ›Kaderparteien‹ ausspielen konnten. Gleichzeitig bedurfte es der Erschütterung der gegebenen internationalen Machtordnungen. Beide Weltkriege entstanden primär aber aus einer imperialistischen Mächtekonkurrenz, die von den Konjunkturen und Konflikten der kapitalistischen Weltwirtschaft und des kolonialen, postkolonialen oder imperialen

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Weltsystems zumindest nicht getrennt werden kann. Das eben verlieh dem kommunistisch codierten Antikapitalismus und Antiimperialismus eine gewisse, primäre Überzeugungskraft und ermöglichte es diesen Parteien, sich zu Gründern nationaler Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegung aufzuwerfen oder in das Gewand eines je nachdem taktisch adaptierten oder fallengelassenen Antifaschismus zu schlüpfen. Diese politisch-­moralischen Titel eines militanten ›Antiimperialismus‹ und ›Antifaschismus‹ konnten im ­­Zeichen des Kalten Krieges nicht selten mit einiger Glaubwürdigkeit auch gegen die Verbündeten oder Klienten des westlichen Antikommunismus in Asien oder Lateinamerika gewendet werden, darunter vielfach Militärdiktaturen, die jedenfalls ungleich zahlreicher waren als Demokratien. Auch in den westeuropäischen Ländern fanden diese an erster Stelle gegen die westliche Allianz gerichteten Agitationen einigen Widerhall, so wie in der westdeutschen Bundesrepublik die anfangs gesamtdeutsch, nach dem Mauerbau 1961 vor allem ›antifaschistisch‹ und ›antimilitaristisch‹ camouflierten Kampagnen aus Ostberlin auch. So verlogen die Selbstdeklarationen des fieberhaft rüstenden und hochmilitarisierten ›Weltfriedenslagers‹ östlich der Elbe auch waren, sie konnten gar nicht so verlogen sein, um nicht an den hegemonialen Ausbeutungsregimes, Putschpraktiken und Einmischungen der westlichen Mächte, vor allem der USA, immer noch genügend Stoff und Plausibilität zu finden. Die katastrophale Bilanz des westlichen ›Antikommunismus‹, insbesondere der unter d­ iesem Signum geführten Kriege und Interventionen, hat dem relativen Siegeszug des ›kommunistischen Weltlagers‹ vermutlich eher den Weg bereitet als verstellt. Wo, könnte man fragen, sind in ­diesem Bild eigentlich die ›Klassenkämpfe‹ der Arbeiterklasse, des Proletariats? In den Anfängen der russischen Revolutionen der Jahre 1905 und 1917 waren die konzentrierten und organisierten Arbeiter­ schaften sehr präsent und ein realer Akteur. Nicht nur die beiden Hauptstädte Petersburg (Petrograd) und Moskau wurden von Streiks der Großbetriebe und von Massendemonstrationen sehr proletarischen Gepräges buchstäblich überschwemmt, in Formen (etwa der ›Sowjets‹, der Räte) und mit einem Pathos, wie man das bis dahin nirgendwo auf der Welt gesehen hatte. Und auch der bolschewistische Machtstreich im Oktober/November konnte sich außer auf Teile der Garnison und der Flotte immerhin auch auf einen Block von Arbeiter­komitees und Roten Garden der Großbetriebe stützen, in denen bolschewistische Agitatoren und Organisatoren die Führung übernommen hatten. Am Ende des mehrjährigen Bürgerkrieges aber war die ganze, seit dem Beginn des Jahrhunderts in einzigartiger Weise sozialistisch inspirierte russische Arbeiterbewegung fast vollkommen zerschlagen, zerstreut, gefallen oder in den neuen, bürokratisierten Machtapparat aufgesogen.

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Im Westen blieben Kommunisten in den Arbeiterbewegungen, im Verhältnis zur Sozialdemokratie oder auch christlichen Parteien und Organisationen, in der Regel deutlich minoritär. Zwar verfügten diese Parteien, allen voran die KPD , in den 1920er Jahren über paramilitärische Formationen mit proletarischem Gepräge; zu einem übergroßen Teil rekrutierten sie sich allerdings aus den Reihen der Arbeitslosen, unterstützt von einem relativ starken intellektuellen und künstlerischen Element, das in der Kultur der Weimarer Republik wie anderer westlicher Länder einige Prominenz besaß. Aufs Ganze gesehen markierte gerade die kapitalistische Weltwirtschaftskrise 1929/30 aber den Tiefpunkt der kommunistischen Parteibewegungen im Westen und gerade auch ihrer zähen Bemühungen, in den industriellen Arbeiterschaften tiefer Fuß zu fassen. Auch in China gab es in den 1920er Jahren erste virulente proletarische Klassen­bewegungen. Aber sie waren untrennbar vermischt mit den aus der ›4.-Mai-­Bewegung‹ von 1919 hervorgegangenen nationalrevolutionären Bestrebungen, die sich vor allem gegen die Versailler Mächte und das von ihnen begünstigte Japan, das sich in China festzusetzen begann, richteten. Der Versuch der 1921 auf Initiative der Kommunistischen Internationale gegründeten Kommunistischen Partei Chinas, sich halb im Bündnis und halb in Konkurrenz mit der nationalistischen Kuomintang in den großstädtischen Bevölkerungen und besonders den jungen industriellen Arbeiterschaften zu verankern, erwies sich als ein heroischer Fehlschlag, der in den Massakern von Kanton und Shanghai 1927 endete. Stattdessen kam, großteils gegen den Widerstand der Komintern-­Zentrale in Moskau, die von Mao verfolgte, eher agrarrevolutionär ausgerichtete Linie in die Vorderhand, bei der die Partei selbst sich in eine marschierende ›Rote Arbeiterund Bauernarmee‹ verwandelte. Als der knapp dreißigjährige ›Kulakensohn‹ und Bibliothekar Mao Zedong 1921 an der von 13 Personen, durchwegs Intellektuellen, getragenen Gründung einer KP Chinas teilnahm, hatte er vom Marxismus, aber auch vom bolschewistischen Schrifttum so gut wie keine Ahnung. Außer ein paar Auszügen des Manifests und ein paar älteren Schriften von Karl Kautsky, der in Moskau freilich zu dieser Zeit schon als der schlimmste aller Renegaten verschrien war, existierte auch so gut wie kein marxistisches Schrifttum in chinesischer Übersetzung. Dagegen gab es in Russland zu dieser Zeit bereits eine mehr als vierzigjährige Tradition marxistischer Theoriediskussionen, eine mehr als zwanzigjährige Tradition sozialistischer Zirkel und Parteigründungen sowie eine virulente revolutionäre Tradition, die erhebliche Teile der städtischen, partiell auch der ländlichen Bevölkerungen erfassten. Nichts davon fand sich in China, das im 20. Jahrhundert nach und neben Russland den anderen großen Fall einer kommunistischen Machtergreifung darstellen sollte.

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Es hatte insofern seine Logik, wenn die Bolschewiki zuerst in den Hauptstädten und anderen städtischen Zentren Russlands die Macht eroberten und von dort aus das Gros des alten Reiches in einer Serie kurzer, konzentrierter Feldzüge neu zusammenfügten. Die Grundbewegung der chinesischen Revolution war dagegen exakt umgekehrt: eine über zwei Jahrzehnte sich erstreckende, langsame militärische Einkreisung der Städte vom Land aus. Und während der bolschewistische Machtstreich einen fünfjährigen, verheerenden Bürgerkrieg erst entfesselte, beendete der Einmarsch der Truppen Maos in die Hauptstädte einen fast dreißigjährigen, womöglich noch verheerenderen Bürgerkrieg ­zwischen allen möglichen Parteien, Warlords usw., der auch von ausländischen Mächten genährt worden war. Daraus ergibt sich bis heute die demokratisch zweifelhafte, aber politisch tragfähige Legitimität der chinesischen Kommunisten – als Retter und Wiederaufrichter Chinas nach einer mehr als hundertjährigen Abwärtsbewegung. Tatsächlich stellte Mao die Gründung der Volksrepublik ganz explizit in die Kontinuität der chinesischen Reichsgeschichte, wenn er etwa sagte: Die Chinesen sind von jeher eine große, mutige und arbeitsame Nation; erst in der neueren Zeit sind sie zurückgeblieben. Diese Rückständigkeit ist einzig und allein auf die Unter­ drückung und Ausbeutung durch den ausländischen Imperialismus und durch die einheimischen reaktionären Regimes zurückzuführen. Seit mehr als einem Jahrhundert haben unsere Vorgänger unbeugsam gegen die in- und ausländischen Unterdrücker gekämpft und niemals damit aufgehört […] Unsere Nation wird niemals mehr eine Nation sein, die sich beleidigen und demütigen lässt.7

Das sind stolze und insoweit verständliche Worte – aber in Kategorien einer nationalen Wiedergeburt, weniger in Kategorien sozialer Emanzipation und Gerechtigkeit. Nicht das Proletariat war ›aufgestanden‹, sondern China.

5. Was war der Kommunismus also? Welchen Reim kann man sich auf diese ganze Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert machen – eine Geschichte, die damals, 1949, erst wie im Cinemascope-­Format zum globalen Drama einer scheinbar ­zwischen Kapitalismus und Sozialismus ›geteilten Welt‹ wurde? Einige wenige kurze Feststellungen: 7 Mao Tse-­t ung [Mao Zedong]: Das chinesische Volk ist aufgestanden! In: Mao Tse-­tung [Mao Zedong]: Ausgewählte Werke. Bd. V. Peking 1978, S. 13.

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Um ›Klassenkämpfe‹ im Sinne eines unversöhnbaren Konflikts ­zwischen Arbeit und Kapital ging es am allerwenigsten – Kämpfe, die es in der Realität ­dieses Zeitalters überreichlich gab, aber die für den Aufstieg des Kommunismus als Weltbewegung keine entscheidende Rolle spielten. Noch weniger ging es um die überragende Anziehungskraft einer ›kommunistischen Idee‹ als Gesellschaftsideal, die nach 1989 dann abrupt verschwand – was für sich genommen schon bezeichnend ist. Denn wie kann ein Ideologie- und Theoriesystem, dem nicht nur die Kommunisten selbst, sondern auch ihre entschiedensten Feinde und Kritiker eine so überragende Bedeutung zugewiesen haben, ihre Überzeugungskraft so sang- und klanglos einbüßen? In Wirklichkeit ließ das Vokabular des Marxismus-­Leninismus sich gerade im Ausgangsland des Weltkommunismus, in Russland, relativ mühelos durch ein völkisch-­nationalreligiöses und neoimperiales Narrativ ersetzen, dessen Elemente unter der Decke alle schon vorhanden waren, mindestens seit der späten Stalin-­Ära. Offensichtlich war es beim Aufstieg der Kommunistischen Parteien zur Macht von Anfang an auch um viel profanere, handfestere Dinge als um irgendwelche luftigen Sozialideale oder Utopien gegangen. Eher ging es um alte, gestürzte Reiche wie Russland oder China, die von Kommunisten mit den Mitteln einer rigorosen, diktatorischen Mobilisierung aller Kräfte und Ressourcen wiederaufgerichtet wurden, oder um neue Nationalstaaten, die sich nach ­diesem Modell von ihren jeweiligen Oberherren befreiten und neue, staatsmonopolitische Sozialund Wirtschaftssysteme errichteten. Kommunisten waren, bei allem vorangetragenen Internationalismus, an erster Stelle doch immer glühende Sozialpatrioten. Alle kommunistischen Regimes entstanden aus Kriegen, vor allem aus den beiden Weltkriegen heraus, und hatten in Bürgerkriegen gegen einheimische Kräfte gesiegt, die sie in erster Linie (zu Recht oder Unrecht) als ›Handlanger des Imperialismus‹ oder als ›faschistische Kollaborateure‹ brandmarken konnten. In diesen Kriegen und Bürgerkriegen fanden die Kommunisten ihre eigentlichen legitimen Titel und Glaubwürdigkeiten, und solange der globale Spannungs­ zustand anhielt, waren ihre Regime trotz ihrer sozialökonomischen Schwäche ›im Felde unbesiegt‹. Die mit dem voreiligen Etikett ›Ende des Kommunismus‹ belegte Krise von 1989 kam denn auch weder aus äußeren Niederlagen noch aus inneren Auflehnungen, auch wenn es die von Leipzig bis Peking, von Riga bis Tiflis in einiger Breite gegeben hat – sondern aus einem moralischen, organisatorischen und finanziellen Ermüdungsbruch in den Machtapparaten der Hauptländer des Weltkommunismus, allen voran der Sowjetunion. Das vollkommen überrüstete Imperium, das von seinem Moskauer Zentrum her nicht mehr regiert werden konnte, kollabierte in ähnlich sang- und klangloser Weise wie das Zarentum im Frühjahr 1917 – aber

Ein Zeitalter wird besichtigt  |

eben nicht in einem Weltkrieg oder auch nur einem angespannten Kalten Krieg, sondern genau umgekehrt: in der Phase des vielleicht tiefsten Friedens, den die Welt im 20. Jahrhundert gekannt hat. Nach einer bekannten Lenin’schen Faustformel war der Umbruch von 1989 durchaus eine Revolution: Die unten wollten nicht mehr, und die oben konnten nicht mehr. Aber wollten die oben eigentlich noch? In Wahrheit gab es inmitten der zentralistischen Plan- und Kommandowirtschaft längst zahlreiche Formen eines Wirtschaftens auf eigene Rechnung, das den Weg zur mafiotischen Beschlagnahme der zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft durch alterfahrene oder hungrige jüngere Mitglieder der Partei- und Wirtschaftsnomenklatura sowie der Machtapparate (Militär und KGB) weitgehend vorbereitet hatte. Es wird damit deutlicher, w ­ elche tatsächliche Ratio und w ­ elche untergründigen Motive jenseits der ideologischen Formeln und Titel den kommunistischen Umstürzen und Staatsgründungen des vergangenen Jahrhunderts zugrunde lagen. Ob das übergeordnete Ziel der Kommunisten überhaupt ›der Kommunismus‹ war, etwa im Sinne der schönen, ganz unangreifbaren Marx’schen Zielvorstellung einer »Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller« ist, steht durchaus in Frage.8 War die ›kommunistische‹, sprich die kollektivistische, staatliche Zusammenfassung aller menschlichen und materiellen Ressourcen der jeweiligen Gesellschaft in den Händen einer angeblich wissenschaftlich erleuchteten, diktatorisch herrschenden Partei und Machtelite nicht eher nur ein Mittel zu anderen, handgreiflicheren sozialen, nationalen oder imperialen Zielsetzungen – Zielsetzungen, die diesen Parteien und Staaten, ihren Führern und Funktionären, Kadern und Mitläufern auch den entscheidenden Teil ihrer historischen Binde- und Durchschlagskraft lieferten? Die Frage stellen, heißt sie beantworten.

8 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels Werke (MEW), Bd. 4, S. 482; hier in der Schreibweise der Urfassung Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848 (Reprint Berlin (DDR) 1975), S. 16.

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Die Oktoberrevolution und die deutsche Linke

Bernhard H. Bayerlein

Transnationalisierung und weltrevolutionäres Scheitern Die Komintern und Revolutionsvorbereitungen deutscher Kommunisten in der Zwischenkriegszeit

Der vorliegende Beitrag betrachtet die Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) als zentrales Segment der internationalen kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegsperiode unter dem Aspekt der Revolutions­ geschichte, der Revolutionsvorbereitungen und ihrer Umsetzung beziehungsweise ihres finalen Scheiterns. Unter dieser Fragestellung werden die unterschiedlichen Perioden historisch nachvollzogen, zunächst von der Entstehungsphase der Partei und ihrer Entwicklung zur Massenpartei über die Anfänge der Einheitsfrontpolitik bis zum Scheitern der deutschen Revolution im Jahre 1923, die zugleich den Abschluss der revolutionären Nachkriegskrise in Europa bedeutete. Die kampflose Niederlage des ›Deutschen Oktober‹ 1923 wird dabei als Resultat des Kräfte­ dreiecks Deutschland – Sowjetrussland – Komintern und zugleich als Scheitern des letztmaligen Versuchs der Implementierung einer Revolution sozialistischen Typs in einem industriellen Zentralstaat analysiert. Das Beispiel der KPD zeigt in der Folge, wie sich die Revolutionsperspektiven seit Mitte der 1920er Jahre verschoben, als ein Hybridisierungsprozess der Weltrevolution einsetzte. Sowohl das Konzept als auch die Praxis einer Revolution in Deutschland wurden im Mahlstrom der sowjetischen Deutschlandpolitik unter Stalin nicht mehr weiterverfolgt. So verstärkten sich Anfang der 1930er Jahre die nationalpopulistischen Vorstöße Stalins und des Politbüros der Kommunistischen Allunions-­Partei (Bolschewiki/VKP (b)) zunächst hinsichtlich einer Kooperation mit nationalkonservativen und deutschnationalen Kräften. Im Zusammenwirken mit der »Sozialfaschismus«-Politik der KPD beeinflusste dies 1933 maßgeblich die kampflose Niederlage der weltweit stärksten Arbeiterbewegung gegen die nationalsozialistische Machtergreifung, die zugleich eine welthistorische Katastrophe darstellte. Die nun folgende weitgehende Tolerierungspolitik gegenüber dem Nationalsozialismus durch Stalin, der insgeheim frühzeitig ein Bündnis mit Hitler verfolgte, war Ausgangspunkt und Hauptursache dafür, dass die deutschen Kommunisten 1933 ­zwischen Hitler und Stalin aufgerieben wurden. Damit einher ging der

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Verzicht auf eine weltrevolutionäre Perspektive des Parteikommunismus, sowohl in den Zentren als auch im globalen Süden. Angefangen mit der Volksfrontpolitik seit 1935/36 und spätestens mit dem Nichtangriffs- und Freundschaftspakt z­ wischen der Sowjetunion und NS-Deutschland, der Hitlers Losschlagen im Zweiten Weltkrieg begünstigte, waren das revolutionspolitische Fundament und damit die Existenzgrundlage der Kommunistischen Internationale und der kommunistischen Parteien zerstört. Die Tragödie des deutschen Kommunismus zeigt als negatives Paradigma, dass in der Historiografie erneut vermehrt geäußerte Thesen, nach denen Stalin und die Sowjetunion die revolutionäre Perspektive nicht aufgegeben hätten, in die Irre führen.

1. Weltrevolution, Bolschewismus, Kommunismus, Stalinismus Nimmt man die Vielzahl der wissenschaftlichen Konferenzen zum einhundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution in den Blick, erscheint die vergleichende Betrachtung und transnationale Perspektive im Sinne von comparative revolutions noch ausbaufähig. Darüber hinaus wurde ein in seiner Breite höchst erstaunliches Meinungsspektrum über den internationalen Kommunismus und seine Revolutionsvorstellungen in der Zwischenkriegszeit sichtbar. Noch heute wird Stalin beispielsweise als Totengräber, aber auch als überzeugter Förderer der internationalen Revolution gesehen.1 Zur empiriegesättigten Analyse kann hier neben soziologischen und politikwissenschaftlichen Zugriffen Kosellecks historisch-­semantische Perspektive beitragen, im Sinne der Wiederherstellung einer Vision »vergangener Zukünfte«.2 In dieser Hinsicht weisen die Revolutionen der Zwischenkriegszeit weniger auf den Eurozentrismus hin als vielmehr auf eine neue globale Revolutionswelle nach den atlantischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, diesmal jedoch als 1 Heute wieder vermehrt geäußerte Thesen, nach denen Stalin und die Sowjetunion die revolutionäre Perspektive zumindest für den »globalen Süden« nicht aufgegeben hätten, sind nicht schlüssig. Solche Auffassungen finden sich etwa bei Domenico Losurdo, aber auch in neue­ren Aufsätzen bei Sabine Dullin. Siehe Domenico Losurdo: Il marxismo occidentale. Come nacque, come morì, come può rinascere. Bari 2017; Sabine Dullin/Brigitte Studer: Communisme + transnational. L’équation retrouvée de l’internationalisme (premier XXe siècle). In: monde(s) 10 (2016), S. 9 – 32. 2 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979. (Futuro passado. Contribuição à semântica dos tempos históricos. Tradução do original alemão Wilma Patrícia Maas e Carlos Almeida Pereira, revisão da tradução César Benjamin. Rio de Janeiro 2006, S. 62 f.).

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Internationalismus der Arbeiterbewegung mit einer sozialistischen Grundausrichtung.3 Das umfassende Scheitern des Arbeiterbewegungsmarxismus (Robert Kurz) im Angesicht des Krieges, des Faschismus und des Stalinismus führte dazu, dass die Tradition des sozialistischen Internationalismus trotz des historischen Stellenwerts der transnational organisierten Arbeiterbewegung unwiederbringlich verloren ging. Als Gegengeschichte müsse sie (und könne sie nur noch) für jede Generation neu rekonstruiert und erinnert werden, schrieb Walter Benjamin in seinen als politisches Testament zu lesenden Thesen über den Begriff der Geschichte.4 Konkreter auf Europa bezogen, hat die Veröffentlichung der neuen zugänglich gemachten Dokumente vor allem aus den russischen Staatsarchiven die Frage aufgeworfen, ob der (gescheiterte) ›Deutsche Oktober‹ des Jahres 1923 überhaupt als letzter Versuch einer organisierten Folgerevolution der Oktoberrevolution in den industriellen Zentren angesehen werden kann. Diese Sichtweise verfängt insofern, als sich in der Zwischenkriegszeit nach dem nicht stattgefundenen Arbeiteraufstand in der Weimarer Republik das Scheitern der Revolutionen in Europa und anschließend auch im gesamten globalen Süden fortsetzte. Diese Bilanz gilt, obwohl es weiterhin revolutionäre Bewegungen in der Peripherie und Halbperipherie gab, deren Dynamik jedoch in vielen Fällen nicht (mehr) von der kommunistischen Bewegung ausging oder auch im Nachhinein nicht von ihr aufgegriffen wurde. Ab Mitte der 1930er Jahre und im Zusammenhang mit dem Stalinismus brach der Parteikommunismus zunehmend mit der Tradition des Antiimperialismus und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Als Beispiele können hierbei die gescheiterte ›Hände-­weg-­von-­Abessinien‹-Kampagne der Komintern gegen Mussolinis militärischen neokolonialen Überfall 1934 und der ebenfalls gescheiterte, von der Komintern mitorganisierte Aufstand unterer Offiziere in Brasilien 1935 – zwölf Jahre nach der abgesagten Revolution in der Metropole Deutschland – gelten.5 Mit der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg infolge einer nur begrenzten und sektiererischen Intervention der Sowjetunion 3 Zur positiven Konnotation des Internationalismus der Arbeiterbewegung siehe u. a.: Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt. Frankfurt am Main 2006. Abgerufen unter URL: https://historiaconceptual.files.wordpress.com/2010/04/ reinhart-­koselleck-­begriffgeschiten2.pdf, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 4 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940). In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, Band I, 2, S. 691 – 704, hier S. 698 u. a. 5 Hierzu demnächst: Bernhard H. Bayerlein: Contested Strategic Entanglements and New Imperial Arrangements: Addis Ababa, Rio de Janeiro and Moscow 1935: The Double Failure of Comintern Anti-Fascism and Anti-Colonialism. In: Kasper Braskén/Nigel

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und den z­ wischen Stalin und Hitler im August und September 1939 abgeschlossenen Nichtangriffs- und Freundschaftspakten wurde schließlich auch der Antifaschismus und damit die Perspektive eines Sturzes der europäischen Diktaturen aufgegeben. Die systemische Paranoia des stalinschen Terrors setzte schließlich der Weltrevolution und der nationalen Selbstbestimmung als politische Ziele der Bolschewiki ein Ende. Die Emanzipation unterdrückter Nationalitäten resultierte stattdessen in der genozidalen Bestrafung ganzer Völker. Legt man diese Entwicklung zugrunde, stellt sich die Frage, ob es mit Blick auf die Komintern ab Mitte der 1920er Jahre überhaupt noch möglich ist, von einer internationalen, europäischen, antiimperialistischen weltrevolutionären Perspektive zu sprechen, die sowohl als theoretisches Konzept als auch als praktische Vorbereitung wirkmächtig wurde.6 Im Hinblick auf die historische Kommunismusforschung lässt sich die kommunistische Bewegung insgesamt nur im Rahmen eines Wirkungsdreiecks sinnvoll historisieren, das neben den kommunistischen Parteien selbst (mit ihren unterschiedlichen lokalen und regionalen Netzwerken) von der Komintern als intermediärer, janusköpfiger Institution und der Sowjetunion als staatlicher Struktur mit der alles beherrschenden VKP(b) und ihren ebenfalls globalen staatlichen und unter anderem kulturellen Beziehungen gebildet wird. Seit der Öffnung der Archive vor fast 25 Jahren besteht heute die Möglichkeit, die verflochtene Geschichte ­dieses institutionellen Netzwerks zu rekonstruieren.7 Copsey/David Featherstone (Hrsg.): Anti-­Fascism in a Global Perspective. Transnational Networks, Exile Communities, and Radical Internationalism. London 2019. 6 Zur Analyse der (zumeist unbewältigt gebliebenen) Programmarbeit von Komintern und KPD siehe demnächst: Bernhard H. Bayerlein: Die Komintern und die Weimarer Republik (1919 – 1933). Neue Weltordnungskonzepte und ihre Transformation. In: Michael Dreyer/ Andreas Braune (Hrsg.): Weimar und globaler politischer Wandel. Deutschland und die Etablierung einer neuen Völkerrechts- und Weltwirtschaftsordnung nach 1918. Stuttgart 2019 (in Vorbereitung). 7 Dieser Ansatz wurde erstmals systematisch Form angewendet in: Hermann Weber/Jakov Drabkin/Bernhard H. Bayerlein/Aleksandr Galkin: Deutschland, Russland, Komintern. I. Überblicke, Analysen, Diskussionen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der KPD und die Deutsch-­Russischen Beziehungen (1918 – 1943) (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 5). Berlin/­Boston 2014. Abrufbar unter URL: https:// www.degruyter.com/view/product/186108, letzter Zugriff: 20. 03. 2019; Hermann Weber/ Jakov Drabkin/Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Deutschland, Russland, Komintern. II. Nach der Archivrevolution. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der KPD und den Deutsch-­Sowjetischen Beziehungen. Unter Mitarbeit von Gleb Albert, Mariana Korčagina und Natal’ja Lebedeva (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 6.1 und 6.2). Übersetzt aus dem Russischen, Französischen und Englischen von Gleb J. Albert und Bernhard H. Bayerlein, 2 Bde. Berlin/Boston 2014. Abgerufen unter URL: https://www.degruyter.com/ view/product/212875, letzter Zugriff: 20. 03. 2019.

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Die Stalinisierung der kommunistischen Parteien kann ab 1923/1924 und der Stalinismus als sich verfestigendes Herrschaftssystem des bürokratischen Absolutismus spätestens zu Beginn der 1930er Jahre angesetzt werden.8 Pioniere der Kommunismusforschung wie Siegfried Bahne, Hermann Weber, Pierre Broué oder auch Moshe Lewin sind sich darin einig gewesen, dass die tiefgreifenden politischen und kulturellen Transformationsprozesse der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren das Verhältnis Stalins und des sowjetischen Politbüros zur Komintern und zum deutschen Kommunismus entscheidend bestimmt hätten. Joseph Weber, Mitglied der linken Opposition der KPD in den 1930er Jahren, hatte bereits in den 1950er Jahren auf den transformationellen Aspekt des Stalinismus aufmerksam gemacht: »Es ist ganz gleich, wie man den Bolschewismus als historisch-­politische Strömung ›an sich‹ bewertet und ob man ihm Haß und Feindschaft entgegenbringt, aber ihn mit Stalinismus – der den Bolschewismus greulich verfälschte, gleichzusetzen, ist ›einfach unmöglich‹. Daß der Stalinismus gewisse marxistische Phrasen benutzt, sich auf (einen greulich verfälschten) Lenin beruft und es ›folglich‹ gewisse Verbindungen z­ wischen Marx, Lenin und Stalin gibt«, sei dagegen eine Binsenweisheit.9

2. Revolutionsperspektiven und ihr Scheitern im transnationalen Wirkungsdreieck Deutschland – Russland – Komintern (1919 – 1939) Verfolgt man die Interaktionen und Transformationen der KPD und insbesondere das Verhältnis von Revolutionsvorstellungen und Revolutionsvorbereitungen in den 1920er und 1930er Jahren, lassen sich fünf Perioden u­ nterscheiden. Die erste Phase umfasst die Entstehung der KPD und ihre Entwicklung zur ­Massenpartei nach der steckengebliebenen Novemberrevolution und darüber hinaus die gescheiterten Mobilisierungen beziehungsweise Aufstandsversuche der Jahre 1920 und 1921. Die zweite Periode dauerte von 1922 bis 1923, von den 8 Als Pionierarbeiten einzuordnen sind Siegfried Bahne: Die Kommunistische Partei Deutschlands [KPD ] und das Ende von Weimar. Das Scheitern einer Politik 1932 – 1935 (Studium Sozialgeschichte). Frankfurt am Main/New York 1976; Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik. 2 Bde. Frankfurt am Main 1969; Pierre Broué: Révolution en Allemagne, 1917 – 1923 (Arguments, 50). Paris 1971; Moshe Lewin: Le dernier combat de Lénine. Paris 1978. 9 Joseph Weber: Krieg als Ausweg? In: ders.: »Dinge der Zeit«. Kritische Beiträge zu ­Kultur und Politik. Mit einem Vorwort von Michael Schneider. Hamburg 1995, S. 141 – 164, hier S. 160.

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Anfängen der Einheitsfrontpolitik bis zum Scheitern des ›Deutschen Oktober‹. Die dritte Phase der Entwicklung der KPD erfolgte im Rahmen der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik in den Jahren ­zwischen 1924 und 1928, und der vierte Zeitabschnitt entsprach der sogenannten Klasse-­gegen-­Klasse-­Politik der ›Dritten Periode‹ als Begleitmusik zur Institutionalisierung des Stalinismus. Die fünfte Phase kann schließlich mit der neuerlichen Wandlung zur sogenannten Volksfrontpolitik ab 1935 festgemacht werden.10 Die neuen, im Prozess der ›Archiv­ revolution‹ zugänglich gewordenen Quellen aus russischen (und auch deutschen) Archiven zeigen, dass während der ersten beiden Phasen die (revolutionären) Konzepte, Strategien und Taktiken der KPD von ihren Akteuren offensiver vertreten wurden und die Partei insgesamt radikaler und internationaler ausgerichtet war, als dies bisher vermutet worden ist. Für die letzten beiden Phasen seit dem Ende der 1920er und in den 1930er Jahren gilt im Umkehrschluss die Feststellung, dass nicht nur die KPD, sondern auch die internationale kommunistische Bewegung insgesamt zunehmend bürokratischer, russozentrischer und nationaler orientiert und damit kaum noch revolutionär ausgerichtet war. Definitiver Wendepunkt war die weitgehend kampflose Niederlage gegenüber Hitler 1933. 2.1 Die Entstehung der KPD und ihre Entwicklung zur Massenpartei In der ersten Phase nach der Gründung der KPD im Dezember 1918 während der Novemberrevolution sticht vor allem die eklatante Schwäche der deutschen Kommunisten hervor. Hieraus erklären sich Überschätzungen und Selbsttäuschungen,11 potenziert durch die Niederlagen der Partei, und beginnend mit der Novemberrevolution und dem sogenannten Januaraufstand 1919, der nicht als revolutionäre Machteroberung der KPD geplant war.12 Auch die undifferenzierten und spektakulären geheimen Moskauer Versuche zur Gewinnung der deutschen Linken mittels umfangreicher russischer Geldzahlungen passen in diese Argumentation.13 Selbst der hohe logistische Einsatz Moskaus brachte jedoch nichts 10 Die weiteren Phasen, die bis zur Auflösung 1943 reichen, verstärken nur die angelegten Tendenzen und sind für die hier vorgenommene Betrachtung unerheblich. 11 Als neue Synthese der KPD-Geschichte siehe Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band I (wie Anm. 7), bes. S. 9 – 139, S. 225 – 4 00. 12 Ottokar Luban: Die Rolle der Spartakusgruppe bei der Entstehung und Entwicklung der USPD Januar 1916 bis März 1919. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiter­ bewegung 2 (2008), S. 69 – 76. 13 Siehe die Dokumente in: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band II (wie Anm. 7), S. 91 f. u. a.

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ein, im Gegenteil, die frühe Gewöhnung an die Geldmittel zersetzte die KPD in ihrer Substanz.14 Die Ermordung Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Leo Jogiches Anfang 1919 stellte nicht nur für die deutsche, sondern für die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung eine Tragödie dar. Der erfolgreiche Generalstreik gegen den ›Kapp-­Putsch‹ 1920 und der darauffolgende ›Ruhrkampf‹ gelten als Höhepunkte der politischen und sozialen Bewegungen der Weimarer Republik und stellten zugleich verpasste Gelegenheiten für die ultralinks orientierte KPD dar, da ihre Führung die Bedeutung und die Dimension der Ereignisse kaum oder zu spät erkannte.15 In d­ iesem Zusammenhang sah Grigorij Zinov’ev als Präsident des Exekutivkomitees (EKKI) die ›russische Komintern‹ nun nicht mehr als Provisorium an. Der Beschluss, Berlin zu ihrem Hauptsitz und damit zur Hauptstadt des Weltkommunismus zu machen, wurde verworfen. Beibehalten wurde allerdings das Deutsche als erste Komintern-­Sprache, obwohl vor allem in den 1930er Jahren das Russische zunehmend dominierend wurde. Bemerkenswert war das eindeutige programmatische Bekenntnis der jungen KPD zum Internationalismus, im Sinne Rosa Luxemburgs gegen jede Bevormundung der Arbeiterbewegung, das jedoch bald von der realen Entwicklung überholt werden sollte. In den ersten Programmen und Entwürfen des Spartakusbunds und der KPD beschrieb man das sozialistische Endziel als die »proletarische Weltrevolution«, die den »Weltbund der Räterepubliken« errichten sollte. Zugleich wurde als Modus der Revolution artikuliert, dass »der Spartakusbund nie anders die Regierungsgewalt übernehmen [wird], als durch den klaren, unzweideutigen Willen der grossen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland«. Im Programmentwurf der KPD 1922 hieß es weiter, der Kommunistischen Internationale und nicht Sowjetrussland gebühre die Rolle als »Vaterland aller ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Nationen«.16 Doch es blieb beim Entwurf, und weder der Komintern noch der KPD gelang es, ein Programm zu erarbeiten, das die Brücke von der konkreten Situation der Arbeiter zur Revolution hätte schlagen können. Ein »System konkreter obligatorischer Forderungen« aufzustellen sei – so Karl Radek – aufgrund der ungleichen Weltentwicklung von 14 Der Leiter der Militäraufklärung, Berzin, machte Zinov’ev den Vorschlag, die Zahlungen auf 20 Millionen Schweizer Franken zu erhöhen, darunter »einige Millionen« an die Spartakusgruppe. Siehe ebd., S. 95 f. 15 Hierzu Siegfried Bahne: Die KPD im Ruhrgebiet in der Weimarer Republik. In: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-­Westfalen. Wuppertal 1974, S. 315 – 354. 16 Auszüge des Programmentwurfs in: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Abgerufen unter URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=​­dokument​ ­_de&dokument =0006_kpd&object=translation&st=&l=de, letzter Zugriff: 10. 05. 2019.

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der Komintern nicht zu schaffen. Dennoch wurde im Programmentwurf zum 4. Komintern-­Kongress ein weiterer, entscheidender Gesichtspunkt hervorgehoben: Aber ungeachtet dessen sehen wir, dass in allen Ländern die Kommunistischen Parteien nicht imstande sind, ihre politische Arbeit zu leisten nur mit den Losungen des Endkampfes: Sowjet­ regierung, Diktatur des Proletariats usw. Sie sind genötigt, an die Bourgeoisie nicht allein Agitationsforderungen zu stellen, sondern, als Aktionsforderungen für die Masse, die in Bewegung tritt, eine ganze Anzahl von Losungen aufzustellen, die nicht einmal zu konkretisierende Losungen der Rätediktatur, sondern die Hebel zum Kampf um die Rätediktatur in der Zukunft sind, Mittel der Zusammenschweissung der Massen.17

Das erste verabschiedete Programm der Komintern wurde überhaupt erst nach neun Jahren auf dem 6. Weltkongress 1928 beschlossen. Doch die Programm­ debatte geriet (zunächst unbemerkt) zum Spektakel des innerparteilichen Machtkampfes in der VKP(b), fand ihre Fortsetzung in der Komintern beziehungsweise den kommunistischen Parteien 18 und geriet mithin bereits ins Fahrwasser des Stalinismus. Insofern kann die Resolution des wiederum erst sieben Jahre später stattfindenden 7. Weltkongresses der Komintern über die ›welthistorische Bedeutung des Sieges des Sozialismus in der UDSSR‹ als zentraler Programmsatz und Revolutionsersatz gelesen werden, auf den sich die kommunistischen Parteien immer wieder und bis zum Ende der Sowjetunion beriefen. 2.2 Von den Anfängen der Einheitsfrontpolitik bis zum Scheitern des ›Deutschen Oktober‹ 1922 – 1923 Die zweite Phase der KPD von 1922 bis 1923 war von den inneren Spannungen ­zwischen den scheinbar gegensätzlichen Polen der Anhänger der ›Rapallo-­ Politik‹, eines engen Bündnisses Sowjetrusslands mit dem Deutschen Reich, und dem Kurs auf den Sturz der Republik durch die deutsche Revolution geprägt, deren Niederlage 1923 den Abschluss der revolutionären Nachkriegskrise bildete. Vor nunmehr 95 Jahren wurde letztmals ein revolutionärer Aufstand der 17 Sitzung der Programmkommission am 28. Juni 1922. In: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Bd. II (wie Anm. 7), S. 250 – 255. Russisch in: Iakov S. Drabkin/Leonid G. Babičenko/Kirill K. Širinja (Hrsg.): Komintern i ideja ­mirovoj revoljucii. Dokumenty (Dokumenty Kominterna). Moskva 1998, S. 539 – 549. 18 Programm der Kommunistischen Internationale. Angenommen vom VI . Weltkongress am 1. September 1928 in Moskau. Anhang: Statuten der Kommunistischen Internationale, Fremdwörterverzeichnis. Hamburg/Berlin 1928.

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deutschen Arbeiter geplant und vorbereitet. Ein Ereignis, wie es – so seinerzeit der Oberbefehlshaber der Roten Armee – nur einmal alle tausend Jahre stattfinde, sollte den Faschismus stoppen und endlich den revolutionären Umbruch auch in Mittel- und Westeuropa einleiten und die Isolierung der Sowjetunion durchbrechen. Es war kein Zufall, dass der ›Deutsche Oktober‹ zugleich den Eintritt Stalins auf die Bühne der Komintern- und der KPD -Politik markierte. Allerdings spielten für ihn zu keinem Zeitpunkt die Anweisung Vladimir Lenins an Lev Trockij und Jakov Sverdlov vom 1. Oktober 1918 eine Rolle, zur Unterstützung der Novemberrevolution dazu bereit zu sein, für Deutschland und die Revolution zu sterben.19 Stalins Rolle während der Ereignisse war größtenteils die eines vorsichtigen Warners, um nicht zu sagen eines ängstlich abwartenden Abwieglers (während er medial in der Roten Fahne lautstark die kommende deutsche Revolution propagierte). Die erst 2004 publik gemachten Dokumente des ›Deutschen Oktober‹ aus Moskauer Archiven zeigen, was den Generalsekretär und Nationalitätenkommissar während seiner langen Karriere charakterisieren sollte: Er scheute vor der deutschen Revolution zurück, hielt sie für gefährlich beziehungsweise undurchführbar. Und vor allem waren die durch die Sozial­ demokratie systemintegrierten westlichen Arbeiter nach seinem Verständnis nicht zu einer solchen in der Lage.20 2.3 Der ›Deutsche Oktober‹ 1923 als Zeitenwende Die überragende und bisher unterschätzte Bedeutung des gescheiterten Arbeiteraufstands von 1923 als letztem und einzigem Revolutionsversuch in einem industriellen Zentralstaat im 20. Jahrhundert, auch ›Deutscher Oktober‹ genannt, wurde bereits in der Weimarer Republik aus der historischen Erinnerung gelöscht und blieb es auch im Nachkriegsdeutschland. In der DDR geschah dies aus ideologischen Gründen, in Westdeutschland größtenteils aus Desinteresse und aufgrund des vorherrschenden west-­östlichen ›Tunnelblicks‹.21 Auch innerhalb 19 So Lenin: »Alle werden wir dafür sterben, um den deutschen Arbeitern zu helfen, die in Deutschland begonnene Revolution nach vorn zu bringen.« Siehe Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band II (wie Anm. 7), S. 53. 20 Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 3). Berlin 2003. 21 So Stefan Berger in: Bernhard H. Bayerlein/Kasper Braskén/Uwe ­S onnenberg (Hrsg.): Globale Räume für radikale transnationale Solidarität. Beiträge zum E ­ rsten Internationalen Willi-­Münzenberg-­Kongress 2015 in Berlin. [Global Spaces for Radical Transnational Solidarity. Contributions to the First International Willi Münzenberg

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des mythenumrankten Themas der deutsch-­russischen Verflechtungen 22 spielte der ›Deutsche Oktober‹ lange Zeit keine Rolle. Zu Unrecht. Denn vor nunmehr neunzig Jahren wurde nicht nur letztmals ein revolutionärer Aufstand der deutschen Arbeiter geplant, sondern auch aus dem militärischen und strategischen Werkzeugkasten Moskaus vorbereitet. Doch das Ereignis, das für den symbolträchtigen 9. November vorgesehen war, endete in den Worten des KPD-Theoretikers August Thalheimer mit einer »Beerdigung 3. Klasse«.23 Der Blick auf die strategischen Vorgaben und taktischen Mittel der Revolutionäre zeigt, dass weder auf der Seite der Bolschewiki noch der Komintern und der KPD eine weitsichtige Strategie, ein Programm und ein klar umrissenes Konzept einer zukünftigen Gesellschaft vorhanden war. Der zentrale Gedanke des Aufstands war die Proklamation des Generalstreiks im Zentrum der Arbeiterschaft Mitteldeutschlands, in Sachsen und Thüringen, um einen zu erwartenden nationalsozialistischen Angriff aus Bayern, einen nach italienischem Vorbild folgenden ›Marsch auf Berlin‹ abzuwehren. Darüber hinaus existierte ein von Otto ­Steinfest und den russischen Militärs entworfener, recht schematischer militärischer Aufstandsplan für Berlin.24 Das Hauptaugenmerk bei der Vorbereitung des Aufstands legte man auf dessen militärische Absicherung, die sich in den ›Proletarischen Hundertschaften‹, dem Militärapparat, dem sogenannten Ordnerdienst bis hin zum Aufbau einer ›Deutschen Tscheka‹ äußerte. In der Militarisierung sah die russische Führung offenbar auch eine Möglichkeit, gewisse anarchische Schwächen der KPD zu überwinden. Überhaupt gestalteten sich die Beziehungen ­zwischen deutschen Kommunisten und sowjetischen Bolschewiki als zunehmend problematisch. Angesichts der siegreichen Erfahrung der Bolschewiki tendierten die deutschen Kommunisten zur Unterordnung und/oder zur Übertünchung der realen Schwierigkeiten in der Vorbereitung des Aufstands. Von der anfänglichen Vorstellung der Bolschewiki wiederum, nach dem sich die deutschen Kommunisten als ebenso Congress 2015 in Berlin]. E-book Berlin, hier S. 4 – 6. Abgerufen unter URL: https://www. muenzenbergforum.de/ebook/, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 22 Gerd Koenen: »Rom oder Moskau«. Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands 1914 – 1924. Phil. Diss., Universität Tübingen 2001, S. 5 f. u. a. Abgerufen unter URL: https://publikationen.uni-­tuebingen.de/xmlui/handle/10900/46192, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 23 August Thalheimer: 1923. Eine verpaßte Revolution. Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923. Berlin 1931. Abgerufen unter URL: https://www.marxists. org/deutsch/archiv/ thalheimer/1931/1923/kap3.htm , letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 24 Das Dokument ist abgedruckt in Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band II (wie Anm. 7), S. 326 – 330.

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revolutionär wie zuverlässig erweisen würden, war bereits in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution nicht mehr viel übriggeblieben. Betrachtet man die der Arbeiterbewegung zugewiesene Rolle im Aufstandsplan, so wurde im sowjetischen Politbüro unter den Hauptkontrahenten Stalin und Trockij nicht nur über die Festlegung eines Zeitpunkts für das Losschlagen, sondern auch intensiv über den Aufbau von Räten in Deutschland gestritten. Während Trockij die Betriebs- und Fabrikräte als die Keimzellen der zukünftigen revolutionären Arbeitermacht als Doppelmacht verstand, die die Rolle der Sowjets in Deutschland übernehmen sollten, bestand Stalin entsprechend seiner russozentrischen Vorstellungen ausdrücklich auf dem Aufbau von Sowjets nach sowjetischen Vorbild in Deutschland.25 Ein neues Element für die Bolschewiki war die in Deutschland zentrale Rolle der Mittelschichten und des Kleinbürgertums. Als Komintern-­Vorsitzender zog Zinov’ev daraus die Konsequenz, dass mit einem besonderen Augenmerk auf die zukünftige Form der Sozialisierungen andere Maßstäbe angelegt werden müssten als in der Sowjetunion.26 Auch was die internationalen und zwischenstaatlichen Beziehungen im Nachkriegseuropa anging, wurde 1923 vielleicht letztmals überhaupt in Kategorien einer europäischen Revolutionsperspektive gedacht und geplant. Bemerkenswert war, dass sich das sowjetische Politbüro als eine mögliche Konsequenz der Proklamation einer sozialistischen deutschen Republik (und nicht zuletzt aus eigener Erfahrung mit alliierten Invasionen) auf einen Interventionskrieg der Mehrzahl der europäischen Staaten in Mittel- und Westeuropa vorbereitete. Die Bolschewiki sahen die Gefahr, dass diese Intervention eine doppelte konterrevolutionäre Stoßrichtung bekommen könnte: So fürchteten sie nicht zu Unrecht, dass ein Krieg, der sich zunächst gegen die deutsche Revolution richten würde und unter anderem zu einem Verlust des Ruhrgebiets als industriellem Kernland führen könnte, sich zugleich gegen die Sowjetunion richten könnte und dadurch zu einer existenziellen Bedrohung werden würde.27 Eine der erstaunlichsten, jüngst von Gleb Albert in seiner Doktorarbeit Das Charisma der Weltrevolution grundsätzlich erforschten Entwicklungen betraf die Rezeption des ›Deutschen Oktober‹, die in der jungen Sowjetunion die Form einer allgegenwärtigen, breiten Massenkampagne annahm.28 Letztmals überhaupt in der sowjetischen Geschichte wurde die Atmosphäre eines internationalen 25 Bayerlein u. a: Deutscher Oktober 1923 (wie Anm. 20), S. 180 ff. u. a. 26 Ebd., S. 141 ff. (Stalin), S. 151 ff. (Trockij). 27 Ebd., S. 138 ff. 28 Hierzu Gleb J. Albert: Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917 – 1927 (Industrielle Welt). Köln/Weimar/Wien 2017.

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revolutionären Spannungsmoments und eines Neubeginns geschaffen. Vielfältige Anstrengungen sollten die Atmosphäre und Erfahrung der Oktoberrevolution wiederbeleben. So stand auch das Thema Deutschland in allen Parteiversammlungen der UdSSR auf der Tagesordnung, in den Clubs wurden ›Deutschland-­Ecken‹ eingerichtet. Einfache Bauern und Arbeiter machten sich Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer eigenen sozialen Situation, manche kombinierten eine siegreiche deutsche Revolution mit der Hoffnung, die verhasste neue sozialistische Bürokratenkaste zu stürzen. Und nicht zuletzt dienten die Vorbereitungen als Ventil für die Bevölkerung, um ihre Unzufriedenheit kundzutun. Erstaunlicherweise weit weniger kraftvoll war die von der Komintern betriebene internationale Kampagne zur Vorbereitung der kommunistischen Parteien auf die Revolution im Westen. Höhepunkte der in erster Linie deutsch-­ sowjetischen Vorbereitungen waren einige von der KPD und der KP Frankreichs organisierte öffentliche Versammlungen sowie eine geheime Konferenz des EKKI unter Teilnahme der KPD und der KP Frankreichs, der KP Österreichs und der KP der Tschechoslowakei. Die Vorbereitungen wurden geheim gehalten und drangen kaum an die Öffentlichkeit.29 Ausgerechnet Stalin fiel mit einem Brief an das deutsche Zentralkomitee der KPD aus der Rolle und veröffentlichte einen flammenden Aufruf für die Revolution, für den er sich einen scharfen Verweis des Politbüros einhandelte. Die Solidarität der übrigen kommunistischen Bruder- und Schwesterparteien hielt sich in Grenzen,30 die Haltung der KP Frankreichs war sogar von tiefem Misstrauen geprägt. Nach einem insgesamt nur schwachen Engagement gegen die französisch-­belgische Ruhrbesetzung im Sinne des sozialistischen Internationalismus sowie dem Aufruf zur Solidarisierung der Arbeiter und Soldaten wurde Kritik an der von Karl Radek vorgeschlagenen ›Schlageterlinie‹ geäußert, ­welche eine taktische Annäherung an deutschnationale Kreise vorsah, die der französisch-­belgischen Besetzung des Rheinlandes und des Ruhrgebiets ebenso Widerstand leisteten. Als Motiv für den Vorschlag Radeks witterten die französischen Kommunisten nationalistische und revanchistische Ziele.31

29 Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923 (wie Anm. 20), S. 162 ff. 30 »Der Sieg der Revolution in Deutschland wird für das Proletariat in Europa und in Amerika eine größere Bedeutung haben als der Sieg der russischen Revolution vor sechs Jahren. Der Sieg des deutschen Proletariats wird ohne Zweifel das Zentrum der Weltrevolution aus Moskau nach Berlin versetzen.« Siehe J. Stalin in: Die Rote Fahne, 10. Oktober 1923. 31 Karl Radek sprach intern von einem »Mangel an Unterstützung«. Siehe Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923 (wie Anm. 20), S. 170 u. a.

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2.4 Russifizierung und Militarisierung: Der Fehlschlag der deutschen Revolution Der Arbeiteraufstand wurde in letzter Minute abgesagt, nachdem sich eine Arbeiter- und Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21. Oktober geweigert hatte, als Signal den Generalstreik gegen die von Reichspräsident Ebert in Zusammenarbeit mit Gustav Stresemann und General Hans von Seeckt verfügte Besetzung Sachsens und Thüringens durch die Reichswehr auszurufen.32 Die revolutionäre Krise und die Revolutionsvorbereitungen sind in der historischen Forschung lange Zeit wenig beachtet worden, im Gegensatz zum Münchner ›Hitlerputsch‹, der am ursprünglich für den Arbeiteraufstand vorgesehenen 9. November stattfand. In der Einleitung zur Publikation der Dokumente des ›Deutschen Oktober‹ formulierte der französische Historiker Pierre Broué die kontrafaktische Frage: »Könnte der Miniaturputsch, der eine der schlimmsten Tragödien ­dieses Jahrhunderts einleitete, seine Bedeutung nicht auch der Tatsache schulden, daß der ›deutsche Oktober‹ nicht stattfand?«33 Geht man zu der Frage über, warum die deutsche Revolution scheiterte, sind sowohl die Niederlagen früherer revolutionärer Versuche in Europa als auch die Verzögerungen in der Vorbereitung des ›Deutschen Oktober‹ anzuführen. Vor allem wurde die umfassende soziale und politische Krise des Sommers 1923, die in der breitrezipierten Generalstreikagitation und im Sturz des Reichskanzlers Wilhelm Cuno mündete, von den Revolutionären nicht genutzt. Selbst zentrale Mobilisierungsmomente, wie der sogenannte Antifaschistische Tag im Juli des Jahres, ließ man mit Hinweis auf die massiven illegalen Revolutionsvorbereitungen verstreichen. Statt die Gunst der Stunde zu ­nutzen, verzögerten sich die Revolutionsvorbereitungen. Trockij machte hierfür auch die Verzögerungstaktik Stalins beziehungsweise der Troika mit Zinov’ev und Kamenev verantwortlich, als er nach den Ereignissen schrieb: »Wir hatten hier in der zweiten Hälfte des letzten Jahres eine klassische Demonstration vor unseren Augen, wie man eine außer­gewöhnliche revolutionäre Situation von historischer Bedeutung verpassen kann.«34 Das Hauptmanko lag wohl darin, dass die KPD keine Mehrheit der Arbeiterschaft repräsentierte und unter Einsatz erheblicher finanzieller Ressourcen von 200.000 bis 500.000 Dollar nun in eine militärische Organisation verwandelt 32 Zum ereignisgeschichtlichen Ablauf siehe Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923 (wie Anm. 20). 33 Pierre Broué: Der Oktober, der nicht stattfand. Ein Kommentar. In: Bayerlein u. a. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923 (wie Anm. 20), S. 59 – 6 4, hier S. 59. 34 Lew Trotzki [Lev Trockij]: 1917. Die Lehren der Revolution. Berlin 1925, S. 12 f.

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werden sollte. Neben ein paar Tausend unbezahlten im Land rekru­tierten Helfern und der Delegation des sowjetischen Politbüros hatte der russische Generalstab bis zu zwei Dutzend Militärangehörige und Bürgerkriegsspezialisten entsandt, darunter Pëtr Škoblevsij (richtiger Name: Rose; Pseudonym Gorev, Helmut, Wolf ), Semën Firin (Pseudonym Pubko), Manfred Štern (Pseudonym Georg, Fred, Martin, Emilio Kleber); Alesis Šteckij (Pseudonym Georg), Vojislav (Voja) Vujovič, Valter Krivickij und Ignaz Reiss-­Ludwig (ursprünglich Ignacy Poretski) zur Unterstützung des Revolutionsrats unter Avgust ­Guralskij (ursprünglich Abram Jakovlevič Chejfec, Pseudonym Kleine, Lepetit und andere). Die von der deutschen Parteiführung angegebenen 1300 proletarischen Hundertschaften bestanden allerdings weitgehend nur auf dem Papier, sie glichen eher einem Modell militärischer Kolumnen als einer Streitmacht der Arbeiter (ähnlich dem Beispiel des Cavalheiro da esperança Luís Carlos Prestes in Brasilien).35 Mitentscheidend für den fehlgeschlagenen Arbeiteraufstand war sicherlich, dass der in Russland vorhandene Wille zur Beendigung des Krieges als Katalysator für den Schulterschluss z­ wischen Arbeitern und dem Militär, der im Oktober/November 1917 die russischen Arbeiter mit den Bauern zusammengeschweißt hatte, fehlte. Zur Analyse des Scheiterns muss darüber hinaus die innerparteiliche Situation in der KPD in Betracht gezogen werden, da sich die Kommunisten bis in die Führungsebene hinein höchst uneinig waren. Wie die Quellen zeigen, praktizierte ausgerechnet die zentrale Berliner Bezirksleitung unter Ruth Fischer und Arkadij Maslov eine Obstruktionspolitik gegen die Aufstandsvorbereitungen; gerade von den Vertretern der Parteilinken wurde die Revolutionsperspektive als illusionär bewertet und daher nicht ernstgenommen. Diese Uneinigkeit lähmte die Akteure. Verfolgt man die Rollen von Heinrich Brandler, Ruth Fischer, Ernst Thälmann und die der russischen Hauptakteure Lev Trockij, Karl Radek, ­Grigorij Zinov’ev, Nikolaj Krestinskij, Jurij Pjatakov und Iosif Stalin, wird erkennbar, dass die personellen und strukturellen Netzwerke von VKP (b) und KPD im Laufe der Ereignisse nicht mehr ineinandergriffen und funktionierten. Viel zu spät – erst Anfang November – wurden vier Mitglieder des Politbüros der VKP (b), darunter Karl Radek, nach Deutschland entsandt. Trockij hatte zu ­diesem Zeitpunkt als strategischer Leiter des geplanten Aufstands die Unterstützung Stalins bereits verloren, der wiederum geheim mit Zinov’ev und Radek korrespondierte. Zinov’ev war der wichtigste Verbindungsmann ­zwischen der Komintern und der KPD und sah sich bereits als Vorsitzender des universellen Arbeiterrats der Weltrevolution mit Sitz in Berlin. Iosif Unšlicht war für den 35 Siehe hierzu Neill Macauley: The Prestes Column. Revolution in Brazil. New York 1974.

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Aufbau des Militärapparates und einer deutschen Geheimpolizei (Tscheka) verantwortlich und Nikolaj Krestinskij, der bevollmächtigte Vertreter der Sowjetunion in der Berliner Botschaft Unter den Linden, sollte zusammen mit Georgij Pjatakov die Aktivitäten koordinieren. Der geplante Aufstand wurde noch vor seinem Ausbruch, gestützt auf die in der Weimarer Verfassung verankerte Reichsexekutionsordnung, durch die Entsendung der Reichswehr nach Sachsen und Thüringen sowie der Absetzung der parlamentarischen Koalitionsregierungen, der sogenannten ­Arbeiterregierungen von SPD und KPD, im Keime erstickt. Angesichts des für die Kommunisten eingetretenen Desasters lässt sich der KPD immerhin zugutehalten, dass sie letztlich vor einem Putsch zurückschreckte, indem sie den Aufstand in letzter Minute absagte – im Unterschied zur sogenannten Märzaktion im Jahre 1921, als die Komintern-­Delegation die Erhebung ausgelöst und damit die polizeiliche Besetzung des mitteldeutschen Industriegebietes provoziert hatte.36 2.5 ›Sozialfaschismus‹ und Nationalpopulismus als Hybridisierung der Revolutionsperspektive (1924 – 1933) Die auf die Niederlage folgende dritte Phase der Entwicklung der KPD ist durch die ›Bolschewisierung‹ und beginnende ›Stalinisierung‹ der KPD im Rahmen der weltweiten Übertragung der sowjetischen Parteistrukturen auf die kommunistischen Parteien charakterisiert.37 Im Rahmen der widersprüchlichen Formel des ›Aufbaus des Sozialismus in einem Lande‹ setzte die Sowjetunion ihre bilaterale Verständigungspolitik gegenüber Deutschland zunächst fort, allerdings mit einem deutlichen antisozialdemokratischen Akzent. Die stärkere Anlehnung der KPD an die Sowjetunion schwächte zugleich ihre revolutionäre Programmatik ab. Vielmehr wurde die Partei von den Bedrohungsszenarien des Stalinismus erfasst, was sich seit 1927 im Kriegsgefahrsyndrom äußerte. Die Verteidigung der Sowjetunion gegen die – in dieser Phase der relativen Stabilisierung imaginierte – ›imperialistische Kriegsgefahr‹ wurde zur operativen und strategischen Hauptaktivität erhoben.38 Damit verbunden waren der 36 Zu 1921 siehe Sigrid Koch-­B aumgarten: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921 (Quellen und Studien zur Sozialgeschichte, 6). Frankfurt am Main/New York 1986. 37 Siehe hierzu Norman LaPorte/Kevin Morgan/Matthew Worley (Hrsg.): Bolshevism, Stalinism and the Comintern. Perspectives on Stalinization, 1917 – 53. Basingstoke 2008. 38 Siehe den Vortrag Bucharins im Präsidium der Komintern über die »Kriegsgefahr als internationale Hauptgefahr«. In: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, ­Komintern. Band II (wie Anm. 7), Dok. 166.

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Abschluss mehrerer Geheimabkommen z­ wischen der sowjetischen Delegation in der Komintern und der KPD -Führung sowie der beginnende Führerkult um Ernst Thälmann, der erstaunlicherweise für den von ihm eigenmächtig vom Zaun gebrochenen ›Hamburger Aufstand‹ nicht sanktioniert, sondern in der Folge auch noch heroisiert wurde. Thälmann hatte gegen eine ausdrückliche Instruktion des Zentralkomitees in Berlin den aussichtslosen Aufstand in Hamburg angezettelt.39 Und nachdem ›Teddy‹, wie er ›freundschaftlich‹ auch von ­Stalin genannt wurde, 1926 zum neuen Parteiführer erhoben worden war, setzte er in der KPD die Kriminalisierungs- und Ausschlusswelle gegen sogenannte Trotzkisten, Rechte und Versöhnler durch, die in Wirklichkeit konsequente Hitler-­Gegner waren. Dabei handelte es sich um ein riskantes Spiel angesichts der wachsenden existenziellen Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Von der Kommunistischen Internationale als »Vaterland aller ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Nationen«, wie es noch im Programmentwurf der KPD von 1922 geheißen hatte, war keine Rede mehr. Im Gegenteil: Im Programm der Komintern von 1928 war nun klar und deutlich zu lesen: »Die Sowjetunion ist das wahre Vaterland des Proletariats«, sie müsse nun »mit allen Mitteln« verteidigt werden.40 Die vierte Phase der Entwicklung der KPD setzte nach einem Zwischenspiel unter Nikolaj Bucharin als verantwortlichem Sekretär mit dem 6. Weltkongress der Komintern im Sommer 1928 ein. Sie entsprach der damals neu verkündeten ›Dritten Periode‹, der Zuspitzung der weltweiten Klassenkämpfe (›Klasse gegen Klasse‹), die mit der stalinistischen Transformation der Sowjetunion in den Jahren ­zwischen 1928 und 1931 einherging. Für Deutschland bedeutete dies nicht zuletzt den scharfen Kampf gegen die Parteien der Weimarer Koalition, an erster Stelle der SPD.41 Je stärker der konservative und deutschnationale Einfluss wurde, desto besser gestaltete sich das Verhältnis zur Sowjetunion. Stalin und das sowjetische Politbüro und nicht die KPD, wie lange vermutet wurde, ließen die Sozialdemokraten unter dem Signum des »Sozialfaschismus« zu Hauptfeinden stilisieren und als vermeintlichen »Hauptorganisator einer kapitalistischen 39 Hermann Weber/Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Der Thälmann-­Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 2). Berlin 2003, S. 122. 40 Leo Trotzki [Lev Trockij]: Sozialismus in einem Land. In: ders.: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? (Trotzki-­Bibliothek, 1936). Essen 2009. Abgerufen unter URL: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/verrev/anh01.htm, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 41 Außer der SPD waren die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Zentrumspartei (Zentrum) Bestandteil der Weimarer Koalition.

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antisowjetischen Einheitsfront« bekämpfen.42 Was die Revolutionsperspektive anging, ist in der Historiografie häufig übersehen worden, dass Stalin keinen eindeutigen Kurs gegenüber der KPD verfolgte und so auch in der sogenannten Dritten Periode das Pendel seiner Politik nicht nur nach links, sondern auch nach rechts ausschlug. Tatsächlich wurden, durch die linke Rhetorik teilweise verhüllt, Vorstöße in Richtung auf einen nationalpopulistischen Kurs der KPD unternommen, von denen einige, wie die Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes von 1930, bekannt waren.43 Die Rolle, die Stalin dabei spielte, ist erst sehr viel später aufgedeckt worden.44 Spannungen innerhalb des Wirkungsdreiecks von KPD , Komintern und russischer Staats- beziehungsweise Parteipolitik waren also vorprogrammiert; sie stellten die KPD als Massenpartei und die Komintern als Transferinstitution vor eine Zerreißprobe. Die Frontstellung gegen die SPD, die sogar noch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bis weit in das Jahr 1934 aufrechterhalten wurde, verhinderte ein Bündnis der beiden Arbeiterparteien gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten. Stalin bediente zumindest rhetorisch auch weiterhin die Revolutionsperspektive der Kommunistischen Internationale, gleichzeitig waren in seiner Korrespondenz und im Politbüro bereits neue, nationalpopulistische Untertöne zu hören. So setzte er am Tag der Reichstagsauflösung 1930 in der sowje­tischen Delegation des EKKI die Abfassung eines auf die Nationalsozialisten zielenden Grundsatzdokuments durch, dem zufolge eine »Befreiung Deutschlands vom Versailler Vertrag [und] vom Youngplan« nicht mit NS-Methoden, sondern »nur mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich« sei.45 Ein zweiter nationalpopulistischer Befund in den Interventionen Stalins zur Ausrichtung der Komintern und der KPD ergab sich als Folge der Ernennung Franz von Papens zum Reichskanzler im Sommer 1932. Tatsächlich lässt sich hier bereits die spätere Haltung im Hinblick auf Hitlers ›Machtergreifung‹ erkennen. Stalin wies die von sowjetischen und KPD-Medien geäußerte Auffassung 42 Siehe hierzu Heinrich August Winkler: Diktator mit Scheuklappen. An Hitlers Aufstieg war Stalin nicht unschuldig. In: Die Zeit, 4. Dezember 1970. Abgerufen unter URL: https:// www.zeit.de/1970/49/diktator-­mit-­scheuklappen/komplettansicht?print, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 43 Proklamation des ZK der KPD. In: Die Rote Fahne, 24. August 1930. Abgerufen unter URL: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/thaelmann/1930/08/natsozbef.htm, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 44 Siehe: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band 1 (wie Anm. 7), S. 82 f., S. 250 f.; Band 2, S. 738 – 748. 45 N. P. Komolova/V. V. Dam’e/M. B. Korčagina/K. K. Sirinja (Hrsg.): Komintern protiv fašizma. Dokumenty. Moskau 1999, S. 234 f.

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vehement zurück, die Papen-­Regierung verfolge die Errichtung einer Diktatur, und allein die KPD könne den faschistischen Terror verhindern.46 In zornigem Ton wandte er sich kategorisch gegen einen »revolutionären Ausweg« und stellte sich im Namen der deutsch-­sowjetischen Beziehungen vor die Papen-­Regierung: »Unsere Zeitungen haben in Bezug auf die neue deutsche Regierung einen unrichtigen Ton angeschlagen. Sie beschimpfen und schmähen letztere. Dies ist eine falsche Position, die auf ›Revolutionierung‹ ausgerichtet ist, in Wirklichkeit jedoch denjenigen nützt, die einen Bruch z­ wischen der UdSSR und Deutschland bezwecken. Dieser Fehler muss korrigiert werden.«47 Damit desavouierte er den Kurs der KPD, die zumindest rhetorisch noch eine »revolutionäre Lösung der Krise« einforderte, denn für die KPD hatte sich der Faschismus in Deutschland bereits etabliert. Vor dem Hintergrund der globalen Kapitalismuskrise leitete auch die KPD die Politik der sogenannten Dritten Periode ein, die jedoch an der zunehmend nationalen Ausrichtung der Sowjetunion nichts änderte. Die von allen kommunistischen Parteien geforderte Radikalisierung – speziell gegen die Sozialdemokratie und den Trotzkismus – blieb ›ziellos‹, sie konnte nicht erfüllt werden, da die Revolution für Stalin und die Komintern nicht mehr auf der Tagesordnung stand; nicht einmal eine Revolution gegen die National­sozialisten in Deutschland entsprach der Komintern-­Taktik. Stattdessen wurden Ersatzlösungen propagiert, wie etwa die Verteidigung der ›Zitadelle‹ Sowjetunion gegen ihre angeblich existenzielle militärische Bedrohung. Selbst der sowjetische Außenkommissar Georgij Čičerin bezeichnete ­dieses Szenario als pure Erfindung zur Legitimierung des Kurses der Komintern.48 2.6 1933: Die Genese der Tragödie des deutschen Kommunismus So nahm die Tragödie der KPD bereits ihren Lauf, als Stalin anfangs der 1930er Jahre auf die Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland zielte und dabei ein Bündnis mit den konservativen und deutschnationalen Kreisen im Blick hatte. Die SPD wurde hingegen weiterhin als »sozialfaschistischer« Hauptfeind 46 Siehe den Brief Stalins an Lazar’ Kaganovič vom 5. Juni 1932. In: Weber/Drabkin/­ Bayerlein: Russland, Deutschland, Komintern. Band II (wie Anm. 7), S. 878. – Siehe auch O. V. Chlevnjuk u. a. (Hrsg.): Stalin i Kaganovič. Perepiska, 1931 – 1936 gg. Moskva 2001, S. 153 – 156. 47 Ebd. 48 Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 10). 2. durchges. Auflage 1988, S. 697.

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bekämpft.49 Der Blick auf neue Archivdokumente festigt entsprechend den Eindruck, dass die Sowjetunion keineswegs einen revolutionären Ausweg in Deutschland anstrebte. Auch für die Komintern hatte die vorrevolutionäre Zuspitzung in Deutschland nur sekundäre Bedeutung. In Gestalt ihres machtvollen Sekretärs Dmitrij Manuil’skij sprach sie der Situation in Deutschland im Jahre 1932 nicht nur das Prädikat einer revolutionären, sondern sogar einer »vorrevolutionären Situation« kurzerhand ab, was auf die Absicht der sowjetischen Führung hindeutete, die Entwicklung abzuwarten. Die letzte hier zu thematisierende Entwicklung im Rahmen der ›Dritten Periode‹ umschließt die Zuspitzung der Krise in den ersten Monaten des Jahres 1933, den Machtantritt der Regierung Hitler und damit die maßgeblich durch die kampflose Niederlage der KPD und der Arbeiterbewegung herbeigeführte welthistorische Katastrophe,50 die das Ende der Weimarer Republik herbeiführte. Die rasche Zerschlagung der KPD beschleunigte die Tragödie des deutschen Kommunismus und die umfängliche, transnationale Niederlage des »Marxismus der Arbeiterbewegung«, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.51 Die Ereignisse des Jahres 1933 bestätigten einerseits den Primat von Stalins nationalpopulistischer Strategie und andererseits den Grad bürokratischer Zersetzung der auf die Sowjetunion ausgerichteten KPD. Während die Partei weiterhin vom revolutionären Ausweg schwadronierte – man denke nur an die berühmt-­ berüchtigte Legende ›Nach Hitler kommen wir!‹ –, scheint es für den Fall einer Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht einmal einen Plan zur Organisation des (propagandistisch geforderten) Generalstreiks, geschweige denn für einen Aufstand beziehungsweise eine Revolution gegeben zu haben. Gemeinsam mit der SPD schaffte es die KPD – beide hatten bei den Reichstagswahlen im Juni 1932 immerhin mehr als 13 Millionen Wählerstimmen auf sich vereinigt – dank des »Bürokratismus der antifaschistischen Parteien und Organisationen« sowie der »in ihnen ausgeübte[n] Apparatdiktatur«, jede Form einer Aktionseinheit oder Einheitsfront abzulehnen und so den Nationalsozialisten weitgehend kampflos das Feld zu überlassen.52 Gleichwohl führte die KPD (so im Dezember 1932) weiter 49 Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band I (wie Anm. 7), S. 250 f. u. a. 50 Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 – 1933 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 11). Bonn 1990. 51 Zur historischen Entwicklung zum »Arbeiterbewegungs-­Marxismus« siehe Robert Kurz: Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Frankfurt am Main 1999. 52 Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main. Deutsches Exilarchiv. NL 114 (Werner Thormann), EB 97/145, 10 1. 0029, Bl. 6.

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die Revolution im Munde, als die Rote Fahne den raschen Sieg des Kommunismus ankündigte. Der »Angriff auf den Faschismus und die Sozial­demokratie« sollte fortgesetzt werden, um »die Massen auf die Revolution für die Diktatur des Proletariats, für ein Sowjetdeutschland vorzubereiten«.53 ­Hermann Remmele, der als einziges Mitglied des Politbüros zumindest den Mut aufbrachte, sich gegen die Ausrichtung und den Immobilismus der KPD-Führung auszusprechen, sprach von der »größten Niederlage des deutschen Proletariats seit 1914«. Die Schuld trage die »von legalistischem Kretinismus befangene« Partei­führung (einschließlich seiner selbst). Sie habe sich einer »ungeheuer­liche[n] Unterschätzung des ­Ernstes der Lage für das deutsche und internationale Proletariat« schuldig gemacht.54 Aufgrund seiner Kritik wurde Remmele nicht nur als Mitglied des Politbüros, sondern auch des EKKI abgesetzt und später auf Stalins Geheiß umgebracht. Zur damaligen Zeit nur von den wenigsten als Alarmzeichen verstanden, fand sich auch die Sowjetunion schnell mit der ›Machtergreifung‹ Hitlers ab. Heute kann die Hypothese als gesichert gelten, dass Stalin langfristig auf die Möglichkeit eines neoimperialen Rearrangements mit dem Deutschen Reich setzte, und zwar bereits seit der Stabilisierung des NS-Regimes im Laufe der Jahre 1933/1934. Der ›revolutionäre Ausweg‹ oder die Aktionseinheit, verstanden als gemeinsame Aktivität der Arbeiterbewegung gegen Hitler, wie es ein Gutteil der KPD- und SPD -Mitglieder insgeheim und teilweise öffentlich herbeiwünschten und wie es besonders die linken Zwischengruppen wie die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die Kommunistische Partei (Opposition) (KPO) und die trotzkistische linke Opposition der KPD unablässig einforderten, waren für Stalin keineswegs eine Option. Erdrückend sind die empirischen Hinweise ­darauf, dass die Sowjetunion in der entscheidenden Phase der Institutionalisierung der Hitler-­Diktatur die blutige Verfolgung der deutschen Kommunisten und aller Gegner des Nationalsozialismus geschehen ließ. Die jüngst veröffentlichten Dokumente zum geheimen ›Vinogradov-­Treffen‹ im Februar 1933 ­zwischen dem KGB-Offizier und Pressesekretär der sowjetischen Botschaft Boris Vinogradov, dem Chefredakteur des Vorwärts und Mitglied des Parteivorstands der SPD ­Friedrich Stampfer sowie dem außenpolitischen Redakteur Victor Schiff illustrieren auf dramatische Weise die Abwendung der Sowjetunion von der KPD. 53 Die KPD im Angriff. In: Die Kommunistische Internationale 17/18, 15. 12. 1932. In: Hermann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente 1915 – 1945. Köln/Berlin 1963, S. 113. 54 Brief Remmeles (Ps. Herzen) an die KPD-Führung vom 12. 4. 1933. In: Rossijskij Gosudarstvennyj archiv social’no-­političeskoj istorii (RGASPI) Moskau’f. 495, op. 293, d. 129, ll. 27 – 52. In: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band II (wie Anm. 7), S. 998 – 1005.

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Vinogradov bestätigte den verdutzten und frustrierten Sozialdemokraten, dass die Pläne der SPD, gemeinsam mit der KPD und der Komintern eine Aktionseinheit gegen Hitler zu ­bilden, seitens der Sowjetunion strikt abgelehnt würden.55 Kein anderes Dokument hat bisher deutlicher aufgezeigt, in welch zynischer Weise wenige Tage vor dem Reichstagsbrand die Hoffnungen auf eine Änderung der Moskauer Komintern- und KPD-Politik zerschlagen wurden. So waren in der Folgezeit von der Sowjetunion kaum mehr Hitler-­feindliche Äußerungen zu erwarten, hingegen ein zynisches ›Verständnis‹ für die Zerschlagung der KPD und die Unterdrückungspolitik der NS-Diktatur gegenüber den eigenen Genossen, den deutschen Brüdern und Schwestern. Die Abwendung Moskaus vollendete die Tragödie des deutschen Kommunismus. Aufgrund fehlender empirischer Belege ist darüber hinaus davon auszugehen, dass die KPD in der welthistorischen Wende im Januar/Februar 1933 weder über einen revolutionären Aufstandsplan noch über ein revolutionäres Programm im Sinne eines Maßnahmenkataloges von Übergangsforderungen verfügte. Anhaltspunkte für diese Sichtweise ergeben sich aus den Ergebnissen der sogenannten illegalen ZK-Tagung von Ziegenhals bei Berlin, die erstaunlich moderat auf die Vorbereitung der Märzwahlen 1933 konzentriert waren. Gleichzeitig geht aus den Gestapo-­Akten hervor, dass die Durchsuchungen der Parteizentrale des Karl-­ Liebknecht-­Hauses in Berlin keine Anhaltspunkte für einen umfassenden politischen Plan als Reaktion lieferten.56 Die schmähliche Festnahme des verklärten Parteiführers Ernst Thälmann, die auf die Missachtung der vorher festgelegten Regeln der Konspiration zurückzuführen war, fügt sich in das traurige Bild ein.57 Viele der von Nationalsozialisten erbarmungslos gejagten und verfolgten deutschen Kommunisten, die in den Konzentrationslagern und Gefängnissen einsaßen, fühlten sich von der eigenen Parteiführung verraten. Von den 300.000 KPD -Mitgliedern des Jahres 1932 befanden sich während der NS -Diktatur 150.000 für ein oder mehrere Jahre in Haft. Etwa 20.000 von ihnen wurden ermordet, die Opfer des Exils in der stalinistischen Sowjetunion nicht eingerechnet. Dort wurden seit 1935 gerade die ehemals oppositionellen Strömungen angehörenden KPD -Mitglieder, die trotz ihrer stalinistischen politischen 55 Hierzu mein Artikel: Bernhard Bayerlein: Das geheime Winogradow-­Treffen im ­Februar 1933. Wie Moskau die Gegner Hitlers im Stich ließ. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1 (2017), S. 172 – 182. Abgerufen unter URL: http://indes-­online.de/autor/bernhard-­h-­ bayerlein, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 56 Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band 1 (wie Anm. 7), S. 264 – 266; Band 2, S. 920 f. 57 Ronald Sassning: Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der »Fall Kattner«. Hintergründe, Verlauf, Folgen. Teil I und II. (Pankower Vorträge, 11/1 – 2). Berlin 1998.

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Sozialisierung noch an die Revolution als Ausweg glaubten, als erste vom stalinistischen Terror erfasst und – wie in den folgenden Jahren fast 90 Prozent der KPD -Politemigranten – umgebracht. Trotz der verzweifelten und heroischen Widerstandsversuche richtete sich die schließlich zur Exilpartei geschrumpfte KPD nicht mehr auf. In der Zeit der antifaschistischen Volksfront seit 1935 wurde die revolutionäre Perspektive explizit aus allen Programmatiken und Bündnissen entfernt beziehungsweise explizit ausgeschlossen, was nicht nur für Deutschland, sondern beispielsweise auch für die Kommunistischen Parteien Spaniens, Frankreichs oder Chiles galt. In den kommenden Jahren der ›antiimperialistischen Einheitsfront‹ oder der ›Volksfront‹ seit 1935 blieb die Losung des ›Sozialismus in einem Land‹ als geostrate­ gischer Orientierungsrahmen für den internationalen Kommunismus und die ›Verteidigung der Sowjetunion‹ maßgeblich. Revolutionäre Zukunftsperspektiven wurden durch eklektische Praktiken in den Zentren und durch Bündnisse mit den ›progressiven‹ nationalen bürgerlichen Kräften in der (halb-)kolonialen Peripherie ersetzt. Im März 1936 erklärte Stalin schließlich die Weltrevolution gegenüber der Weltpresse zu einem »tragikomischen Mißverständnis«.58 Und in der Praxis wurden revolutionäre Vorstöße wie seitens der spanischen Sozialisten und Anarcho-­Syndikalisten unter dem Einfluss der Komintern in die vermeintlich demokratischen, jedoch bestenfalls volksdemokratischen Bahnen der Volks- oder nationalen Fronten gelenkt, durch Propaganda, aber auch mit polizeilichen Mitteln. Aus ­diesem Grund wurde der linkssozialistische spanische Ministerpräsident Francisco Largo Caballero, der ›spanische Lenin‹, in einer entscheidenden Phase des Spanischen Bürgerkrieges von Stalin und der Komintern bekämpft, gerade weil er sozialistische Maßnahmen angekündigt hatte.59 So konnten auch die Internationalen Brigaden und die sowjetische Intervention im Spanischen Bürgerkrieg ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Sie scheiterten trotz des Heroismus der Kombattanten daran, dass die Sowjetunion eine die europä­ ischen Imperien bedrohende revolutionäre Bewegung nicht mehr duldete und dazu einen Bürgerkrieg im Bürgerkrieg gegen die nichtkommunistische Linke führte. Insofern wurde der Sieg in Spanien »verspielt«.60 Was die Beziehungen zu Deutschland anging, wurden u. a. durch Radek, Sergej Bessonov und David 58 The Stalin-­Howard Interview (Interview Stalins mit dem britischen Journalisten Roy Howard). New York 1936. Abgerufen unter URL: https://www.marxists.org/reference/archive/stalin/ works/1936/03/01.htm, letzter Zugriff: 20. 03. 2019. 59 Pierre Broué: Staline et la Révolution. Le cas espagnol (1936 – 1939). Librairie Arthème Fayard 1993, S. 153 – 156. 60 Siehe Frank Schauff: Der verspielte Sieg. Sowjetunion, Kommunistische Internationale und Spanischer Bürgerkrieg 1936 – 1939. 2. veränderte Auflage. Frankfurt am Main 2005.

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Kandelaki in geheimen und verdeckten Missionen und Instruktionen Stalins, von denen nicht einmal alle Mitglieder des Politbüros erfuhren, die sowjetischen Kontakte mit der NS-Regierung intensiviert.61 Auch insofern ist die Hypothese nicht abwegig, dass damit ein – wenn auch über unterschiedliche Zwischenstufen verlaufender – Pfad zu einem festen Bündnis mit dem Deutschen Reich verfolgt wurde, der 1939 in den Stalin-­Hitler-­Pakt und die offene Freundschaft der Sowjetunion mit Hitler-­Deutschland mündete. Nachdem das Ende der Weltrevolution längst eingeläutet worden war, gab schließlich die Komintern sogar den Antifaschismus als Grundbestandteil linker und demokratischer Identität auf. Der stalinistische Terror und der durch den »Teufelspakt« beschleunigte Beginn des Zweiten Weltkrieges führten dazu, dass die Sowjetunion die Komintern in eine ›fünfte Kolonne‹ transformierte, die Komintern, die doch ursprünglich zur Bekämpfung der ›fünften Kolonne‹ angetreten war, doch tatsächlich alle Kritiker als feindliche Kollaborateure diffamierte.62

3. Das 20. Jahrhunderts als Sequenz weltrevolutionären Scheiterns. Zur globalgeschichtlichen Einordnung In der Historiografie markiert der ›Deutsche Oktober‹ als ausgebliebene Globalisierung der Oktoberrevolution eine Zäsur, nicht nur für die Metropolen, sondern auch für die koloniale Welt und den ›Global South‹ insgesamt. Die im Folgenden als Schlussfolgerungen aufgeworfenen Thesen sollen die Entwicklung der KPD globalgeschichtlich hinterfragen und ihre Relevanz für die transnationale Geschichte des Kommunismus (und des Arbeiterbewegungsmarxismus insgesamt) beleuchten. Die erste These lautet, dass es sich mit Bezug auf den damit verbundenen Epochenumbruch beim Scheitern des Aufstands 1923 um das ›Ende einer Ära‹ der KPD und des politischen Programms der Weltrevolution handelte. Zu Recht kann der ›Deutsche Oktober‹ die Rolle des ersten und letzten geplanten 61 Hierzu, leider kaum rezensiert und rezipiert: Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts, 1). Aus dem Russischen von Hilde und Helmut Ettinger. Berlin 2002. 62 Ernst Zander (d. i. Joseph Weber): Zum Thema Deutschland und die Weltentwicklung. In: Dinge der Zeit, London, Nr. 1, S. 1 – 16, hier S. 2 – 3. Siehe hierzu auch Werner Abel: Die versuchte Neutralisierung der ›Münzenberg-­Kreise‹ durch die KPD-Abwehr im republikanischen Spanien. In: Bernhard H. Bayerlein/Kasper Braskén/Uwe Sonnenberg (Hrsg.): Globale Räume für radikale transnationale Solidarität [Global Spaces for Radical Transnational Solidarity], S. 467 – 492. Abgerufen unter URL: https:// www.muenzenbergforum.de/ebook/, letzter Zugriff: 20. 03. 2019.

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kommunistischen Aufstands in einem industriellen Zentralstaat für sich beanspruchen – und damit auch den Status als einziger tatsächlicher ›Nachfolgerevolution‹ des Oktober 1917. Trotz der revolutionären Niederlage bleibt er ein Beleg dafür, dass sich in der VKP(b) trotz des Rapallo-­Vertrags im Jahre 1923 letztmals die revolutionäre Zielsetzung Lenins durchgesetzt hatte, um die Vereinigung der beiden ›Pariamächte‹ des Weltsystems zu erreichen. Zusammen mit Trockij hatte Lenin in Bezug auf Rapallo sowohl vor der Aufweichung des Außenhandelsmonopols gewarnt als auch grundsätzlich gegen die Anerkennung des Privateigentums als Prinzip der sowjetischen Außenpolitik opponiert. Sinnbildlich dafür war ein Verweis, den das sowjetische Politbüro für Außenkommissar Čičerin aussprach, der ein Trauertelegramm zur Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau gesandt hatte. Der deutsche Außenminister und Industrielle ­Rathenau hatte den Rapallo-­Vertrag unterschrieben und wurde von – wie es seinerzeit hieß – ›Republikzerstörern‹ im Juni 1922 ermordet. Trockij hielt den Wortlaut der sehr persönlichen Worte Čičerins für »völlig unzulässig«, der Rathenau als »persönlichen Freund« und »bedeutenden Staatsmann« bezeichnet hatte. Das Telegramm schloss mit den Worten: »mit unseren deutschen Freunden fühlen wir uns in diesen Stunden noch näher«.63 In seiner gegen die Verfälschung der Geschichte der Oktoberrevolution gerichteten Schrift Lehren des Oktober aus dem Jahre 1924, die von Stalin scharf verurteilt und auf den Index gesetzt wurde, erklärte Trockij die welthistorische Bilanz der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland auf folgende Weise: Nach dem Oktoberumsturz nahmen wir an, daß die nächsten Ereignisse in Europa sich von selbst entfesseln würden und zwar in so kurzer Zeit, daß es zu einer theoretischen Erfassung der Oktoberlehren gar nicht kommen würde. Aber es erwies sich, daß durch das Nichtvorhandensein einer Partei, die in der Lage gewesen wäre, einen proletarischen Aufstand zu leiten, dieser selbst unmöglich wurde. Durch einen elementaren Aufstand kann das Proletariat die Macht nicht erobern; selbst in dem hochkulturellen und industriellen Deutschland hat der elementare Aufstand vom November 1918 nur zur Folge gehabt, daß die Macht in die Hände der Bourgeoisie gelangte. Eine besitzende Klasse ist imstande, die Macht, die einer anderen besitzenden Klasse entrissen wurde, zu erobern, indem sie sich auf ihren Reichtum, ihre ›Kultur‹, ihre unzähligen Verbindungen mit dem alten Staatsapparat stützt. Dem Proletariat jedoch kann seine Partei durch nichts ersetzt werden.64

63 Der Beschluss ist abgedruckt in: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern. Band 2 (wie Anm. 7), S. 256. 64 Trotzki [Trockij]: 1917. Lehren der Revolution (wie Anm. 34), S. 13.

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Die zweite These beleuchtet den Umstand, dass es sich beim Scheitern des ›Deutschen Oktober‹ um eine Zäsur in der Geschichte der europäischen Revolutionen handelte, die anfänglich nur für einige Zeitzeugen evident war. Der französische Intellektuelle Victor Serge sprach nach der gescheiterten Revolution von einer »obskuren Wende«65 und Nikolaj Bucharin von einer »psychologischen Depression«. Sogar Zinov’ev sah eine Phase des »dunkelsten Pessimismus« heraufziehen.66 In der Folge wurden die deutsch-­russischen Beziehungen als Hauptachse der sowjetischen Politik und Magistrale der europäischen Geschichte beibehalten, doch sie folgten einer neuen, nicht mehr revolutionär vermittelten Logik. Und: Nach dem Bruch von 1923 verloren die deutschen Kommunisten endgültig ihre Vorbildrolle für die Bolschewiki und nach der kampflosen Niederlage zehn Jahre später auch für die internationale kommunistische Bewegung insgesamt. Der Internationalismus wurde zunächst »nach innen gewendet« und zielte auf die Vormachtstellung der russischen Arbeiter innerhalb des Vielvölkerstaats Sowjet­ union, während sich parallel dazu die Aufmerksamkeit der internationalen kommunistischen Bewegung auf die ›Ostvölker‹ richtete, allerdings ebenfalls ohne eine sozialistisch-­revolutionäre Orientierung als Perspektive. Damit war in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eine ›Orientalisierung‹ des internationalen Kommunismus verbunden. Jedenfalls wandte sich die neue marxistisch-­leninistische Ideologie bereits zu d­ iesem Zeitpunkt von einem (auch zukünftigen) europäischen Projekt ab.67 Die dritte These besagt, dass der Kampf um die Nachfolge Lenins in der Sowjet­ union und das Scheitern des ›Deutschen Oktober‹ eine grundlegende Neuorientierung der Komintern und das Ende der weltrevolutionären Zielsetzungen zur Folge hatten. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Stalinismus, der den ›Aufbau des Sozialismus in einem Land‹ und die bedingungslose Verteidigung der Sowjetunion unter politischen und ideologischen Maximen ausrief, kam es zur Einführung des russischen Organisationsmodells und der Leitideologie des sogenannten Marxismus-­Leninismus in der KPD, die fortan den revolutionären Marxismus ersetzte.68 Die Hauptakteure des ›Deutschen Oktober‹ wie ­Heinrich 65 Victor Serge [Viktor L’vovic Kibal’cic]: Le Tournant obscur. Paris 1951. 66 Gleb Albert: International Solidarity With(out) World Revolution. The Transformation of ›Internationalism‹ in Early Soviet Society. In: monde(s) 10 (November 2016), S. 33 – 50, hier S. 37. 67 Ebd., S. 47 ff. 68 Siehe ausführlich zur ›nationalpopulistischen‹ Wende der KPD: Bert Hoppe: In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928 – 1933 (Studien zur Zeitgeschichte, 74). München/ Oldenbourg 2007, S. 187 – 195 u. a.; siehe auch L. Trotzki [Lev Trockij]: »Gegen den Nationalkommunismus. Lehren des ›Roten‹ Volksentscheids«. In: ders.: Schriften über

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Brandler, Radek, Trockij, Pjatakov oder Thalheimer wurden auf Betreiben der neuen ›sozialistischen Kolonisatoren‹ und ›Großrussen‹ in den Reihen der Bolschewiki und der Komintern marginalisiert und kriminalisiert. Die meisten von ihnen wurden Opfer des stalinistischen Terrors, darunter fast alle, die mit revolutionären Vorstößen in Deutschland oder auch als diplomatische Vertreter in Deutschland eingesetzt wurden. Was seine transnationale und globalgeschichtliche Relevanz angeht, zeigt der ›Deutsche Oktober‹ anschaulich, dass das Zeitfenster der europäischen Revolution (beziehungsweise der weltrevolutionären Perspektiven) im 20. Jahrhundert insgesamt nur für ein paar Jahre, nämlich ungefähr von 1919 bis 1923, geöffnet war. Die vierte These besagt, dass das Charisma des Oktobers und der Sowjetunion zunächst das Ende des revolutionären Marxismus der Arbeiterbewegung und des klassischen Internationalismus verhüllte. Ein derartiges Scheitern revolutionärer Globalisierung war auch in der Rückschau nicht unvermeidlich, zumal sich der Ausgang und die Resultate einer Revolution in Mitteleuropa keineswegs vorhersagen ließen. Der Historiker Arthur Rosenberg hat nicht zu Unrecht konstatiert, dass auch ein gelungener deutscher Arbeiteraufstand nicht unbedingt die erhoffte Reaktion in Moskau hervorgerufen hätte. Nur für die ersten Jahre schienen sich die weltrevolutionären Absichten Moskaus, der Komintern und der KPD zu decken. Die Betrachtung und Bewertung des ›Deutschen Oktober‹ öffnet heute die Perspektive auf das 20. Jahrhundert als Sequenzen weltrevolutionären Scheiterns. Sie begannen in Deutschland ­zwischen 1918 und 1920, setzten sich 1919 in Ungarn, 1920 in Italien und 1923 in Bulgarien fort und wurden noch im gleichen Jahr in Deutschland besiegelt. Es folgte die »Tragödie der chinesischen Revolution«69 mit Tausenden weitgehend aufgrund der Bündnispolitik der Sowjetunion ermordeten Arbeitern (zumeist Kommunisten) in den Jahren 1926/1927 und endete schließlich in der deutschen Katastrophe von 1933, in der die KPD dem Machtantritt Hitlers nichts entgegensetzte und in der Folge blutig zerschlagen wurde. Revolutionspolitisch setzten sich die Brüche auch im globalen Süden fort, wie es die Abwendung von Augusto César Sandino und dem kontinentalen Revolutionskonzept für Lateinamerika ab 1929, die Durchlöcherung des Antikolonialismus im äthiopischen Krieg Mussolinis 1935 und im gleichen Jahr das Fiasko des Antifaschismus in Brasilien zeigten. Schließlich machten die Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg 1939 und die Zerstörung der französischen Deutschland (L. Trotzki, Gesammelte Werke, I–II). Hrsg. v. Helmut Dahmer. Eingeleitet von Ernest Mandel. 2 Bde. Frankfurt am Main 1971, hier Bd. 1, S. 113. 69 Harold R. Isaacs: The Tragedy of the Chinese Revolution. Second Revised Edition. ­Stanford 1966 (1. Aufl. London 1938).

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Demokratie die rückschrittliche Bewegung als Einbruch der Sozialbarbarei perfekt. Die Komin­tern war im Laufe eines Vierteljahrhunderts weltweit nicht zu einem einzigen revolutionären Durchbruch in der Lage. Die kommunistischen Parteien konnten außer in der Sowjetunion in keinem einzigen Land die politische Macht erringen. In Anlehnung an das Konzept des kulturellen beziehungsweise kollektiven Traumas lässt sich die Revolutionsgeschichte, die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und insbesondere die Geschichte des internationalen Kommunismus der Zwischenkriegszeit als ein mächtiger traumatischer Bogen darstellen, der das gesamte 20. Jahrhundert überwölbte.70 »Es sind nicht die siegreichen Revolutionen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die die Menschen krank machen«, hat Sebastian Haffner geschrieben.71 Nach Abschluss des Hitler-­Stalin-­Pakts sprach Walter Benjamin von einer nicht mehr rückholbaren, »unabgegoltenen« Geschichte.72 Tatsächlich wurden die Komintern und mit ihr die kommunistischen Parteien spätestens seit Mitte der 1920er Jahre zersetzt und im Laufe der 1930er Jahre innerhalb eines weltweiten Prozesses der ›Renationalisierung‹ beziehungsweise Deinternationalisierung in multiple sowjetisch dominierte Kanäle zur weltweiten Beeinflussung von Staats- und Regierungsstrukturen transformiert. Die Weltrevolution, die nach der Oktoberrevolution eigentlich Deutschland erfassen und den Weg zur Befreiung der europäischen Arbeiter von wirtschaft­ licher Ausbeutung, Verarmung und politischer Unterdrückung bereiten und damit den Impuls zur Weltrevolution setzen sollte, endete in der systemischen Paranoia des stalinschen Terrors, des politischen Massenmords, der Einführung von Sklaverei und Zwangsarbeit. Die ursprünglich auf die Förderung der Minderheiten orientierte Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, die sogenannte korenizacija (Einwurzelung) und das weltweite Engagement für die Selbstbestimmung der Nationen endeten in der Versklavung und brutalen, genozidalen Deportation ganzer Völker und der Herrschaft der »sozialistischen Kolonisatoren« (Lenin).73 70 Zum Begriff des kulturellen Traumas, das als Synonym für kollektives Trauma gebraucht wird, siehe Geffrey C. Alexander: Cultural Trauma and Collective Identity. University of California Press 2004 (mit Ron Eyerman, Bernhard Giesen, Neil J. Smelser und Piotr Sztompka); Ders.: Trauma. A Social Theory. Cambridge 2012. 71 Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich? München 1979, S. 218 f. 72 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (wie Anm. 4), S. 691 – 704. 73 Hierzu: Terry Martin: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union 1923 – 1939. Ithaca 2001; Jean-­Jacques Marie: Les peuples déportés d’Union Soviétique. Bruxelles 1995.

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Die kommunistischen Parteien besaßen seit dem Ende der 1920er Jahre nicht mehr die Kraft, um sich dieser Entwicklung zu widersetzen. Die Komintern wurde vor ihrer Auflösung 1943 nach dem Vorbild einer privilegierten Sowjetrepublik in einen ebensolchen sowjetischen Mikrokosmos verwandelt, bevor sie auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges auf eine persönliche Intervention Stalins hin aufgelöst wurde (der dies bereits 1941 Hitler angeboten hatte, als letzte Hoffnung den ›Überfall‹ auf die Sowjetunion zu verhindern). Eigentlich hätte man davon ausgehen können, dass sie trotz aller Transformationen noch einen wichtigen Beitrag zum Kampf gegen Hitler und für die Verteidigung der überfallenen und unterdrückten europäischen Nationen hätte leisten können.74 Die Geschichte der Komintern zeigt, ähnlich der Geschichte der Arbeiterinternationalen seit dem 19. Jahrhundert, dass die Eliten der Arbeiterbewegung tendenziell ein eigenes Imperium bildeten, das sich von den Arbeitern, aber auch von den Revolutionsvorstellungen löste. Bereits im Jahre 1929 zog Clara Zetkin, die ›alte Dame‹ der Zweiten und der Dritten Internationale und Mutterfigur des deutschen Sozialismus, eine vernichtende Bilanz im Hinblick auf die Vervielfachung der Bürokraten und Beamten und die Beseitigung der Revolutionäre. Dabei verwies sie auf die Komintern, die von »ein[em] lebendige[n] politische[n] Organismus« in einen »toten Mechanismus« transformiert worden sei, der zunächst Befehle in russischer Sprache verschlinge und dann »diese Befehle in verschiedenen Sprachen [aus]spuckt«.75

74 Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933 – 1943, S. 374 ff., S. 386 ff.; siehe auch Fridrich Igorevič Firsov: Archivy Kominterna i vnešnjaja politika SSSR v 1939 – 1941. In: Novaja i Novejšaja Istorija 6 (1992), S. 12 – 35; außerdem Fridrich I. Firsov: »Stalin und die Komin­ tern«. In: Ebd. (e. a.): Die Komintern und Stalin. Sowjetische Historiker zur Geschichte der Kommunistischen Internationale. Berlin 1990, S. 65 – 132. 75 Clara Zetkin an Jules Humbert Droz, 25. 03. 1929. In: Weber/Bayerlein: Der Thälmann-­ Skandal, S. 301 f.

Eva Oberloskamp

Nachrichten aus einem gelobten Land? Die Sowjetunion im Urteil von Linksintellektuellen zur Zeit der Weimarer Republik

Intellektuelle aus der ganzen westlichen Welt reisten nach den Umwälzungen des Oktobers 1917 ins ›neue Russland‹. Hier sollte die Utopie des Sozialismus Realität werden – eine neue, bessere Welt entstehen, ohne Krieg, materielle Not und soziale Ungleichheit. Nach ihrer Rückkehr berichteten viele berühmte Persönlichkeiten Positives über die Sowjetunion 1 und stellten sich demonstrativ hinter die Bolschewiki. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Sowjetunionreisen und Reise­ berichten deutscher Linksintellektueller der Jahre 1917 bis 1933.2 Ob die Texte deutscher Linksintellektueller über die Sowjetunion tatsächlich Nachrichten aus einem gelobten Land waren, gilt es dabei zu problematisieren. Im Zentrum des Interesses stehen die Fragen, wie die Autoren auf ihren Reisen die Sowjetunion wahrnahmen, wie sie diese beurteilten und wie ihre Deutungen der Sowjetunion zu erklären sind. Nach Karl Rohe sind Intellektuelle »Interpreten und Produzenten von politischen Wirklichkeitsbildern«, »die Sinn- und Deutungsangebote für andere machen« und die eine zentrale Rolle im Prozess der Tradierung und Weiterentwicklung politischer Kultur spielen.3 Es handelt sich dabei zumeist um herausragende und öffentlich beachtete Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler, die sich – ihren eigentlichen Kompetenzbereich überschreitend – in politische 1 Soweit von größeren, die 1920er, evtl. auch die 1930er Jahre umfassenden Zeiträumen die Rede ist, wird im Folgenden allgemein der Begriff Sowjetunion verwendet – auch dann, wenn die Phase bis zur Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922 mitgemeint ist. 2 Die Darstellung orientiert sich weitgehend an der publizierten Fassung meiner Dissertation, auf die auch für Angaben zur Forschungsliteratur zu verweisen ist. Siehe Eva Oberloskamp: Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917 – 1939. München 2011. 3 Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung. In: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321 – 346, hier S. 339. – ›Politische Kultur‹ definiert Rohe als »ein mit anderen geteiltes politisches Weltbild […], das einen sichtbaren Ausdruck gefunden hat«. Ebd., S. 337.

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Debatten einmischen, um bestimmten Werten Nachdruck zu verleihen.4 Als ›Linksintellektuelle‹ sollen im Folgenden Intellektuelle bezeichnet werden, die mit ihrem öffentlichen Engagement für die Verteidigung universeller Werte und für das Prinzip der Volkssouveränität eintreten.5 Es geht somit um ein politisch breites Spektrum, das nicht nur klar prosowjetische Intellektuelle wie Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn oder Anna Seghers einschließt, sondern auch Personen wie den Linkskommunisten Franz Jung, den Sozialdemokraten Otto Friedländer oder den schwer einzuordnenden Joseph Roth, der sich selbst bis Mitte der 1920er Jahre als ›Sozialisten‹ bezeichnete. Quellengrundlage der Analyse sind private und öffentliche Äußerungen von 25 Autoren,6 die z­ wischen 1917 und 1933 ins ›neue Russland‹ fuhren und die anhand ihrer Erlebnisse einen Reisebericht publizierten. Dazu gehören Namen, die heute noch sehr bekannt sind – wie etwa Walter Benjamin, Ernst Toller oder Klaus Mann –, aber auch ­solche, die heute eher in Vergessenheit geraten sind, wie etwa Arthur Holitscher, Kurt Kersten oder Armin T. Wegner. Im publizistischen Leben der Weimarer Republik hatten die Veröffentlichungen von Linksintellektuellen über die Sowjetunion teilweise einen beachtlichen Stellenwert. Ein Teil der Publikationen erreichte ein breites Publikum, etwa die Reportagen von Alfons Paquet oder Joseph Roth, die in der linksliberalen Frankfurter Zeitung abgedruckt wurden. Auch einige Bücher erschienen in hohen Auflagen, beispielsweise Alfons Goldschmidts im Ernst Rowohlt Verlag publiziertes Buch Moskau 1920, dessen 11.000 Exemplare innerhalb weniger Tage vergriffen 4 Siehe Rainer M. Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen 1990, S. 270 – 285, hier S. 283 f.; Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. München 1950, S. 237; Gangolf Hübinger: Die Intellektuellen im Wilhelminischen Deutschland. Zum Forschungsstand. In: ders. u. Wolfgang Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt/M. 1993, S. 198 – 210, hier S. 202. 5 Für den Kreis dieser Intellektuellen ist für die Weimarer Republik von einer weitgehenden Identifikation mit der Arbeiterbewegung und kommunistischen bzw. sozialistischen Ideen auszugehen. Diese Begriffsbestimmung liegt nah an jener von Grebing, die mit Blick auf die Weimarer Republik dafür plädiert, »Intellektuelle dann als ›links‹ zu bezeichnen, wenn sie, in direkter oder indirekter Weise dem emanzipatorischen Projekt der Moderne verpflichtet, in der Arbeiterbewegung gewirkt haben«. Helga Grebing: Die linken Intellektuellen und die gespaltene Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. In: Ulrich v. Alemann u. a. (Hrsg.): Intellektuelle und Sozialdemokratie. Opladen 2000, S. 79 – 89, hier S. 79. 6 Max Barthel, Walter Benjamin, Otto Friedländer, Ernst Glaeser, Alfons Goldschmidt, Emil Julius Gumbel, Otto Heller, Wilhelm Herzog, Arthur Holitscher, Franz Jung, Kurt Kersten, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Klaus Mann, Alfons Paquet, Ludwig Renn, Joseph Roth, Anna Seghers, Hans Siemsen, Helene Stöcker, Ernst Toller, Heinrich Vogeler, Armin T. ­Wegner, Franz Carl Weiskopf, Friedrich Wolf.

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waren,7 Otto Hellers im Neuen Deutschen Verlag in 10.000 Exemplaren gedrucktes Sibirien. Ein anderes Amerika oder Egon Erwin Kischs im E. Reiss Verlag veröffentlichtes Buch Zaren, Popen, Bolschewiken, dessen erste Auflage 1927 in 10.000 Exemplaren gedruckt wurde und das allein bis 1929 neunmal wiederaufgelegt wurde.8 Andere Reiseberichte hingegen erreichten wohl nur Teilöffentlichkeiten, so Helene Stöckers Artikel, die in der Zeitschrift der Freunde des neuen Rußland publiziert wurden, oder Friedrich Wolfs in der KPD-Zeitung Rote Fahne abgedruckte Reisebeschreibungen.

1. Wahrnehmungen und Beurteilungen der Sowjetunion Die Frage, was politisch interessierte Besucher der 1920er und frühen 1930er Jahre eigentlich über die Sowjetunion erfuhren, erweist sich im Detail als komplexe Angelegenheit: Ihre Beantwortung erfordert es, zunächst jenseits der oftmals plakativ formulierten Stellungnahmen zu rekonstruieren, ­welche Informationen die Autoren auf ihren Reisen sammelten. Hierauf soll im Folgenden exemplarisch anhand von drei Themenkomplexen eingegangen werden. Daran anschließend wird zusammenfassend umrissen, wie die Reisenden die Sowjetunion vor dem Hintergrund ihrer Wahrnehmungen beurteilten. 1.1 Beobachtungen zum staatlichen Terror in der Sowjetunion Für nahezu alle Reisenden stand außer Frage, dass der aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Staat eine Diktatur war,9 die durch die Unterdrückung von Opposition und teilweise willkürliche staatliche Gewalt gegen ›Feinde‹ gezeichnet war. In vielen untersuchten Texten finden sich explizite Hinweise auf staatlichen 7 Siehe Thomas Möbius: Reise nach Utopia? Sowjetunion-­Reisende in den 1920er und 1930er Jahren. In: Gerbergasse 18 2 (2017) 83, S. 9 – 13, hier S. 9. 8 Soweit nicht anders angegeben, wurden die Auflagenzahlen über die Angaben in Bibliothekskatalogen ermittelt. 9 Lediglich Goldschmidt und Wolf bestritten, dass die Sowjetunion eine Diktatur war. Siehe Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 228. – Eine Reihe weiterer Autoren vermied die Frage, ob die Sowjetunion eine Diktatur war, gänzlich (z. B. Glaeser), wobei jedoch häufig trotzdem ­Themen wie die Arbeit der Geheimdienste, Säuberungen und die Unter­drückung von Opposition angesprochen wurden (Heller, Kersten, Kisch, Renn, Vogeler, ­Weiskopf ). Alle übrigen bezeichneten die Sowjetunion explizit als Diktatur und thematisierten auch konkret dahingehende Tendenzen.

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Terror. Als Korrespondent der Frankfurter Zeitung schilderte etwa Alfons Paquet im Jahr 1919 eindringlich den überall zu spürenden »Alpdruck des Terrors«10 sowie die willkürlichen Verhaftungen und Erschießungen der Bürger­kriegszeit.11 Der linkskommunistische Schriftsteller Jung beschrieb, wie »die sozialistische Staatsmaschinerie« mit »fabelhafter Präzision« »die Tüchtigen von den Untüchtigen, die Arbeiter von den Drohnen, die neuen Menschen von den alten« »siebt«: »Der Ausscheidungsprozeß ist ganz ungeheuer, man sieht die Menschen geradezu fallen, zerpreßt werden und verfaulen.«12 Während der Neuen Ökonomischen Politik erwähnte Benjamin die »Entfernung« linker Abweichler aus Moskau 13 und der pazifistische Schriftsteller Wegner schilderte die Überwachung durch Geheimdienste, Verhaftungen, Deportationen und andere Formen staatlicher Repression.14 Der linkssozialistische Schriftsteller Hans ­Siemsen, der während des Frühstalinismus die Sowjetunion besuchte, konstatierte: »Die konsequente Diktatur muß herrschen, sich behaupten, Gewalt anwenden, terrorisieren, muß töten.« Dass die sowjetische Geheimpolizei (GPU) »eine geheime, völlig unkontrollierbare, ganz im Dunkeln arbeitende Körperschaft ist, die mit schrankenloser Macht ausgestattet, ohne Gerichtsverfahren ›auf dem Verwaltungswege‹ Todesurteile fällen und vollstrecken darf, die Polizei, Ankläger, Richter und Henker in einem ist, – all das läßt sich nicht leugnen«.15 10 Alfons Paquet: Im kommunistischen Rußland. Briefe aus Moskau. Jena 1919, S. 71. 11 Siehe ebd., S. 16 – 19, 47, 50, 55, 72, 88, 93 f., 117, 181, 185. 12 Franz Jung: Reise in Rußland. In: ders.: Werke. Bd. 5: Nach Rußland! Schriften zur russischen Revolution (hrsg. v. Lutz Schulenburg). Hamburg 1991, S. 17 – 6 4, hier S. 21. – Weniger abstrakte Passagen über den Roten Terror stehen bei Franz Jung: Hunger an der Wolga. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. 85 – 150, hier S. 114, 116; ders.: Die Geschichte einer Fabrik. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. 217 – 294, hier S. 230, 247, 282. – Weitere Beispiele für die Phase des Kriegskommunismus finden sich bei Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­ Rußland. Berlin 1921, S. 14, 53, 105, 153, 184, 205 u. 207 – 209; Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch. Mai – August 1920. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 481 – 484, 791 – 865, 871 – 911, hier S. 878, u. in: Das Forum 5 (1920/21), S. 1 – 38, 154 – 185, 251 – 283, 399 – 413, hier S. 24 u. 253 f. 13 Siehe Walter Benjamin: Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teilband 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann S­ chweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 743 – 747, hier: S. 744. 14 Siehe Armin T. Wegner: Fünf Finger über dir. Bekenntnis eines Menschen in dieser Zeit. Stuttgart u. a. 1930, S. 26, 35, 37, 141 f., 271, 276 – 278, 358 f. 15 Hans Siemsen: Rußland ja und nein. Berlin 1931, S. 96 f. u. S. 119; Siehe auch ebd., S. 99 – 114, 125, 187. – Auch Toller betonte die sowjetische Praxis, »auf administrativem Wege, also ohne Prozeß« Urteile zu fällen, stellte diese jedoch mit der Schutzhaft der Weimarer Republik auf eine Stufe und verharmloste sie dadurch massiv. Siehe Ernst Toller: Quer durch. Reisebilder und Reden. Berlin 1930, S. 128.

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Es gab jedoch auch eine – allerdings eher kleine – Minderheit von Autoren, die die Ausmaße des Terrors deutlich unterschätzte. Hierzu zählen der Maler H ­ einrich Vogeler, der nach seiner Reise 1923/24 zwar die »drakonischen M ­ ittel« 16 der Tscheka erwähnte, gleichzeitig aber die Milde der sowjetischen Justiz betonte,17 der Kommunist Heller, der 1930 eine beschönigende Darstellung sibirischer Verbannung brachte,18 und der Kommunist Kisch, der 1932 behauptete, »die Originalgröße der unerfreulichen Details« sei »verschwindend klein im Verhältnis zum erfreulichen Gesamtbild«.19 1.2 Beobachtungen zum Lebensstandard der sowjetischen Bevölkerung Wirtschaftliche Th ­ emen nehmen in den meisten der untersuchten Texte weitaus weniger Raum ein als etwa politische oder kulturelle Fragen: Nur ein Teil der Reisenden befasste sich überhaupt damit, und ihre Beobachtungen bezogen sich oftmals lediglich auf Einzelaspekte des Alltags. Dabei ging kaum jemand davon aus, dass die sowjetischen Arbeiter unter materiell guten Bedingungen lebten. Der Mangel an Bedarfsartikeln, Wohnkomfort und über weite Phasen hinweg auch an Lebensmitteln war vielen bewusst. Während des Kriegskommunismus stand für nahezu alle die Tatsache außer Frage, dass es den Menschen am Allernötigsten fehlte.20 Allerdings wurden die Gründe für Not und Armut häufig nur in äußerst diffusen Floskeln benannt und ausschließlich bei den ›Feinden‹ des neuen Regimes gesucht;21 zu den Getreiderequisitionen auf dem Lande, über die einige Intellektuelle durchaus informiert waren, erfolgten kaum kritische

16 Siehe Heinrich Vogeler: Reise durch Rußland. Die Geburt des neuen Menschen. Dresden 1925, S. 18, 26 u. 53 f. 17 Siehe ebd., S. 53 f. 18 Siehe Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930, S. 126 – 130, 218 f. 19 Siehe Egon Erwin Kisch: Asien gründlich verändert. In: ders.: Nichts ist erregender als die Wahrheit. Reportagen aus vier Jahrzehnten. Bd. 2, hrsg. v. Walter Schmieding. München 1983, S. 10 – 6 4, hier S. 56 f., Zitat auf S. 57. 20 Lediglich Goldschmidt leugnete in dieser Phase, dass es in Sowjetrussland überhaupt Mangel gebe. Siehe Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter von Dr. Alfons ­Goldschmidt. Berlin 1920, S. 38, 64, 66 u. 87. 21 Siehe Max Barthel: Vom roten Moskau bis zum Schwarzen Meer. Berlin 1921, S. 7 u. 33; Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 794 f. u. 840; Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 167 u. 173 f.; Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 138.

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Äußerungen.22 Auch während der relativen wirtschaftlichen Erholung zur Zeit der Neuen Ökonomischen Politik wurde immer wieder der generell ärmliche Eindruck hervorgehoben, den das russische Leben auf die deutschen Reisenden machte.23 Häufig wurde in d­ iesem Zusammenhang auf die vor allem in Moskau extrem beengten Wohnverhältnisse hingewiesen.24 Interessant sind die Einschätzungen während des ersten sowjetischen Fünfjahresplans 1928 bis 1933: Soweit die Reisenden den Lebensstandard thematisierten, sprachen sie durchaus die nach wie vor ärmlichen Lebensverhältnisse der sowjetischen Bevölkerung an. Auch die Lebensmittelknappheit wurde wahrgenommen. So schrieb beispielsweise 1931 der kommunistische Schriftsteller und Arzt Friedrich Wolf aus Moskau an seine Frau in Deutschland, die mit ihm eine Rundreise durch die Sowjetunion antreten sollte, dass sie unbedingt »150 Pfund Lebendgewicht/netto!« mitbringen müsse: »Es ist notwendig! Im Kaukasus sind […] oft schwierige Versorgungsverhältnisse […] uebel, wenn du geschwächt hier ankommst, den Fremden-­Durchfall bekommst/[…] nichts essen willst, weil dir die ›Kascha‹ […] nicht schmeckt«.25 Nicht nur kommunistische Autoren, die von der Dynamik des sowjetischen Aufbaus beeindruckt waren, sahen jedoch im Mangel nur ein vorübergehendes Problem, das die Bevölkerung eigentlich kaum als solches empfinde und das bald durch den industriellen Aufbau behoben sein werde. Der pazifistische Mathematiker und Publizist Emil Julius Gumbel etwa unterstrich, »die russische Arbeiter­schaft« trage »die Lasten für sich«, denn sie wisse, »daß jede Entbehrung von heute ein 22 Erwähnt werden die Requisitionen während der Zeit des Kriegskommunismus von ­Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 174; Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 62. 23 So etwa in den Briefen von Heinrich Vogeler an seine ­Mutter Marie Louise Vogeler vom März bis Juni 1924 aus Moskau, in: Werden. Erinnerungen. Mit Lebenszeugnissen aus den Jahren 1923 – 1942. Neu hrsg. v. Joachim Priewe u. Paul-­Gerhard Wenzlaff. Berlin 1989, S. 383 – 470, hier S. 398 – 4 04; Walter Benjamin: Moskau. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4, Teilbd. 1, hrsg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1972, S. 316 – 348, hier: S. 320 f. u. 330; Otto Friedländer: Hammer, Sichel und Mütze. Eindrücke aus dem heutigen Rußland. Berlin 1927, S. 9 u. 111. – Zu den Wahrnehmungen Gumbels siehe Christian Jansen: Der Zivilist als Außenseiter. In: ders.: Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten. Heidelberg 1991, S. 9 – 84, S. 15 f. 24 Siehe zum Beispiel Benjamin: Moskau (wie Anm. 23), S. 327 f. u. 344; Helene Stöcker: Als Antimilitaristin in Rußland. In: Die neue Generation 19 (1923) 10/11/12, S. 194 – 203, hier S. 201. 25 Zitiert nach Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 250. – Ähnliche Hinweise finden sich beispielsweise auch bei Heller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 324; Brief von Egon Erwin Kisch an Jarmila Haasová vom 3. Mai 1931 aus Moskau. In: Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila. Hrsg. v. Klaus Haupt. Berlin 1998, S. 100.

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Verzicht zugunsten künftiger Genüsse […] ist«.26 Die Sowjetunion erschien damit, so die Formulierung des Kommunisten Franz Carl Weiskopf, als »das Land, wo der Hunger nicht weh tut«27 – was aus heutiger Sicht geradezu zynisch anmutet, fielen doch wenig später der Zwangskollektivierung und der ­daraus resultierenden Hungersnot von 1933/34 Millionen von Menschen zum Opfer. 1.3 Beobachtungen zum Ideal der Gleichheit Nahezu alle Autoren schenkten Fragen sozialer Ungleichheit große Aufmerksamkeit. Viele schrieben positiv über die Arbeiterclubs und -bibliotheken, neue Arbeiterwohnungen oder Sanatorien. Auch die Bekämpfung sozialer Probleme wie Alkoholismus, Prostitution und Obdachlosigkeit spielte eine große Rolle in den Reiseberichten,28 ebenso wie die Stellung der Frau 29 und die sowjetische Nationalitätenpolitik.30 Einige Autoren interessierten sich für staatliche Kindererziehung 26 Emil Julius Gumbel: Moskau 1932. In: Die Weltbühne 28 (1932) 1, S. 400 – 4 03, 513 – 515 u. 591 – 593, hier S. 593. – Ähnliche Deutungen finden sich beispielsweise auch bei Franz Carl Weiskopf: Umsteigen ins 21. Jahrhundert. Episoden einer Reise durch die Sowjetunion. Berlin 1927, S. 145. Als einziger Reisender schätzt Siemsen den ­Ersten Fünfjahresplan insgesamt sehr viel kritischer ein. Siehe Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 104, 151 u. 221. 27 Franz Carl Weiskopf: Zukunft im Rohbau. 18000 Kilometer durch die Sowjetunion. Berlin 1932, S. 212. 28 Siehe beispielsweise Goldschmidt: Moskau 1920 (wie Anm.  20), S.  34 f. u.  102 f.; ­Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 164; Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 11; Gumbel: Moskau 1932 (wie Anm. 26), S. 401; H ­ eller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 81 f.; Weiskopf: Zukunft im Rohbau (wie Anm. 27), S. 39 u. 43; Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 20 – 22 u. 31 – 59; 39; Friedländer: Hammer, Sichel und Mütze (wie Anm. 23), S. 100 – 104; Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. In: ders.: Nichts ist erregender als die Wahrheit. Reportagen aus vier Jahrzehnten. Bd. 1, hrsg. v. Walther Schmieding. München 1983, S. 173 – 239, hier S. 191. 29 Siehe z. B. Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 109 – 111. 30 Siehe Helene Stöcker: Neue Kulturträger in Rußland. In: Die neue Generation 20 (1924) 3/4, S. 56 – 63, hier S. 59 f.; Siehe ähnlich auch dies.: Zum 7. November 1932. In: Das neue Rußland 9 (1932) 7/8, S. 13; Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 26; ­Heller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 42, 118 u. 137; Joseph Roth: Reise in Rußland. In: ders.: Reise nach Rußland. Feuilletons, Reportagen, Tagebuchnotizen 1919 – 1930. Hrsg. v. Klaus ­Westermann, Köln 1995, S. 117 – 234, hier insbes. S. 165 – 171; Emil Julius Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart. Berlin 1927, S. 75 – 77; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 176 f.; ­Friedrich Wolf: Mit eigenen Augen in der Sowjetunion. In: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 14: Aufsätze, Autobiographisches, Medizin und Volksgesundheit, Literatur, Film, Geschichte und Politik. Berlin 1960, S. 348 – 378, hier S. 349 f.; Otto Heller: Der Untergang

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und glaubten, hier besonders egalitäre Tendenzen zu erkennen – was vor dem Hintergrund der oftmals reformpädagogisch inspirierten schulischen Experimente in der Sowjetunion der 1920er Jahre durchaus eine gewisse Berechtigung hatte.31 Deutlich problematischer erscheint die Sicht einiger Reisender auf den sowje­ tischen Strafvollzug, der – zumindest theoretisch am Ideal der ›Resozialisierung‹ orientiert –, oftmals als besonders egalitär und menschlich wahrgenommen wurde.32 Dieses einseitige Bild ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei jenen Gefängnissen, die Ausländer in der Sowjetunion zu sehen bekamen, tatsächlich um ›Vorzeigeinstitutionen‹ handelte.33 Zudem schienen die meisten Reisenden offensichtlich nicht zu wissen, dass neben den Gefängnissen auch noch ein umfassendes Lager- und Verbannungssystem existierte.34 Lediglich in den Texten einiger Intellektueller deutet sich ein Wissen darüber an, dass es auch andere Kategorien von Haftorten gab, an denen insbesondere Regimegegner oder -kritiker Strafen verbüßen mussten. So bekam beispielsweise Wegner einen »Brief eines russischen Genossen über den ›politischen Isolator‹ von Werchne-­Uralsk« zugespielt, der ein höchst unmenschliches Bild des sowjetischen Strafvollzugs wiedergibt.35 des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus. Wien/Berlin 1931; ders.: Kommunismus und Judenfrage. In: Ernst Johannsen u. a.: Klärung. 12 Autoren, Politiker über die Judenfrage. Mit Beiträgen aus Friedrich Nietzsches Antichrist und zur Genealogie der Moral. Berlin 1932, S. 81 – 96. 31 Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 53 u. 59. – Siehe ähnlich beispielsweise Arthur Holitscher: Der Knabe Wassili K. In: Komitee Arbeiterhilfe für Sowjet-­Russland (Hrsg.): Sowjet-­Rußland und seine Kinder. Berlin-­Halensee 1921, S. 16 – 18, hier S. 18. – Zur sowjetischen Reformpädagogik siehe Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 545 f. 32 Egon Erwin Kisch: Kriminalistisches Reisebuch. Berlin u. Weimar 1994, S. 13 – 15, Zitate auf S. 13. – Ähnlich positive Berichte finden sich beispielsweise auch bei Barthel: Vom roten Moskau bis zum Schwarzen Meer (wie Anm. 21), S. 56 f.; ders.: Der rote Ural. Berlin 1921, S. 11 u. 50; Helene Stöcker: Zum vierten Male in Rußland. In: Die neue Generation 24 (1928), S. 39 – 45, 88 – 95, 153 – 161, 197 – 203, 232 – 238, 326 – 329, hier S. 236; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 128 – 145. – Auch Siemsen gewinnt einen guten Eindruck von dem Gefängnis, das er besichtigt, äußert aber Zweifel daran, dass es repräsentativ sei. Siehe Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 61 – 70. 33 Insgesamt ist jedoch anzumerken, dass sich die Reisenden insbesondere während der 1920er Jahre durchaus frei bewegen konnten und keiner systematischen Gängelung durch sowjetische Stellen ausgesetzt waren. Siehe hierzu Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 201 – 227. 34 Siehe J. Arch Getty u. a.: Victims of the Soviet penal system in the pre-­war years. A first approach on the basis of archival evidence. In: The American Historical Review 98 (1993), S. 1017 – 1049; Anne Applebaum: Der Gulag. Berlin 2003. 35 Siehe Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 276 – 278.

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Abb. 1  Ernst Toller, um 1923

Auch Toller scheint gewusst zu haben, dass politische Gefangene nicht von den vermeintlich humanen Einrichtungen des sowjetischen Strafvollzugs profitieren konnten: Er wollte Haftanstalten für politische Gefangene besichtigen, was ihm nicht ermöglicht wurde.36 Ein erheblicher Teil der Autoren betonte auch die Existenz von Diskriminierungen, die durch das sowjetische Regime neu geschaffen wurden – so etwa die ungleiche Gewährung politischer Rechte,37 die Ungleichheit vor dem Gesetz 38 sowie auch die geringeren Bildungs- und Aufstiegschancen für Kinder, die von ›bürgerlichen‹ Familien abstammten.39 Auch die Existenz von ökonomisch schlechtergestellten Unterschichten beziehungsweise materiell privilegierten 36 Siehe Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 129. 37 Siehe Friedländer: Hammer, Sichel und Mütze (wie Anm. 23), S. 24; Joseph Roth: Über die Verbürgerlichung der Russischen Revolution. In: ders.: Reise nach Rußland (wie Anm. 30), S. 244; ders.: Reise in Rußland, S. 146 – 150; Kurt Kersten: Moskau – Leningrad. Eine Winterfahrt. Frankfurt/M. 1924, S. 26 f. – Bis 1936 waren in der Sowjetunion Kaufleute, Priester sowie Menschen, die Lohnarbeiter beschäftigten oder von Renten und Wertpapieren lebten, offiziell nicht wahlberechtigt. Siehe hierzu Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion (wie Anm. 31), S. 133. 38 Siehe etwa Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie Anm. 30), S. 59 f. 39 Siehe ebd., S. 45 u. 64; Heller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 229.

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Oberschichten wurde immer wieder unterstrichen. So befiel beispielsweise ­Wegner, als er die Baracken von in der Erdölförderung beschäftigten Arbeitern in der Nähe von Baku zu sehen bekam, das »niederdrückende […] Gefühl, daß die Menschen, die hier auf dem kostbarsten Boden der Welt leben, auch heute nicht viel mehr als elende Knechte sind, die keinen trockenen Platz haben, um ihr Haupt zum Schlafe zu legen.«40 Trotz dieser ambivalenten Beobachtungen folgerten dem Kommunismus nahestehende Intellektuelle, die Sowjetunion sei eindeutig auf dem Weg zur egalitären, klassenlosen Gesellschaft. Ludwig Renn beispielsweise schloss seinen Reise­bericht mit den optimistischen Worten, in der Sowjetunion s­ eien »die Klassen im Schwinden«, während sie sich in Deutschland »zu himmelhohen Wänden« emportürmten,41 und die kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers sprach von dem Aufbau eines Landes, »in dem es bald keine Armen und Reichen, keine Unterdrücker und Unterdrückten« mehr geben werde.42 Andere Autoren jedoch hoben nachdrücklich hervor, dass in der sowjetischen Gesellschaft durchaus nicht alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten hätten und dass auch keine eindeutige Tendenz in diese Richtung festzustellen sei. Benjamin etwa bezeichnete das ›neue Russland‹ Mitte der 1920er Jahre als »Kastenstaat«,43 und auch Roth befürchtete, in der Sowjetunion sei eine neue Klassengesellschaft im Entstehen begriffen.44 1.4 Beurteilungen der Sowjetunion Im Hinblick auf die Wahrnehmungen der Sowjetunion durch die Linksintellektuellen ist somit zunächst zu betonen, dass der Großteil von ihnen durchaus über breitgefächerte Informationen zu den Entwicklungen in der Sowjetunion verfügte. Selbst wenn es bei prokommunistischen Autoren eine Tendenz zu beschönigenden Darstellungen gab, entwickelte das Gros der Reisenden durchaus ein differenziertes Bild, das auch kritische Wahrnehmungen einschloss. 40 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 259; siehe ähnlich ebd., S. 120 u. 320; ­Heller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 229. 41 Ludwig Renn: Rußlandfahrten. Berlin 1930, S. 190. 42 Anna Seghers: Wer war das eigentlich? Gespräch mit einem Kind über Lenin. In: dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 3: Für den Frieden in der Welt, hrsg. v. Sigrid Bock, Berlin (Ost) 1971, S. 131 – 136, hier S. 131. Siehe auch Wolf: Mit eigenen Augen in der Sowjet­ union, S. 353. 43 Benjamin: Moskau (wie Anm. 23), S. 334. 44 Siehe Roth: Reise in Rußland (wie Anm. 30), S. 133.

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Das Gesamturteil zur Entwicklung in der Sowjetunion fiel jedoch beim allergrößten Teil der Autoren positiv aus. Der kommunistischen Bewegung nahestehende Intellektuelle versicherten dabei in der Regel ihre uneingeschränkte Zustimmung.45 Grundlage dieser Stellungnahmen war zumeist der vom Marxismus inspirierte teleologische Glaube daran, dass »der Bau einer besseren Zukunft, an dem […] mit Begeisterung, mit Heroismus und unter größten Opfern gearbeitet wird, auch gelingt«.46 Politisch unabhängige Reisende äußerten sich oftmals differenzierter und betonten, sie unterstützten die Sowjetunion trotz der bestehenden Probleme und Unzulänglichkeiten.47 Diese Intellektuellen stimmten zwar weitgehend den proklamierten Zielen der Bolschewiki zu. Sie waren jedoch oftmals nicht bereit, die herangezogenen Mittel zur Realisierung dieser Ziele zu akzeptieren, und betonten nachdrücklich Unzulänglichkeiten. So unterstrich beispielsweise Wilhelm Herzog 1920, in Deutschland werde man »nicht nur von dem Vorbild Sowjetrußlands, sondern auch aus seinen Fehlern viel zu lernen haben«.48 Auch spätere Reisende der 1920er Jahre verwiesen immer wieder darauf, dass sie sich trotz zahlreicher Kritikpunkte positiv zum sowjetischen Experiment verhielten, so beispielsweise Wegner, der sich in seinem 1930 publizierten Buch schließlich emphatisch zur Sowjetunion bekannte, obwohl sie viel Grausamkeit und Leid zu verantworten habe.49 Des Weiteren scheinen zahlreiche kritische Befürworter der Sowjetunion davon ausgegangen zu sein, dass die politische Entwicklung in Russland keineswegs zwingend auf eine kommunistische Gesellschaft hinauslaufen müsse, sondern prinzipiell offen sei. Sie sahen die Gefahr, dass sich die sowjetische Politik unter Umständen auch zum Negativen wenden könne.50 Nur zwei der untersuchten Autoren kamen schon während ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion zu einem negativen Gesamturteil: Dabei handelt es sich um den politisch weitgehend ungebundenen Joseph Roth 51 und um den Sozialdemokraten Otto Friedländer.52 Und schließlich gab es eine kleine Gruppe von 45 Zu dieser Gruppe gehören Barthel, Goldschmidt, Jung, Kersten, Glaeser, Heller, Kisch, ­Koestler, Renn, Seghers, Vogeler, Weiskopf, Wolf. 46 Weiskopf: Zukunft im Rohbau (wie Anm. 27), S. 14. 47 Zu dieser Gruppe können gezählt werden Gumbel, Herzog, Holitscher, Klaus Mann, Paquet, Stöcker, Toller, Wegner. 48 Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 5 (1920/21), S. 277. 49 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 359: »Ich hebe den Kopf und blicke stumm geradeaus; denn ich will die Toten nicht sehen, über die ich trete.« 50 Siehe beispielsweise Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 82; Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 91. 51 Für eine ausführlichere Darstellung siehe Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 321 f. 52 Friedländer: Hammer, Sichel und Mütze (wie Anm. 23), S. 37 u. 119.

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Abb. 2  Walter Benjamin, um 1929

Reisenden, die es in ihrem Reisebericht offenbar bewusst vermied, ein eindeutiges Urteil über die Sowjetunion zu formulieren. Hierzu zählen Hans Siemsen und, mit gewissen Einschränkungen, Walter Benjamin. Beide hoben sehr sorgfältig und kritisch negative wie positive Tendenzen in der Sowjetunion hervor, ohne mit einem eindeutigen Gesamturteil zu schließen.53

2. Deutungsmuster in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion Um zu erklären, warum die Sowjetunion trotz kritischer Einzelbeobachtungen oftmals so positiv beurteilt wurde, sind zunächst unmittelbare zeitgeschichtliche Kontexte von Bedeutung: Hierzu zählen die Erfahrungen deutscher Linksintellektueller während des E ­ rsten Weltkrieges und die Furcht vor einem neuen Krieg, Enttäuschungen über die deutsche Revolution von 1918 und die Rolle der SPD, die wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik und der Aufstieg der NSDAP.54 Wesentlich sind jedoch auch die Urteilskriterien der Reisenden – also die Deutungsmuster und Wertvorstellungen, mit deren Hilfe das Gesehene mit Sinn 53 Siehe Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 322 – 324. 54 Des Weiteren spielten vielfältige individuelle Kontexte und Hoffnungen eine Rolle. Siehe hierzu insgesamt Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 129 – 183.

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versehen wurde. Hierauf wird im Folgenden genauer eingegangen, indem zwei Aspekte analysiert werden, die für die Beurteilungen der Sowjetunion grundlegend waren: erstens die Geschichtsbilder, die das Verständnis der Sowjetunion prägten, sowie zweitens die politischen Wertvorstellungen, an denen die sowjetische Entwicklung gemessen wurde.55 2.1 Geschichtsbilder Insgesamt betrachtet wirken die Geschichtsbilder der deutschen Autoren eher disparat. Die eigene Nationalgeschichte – die sich anders als etwa im französischen Fall kaum als sukzessive Abfolge erfolgreicher Revolutionen interpretieren ließ, in ­welche die Oktoberrevolution eingereiht werden konnte – war offensichtlich kaum prägend für die Einschätzung der Sowjetunion. Entsprechend bestehen die historischen Referenzen, auf die in den Texten über die Sowjetunion zurück­ gegriffen wurde, nur zu einem kleinen Teil aus Ereignissen und Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, die dabei zudem ein eher heterogenes Ensemble bilden. Sehr viel öfter wird die französische revolutionäre Geschichte von ihren aufklärerischen Vordenkern über 1789 bis zur Kommune von 1871 bemüht, gelegentlich auch die Geschichte der Englischen oder Amerikanischen Revolutionen. Weitere historische Bezugspunkte waren die Antike und die russische Geschichte. Auch die Vergleiche der Bolschewiki mit Inquisitionstruppen oder mit dem Jesuitenorden fanden in deutschen Reiseberichten häufig Erwähnung.56 Im Hinblick auf eine übergreifende historische Einordnung der sowjetischen Ereignisse lassen sich unter den Weimarer Linksintellektuellen zwei Tendenzen unterscheiden: Erstens gab es eine Reihe von politisch unabhängigen Autoren, die im Sinne aufklärerischer Ideale an einen Fortschritt der Menschheit glaubten und die sowjetischen Entwicklungen vor dieser Folie einordneten.57 Allerdings wurde die universalistische Sicht bei diesen Linksintellektuellen oftmals durch Vorstellungen gebrochen, die eher in der Tradition des Historismus stehen: Verbreitet ist hier die Neigung festzustellen, eine eindeutige Richtung der Geschichte letztlich doch zu bezweifeln und stärker von der Eigengesetzlichkeit und Individualität jedes Volkes

55 Wesentliche Deutungsmuster waren außerdem Auto- und Heterostereotypen. Siehe hierzu ebd., S. 342 – 359. 56 Siehe ebd., S. 359 – 373. 57 Siehe beispielsweise Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 235; Roth: Reise in Rußland (wie Anm. 30), S. 155; Stöcker: Zum vierten Male in Rußland (wie Anm. 32), S. 45 u. 238.

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auszugehen.58 So unterstrich beispielsweise Paquet, dass »jedes Volk eine Bestimmung« habe – »nämlich seinen kleinen oder großen Beitrag zum Gesamtbilde des Menschlichen zu geben«.59 Stöcker betonte, »die europäischen Ordnungen und Gesetze« könnten »nicht ohne weiteres auf Rußland« angewendet werden.60 Und der Dramatiker Toller forderte, man solle »die Völker Rußlands ihre eigenen Wege gehen« lassen.61 Der Sowjetunion wurde aus dieser Perspektive ein eigener Entwicklungspfad zugestanden, der aber nicht unbedingt als Vorbild für andere Staaten gelten musste. Zweitens findet sich bei Kommunisten und überzeugten Sympathisanten ein in hohem Maße an Vorgaben der marxistischen Th ­ eorie orientiertes Geschichtsbild. Dabei wird oftmals unterstrichen, dass die historische Entwicklung den Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus folge – beispielsweise von Jung, der hervorhob, die Entwicklung Sowjetrusslands könne nur auf der Grundlage des »historischen Materialismus« verstanden werden, der »die Gesetze der Gesellschaftsentwicklung im Sinne der Naturentwicklung« festlege und »die Kette der Kausalität nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft hin von der Erkenntnis der gegebenen Materie bedingt sein« lasse.62 Ein weiteres Argument, das sich immer wieder findet, ist die Behauptung, dass die sowjetische Diktatur ein notwendiges Übergangsstadium auf dem Weg zum Kommunismus darstelle, dessen Gewaltsamkeit aufgrund historischer Gesetzmäßigkeiten unvermeidbar sei. So schrieb etwa der linkssozialistische Publizist Herzog: »Alle unsere letzten Ziele [können] erst erreicht werden […], wenn wir den Übergang – das ist die Diktatur des Proletariats – mit all ihren Konsequenzen durchgemacht haben werden. Wir können ihn nicht überspringen. Und so grauenvoll, so bitter, so dunkel, so blutig, so unmenschlich dieser Korridor durch den Widerstand der konterrevolutionären Klasse werden kann, – es bleibt uns keine Wahl, es gibt keinen anderen Weg.«63 58 Siehe etwa Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie Anm. 30), S. 109; Holitischer: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 252; Roth: Reise in Rußland (wie Anm. 30), S. 197 f.; Klaus Mann: Notizen in Moskau. In: ders.: Jugend und Radikalismus. Aufsätze, hrsg. v. Martin Gregor-­Dellin. München 1981, S. 14 – 27, hier S. 25. 59 Alfons Paquet: Rom oder Moskau. Sieben Aufsätze. München 1923, S. 58. 60 Stöcker: Zum vierten Male in Rußland (wie Anm. 32), S. 41. 61 Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 82. 62 Franz Jung: Das geistige Rußland von heute. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. 295 – 394, hier S. 298 f. – Siehe ähnlich auch Heller: Sibirien (wie Anm. 18), S. 247; Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie Anm. 30), S. 12; Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 242. 63 Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 815; – Siehe ähnlich Alfons Goldschmidt: Wie ich Moskau wiederfand. Berlin 1925, S. 17; Stöcker: Zum vierten Male in Rußland (wie Anm. 32), S. 42; Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie

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Bei vielen Autoren war die Neigung hoch, die Realisierung der kommunistischen Utopie für möglich zu halten: Immer wieder wurde betont, die Menschheit erlebe in Russland einen, so Holitscher, »Endkampf«, der den Weg »zum utopischen Ziele der letzten Befreiung« bereite.64 Eng verbunden mit dieser Utopieneigung ist auch eine Sehnsucht nach ›Erlösung‹, die oftmals eine quasireligiöse Komponente aufweist und die sich hier mit dem utopischen Bild eines endgültigen gesellschaftlichen Gleichgewichts im Kommunismus vermischt. So schrieb Jung von »Paradiessehnsucht« und Wegner zeigte sich hingerissen von dem »von Erlösungsbegierde und vom Gemeinschaftswillen entzündete[n] Blut« der sowjetischen »Masse«.65 Diese Sichtweise ließ sich mit historistischen Vorstellungen verbinden, nach denen jedes Volk seine ganz eigene Bestimmung habe: So bezeichnete Holitscher Russland als »Erlöser der Erdenvölker« und Paquet schrieb dem russischen Volk die besondere Mission einer »Verbesserung des Menschengeschlechts« zu.66 Auch scheint in den deutschen Texten immer wieder die Vorstellung von der marxistischen Lehre als Erlösungslehre auf sowie die Vorstellung von einer, so Barthel, »geschichtliche[n] Mission« des Proletariats, »die Welt zu erlösen«: Paquet etwa zog den Vergleich zur »Offenbarung« und zum »Evangelium«, Holitscher sprach in ­diesem Zusammenhang von den »Glocken der Bergpredigt«, und Goldschmidt bezeichnete die Lehre von Marx und Engels als »Allerheiligstes«.67 Zu finden sind auch die Topoi von den Bolschewiki als »Propheten«,68 »Apostel[n]«69 oder »Märtyrer«70, die eine »religiöse […] Mission« zu erfüllen hätten.71

Anm. 30), S. 95; Alfons Paquet: Der Geist der russischen Revolution. Leipzig 1919, S. 15. 64 Arthur Holitscher: Stromab die Hungerwolga. Berlin 1922, S. 6. 65 Franz Jung: Asien als Träger der Weltrevolution. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. S. 7 – 10; ­Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 167. 66 Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 216; Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 154. 67 Max Barthel: Die Reise nach Rußland. Berlin 1921, S. 35; Paquet: Der Geist der russischen Revolution (wie Anm. 63), S. 94 u. 10; Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 223 f.; Goldschmidt: Wie ich Moskau wiederfand (wie Anm. 63), S. 28 f. 68 Jung: Reise in Rußland (wie Anm. 12), S. 59. 69 Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 38. 70 Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 8. 71 Ebd., S. 225. – Siehe ähnlich auch Barthel: Vom roten Moskau bis zum Schwarzen Meer (wie Anm. 21), S. 10 u. 18.

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2.2 Politische Wertvorstellungen In den Beurteilungen der Sowjetunion zeigen sich immer wieder deutlich politische Wertvorstellungen, die als Urteilskriterium dienten. Dabei fällt zunächst auf, dass deutsche Linksintellektuelle offensichtlich kaum zu einer pluralistischen Grundhaltung tendierten. So äußerte beispielsweise nur eine kleine Gruppe, ­darunter Klaus Mann, eher vorsichtige Zweifel am Wahrheitsanspruch der Bolschewiki.72 Auch betonten nur relativ wenige nachdrücklich, dass sie Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen für sinnvoll und fruchtbar hielten,73 dass sie politische Opposition als wichtig – und nicht als schädlich – für das politische Leben ansähen 74 und staatliche Zensur ihnen problematisch erscheine.75 Demgegenüber findet sich bei einem frappierend großen Teil der Reisenden eine starke Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Homogenität – und zwar keineswegs nur bei Kommunisten, sondern durchaus auch bei politisch weniger gebundenen Intellektuellen. Diese Autoren scheinen oftmals nicht davon ausgegangen zu sein, dass die Welt von Komplexität und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist, sondern dass im Gegenteil, so der Arbeiterdichter Max Barthel, »alle Dinge des Lebens im Grunde einfach und klar sind«.76 Viele Autoren hofften offensichtlich, dass im ›neuen Russland‹ ihre Sehnsucht nach dem »große[n] Homogene[n]«77 in Erfüllung gehen könne. Ludwig Renn etwa unterstrich, die »neue einheitliche Welt« in der Sowjetunion heile die Zerrissenheit des Menschen und mache ihn »wieder einheitlich«.78 Es müsse doch »ein großes Glück sein, wenn die Menschen wieder eine so geschlossene 72 Zu Mann siehe Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 377; siehe des W ­ eiteren Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 53 u. 111; Stöcker: Neue Kulturträger in Rußland (wie Anm. 30), S. 62. 73 Siehe Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie Anm. 30), S. 103; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 167. 74 Siehe Mann: Notizen in Moskau (wie Anm. 58), S. 23 f.; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 159 – 161. 75 Siehe Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 231 – 233 u. 259; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 159 – 161. 76 Barthel: Der rote Ural (wie Anm. 32), S. 21. 77 Goldschmidt: Wie ich Moskau wiederfand (wie Anm. 63), S. 13 u. 16 f. – Siehe auch ebd., S. 25 f., 29 f. u. 68; Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 5 (1920/21), S. 9 f.; Jung: Das geistige Rußland von heute (wie Anm. 62), S. 299; Kurt Kersten: Der Moskauer P ­ rozeß gegen die Sozialrevolutionäre 1922. Revolution und Konterrevolution. Berlin 1925, S. 38 u. 156; ders.: Moskau – Leningrad, S. 20; Brief von Heinrich Vogeler an seine M ­ utter Marie Louise Vogeler [nach Mitte Dezember 1923 aus Moskau]. In: Vogeler: Werden. Erinnerungen (wie Anm. 23), S. 386 f., hier S. 387. 78 Renn: Rußlandfahrten (wie Anm. 41), S. 11.

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Abb. 3  Klaus Mann 1933

Weltanschauung haben«.79 Auch Wegner schrieb in seinem Reisebuch, er empfinde »Neid« angesichts der »Harmonie«, »Eintracht und Größe« der sowjetischen »Masse«, angesichts dieser »stummen Gläubigkeit und Duldung, die nicht wägt, sondern wagt, die nicht prüft, sondern hinnimmt, überzeugt von der Heilkraft des Zieles«. »Warum«, so seine verzweifelte Frage, »bin ich nicht wie ihr?«80 Oftmals spielte bei derartigen Anklängen an ein Homogenitätsideal die auch im historistischen Denken anzutreffende Vorstellung eine Rolle, dass die Gesellschaft ähnlich wie ein Körper eine organische Einheit bilden müsse.81 Dies zeigt sich etwa bei Seghers, die eine Demonstration in Moskau als »organische Bewegung«, ja als »Naturereignis« bezeichnete,82 oder bei Vogeler, der in der Sowjetunion »das unerbittliche organische Werden der neuen kommunistischen Gesellschaft« zu erkennen glaubte.83 Als anschlussfähig zu diesen Bildern erwies sich 79 Ludwig Renn: Nach dem Moskauer Prozeß. In: Frankfurter Zeitung, 1. Januar 1931, S. 17. 80 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 30 u. 52. Wegners Haltung bleibt jedoch insgesamt widersprüchlich, denn gleichzeitig finden sich in seinem Text Hinweise auf ein plura­ listisches Weltbild. Siehe ebd., S. 218 f., 274, 276 u. 318. 81 Siehe hierzu Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und s­ tarker Staat. Sonderausg., München 1998, S. 500 f. 82 Anna Seghers: Der Prozeß. In: Die Linkskurve 3 (1931) 1, S. 1 f., hier S. 1. 83 Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 53.

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offensichtlich auch der in Deutschland dominante ganzheitliche Volksbegriff.84 So sprach etwa Vogeler mit Blick auf die Sowjetunion von einer »Erneuerung des Volkskörpers«, dem »einheitlichen, starken Volksbewusstsein« der sowjetischen Menschen und hielt schließlich überschwänglich fest: »Der Begriff ›Volk‹, dem in der kapitalistischen Welt seine letzte Zersetzung widerfuhr, geht in der kommunistischen Gesellschaft seiner wahren Erfüllung entgegen.«85 In dieser von einem starken Kohärenzbedürfnis geprägten Weltsicht erscheinen Kritik und Opposition weniger als kontrollierende und sinnvolle Gegen­gewichte denn als unnötige Unruhefaktoren, die zielstrebiges Handeln behindern: In d­ ieser Logik betonte eine ganze Reihe von Autoren ihre abfällige Auffassung vom Diskutieren und die Notwendigkeit, unbehindert von, so Jung, »nörgelnde[r] ­Kritik« auf »das eine Ziel« hinzuarbeiten.86 Verschiedene Reisende äußerten sich positiv zur sowjetischen Zensurpraxis, so etwa Kisch, der rechtfertigend fragte: »Soll jedes Tinterl Kriege hervorrufen dürfen, weil es zufällig einen Redakteursposten gefunden hat?«87 Vor dem Hintergrund dieser Grundhaltung ist oftmals eine ausgeprägte Bereitschaft zu erkennen, autoritäre Führungsstrukturen zu legitimieren. Diese Bereitschaft fußte in der Regel auf der Annahme, dass es eine kleine, vernünftige Elite gebe, die das übergreifende Prinzip für die Gesellschaft der Zukunft besser erfasst habe als das Gros der vermeintlich willenlosen ›Masse‹. Jung beispielsweise urteilte, dass es zu den wichtigsten Verdiensten der Bolschewiki – einer »verschwindend kleinen Zahl Zielklarer«88 – gehöre, »den endlich im Kern bloßgelegten Hauptfeind der Menschheit: die Dummheit« zu bekämpfen.89 In ­diesem Sinne ist die in 84 Zur Entwicklung des deutschen Volksbegriffs siehe Jörn Retterath: »Was ist das Volk?« Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917 – 1924. Berlin 2016. 85 Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 24, 22 u. 53. 86 Jung: Hunger an der Wolga (wie Anm. 12), S. 137 u. 150. – Für weitere Beispiele s. ­B arthel: Die Reise nach Rußland (wie Anm. 67), S. 25 f.; Goldschmidt: Moskau 1920 (wie Anm. 20), S. 25, 105 u. 109; Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 246; Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 61. 87 Egon Erwin Kisch: Egon Erwin Kisch debattiert über die russische Presse. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10: Läuse auf dem Markt. Vermischte Prosa, hrsg. v. Bodo Uhse u. Gisela Kisch, fortgeführt v. Fritz Hofmann u. Josef Poláček. Berlin (Ost)/Weimar 1985, S. 483 – 485, hier S. 484. Siehe auch Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 896 f.; Kersten: Der Moskauer Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre 1922, S. 40; ders.: Moskau – Leningrad, S. 28. 88 Jung: Reise in Rußland (wie Anm. 12), S. 25. 89 ders.: Hunger an der Wolga (wie Anm. 12), S. 101. – Siehe ähnlich auch ders.: Hunger und Klassenkampf. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. 72 – 84, hier S. 82; ders.: An die Arbeitsfront nach Sowjetrußland. Zum Produktionskampf der Klassen. In: ders.: Werke. Bd. 5, S. 181 – 216, hier S. 201 u. 213; sowie ders.: Das geistige Rußland von heute (wie Anm. 62), S. 315; Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 337.

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deutschen Texten immer wieder anzutreffende Forderung nach einer »Diktatur der Vernünftigen«,90 nach einer »Gewaltherrschaft kristallklarer Vernunft«91 zu verstehen. Diese Autoren wollten ganz explizit keine, wie es Goldschmidt formulierte, »Demokratie im Quantitätssinne«,92 denn sie gingen davon aus, dass, so Wegner, »die Mehrzahl der Menschen« »zu ihrem Glück« gezwungen werden müsse.93 Bei einigen Linksintellektuellen zeigt sich dabei ein bemerkenswerter Glaube an starke Führungspersonen, deren Fehlen in Deutschland oftmals beklagt wurde:94 So betonte beispielsweise Goldschmidt mit neidvollem Blick auf die Sowjet­union: »Wie glücklich sind die Menschen, die von solchen Strategen gelenkt werden. Denn ­dieses Lenken, das ist der Sinn der neuen Zeit.«95 Nur die allerwenigsten sprachen sich gegen eine zu starke Lenkung von oben aus.96 Aufgrund dieser Vorstellungen von der ›Dummheit‹ der ›Massen‹ gingen viele Reisende davon aus, dass es erforderlich sei, erzieherisch auf sie einzuwirken. Roth behauptete in seinen Reportagen, die Lenkung der öffentlichen Meinung durch die Bolschewiki, die die »Massen überhaupt erst zu der praktischen Anwendung einer Meinung« erziehe, sei »gerechtfertigt, weil die russischen Massen heute noch eine s­ olche Aufsicht brauchen«.97 Auffallend ist, dass kaum ein Deutscher nachdrücklich darauf hinwies, ›Erziehung‹ habe letztlich die Emanzipation des Menschen, die Herausbildung einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit zum Ziel. Oftmals entsteht eher der Eindruck, ›Erziehung‹ würde primär als Mittel verstanden, das es erlaube, die »Massen zu erfassen und zu lenken«.98 90 Siehe Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 147; ders.: Der Geist der russischen Revolution (wie Anm. 63), S. 22. 91 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 243. 92 Alfons Goldschmidt: Die Wirtschaftsorganisation Sowjet-­Rußlands. Berlin 1920, S. 202. Siehe ähnlich Barthel: Vom roten Moskau bis zum Schwarzen Meer (wie Anm. 21), S. 49. 93 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 91. 94 Zum generellen Führungsbedürfnis in der Weimarer Republik siehe Ursula Fichtner: Führer und Verführer. Studien zum Führungsgedanken ­zwischen 1871 und 1939. Frankfurt/M. u. a. 1996. 95 Goldschmidt: Moskau 1920 (wie Anm. 20), S. 109. 96 Siehe Gumbel: Vom Rußland der Gegenwart (wie Anm. 30), S. 81; Mann: Notizen in Moskau (wie Anm. 58), S. 15; Stöcker: Neue Kulturträger in Rußland (wie Anm. 30), S. 62; dies: Zum vierten Male in Rußland (wie Anm. 32), S. 44 f. u. 92; Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 107 u. 127; Brief von Heinrich Vogeler an Walter Hundt vom 1. Januar 1924 aus Moskau. In: Vogeler: Werden. Erinnerungen (wie Anm. 77), S. 394 – 397, hier S. 395; Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 29. 97 Roth: Reise in Rußland (wie Anm. 30), S. 210 f. 98 Arthur Holitscher: Das ­Theater im revolutionären Rußland. In: ders.: Reisen. Ausgewählte Reportagen und autobiographische Berichte, hrsg. v. Frank Beer. Berlin 1973, S. 276 – 410, hier S. 278.

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Aufs Engste mit ­diesem Punkt verbunden ist die Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Politik, die unter den Autoren offensichtlich hoch war. Zwei Faktoren trugen zur Rechtfertigung von Gewalt bei: Zum einen wirkte sich hier das oben geschilderte Ganzheitsdenken aus. Zum anderen ist die Tendenz festzustellen, nicht das Leben des einzelnen Menschen, sondern ein gemeinsames höheres Ziel als wichtigsten Maßstab für politisches Handeln zu betrachten. Vor allem Autoren, die während der Bürgerkriegsjahre in Sowjetrussland waren, äußerten oftmals eine geradezu emphatische Zustimmung zur Gewaltherrschaft der Bolschewiki. So betonte beispielsweise Holitscher, die Gewalt gegen politische Gegner sei »tief begründet und sogar unvermeidlich«, der »Terror« stelle eines »der notwendigsten Mittel« dar, um sich gegen »den eigenen Feind« zu behaupten. Dass mancher auf dem »steilen und an Kehren und Windungen reichen Weg« der Weltrevolution »fällt und […] sich nicht mehr [erhebt]« erschien bei ihm wie eine Art Naturgesetz.99 Barthel sprach pathetisch von der »grausamen herrlichen Gegenwart«,100 und Paquet sah im Bürgerkrieg den »Jubel des Unterganges«.101 Oftmals wurde in d­ iesem Zusammenhang argumentiert, dass der Sozialismus erst dann realisiert werden könne, wenn bestimmte Menschentypen aus der Gesellschaft beseitigt worden ­seien. Beispielsweise schrieb Jung, die »bürgerlichen Klassen« müssten »geopfert« werden, damit wieder Frieden in der Welt einkehren könne; der »Bürger« sei »zum Tode verurteilt«.102 Und Herzog führte aus, die »Atavismen« und »Abfallprodukte« der bürger­lichen Gesellschaft müssten im Zuge eines großen Reinigungsprozesses mit allen »Entartungen« vernichtet werden.103 Demgegenüber finden sich nur wenige Autoren, die eindringlich den Wert des Menschenlebens herausstellten und politische Gewalt nur in extremen 99 Holitscher: Drei Monate in Sowjet-­Rußland (wie Anm. 12), S. 146, 202 u. 236. Siehe auch ebd., S. 210: »Heilig ist das Menschenleben, heiliger die Freiheit des Menschengeschlechts!« – Für weitere Beispiele siehe Barthel: Die Reise nach Rußland (wie Anm. 86), S. 46; ders.: Der rote Ural (wie Anm. 32), S. 17 – 22; Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 854 f.; Jung: Reise in Rußland (wie Anm. 12), S. 61; ders.: Hunger an der Wolga (wie Anm. 12), S. 116 u. 135; Vogeler: Reise durch Rußland (wie Anm. 16), S. 18 f. u. 40. – Zur Verherrlichung von Gewalt durch linke Denker in der Zeit ­zwischen den Weltkriegen siehe allgemein Karl Dietrich Bracher: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert. München 1985, S. 125 f. 100 Barthel: Der rote Ural (wie Anm. 32), S. 60. 101 Paquet: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 201. 102 Jung: Reise in Rußland (wie Anm. 12), S. 61 u. 35. 103 Siehe Herzog: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 4 (1919/20), S. 830; ders.: Russisches Notizbuch. In: Das Forum 5 (1920/21), S. 26.

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Ausnahmefällen als gerechtfertigt sahen: Bezeichnenderweise handelt es sich dabei ausschließlich um erklärte Anhänger des Pazifismus, der in der Weimarer Republik – zumindest im Vergleich zu anderen Staaten, etwa Frankreich – eher eine Randströmung war. Zu dieser Gruppe gehörte die feministische Publizistin Helene Stöcker, die eine gewaltsame Revolution zur Verhinderung von Krieg als »kleinere[s] Übel« bezeichnete.104 Auch Toller betonte, dass er Gewalt »niemals um ihrer selbst willen« befürworte, sondern »als furchtbares, tragisch notwendiges Mittel« der sozialistischen Revolution empfinde.105 Wegner, der vor seiner Sowjet­unionreise Anhänger eines unbedingten Pazifismus gewesen war, schilderte in seinem Reisebuch seine Zweifel an der sowjetischen »Gemeinschaft«, »die sich für ihre Zwecke des Tötens bedient«.106 Und trotzdem meinte er schließlich – in einer Art Konversionsprozess vom radikalen Pazifismus tolstojscher Prägung zum Kommunismus – zu erkennen, die »Waffe in der Hand des Bedrückten« habe »immer recht«, die »Waffe in der Hand des Bedrückers« habe »immer unrecht«:107 »Welcher Hochmut! Ich allein bleibe gewaltlos, mit jenem eigensüchtigen Selbstbewußtsein des Adligen, der seinen Leib von der Beschmutzung durch das Leben fernhält. Aber während ich diesen Kreis verlockender Ruhe um mich ziehe – überlasse ich den Schauplatz der Welt der umso ungestörteren Tatkraft der gewissenlosen und tobenden Mächte der Unvernunft. Tödlicher Widerspruch. So wird Güte Verbrechen.«108 Kein einziger der deutschen Linksintellektuellen berief sich jedoch explizit auf die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, um die Sowjetunion grundsätzlich zu kritisieren. Nur sehr wenige – insbesondere Siemsen 109 und mit einer gewissen Ambivalenz auch Paquet 110 – sprachen sich grundsätzlich gegen staatliche Willkür und den bolschewistischen Terror aus.

104 Stöcker: Zum vierten Male in Rußland (wie Anm. 32), S. 44 f. Siehe auch ebd., S. 233 – 235 u. 329. 105 Toller: Quer durch (wie Anm. 15), S. 99. 106 Wegner: Fünf Finger über dir (wie Anm. 14), S. 181. Siehe auch ebd., S. 194 u. 294. 107 Ebd., S. 125. 108 Ebd., S. 312. 109 Siehe Siemsen: Rußland ja und nein (wie Anm. 15), S. 100, 119 f. u. 233. 110 Paquet betonte zwar einerseits, dass er »Gewalt und Rache überhaupt verabscheue«, und kritisierte nachdrücklich den bolschewistischen Terror, zeigte aber andererseits immer wieder eine gewisse Faszination für die Brutalität des von den Bolschewiki forcierten Neuanfangs. Zitat bei Paquet: Der Geist der russischen Revolution (wie Anm. 63), S. XI; siehe außerdem ders.: Im kommunistischen Rußland (wie Anm. 10), S. 112 – 120 u. 201.

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3. Resümee Viele deutsche Linksintellektuelle, die zur Zeit der Weimarer Republik die Sowjet­ union besuchten, ergriffen für den bolschewistischen Staat Partei, obwohl sie während der Reisen durchaus negative Beobachtungen gesammelt hatten. Die Sowjetunion wurde von ihnen in aller Regel plakativ ›gelobt‹, auch wenn offensichtlich die wenigsten glaubten, dass es sich tatsächlich um ein ›gelobtes Land‹ handelte, in dem die Utopie des Kommunismus Realität geworden sei. Und auch nur ein Teil der Autoren – jene, die sich in den Reihen der kommunistischen Bewegung engagierten – war bereit zu glauben, dass die Sowjetunion in der Lage sein würde, in Zukunft den Kommunismus zu realisieren. Wesentliche Erklärungsfaktoren für die prosowjetischen Parteinahmen resultieren nicht nur aus den zeitgenössischen Kontexten der Weimarer Republik, sondern auch aus den Deutungsmustern und Kriterien, anhand derer die Sowjetunion verstanden und beurteilt wurde. Maßgeblich waren insbesondere die politischen Wertvorstellungen: Ein offensichtlich weitverbreitetes Einheits- und Harmoniestreben beförderte bei vielen eine elitäre Neigung zu autoritären Denkmustern. Dies konnte die Grundlage für Positivurteile bilden, oftmals stießen so selbst totalitäre Auswüchse des Stalinismus nicht auf nachdrückliche Kritik. Hinzu kommen auf der extremen Linken ein größerer Dogmatismus in ideologischen Fragen und ein durch die marxistische ­Theorie geprägtes Geschichtsbild. Dieser Befund ist natürlich nicht zu verabsolutieren, aber die Tendenz ist klar erkennbar. Insgesamt scheint so das sowjetische Experiment innerhalb der deutschen Linken dazu beigetragen zu haben, Hoffnungen auf gesellschaftliche Homogenität und tatkräftige Führungsfiguren sowie die Neigung zur ideologischen Verhärtung zu verstärken. Wirft man einen vergleichenden Blick auf die Sowjetunionbilder französischer Linksintellektueller, so erscheinen die eben geschilderten Deutungsmuster als deutsches Spezifikum. Die Analyse französischer Reiseberichte der 1920er und 1930er Jahre zeigt, dass die Bewertungen französischer Linksintellektueller zumeist vor dem Hintergrund der eigenen Nationalgeschichte entstanden, w ­ elche die Grundlage für ein positives Revolutionsbild und ein aufklärerisches Fortschrittsdenken bildete. Die unter französischen Linksintellektuellen verbreiteten politischen Wertvorstellungen hingegen waren als Kriterium für ein positives Urteil zur Sowjetunion weitaus weniger geeignet, oftmals waren diese eher die Grundlage für Kritik im Einzelnen. Das durch die eigene Geschichte begründete historische Fortschrittsdenken, in das auch die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion eingeordnet wurden, scheint jedoch bei den französischen Linksintellektuellen vielfach so stark gewesen zu sein, dass es letztlich überwog. Ausgehend von diesen anders gearteten Voraussetzungen kam deshalb auch der

Nachrichten aus einem gelobten Land?  |

überwiegende Teil französischer linksintellektueller Sowjetunionbesucher zu einem positiven Gesamturteil.111 Die spezifischen Geschichtsbilder und politischen Wertvorstellungen deutscher Linksintellektueller haben vielfältige historische Wurzeln. Der wohl grundlegendste Kontext ist in den historischen Erfahrungshorizonten zu suchen: Die deutsche Gesellschaft konnte erst mit dem Ende des Kaiserreichs beginnen, ein aus der Praxis erwachsendes Verständnis für die Anforderungen der parlamentarisch-­ demokratischen Regierungsform zu entwickeln. Absolut gedachte, in der Praxis aber nicht erprobte Theoriekonstrukte in der Tradition von Rousseau über Hegel bis Marx konnten hier länger Wirksamkeit entfalten, ohne sich an der Realität messen lassen zu müssen. Hieraus resultierende kulturelle Deutungsmuster, die das Denken deutscher Linksintellektueller prägten, verweisen auf Spezifika der politischen Kultur der Weimarer Republik. Offensichtlich neigte der überwiegende Teil der Linksintellektuellen zu antipluralistischem und autoritärem Denken. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik stieß somit auch in ­diesem politischen Spektrum eher auf radikale Kritik als auf Unterstützung.

111 Siehe in vergleichender Perspektive Oberloskamp: Fremde neue Welten (wie Anm. 2), S. 341 – 4 07.

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Antibolschewismus als Abwehrreaktion auf die Oktoberrevolution

Karsten Brüggemann

Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolschewismus? Max Erwin von Scheubner-­Richter und die Idee der ›Weißen Internationale‹

Im Zentrum d­ ieses Beitrags steht ein Mann, der bis zu seinem Tod an der Feldherrenhalle in München am 9. November 1923 während des Hitler-­Ludendorff-­ Putsches zum engeren Kreis um Adolf Hitler zählte, aber doch fast vergessen war, als er in den 1960er Jahren von Walter Laqueur wiederentdeckt wurde: Max Erwin von Scheubner-­Richter (1884 – 1923). Dieser Mann erschien bei Laqueur als eine Art baltische graue Eminenz, als geheimnisumwitterter Drahtzieher und Finanzier im Hintergrund der NSDAP in den frühen 1920er Jahren, über dessen ideologischen Einfluss eifrig spekuliert wurde.1 Diese Darstellung erregte nur in den Kreisen der aus dem Baltikum stammenden Deutschen in der Bundesrepublik Protest. So zog zum Beispiel Max Hildebert Boehm im Jahrbuch des baltischen Deutschtums gegen die »terribles simplificateurs« zu Felde.2 Scheubner-­Richter wurde von Boehm als deutscher Patriot und potenzieller Dissident charakterisiert, der das ›Dritte Reich‹, hätte er es erlebt, kaum würde überlebt haben.3 Laqueurs These von der Sonderrolle der baltischen Deutschen bei der Herausformung von Hitlers Weltanschauung wurde hier mit durchaus selbstapologetischer Tendenz

Dieser Beitrag beruht im Wesentlichen auf Karsten Brüggemann: Max-­Erwin v. Scheubner-­Richter (1884 – 1923) – der »Führer des Führers«? In: Michael Garleff (Hrsg.): Deutschbalten. Weimarer Republik und Drittes Reich. Bd. 1 (Das Baltikum in Geschichte und Gegenwart, 1,1). Köln/Weimar/Wien 2001, S. 119 – 145. – Die Arbeit an ­diesem Text wurde von der Estnischen Wissenschaftsagentur (Eesti Teadusagentuur, Projekt IUT 31 – 6) unterstützt. 1 »Scheubner-­Richter ist der große geheimnisvolle Mann der frühen Geschichte des Nationalsozialismus«. Walter Laqueur: Deutschland und Rußland. Berlin 1965, S. 72. – Laqueurs These beruhte vor allem auf der Memoirenliteratur, z. B. Ernst Hanfstaengl: Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines Außenseiters. München 1970, S. 121 ff.; siehe auch Hellmuth Auerbach: Hitlers politische Lehrjahre und die Münchener Gesellschaft 1919 – 1923. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 1 – 45, hier S. 33. 2 Max Hildebert Boehm: Baltische Einflüsse auf die Anfänge des Nationalsozialismus. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 14 (1967), S. 56 – 59, hier S. 69. 3 So explizit ebd., S. 63.

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entgegengehalten, dass ein dem Wesen nach würdiger Sohn des Baltikums nur im Widerstand gegen das ›Dritte Reich‹ enden konnte.4 All diesen Interpretationen liegt freilich eine Perspektive ex post zugrunde. Wie die Diskussion auf dem 16. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg im Herbst 2017 in Weimar gezeigt hat,5 ist die Vorstellung, die ›Balten‹ ­seien ein wesentlicher Faktor für die Herausbildung der nationalsozialistischen Ideologie gewesen, weiterhin virulent. Zuletzt ist sie auch von dem US-amerikanischen Historiker Michael Kellogg vehement vertreten worden, wenn auch bei ihm vor allem als Beleg für die »russischen Wurzeln« des Nationalsozialismus.6 Durchaus differenzierter ging Gerd Koenen in seiner faszinierenden Studie über die Ambivalenz des deutschen Russlandbildes mit den baltischen Deutschen um, doch auch ihm sind sie ein eigenes Unterkapitel wert.7 Was wissen wir also über diesen Max Erwin von Scheubner-­Richter? In einem Nachruf auf die sogenannten Blutzeugen der Bewegung, die Toten des Münchener Putschversuchs im November 1923, hieß es in einer Broschüre vom 9. November 1935: »Für Deutschlands Ehre und Größe war die Losung seines Lebens – Kämpfer und Führer sein die Bestimmung seines Schicksals […]. Er war der organisierte Widerstand gegen die fremden Mächte aus dem Osten«.8 Bereits der erste kritische Hitler-­Biograf Konrad Heiden hat Scheubner-­Richter den Titel »Führer des Führers« zugestanden,9 als welcher dieser vor allem in den Monaten vor dem Hitler-­Ludendorff-­Putsch am 9. November 1923 aufgetreten sei. Tatsächlich dürfte Scheubner-­Richter einer der wichtigsten Planer im Hintergrund Hitlers gewesen sein,10 auch wenn mit Recht betont worden 4 Zu Boehms eigener Karriere im Nationalsozialismus siehe Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm: Radikales Ordnungsdenken vom ­Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 51). Göttingen 2013. 5 Das 16. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg fand vom 27. bis 28. Oktober 2017 im Reithaus in Weimar zum Thema Verheißung und Bedrohung: Die Oktoberrevolution als globales Ereignis statt. 6 Michael Kellogg: The Russian Roots of Nazism. White Émigrés and the Making of National Socialism, 1917 – 1945. Cambridge 2005. 7 Gert Koenen: Der Russland-­Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945. M ­ ünchen 2005, S. 266 – 269 (›Baltische Ideologen des frühen NS‹). 8 9. November 1935, München 1935 (unpag.). In: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. V [­ künftig: BayHStA V], SlgVaria 1395. 9 Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie. Zürich 1936, S. 376; Stefan Aust: Hitlers erster Feind. Der Kampf des Konrad Heiden. Reinbek bei Hamburg 2016. 10 Hans Fenske: Konservatismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918. Bad Homburg v. d. H. 1969, S. 222. – Scheubner-­Richter ist es nach Augenzeugenberichten zu verdanken, dass Ludendorff überredet werden konnte, am Putsch teilzunehmen. So Ludendorffs Adjutant

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ist, dass diesbezüglichen Aussagen Hitlers während seines Prozesses mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden müssen: Er brauchte ja den Toten nicht mehr zu decken.11 Aber es war Scheubner-­Richter, der Ende September 1923 für Hitler das Aktionsprogramm des Deutschen Kampfbundes entwarf, in dem er zur »Beschreitung des […] legalen Weges« beim »Kampf um die politische Macht in Bayern« riet.12 Seine in ­diesem Programm formulierte Überzeugung, »die Besitzergreifung der polizeilichen Machtmittel des Staates bildet die Voraussetzung für die nationale Revolution«, scheint in den Wirren des 8./9. November 1923 untergegangen zu sein.13 Scheubner-­Richter missbilligte die Idee eines Marsches durch die Münchener Innenstadt; seine Inkonsequenz, daran dann doch teilzunehmen, die womöglich seiner Loyalität zu Ludendorff geschuldet war, kostete ihn das Leben.14 Scheubner-­Richter wurde auf dem Marsch durch die Münchner Innenstadt von einer Polizeikugel tödlich getroffen. Offensichtlich riss er im Fallen den neben ihm marschierenden Hitler nieder und könnte somit noch im Sterben Weltgeschichte geschrieben haben, indem er ­diesem das Leben rettete.15 Wie vieles im Leben Scheubner-­Richters ist auch dies freilich nur Spekulation. Der in der Forschung vertretenen These einer besonderen Bedeutung der Emigranten aus dem Baltikum bei der Herausbildung der Weltanschauung Hitlers sei indes die

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Johan Aigner: Als Ordonanz bei Hochverrätern. In: Institut für Zeitgeschichte, München [künftig IfZ], MA 735. – Anderen Quellen zufolge, die nicht Ludendorff, sondern Scheubner-­ Richter in Schutz nehmen, habe Ludendorff d­ iesem gegenüber auf dem Demonstrationszug beharrt (siehe Anm. 13). Johannes Baur: Die russische Kolonie in München 1900 – 1945. Deutsch-­russische Beziehungen im 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Osteuropa-­Instituts München, Reihe: Geschichte, 65). Wiesbaden 1998, S. 270, Anm. 1169. Abgedruckt in: Ernst Deuerlein (Hrsg.): Der Hitler-­Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 9). Stuttgart 1962, S. 202 – 204, Anm. 69. Siehe auch Alan Bullock: Hitler und Stalin. Parallele Leben. Berlin 1991, S. 193. – Zum Hitler-­Putsch: John Dornberg: Der Hitlerputsch, München 8. und 9. November 1923. Frankfurt/M. 1989; Otto Gritschneder: Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-­Putsch und die bayerische Justiz. München 1990. Otto von Kursell: Erinnerungen an Dr. Max v. Scheubner-­Richter. Masch. MS. München 1966 [i. e. 1969], S. 21: Scheubner-­Richter habe in Anbetracht der aussichtslosen Lage »dringend« von einem Demonstrationszug abgeraten. »Erst als er sah, dass seine Warnungen vergeblich waren und Ludendorff auch ihm gegenüber auf dem Marsch bestand, nahm er die Hacken zusammen – der jüngere Offizier dem älteren gegenüber – und ging mit«. So auch Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 62. Ronald G. Suny: »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«. A History of the Armenian Genocide. Princeton 2015, S. 330.

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Mahnung entgegenhalten, dass es so einfach sicher nicht war. Wahrscheinlich hatte der Umstand, dass neben dem Rigenser Scheubner-­Richter auch der knapp zehn Jahre jüngere Revalenser Alfred Rosenberg (1893 – 1946) unter bolschewistischer Herrschaft gelebt hatte, ihren Berichten und Ansichten eine gewisse Authentizität verliehen. Historiker wie Laqueur und Michael Kellog 16 haben aber darüber hinaus die Vorstellung etabliert, es habe genau dieser Erzählungen bedurft, um Hitler zu dem zu machen, was er dann im Zweiten Weltkrieg geworden sei. Belegen kann das aus Quellenmangel freilich niemand. So führt eine Interpretation Scheubner-­Richters Aktivitäten in der ›Hauptstadt der Bewegung‹ durch das Prisma der Jahre 1933 – 1945 in die Irre. Ohne Frage gehört er aber in den Kontext der antibolschewistischen und antidemokratischen Bewegungen der Nachkriegszeit, für die die Revolutionen in Russland und Deutschland Anlass waren, sich in transnationalen Netzwerken zu engagieren. Denn mehr noch als die nationalen Ambitionen der Nachbarn waren es nun internationale Feinde, von denen die größere Gefahr auszugehen schien, sei es die Komintern, die ›Rote Internationale‹ oder das ›internationale Judentum‹. Als Ideologe der grenzüberschreitenden Konterrevolution zeigte sich Scheubner-­Richter von der Vision einer ›Weißen Internationalen‹ inspiriert, die deutsche Rechtsextreme Anfang 1920 von ihren ungarischen Gesinnungsgenossen importierten. Die Notwendigkeit zur internationalen antiinternationalistischen Zusammenarbeit wurde damals im rechtsradikalen Spektrum weithin anerkannt, auch wenn es letztlich nur um die vielbeschworene Rettung der eigenen Nation ging. Damit waren auch die Bruchlinien dieser Kooperationen vorgezeichnet.17 Über klandestine Netzwerke kam die ›Weiße Internationale‹ letztlich nicht hinaus, doch war man sich deren Potenzials auch später noch durchaus bewusst.18 Nicht zuletzt aufgrund der geheimnisvollen Aura, die Scheubner-­Richter umgibt, stand er zu guter Letzt auch am Anfang des Historikerstreits in der 16 Laqueur: Deutschland (wie Anm. 1); Kellogg: The Russian Roots (wie Anm. 6). 17 Bruno Thoss: Der Ludendorff-­Kreis 1919 – 1923. München als Zentrum der mitteleuropä­ ischen Gegenrevolution z­ wischen Revolution und Hitler-­Putsch (Miscellanea Bavarica Monacensia, 78). München 1977, S. 388; Walter Jung: Ideologische Voraussetzungen, Inhalte und Ziele außenpolitischer Programmatik und Propaganda in der deutschvölkischen Bewegung der Anfangsjahre der Weimarer Republik – Das Beispiel Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund. Phil.-Diss. Universität Göttingen 2000, S. 414 – 417. 18 Siehe die Ideen des Rosa-­Luxemburg-­Attentäters Woldemar Papst, der 1931 eine ›Weiße Internationale‹ als sein »Lieblingskind der Zukunft« bezeichnete. Siehe Robert Gerwarth: Im »Spinnennetz«. Gegenrevolutionäre Gewalt in den besiegten Staaten Mitteleuropas. In: ders./John Horne (Hrsg.): Krieg im Frieden: Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem ­Ersten Weltkrieg. Göttingen 2013, S. 108 – 133, hier S. 125.

Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolschewismus?  |

Bundesrepublik Deutschland. In seiner (im Doppelsinne) ungehaltenen Römerbergrede wies Ernst Nolte 1986 auf Scheubner-­Richters Tätigkeit in der Türkei 1915 und dessen enge Beziehungen zu Hitler hin. Unter der nicht weiter hinterfragten Prämisse, ­zwischen Scheubner-­Richter und dem ›Führer‹ habe kein »grundlegender Unterschied« bestanden, stellte Nolte die für seine These vom »kausalen Nexus« ­zwischen den Massenmorden des 20. Jahrhunderts entscheidende Frage: »Was konnte Männer, die einen Völkermord, mit dem sie in nahe Berührung kamen, als ›asiatisch‹ empfanden, dazu veranlassen, selbst einen Völkermord von noch grauenvollerer Natur zu initiieren?«19 Da im Hitler-­Kreis nur Scheubner-­Richter Augenzeuge des Massenmords an den Armeniern gewesen war (siehe unten), kann nur er hier gemeint sein. Die Antwort auf die Frage, auf ­welche Weise der 1923 erschossene Scheubner-­Richter seiner Initiatorenrolle gerecht geworden sein soll, muss Nolte aber schuldig bleiben. In seinem Buch über den ›europäischen Bürgerkrieg‹ von 1987 ist diese These in ihrer Deutlichkeit auch nicht mehr zu finden – Scheubner-­ Richter fungiert hier als Informant, der mit seinen türkischen und russischen Erfahrungen der »Vernichtungsfurcht einen monumentalen und überzeugenden Hintergrund« gegeben habe.20 Angesichts der Flut von Gräuelgeschichten über die Russische Revolution und den Terror der Bolschewiki dürfte diese Art Furcht jedoch ohnehin weitverbreitet gewesen sein.21 Auch ist die auf Scheubner-­Richters Biografen Paul Leverkuehn zurückgehende Behauptung Noltes, sein Protagonist habe die Handlungen der Türken als »asiatisch« wahrgenommen,22 angesichts der zeitlosen Popularität ­dieses Bildes 23 kaum als originell zu bezeichnen. Es wird hier bestenfalls eine Indizienkette von den 19 Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 1986; hier zit. n.: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München u. a. 1987, S. 39 – 47, hier S. 44 (Hervorhebung K. B.). 20 Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 114. 21 Nolte: Vergangenheit (wie Anm. 19), S. 45; Koenen: Der Russland-­Komplex (wie Anm. 7), S. 218 – 231. 22 Paul Leverkuehn: Posten auf ewiger Wache. Aus dem abenteuerreichen Leben des Max von Scheubner-­Richter. Essen 1938, S. 46; so auch Nolte: Bürgerkrieg (wie Anm. 20), S. 114. 23 Zur langen Geschichte d­ ieses Bildes siehe Ekkehard Klug: Das »asiatische« Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils. In: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 265 – 289. – Wie gegenwärtig ­dieses traditionelle abendländische Russlandbild auch den Protagonisten der ›Konservativen Revolution‹ war, zeigt Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993, S. 145 f.

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türkischen Massakern über den Archipel GUL ag zu Auschwitz konstruiert, in der die deutschen Nationalsozialisten »als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat« gesehen werden.24 An Auschwitz war am Beginn der 1920er Jahre jedoch noch nicht zu denken. »Schillernd« ist wohl das Prädikat, das die zumeist hilflos wirkende Wertung Scheubner-­Richters in der historischen Literatur zutreffend zusammenfasst.25 Der Forschung über den Völkermord von 1915 gilt er als Retter zahlreicher Armenier, also als ›guter Deutscher‹.26 Für seine Zeitgenossen war er sowohl der »Deutscheste aller Deutschen«27 als auch ein »Freund des nationalen Rußland«.28 Vor allem aber war er ein politischer Kopf mit eigenen Visionen, der aus dem Kreis der seinerzeit aktiven Hitler-­Anhänger offenbar herausragte. Es gibt aber keinen Grund, ihn zu einer Art politischen Vagabunden oder Karrieristen zu erklären oder ihn gar als Ränkeschmied oder ›Völkermordexperte‹ zu dämonisieren. Nur allzu gern werden Lücken im Quellenmaterial auf diese Weise zu schließen versucht und der Aufstieg Hitlers damit einer rationalen Erklärung entzogen.29

24 Nolte: Vergangenheit (wie Anm. 19), S. 45. 25 Karl-­Heinz Janssen: Die baltische Okkupationspolitik des Deutschen Reiches. In: ­Jürgen von Hehn/Hans von Rimscha/Hellmuth Weiss (Hrsg.): Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republi­ ken Estland und Lettland 1917 – 1918. Marburg 1971, S. 217 – 254, hier S. 249. 26 Aus der Fülle der Literatur: Ulrich Trumpener: Germany and the Ottoman Empire 1914 – 1918. Princeton 1968, S. 207 – 313; Artem Ohandjanian: Armenien. Der verschwiegene Völkermord. Wien u. a. 1989, S. 194; Vahakn N. Dadrian: Ottoman Archives and Denial of the Armenian Genocide. In: Richard G. Hovannisian (Hrsg.): The Armenian Genocide. History, Politics, Ethics. New York 1992, S. 280 – 310. 27 Zit. n. der aus Anlass der Trauerfeierlichkeiten am 17. November 1923 von Otto von Kursell herausgegebenen Broschüre: Dr. Ing. M. E. von Scheubner-­Richter – gefallen am 9. November 1923. München [1923], S. 2, in: BayHStA, V SlgP 3775; IfZ, MA 744; die Ansprache findet sich ebenfalls in: Wirtschaftspolitische Aufbau-­Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland (zit. als WAK) 3 (1923), Nr. 46, 1. Dezember 1923, S. 1 f. 28 WAK 3 (1923), Nr. 46, 1. Dezember 1923, S. 2. 29 Hans von Rimscha: »An allem sind die Balten schuld!« Über den deutschbaltischen Anteil an der nationalsozialistischen Ideologie. In: Baltische Hefte 12 (1966), S. 185 – 189, hier S. 189. – Neben Laqueur: Deutschland (wie Anm. 1), bieten James E. & Suzanne Pool: Hitlers Wegbereiter zur Macht. Die geheimen deutschen und internationalen Geldquellen, die Hitlers Aufstieg zur Macht ermöglichten. Bern 1979, S. 53, ein gutes Beispiel, wie der »immer von Geheimnissen umhüllt[e]« Scheubner-­Richter dämonisiert wurde. Siehe Hanfstaengl: Haus (wie Anm. 1), S. 122: »ein Mann, dessen Gabe zur Selbstilluminierung ebenso entwickelt war wie sein Talent im Entwerfen von Putschplänen«.

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1. Biografischer Abriss Max-­Erwin Richter wurde am 9. Januar 1884 als Sohn eines reichsdeutschen Sachsen 30 und einer Rigenserin 31 in Riga, der Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, geboren, war somit von Geburt an deutscher Staatsbürger. 1908 verlegte er seinen ständigen Wohnsitz nach München und erwarb 1920 die baye­ rische Staatsangehörigkeit.32 In Reval (Tallinn) ging er zur Schule und begann 1904 in Riga ein Chemiestudium.33 Gemeinsam mit seinem Schulkameraden Otto von Kursell (1884 – 1967), der später ebenfalls zum Münchener Kreis um Hitler gehörte, trat er der Studentenverbindung Rubonia bei und wurde Korpsbruder seiner zehn Jahre jüngeren späteren Mitarbeiter Alfred Rosenberg und Arno Schickedanz (1892 – 1945).34 Nach der ersten Russischen Revolution von 1905/06, während der er im deutschbaltischen Selbstschutz aktiv war,35 setzte er sein Studium im Deutschen Reich fort. Den Entschluss, in München zu bleiben, dürfte 1911 seine Hochzeit mit einer fast dreißig Jahre älteren Frau aus Riga beschleunigt haben, die sich dafür von ihrem Mann hatte scheiden lassen. »Naturgemäß«, so Boehm, sei dies im damaligen Riga als Skandal empfunden worden.36 Auf dem Wege der Adoption durch eine Verwandte seiner Frau 37 kam Max Erwin Richter

30 Karl Friedrich Richter aus Oschatz/Sachsen, Dirigent, Komponist, Musiklehrer, gest. 1890 in Riga. Woldemar Helb (Bearb.): Album Rubonorum 1875 – 1972. O. O.  41972, S. 148; Kursell: Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 23. 31 Justina Richter, geb. Hauswald, Tochter des Ingenieurs und Fabrikbesitzers Gottlob Hauswald, gest. 1917 in München. Helb (Hrsg.): Album Rubonorum (wie Anm. 30), S. 148; Kursell: Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 23. 32 So der Bayerische Kurier, Nr. 280, 8. Oktober 1923. In: BayHStA V SlgP 3775. – Scheubner-­ Richter bezeichnete sich als »bayerischer Staatsangehöriger«. Siehe Max Erwin von Scheubner-­R ichter: Erklärung. In: Völkischer Beobachter (undat. Presseausschnitt – nach dem 27. September 1923, in: BayHStA, V SlgP 3775). 33 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 59; Kursell: Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 1. 34 Blutzeugen der Bewegung. Max Erwin v. Scheubner-­Richter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Nr. 301, 4. November 1935; Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 59; Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 253 f. 35 Zum Zyklus von Gewalt und Gegengewalt in den russischen Ostseeprovinzen 1905/06 Ernst Benz: Die Revolution von 1905 in den Ostseeprovinzen Rußlands: Ursachen und Verlauf der lettischen und estnischen Arbeiter- und Bauernbewegung im Rahmen der ersten russischen Revolution. Mainz 1989. 36 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 59. 37 Klara von Scheubner († Leipzig 1921). Seine Frau, Hilde (Mathilde) von Scheubner, gesch. Mündel, war die Tochter des Fabrikbesitzers und Ingenieurs Otto von Scheubner aus Sachsen – die ­Mutter Clara, geb. Bornhaupt, war eine Rigenserin. Siehe Helb (Hrsg.): Album Rubonorum (wie Anm. 30), S. 148 f.; Kursell: Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 23.

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Abb. 1  Max Erwin von Scheubner-­Richter, ca. 1915/1920

dann zu seinem adligen Doppelnamen und zu einem offenbar nicht unbeträchtlichen Vermögen.38 Nachdem er sich bei Kriegsbeginn 1914 freiwillig beim 7. Bayerischen Chevauleger-Regiment gemeldet hatte,39 wurde er am Ende des Jahres im Auftrag des Auswärtigen Amts in die Türkei geschickt, wo er von Januar bis August 1915 als Vizekonsul das deutsche Konsulat in Erzurum leitete.40 Hier wurde er Zeuge der türkischen Massaker an der armenischen Minderheit, die er in seinen Berichten heftig kritisierte.41 Es ist verständlich, dass der Forschung über den Völkermord an den Armeniern die Einordnung ­dieses deutschen Diplomaten, der später dem Initiator eines weiteren Genozids so nahekommen sollte, erhebliches Kopfzerbrechen bereitet. Das hier vertretene Spektrum reicht von der These, Scheubner-­Richter habe dank seiner Erfahrungen in Erzurum als »Informant Hitlers« d­ iesem wertvolle 38 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 59. 39 Aufgrund einer Schussverletzung aus dem Jahre 1905 war Scheubner-­Richter für nicht militärdienstfähig befunden worden. Siehe Helb (Hrsg.): Album Rubonorum (wie Anm. 30), S. 148. 40 Wolfdieter Bihl: Die Kaukasus-­Politik der Mittelmächte. Teil 1: Ihre Basis in der Orientpolitik und ihre Aktionen. Wien 1975, S. 66, 69. 41 Johannes Lepsius (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914 – 1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919; Suny: »They Can Live In the Desert« (wie Anm. 15), S. 283 f., 329 f.

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Hinweise für die später angestrebte ›Endlösung der Judenfrage‹ geliefert 42 bis zu kläglichen Versuchen, Scheubner-­Richters Kontakte zur NSDAP auf ein Minimum herunterzuspielen.43 Die Vorstellung, dieser ›gute Deutsche‹, der während der Deportationen hungernden Armeniern Brot zusteckte, solle für den Aufstieg Hitlers mitverantwortlich sein, scheint extreme Folgerungen geradezu herauszufordern. Auch Hans-­Heinrich Wilhelm zufolge setzte sich Scheubner-­Richter »mit Kopf und Herz für die armenische Sache« ein.44 Dabei stand sein persönlicher Einsatz für die Armenier im Einklang mit der ihn grundsätzlich prägenden Überzeugung von einer Vorrangstellung des Christentums. Er war kein Freund der Armenier an sich, hatte seine eigenen Vorurteile gegen »ihren rege ausgeprägten Erwerbssinn und ihre Gewinnsucht«,45 doch war er mit der Ignoranz der deutschen Stellen gegenüber den Massakern an Christen nicht einverstanden. Hier lässt sich bereits eine Sensibilisierung für all das erkennen, was seinem »auslandsdeutschen« Bild vom Deutschen Reich zuwiderlief.46 Diese Enttäuschung seiner Idealvorstellung von ›deutscher Politik‹ war ein Faktor, der auf Scheubner-­Richters nächster Lebensstation noch stärker zu beobachten war. Es sei vermerkt, dass von den antichristlichen Impulsen eines Alfred Rosenberg oder Dietrich Eckardt bei Scheubner-­Richter auch in den 1920er Jahren nichts zu finden ist. Nach einem Abstecher ins persisch-­russische Grenzgebiet, von wo aus ­Scheubner-Richter eine Erhebung der Stämme Dagestans gegen die russische Herrschaft anzetteln sollte, um so Deutschland den Zugriff auf die Ölfelder Bakus zu ermöglichen,47 promovierte er während eines malariabedingten Genesungsurlaubs am 29. Dezember 1916 an der Technischen Universität München.48 An 42 Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christen­ volkes der Welt. München u. a. 1993, S. 302; Kevork B. Bardakjian: Hitler and the Armenian Genocide (Zoryan Institute Special Report, 3). Cambridge 1985, S. 31 f.; M ­ argaret Lavinia Anderson: Who Still Talked about the Extermination of the Armenians? German Talk and German Silences. In: Ronald Grigor Suny/Fatma Müge Göçek/Norman M. ­Naimark (Hrsg.): A Question of Genocide. Armenians and Turks at the End of the ­Ottoman Empire. Oxford 2011, S. 199 – 217, hier S. 216. 43 So z. B. Gust: Völkermord (wie Anm. 42), S. 303. 44 Für eine Kopie seines Rigaer Vortrages ›Scheubner-­Richter in Armenien‹ (unpag. MS) danke ich Dr. Hans-­Heinrich Wilhelm ganz herzlich. Ähnlich Bihl: Kaukasus-­Politik (wie Anm. 40), S. 176. – Scheubner-­Richter und manche seiner Kollegen hätten sich »unermüdlich um die Armenier bemüht«. 45 Bericht Scheubner-­Richters, 10. August 1915. In: Lepsius (Hrsg.): Deutschland (wie Anm. 41), S. 124. 46 Siehe Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 83, 156. 47 Hierzu v. a. ebd., passim; siehe weiter Bihl: Kaukasus-­Politik (wie Anm. 40), S. 70 – 73, 241. 48 Laut Werner Maser: Der Sturm auf die Republik. Frühgeschichte der NSDAP. Düsseldorf u. a. 1994, S. 405, promovierte Scheubner-­Richter zum Thema Über das Pinenhydrobromid und

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die Westfront versetzt, beklagte er sich im März 1917 darüber, dass angesichts der Ereignisse in Russland »Landeskenner« offensichtlich nicht gebraucht würden.49 Im Sommer 1917 wurde er nach Stockholm geschickt, wo er mit Vertretern der nach Unabhängigkeit strebenden Völker des Russländischen Reichs in Kontakt trat, bevor es ihn im Herbst schließlich wieder ins Baltikum verschlug. In Riga wurde er Leiter der Pressestelle beim Oberkommando der 8. Armee. Nach der deutschen Kapitulation im November 1918 ernannte August Winnig, der Beauftragte des Deutschen Reichs für die baltischen Staaten, die mittlerweile ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, Scheubner-­Richter zu seinem Stellvertreter und damit zum kommissarischen Leiter der deutschen Botschaft in Riga,50 das Anfang Januar 1919 von der Roten Armee erobert wurde. Dem freiwillig zurückgebliebenen Scheubner-­Richter, der entgegen den Zusicherungen des Regierungschefs Sowjetlettlands, Peteris Stučka, nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs von lettischen Kommunisten verhaftet wurde, gelang es nur mit viel Glück, das Land zu verlassen.51 In seinen kurz darauf in Königsberg abgefassten, recht differenzierten Berichten 52 fällt Folgendes auf: seine unverhohlene Scham angesichts des deutschen Okkupationsregimes in Lettland und Estland sowie sein Zorn über den Zustand der von der Revolution erfassten deutschen Armee. Beides waren Resultate seiner bereits zuvor erkennbaren Empfindlichkeit in nationalen deutschen Belangen, die auch vor deutlicher Kritik an deutschen Autoritäten nicht haltmachte. Scheubner-­Richter hatte sich bereits im Oktober dem neuen Reichskanzler Max von Baden zur Verfügung gestellt, der die Militärverwaltung in den besetzten baltischen Ländern so schnell wie möglich durch zivile Einrichtungen ersetzen wollte, die dann sukzessive an die Esten, Letten und Litauer übergeben werden sollten.53 In seinen Berichten findet sich insgesamt eine rational begründete und damit keineswegs fanatische, emotionale Ablehnung des Bolschewismus, die man bei einem frisch aus dem Kerker der Tscheka sein Verhalten zu Silberoxyd. 49 Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 164 f. 50 August Winnig: Heimkehr. Hamburg 1935, S. 73. 51 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 58, nannte Scheubner-­Richters Befreiung »eine List seines Corpsbruders und späteren Mitarbeiters Arno Schickedanz«. 52 Die Berichte Scheubner-­Richters vom 3., 11. und 24. 02. 1919 befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts (künftig: PAAA), Weltkrieg 20d 1a, Bd. 25 (3. und 11.2.) bzw. Bd. 28. (24.2.). Für die Kopien danke ich meinem Kollegen Detlef Henning herzlich. 53 Zit. n. Hans von Rimscha: Die Politik Paul Schiemanns während der Begründung der Baltischen Staaten im Herbst 1918. In: Zeitschrift für Ostforschung 5 (1956), S. 68 – 82, hier S. 73. – Zur Politik Max von Badens siehe Sigmar Stopinski: Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des E ­ rsten Weltkriegs (Nordeuropäische Studien, 11). Berlin 1997, S. 80 f., 100 f.

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Entkommenen durchaus hätte erwarten können. Den ­Ersten Weltkrieg beendete er somit sowohl als Gegner des Wilhelminischen Deutschlands des letzten Kriegsjahrs als auch als kompromissloser Feind der Weltrevolution.54

2. Scheubner-Richter und die ›Weiße Internationale‹ Zu Anfang der 1920er Jahre galt Scheubner-­Richters ganze Aufmerksamkeit dem ideologischen und praktischen Kampf gegen den atheistischen internationalen Marxismus. Außenpolitisch diente d­ iesem Ziel die in der Gesellschaft ›Aufbau – Wirtschaftspolitische Vereinigung für den Osten‹ von ihm organisierte Zusammenarbeit mit den monarchistischen russischen Emigranten als unzweifelhaft antibolschewistischer Kraft, die letztlich in eine nicht nur ökonomisch enge Verbindung ­zwischen einem nationalen Russland und einem nationalen Deutschland münden sollte.55 Da die Weimarer Republik nach Scheubner-­Richters Interpretation einer schleichenden Bolschewisierung ausgesetzt war, stand er bereits frühzeitig in Verbindung mit antirepublikanischen Gruppen. Über seine Tätigkeit im Ostdeutschen Heimatdienst 56 hatte er Kontakt mit den Putschisten um Wolfgang Kapp aufgenommen, als dessen »Pressechef« er im März 1920 hätte in Aktion treten sollen.57 Seine Bekanntschaft mit Ludendorff datierte wohl schon aus den Kriegsjahren im Baltikum, entwickelte sich jedoch erst jetzt in der Nationalen Vereinigung um den Weltkriegsheroen zu einer engen politischen Kooperation: 54 Laut Kursell: Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 10, glaubte Scheubner-­Richter damals nicht an einen »automatischen Zusammenbruch der bolschewistischen Revolution« und sah in ihr »die zukünftige Weltgefahr«. 55 WAK 3 (1923), Nr. 45, 9. November 1923, S. 1; Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 256. 56 Siehe hierzu seinen Tätigkeitsbericht: M. E. V. Scheubner-­R ichter: Vom Kampf um die deutsche Ostmark. Tätigkeitsbericht des Obmanns des Ostdeutschen Heimatdienstes für die Zeit vom 1. Februar 1919 bis zum 1. Juni 1920. Königsberg/Pr. [1920]; auch in Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 199 – 222. Genauer hierzu Rudolf Klatt: Ostpreussen unter dem Reichskommissariat 1919/1920. Heidelberg 1958, S. 137 – 162; Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 255. 57 Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 183; Adolf Eichler: Max von Scheubner-­Richter. In: Deutsche Post aus dem Osten 11 (1939) 2/3, S. 24 – 27, hier S. 26; John J. Stephan: The Russian Fascists. Tragedy and Farce in Exile 1925 – 1945. London 1978, S. 18 f.; Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 58 f., bezweifelte 1967, dass Scheubner-­Richter aktiv am Kapp-­Putsch teilgenommen habe. 1940 hatte derselbe Autor (Max Hildebert Boehm: Mein Weg zur Volkslehre. Versuch einer baltischen Rechenschaft. In: Der Deutsche im Osten 2 [1940], H. 11, S. 27 – 34, hier S. 28, Anm. 1) noch behauptet, er sei Scheubner-­Richter politisch »zuletzt im Kapp-­Putsch [begegnet], als wir uns beide vergeblich zum Kampf gegen das Novemberregime stellten«.

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Das gemeinsame Bekenntnis zum ›Geist von 1914‹ bot den ideologischen Rahmen, in dem eine nationale ›Erneuerung‹ angestrebt werden sollte. Zwar spielte Scheubner-­Richter zunächst eine untergeordnete Rolle, doch wurde der international erfahrene Oberleutnant der Reserve spätestens 1922 zum ostpolitischen Berater Ludendorffs.58 Inzwischen hatte er dank seiner Verbindungen mit einigen führenden Köpfen der monarchistischen Emigranten aus dem Russländischen Reich ein informelles Kommunikationsnetz über weite Teile Ostmitteleuropas aufbauen können.59 In ­diesem Rahmen verbanden sich Scheubner-­Richters innen- und außenpolitische Ziele. Eine entscheidende Station seines antibolschewistischen Engagements 60 war bereits Mitte 1920 die Krim gewesen, wo er im Auftrag süddeutscher Industrieller und Ludendorffs mit General Petr N. Vrangel’ im Namen der von ihm gegründeten Europa-­Asien-­Gesellschaft ergebnislos über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit verhandelt hatte.61 Immerhin war es Scheubner-­Richter während dieser sechsmonatigen Reise gelungen, Gespräche mit Admiral Horthy in Ungarn zu führen, aus denen ein umfangreiches Netz konspirativer Kontakte ­zwischen ungarischen, österreichischen, bayerischen und russischen rechten Kräften erwuchs.62 Das offenkundige Ziel dieser Bemühungen, die Unterstützung des bewaffneten Kampfes der antibolschewistischen »weißen« Russen gegen die Bolschewiki durch die Schaffung einer »Weißen Internationale«,63 blieb indes weitgehend erfolglos. 58 Thoss: Der Ludendorff-­Kreis (wie Anm. 17), speziell zu Scheubner-­Richter v. a. S. 64. Dessen ›Aufbau‹-Gesellschaft war ab 1922 einzige Geldquelle für den General (ebd., S. 449). 59 Scheubner-­Richters im Rahmen der Tätigkeit des Ostdeutschen Heimatdienstes 1919 begründeter Wirtschaftspolitischer Aufklärungsdienst ist als Vorläufer der Münchner Aufbau-­ Gesellschaft zu betrachten. 60 Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 184 f., berichtet, dass Scheubner-­Richter über seinen Mitarbeiter Schickedanz Kontakt zu Rubonen-­Corpsbruder Rosenberg in Sachen des ­Vrangel’-Projektes aufgenommen habe (siehe Pool: Wegbereiter (wie Anm. 29), S. 54 f.). 61 Hierüber unterrichtete Scheubner-­Richter das Auswärtige Amt, das am 15. 12. 1920 eine ›Aufzeichnung‹ des Gesprächs erstellte (PAAA R 83379). Für die Überlassung einer Kopie danke ich Prof. Dr. Winfried Schlau. Siehe die Erinnerungen des Pressechefs Vrangel’s und späteren Aufbau-­Mitarbeiters Georgij V. Nemirovič-­Dančenko: V Krymu pri ­Vrangele. Fakty i itogi [Auf der Krim unter Vrangel’. Fakten und Ergebnisse]. Mjunchen’ 1922, aus denen die WAK 3 (1923), Nr. 16, 19. April 1923, S. 4, die Übersetzung der den Besuch Scheubner-­ Richters bei Vrangel’ behandelnden Passage publizierte. Siehe Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 257 f. 62 Im Januar 1923 war Scheubner-­Richter erneut bei Horthy (Deuerlein (Hrsg.): Hitler-­ Putsch (wie Anm. 12), S. 516). Siehe Thoss: Ludendorff-­Kreis (wie Anm. 17), S. 469 f. 63 Ebd., S. 388. – Siehe auch Ignaz Trebitsch-­L incoln: Der größte Abenteurer des XX. Jahrhunderts? Leipzig u. a. 1931, S. 159 – 164, 198 – 215.

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In diesen Jahren formte sich das außenpolitische Credo Scheubner-­Richters heraus – die ›Weiße Internationale‹ beziehungsweise eine Internationale der Nationen. 1923 fasste er seine Ideen folgendermaßen zusammen: »Genau so wie die verschiedenen marxistischen Internationalen ihren Kampf zur Vernichtung der einzelnen Nationen gemeinsam führen, genau so müßte auch der Abwehrkampf von den einzelnen Nationen, die nicht im internationalen marxistischen Völkergemenge aufgehen wollen, gemeinsam geführt werden«.64 Die Russen als erste Opfer des ›internationalen Prinzips‹ ­seien dazu prädestiniert gewesen, Bundesgenossen der Deutschen zu sein, denen die »Bolschewisierung« aus der Sicht Scheubner-­Richters kurz bevorstand. Gleich ­Winnig mochte er in dieser Gefahr ein »Gottesgeschenk« gesehen haben, das die Deutschen hätte aufrütteln müssen.65 Die bolschewistische Revolution war für ihn allerdings ideologisches Feind- und praktisches Vorbild zugleich. In seinem Artikel Die Rote Armee. Was wir von Sowjetrußland lernen können!66 empfahl er allen deutschen Politikern und Militärs, »deren Sinn durch Zeitungsgewäsch und Phrasengedresch noch nicht umnebelt« sei, die Lektüre der Schriften Lev D. Trockijs. Hieraus könne man lernen, dass »Erfolge« nicht im Parlament, sondern einzig »durch militärische Schlachten und Siege« errungen werden könnten. Immer noch von den eigenen Erfahrungen mit der (zumindest Anfang Januar 1919 noch) disziplinierten Roten Armee in Riga beeindruckt, forderte er auch für Deutschland die »einigende Idee«, die Trockijs Armee so stark gemacht habe.67 Solange Deutschland über keinen militärischen Machtapparat verfüge, verständigten sich schon bald »der von Westen marschierende französische Chauvinismus und der von Osten marschierende russische Bolschewismus im Herzen Deutschlands« über die »Teilung der Beute«. Hier ist ein weiterer Fixpunkt des Scheubner-­Richter’schen Weltbildes erkennbar: die prinzipielle Ablehnung der vom »internationalen Kapitalismus« beherrschten westlichen Demokratie, die sich vor allem in frankophoben Spitzen äußerte.68 64 WAK 3 (1923), Nr. 1, 4. Januar 1923, S. 1. – Später forderte Scheubner-­Richter unmissverständlich in Anlehnung an die marxistische Diktion: »Christen aller Länder vereinigt Euch!« (ebd., Nr. 14, 5. April 1923, S. 1). 65 Winnig: Heimkehr (wie Anm. 50), S. 62 f., sprach von dem Kommen der Roten Armee als »Gottesgeschenk« für die deutsche Politik in Lettland – »wenn man das Gefühl ausschaltete«. 66 WAK 3 (1923), Nr. 12, 22. März 1923, S. 1 – 3. 67 Die Einschätzung, die Soldaten der Roten Armee s­ eien von einem gemeinsamen Ziel getragen gewesen, findet sich auch in anderen Augenzeugenberichten deutscher Soldaten von Anfang 1919. Siehe dazu Klatt: Ostpreussen (wie Anm. 56), S. 91 f. 68 Ein Gedicht aus der Feder Grigorij V. Švarc-­B ostuničs (siehe zu ihm Michael ­H agemeister: Das Leben des Gregor Schwarz-­Bostunitsch [Grigorij V. Švarc-­Bostunič].

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Das sowjetische Bündnisangebot an die nationalen Kräfte in Deutschland, das Karl Radeks berühmte Schlageter-­Rede im Juni 1923 enthielt, wurde in der Aufbau-­Postille jedoch ignoriert und mit einem Bündnisangebot an französische Nationalisten beantwortet.69 Scheubner-­Richter schrieb sich außenpolitisch den Kampf gegen die Friedens­ ordnung von Versailles auf seine Fahnen, innenpolitisch den ›Sturm auf die Republik‹ (Werner Maser) – beides mit revolutions- und damit auch gewaltbejahender Konsequenz. Genau hier, und nicht etwa in antisemitischen Überzeugungen, lagen auch die Grundlagen für die Zusammenarbeit mit Hitler. Es ging um die Schaffung einer einigenden ›deutschen Idee‹ nach dem Vorbild des August 1914 mit Hilfe einer ›nationalen Revolution‹. Niemand hat die h ­ ybride Simplizität von Scheubner-­Richters Weltbild unfreiwillig präziser benannt als sein Freund Otto von Kursell: »Sein Kampf«, so formulierte dieser es in einem Nachruf, galt »den Kräften, die der Einigung des Volkes und der Völker entgegenwirken […]; Kampf dem internationalen Feinde, Aufbau durch die nationalen Kräfte«.70 Sein Traum der ›Weißen Internationale‹ hingegen, die Lehre, die er aus der bolschewistischen Revolution zog, kam über ein ideelles Anfangsstadium nicht hinaus.

3. Scheubner-Richter und die NSDAP Unmittelbar nach seiner Reise auf die Krim hatte Scheubner-­Richter über Rosenberg Adolf Hitler kennengelernt und trat im November 1920 in dessen Partei ein.71 In der NSDAP dürfte er eine junge nationale Kraft gesehen haben, die durch die in seinen Augen schmachvolle deutsche Vergangenheit nicht kompromittiert war. In Hitler, so ist zu vermuten, sah der von der kommunistischen Propagandaeffizienz überzeugte Scheubner-­Richter zunächst in erster Linie einen kompromisslosen Propagandisten seiner eigenen politischen Ziele, der Teil 2. In: Karl Schlögel (Hrsg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Berlin 1995, S. 209 – 218) über den »Bettler zu Bochum«, der die Gabe eines Franzosen ablehnt (Dem Spender aus des Feindes Land – / Nie nimmt das eine deutsche Hand). In: WAK 3 (1923), Nr. 25, 21. Juni 1923, S. 4, mag dies beispielhaft verdeutlichen. 69 Max Erwin von Scheubner-­R ichter: Weltpolitische Umschau. In: WAK 3 (1923), Nr. 28, 13. Juli1923, S. 1 f. 70 Otto v. Kursell: Die Linie im Leben Max von Scheubner-­Richters. In: Scheubner-­ Richter: (wie Anm. 27), S. 4. 71 Blutzeugen (wie Anm. 34).

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mit den alten Verhältnissen gebrochen hatte. Scheubner-­Richters von Boehm überlieferter Satz aus dem Herbst 1921, er habe sich für die »Nationalisten ohne Stehkragen« entschieden, erscheint nur konsequent für dessen aktivistischen Rationalismus.72 Seine späteren Bekenntnisse zur NS -Bewegung, »Hie Sowjet­stern – hie Hakenkreuz. Und das Hakenkreuz wird siegen!«,73 lassen sich jedoch angesichts seiner nie aufgekündigten Loyalität gegenüber Ludendorff 74 nicht dahingehend interpretieren, er habe Hitler Exklusivrechte auf die Führung im künftigen Reich zugestanden. Als Führer der im Hakenkreuz über ein einprägsames Symbol verfügenden einigenden Bewegung war er in Scheubner-­ Richters Plänen jedoch der richtige Mann am richtigen Platz: als Prophet des völkischen Deutschland.75 Damit begann also Scheubner-­Richters Tätigkeit als Vermittler z­ wischen all den bunt zusammengewürfelten Antidemokraten völkischer Ausrichtung, als deren Exponenten hier neben Hitler und Ludendorff nur genannt s­ eien: der Wittelsbacher-­Prinz Rupprecht,76 der Romanov-­samozvanec Kirill Vladimirovič in Coburg,77 der Industrielle Fritz Thyssen 78 sowie als Präsident des deutsch-russischen Aufbau-­Vereinigung der einflussreiche Freiherr Theodor von Cramer-­Klett, der für die Startfinanzierung dieser Gesellschaft mit MAN- und Mannesmann-­Geldern

72 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 61; Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 187. 73 Max Erwin von Scheubner-­R ichter: Die Bolschewisierung Deutschlands. In: WAK 3 (1923), Nr. 38, 21. September 1923, S. 3. 74 Siehe Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 62; für Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919 – 1924. Berlin 21984, S. 353, war es Ludendorff, den Scheubner-­Richter »zur Führung Deutschlands« ausersehen hatte. Siehe ebd.: S. 358, sowie die Grabreden ­Ludendorffs (Scheubner-­Richter »war mir ein Freund und treuergebener Mann«) und Nemirovič-­ Dančenkos: »Und er starb als ein guter Deutscher, der mit seiner Brust seinen ergrauten Führer [ergo: Ludendorff, K. B.] und Freund […] deckte«. In: Scheubner-­R ichter (wie Anm. 27), S. 2, 4. 75 Scheubner-­R ichter: Die Bolschewisierung Deutschlands (wie Anm. 73); Laqueur: Deutschland (wie Anm. 1), S. 75. 76 Kurt Sendtner: Rupprecht von Wittelsbach, Kronprinz von Bayern. München 1954, S. 526 – 532. 77 Hans von Rimscha: Russland jenseits der Grenzen 1921 – 1926. Ein Beitrag zur russischen Nachkriegsgeschichte. Jena 1927, S. 66 – 82; Stephan: Fascists (wie Anm. 57), S. 12 – 14; Hans-­E rich Volkmann: Die russische Emigration in Deutschland 1919 – 1929 (Marburger Ostforschungen, 26). Würzburg 1966, S. 96 f.; Robert C. Williams: Culture in Exile. Russian Emigrés in Germany, 1881 – 1941. Ithaca u. a. 1972, S. 214; Bettina ­D odenhoeft: »Laßt mich nach Rußland heim.« Russische Emigranten in Deutschland von 1918 bis 1945 (Studien zur Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 5). Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 280 f. 78 Gossweiler: Kapital (wie Anm. 74), S. 349 f.

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sorgte.79 Geld und Verbindungen dürften es somit gewesen sein, die Scheubner-­ Richter den Titel »Genie der Mittelbeschaffung«80 der NSDAP einbrachte.81 Wenn schon Scheubner-­Richters Rolle als Geldbeschaffer der NSDAP sich nur auf Indizien stützen kann, ist der Nachweis eines direkten ideologischen Einflusses auf Hitler nicht zu führen. Die undifferenzierte Forschungsmeinung hierzu lautet, er habe wie Rosenberg das gekoppelte Feindbild einer »jüdisch-­bolschewistischen Weltverschwörung« mit in die bayerischen Bierkeller gebracht.82 Ohne Zweifel war Scheubner-­Richter Antibolschewist und Antisemit – in dieser Reihenfolge. In seinen Artikeln für die Wirtschaftspolitische Aufbau-­Korrespondenz (WAK), die oft parallel auch im Völkischen Beobachter erschienen, finden sich zumindest 1923 die zeittypischen, latent antisemitischen Verschwörungstheorien vom ›jüdischen Internationalismus‹, der nicht nur in Sowjetrussland, sondern über seine Beherrschung der Wall Street auch in den westlichen Demokratien die Politik lenke. Von diesen charakteristischen Ingredienzien rechtsextremer Weltanschauungen ist in einem Artikel Scheubner-­Richters von Anfang 1921 jedoch noch nichts zu erkennen – und die unter dem Schlagwort der ›Weißen Internationalen‹ betriebene Zusammenarbeit mit ungarischen Rechtsextremen war nicht »primär antisemitisch ausgerichtet«, sondern diente vorrangig dem Ziel der »Zerstörung der Pariser Nachkriegsordnung« und einer umfassenden territorialen Neuordnung Ostmitteleuropas.83 Eine genauere Untersuchung der WAK der Jahre 1921/2284 könnte Aufschluss darüber geben, ob Scheubner-­Richter die populistischen 79 Zu Cramer-­Klett und zum ›Aufbau‹ insgesamt siehe Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 258 – 260; siehe auch Thoss: Ludendorff-­Kreis (wie Anm. 17), S. 442 f. 80 Pool: Wegbereiter (wie Anm. 29), S. 53 – 55 (Zitat), ohne jedoch den Boden des Spekulativen zu verlassen. Ähnlich Maser: Sturm (wie Anm. 48), S. 405. Siehe Georg Franz-­Willing: Die Hitlerbewegung. Der Ursprung 1919 – 1923. Hamburg 1962, S. 283. 81 Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 261, Anm. 1129. – Scheubner-­Richters Mitarbeiter Vasilij V. Biskupskij selbst schrieb im Oktober 1935 in seinem Bericht über die russischen monarchistischen Organisationen in der Emigration davon, dass Kirills Gattin, die Großfürstin Viktoria, Ludendorff »aus dem Verkauf ihrer Juwelen [eine] für ihre Emigrantenlage geradezu horrende Summe« zur Verfügung gestellt habe (IfZ MA 297, Bl. 3980 – 4 013, hier Bl. 3982 f.). Siehe auch Williams: Culture (wie Anm. 77), S. 350. 82 Auerbach: Lehrjahre (wie Anm. 1), S. 21; Ian Kershaw: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft. München 1992, S. 40. 83 Max Erwin von Scheubner-­R ichter: Deutsche Not. Eine Betrachtung zum neuen Jahr. In: BayHStA, V SlgP 3775 (ohne Quellenangabe, undatiert). – Zu den Zielen der von Ludendorff betriebenen ›Weißen Internationalen‹ siehe Jung: Ideologische Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 414. 84 Staatsarchiv München [künftig: StAMü], STAW 3099. – Da die ersten beiden Jahrgänge der WAK per Fernleihe aus deutschen Bibliotheken nicht zu beschaffen waren, musste eine systematische Untersuchung von Scheubner-­Richters Publizistik unterbleiben.

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Losungen seines Corpsbruders Rosenberg als propagandistisches Mittel zum Kampf gegen die Weltrevolution nicht erst sukzessive übernommen hat. Johannes Baur, der sich intensiv mit der russischen Kolonie in München zur fraglichen Zeit beschäftigt hat, bezweifelt nicht ohne Grund, dass Scheubner-­ Richters komplexe persönliche Weltanschauung des Konstruktes einer primitiven Verschwörungstheorie im Stil der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion bedurft habe,85 doch steht die seine WAK-Publizistik des Jahres 1923 durchziehende Konnotationenkette ›international = bolschewistisch = jüdisch‹ hierzu in augenfälliger Diskrepanz. War hier sein eschatologisches Glaubensbekenntnis offenbart oder handelte es sich um den ideologischen Missing Link, mit dem er öffentlichkeitswirksam seinen eigentümlichen internationalen Nationalismus (für den es einer baltischen Herkunft wohl kaum bedurfte) zu untermauern hoffte?86 Es bleibt gleichwohl festzuhalten, dass Scheubner-­Richters Antisemitismus politisch, nicht rassistisch oder exterminatorisch war und dem ideologischen Kampf gegen die internationale Revolution diente.87 In seinem Deutschen Manifest, das die Münchner Polizei im November 1923 unter seinen persönlichen Unterlagen sicherstellen konnte, hieß es zwar, dass in einem zukünftigen Deutschen Reich »Juden und Ausländer« nur Gastrecht genießen dürften und der »Zustrom von Ostjuden und von anderen parasitären Ausländern« gesetzlich verhindert werden müsse. Doch sei der Erwerb der Staatsbürgerrechte bei entsprechendem Bekenntnis zur »Deutschen Volks-­Kultur und Schicksalsgemeinschaft« nicht ausgeschlossen, wie wir es im Gegenteil explizit in den 25 Punkten der NSDAP lesen.88 Wenn also Scheubner-­Richter Hitlers Antisemitismus mit einer antibolschewistischen Richtung außenpolitisch untermauerte, so kann man vermuten, dass umgekehrt auch Hitler, der bereits 1919 »die Entfernung der Juden überhaupt« anvisierte,89 Scheubner-­Richters Antibolschewismus rassenpolitisch auflud. Es bietet sich somit das Bild einer ideologischen Annäherung, die beiderseitig auf fruchtbaren Boden fiel. 85 Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 266. 86 Siehe Dieter Groh: Die verschwörungstheoretische Versuchung, oder: Why do bad things happen to good people? In: ders.: Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt/M. 1992, S. 267 – 304. 87 Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 267. 88 StAMü, STAW 3099, Bl. 687. – Zu den 25 Punkten, dem bereits erwähnten NSDAP-Programm von 1920 siehe Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft. Stuttgart 41991, S. 57. 89 Eberhard Jäckel u. a. (Hrsg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905 – 1924. Stuttgart 1980, S. 88 f. (Brief Hitlers vom 16. September 1919). Siehe ders.: Weltanschauung (wie Anm. 88), S. 55, 68.

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4. Scheubner-Richters postume Karriere im ›Dritten Reich‹ Scheubner-­Richters Name stand in jeder Ausgabe von Hitlers Mein Kampf an prominenter Stelle, im schwarzen Trauerrahmen unter den sogenannten Blutzeugen der Bewegung.90 Ihnen, den 16 während des Hitler-­Putsches am 9. November 1923 Erschossenen, war der erste Band jener programmatischen Schrift des ›Führers‹ gewidmet. Die hierbei zugrunde liegende Idee wird durch ein NS-Flugblatt deutlich, das bereits kurz nach dem Putschversuch in Umlauf gebracht worden war: Unter den Opfern ­seien als Symbol des einigen Deutschlands »Männer aus allen Ständen des deutschen Volkes« gewesen.91 Scheubner-­Richters Doktorgrad war dabei zweifellos besonders wichtig, vielleicht mehr noch als das durch Adoption erhaltene Adelspartikel, stand er doch stellvertretend für den Anteil der Intelligenz an Hitlers Bewegung. Der Bedeutung des Parteimitglieds seit November 1920 wurde diese parteiamtliche Kanonisation als ›Blutzeuge‹ freilich nicht gerecht. Hitler selbst hatte sich im Oktober 1923 vehement für Scheubner-­Richter eingesetzt und gegen die »Fülle von lügnerischen Behauptungen« in einem polemischen Artikel des Bayerischen Kuriers protestiert.92 Gern wird zudem die auf die Erinnerung von Scheubner-­ Richters Witwe zurückgehende Klage Hitlers zitiert: »Alle sind ersetzbar, nur einer nicht, das ist Scheubner-­Richter!«93 Später billigte der bis ins Groteske gesteigerte Totenkult der Nazis 94 Scheubner-­Richter nur den Märtyrerpart einer alljährlich rituell abgefeierten Reliquie zu. Seit dem 9. November 1935 ruhte er neben dem Rittmeister Rickmers, dem Kellner Kuhn und Kurt Neubauer, dem Diener Ludendorffs, im sogenannten Ehrentempel am Münchener Königsplatz, dessen Fundamente bis heute zu besichtigen sind. Ein Scheubner-­Richter-­Lied 90 Adolf Hitler: Mein Kampf. München 101932, S. XXIII. 91 IfZ, MA 735. 92 IfZ, MA 144/3, Bl. 5172. Publiziert in: Deuerlein (Hrsg.): Hitler-­Putsch (wie Anm. 12), S. 201 – 205, Dok. 30; Jäckel (Hrsg.): Hitler (wie Anm. 89), S. 1029 f. – Hitlers Reaktion mag einen Polizeibericht vom 06. 11. 1923 bekräftigen, in dem Scheubner-­Richter als »einflußreiche[r] politische[r] Berater Hitlers« apostrophiert wurde (ebd., S. 306, Dok. 82). 93 Die Forschung, z. B. Maser: Sturm (wie Anm. 48), S. 406, oder Gossweiler: Kapital (wie Anm. 74), S. 451, bezieht sich auf Franz-­Willing: Hitlerbewegung (wie Anm. 80), S. 133 (2. Aufl. Preußisch-­Oldendorf 1974, S. 198). – Offensichtlich geht d­ ieses Zitat jedoch auf Scheubner-­Richters Witwe zurück (siehe die Aufzeichnung eines Gesprächs mit Mathilde v. Scheubner-­Richter, 09. 07. 1952, in: IfZ, ZS 2368). Laut Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 57, nannte Hitler der Witwe auch den Grund für die Unersetzlichkeit ihres Mannes: »Er öffnete mir alle Türen«. 94 Siehe hierzu Susanne Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole (Kölner Beiträge zur Nationsforschung, 2). Köln 1996.

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sang das ›Dritte Reich‹ ebenso wenig wie es ihm einen Platz im neunten Band von Meyers Lexikon aus dem Jahre 1942 zugestehen wollte – eine Ehrung, die seinem Mitmärtyrer, dem Landesgerichtsrat Theodor von der Pfordten, zum Beispiel zuteilgeworden war. Dies soll nicht unterstellen, Scheubner-­Richter sei schlicht »vergessen« worden 95 – hiergegen sprechen die alljährlich über ihn und die anderen ›Blutzeugen‹ in der Parteipresse erschienenen Artikel. Allerdings lässt sich der Verdacht äußern, dass er als Teil der alljährlichen Inszenierungen zum 9. November für das Regime durchaus tragbar war; das politische Profil des »legendären Parteimanagers«96 war jedoch zu eigenwillig, um ihn gleich den allgegenwärtigen Vorzeigemärtyrern wie zum Beispiel Albert Leo Schlageter oder einem Horst Wessel einer persönlichen Ikonisierung für wert zu befinden.97 In ­diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass sich Scheubner-­Richter in seiner Münchner Zeit keineswegs einseitig in den Dienst Hitlers stellte. Mit dem größten Engagement verschrieb er sich der Unterstützung der konservativen, monarchistischen russischen Emigranten, die das 25-Punkte-­Programm der NSDAP von 1920 als unerwünschte Ausländer nicht im eigenen Land dulden wollte.98 Als Geschäftsführer des deutsch-­russischen Aufbau hatte Scheubner-­ Richter einen gleichnamigen Verlag sowie unter dem Namen Wirtschaftspolitische Aufbau-­Korrespondenz 1921 die bereits zitierte Zeitschrift gegründet, als deren Schriftleiter er persönlich fungierte. Höhepunkt seiner Bemühungen um die russische Emigration war die Organisation der Monarchistenkonferenz in Bad Reichenhall im Sommer 1921.99 Dieses ›Doppelleben‹, seine Vermittlerrolle ­zwischen der deutschen und der russischen Rechten, darf durchaus als Anzeichen seiner persönlichen Unabhängigkeit gesehen werden, die bewirkte, dass keiner 95 Stephan: Fascists (wie Anm. 57), S. 20: »subsequent Nazi literature ignored him [Scheubner-­ Richter]«. 96 Hagemeister: Leben (wie Anm. 68), S. 211. 97 Wichtig war Scheubner-­Richters Ruf als ›Blutzeuge‹ v. a. für die von ihm protegierten russischen Emigranten, als diese nach 1933 um die Gunst der neuen Machthaber buhlten: So berief sich Biskupskij 1935/36 auf den 1923 Gefallenen, als er Himmler um Unterstützung bat (IfZ, MA 297). Auch der NS-Reichsredner und spätere SS-Standartenführer Švarc-­Bostunič versäumte es nicht, 1939 auf seinen Kontakt zu Scheubner-­Richter hinzuweisen. Siehe Hagemeister: Leben (wie Anm. 68), S. 211. 98 Ernst Deuerlein (Hrsg.): Der Aufstieg der NSDAP in Augenzeugenberichten. München 1974, S. 108 – 112; siehe hier vor allem die Punkte 4 und 5. Siehe zudem Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt/M. u. a. 1973, S. 176 – 185. 99 Zu Scheubner-­Richters Kontakten zu den russischen Emigranten siehe Baur: Kolonie (wie Anm. 11), S. 253 – 270. – Zum Emigrantenkongress von Bad Reichenhall Dodenhoeft: »Laßt mich nach Rußland heim« (wie Anm. 77), S. 175 – 178; Volkmann: Emigration (wie Anm. 77), S. 74 – 84; Rimscha: Russland (wie Anm. 77), S. 61 – 66.

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seiner Partner ihn je ganz für sich zu reklamieren vermochte. So stieß Scheubner-­ Richters Affinität zu den russischen Emigranten in völkischen Kreisen auf scharfe Kritik. Der Publizist Arnold Rechberg, ein ehemaliger Mitarbeiter Ludendorffs, dem Scheubner-­Richter »als außenpolitischer Berater der nationalsozialistischen Bewegung« galt, schrieb in einem Bericht an den Münchner Polizeipräsidenten, dass es nicht nur in Deutschland Bedenken errege, »wenn die äußere Politik einer ausgesprochen nationalen Partei von einem Vertreter außerdeutscher Interessen beeinflusst wird«.100 Bei aller Kritik blieb Scheubner-­Richter der wichtigste Verbindungsmann ­zwischen Ludendorff und Hitler.101 Seine Bemühungen, in den völkischen Graben­ kämpfen jener Zeit einigermaßen unabhängig zu bleiben, dürften ihm schon zu Lebzeiten den Ruf einer schillernden Persönlichkeit eingetragen haben. In der 1938 in Essen erschienenen Biografie Scheubner-­Richters aus der Feder seines Freundes Paul Leverkuehn 102 werden die ›Kampfzeit‹ der NSDAP und die Rolle ihres späteren ›Blutzeugen‹ auffälligerweise nur knapp umrissen.103 Das Hauptgewicht jener Arbeit liegt auf der Darstellung der Ereignisse in der Türkei während des ­Ersten Weltkrieges, an denen Leverkuehn als Scheubner-­Richters Adjutant selbst unmittelbar teilhatte. Insgesamt blieb die Rolle Scheubner-­Richters im ›Dritten Reich‹ unklar, was zu der Geheimniskrämerei beigetragen haben mag, die Scheubner-­Richter bis heute umgibt.

5. Scheubner-Richter und der »Neue Nationalismus« Scheubner-­Richter war gewaltbereiter Apologet einer nationalen Revolution, Verkünder eines antibolschewistischen Kreuzzugs und einer engen Kooperation mit einem nationalen Russland, er war Christ und Antisemit. Er war kein revolutionärer Apokalyptiker, wie manch einer aus den Kreisen seiner publizistisch tätigen 100 Arnold Rechberg an den Münchener Polizeipräsidenten, 26. 11. 1922. In: StAMü, PolDirMü 6697, Bl. 182 – 184. – Sehr kritisch über Scheubner-­Richter äußerte sich auch Hanfstaengl: Zwischen Weißem und Braunem Haus (wie Anm. 1), S. 121 – 123. 101 Erich Ludendorff: Auf dem Wege zur Feldherrenhalle. München 1937, S. 58, schrieb, Scheubner-­Richter sei »eine Art Verbindungsmann ­zwischen Adolf Hitler und mir« gewesen. Siehe Gossweiler: Kapital (wie Anm. 74), S. 358, 439; Thoss: Ludendorff-­Kreis (wie Anm. 17), S. 323 f. 102 Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22). 103 Laut Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 59, der sich auf den Essener Verleger Richard ­Brodführer berief, habe »aus Rücksicht auf die Prüfungsstelle der Partei« Scheubner-­Richters eigentlich wichtige politische Rolle im Dunkeln bleiben müssen.

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rechtsgerichteten Zeitgenossen, die gemeinhin zum Umfeld der ›Konservativen Revolution‹ gezählt werden.104 Er gehörte der Frontgeneration an.105 Als »neues Geschlecht«, »gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben« (Ernst Jünger), war die ›Generation von 1914‹ charakterisiert durch eine »Kombination von Apokalyptik, Gewaltbereitschaft und Männerbündlertum«.106 Die Niederlage des Deutschen Reichs gebar in der allgemeinen Enttäuschung über die »Eunuchenrolle« (Max-­Hildebert Boehm), in die die Siegermächte den Staat von Weimar gedrängt hatten, ein verstärktes Gefühl, »Träger einer charismatischen Mission« zu sein.107 Verbindend und generationsbildend war das Gemeinschaftserleben des August 1914, das in Scheubner-­Richters Publizistik immer wieder als Vorbild der ›einigenden Idee‹ aufscheint. Scheubner-­Richter verstand den Begriff Nation als voluntaristisches, durch den Glauben an eine gemeinsame Idee gekennzeichnetes Konzept, das der Verwirklichung bedürfe, woraus die Notwendigkeit einer »nationalen Revolution« abgeleitet wurde.108 Die Grenzen zum Nationalsozialismus der frühen 1920er Jahre, den »Nationalisten ohne Stehkragen«, sind fließend, und Scheubner-­Richters Option für sie widerspricht keineswegs grundsätzlich den Intentionen der konservativen Revolutionäre. Ausgehend von Stefan Breuers in Abgrenzung zur ›Konservativen Revolution‹ vorgeschlagenen Konzept des »neuen Nationalismus«109 sei abschließend versucht, Scheubner-­Richters Zukunftsvisionen, die sich in seinen nachgelassenen Manuskripten 110 nachweisen lassen, in die geistigen Strömungen der Weimarer Zeit einzuordnen. Er selbst hatte sich – in Anlehnung an Friedrich Naumanns Nationalsozialen Verein (1896 – 1903) – bereits im Dezember 1918 August Winnig gegenüber 104 Apologetisch Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch. Darmstadt 41994. 105 Detlev J. K. Peuckert: Die Weimarer Republik. Frankfurt 1987, hier zit. n. d. Ausg. Darmstadt 1997, S. 25 – 31; Breuer: Anatomie (wie Anm. 23), S. 30 f. 106 Ebd., S. 47. – Das Ernst-­Jünger-­Zitat (aus: Vorwort, in: Friedrich Georg Jünger (Hrsg.): Aufmarsch des Nationalismus. Leipzig 1926, S. XI) hier zit. n. ebd., S. 32. 107 Ebd., S. 35. Das Max Hildebert Boehm-­Zitat (aus: Ruf der Jungen. Freiburg 1920, 31933, S. 48) hier zit. n. ebd., S. 80. 108 Ebd., S. 83. 109 Ebd., S. 180 – 202. Hierauf fußen die folgenden Ausführungen. 110 StAMü, STAW 3099. 1. Deutsches Manifest mit handschriftlichen Korrekturen Scheubner-­ Richters (7 S. Masch.); 2. Liga der nationalen Befreiung (3 S. Masch., unvollst.); 3. Entwurf zu einem Aktionsprogramm vaterländischer Verbände nebst Vorwort und Grundsätzen (11 S. Masch.). Letztere enthalten Hinweise auf 1. 3. ist nicht identisch mit dem Aktionsprogramm des Deutschen Kampfbundes, das in: Hitler-­Putsch (wie Anm. 12), S. 202 – 204, Anm. 69, publi­ ziert worden ist. Siehe den Polizeibericht über die Durchsuchung von Scheubner-­Richters Büro und Wohnung vom 11. 11. 1923. In: StAMü, STAW 3099, Bl. 249r.

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als »nationale[n] Sozialist[en] außerhalb jeder Parteibindung« bezeichnet.111 Mag dies erklären, warum er 1920 gerade der nationalsozialistischen Partei beitrat, so handelt es sich dabei auch um ein Bekenntnis zu einem inklusiven Begriff von Nation, in ­welche die Arbeiterschaft integriert werden sollte, um sie für den Kampf gegen die ›Weltbourgeoisie‹ zu gewinnen.112 So interpretiert, bekommt der ›Geist von 1914‹ tatsächlich nationsbildende Kraft – eine Wirkung, die aber auch die Weimarer Demokraten gerne für die Legitimation der Republik in Anspruch nahmen. Die nationalrevolutionären Gruppen jedoch hielten die imaginäre ›Volksgemeinschaft‹ der nationalen Euphorie im August 1914 für berufen, die Republik in Frage zu stellen. Auch in dieser Intention trafen sich »neuer Nationalismus« und Nationalsozialismus; der entscheidende Unterschied z­ wischen beiden Strömungen liegt für Breuer nun in der für den Letzteren charakteristischen Betonung der ›Rasse‹ gegenüber der ›Nation‹ beziehungsweise dem ›Volk‹.113 Scheubner-­Richters Entwurf eines Deutschen Manifests vertrat trotz aller latenter Xenophobie keine rassistischen Grundsätze; diese hätten in einem zu offensichtlichen Widerspruch zu seinem Ideal einer ›Weißen Internationalen‹ und seinen Plänen für eine deutsch-­russische Zusammenarbeit gestanden. Vielmehr entwarf er die Vision einer militaristischen, elitären Oligarchie unter der Losung »durch Kampfgemeinschaft zur Volksgemeinschaft«, die ideell den »männlichen Geist der Wehrhaftigkeit« pries und konkret ein wehrfähiges Deutsches Reich »auf der Grundlage der Bismarckschen Reichsverfassung« anstrebte. Jeder Bundes­ staat wäre demnach in seinen inneren Angelegenheiten weitgehend selbständig gewesen und nur nach außen durch die Reichsregierung vertreten worden. An der Spitze des Reiches sollte allem Anschein nach ein K ­ aiser stehen, dem die »Besten des Volkes, die nach den Grundsätzen moderner Führer-­Auslese zur Leitung der deutschen Geschicke berufen werden«, zur Seite stehen sollten.114 Führung ist hier in erster Linie Funktion und Dienst, nicht so sehr Mission und Berufung wie im auf Hitler bezogenen Nationalsozialismus.115 Scheubner-­Richters ­Föderalismus 111 Winnig: Heimkehr (wie Anm. 50), S. 54; Leverkuehn: Posten (wie Anm. 22), S. 187; Laqueur: Deutschland (wie Anm. 1), S. 73. – Zu Friedrich Naumann Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860 – 1919). Baden-­Baden 1983; siehe Breuer: Anatomie (wie Anm. 21), S. 22. 112 Ein Ziel, dem sich auch Winnig: Heimkehr (wie Anm. 48), verpflichtet fühlte. 113 Breuer: Anatomie (wie Anm. 23), S. 190. 114 Der Begriff des Kaisers taucht nur in der Definition des Deutschen Reichs als ›Kaiserreich‹ auf (Aktionsprogramm, in: StAMü, STAW 3099, S. 8). Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 60, schreibt, Scheubner-­Richter habe in Kronprinz Rupprecht den »deutschen K ­ aiser der Zukunft gesehen«. 115 Für Breuer: Anatomie (wie Anm. 23), S. 192, ein weiteres Merkmal des ›neuen Nationalismus‹.

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stand dem Zentralismus des ›Dritten Reichs‹ ebenfalls diametral gegenüber. Wie bereits erwähnt war das Staatsbürgerrecht für Scheubner-­Richter nicht an rassische Kriterien, sondern an Leistung und Bekenntnis gekoppelt; vornehmste Pflicht des Staatsbürgers sei der Dienst an der Waffe. Naumanns sozialpolitische Ansätze klangen sogar an, wenn im Manifest dem Staat eine ausgleichende Funktion übertragen wurde und er sich auch der Schwachen annehmen und allen Bürgern Arbeit beschaffen sollte. Ein nationales Paradies harrte hier seiner Gründung, indem anstelle der Klasse oder Rasse das Bekenntnis zum »Deutschen Staats- und Volksgefühl« entscheidend sein sollte. So figurierten die erträumten völkischen Wehrverbände aus solchen Männern, »die im Geist der alten Frontkämpfer von 1914 den Treu- [sic] und Fahneneid zu erneuern bereit sind«, schließlich als eine Art Avantgarde des Volkes, durch ­welche Scheubner-­Richter die den Marxismus prägende Idee des Klassenkampfes praktisch widerlegt sehen wollte. Indem er nicht die Revolutionierung der Welt, sondern eine Nationalisierung der internationalen Revolution anstrebte – genau dies die ideelle Grundlage der ›Weißen Internationalen‹ –, war Scheubner-­Richters nationaler Sozialismus letztlich vom ›Sozialismus in einem Lande‹ Stalin’scher Prägung gar nicht so weit entfernt. Der von Naumanns ›Mitteleuropa‹-Vorstellungen ebenso wie von dessen nationalsozialen Ideen beeinflusste »Vollblutpolitiker« (Boehm) hätte einer deutschen ›Lebensraum‹-Politik im Osten sicher nicht im Weg gestanden, doch scheint er zumindest in den 1920er Jahren das Mittel der ökonomischen Expansion gegenüber einer militärischen Variante bevorzugt zu haben, um eine Hegemoniestellung des neu zu schaffenden Deutschland in Ostmitteleuropa zu erreichen. Insgesamt wird man aber auch seine außenpolitischen Pläne als äußerst widersprüchlich, wenn nicht gar illusionär bezeichnen müssen. Allein die hierbei eine zentrale Rolle spielende Vorstellung eines ›nationalen Russland‹ und damit der Kern der von ihm erträumten ›Weißen Internationale‹ wurde bereits kurz nach seinem Tod ad absurdum geführt, als sein Lebenswerk, die Aufbau-­Gesellschaft, ihr unrühmliches Ende fand: Hatte Scheubner-­Richter im März 1923 noch angenommen, dass dank »einer Zusammenarbeit der nationalen russischen und ukrainischen Kreise [sich] ganz von selbst ein gewisser Ausgleich der Gegensätze unter den beiden slawischen Stämmen« ergeben werde,116 so gelang es Otto von Kursell an der Spitze des Aufbau schon im Jahr darauf nicht mehr, die in eine russische und eine ukrainische Fraktion zerfallene Gruppe zusammenzuhalten.117 ­Georgij V. 116 Redaktionelle Antwort auf einen die unabhängige Entwicklung der Ukraine einfordernden Beitrag: Die ukrainische Frage. In: WAK 3 (1923), Nr. 13, 29. März 1923, S. 4. 117 Siehe Biskupskijs Schreiben an Himmler (wie Anm. 97). Demnach habe sich Biskupskij der ukrainischen Richtung Kursells nicht anschließen wollen.

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Nemirovič-­Dančenko scheint das nahe Ende des Aufbau vorausgesehen zu haben, als er während der Trauerfeierlichkeiten beklagte, die »kleine Familie« der Emigranten stehe verwaist und unverstanden vor dem offenen Grabe. Keiner habe es wie der Verstorbene verstanden, »Menschen, die sich feindlich gesinnt waren, einander zu nähern und sie zu versöhnen«.118 Angesichts des hier zusammengetragenen Materials erscheint es nun tatsächlich als »fraglich«, ob Scheubner-­Richter »für spätere Entwicklungsstufen des Nationalsozialismus überhaupt brauchbar und einsetzbar, vor allem aber für die Partei in ihrer späteren Entwicklung noch tragbar gewesen wäre«, wie es Boehm in Anspielung auf den Röhm-­Putsch von 1934 formulierte.119 Scheubner-­Richter blieb, auch wenn er in den Monaten vor dem Hitler-­Putsch vom November 1923 offenbar einigen Einfluss auf Hitler besaß, ein Außenseiter, der von seinen Parteigenossen nie so recht akzeptiert worden zu sein scheint.120 Als Vertreter eines »neuen Nationalismus« gehörte Scheubner-­Richter zu den Wegbereitern der NSDAP. Allerdings irrte Nolte, wenn er behauptete, ­zwischen Scheubner-­ Richters Grundauffassungen und denen Hitlers habe praktisch kein Unterschied bestanden.121 So steht Scheubner-­Richter beispielhaft für die »Interferenz eigenständiger Entwicklungsmöglichkeiten« mit dem Nationalsozialismus, die nach Breuer dem »neuen Nationalismus« zugestanden werden müsse.122 Sein früher Tod brachte ihn um die freilich ebenso mögliche vollkommene Identifikation mit dem ›Dritten Reich‹ nach 1933. Im Rahmen einer Studie über die Zeit bis 1923 bleibt in Bezug auf die Jahre nach 1933 nur – in dubio pro reo – der Hinweis auf nicht zu unterschätzende Differenzen. Kommen wir auf die im Titel gestellte Frage nach den aus dem Baltikum stammenden Migranten als »Katalysatoren des Antibolschewismus«. Es ist bereits eingangs darauf hingewiesen worden, dass Scheubner-­Richters Einschluss in die Kategorie der ›baltischen‹ Gewährsleute Hitlers nicht ganz eindeutig ist. So sehr 118 G. Nemirovič-­Dančenko: Der Freund des nationalen Rußland. In: WAK 3 (1923), Nr. 46, 1. Dezember 1923, S. 2 f. 119 Boehm: Einflüsse (wie Anm. 2), S. 57 f.; Stephan: Fascists (wie Anm. 57), S. 20, stimmt in der Tendenz zu: Scheubner-­Richter »remainend a conservative who admired storm troopers élan but never embraced national socialism’s nihilist and racist core«. 120 Kurz vor seinem Tod lobte Scheubner-­Richter im Völkischen Beobachter 100 US-Dollar aus für den Nachweis seiner jüdischen Herkunft. Entsprechende Gerüchte waren von Partei­ genossen in Umlauf gebracht worden. Siehe Hanfstaengl: Zwischen Braunem und Weißem Haus (wie Anm. 1), S. 121; In BayHSta, V SlgP 3775, finden sich die entsprechenden Artikel Scheubner-­R ichters: ›Offenem Brief‹ (auch in: WAK 3 [1923], Nr. 45, 9. November 1923, S. 4) sowie die Erklärung aus dem Völkischen Beobachter. 121 Nolte: Vergangenheit (wie Anm. 19), S. 44. 122 Breuer: Anatomie (wie Anm. 23), S. 194.

Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolschewismus?  |

zu vermuten ist, dass die Augenzeugenschaft mancher ›Balten‹ hinsichtlich der Russischen Revolution eine gewisse Bedeutung hatte (so zum Beispiel im Falle Rosenbergs), muss im Falle Scheubner-­Richters darauf hingewiesen werden, dass seine Erfahrung des bolschewistischen Terrorregimes erst in eine Zeit fiel, in der auch viele andere deutsche Militärs noch in der Region waren. Als zumindest gebürtiger ›Balte‹ war er bei weitem nicht der Einzige, der mit Gräuelgeschichten über den Bolschewismus hätte aufwarten können. An »Katalysatoren« herrschte in diesen Jahren kein Mangel – und Scheubner-­Richter ging in gewisser Weise ja sogar darüber hinaus, indem er von Lev Trockij und den bolschewistischen Praktiken lernen wollte. Scheubner-­Richters Herkunft war im München der frühen 1920er Jahre insofern wichtig, als dass sie seinen Gegnern Grund gab, seine Loyalität zur ›nationalen‹ Sache in Frage zu stellen – auch Rosenberg wurde ja von Gegnern gern als ›Jude‹ verunglimpft, auch wenn er wohl eher einige lettische Vorfahren hatte.123 Hinsichtlich der Infragestellung seiner nationalen Loyalität war aber Scheubner-­Richters Aktivität im russisch-­ukrainischen Emigrantenmilieu im zeitgenössischen Kontext weitaus bedeutsamer. Somit bleibt als Fazit nur der Hinweis auf die Fragwürdigkeit derartiger kollektiver Schuldzuweisungen (»die Balten sind schuld«), denn bei näherem Hinsehen waren die jeweiligen Individuen – man denke nur an Scheubner-­Richter und Rosenberg – viel zu unterschiedlich, um als eine Art baltisches Einflüstergremium Hitlers gedient zu haben. Auf den Antibolschewismus hatten sie in den Jahren nach dem Oktober 1917 ohnehin kein Monopol. Und die ›Weiße Internationale‹? Anfang der 1920er Jahre schwirrte eine Vielzahl von möglichen Konstellationen einer derartigen Vereinigung in rechtsextremen, völkischen Kreisen herum. Von rassisch ausgelegten Ausschlusskriterien, in denen mal die ›Arier‹, mal alle ›Germanen‹ Exklusivrechte auf eine Mitgliedschaft erhalten sollten, bis hin zu außenpolitischen Orientierungen, die sich aufgrund ihrer Revisionsabsichten auf die Kreise der Weltkriegsverlierer beschränkten – so wie es grundsätzlich der Kreis um Ludendorff beabsichtigte –, war alles dabei. Als »Internationale […], die sich den Nationalismus auf ihre Fahnen schreibt«, wie es einer der völkischen deutschen Aktivisten Ende 1920 formulierte,124 stand die praktische Umsetzung dieser Idee indes a­ ngesichts der unüber-

123 Toomas Hiio: Noch einmal zu Alfred Rosenberg: Anmerkungen zu einer neuen Biografie. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 13 (2018), S. 161 – 170. 124 Ein Zitat des radikalen Antisemiten Franz Haiser, hier nach Jung: Ideologische Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 426. Zu Haiser siehe Thomas Mittmann: Vom »Günstling« zum »Urfeind« der Juden. Die antisemitische Nietzsche-­Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus (Epistemata, 403). Würzburg 2006, S. 126 – 128.

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sehbaren ideologischen Widersprüche vor gewaltigen Problemen.125 Scheubner-­ Richters nachgelassene Papiere lassen nicht ahnen, wie er derartige ideologische Fragen hätte lösen wollen; auch ihm ging es in erster Linie um Deutschland. Seine Beschränkung auf eine enge Kooperation mit den antibolschewistischen Russen und Ukrainern ergab vor ­diesem Hintergrund allerdings Sinn, waren doch beide auf Hilfe angewiesen, so dass die deutsche Führungsrolle nicht in Gefahr war.

125 Siehe hierzu ausführlich Jung: Ideologische Voraussetzungen (wie Anm. 17), S. 413 – 439.

Agnieszka Pufelska

Stabile Feindbilder gegen die instabile Zeit Der ›jüdische Bolschewismus‹ als Propagandainstrument in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik avancierte das Feindbild des ›jüdischen Bolschewismus‹ zu einer der zentralen Legitimationen für die Gewalt im 20. Jahrhundert. Dieser Vorwurf unterstellt den Juden, sie instrumentalisierten den vom ›Juden‹ Marx erfundenen Kommunismus beziehungsweise Bolschewismus, um mit seiner Hilfe die Weltherrschaft zu errichten. Der ›jüdische Bolschewismus‹ sei neben dem Kapitalismus eine ›jüdische Methode‹, die christliche Zivilisation zu vernichten. Auf diese Weise wird eine kollektive Identität der Juden konstruiert, die sich in einer Affinität zu revolutionären Gedankengut äußert. Die Juden werden durch diesen Vorwurf ebenso stigmatisiert wie die kommunistische Bewegung durch den Vorwurf, eine jüdische Ideologie, gar eine jüdische Erfindung zu sein.

1. Zur Vorgeschichte des Ideologems Die dem Feindbild vom ›jüdischen Bolschewismus‹ zugrunde liegenden Denkmuster reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück, als Juden in der Zeit der nationalen Erweckung und Bewusstseinsbildung zu Indikatoren der feindlichen Prozesse wie Kapitalismus und Sozialismus beziehungsweise der Moderne abgestempelt wurden, wobei die Modernisierung nicht nur die wirtschaftlichen Umwälzungen, sondern auch Veränderungen der kulturellen, mentalen und kognitiven Dimensionen des Alltagslebens umfasste. »Die Modernisierung« konstatiert Peter Niedermüller, »entfachte auch einen symbolischen Kampf um Begriffe, um Ideologien und Identitäten, um das ›Wir-­Gefühl‹ und die Zugehörigkeit, um symbolische Herrschaft und um reale politische Macht, die darauf gründete.«1 Schnell wurde die Gleichsetzung von Juden und Moderne vollzogen und der Antisemitismus mit der Modernisierungsfurcht und -feindlichkeit sowie dem aufkommenden 1 Peter Niedermüller: Zwanzigstes Bild: »Der Kommunist«. In: Julius H. Schoeps/ Joachim Schlör (Hrsg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Frankfurt am Main o. J., S. 274.

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Nationalismus verknüpft. Die Botschaft war eindeutig: Die nach der Weltherrschaft strebenden Juden instrumentalisierten die als fremd definierten Modernisierungsprozesse (Industrialisierung, Urbanisierung oder Pauperisierung), um mit ihrer Hilfe alle nationalen Bestrebungen und Interessen zu bekämpfen.2 Die stark forcierte Verbindung von ›Goldener‹ und ›Roter‹ Internationale macht den Vorwurf des angeblichen jüdischen Weltherrschaftsstrebens besonders deutlich. An die Stelle des ›jüdischen Teufels‹, der die Welt des Christentums zu vernichten beabsichtige, trat nun zunehmend das ›Weltjudentum‹,3 das in allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen im Geheimen versuche, durch sozialistische und kapitalistische Verschwörungen die Weltmacht zu erlangen. Zur Aufforderung der Stunde avancierte nicht nur die Befreiung der politischen Bewegungen vom ›jüdischen Einfluss‹, sondern vor allem die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Staat und der Nation. So gesehen zeugt die Präsenz des Feindbildes vom ›jüdischen Bolschewismus‹ mehr von vorhandener Judenfeindschaft als von Antikommunismus, denn der Grundgedanke lag in der kollektiven Schuldzuweisung, Juden s­ eien nichts anderes als eine ›umstürzlerische‹ und ›verräterische‹ Kraft. Die Beteiligung von zahlreichen Kommunisten jüdischer Abstammung an der revolutionären Bewegung und dem Aufbau des Marxismus-­Leninismus in Russland nach 1917 half, den abstrakten Feind des Kommunismus und Bolschewismus zu personifizieren und die sowjetische Herrschaft auf das absichtsvolle Tun der Juden zu projizieren. Die Schrecken von Revolution und Bürgerkrieg wie die der späteren Repressionen waren fest mit der Gestalt des ›jüdischen Kommissars‹ verbunden. Der Prozentsatz von Kommunisten jüdischer Herkunft in leitenden Positionen war in jedem Falle relativ hoch, die Behauptung, die Macht in Russland gehöre den Juden, blieb dessen ungeachtet falsch. Immerhin bauten die Juden, die sich für das kommunistische System engagierten, keinen jüdischen, sondern einen sowjetischen Staat auf; sie folgten keinen jüdischen, sondern den Interessen der Bolschewiki, und sie arbeiteten auf den verschiedenen Posten des Apparates als Kommunisten und nicht als Juden. Alleine aus d­ iesem Grund ist das Gerede innerhalb des antibolschewistischen und gegenrevolutionären Widerstandes von einer Täterschaft des ›jüdischen Bolschewismus‹ eindeutig als Propaganda antisemitisch orientierter Verschwörer anzusehen.

2 Immer noch aktuell dazu Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. 3 Siehe Ronald Modras: The Catholic Church and Antisemitism. Poland 1933 – 1939. Chur (u. a.) 1994, S. 91.

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Andererseits ist die Frage zu stellen, warum die Juden, die mehrere Pogromwellen und Verfolgung überlebten, die neue Machtkonstellation in Sowjetrussland nicht hätten begrüßen sollen. Schließlich eröffnete die bolschewistische Regierungspolitik – wenigstens offiziell – jüdischen Überlebenden, die ihre Zukunft im revolutionären Russland sahen, die erstmalige Chance auf Gleichberechtigung. Das Zarenreich hatte als einzige europäische Großmacht der jüdischen Bevölkerung die rechtliche Gleichstellung bis zuletzt verwehrt.4 Zahlreiche projüdische Deklarationen und Appelle der Bolschewiki erweckten dagegen den Eindruck, dass die neue Regierung allen russischen Juden gute Bedingungen für ihre Assimilation anbieten wolle. Bereits am 4. April 1918 hob die sowjetische Regierung sämtliche gesetzliche Restriktionen für nationale und religiöse Gruppen auf. An diesen Befreiungsschlag glaubten Kommunisten und Sozialisten unter den Juden ebenso wie zum Teil auch die Zionisten, worauf Edmund Silberner in seiner Studie Kommunisten zur Judenfrage hinweist.5 Auch dank der Tätigkeit der ›jüdischen Sektion‹ innerhalb der bolschewistischen Partei konnten die Juden auf die Verbesserung ihrer prekären Lage hoffen. »Diese organisatorische Gleichstellung«, hebt Thomas Held hervor, »bedeutete die De-­facto-­Anerkennung der Juden als Nation«.6 Außer den offiziell judenfreundlichen Stellungnahmen der neuen Machthaber gab es noch einen ganz realen Grund, warum viele Juden die kommunistische Regierung als Stütze ihrer Zukunft in Russland betrachteten: Der im Frühjahr 1918 einsetzende dreijährige Bürgerkrieg wütete zum größten Teil in den jüdischen Siedlungsgebieten und wurde von unzähligen Pogromen der gegenrevolutionären Verbände begleitet. Alleine in der Ukraine zählte man 1918 bis 1921 über 1200 Pogrome, in denen 31.071 Juden ihr Leben verloren.7 Angesichts der massiven antisemitischen Exzesse versprach die neue Staatsmacht Schutz und persönliche Sicherheit vor Verfolgungen. Für die meisten Juden existierte praktisch keine politische Alternative, der sie sich hätten zuwenden können. Hinzu 4 Siehe Manfred Hildemeier: Die jüdische Frage im Zarenreich. Zum Problem der unterbliebenen Emanzipation. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 321 – 357. 5 Edmund Silberner: Kommunisten zur Judenfrage: Zur Geschichte von ­Theorie und Praxis des Kommunismus. Opladen 1983, S. 185. 6 Thomas Held: Die große Sowjetunion und das »kleine Volk«. Zur Bedeutung und Tradition des Antisemitismus in der sowjetischen Geschichte. In: Kritik und Krise 4/5 (1991), S. 30. 7 Siehe Efim Melamed: »Immortalizing the Crime in History …«: The Activities of the Ostjüdisches Historisches Archiv (Kiev – Berlin – Paris, 1920 – 1940). In: Jörg Schulte/ Olga Tabachnikova/Peter Wagstaff (Hrsg.): The Russian Jewish Diaspora and European Culture, 1917 – 1937. Leiden 2012, S. 375; Silberner: Kommunisten zur Judenfrage (wie Anm. 5), S. 185.

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kommt, dass viele Juden die Angriffe auf die jüdische Bevölkerung als Teil einer gegenrevolutionären Aktion verstanden und bereit waren, sich für die Abwehr derselben einzusetzen. So war man unter den Juden (hauptsächlich unter den Anhängern der Bolschewiki) zumindest partiell dazu bereit, eine möglichst vollständige jüdische Assimilation durchzusetzen. Um im revolutionären Russland eine Existenz aufbauen zu können, mussten sie ihre Herkunft nach Art einer Überkompensation doppelt vergessen machen. Vielfach mutierten sie zu ergebenen Revolutionären und gehörten als Kommunisten zu den treuesten Gefolgsleuten der bolschewistischen Regierung. Zugespitzt heißt das: Wer sich entschied, weiter in Sowjetrussland zu leben, der musste sein Jüdischsein zurückstellen und sich zum Kommunismus bekennen. Wem das nicht gelingen wollte oder wer mit dem Assimilationszwang nicht einverstanden war, dem stand der Weg in die Emigration offen. Die Unterstützung der russischen Juden für den revolutionären Umsturz und die weitverbreiteten judenfeindlichen Einstellungen machte sich die Propaganda der Gegenrevolutionäre zunutze. Um die Bolschewiki als fremd und feindlich anzuprangern, setzte sie sie mit den ›Juden‹ gleich. Dabei kam es zu einer partiellen Umkehrung des bisher gängigen Schemas: Nicht der Jude war der Feind, der Feind war Jude. Auf diese Art und Weise konnte sich im allgemeinen Bewusstsein ein Antisemitismus ohne greifbare Juden etablieren. Man fand den ›jüdischen Bolschewismus‹ überall, selbst dort, wo es keine Juden gab. Alle Veränderungen beziehungsweise Anordnungen der neuen Regierung wurden pauschal als ›jüdisch‹ diffamiert. Zur Popularisierung und Etablierung dieser Verschwörungstheorie- und Praxis trugen vorwiegend die ›weißen‹ konterrevolutionären Kreise, die Orthodoxe K ­ irche sowie die mit ihr verbundenen Intellektuellen bei, wie Ulrich Herbeck herausgearbeitet hat.8 Für die Religionsphilosophen Sergej Bulgakov, Nikolaj Berdjaev, Vasilij Rozanov und Lev Karsavin war die jüdische Beteiligung an der Revolution kein Zufall, sondern ergab sich aus der Vorstellung, dass die sozialistische Idee eine säkularisierte Form des jüdischen Messianismus sei, der jüdischen Erwartung des Himmelreichs auf Erden mit dem jüdischen Messias und dem Satan als Herrn ­dieses Reiches.9 Es war insbesondere Lev D. Trockij, dem die Rolle des Dieners des Satans, des ›roten Teufels‹, zufiel – sowohl rhetorisch als auch visuell. Ein von der Propagandaabteilung der Denikin-­Armee 1919 herausgegebene Plakat veranschaulicht diese Wahrnehmung. 8 Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom »jüdischen Bolschewiken«. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution. Berlin 2009. 9 Ebd., S. 126 – 140.

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Abb. 1 Propagandaplakat der Denikin-­Armee 1919

Dargestellt ist Trockij als rote monsterhaft-­vulgäre Figur, die nackt auf der Kremlmauer sitzt, vor der Tausende Totenschädel liegen. Er trägt eine goldene Kette, an der auf den ersten Eindruck ein Davidstern hängt, bei genauerem Hinsehen aber ein Sowjetstern in Pentagrammform prangt.10 Mit dieser symbolischen Anspielung wird der Bolschewismus zum teuflischen Instrument in den Händen der ›machtund mordsüchtigen Juden‹ erklärt und in der Gestalt Trockijs personifiziert. Er galt und gilt als Sinnbild der revolutionären Bewegung nicht deshalb, weil er einer der führenden Köpfe der Bolschewiki war, sondern weil er Jude war. Durch ihn erreichte die plastische Darstellung vom ›jüdischen Bolschewismus‹ ein Maximum an Wirkungskraft, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Die Rolle der christlichen Religion für die Weiterentwicklung des traditionellen Antijudaismus hin zu einem politisch aufgeladenen ›jüdischen Bolschewismus‹ ist dabei nicht zu übersehen.11 10 Ausführlich darüber Ute Caumanns: Der Teufel in Rot. Trockij und die Ikonographie des »jüdischen Bolschewismus« im polnisch-­sowjetischen Krieg, 1919/20. Abgerufen unter URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/2/Caumanns, letzter Zugriff: 26. 04. 2018. 11 Ebd.

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Zum Kreis der konservativen Intellektuellen, die die Revolutionen in Russland auf das Wirken des ›jüdischen Satans‹ zurückführten, gehörte auch der Herausgeber der Protokolle der Weisen von Zion Sergej Nilus. In seinen fiktiven und zum ersten Mal 1905 veröffentlichen Protokollen entwickeln angebliche Führer einer jüdischen Weltverschwörung die Pläne für eine endgültige Weltherrschaft. Diese solle mit Hilfe so unterschiedlicher Bewegungen wie der Freimaurerei, des Liberalismus, des Sozialismus, des Anarchismus und des Kommunismus erreicht werden.12 Mit der Emigration und der Flucht aus den russischen Revolutions- und Bürgerkriegsgebieten verbreitete sich die von Nilus und seinen Anhängern propagierte apokalyptische Verschwörungstheorie in kürzester Zeit über große Teile Europas und stieß insbesondere in den kriegstraumatisierten und krisengeschüttelten jungen Nachkriegsstaaten auf große Resonanz, darunter in der Weimarer Republik.

2. Die Identifikation mit dem Judentum und dem Bolschewismus als Orientierungshilfe In der von Putschversuchen, Aufständen und Streiks erschütterten jungen Republik fiel das Schreckensbild vom ›jüdischen Bolschewismus‹ auf fruchtbaren Boden und die russischen Flüchtlinge aus den Gebieten des ehemaligen Zarenreiches trugen wesentlich zu seiner Verbreitung bei. Um nur ein Beispiel zu nennen: Durch Pëtr Nikolajevič Šabel’ski-­Bork und Fëdor Viktorovič Vinberg, zwei russische Angehörige der paramilitärischen, radikal antisemitischen Vereinigung der Schwarzen Hundertschaften, die gleich zu Beginn des Bürgerkrieges Russland verließen und in Berlin Zuflucht fanden, erhielt Ludwig Müller von Hausen alias Gottfried zur Beek im November 1919 eine russische Ausgabe der Protokolle der Weisen von Zion in der Version von Nilus. Zur Beek, Hauptmann a. D., veröffentlichte 1920 die erste deutschsprachige Version der Protokolle unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion im selben Verlag, in dem auch die von ihm herausgegebene antisemitische Zeitschrift Auf Vorposten erschien. Die Finanzierung der Erstausgabe der Protokolle übernahm das Mitglied des Altdeutschen Verbandes und der entschiedene Gegner der Republik Fürst Otto zu

12 Siehe Michael Hagemeister: Die Protokolle der Weisen von Zion – eine Anti-­Utopie oder der Große Plan in der Geschichte? In: Helmut Reinalter (Hrsg.): Verschwörungstheorien. ­Theorie – Geschichte – Wirkung. Innsbruck 2002, S. 46; ders.: Der Mythos der Protokolle der Weisen von Zion. In: Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück 2001, S. 93 – 95.

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Salm-­Horstmar, der das Geld von einigen Mitgliedern des ehemaligen preußischen Herrenhauses und von den entthronten Hohenzollern bekam. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nazis waren von zur Beeks Ausgabe bereits 33 Auflagen erschienen, jede in einer Höhe von ca. 120.000 Exemplaren. Zudem hatte inzwischen Theodor Fritsch eine Volksausgabe herausgebracht, die eine Gesamtauflage von 100.000 Stück erreichte.13 Die Entstehung und Verfestigung des Propagandakonstruktes des ›jüdischen Bolschewismus‹ in der Weimarer Republik hatten aber keinesfalls alleine die russischen Migranten zu verantworten. Ihre Aktivität brachte keine neuen judenfeindlichen Bilder hervor, sondern bestätigte die bereits vorhandenen.14 Schon 1918 hatte die radikale Rechte den Ursprung der Novemberrevolution auf einen starken jüdischen Einfluss zurückgeführt. Die maßgeblichen Anführer der Revolte, verkündete ihre antisemitische Propaganda, s­ eien Juden: Rosa Luxemburg und Leo Jogiches.15 Auch Emissäre und Trockijs Verbündete wie der russische Botschafter in Berlin Adolph Joffe oder der im polnischen Lwów (Lemberg) geborene engagierte Mitbegründer der KPD Karl Radek wurden als Hintermänner des ›jüdischen Bolschewismus‹ charakterisiert. Als Hort der ›jüdischen Subversion‹ erschien den radikalen Rechten ebenfalls die unabhängige Sozialdemokratie (USPD), weil in ihr einige jüdische Politiker in hohe Positionen gelangt waren.16 Doch nicht nur im Landesinneren wurde zum Widerstand gegen den ›jüdischen Bolschewismus‹ aufgerufen. In seiner Arbeit über die Ostfront während des E ­ rsten Weltkrieges hat Frank Grelka nachgewiesen, dass sich die deutsche Besatzungsverwaltung die in weiten Kreisen der lokalen Bevölkerung verbreitete Auffassung von den ›bolschewistischen Juden‹ sehr schnell zu eigen machte.17 Bereits im April 1918 warnte das Oberkommando der Reichswehr die deutschen Besatzungstruppen in der Ukraine – die Heeresgruppe Eichhorn – vor den ukrainischen Juden, die »natürliche Feinde der Ordnung« ­seien, da sie den 13 Armin Pfahl-­Traughber: Das Schlagwort von den »Juden und Freimaurern« in der Weimarer Republik – Zur Wirkungsgeschichte des antisemitisch- antifreimaurerischen Verschwörungsmythos. In: Helmut Reinalter (Hrsg.): Freimaurer und Geheimbünde im 19. und 20. Jahrhundert in Mitteleuropa. Innsbruck 2016, o. S. 14 Allgemein dazu Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. Bonn 1999. 15 Siehe Joachim Schröder: Der Erste Weltkrieg und der »jüdische Bolschewismus«. In: Gerd Krumeich (Hrsg.): Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg. Essen 2010, S. 91. 16 Ebd., S. 92. 17 Frank Grelka: »Jüdischer Bolschewismus«. Zur Tradition eines Feindbildes in der Ukraine unter deutscher Militärverwaltung 1918 und 1941. In: Günther Kronenbitter (Hrsg.): Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Paderborn 2006, S. 177 – 189.

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Bolschewismus unterstützten.18 »Ein jüdischer Einfluss wurde bezeichnenderweise überall dort vermutet«, resümiert Joachim Schröder, »wo die Besatzungsverwaltung auf Schwierigkeiten bei der Durchführung ihrer Politik stieß, die auf exzessive Ausbeutung des Landes für eigene Kriegszwecke ausgerichtet war, oder wenn es ihr nicht im gewünschten Maße gelang, ›Ruhe und Ordnung‹ aufrecht zu erhalten.«19 Für Schröder ist es offensichtlich, dass die Träger der deutschen Besatzungsherrschaft in Russland, der Ukraine und im Baltikum als Transformatoren und Multiplikatoren antibolschewistischer und damit antisemitischer Haltungen in der Weimarer Zeit fungierten.20 Unter diesen ›Multiplikatoren‹ kommt den ehemaligen Mitarbeitern der deutschen Gesandtschaft in Moskau eine besonders wichtige Rolle zu. Ihr bekanntester Vertreter war sicherlich Eduard Stadler, der nach eigener Aussage die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht veranlasste. 1918 war er aus russischer Kriegsgefangenschaft geflohen und hatte nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Dezember 1918 die Antibolschewistische Liga gegründet. Diese Vereinigung entfaltete in den ersten Monaten des Jahres 1919 eine enorme Propagandatätigkeit, finanziert durch den Antibolschewismusfonds der deutschen Wirtschaft in Höhe von 500 Millionen Reichsmark.21 Aus d­ iesem Fonds wurden neben den Kosten für die umfangreiche Propagandaaktivität auch die Freikorps finanziert. Beim Zustandekommen der Finanzierungsform wurde Stadtler vor allem durch das ehemalige Direktoriumsmitglied der Deutschen Bank Karl Helfferich unterstützt, der als kurzzeitiger Nachfolger des ermordeten Botschafters Wilhelm Graf von Mirbach-­ Harff ebenfalls einige Wochen in Moskau verbracht hatte. Nach dem Krieg war Helfferich führender Politiker der Deutschnationalen Volkspartei und »einer der rabiatesten rechtsradikalen Antisemiten«.22 Durch seine Schmährede gegen Walther Rathenau wird er als indirekt mitverantwortlich für dessen Ermordung bezeichnet. So unterschiedlich ausgeprägt der Antisemitismus von Stadtler und Helfferich auch war, so einig waren sie sich in der Meinung: Der ›Bolschewismus‹ müsse möglichst schnell eingedämmt und aus Deutschland ferngehalten werden.23 Die Aufforderung zur Abwehr ›des Bolschewismus‹ resultierte aus der Angst vor einer Revolution von links, die im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ganz unbegründet schien. Neben der Novemberrevolution wurden die 18 Ebd., S. 181. 19 Schröder: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 15), S. 85. 20 Ebd., S. 87. 21 Ebd., S. 92. 22 Ebd. 23 Ebd.

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darauffolgenden Versuche an mehreren Orten des Reichs, sogenannte Räterepubliken zu errichten, und die intensivierte ›linke‹ Propaganda von der ›Weltrevolution‹ in den konservativen und nationalen Kreisen als eindeutige Anzeichen der bolschewistischen Machtübernahme in Deutschland wahrgenommen und interpretiert. Um die vermeintliche jüdisch-­bolschewistische Gefahr rechtzeitig abzuwenden, riefen sie zu einem nationalen Schulterschluss auf. Als Hauptziel galt die Konstituierung einer ethnisch-­homogenen (auch rassisch definierten) Nation, die als unvereinbar mit der Existenz einer kommunistischen Bewegung und einer jüdischen Minderheit gesehen wurde. Im antisemitischen Diskurs der Weimarer Republik blieb der Nexus z­ wischen ›Juden‹ und dem ›Bolschewismus‹ daher durchgehend präsent, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Er verfestigte sich zu einem Feindbild, das sich ablehnend auf Personen und Menschengruppen sowie auf politische Sachverhalte und historische Prozesse bezog. Entscheidend für den Durchbruch des Propagandakonstrukts vom ›jüdischen Bolschewismus‹ war die kurzlebige zweite Münchener Räterepublik (13. April bis 1. Mai 1919). In ihr bündelten sich alle antisemitischen Schuldzuweisungen, die die Wahrnehmung der Juden in der Weimarer Republik bestimmten und zu einer Radikalisierung der Politik beitrugen. Die Ermordung des ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner durch den ›völkisch‹-nationalistisch gesinnten Student Anton Graf von Arco auf Valley im Februar 1919 ist dafür der beste Beleg. Die antisemitische Hetzkampagne gegen Eisner als den ›verräterischen Ostjuden‹, der sich offen zur deutschen Kriegsschuld bekannte, trug zu einem Klima bei, in dem politischer Mord als legitimes Mittel gegen die Herrschaft der ›Juden‹ und ›Kommunisten‹ angesehen wurde.24 Ein jüdischer Beobachter berichtete über ein massives Anwachsen des Antisemitismus im Frühjahr 1919: »Bayern ist ein Hexenkessel geworden. […] Sofort setzten Versuche ein, das Volk gegen die Kommunisten antisemitisch aufzuputschen.«25 Auch Alfred Wiener vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens klagte ein paar Monate später über die »gewaltige antisemitische Sturmflut«, die über die deutschen Juden hereingebrochen sei.26 Dabei war die Vorstellung, dass vor allem die polnischen und russischen Juden, häufig als ›Ostjuden‹ bezeichnet, zu den treibenden Kräften der revolutionären Unruhen gehörten, keine Spezialität der rechtsradikalen oder nationalistischen 24 Siehe Jörn Retterath: »Was ist das Volk?«: Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917 – 1924 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 110). Berlin 2016, S. 177. 25 Zit. nach Schröder: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 15), S. 95. 26 Ebd.

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Parteien. Auch in dem Zentralorgan der SPD Vorwärts konnte man derlei Aussagen vereinzelt finden.27 Ihre Kritik richtete sich vorwiegend gegen die Zuwanderung der osteuropäischen Juden, die parteiübergreifend als Träger der revolutionären Ideen galten. Erinnert sei in d­ iesem Zusammenhang auch an Thomas Mann, der über den zeitgenössisch als neu empfundenen ›Typus‹ des ›russischen Juden‹ als Anführer revolutionärer ›Weltbewegungen‹ im Mai 1919 urteilte: »Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muss mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen.«28 Zur Abwehr der als fremd und bolschewistisch wahrgenommenen Juden rief aber auch die eigentlich zur Nächstenliebe verpflichtete christliche Propaganda auf. Doch im Gegensatz zu der meist politisch fundierten Kritik der SPD basierten ihre judenfeindlichen Stellungnahmen auf den ethnisch-­nationalistischen Konzepten, die Abstammung, Herkunft, Religion miteinander vermischten und letztendlich der Exklusion aller und nicht ›nur‹ der osteuropäischen Juden dienten. Als der Ausgang der Novemberrevolution mehr oder weniger vorauszusehen war und der Spartakusbund beziehungsweise die neugegründete KPD verzweifelt zum Sturz der Restregierung Eberts aufrief, erschien ein anonymes Flugblatt, das die aufständischen Unruhen in Berlin aus christlicher Perspektive erklärte: Es hat keinen Wert um Dinge die sind, herumzureden: Es ist feige – daher undeutsch – Tatsachen auszuweichen, die täglich frecher sich zeigen: Der Bolschewismus ist der neuste Trumpf der Juden. Spartakus ist nichts weiter als der Judaskuss, den die als Schnorrer zu uns gekommenen Hebräer dem christlichen deutschen Volke um fremdes Geld aufdrückten! Ihrem Modernateni [religiösen Ritus] fügten die Juden aller Branchen die holde Zunft der Marodeure, Zuhälter, und des Berliner Pöbels hinzu, um ihre brutale Staat- und Kirchenfeindliche jüdische Gewaltherrschaft auf den Trümmern friedlicher deutscher Heimstätten aufzubauen! Wie lange soll das Treiben noch angehen? Hat das verratene, aus unzähligen Wunden blutende und von außen und innen mehr denn je bedrohte Deutschland noch nicht genug gelitten? Wollen wir, die wir alles, alles opfern, uns noch in den Bürgerkrieg hetzen lassen, uns zerfleischen, während das Volk Israel unsere heiligsten Werte schamlos mit Füssen tritt? Bolschewismus ist die neueste Fabrikmarke für Judaismus.29

27 Siehe Susanne Wein: Antisemitismus im Reichstag. Frankfurt am Main 2012, S. 135 f. 28 Thomas Mann: Tagebücher 1918 – 1921. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1981, S. 223. 29 Als Abbildung abgedruckt in: Johannes Rogalla von Bieberstein: »Jüdischer Bolschewismus«. Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte. Dresden 2002, o. S.

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Abgesehen von der bewusst intendierten Verbindung von christlichem Antijudaismus und Antisemitismus macht ­dieses Flugblatt deutlich, ­welche judenfeindlichen Vorurteile unter dem Feindbild des ›jüdischen Bolschewismus‹ in der Weimarer Republik subsumiert wurden: zum einen die Kriegsniederlage, zum anderen die Novemberrevolution und die Zuwanderung der osteuropäischen Juden und schließlich der Aufbau der Demokratie, der fast alle konservativen Leitbilder und Autoritäten zerstörte. Der ›Bolschewismus‹ wurde zu einer Metapher »für die Auflösung der alten Ordnung und ­Sitten, Kunst- und Lebensauffassungen«, hebt Eva Horn hervor.30 Der Mythos von der vernichtenden Kraft des ›jüdischen Bolschewismus‹ korrespondierte dabei treffend mit dem Mythos der deutschen Opferrolle. Die Kriegsschuldthese und der Versailler Vertrag wurden von den meisten Deutschen als enorme Demütigung gesehen.31 Die Dolchstoßlegende und die Stilisierung der Juden als Verantwortliche für die Niederlage perpetuierten nicht nur die Auffassung vom deutschen Opferstatus, sondern führten auch dazu, dass der für die Argumentation notwendige Täter im Inneren gesucht wurde. Und in der Tat: Der Kampf deutscher Staatsbürger jüdischer Abstammung in der deutschen Armee im ­Ersten Weltkrieg durfte nicht erinnert werden, die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Gesellschaft wurde schnell als ›zersetzend‹ diffamiert. Die Unterzeichnung des deutsch-­sowjetischen Vertrages von Rapallo (1922) durch den Außenminister Walther Rathenau verstärkte die herrschende antisemitische Überzeugung von der Verbindung z­ wischen der ›Roten‹ und ›Goldenen‹ Internationale, wie das angeblich jüdisch beherrschte internationale Finanzkapital charakterisiert wurde. Das Bild vom ›jüdischen Bolschewiken‹ gewann neue Konturen, weil die vermeintliche bolschewistische Bedrohung immer häufiger mit einer inneren verräterischen Gemeinschaft assoziiert wurde. Eindeutig war die Botschaft der antisemitischen Propaganda: Alle Juden s­ eien Verräter, weil sie auf der Seite der Bolschewiki stünden oder den Bolschewismus mehr oder weniger ›verschleiert‹ verbreiteten. Gewaltakte gegen Juden erhielten so den Charakter patriotischer Pflichterfüllung, und Antisemitismus galt häufig als Präventivmaßnahme zum Schutz Deutschlands und der ganzen christlichen Welt. Die Angst vor den ›bolschewistischen Feinden‹ schlug in aggressive Abgrenzung um.

30 Eva Horn: Das Gespenst der Arkana. Verschwörungsfiktion und Textstruktur der »Protokolle der Weisen von Zion«. In: dies./Michael Hagemeister (Hrsg.): Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der »Protokolle der Weisen von Zion«. Göttingen 2012, S. 2. 31 Siehe Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im ­Ersten Weltkrieg 1914 – 1933. Düsseldorf 2003.

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3. Der Feind kommt von innen Der Gegensatz ­zwischen Nationalismus und Bolschewismus wurde zum zen­ tralen Ideologem der nationalsozialistischen Bewegung erklärt. Dabei war die Vorstellung des Bolschewismus bei den Nationalsozialisten und anderen völkischen Gruppierungen, wie dem Deutsch-­Völkischen Schutz- und Trutzbund in der Weimarer Republik, durchgehend in einen antisemitischen Kontext eingebunden. Zu ihrer medialen Popularisierung und Etablierung trug vor allem die seit 1918 in München erscheinende Wochenzeitung Auf gut Deutsch! von Dietrich Eckart bei. Eine Testausgabe der Wochenzeitung erschien erstmals am 7. Dezember 1918 mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren. In der Folgezeit pendelte sich die Auflage aufgrund mangelnder Nachfrage jedoch ­zwischen 5000 und 20.000 Exemplaren ein. Die Zeitung erreichte primär Abonnenten, wurde aber auch im Münchner Pressehandel zum Verkauf angeboten und durch Kontakte Eckarts zu völkischen Netzwerken gelegentlich reichsweit versandt.32 Das publizistische Ziel Eckarts war die Gründung und Verbreitung einer radikal antisemitischen Weltanschauung, die das ›Judentum‹ als den Urheber jeder deutschfeindlichen Tat erscheinen ließ. Aus ­diesem Grund gab es auch keinen Artikel in der fast drei Jahre existierenden Zeitung, der die ›Judenfrage‹ nicht zumindest streifte.33 Bei der Verbreitung und Produktion antisemitischer Feindbilder in Auf gut Deutsch! wurde Dietrich Eckart von Alfred Rosenberg kräftig unterstützt. Der aus Tallinn stammende Rosenberg zog im Dezember 1918 nach München, wo er sich laut eigener Aussage gleich nach seiner Ankunft nach politischen Weggefährten im ›Kampf‹ gegen den Bolschewismus umschaute.34 Die Suche ­dauerte nicht lange, denn bereits im Februar 1919 erschien sein erster Beitrag für Auf gut Deutsch! unter dem Titel Die russisch-­jüdische Revolution.35 Die Botschaft des Artikels kann als programmatisch für die NS -Propaganda betrachtet ­werden: Die Russische Revolution sei eine gerechtfertigte Reaktion des geknechteten Volkes gewesen, das, mit dem Kampf gegen die zaristische Unterdrückung beschäftigt, übersehen habe, wie die Juden mit Hilfe des Bolschewismus die Macht an sich rissen. 32 Siehe Sebastian Balling: Der »Jüdische Bolschewismus«. Zur Genese eines national­ sozialistischen Feindbildes 1918 – 1926. Hamburg 2016, S. 13; Ernst Piper: Alfred R ­ osenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005, S. 79. 33 Siehe Balling: Der »Jüdische Bolschewismus« (wie Anm. 32), S. 15. 34 Alfred Rosenberg: Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis. München 1928, S. 44 f. 35 Alfred Rosenberg: Die russisch-­jüdische Revolution. In: Auf gut Deutsch! 8 (1919), S. 120.

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Die Seele dieser Strömung war der allbekannte Braunstein, alias Trotzki, ein Jude aus dem jekaterinoslawischen Gouvernement, und sein Blutsgenosse Apfelbaum, genannt Sinowjew. An diese beiden und an den Russo-­Tataren Lenin schloss sich der jüdische Geist mit seiner ganzen Energie an. Juden waren es, w ­ elche auf den Straßen, in den Kasernen und Lazaretten, in Versammlungen und an der Front allen Friede, Freiheit und Brot versprachen, allgemeine Verbrüderung mit den Deutschen forderten, kurz mit bewusster Lüge den Staat zu desorganisieren trachteten.36

Mit ­diesem Artikel machte Rosenberg das Thema des ›jüdischen Bolschewismus‹ zu seinem Spezialgebiet. Zunächst in Auf gut Deutsch! und dann im Völkischen Beobachter veröffentlichte er zahlreiche Beiträge, in denen er die bolschewistische Herrschaft in Russland als jüdische Schreckensherrschaft portraitierte. Der Bezug auf die angeblich drohende Gefahr aus Russland war ein geschickter Schachzug Rosenbergs und seiner Gleichgesinnten, um bei vielen Deutschen, die den politischen Veränderungen der Jahre 1918 und 1919 ablehnend, unverständig oder skeptisch gegenüberstanden, Ängste hervorzurufen. In einem solchen Klima konnten sie ihre Partei problemlos als die einzig wahre Verteidigerin des Vaterlandes präsentieren und alle oppositionellen und linken Gruppierungen zu ›Judenknechten‹ deklassieren.37 Ab Herbst 1919 unterstützte der Zeichner Otto von Kursell das Duo Rosenberg-­ Eckart in ihrer Arbeit gegen den ›jüdischen Bolschewismus‹. Er lieferte die passenden Bilder zu Eckarts und Rosenbergs antibolschewistischen und antisemitischen Texten, indem er mit Hilfe gezeichneter Konterfeis die archetypische Figur des ›jüdischen Bolschewisten‹ konstruierte. Die im Deutschen Volksverlag 1921 veröffentliche Broschüre Totengräber Russlands war ihre bekannteste Gemeinschaftsproduktion. Kursell drückte dabei in zeichnerischer Form das aus, was Eckart in seinen meist k­ urzen Reimen und Rosenberg mit seiner Einleitung über den ›jüdischen Bolschewisten‹ zu berichten hatten. Mit dieser Text-­Bild-­Komposition, bestehend aus 29 Porträtzeichnungen, schufen sie eine der Standardformen der national­ sozialistischen Variante des ›jüdischen Bolschewismus‹. Sie zeigt die ›jüdischen Bolschewisten‹ als entmenschlichte und degenerierte Monsterwesen, die »Ekel, Angst, Aggression« und »Distanzierung« beim Betrachter hervorrufen sollten.38

36 Ebd., S. 121. 37 Siehe Wolfram Meyer zu Uptrup: Kampf gegen die »jüdische Weltverschwörung«. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919 – 1945. Berlin 2003, S. 204. 38 Julia Schäfer: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918 – 1933. Frankfurt am Main 2005, S. 68. Ausführlich darüber auch Balling: Der »Jüdische Bolschewismus« (wie Anm. 32), S. 52 – 58.

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Abb. 2  Die Broschüre Die Totengräber Russlands zeigt einen entfremdeten Zinov’ev

Es ist charakteristisch, dass in der antisemitischen Propaganda des Münchner Triumvirats, zu dem neben Rosenberg, Eckart und Kursell auch die Führungsfigur der NSDAP Ludwig von Scheubner-­Richter oder der russische Exilant ­Grigorij Nemirovič-­Dančenko gehörten, immer wieder eine Parallele z­ wischen den Geschehnissen in Russland und Deutschland hergestellt wurde. Möglich wurde dieser Vergleich auch dank der Bedeutungsoffenheit des Begriffs Bolschewismus. Als Kampfbegriff konnte er mit beliebigen Vorstellungen gefüllt und zur Beschreibung gänzlich voneinander verschiedener Situationen genutzt werden. Der Nexus z­ wischen ›Juden‹ und dem ›Bolschewismus‹ war dementsprechend kein Widerspruch, sondern geradezu die Bedingung für die nationalsozialistische Ideologie, um den Bolschewismusbegriff als überzeugendes Argument für die Gräuelpropaganda, Dämonisierungsstrategien und Krankheitsmetaphern zu verwenden. Das ›Jüdische‹ verlieh ihm die notwendige und gewünschte stark pejorative Konnotation und Ausrichtung.39

39 Siehe Balling: Der »Jüdische Bolschewismus« (wie Anm. 32), S. 43.

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Die Mitglieder der NSDAP, die die deutsche Frontstellung zur sowjetischen Revolutionspolitik ablehnten, betrachteten das Beharren der Münchner Parteigenossen auf dem Ideologem vom ›jüdischen Bolschewismus‹ skeptisch bis ablehnend, worauf Gerd Koenen überzeugend hingewiesen hat.40 Im Unterschied zu den Münchnern verband der nordwestdeutsche Parteiflügel der NSDAP mit Gregor Strasser und Joseph Goebbels an der Spitze völkisches Denken mit dem Konzept eines Deutschen Sozialismus, der dezidiert antikapitalistisch auftrat und ein Bündnis mit einem bolschewistisch-­antikapitalistischen Russland durchaus in Betracht zog. Damit formulierten sie eine vollkommen andere Bolschewismusdeutung als die Mehrheit der deutschvölkischen Antisemiten am Rande und außerhalb der NSDAP. Im Winter 1925/26 verklärten die sogenannten Elberfelder um Strasser und Goebbels den Bolschewismus sowie die Sowjetunion zu antisemitisch-­ nationalistischen Befreiungsprojekten. Lenin erschien bei ihnen nicht mehr als ›jüdisches Werkzeug‹ zur Verschleierung ›jüdisch-­bolschewistischer‹ Pläne, wie es insbesondere Rosenberg immer wieder betont hatte, sondern als ›Befreier‹ des russischen Volkes.41 Den anhaltenden ideologischen Riss in der heterogenen Partei beendete Hitler, indem er, entgegen der Hoffnungen von Goebbels, einem Bündnis mit Russland eine Absage erteilte und mit dem Feindbild des ›jüdischen Bolschewismus‹ seine Pläne zur Eroberung von ›Lebensraum‹ in Russland rechtfertigte. In Mein Kampf heißt es dazu: Die Organisation eines russischen Staatsgebildes war nicht das Ergebnis der staatspolitischen Fähigkeit des Slawentums in Rußland, als vielmehr nur ein wundervolles Beispiel für die staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elements in einer minderwertigen Rasse. […] Seit Jahrhunderten zehrte Rußland von ­diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten. An seine Stelle ist der Jude getreten. So unmöglich es dem Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch der Juden abzuschütteln, so unmöglich ist es dem Juden, das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten.42

Die in Mein Kampf so eindeutig formulierte Überzeugung, wonach der Bolschewismus einen genuin jüdischen Charakter aufweise, wurde von Hitler inflationär 40 Gerd Koenen: Überprüfungen an einem »Nexus«. Der Bolschewismus und die deutschen Intellektuellen nach Revolution und Weltkrieg 1917 – 1924. In: Tel Aviver Jahrbücher für deutsche Geschichte 24 (1995), S. 359 – 391. 41 Christoph Dieckmann: »Jüdischer Bolschewismus« 1917 bis 1921: Überlegungen zu Verbreitung, Wirkungsweise und jüdischen Reaktionen (Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 2012). Frankfurt am Main 2012, S. 75; Balling: Der »Jüdische Bolschewismus« (wie Anm. 32), S. 84 – 86. 42 Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1936, S. 742 f.

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vertreten und schwankte hinsichtlich seines Verhältnisses zu Russland beziehungsweise zur Sowjetunion. Er sprach auch vorwiegend vom ›jüdischen Marxismus‹ und nicht vom ›jüdischen Bolschewismus‹. Zwar zweifelte er nicht daran, dass ›die‹ Juden die Russische Revolution gelenkt hätten, doch seine Einstellung zum Bolschewismus, wie er von Lenin oder besonders von Stalin vertreten wurde, war durchaus ambivalent. Mit dem Aufstieg Stalins und der von ihm eingesetzten Verfolgung der Trotzkisten, die als eigentliche ›jüdisch-­bolschewistische Verschwörer‹ verstanden wurden, wandelte sich Hitlers Wahrnehmung des Bolschewismus. Sowjetrussland galt für ihn nunmehr als ein aufsteigendes und für die europäische Zivilisation gefährliches Imperium und weniger als Sitz des ›jüdischen Bolschewismus‹. Gerade weil der Nexus z­ wischen ›Juden‹ und dem ›Bolschewismus‹ – spätestens seit dem Ende der 1920er Jahre – einer Realitätsprüfung nicht standgehalten hätte, benötigte Hitler ein übergreifendes Prinzip zur Formulierung seines weltumfassenden Bedrohungsszenarios. Folgerichtig griff er immer wieder auf den Begriff des ›jüdischen Marxismus‹ und kaum auf den des ›jüdischen Bolschewismus‹ zurück. Dieser Rückgriff erlaubte es ihm, den ›Marxismus‹ mit dem ›jüdischen Wesen‹ in Verbindung zu bringen und somit seinen Ursprung bereits in der Antike auszumachen.43 So gesehen war das Feindbild des ›jüdischen Bolschewismus‹ für Hitler nicht nur aus politischen Gründen inadäquat, sondern er erschien ihm geografisch und zeitlich zu begrenzt, um seine Vision von der Jahrhunderte anhaltenden ›Herrschaft des Weltjuden­tums‹ zu vermitteln. Die Vorstellung Hitlers vom ›jüdischen Marxismus‹ machte dagegen deutlich, dass nicht der Bolschewismus das historische Subjekt im propagierten Ideologem vom ›jüdischen Bolschewismus‹ war, sondern das ›Weltjudentum‹: »Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrtausenden menschenleer durch den Äther ziehen.«44 Hitler betrachtete den Bolschewismus also als ein Instrument des ›jüdischen Marxismus‹. Mit dieser Überzeugung bestätigte und beförderte er die längst etablierten antisemitischen Verschwörungstheorien, die den Bolschewismus als terroristische Speerspitze des ›internationalen Finanzjudentums‹ darstellten. Beeinflusst wurde Hitler dabei durch die Lektüre von den Protokollen der Weisen von Zion, von Henry Fords Beststeller Der internationale Jude (1922) sowie von den frühen Publikationen der Münchner Antisemiten. Dazu gehörten ­solche Autoren wie der heute fast vergessene Bauunternehmer Gottfried Feder, der im 43 Siehe Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. München 1998, S. 113. 44 Hitler: Mein Kampf (wie Anm. 42), S. 69 f.

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Frühjahr 1919 eine Broschüre mit dem Titel Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes veröffentlichte.45 Feders veröffentlichtes Manifest galt als Gegenentwurf zum Kommunistischen Manifest und erhob den Anspruch, den ›wahren Sozialismus‹ darzustellen. Sein Begriff Zinsknechtschaft entwickelte sich zu einem ­weitverbreiteten wirtschaftspolitischen Schlagwort im antisemitischen Diskurs der Weimarer Zeit. Mit ihm »lieferten Feder und seine Adepten ein simplizistisches Erklärungsmuster für die Eigenschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems, durch die Verzinsung geliehenen Geldes ohne schaffenden Eigenanteil einen Mehrwert zu erzeugen«.46 In seinem Manifest beklagte der Münchner Bauunternehmer Feder, wie sehr »die ganze Menschheit« unter der »Gewaltherrschaft des Geldes« leide, die von den Juden ausgeübt werde und die er als »Mammonismus« charakterisierte.47 Um den »Mammonismus« zu fördern, bedienten sich die Juden neben der ›Goldenen Internationalen‹ des Marxismus. Dies könne man daran erkennen, dass »die sozialistische Gedankenwelt von Marx bis Engels, vom kommunistischen Manifest angefangen bis herauf zum Erfurter Programm […] wie auf Kommando« vor der eigentlich notwendigen Sozialisierung des Finanzkapitals Halt gemacht habe.48 Der Übermacht des Finanzkapitals musste, so Feders Folgerung, auch der Bolschewismus weichen. Ursprünglich als »Reaktion« auf den »Mammonismus […] im Osten« entstanden, sei er jedoch letztlich durch seinen Angriff auf das »Industriekapital« gescheitert.49 Folglich sei der Bolschewismus für die Zwecke des »Großkapitals« durch die »bereits stark mammonistisch verseuchte Sozialdemokratie« eingespannt worden, um »die Vertrustung aller Industrien herbeizuführen und überall Riesenkonzerne zu bilden«.50 Feders ­Theorie der ›Zinsknechtschaft‹ passte hervorragend zu der Unterscheidung in ›schaffendes‹ und ›raffendes‹ Kapital, die die Ideologie und Propaganda der Nationalsozialisten entscheidend prägte. Diese Form der Kapitalismuskritik war populär und wurde intensiv eingesetzt, weil sie die deutsche ›Volksgemeinschaft‹ unbeschadet zu erhalten und ihre Homogenität nicht 45 Gottfried Feder: Das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes. München 1919. 46 Balling: Der »Jüdische Bolschewismus« (wie Anm. 32), S. 9; siehe dazu auch ­Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, ­Theorie, Politik 1933 – 1945. Frankfurt am Main 1988, S. 29 f. 47 Feder: Das Manifest zur Brechung (wie Anm. 45), S. 36. 48 Ebd., S. 20. 49 Ebd., S. 15. 50 Ebd., S. 61.

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zu gefährden versprach – der Feind stand nunmehr außerhalb und war klar abgrenzbar vom ›Eigenen‹. Das üble und zersetzende Finanzkapital wurde mit den ›raffenden Juden‹ gleichgesetzt.51 Der Bolschewismus galt als sein fester Bestandteil beziehungsweise als sein Mittel, mit dem das weltumspannende Wirtschaftssystem errichtet werden sollte. Die Behauptung, wonach der ›jüdische Bolschewismus‹ ein reines, von außen implantiertes Instrument des ›internationalen Finanzjudentums‹ sei, das im Inneren des Landes nach der politischen Machtübernahme strebe, bestimmte die antisemitischen Ideologeme der Weimarer Republik. Als 1922 Reichsaußenminister Walther Rathenau von Rechtsextremisten der geheimen paramilitärischen Organisation Consul ermordet wurde, rechtfertigten ihre Verteidiger das Attentat mit dem Argument, er sei ein ›Weiser von Zion‹ gewesen, und der von ihm ausgehandelte Rapallo-­ Vertrag mit Sowjetrussland beweise lediglich, dass er den Bolschewismus nutze, um die jüdische Weltherrschaft zu beschleunigen.52

4. Fazit Unübersehbar ist, dass der bolschewistische Kern gegenüber dem jüdischen Moment für die Verschwörungstheorie vom ›jüdischen Bolschewismus‹ sekundär war. ›Bolschewismus‹ chiffrierte lediglich als eine unter vielen ›jüdischen Methoden‹, die Weltherrschaft zu erringen. So war der Begriff in der antisemitischen Propaganda der Weimarer Zeit beinahe beliebig austauschbar durch ›Kapitalismus‹, ›Imperialismus‹ oder ›Freimaurerei‹. Das bis heute anhaltende Beharren auf die Gleichgewichtung der dem Begriff innewohnenden Zwiegestalt von ›Juden‹ und ›Bolschewismus‹ verdeckt vielmehr die wahren Gründe seiner Durchschlagskraft, als dass sie in ihm deutlich hervortreten. Freilich wurde der Begriff in Zeiten akuter Bedrohung den Bedürfnissen der Gesellschaft angepasst und die Wertigkeit seiner Inhalte verschob sich, niemals aber lässt er sich auf den bloßen Zusammenhang von ›Juden‹ und ›Bolschewismus‹ reduzieren. Christoph Dieckmann hat es treffend zusammengefasst: »Der genaue Blick auf die Jahre 1917 bis 1919 zeigt den Konstruktionscharakter des Ideologems. Es handelt sich eben nicht um eine gleichsam ›spontane‹ Überreaktion auf die Revolution oder den Terror des Bolschewismus, sondern im Zentrum stand der 51 Hannah Ahlheim: »Deutsche kauft nicht bei Juden!«: Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011, S. 67 – 77. 52 Siehe Uwe Lohalm: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutzund Trutz-­Bundes 1919 – 1923. Hamburg 1970, S. 231 – 234.

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sich verändernde Antisemitismus, der im Verbund mit Verschwörungsideologien Welterklärungen anbot, die für viele aus diversen Motivationen heraus attraktiv und plausibel erschienen.«53 Das bis heute anhaltende Beharren auf dem Feindbild des ›jüdischen Bolschewismus‹ als Variante des Antibolschewismus ist mindestens aus zweierlei Gründen verführerisch. Zum einen erlaubt eine ­solche Verkürzung, die Kraft ­dieses universell einsetzbaren Ideologems auf die rechtsextremen und nationalkonservativen Stellungnahmen zu reduzieren und somit den Beitrag der zentralistischen oder auch linken Parteien, wie zum Beispiel der KPD , zur Verbreitung der antisemitischen Stimmung in der Weimarer Republik zu ignorieren. Aus einleuchtenden Gründen fand der ›jüdische Bolschewismus‹ keinen Platz in der einschlägigen Propaganda der KPD . Olaf Kistenmacher hat in seiner 2016 erschienenen Analyse allerdings deutlich aufgezeigt, dass sich in der Zeitschrift der KPD , der Roten Fahne, in allen Phasen der Weimarer Republik antisemitische Aussagen finden ließen, die auf einem personifizierten Antikapitalismus basierten. Wenn man berücksichtigt, dass die nationalsozialistische Propaganda den ›jüdischen Bolschewismus‹ stets mit dem ›jüdischen Kapital‹ in Verbindung brachte, dann wird eindeutig, dass auch die Linke indirekt diesen Mythos reproduzierte oder zumindest seine antisemitische Ausrichtung legitimierte.54 Zum anderen, und das macht seine aktuelle politische Schlagkraft aus, ist die bis heute praktizierte Einengung des Ideologems vom ›jüdischen Bolschewismus‹ auf die revolutionären Geschehnisse in Russland eine geschichtspolitische Entlastungsstrategie. Die Behauptung, Juden hätten sich an sowjetischen Organisationen und Institutionen beteiligt, hilft, eine mittelbare Verantwortung der jüdischen Bolschewiki für die Folgen der antisemitischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zu suggerieren. Dadurch werden Juden zu einem homogenen ›Täterkollektiv‹ gemacht, das mehr oder weniger gerechtfertigt für seine vermeintlichen kommunistischen Verbrechen vor und während des Zweiten Weltkrieges bestraft wurde. Eine Auseinandersetzung mit dem weitverbreiteten und vielfältigen antisemitischen Weltbild der Vorkriegszeit bleibt dabei gänzlich aus. Gleichzeitig erlaubt die Fokussierung auf den ›jüdischen Bolschewismus‹, alle Ansprüche und Rücksichtsnahmen, die sich aus der Shoah begründen lassen könnten, für obsolet zu erklären. Diese Legitimationsstrategie wird keineswegs nur von den Rechtsextremen vertreten, wie Ernst Noltes Text, 53 Dieckmann: »Jüdischer Bolschewismus« (wie Anm. 41), S. 81. 54 Siehe Olaf Kistenmacher: Arbeit und »jüdisches Kapital«. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung »Die Rote Fahne« während der Weimarer Republik. Bremen 2016.

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der den Historikerstreit 1988 auslöste, oder Martin ­Hohmanns Rede anlässlich des Deutschen Nationalfeiertages 2003 belegen.55 Gerade die a­ ktuelle Instrumentalisierung des Mythos vom ›jüdischen Bolschewismus‹ zeigt seine andauernde Attraktivität für geschichtspolitische Handlungen sowie das stets präsente Bedürfnis, Juden als Täter zu identifizieren.

55 Siehe Agnieszka Pufelska: Hohmann-­Rede. In: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debattenund Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2015, S. 389 – 391.

Die Resonanz auf die Oktoberrevolution in Europa

Thomas Kroll

Die Resonanz der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien (1917 – 1921)

»Die Russische Revolution ist eines der großen weltgeschichtlichen Ereignisse.« So resümierte Bertrand Russel in einem einflussreichen Reisebericht die Eindrücke, die er im Frühjahr 1920 im Russland der Sowjets gewonnen hatte. Der englische Philosoph, der keineswegs mit den Bolschewiki sympathisierte, unterstrich zudem, dass die Oktoberrevolution auf das westliche Europa ausstrahle und dort sowohl große revolutionäre Hoffnungen als auch tiefen Hass auslöse.1 Auch in Großbritannien und Frankreich, die als Sieger aus dem E ­ rsten Weltkrieg hervorgegangen waren und an ihren liberalen Demokratien festhielten, fand die Oktoberrevolution viel Resonanz und trug zu einer Verschärfung innerer Konflikte sowie zu einer Transformation der politischen Landschaft bei.2 Der Geschichtsschreibung gilt die Russische Revolution von 1917 sogar als eine Art Epochenwende der europäischen und globalen Geschichte,3 die entscheidende Grundlagen für das ›kurze zwanzigste Jahrhundert‹ gelegt habe.4 Mit der Oktoberrevolution begann nämlich die Spaltung der Arbeiterbewegungen in kommunistische und sozialistische Strömungen, deren Konflikte auch die Linke in Frankreich und Großbritannien tief prägte. Schon in den 1920er Jahren wurde die Oktoberrevolution als ›Ereignis‹ wahrgenommen,5 auf das die linken Bewegungen Bezug nahmen, um ihre Sozialismus- und Demokratiekonzepte

1 Bertrand Russel: Die Praxis und ­Theorie des Bolschewismus. Darmstadt 1984 [1920] S. 25. Siehe ferner David Caute: The Fellow Travellers. New Haven 21988, S. 21. 2 Siehe dazu den Überblick von E. Malcolm Carroll: Soviet Communism and Western European Opinion 1919 – 1921. Chapel Hill 1965. 3 Siehe dazu die Überlegungen von Ernst Schulin: Deutschland und das Epochenjahr 1917. In: Rudolf von Thadden u. a. (Hrsg.): Das Vergangene und die Geschichte. Göttingen 1973, S. 63 – 78, S. 64; David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus. München 2009. 4 Siehe etwa Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 42000, S. 80. 5 Siehe Dietrich Beyrau: 1917. Der Rote Oktober in zeitgenössischen Deutungen. Bolschewistische Camouflage und bürgerliche Apokalypse. In: Jans Claas Behrends u. a. (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Berlin 2017, S. 29 – 56, S. 47.

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voneinander abzugrenzen.6 In den Jahrzehnten nach 1945 wurde die Oktoberrevolution darüber hinaus als eine Art identitätsstiftendes Gründungsereignis des Kalten Kriegs betrachtet.7 Auch wenn die Oktoberrevolution also durchaus als tiefe Zäsur der Geschichte Westeuropas zu verstehen ist,8 sahen die Zeitgenossen den Umsturz in Russland keineswegs sofort als Boten einer neuen Welt.9 Dies gilt namentlich für die Ententemächte Frankreich und Großbritannien, die sich 1917 mit Russland in einem Kriegsbündnis befanden und deren Eliten die Revolutionen im Osten des Kontinents aufmerksam beobachteten.10 Dass die Oktoberrevolution auch für die politischen Kulturen ihrer eigenen Länder weitreichende Folgen hatte, stellte sich allerdings erst allmählich in der Epoche von 1917 bis 1921 heraus, als sich die Grundmuster der Wahrnehmung und Einschätzung der Oktoberrevolution herausbildeten, die im 20. Jahrhundert wirksam blieben. Dabei waren es keineswegs die Ereignisse in Russland, ­welche die »Chronologie« des Wandlungsprozesses vorgaben, sondern die politischen Krisen und gesellschaftlichen Konflikte, die nach dem Ende des ­Ersten Weltkriegs in Frankreich wie in Großbritannien folgten.11 An ­diesem ›Konstruktionsprozess‹, der von Beginn an von scharfen Konflikten in der öffentlichen Meinung geprägt war, beteiligten sich unterschiedliche gesellschaftliche und politische Akteure: die Regierungen, die Arbeiterbewegung auf nationaler und internationaler Ebene, aber auch liberale und konservative Parteien, Intellektuelle, religiöse Gemeinschaften und nicht zuletzt Gruppen russischer Exilanten, die sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien seit 1917 stark vertreten waren. In gewisser Weise stellte die Wahrnehmung und Wirkung der Oktoberrevolution einen komplexen transnationalen Transferprozess dar, der in Westeuropa weitreichende Folgen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen hatte, politische Vorstellungswelten änderte oder sogar ­solche hervorbrachte.12 6 Siehe etwa Aldo Agosti: Bandiere rosse. Un profilo storico dei comunismi europei. Roma 1999; sowie Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in Twentieth Century. London 1996, S. 31. 7 Siehe Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945. London 2005, S. 129 – 237; Silvio Pons: The Global Revolution. A History of International Communism 1917 – 1991. Oxford 2014, S. 193 – 205. 8 Marcello Flores: In terra non c’è il paradiso. Milano 1998, S. 67. 9 Annie Kriegel: L’opinion française e la Révolution russe. In: Marc Ferro u. a. (Hrsg.): La Révolution d’Octobre et le Mouvement ouvrier européen. Paris 1968, S. 74 – 104, S. 95. 10 Sophie Cœuré/Jean-­François Fayet: Les révolutions russes vues de l’Europe en guerre. In: Vingtième Siècle 135 (2017), S. 41 – 54, S. 41. 11 Kriegel: L’opinion (wie Anm. 9), S. 86. 12 Cœuré/Fayet: Les révolutions russes (wie Anm. 10), S. 41 f.

Die Resonanz der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien (1917 – 1921)  |

Obwohl die wissenschaftliche Diskussion über die Perzeption der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien seit dem Ende der Sowjetunion ihre politische Brisanz verloren hat, liegen bislang nur wenige Forschungen vor, die sich mit den transnationalen Transferprozessen, ihren Akteuren und ihren Wirkungen systematisch befassen und damit die Wahrnehmung der Oktoberrevolution in Westeuropa historisieren. Das mag damit zusammenhängen, dass im Westen bis 1920 höchst unzulängliche Informationen über die Vorgänge im revolutionären Russland zur Verfügung standen und die Bilder, die sich britische oder französische Zeitgenossen von der Revolution machten, mit der ›Realität‹ wenig zu tun hatten.13 Doch auch die verzerrten Perzeptionen wurden handlungsleitend und prägten die inneren politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit bis 1921 tiefgreifend.14 Dabei bleibt es ein methodisch schwer zu lösendes Problem, die Auswirkungen der Oktoberrevolution genau zu bemessen, da die politischen Vorstellungen der Akteure, ihre Strategien und die Dynamiken des Geschehens in Frankreich und Großbritannien von einer komplexen Mischung von transnationalen und nationalen Faktoren bedingt wurden.15 In der älteren Forschung hat der Schwerpunkt vor allem auf der internationalen Geschichte gelegen, die sich mit der Außenpolitik der Regierungen im ­Ersten Weltkrieg befasst und auf die besondere Rolle der russischen Revolutionen für die diplomatischen Verwicklungen und die Friedenspolitik am Ende des Konfliktes verwiesen hat.16 Intensiv erforscht worden sind die Wahrnehmungen und Interpretationen von ›1917‹ ferner von der klassischen, politischen Geschichte der sozialistischen Arbeiterparteien Westeuropas, deren Selbstverständnisse und Traditionen in besonderer Weise durch den Roten Oktober herausgefordert wurden, da sie bis 1914 die Internationale dominiert hatten.17 Weitaus weniger im Fokus standen bislang die politischen Gegner der Sozialisten,18 obwohl sich die 13 Siehe dazu Éric Annoble: La Révolution russe, une histoire française. Lectures et réprésentations depuis 1917. Paris 2016, S. 26. 14 Siehe dazu das grundlegende Werk von Sophie Cœuré: La Grande Lueur à l’Est. Les Français et L’Union soviétique 1917 – 1939. Paris 1999; sowie immer noch den Überblick von Marc Ferro: L’Occident devant la révolution soviétique. L’histoire et ses mythes. Paris 1991. 15 Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 69. 16 Siehe dazu die klassische Studie von Arno J. Mayer: The Origins of the New Diplomacy 1917 – 1918. New York 1970 [1959]. 17 Siehe etwa Bruno Naarden: Socialist Europe and Revolutionary Russia: Preception and Prejudice 1848 – 1923. Cambridge 1992; Kevin J. Callahan: Demonstration Culture. European Socialism and the Second International, 1889 – 1914. Leicester 2010. 18 Siehe dazu jüngst Robert Gerwarth: Die Geburt des Antibolschewismus. In: Norbert Frei/Dominik Rigoll (Hrsg.): Der Antikommunismus in seiner Epoche. Göttingen 2017, S. 49 – 6 4, S. 50.

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bürgerlichen Kräfte am Ende des ­Ersten Weltkriegs ebenfalls radikalisierten,19 sich Konservative sowie Liberale in d ­ iesem Prozess auf die Oktoberevolution bezogen und in ihren Diskussionen die zentralen Denkfiguren des rechten Antibolschewismus aufkamen.20 Die Entwicklung der Revolutionsbilder war insofern von Beginn an in den Prozess zunehmender gesellschaftlicher und politischer Konfrontation eingespannt, der zu berücksichtigen ist, um die Resonanz der Oktoberrevolution ermitteln und verstehen zu können.21 Dieser Prozess soll im Folgenden in vergleichender Perspektive betrachtet werden. Dazu wird die Entwicklung der Arbeiterbewegungen in Frankreich und Großbritannien in den Blick genommen, komplementär dazu aber auch die Rolle des Antibolschewismus bis 1921 analysiert, der in d­ iesem Zusammenhang ebenso relevant war wie die Vorstellungen der begeisterten Anhänger der Oktoberrevolution, die in Frankreich und Großbritannien weitaus weniger zahlreich waren, als man annehmen könnte.22 Für einen solchen Vergleich eignen sich Frankreich und Großbritannien in besonderem Maße, da es sich um klassische westliche Demokratien handelt, die im ­Ersten Weltkrieg mit Russland verbündet waren, sich 1918/19 an der Intervention in den Russischen Bürgerkrieg auf der Seite der ›Weißen‹ beteiligten und die Außenpolitik der Regierungen ähnliche Interessen verfolgte. In beiden Ländern kam es 1918/19 – anders als in Italien, Ungarn oder Deutschland – nicht zu revolutionären Erhebungen und Umwälzungen, obwohl sich die Arbeiterbewegungen der beiden Länder erheblich unterschieden, denn Frankreich wies eine von der Linken selbstbewusst gepflegte revolutionäre Tradition auf, während Großbritannien im westlichen Europa den ›klassischen‹ Fall einer reformistischen Arbeiterbewegung darstellte.23 19 Jan Claas Behrends/Nikolaus Katzer/Thomas Lindenberger: 100 Jahre Roter Oktober. Versuche zur Historisierung der Russischen Revolution. In: dies. (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Berlin 2017, S. 9 – 27, S. 16. 20 Siehe dazu Sophie Cœré: Endiguer le bolchevisme? La »double frontière« dans le répertoire de l’anticommunisme (1917 – 1941). In: dies./ Sabine Dullin (Hrsg.): Frontière du communisme. Paris 2007, S. 42 – 63, S. 45 sowie Maria Stone/Giuliana Chamedes: Naming the Enemy: Anti-­communism in Transnational Perspective. In: Journal of Contemporary History 53 (2018), H. 1, S. 4 – 11, hier S. 4 – 5. 21 Charles S. Maier: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton 1988 [1975], S. 153. 22 Siehe dazu Jan Kusber: Furcht vor dem Bolschewismus. Russland und der Westen nach der Russischen Revolution. In: APuZ 34 – 36 (2017), S. 33 – 38. 23 Siehe Jacques Moreau: Les socialistes français et le mythe révolutionnaire. Paris 2003; Tony Wright/Matt Carter: The People’s Party. The History of the Labour Party. London 1997.

Die Resonanz der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien (1917 – 1921)  |

Vor ­diesem Hintergrund soll nun geklärt werden, wie die Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien wahrgenommen wurde und ­welche Rolle diese Wahrnehmungsweise für den politischen Konflikt der Nachkriegsjahre spielte. Zuvor wird allerdings skizziert, wie die politischen Akteure 1917 bis 1921 zu ihren Informationen über die Oktoberrevolution sowie zu den politischen Vorgängen in Sowjetrussland bis zum Ende des Bürgerkriegs kamen und in welcher Weise dies den ›Konstruktionsprozess‹ des Bilds von der Oktoberrevolution in den beiden westeuropäischen Ländern beeinflusste.

1. Informationsquellen und Wissenstransfer Bis zur Februarrevolution von 1917 war das öffentliche Interesse an den Verhältnissen in Russland sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gering geblieben und das Verhältnis der gebildeten Eliten zum Bündnispartner im Osten »von einer gewissen negativen Gleichgültigkeit« geprägt.24 Daran hatten auch von der britischen Regierung finanzierte Zeitschriften kaum etwas geändert, die darauf zielten, das traditionell negative Bild von Russland zu verbessern. Das Zarenreich war zwar als Bündnispartner gegen Deutschland und Österreich-­Ungarn von großer Bedeutung, doch galt es als rückschrittlich sowie autokratisch. So ließ sich das zaristische Russland nur mühsam in die Propaganda eines gemeinsamen Kampfes der westlichen, liberalen Demokratien gegen das autoritäre Preußentum einfügen. Die Lage änderte sich schlagartig mit der russischen Februarrevolution von 1917, die in der Öffentlichkeit ebenso großes Interesse fand wie die Revolution der Bolschewiki. Allerdings blieben die Informationen, die im Westen Europas über die Ereignisse in Russland zur Verfügung standen, bis 1920 knapp und widersprüchlich. Auf diese Situation verwies der französische Sozialist Ernest Lafont, als er wenige Tage nach dem Ende des Kriegs in der l’Humanité über seine Bemühungen berichtete, sich ein Bild von der Revolution in Russland zu machen: »Le sujet est extrêmement complexe et délicat. Je suis de ceux que ont fait le plus d’efforts pour se tenir au courant des choses de Russie, et je dois avouer humblement que je n’ai plus, à l’heure présente, qu’une très vague notion de ce qui se passe là-­bas.«25

24 Hedwig Bock: England und das russische Problem. Zur Entwicklung des Rußlandbildes in England vom Beginn des Weltkrieges 1914 bis zum Ende des Interventionskrieges 1919. Diss. Phil, Hamburg 1959, S. 134. Vgl. dazu ferner Hannsjoachim W. Koch: Das britische Russlandbild im Spiegel der britischen Propaganda, 1914 – 1918. In: Zeitschrift für Politik 27 (1980), S. 71 – 96, hier S. 71 – 74. 25 Ernest Lafont: Soviets et Bolchevisme. In: l’Humanité, 14. 11. 1918.

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Dass die Informationen nur spärlich flossen, hing zunächst mit der Zensur der Presse zusammen, die in Frankreich ebenso wie in Großbritannien dafür sorgte, dass die Berichte über die Oktoberrevolution, w ­ elche die Korrespondenten großer westlicher Zeitungen telegrafierten, von Regierungsstellen stark gefiltert wurden.26 Die französische wie die britische Regierung befürchteten eine Ausbreitung der bolschewistischen Propaganda und eine politische Mobilisierung der Arbeiterschaft, in der es ohnehin schon zu Unruhen gekommen war.27 Angesicht dieser Informationspolitik waren Berichte oder Briefe von Briten oder Franzosen, die sich in Russland aufhielten, äußerst relevant. Zwar boten sie keine systematischen Analysen, doch lieferten sie Informationen aus erster Hand über den Alltag im revolutionären Russland.28 Solche Berichte wurden gesammelt und publiziert, etwa in einer vom britischen Parlament herausgegebenen Anthologie, die allerdings eine deutlich antibolschewistische Stoßrichtung hatte.29 Weitere Informationen erbrachten Berichte französischer oder britischer, semioffizieller Delegationen, die im Frühjahr 1917 nach Russland gesandt wurden, um die Lage zu sondieren.30 Aus derartigen Berichten und den übrigen Informationsquellen, die stark von den politischen Interessen ihrer Verfasser geprägt und oft widersprüchlich waren, hat sich lange Zeit kein eindeutiges Bild ergeben, so dass man treffend von einem »Gewirr von Behauptungen und Gegenbehauptungen«31 gesprochen hat, das bis zum Ende des Kriegs die Berichterstattung dominierte. Die unübersichtliche Lage ist allerdings nicht allein auf die Grenzen der Presseberichterstattungen zurückzuführen, denn an der öffentlichen Meinungsbildung waren darüber hinaus transnationale Netzwerke beteiligt, die konkurrierten und ihre eigenen politischen Interessen verfolgten.32 Dies gilt etwa für die Versuche 26 Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 132; Cœuré/Fayet: Les révolutions russes (wie Anm. 10), S. 42. 27 Siehe Jean Michel Guieu: Gagner la paix 1914 – 1929. Paris 2015, S. 133 – 138. 28 Siehe dazu die immer noch wertvolle Studie von Jan Willem Bezemer: De Russische Revolutie in westerse ogen. Stemmen van ooggetuigen maart 1917 – maart 1918. Amsterdam 1956, S. 208 – 235; Gerd Koenen: Vom Geist der Russischen Revolution. Die ersten Augenzeugen und Interpreten der Umwälzungen im Zarenreich. In: ders./Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution, 1917 – 1924. München 1998, S. 49 – 98, hier S. 73 f.; Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 71. 29 A Collection of Reports on Bolshevism Russia. London 1919. 30 Ioannis Sinanoglu: Journal de Russie d’Albert Thomas. In: Cahiers du monde russe et soviétique 14 (1973) 1/2, S. 86 – 204, hier S. 87 – 90; Rudolf Klepsch: British Labour im ­Ersten Weltkrieg. Göttingen 1983, S. 235 31 Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 175. 32 Siehe dazu Joachim Schröder: Internationalismus nach dem Krieg. Die Beziehungen ­zwischen deutschen und französischen Kommunisten 1918 – 1923. Essen 2008, S. 158; sowie

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pazifistischer Sozialisten, unter Mitwirkung der russischen Revolutionäre eine internationale sozialistische Konferenz in Stockholm mit dem Ziel einzuberufen, einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen herbeizuführen.33 Zu nennen sind auch im Exil lebende Russen, die sich in Paris wie London organisierten und den Meinungsbildungsprozess erheblich beeinflussten. Dies gilt zunächst für die exilierten Bolschewiki in London unter Führung von Maksim Litvinov, der enge Verbindungen zu den allerdings wenig einflussreichen radikal-­marxistischen Gruppen Großbritanniens, wie der British Socialist Party, pflegte und die Rolle als deren Verbindungsmann zu den radikalen Sozialisten in Paris übernahm.34 So gingen Informationen und Einschätzungen über den Kanal hin und her, die in die jeweiligen Diskussionen eingespeist wurden. Weitaus einflussreicher als die Bolschewiki waren die sozialdemokratischen oder rechtsstehenden Russen im Exil. Dies gilt für London und Paris gleichermaßen, wo etwa Aleksandr Kerenskij oder Pavel Aksel’rod als Vermittler wirkten und enge Kontakte zu den gemäßigten Sozialisten aufbauten.35 Solche Vermittler trugen erheblich zur Formierung linker wie rechter Russlandbilder sowie des Antibolschewismus in Frankreich wie Großbritannien nach 1917 bei. In Frankreich gelang es der russischen Emigration sogar, mit der Ligue pour la régéneration de la Russie eine eigene Interessenvertretung aufzubauen. Eine gewisse Rolle spielten auch Tageszeitungen, wie die von Aksel’rod in Paris herausgegebene Les Echoes de Russie, die Einschätzungen des Exils verbreiteten, Informationen weitergaben, aber auch gezielt Gerüchte in Umlauf brachten.36 Für Aufregung in der Öffentlichkeit sorgte etwa die Behauptung, die Bolschewiki hätten Chinesen oder Letten engagiert, um gegnerische Offiziere und Deserteure ermorden zu lassen.37 Solchen Gerüchten wurde Glauben geschenkt, weil man die russischen Emigrantenzirkel mit der Stimme des russischen Volkes identifizierte.38

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die Überlegungen von Iris Schröder/Christian Methfessel: Antikommunismus und Internationalismus. In: Norbert Frei/Dominik Rigoll (Hrsg.): Der Antikommunismus in seiner Epoche. Göttingen 2017, S. 49 – 6 4. Madeleine Rebérioux: Sozialismus und Erster Weltkrieg. In: Jacques Droz (Hrsg.): Geschichte des Sozialismus. Bd. IX. Berlin 1976, S. 45 – 125, hier S. 112 – 115. Walter Kendall: Russian Emigration and British Marxist Socialism. In: International Review of Social History 8 (1963) 3, S. 351 – 378, hier S. 375 – 378; Robert Service: Russian Marxism and its London Colony before the October Revolution 1917. In: The Slavonic and East European Review 88 (2010) 1 – 2, S. 359 – 376, hier S. 376. Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 299. Ferro: L’occident (wie Anm. 14), S. 60; Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 36; Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 299. Stephen White: British Labour in Soviet Russia, 1920. In: The English Historical Review 109 (1994), Nr. 432, S. 621 – 6 40, hier S. 624. Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 231 – 232.

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Auch wenn die Informationen aus dem Russland der Bolschewiki es nicht erlaubten, die Lage verlässlich einzuschätzen, wurden in Frankreich wie in Großbritannien von sämtlichen politischen Gruppen zahlreiche Pamphlete und Flugschriften publiziert, um ihre jeweilige Interpretation im öffentlichen Meinungsstreit durchzusetzen. Folgt man der Einschätzung von Sophie Cœuré, ü­ berwogen in Frankreich bis 1920 die antibolschewistischen Publikationen an Zahl und Einfluss bei weitem.39 Der Informationsstand änderte sich nur langsam, obwohl im Laufe des Jahres 1920 erstmals unabhängige Besucher nach Russland einreisen durften, die über Erfolge, aber auch über Repression, Armut und Terror unter dem Regime der Bolschewiki berichteten.40 Von einer offenen Berichterstattung konnte allerdings kaum die Rede sein. Mit der Konsolidierung der Regierung Lenins nach dem polnisch-­sowjetischen Krieg 1920 und der Etablierung der Kommunis­tischen Internationale entwickelte sich eine Art von Informationsmonopol unter Moskauer Ägide, das die Berichterstattung über die Sowjetunion seit Mitte der 1920er Jahre zunehmend auch in Westeuropa lenkte. In den sowjetischen und kommunistischen Publikationen wurde die Oktoberrevolution nun als Beginn einer neuen, sozialistischen Welt präsentiert.41

2. Krieg, Antibolschewismus und pazifistische Revolutionäre (1917 – 1918) Die britischen und französischen Publikationen und Einschätzungen zu den russischen Revolutionen von 1917 wiesen bis zum Ende des ­Ersten Weltkriegs große Übereinstimmungen auf. Die Ereignisse in Russland wurden nämlich in beiden Ländern (über die politischen Lager hinweg) vor allem im Lichte der Kriegsführung interpretiert. Dies gilt zunächst für die Februarrevolution, die mit großer Begeisterung aufgenommen wurde, weil Russland mit dem Regimewechsel eine demokratisch legitimierte Regierung erhalte, von der selbst der Mainstream der französischen Sozialisten und die überwältigende Mehrheit der Anhänger der Labour Party größere militärische Anstrengungen für einen Sieg an der Ostfront erwarteten.42 Auf d­ ieses Ziel arbeiteten die sozialistischen diplomates-­missionaires 39 Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 42. 40 White: British Labour (wie Anm. 37), S. 621. 41 Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 71 – 78; Ferro: L’Occident (wie Anm. 14), S. 63. 42 Siehe Jean-­Jacques Becker: Les français face à 1917 en 1917. In: Avenirs et avant-­gardes en France. Paris 2000, S. 277 – 289; Stéphane Courtois: La gauche française et l’image de

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hin, die, wie Albert Thomas oder Arthur Henderson, in offiziellem Auftrag im Frühjahr 1917 nach Russland gingen, um dort vor einem Verständigungs- oder Separatfrieden zu warnen und eine Fortsetzung des Kriegs im Osten zu propagieren.43 Wie andere Intellektuelle, die der sogenannten Mehrheit in der Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO) nahestanden, interpretierte ­Thomas die Februarrevolution ganz in der Tradition der französischen Revolution von 1789 und schraubte damit die Erwartungen noch höher als Henderson, der dem gemäßigten Flügel der Labour Party angehörte. Nachdem die Autokratie im Inneren besiegt worden sei, so Thomas, müsse Russland der Versuchung eines Verständigungsfriedens mit Deutschland widerstehen und sich stattdessen am Vorbild der Französischen Revolution orientieren, indem es alle Kräfte anstrenge, um den äußeren Feind zu besiegen und dadurch zu einem schnellen, vorteilhaften Friedensschluss zu kommen. Durch die russische Armee müsse ein Ruck gehen und sich revolutionärer Elan entfalten, so dass die Soldaten im Kampf gegen das autoritäre Preußentum ein eigenes ›1792‹ erleben könnten.44 Auf dieser Linie argumentierte der linke Historiker Alphonse Aulard, der sogar eine entsprechende Propagandabroschüre verfasste, die ins Russische übertragen und im Mai 1917 in Sowjetrussland verteilt wurde.45 Im Gegensatz zu solchen Aufrufen zur Kampfbereitschaft, die von Regierungsstellen in Paris und London unterstützt wurden, sahen pazifistische und radikale Minderheitsströmungen der Linken in der Februarrevolution eine Chance, rasch zum Ende des Kriegs und zu einem bedingungslosen Friedensschluss zu kommen, da die russischen Bauern kriegsmüde ­seien und eine erneute Mobilisierung für den Krieg keinen Erfolg verspreche. Allerdings konnten sich die linken Minderheitsgruppen weder in Frankreich noch in Großbritannien gegen die »gouvernementalen Sozialisten« und deren Einschätzung der Februarrevolution durchsetzen.46

l’Urrs. In: Matériaux pour l’histoire de notre temps 9 (1987), S. 15 – 19, S. 15; sowie Stephen Richards Graubard: British Labour and the Russian Revolution 1917 – 1924. Cambridge 1956, S. 16 – 43, bes. S. 19 – 22. 43 Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 92; J. M. Winter/Arthur Henderson: The Russian Revolution and the Reconstruction of the Labour Party. In: The Historical Journal 15 (1972) 4, S. 753 – 773, S. 759. 44 Siehe Ioannis Sinanoglu: La mission d’Eugéne Petit en Russie. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 17 (1976) 2 – 3, S. 133 – 170, hier S. 152 f. 45 Ioannis Sinanoglu: Frenchmen, Their Revolutionary Heritage, and the Russian Revolution. In: The International History Review 2 (1980) 4, S. 566 – 584, hier S. 569 f. 46 Siehe dazu ausführlich Jürgen Stillig: Die Russische Februarrevolution 1917 und die Sozialistische Friedenspolitik. Köln 1977, S. 19.

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Obwohl das Scheitern der Kerenskij-­Offensive im Juli 1917 die hochgesteckten Hoffnungen auf eine erfolgreiche Kriegsführung bereits gedämpft hatte, wirkte die Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien im Hauptstrom der öffentlichen Meinung wie ein »veritabler Schock«.47 Der Grund dafür war nicht die Befürchtung, die Bolschewiki könnten ein sozialistisches Regime etablieren oder gar die Weltrevolution in Gang setzen, denn die Ideologie der russischen Revolutionäre war in den beiden westeuropäischen Ländern selbst den radikalen Sozialisten nahezu unbekannt. Darauf verwies etwa der Anwalt und Offizier Jacques Sadoul, der zur kleinen Gruppe französischer Bolschewiki in Russland gehörte und als ›Nachrichtenagent‹ prominenter Pariser Sozialisten arbeitete: Lorsque j’ai quitté Paris en septembre 1917, c’est-­à-­dire quelque semaines avant la Révolution d’Octobre […], les bolcheviks étaient considérés comme des criminels ou comme des fou […]. Telle était l’opinion de la France entière. Je dois vous avouer à ma grande confusion que les neuf dixième de tous les socialistes de la majorité comme de la minorité étaient du même avis.48

Der Schock, den die Revolution Anfang November 1917 in weiten Kreisen auslöste, geht vielmehr auf Lenins Dekret über den Frieden zurück, welches viele Zeitgenossen davon überzeugte, dass Frankreich und Großbritannien nicht mehr auf die militärische Unterstützung Russland zählen könnten.49 In ­diesem Sinne schrieb der sozialistische Journalist Marcel Cachin an Kerenskij, dass die Oktoberrevolution einen »immense malheur«50 darstelle, und stimmte damit in den Chor jener Publizisten ein, die den Russen »Verrat« vorwarfen.51 Diese tiefe Enttäuschung über die Außenpolitik der Bolschewiki, die mit dem Frieden von Brest-­Litowsk im März 1918 noch verstärkt wurde, bildete den 47 Serge Berstein/Jean-­Jacques Becker: L’histoire de l’anticommunisme en France. Bd. 1: 1917 – 1940. Paris 1987, S. 19, 27. 48 Das Zitat entstammt einer Rede Sadouls auf dem sog. ­Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale im März 1919. Zit. nach Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 100. – Zur Biografie Sadouls, der 1919 auch mit Berichten über Oktoberrevolution hervortrat, siehe Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs 1901 – 1941. Hamburg 1990, S. 165; Bezemer: De Russische Revolutie (wie Anm. 28), S. 201 – 202. 49 Siehe Graubard: British Labour (wie Anm. 42), S. 45; Gottfried Niedhart: Zwischen Feindbild und Wunschbild: Die Sowjetunion in der britischen Urteilsbildung 1917 – 1945. In: ders. (Hrsg.): Der Westen und die Sowjetunion. Paderborn 1983, S. 104 – 118, hier S. 106; Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 99. 50 Zit. nach Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 100. 51 Berstein/Becker: L’histoire de l’anticommunisme (wie Anm. 47), S. 27

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Ausgangspunkt für das Aufkommen eines Antibolschewismus, der sich bis zum Kriegsende in unterschiedlichen Schattierungen sowohl auf der Rechten als auf der Linken entwickelte.52 Überblickt man die zeitgenössischen Pamphlete, Berichte und Kommentare in Frankreich und Großbritannien, lassen sich einige Topoi eines bürgerlich-­ konservativen Antibolschewismus ausmachen, die schon kurz nach der Oktoberrevolution aufkamen und in das ideologische Arsenal der Rechten übergingen.53 Der Ausgangspunkt vieler französischer und britischer Schriften, die sich gegen die Bolschewiki richteten, betrachteten die Oktoberrevolution als eine »Verschwörung«, hinter der die »Deutschen« steckten, da man weder Lenin noch Trockij die Fähigkeiten zuschreiben wollte, eine Revolution zu organisieren.54 In der englischen Presse wurde in zahlreichen Artikeln verbreitet, Lenin und ­Trockij ­seien deutsche Juden und Agenten im Dienste der Reichregierung, die nur mit Hilfe deutscher Gelder und des deutschen Generalstabs den Sturz Kerenskijs hätten ins Werk setzen können. Die Idee eines »jüdischen Komplotts« war weitverbreitet und wurde auch von russischen Emigranten (in Paris und London) verfochten, die der Ansicht waren, der Bolschewismus sei nicht »russisch«, sondern etwas »Fremdes«.55 Fremdenfeindliche Vorstellungen und antisemitische Verschwörungstheorien, die Judentum und Bolschewismus gleichsetzten, fanden sich auch in zahlreichen Debatten des britischen Parlaments.56 Solche Äußerungen wurden schnell verbreitet und führten dazu, dass sich die jüdische Gemeinde im Londoner East End, deren Mitglieder in den vorangegangenen Jahrzehnten in großer Zahl aus Russland eingewandert waren, schon 1917 gegen (unbegründete) Vorwürfe erwehren mussten, die bolschewistische Revolution zu unterstützen.57 Eine weiterer Topos, der sich sowohl in der französischen als auch der britischen Propaganda findet, betraf die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki, die besonders scharf kritisiert

52 Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 36; Koch: Das britische Russlandbild (wie Anm. 24), S. 95. 53 Einen Überblick zu den frühen Äußerungen zur Russischen Revolution und eine umfassende Liste der Veröffentlichungen bietet Bezemer: De Russische Revolutie (wie Anm. 28), S. 315 – 330. 54 Berstein/Becker: L’histoire de l’anticommunisme (wie Anm. 47), S. 21; Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 166 – 167, 180. 55 Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 104. 56 Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 181 – 192. 57 Sharman Kadish: Bolsheviks and British Jews: The Anglo-­Jewish Community, Britain and the Russian Revolution. In: Jewish Social Studies 50 (Summer, 1988 – Autumn, 1993), S. 239 – 252.

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wurde, weil die neue russische Regierung sich weigerte, die Staatsschulden des Zarenreichs zu übernehmen. Das brachte der antibolschewistischen Propaganda erheblichen Zulauf, da die Zahl der Eigner russischer Wertpapiere in Frankreich und Großbritannien sehr groß war. So wurden in Großbritannien 30.000 Forderungen an den russischen Staat geltend gemacht,58 während sich in Frankreich die Zahl an kleinen Anlegern auf 1,6 Millionen Personen belief, die in Russland investiert oder Wertpapiere erworben hatten und sich nun von der Revolution beraubt fühlten.59 Allerdings war zugleich die Vorstellung weitverbreitet, dass die neue Wirtschaftsordnung zum Niedergang führen und das Regime Lenins unweigerlich zusammenbrechen werde. Entsprechende Gerüchte wurden in der rechten Presse immer wieder gestreut, um das Regime der Bolschewiki von außen zu destabilisieren. Als sich die Bolschewiki wider Erwarten halten konnten, verschärfte die antibolschewistische Presse ihre Angriffe, indem sie von Gräueltaten des Regimes berichtete, das ab 1918 als eine Art totalitärer Diktatur beschrieben wurde, die sich nur durch Terror halten könne.60 Die Ablehnung des neuen Regimes verdichtete sich in der antibolschewistischen Propaganda zu regelrechten Verdammungsurteilen, die nicht selten von offenem Hass angetrieben waren. Dies gilt etwa für eine im britischen Unterhaus von Winston Churchill gehaltene Rede, die in ihrer Schärfe möglicherweise nicht repräsentativ für den Stil der britischen Debatte war, aber dennoch eine auch in der französischen Rechten verbreitete Stimmung zum Ausdruck brachte: »Mein Haß auf den Bolschewismus und die Bolschewiki hat nichts mit ihrem idiotischen Wirtschaftssystem oder mit ihrer absurden Doktrin einer Gleichheit zu tun; er kommt von ihrem blutigen und zerstörerischen Terrorismus, den sie überall üben[,] wo sie hingekommen sind und durch den allein sie ihr verbrecherisches Regime halten können.«61 Zu einer völlig entgegengesetzten Einschätzung kamen die britischen und französischen Anhänger der bolschewistischen Revolution, denn für sie repräsentierten die Räte beziehungsweise Sowjets eine ideale Form der Demokratie, in der das Volk unmittelbar an den Staatsgeschäften teilhaben könne. Das Regierungssystem 58 Niedhart: Zwischen Feindbild und Wunschbild (wie Anm. 49), S. 107. 59 René Girault: Wirklichkeit und Legende in den französisch-­sowjetischen Beziehungen 1917 – 1945. In: Gottfried Niedhart (Hrsg.): Der Westen und die Sowjetunion. Paderborn 1983, S. 119 – 133, hier S. 122 f. 60 Siehe die Broschüre des Korrespondenten von The Times, Robert Wilton: Russia’s Agony. New York 1919, S. VIII – IX; sowie Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 104. 61 Die Rede wurde am 8. Juli 1920 gehalten, die Grundideen finden sich allerdings auch schon in früheren Äußerungen. Zit. nach Alex P. Schmid: Churchills privater Krieg. Intervention und Konterrevolution im russischen Bürgerkrieg. Zürich 1978, S. 63. Siehe ferner Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 252.

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der Bolschewiki war etwa für einen der ersten französischen Kommunisten, Boris Souvarine,62 sowie für den britischen Syndikalisten George Lansbury oder Rajani Palme Dutt, einen radikalen Pazifisten und Anhänger der Independent Labour Party, zuallererst ein Arbeiterstaat, der die Versprechen des Marxismus erfüllen, wahre Demokratie realisieren und den Sozialismus aufbauen würde.63 Aus ­diesem Grund bagatellisierten oder legitimierten viele radikale Linke die revolutionäre Gewalt in Russland, die sie für unverzichtbar hielten, um die Revolution ans Ziel zu führen. Charakteristisch für den französischen Fall ist die Tendenz, die bolschewistische Gewalt in Russland zu rechtfertigen, indem man sie in die Tradition der Französischen Revolution stellte und Lenin gewissermaßen als einen politischen Führer präsentierte, der im 20. Jahrhunderts das Erbe des Jakobinismus aufnehme und vollende. Damit kehrten die radikalen Sozialisten die Argumente ihrer gemäßigten Genossen um, die nach der Februarrevolution den Anhängern Kerenskijs angeraten hatten, vom Modell der Französischen Revolution zu lernen. Nun war es das Russland Lenins, das die französische Revolutionstradition vollenden sollte, indem es der Dynamik der Gewalt freien Lauf lasse.64 Ebenso glühende Anhänger der Oktoberrevolution wie in den radikalen marxistischen Gruppierungen fanden sich unter den Pazifisten, ­welche die Oktober­ revolution mit dem Frieden identifizierten und darauf setzten, dass die Bolschewiki eine neue moralische Weltordnung ins Leben riefen. Für die Pazifisten war Sowjetrussland freilich kein Modell, das es in Westeuropa zu imitieren gelte, sondern der Garant einer universalen Ordnung, in der Gewalt keine Rolle mehr spiele.65 Ganz typisch ist die Äußerung des Pazifisten Michel Alexandre: »Ça marche, ça marche en Russie. La paix viendra de là-­bas. […] Bon gré, mal gré, La Révolution c’est toujours la paix.«66 Solche romantischen Vorstellungen von der Oktober­revolution prägten die Vorstellungswelt vieler der meist noch jungen pazifistischen Intellektuellen, wie es etwa für die Gruppe um die Clarté gilt, aus 62 Jean-­L ouis Panné: Boris Souvarine. Paris 1993, S. 43 – 59. 63 Siehe Ian Bullock: Romancing the Revolution. The Myth of Democracy and the British Left. Alberta 2011, S. 41 – 65; Martin Durham: British Revolutionaries and the Suppression of the Left in Lenin’s Russia, 1918 – 1924. In: Journal of Contemporary History 20 (1985), S. 203 – 219, S. 204; Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945 – 1956). Köln 2007, S. 508. 64 Sinanoglu: Frenchmen (wie Anm. 45), S. 576 – 578; François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert. München 21996, S. 87 – 136. 65 Christophe Prochasson/Anne Rasmussen: Au nom de la patrie. Les intellectuels et la permiére guerre mondiale (1910 – 1919). Paris 1996, S. 229 – 233; Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 45. 66 Zit. nach Christophe Prochasson: Les intellectuels, le socialisme et la guerre 1900 – 1938. Paris 1993, S. 184.

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der spätere Kommunisten wie Henri Barbusse, Raymond Lefebvre oder Paul Vaillant-­Couturier hervorgingen.67 In der öffentlichen Debatte konnten ­solche politischen Utopien allerdings keinen Einfluss gewinnen. Eine uneingeschränkt positive Resonanz hatte die Oktoberrevolution insofern nur in linken marxistischen oder pazifistischen Splittergruppen, die in Großbritannien wie Frankreich bis zum Ende des Kriegs randständig blieben. Auch wenn die Geschichtsschreibung den radikalen Gruppen viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, weil sie gewissermaßen als Vorboten des Kommunismus und eines linken Totalitarismus im westlichen Europa des 20. Jahrhunderts gelten können, dominierten selbst in Frankreich bis 1919/20 jene Sozialisten die Debatte, die der Oktoberrevolution distanziert oder kritisch gegenüberstanden oder sogar einen linken Antibolschewismus vertraten. In Großbritannien gilt dies etwa für Henry Mayers Hyndman,68 in Frankreich für Albert Thomas, der den Bolschewismus entschieden ablehnte, weil dieser mit der demokratisch-­parlamentarischen Tradition der europäischen Arbeiterbewegung breche.69 Ähnlich argumentierte Charles Rappoport, der nach der gewaltsamen Auflösung der Konstituante im Januar 1918 folgendes Verdikt formulierte: »La Garde Rouge de Lénine-­Trotzky a fusillé Karl Marx.«70 In dieselbe Richtung gingen die Überlegungen von Beatrice Webb, die sich über die antiparlamentarische Stoßrichtung der Bolschewiki beklagte und in ihnen nur »simple minded advocates of force« und »poor fools« ausmachen konnte.71 Die Ablehnung des Bolschewismus in den sozialistischen Kreisen beruhte insofern nicht allein auf den Maximen der nationalen Kriegspolitik, sondern auch auf der Überzeugung, dass der Bolschewismus ein spezifisch russisches Phänomen sei, das für das westliche Europa keinesfalls ein Modell abgeben dürfe. Der Bolschewismus verrate nämlich die Idee des demokratischen Sozialismus französischer Spielart, wie Albert Thomas im Juli 1918 in der l’Humanité formulierte: Le bolchevisme a pu naître de l’horrible anarchie à laquelle l’ancien régime avait condamné la Russie, il a pu naître dans un peuple épuisé, meurtri par une guerre dont il ne sentait pas la portée nationale. Il ne peut être recommandé comme méthode dans un pays qui a défendu son indépendance et sa liberté contre la force oppressive du militarisme allemand pendant quatre 67 Prochassons: Les intellectuels (wie Anm. 65), S. 192 – 197; Kroll: Kommunistische Intellektuelle (wie Anm. 63), S. 31 – 41. 68 Markku Ruotsila: H. M. Hyndman and the Russian Question after 1917. In: Journal of Contemporary History 46 (2011) 4, S. 767 – 787. 69 Zu Albert Thomas siehe Prochasson: Les intellectuels (wie Anm. 65), S. 184 – 187. 70 Zit. nach Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 100; siehe ferner Schröder: Internationalismus (wie Anm. 32), S. 161. 71 Zit. nach Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 212.

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années et qui a su trouver, dans ses institutions républicaines et démocratiques, la possibilité d’une cohésion et d’une union nationale que les querelles des partis n’ont pas profondément atteinte.72

Für Thomas konnte die revolutionäre Eroberung der Staatsmacht nach sowjetischem Muster nicht zum Sozialismus führen, weil auf d­ iesem Wege die rohen Massen an die Macht kämen. In der Oktoberrevolution konnte er nur »la révolte anarchique contre les règles démocratiques« erkennen.73 Aus seiner Sicht musste die Arbeiterschaft erst (von den sozialistischen Intellektuellen) im Geiste der demokratischen Ideale der Dritten Französischen Republik ›erzogen‹ und damit in die Nation integriert worden sein, bevor der Sozialismus auf parlamentarischem und friedlichem Wege herbeigeführt werden könne.74 Die Revolution konnte bis 1920 für die französischen Sozialisten nur die Revolution der »Väter« Jean Jaurès oder Jules Guesdes sein.75 In britischer Tradition, aber ganz ähnlich argumentierte Hyndman, der davon ausging, dass der Kapitalismus ein gewisses Niveau der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung erreicht haben müsse, bevor der Sozialismus auf gewaltfreiem Wege aufgebaut werden könne.76 So ging Hyndman davon aus, dass der Konsens der Arbeiterschaft und Bauern unverzichtbar sei, damit die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaft evolutionär in den Sozialismus übergehen könne. In Russland war dies aus seiner Sicht nicht möglich, weil das unizivilisierte Volk in Stadt und Land nicht das notwendige Bewusstsein von den Vorzügen einer sozialistischen Gesellschaft besitze, da die Wirtschaft noch unterentwickelt sei und auf einem vormodernen Niveau verharre.77 Unter diesen Bedingungen müsse die Revolution in eine Diktatur abgleiten und die Form einer terroristischen Herrschaft von wenigen annehmen: Permanent social revolution and communist reconstruction can only be successfully achieved when the bulk of the population in any given country understands, and is ready to accept, the new forms which have, consciously or unconsciously, developed in the old society […]. The process of historic evolution, slow or fast, cannot be overleaped by the most relentless fanatic, least of all in an empire such as Russia.78 72 Albert Thomas: Pour l’intervention en Russie. In: l’Humanité, 08. 07. 1918, zit. nach ­P rochasson/Rasmussen: Au nom de la patrie (wie Anm. 65), S. 240. 73 Thomas: Pour l’Intervention (wie Anm. 72). 74 Prochasson/Rasmussen: Au nom de la patrie (wie Anm. 65), S. 239 – 240. 75 Kriegel: L’Opinion (wie Anm. 9), S. 104. 76 Ruotsila: H. M. Hyndman (wie Anm. 68), S. 772. 77 Ebd.: S. 772 f. 78 H. M. Hyndman: The Evolution of Revolution. London 1920, S. 384, zit. nach Ruotsila: H. M. Hyndman (wie Anm. 68), S. 772.

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Auch im Hauptstrom der britischen Diskussion wurde der Begriff der Revolution geradezu mit »chaos, confusion, death, and destruction« identifiziert.79 Anders als die meisten Intellektuellen der Labour Party und der Franzose Thomas bediente sich Hyndman jedoch einiger Topoi des rechten Antibolschewismus, indem er auf die Idee einer Hegemonie Großbritanniens in Europa und die antisemitische Verschwörungstheorie zurückgriff.80 Gleichwohl führten die Überlegungen sowohl von Hyndman als auch von Thomas dazu, dass die beiden Sozialisten im Laufe des Jahres 1918 für eine Intervention der Alliierten in Russland plädierten, um die Diktatur der Bolschewiki einzudämmen.81 Mit dieser Position blieben sie allerdings in der Linken ihrer Länder in der Minderheit. Auch wenn die meisten Sozialisten die politischen Methoden der Diktatur der Bolschewiki und die leninistische Partei- und Revolutionstheorie ablehnten, plädierten sie, wie etwa Jean Longuet, dafür abzuwarten, in ­welche Richtung sich das Regime der Bolschewiki entwickeln werde.82 Die Politik des Terrors und die Unterdrückung der Opposition während der Jahre des Kriegskommunismus wurden oft auf die Intervention der Westmächte und die ungünstigen äußeren Bedingungen zurückgeführt.83 Auch wenn also nur die äußerste Linke die Oktoberrevolution als Modell für den Westen übernehmen wollte, sprachen viele gemäßigte Sozialisten in Frankreich und Großbritannien dem Regime Lenins nicht das Potenzial ab, unter den spezifischen Bedingungen des ›unterentwickelten‹ Russland ein sozialistisches Staatswesen aufzubauen.84 Ein Modell oder gar ein »Licht im Osten« war die Oktoberrevolution bis 1919/20 jedoch nur für wenige.85

79 Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 149. 80 Ruotsila: H. M. Hyndman (wie Anm. 68), S. 772. 81 Prochasson/Asmussen: Au nom de la patrie (wie Anm. 65), S. 239; Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 241; Ruotsila: H. M. Hyndman (wie Anm. 68), S. 773 f. 82 Jean Longuet: Socialisme et bolchevisme. In: l’Humanité, 19. November 1918. – Siehe auch die Überlegungen von Heinrich August Winkler: Demokratie oder Bürgerkrieg als Problem der deutschen Sozialdemokraten und der französischen Sozialisten. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 1 – 23, hier S. 5 – 7. 83 Siehe dazu Bock: England und das russische Problem (wie Anm. 24), S. 202 – 205. 84 Siehe etwa Edgar Laskine: Les controverses sur le bolchevisme. In: La France Nouvelle 5 (1919), S. 154 – 155. 85 Siehe dazu auch Carroll: Soviet Communism (wie Anm. 2), S. 218.

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3. Die Folgen der Nachkriegskrise (1919 – 1921) Während sich in den Kriegsjahren ähnliche Muster der Perzeption der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien ausmachen lassen, ging die Entwicklung in der Nachkriegskrise von 1919/20 in unterschiedliche Richtungen. Während sich in Frankreich die sozialistische Arbeiterbewegung spaltete und sich Ende 1920 der Parti Communiste Français gründete, der die Sozialisten in die Defensive drängte und bis in die 1980er Jahre ein wichtiger Faktor der politischen Kultur Frankreichs blieb, lässt sich in Großbritannien keine entsprechend tiefe Spaltung der Arbeiterbewegung ausmachen. Obwohl sich 1920 die Communist Party of Great Britain durch den Zusammenschluss einiger Splittergruppen der extremen Linken konstituierte, konnte sich die Labour Party mit einem dezidiert evolutionär-­reformistischen Programm über Jahrzehnte als die dominierende Kraft der Linken behaupten.86 Für diese unterschiedlichen Entwicklungswege spielte die Wahrnehmung der Oktoberrevolution in der Nachkriegskrise eine entscheidende Rolle. Während sich in Frankreich sowohl die Linke als auch die bürgerliche Rechte im politischen Kampf auf die Oktoberrevolution bezogen, lagen die Dinge in Großbritannien anders. Auch wenn Arthur Henderson sicher übertrieb, als er behauptete, die Geschichte der Labour Party lasse sich ohne Erwähnung der Oktoberrevolution schreiben,87 bleibt doch zu konstatieren, dass ihre Resonanz nach dem Ende des ­Ersten Weltkriegs in Großbritannien weitaus geringer als in Frankreich war.88 Ausschlaggebend für diese Differenzen war nicht der große Zulauf, den die Sozialisten in Frankreich nach dem Ende des Kriegs zu verzeichnen hatten, denn dies entsprach einem europäischen Trend, der auch in Großbritannien zu beobachten war, wo die Mitgliederzahlen der Labour Party geradezu explodierten.89 Relevant, aber sicher nicht entscheidend war der Umstand, dass sich die französischen Sozialisten bereits im Herbst 1918 aus der Regierung verabschiedet hatten und nach dem Krieg eine radikale Strategie propagierten, die den Traditionen revolutionärer Rhetorik in Frankreich entsprach, aber nicht auf die Überwindung der Dritten Republik zielte.90 So waren die Unterschiede zur britischen Partei Ende 1918 geringer als es erscheint, denn auch die Labour Party nutzte die Gunst 86 Graubard: British Labour (wie Anm. 42), S. 115 – 139. 87 Klepsch: British Labour (wie Anm. 30), S. 18. 88 Siehe dazu Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945. München 2011, S. 237 – 242; Julius Braunthal: Geschichte der Internationale. Bd. 2. Berlin 21978, S. 180 – 216. 89 Braunthal: Geschichte der Internationale (wie Anm. 88), S. 201. 90 Winkler: Demokratie (wie Anm. 82), S. 20.

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der Stunde, konstituierte sich erstmals als Mitgliederpartei mit lokalen Sektionen und reformierte gründlich ihre Statuten, so dass sie sich in der Nachkriegszeit tatsächlich erstmals als sozialistische Partei bezeichnen lässt.91 Weitaus bedeutsamer für die Unterschiede dürfte vielmehr der Umstand sein, dass die Labour Party von Beginn an eine Art Volkspartei sein wollte,92 die zwar die Interessen der Arbeiterschaft vertrat, aber sich zugleich als Partei einer sozialen Demokratie präsentierte, die auch für den Mittelstand offen war. So erschien die Labour Party nach dem Krieg weniger als Gegnerin der absteigenden Liberalen, sondern als deren Erbe. Nicht zuletzt deshalb waren die Konflikte weniger ausgeprägt als in Frankreich, obwohl es auch in Großbritannien zu Streikbewegungen kam und sich die Lage etwa in den Industrierevieren der Clyde oder in Glasgow zuspitzte. Im Unterschied zu England sahen sich die Sozialisten in Frankreich jedoch in den ersten beiden Nachkriegsjahren einer massiven Mobilisierung der bürgerlichen Kräfte gegenüber,93 die sich erheblich radikalisierten und die Propaganda des Antibolschewismus nutzten, um gegen die SFIO vorzugehen. Dabei kam den rechten Parteien und den Radicaux zugute, dass die inneren Differenzen z­ wischen der Mehrheit und der revolutionären Minderheit in der SFIO weitaus größer als in Großbritannien waren.94 Dies zeigte sich etwa im französischen Wahlkampf von 1919, in dem massiv die Revolutionsfurcht geschürt und selbst linke Gegner der Regierung Lenins unter den Sozialisten als ›Komplizen‹ des Bolschewismus diffamiert wurden. In einer Flut von antibolschewistischen Broschüren, die in den Wahlkreisen verteilt wurden, drängte man die Sozialisten in die Enge, um sie als Verräter an der Nation zu beschimpfen, die mit einem mörderischen, ausländischen Regime im Bündnis ständen. Symbolisiert wird diese Strategie durch ein zur Berühmtheit gelangtes Wahlplakat, das einen Bolschewisten mit einem Messer z­ wischen den Zähnen zeigt. Die Strategie der Bürgerlichen verfing, denn die Sozialisten verloren die Wahlen, in denen 80 Prozent der Stimmen an dezidiert antibolschewistische Kandidaten des ›Nationalen Blocks‹ gingen.95 Unterstützt wurde die Radikalisierung des rechten Antibolschewismus durch den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau, der eine rücksichtslose 91 Wright/Carter: The People’s Party (wie Anm. 23), S. 31; Braunthal: Geschichte der Internationale (wie Anm. 88), S. 127. 92 Siehe Neil McInners: The Labour Movement. Socialists, Communists, Trade Unions. In: The Impact of the Russian Revolution 1917 – 1967. London 1967, S. 32 – 133, hier S. 74. 93 Maier: Recasting (wie Anm. 21), S. 91 – 108. 94 Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 323 – 326. 95 Berstein/Becker: L’histoire (wie Anm. 47), S. 29 – 62; Rod Kedward: La vie en bleu. France and the French since 1900. London 2005, S. 99 f.

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Interventionspolitik verfolgte, um die Regierung der Bolschewiki zu stürzen.96 Eine ­solche Mobilisierung des rechten oder liberalen Antibolschewismus blieb in Großbritannien aus, wo der Ministerpräsident Lloyd George zwar in einem Bündnis seiner Liberalen mit den Konservativen in den Wahlen von 1918 Labour besiegte, aber gleichwohl auf antibolschewistische Propaganda gegen die britische Linke verzichtete. Gegen den Widerstand Churchills verfolgte George zudem eine pragmatische Russlandpolitik, die darauf zielte, den jungen Staat in das europä­ ische Wirtschaftssystem zu integrieren und der Revolution damit die Spitze zu nehmen. Es entsprach den liberalen Prinzipien von Lloyd George, dass er es dem inneren Kräftespiel in Russland überlassen wollte, welches politische System sich dort etablierte. Mit dieser Friedensstrategie kam er auch der Labour Party und den Gewerkschaften entgegen, die mit der Kampagne Hands-­off-­Russia und dem Council of Action Widerstand gegen die Interventionspolitik in Russland und einen möglichen neuen Krieg mobilisiert hatten.97 Diese Bewegung hatte einen pazifistischen Charakter, zielte auf die Selbstbestimmung Russlands und drohte sogar mit dem Generalstreik, nahm aber nie den Charakter einer Mobilisierung für das bolschewistische Revolutionsmodell an, das unter britischen Arbeitern keine Chance hatte.98 So betonte der linke Labour-­Politiker Ramsay MacDonald, dass es nicht möglich sei, die britischen Arbeiter für die Ideen der Bolschewiki in Russland zu interessieren und gar gegen den Parlamentarismus aufzubringen, weil dies nicht ihren Eigeninteressen entspreche: »The English workers would be prepared to destroy the whole of England and the whole world besides for the sake of six pence more per hour, but they would not lift a finger for anything which did not directly concern their stomachs.«99 In Frankreich standen die Dinge anders, denn dort durchlief die Arbeiterschaft nach den gescheiterten Wahlen von 1919 einen Radikalisierungsprozess, der zur Öffnung für die revolutionären Ideen der im März 1919 gegründeten Dritten Internationale führte.100 Nachdem die parlamentarische Strategie der Machteroberung mit den Wahlen von 1919 gescheitert war, gingen die syndikalistischen Eisenbahnergewerkschaften im Frühjahr 1920 zu einem Streik über, der 96 Jean-­Baptiste Duroselle: Clemenceau. Paris 1988, S. 805 – 809; Michael Jabara Carley: Anti-­Bolshevism in French Foreign Policy. The Crisis in Poland in 1920. In: The International History Review 2 (1980) 3, S. 410 – 431. 97 Siehe Niedhart: Zwischen Feindbild und Wunschbild (wie Anm. 49), S. 106 ff.; ferner L. J. MacFarlane: Hands off Russia. British Labour and the Russo-­Polish War, 1920. In: Past & Present 38 (1967), S. 126 – 152. 98 Siehe dazu Graubard: British Labour (wie Anm. 42), S. 83 – 114. 99 Zit. nach Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 334. 100 Siehe Jacques Favet: Histoire du Parti Communiste Français. Bd. 1. Paris 1964, S. 23 – 38.

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die Regierung durch direkte Aktionen in die Knie zwingen und den Weg für eine revolutionäre Entwicklung in Frankreich eröffnen sollte.101 Von der Regierung wurde diese Bewegung als bolschewistische Initiative dargestellt und entsprechend niedergeschlagen.102 Nach dieser weiteren Niederlage entbrannte in der Sozialisten Partei eine bis zum Dezember 1920 durchaus offene Kontroverse über den möglichen Anschluss der SFIO an die Dritte Internationale, da in den Augen vieler Sozialisten die Zweite Internationale der Vorkriegszeit versagt hatte und keine Perspektiven mehr zu bieten schien. Gerade unter jungen Arbeitern in der Stadt, aber auch auf dem Lande, die sich erst nach dem Krieg der sozialis­tischen Bewegung angeschlossen hatten und wenig von deren Vorkriegstraditionen wussten, gewannen die revolutionären Ideen der Bolschewiki an Attraktivität.103 In dieser Situation spielten die Sozialisten Marcel Cachin und Oscar F ­ rossard eine wichtige Rolle, die im Sommer 1920 nach Moskau aufbrachen, um dort die Frage des Anschlusses der SFIO an die Dritte Internationale zu sondieren.104 Anders als eine britische Delegation, die im Frühjahr 1920 nach Russland gereist war und danach einen kritischen Bericht vorgelegt hatte, der selbst die Independent Labour Party zur endgültigen Distanzierung vom bolschewistischen Revolutionsmodell veranlasste,105 setzten sich Cachin und Frossard nach ihrer Rückkehr für den Anschluss der SFIO an die Dritte Internationale ein. Da sich Cachin 1917 noch als Gegner der Bolschewiki positioniert hatte, wurde die französische Delegation zunächst nicht mit offenen Armen empfangen.106 Dennoch durchliefen die beiden Sozialisten eine Art Konversion, so dass sie als glühende Anhänger der Dritten Internationale und des bolschewistischen Russland zurückkehrten, ohne freilich in ihren Berichten in der l’Humanité oder dem Le Populaire die Schattenseiten des Regimes zu unterschlagen.107 Die ›Augenzeugenschaft‹ bekam eine große Bedeutung, als sich Cachin auf dem Parteitag der SFIO in Tours 101 Diese Strategie fand in den gemäßigten britischen Gewerkschaften nur wenige Anhänger. Siehe dazu Stephen White: Labour’s Council of Action 1920. In: Journal of Contemporary History 9 (1974) 4, S. 99 – 122. 102 Berstein/Becker: L’histoire (wie Anm. 47), S. 63 – 85; Sassoon: One Hundred Years (wie Anm. 6), S. 34. 103 Jean-­Jacques Becker/Serge Berstein: Victoire et frustrations 1914 – 1929. Paris 1990, S. 202 f.; Sassoon: One Hundred Years (wie Anm. 6), S. 34. 104 Siehe dazu Albert S. Lindemann: Socialist Impressions of revolutionary Russia, 1920. In: Russian History 1 (1974) 1, S. 31 – 45. 105 White: British Labour (wie Anm. 37), S. 622 f.; Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 394; Graubard: British Labour (wie Anm. 42), S. 211 – 222. 106 Brigitte Studer: Préface Année 1920. In: Marcel Cachin: Carnets 1906 – 1947. Bd. 2: 1917 – 1920. Paris 1993, S. 399 – 4 04, S. 304. 107 Lindemann: Socialist Impressions (wie Anm. 104), S. 44.

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im Dezember 1920 für den Anschluss an die Dritte Internationale einsetzte. In ­diesem Schritt sah der Sozialist eine Chance, die Niederlagen, die seine Partei in der Nachkriegszeit erlitten hatte, wettzumachen und in gewisser Weise zu den revolutionären Traditionen der Zeit vor 1914 zurückzukehren. Zur Überzeugung, dass die Dritte Internationale und das Bündnis mit Sowjetrussland die Möglichkeit einer Revolution in Westeuropa offenhalten könnte, trug der Ausgang des Kriegs gegen Polen im Herbst 1920 erheblich bei.108 Gegen den Anschluss an die Dritte Internationale kämpften gleichwohl die gemäßigten Sozialisten, zu deren Sprecher sich Léon Blum machte.109 Im Gegensatz zu Cachin analysierte Blum die 21 Bedingungen der Internationale und hob deren autoritären Charakter hervor. Die Regierung der Bolschewiki präsentierte er (im Anschluss an die Argumente des linken Antibolschewismus) als Diktatur, die mit den Traditionen des französischen Sozialismus der Zweiten Internationale nicht zu vereinbaren sei. Die Kommunistische Internationale werde die französische Partei unterwerfen und die politische Richtung vorgeben. Als Zinov’ev in einem Telegramm verlangte, die vermittelnde Gruppe um Longuet aus der Partei auszuschließen, und Clara Zetkin plötzlich in Tours auftauchte, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, fühlten sich die gemäßigten Sozialisten in ihrer Einschätzung bestätigt.110 Der Parteitag votierte allerdings dennoch mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an die Dritte Internationale, so dass sich in Tours eine kommunistische Partei mit Massenanhang konstituierte.111

4. Institutionalisierung des Mythos der Oktoberrevolution Die Gründung der Kommunistischen Partei Frankreichs bedeutete nicht nur einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Linken, sondern auch den Beginn einer ›Mythologisierung‹ der Oktoberrevolution.112 Im Prozess der Bolschewisierung des westeuropäischen Kommunismus wurde schon Anfang der 1920er Jahre ein zentralisierter Partei- und Propagandaapparat aufgebaut, der auf die Komintern ausgerichtet war und die Sowjetunion als ein Land auf dem Weg zum Sozialismus 108 Vgl. Marc Lazar: Le communisme une passion française. Paris 2002, S. 28 – 32; Jean Lacouture: Léon Blum. Paris 1977, S. 149. 109 Lacouture: Léon Blum (wie Anm. 108), S. 142 – 168. 110 Nicole Racine: Léon Blum, les socialistes français et l’Union soviétique. In: Lilly ­M arcou (Hrsg.): L’U. R. S. S. vue de gauche. Paris 1982, S. 120 – 153, hier S. 123 – 127. 111 Agosti: Bandiere rosse (wie Anm. 6), S. 36. 112 Berstein/Becker: L’histoire de l’anticommunisme (wie Anm. 47), S. 72.

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darstellte. Dieser Glaube an die sozialistische ›Essenz‹ der Sowjetunion stellte in gewisser Weise den Kern des kommunistischen Milieus dar, das sich rasch entfaltete und seine eigenen politischen Kulte entwickelte. Damit gewann der Mythos der Oktoberrevolution einen ›Resonanzraum‹, in dem gewissermaßen die Vorstellung institutionalisiert wurde, der Rote Oktober sei der Aufbruch in eine neue Welt gewesen.113 In den roten, von Kommunisten regierten Kommunen in der Pariser Banlieue, wie St. Denis, Ivry oder Bobigny, wurde d­ ieses Bild der Oktoberrevolution mittels Aufmärschen und Symbolen (wie der roten Fahne oder dem Singen der Internationale) inszeniert und im Festkalender des kommunistischen Milieus verankert, ohne dass damit allerdings umfängliche Kenntnisse über die Oktoberrevolution bei den Mitgliedern der Partei verbunden gewesen wären.114 Zu ­diesem Prozess der Mythologisierung gehört auch die Entfaltung eines Personenkults um Lenin, der bereits 1920 einsetzte und von Schriftstellern oder Künstlern des kommunistischen Milieus, wie Henri Barbusse, gefördert wurde. Die Errichtung von Lenin-­Büsten in den Maisons du Peuple der lokalen Parteigliederungen und eine heroisierende Berichterstattung in der Presse sorgten dafür, dass der Personenkult rasch Teil der kommunistischen Vorstellungswelt wurde.115 Nicht zuletzt aufgrund dieser Institutionalisierung der bolschewistischen Mythen entwickelte sich der Kommunismus binnen weniger Jahre zu einem festen Bestandteil der politischen Kultur Frankreichs.116 Auch wenn die SFIO die Überhöhung der Oktoberrevolution als Beginn einer neuen, sozialistischen Welt in Russland keineswegs teilte und der Antikommunismus bald zum festen Bestand des Ideenhaushalts der Sozialisten zählte, lehnte die Partei die Russische Revolution nicht völlig ab, weil diese dennoch zur Tradition der europäischen Arbeiterbewegung gerechnet wurde. Diese ambivalente Haltung zeichnete sich dadurch aus, dass Sozialisten einerseits scharfe Kritik an der Kommunistischen Partei und ihrer Politik in Frankreich übten, andererseits aber Solidarität gegenüber der Sowjetunion proklamiert wurde, sofern diese gegen den ›Imperialismus‹ verteidigt werden müsse.117 Eine ähnliche »reluctant 113 Kroll: Kommunistische Intellektuelle (wie Anm. 63), S. 47 – 58. 114 Siehe zu ­diesem Prozess Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 114 f.; siehe ferner Christina Léon: Zwischen Paris und Moskau: Kommunistische Vorstadtidentität und lokale Erinnerungskultur in Ivry-­sur-­Seine. Berlin 2012, S. 37, hier 72 – 76. 115 Siehe dazu Kevin Morgan: International Communism and The Cult of the Individual. Leaders, Tribunes and Martyrs under Lenin and Stalin. London 2017, S. 25 – 27; Cœuré: La Grande Lueur (wie Anm. 14), S. 113 f. 116 Berstein/Becker: L’histoire de l’anticommunisme (wie Anm. 47), S. 55. 117 Siehe Nicole Racine: Le Parti socialiste (S. F. I. O.) devant le bolchevisme et la Russie soviétique 1921 – 1924. In: Revue française de science politique 21 (1971), S. 281 – 315.

Die Resonanz der Oktoberrevolution in Frankreich und Großbritannien (1917 – 1921)  |

toleration«118 gegenüber den britischen Kommunisten, die freilich eine Splittergruppe ohne eigenes Milieu blieben, findet sich auch in der Labour Party, in der die Sowjetunion als Arbeiterstaat verehrt wurde und die Oktoberrevolution als dessen Gründungsereignis erinnert wurde.119 Doch verband sich mit dieser Haltung zugleich eine scharfe Kritik an der Dritten Internationale und deren Bestrebungen, den Kommunismus in Großbritannien zu verbreiten. Auch wenn die Communist Party of Great Britain anders als die KP in Frankreich niemals als ernsthafte Konkurrenz der demokratischen Sozialisten zu betrachten war, wahrte die Labour Party vorsichtige Distanz zu den Kommunisten und überhöhte die Oktoberrevolution nicht als Zäsur der Weltgeschichte.120 Welche politische Resonanz die Oktoberrevolution in Westeuropa gewinnen konnte, hing insofern von einer spezifischen Gemengelage innen- und außenpolitischer Konflikte, politischer Traditionen und den konkreten Dynamiken der transnationalen Transferprozesse ab, die sich in Frankreich und Großbritannien in den Nachkriegsjahren höchst unterschiedlich gestalteten.

118 Jeniffer Luff: Labor Anticommunism in the United States of America and the United Kingdom 1920 – 49. In: Journal of Contemporary History 53 (2018) 1, S. 102 – 133, S. 119. 119 Siehe Carroll: Soviet Communism (wie Anm. 2), S. 15, ferner Naarden: Socialist Europe (wie Anm. 17), S. 395, 408. 120 Graubard: British Labour (wie Anm. 42), S. 5; siehe dagegen Furet: Das Ende der I­ llusion (wie Anm. 64), S. 133.

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Hans Woller

Toxische Fernwirkungen Die Resonanz der Oktoberrevolution in Italien

Dass Italien ein Pulverfass war, blieb keinem Beobachter verborgen. Seit die Industrielle Revolution das Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriffen hatte, machten sich starke zentrifugale, auf innere Zersetzung gerichtete Kräfte bemerkbar: Der moderne, industriell geprägte Norden entfernte sich immer weiter vom agrarisch-­rückständigen Süden. Die Spannungen ­zwischen den selbstbewussten Industriearbeitern und den Arbeitgebern verschärften sich ebenso wie die Konflikte ­zwischen den Großagrariern und dem riesigen Heer der Kleinpächter und Tagelöhner, die vielfach wie Sklaven behandelt wurden, aber ebenfalls langsam zum politischen Leben erwachten. Hinzu kamen ideologische Verhärtungen in den verschiedenen Lagern. Bei den Großagrariern und Industriebossen setzten sich die auf Konfrontation bedachten Kräfte durch, die jeden Kompromiss in den Tarifverhandlungen und Streiks verteufelten. Nicht anders war es bei den Organisationen der Arbeiterbewegung, in denen sich die radikalen Stimmen mehrten und nicht mehr auf einen Nenner zu bringen waren. Namentlich die Anarchisten, die Syndikalisten und die Maximalisten in der erstarkten sozialistischen Partei erlebten einen nie da gewesenen Aufschwung. Sie und die sturen Vertreter des Status quo auf der Gegenseite gossen überall Öl in das Feuer sozialer Brandherde – mit der Folge, dass sich die Spirale gewalttätiger Auseinandersetzungen weiter beschleunigte. Italien stand vor 1914 mehrmals am Rande eines Bürgerkrieges.1 Im ­Ersten Weltkrieg beruhigte sich die Lage mitnichten. Im Gegenteil: In die sozialen und ideologischen Kämpfe mischte sich nach 1914 der erbitterte Streit ­zwischen Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern, der quer durch alle politischen Lager ging und die Gräben im Land weiter vertiefte. Italien war reif – aber wofür? Die Antwort auf diese Frage blieb lange in der Schwebe. Sie stellte sich 1917 mit neuer Dringlichkeit, weil nun – mit den Revolutionen in Russland – eine Art Blaupause für die Richtung vorlag, in die sich Italien entwickeln konnte. Wie ging man mit ­diesem Modell um? Was wusste man in Italien überhaupt von den Ereignissen in Russland? Wie verhielt sich die sozialistische Partei, die seit vielen Jahren im engen Austausch mit den russischen Sozialisten stand, als sie vom 1 Siehe Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 17 – 93.

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Sturz des Zaren erfuhr? Wie reagierte die italienische Regierung auf die Russische Revolution? Und: Wie positionierte sich Mussolini, dessen Antibolschewismus sogar Hitler imponierte und die ideologische Seelenverwandtschaft der beiden faschistischen Diktatoren begründet haben soll?2

1. Revolutionsnachrichten Die Öffentlichkeit wusste von den Ereignissen in Russland nicht sehr viel und selten Verlässliches. Das lag zum einen an der italienischen Presse, die so gut wie keine eigenen Auslandskorrespondenten hatte und deshalb auf die Informationen der großen internationalen Nachrichtenagenturen angewiesen war. Reuters spielte dabei eine zentrale Rolle, ohne dass man allerdings sagen könnte, sie habe in puncto Objektivität das Äußerste getan: Lenin war und blieb für Reuters eine »zwielichtige Figur«, und die Bolschewiki erschienen in ihren Berichten als ein Haufen wilder Abenteurer, der dem Untergang geweiht war.3 Dass man in Italien lange im Dunkeln tappte, hatte zum anderen mit der strengen Zensur zu tun, die von der Regierung bereits beim Kriegseintritt 1915 verhängt worden war. Die italienische Bevölkerung durfte nichts erfahren, was die Stimmung trüben und die Spannungen in der vielfach gespaltenen Gesellschaft anheizen konnte. Die Regierung, das Königshaus und das Militär befanden sich in einer komfortableren Nachrichtenlage. Sie hatten Zugang zur internationalen Presse, und sie erfuhren von den Botschaftern der Verbündeten, w ­ elchen Kenntnisstand man in London und Paris hatte – theoretisch jedenfalls. Die eigenen Quellen waren dagegen dünn. Rom unterhielt zwar eine Botschaft in Petrograd. Der Botschafter erwies sich aber als Fehlbesetzung und wurde im Herbst 1917 abgelöst 4 – mitten in der heißen Phase der Revolution. Der neue Mann und sein Vorgänger, beides konservative Grafen, standen den revolutionären Umwälzungen fassungslos gegenüber; die Ursachen blieben ihnen ebenso verborgen wie die Motive der Radikalisierung, die von Monat zu Monat zuzunehmen schien. Entsprechend einseitig fielen ihre Berichte aus.

2 Siehe dazu allgemein Wolfgang Schieder: Adolf Hitler – Politischer Zauberlehrling Mussolinis. Berlin/Boston 2017. 3 Martin Aust: Die russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. München 2017, S. 218 f. 4 Siehe Valentine Lomellini: La »grande paura« rossa. L’Italia delle spie bolsceviche (1917 – 1922). Mailand 2015, S. 27 – 29; Giorgio Petracchi: L’intervento italiano in Russia (1917 – 1919). In: Storia contemporanea (1975), Nr. 3, S. 520 – 522.

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Hinzu kamen technische Probleme wie der Ausfall des Telefon- und Telegrafenverkehrs und schließlich die Tatsache, dass die Botschaft evakuiert werden musste und so den Kontakt zu den Entscheidungsträgern in Russland verlor.5 Im Grunde war deshalb auch der Regierung in Rom nur Folgendes bekannt: Der Zar war im Februar gestürzt worden. Die Provisorische Regierung lag beim Parlament, das sich die Macht mit Arbeiter- und Soldatenräten teilte. Diese Doppelspitze stellte weitreichende Neuerungen wie eine Landreform in Aussicht und versicherte den Alliierten, dass sie sich an ihre Bündnisverpflichtungen im Krieg gegen die Mittelmächte halten werde. Was es mit Aleksandr Kerenskij, seit Sommer 1917 der starke Mann in Russland, auf sich hatte, was die Menschewiki und die Bolschewiki planten, wie das alte Establishment über die neue Entwicklung dachte – auf ­solche Fragen gab es nur vage Antworten. Auch von Lenin und seinem politischen Projekt wusste man nur, dass er aus dem Krieg ausscheiden und die Weltrevolution entzünden wollte.6 1918/19 verbesserte sich die Nachrichtenlage vor allem deshalb, weil nun zahlreiche russische Emigranten aller Couleur in den Westen kamen und ihre Wahrheiten mitbrachten. Der Fokus der Berichterstattung blieb aber auf Petrograd und Moskau gerichtet, während über die Lage in den Provinzen und über den Stand des Bürgerkriegs nur ganz allgemeine Informationen und viele Gerüchte kursierten. Genaueres wusste man in Italien nicht.

2. Das gespaltene Echo der Sozialisten Das galt auch für den Partito Socialista Italiano (PSI ), die sozialistische Partei, die im Februar 1917 enthusiastisch auf die Meldungen aus Petrograd reagierte – enthusiastisch und geschlossen, was es seit langem nicht mehr gegeben hatte. Die Partei war nämlich in allen wesentlichen Fragen heillos zerstritten und fand auch jetzt nur deshalb eine gemeinsame Linie, weil die beiden großen Flügel die Ereignisse in Russland so deuteten, wie es ihren politischen Bedürfnissen entsprach: 5 Der Botschafter zog sich anfangs nach Schweden zurück, nur eine kleine Militärmission verblieb in Petrograd. Später musste die Botschaft noch mehrmals umziehen und verlor so völlig den Kontakt zu Rom und zur russischen Regierung; Botschafter Tomasi Della Torretta an Außenminister Sonnino, 16. 3. 1918. In: I Documenti Diplomatici Italiani (künftig: DDI ). Quinta Serie: 1914 – 1918, Bd. X, S. 348 f. Siehe auch Botschafter Tomasi Della Torretta an Außen­minister Sonnino, 6. 8. 1918, in: DDI, Quinta Serie, Bd. XI, S. 277 f.; Botschafter Tomasi Della Torretta an Außenminister Sonnino, 11. 8. 1918. In: Ebd., S. 301. 6 Siehe Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus. München 2001.

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Die Reformer, sprich die meisten Abgeordneten, die Gewerkschaften und die Kooperativen, begrüßten die Februarrevolution, die in ihren Augen eine demokratische Revolution und damit, Marx folgend, eine historisch notwendige Etappe auf dem Weg zum Sozialismus war. Dass die neue russische Regierung grundlegende gesellschaftliche Reformen verhieß und die Kriegsanstrengungen zu intensivieren versprach, fand ebenfalls ihren Beifall. Die neuen Männer in Russland waren Brüder im Geiste und ebenso an einem militärischen Sieg der Alliierten interessiert wie sie, die Reformer in Italien, die sich seit der militärischen Katastrophe von Caporetto im Oktober 1917 offen zum existenziell bedrohten Vaterland bekannten.7 Lenin hingegen war für die Reformer ein rotes Tuch. Sie missbilligten seinen Revolutionsfuror, weil er angeblich den Lehren des Marxismus widersprach, und sie verurteilten seinen radikalen Friedenskurs, der ihrer Meinung nach den Alliierten und insbesondere Italien schaden musste. Zu groß schien die Angst, dass die deutschen oder österreichisch-­ungarischen Divisionen, die nach einem Friedensschluss im Osten frei würden, an der hart umkämpften Italienfront zum Einsatz kommen und dort die Lage entscheiden könnten. Patriotische Empfindungen dieser Art waren den Maximalisten beziehungsweise den Revolutionären in der sozialistischen Partei völlig fremd. Sie hielten den Krieg für einen Krieg der Kapitalisten, in dem nur das Volk blutete, und wollten sich nicht daran beteiligen – er ging sie nichts an. Die Februarrevolution in Russland war in ihren Augen nur die erste Etappe einer Umwälzung, die unweigerlich und rasch zur Machtergreifung der Sozialisten und zum Frieden führen musste. Von Lenin und den Bolschewiki hatten bis dahin nur die wenigsten etwas gehört, was ihrer Begeisterung allerdings keinen Abbruch tat: »Wir kannten weder ihr Programm noch ihre Ideologie«, bekannte einer später. »Wir standen rückhaltlos auf ihrer Seite, weil sie gegen die Fortsetzung des Krieges waren und weil sie, was vielleicht noch mehr zählte, von allen Kriegstreibern, von der ganzen italienischen Bourgeoisie angegriffen und beleidigt wurden.«8 Lenin, kurz zuvor noch ein großes Fragezeichen, war nun plötzlich – schon vor der Oktoberrevolution – die große Hoffnung der italienischen Maximalisten, die in ihm bald auch einen großen Erneuerer des Marxismus erblickten. Lenin,

7 Siehe Giovanna Procacci: L’Italia nella Grande Guerra. In: Giovanni Sabbatucci/ Vittorio Vidotto (Hrsg.): Storia d’Italia. Bd. 4: Guerre e fascismo 1914 – 1943. Rom/ Bari 1998, S. 79 f. 8 Zit. nach Stefano Caretti: I socialisti e la grande guerra (1914 – 1918). In: Giovanni ­Sabbatucci (Hrsg.): Storia del socialismo italiano. Bd. 3: Guerra e dopoguerra (1914 – 1926). Teil 1. Rom 1980, S. 80.

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so sah es etwa Antonio Gramsci, habe »die Lehren von Marx von jenen positivistischen und naturalistischen Verkrustungen befreit«, die zu dem Schluss zwangen, dass der »Lauf der Geschichte in höchstem Maße von ökonomischen Faktoren« abhängig sei.9 »Fare come in Russia« – es so machen wie in Russland 10 –, hieß ihr Motto, das namentlich an der sozialistischen Basis begeisterte Zustimmung fand. Lenin galt dort als Kopf der Revolution, als Friedensbringer und Schutzpatron aller Proletarier dieser Welt – und daran änderte sich auch nach der militärischen Katastrophe der italienischen Streitkräfte bei Caporetto, der Oktoberrevolution und dem Separatfrieden der Russen mit den Mittelmächten im Frühjahr 1918 nichts. Erst als 1918/19 klar zu werden begann, was Bolschewismus in der Praxis hieß, nämlich Hunger, Terror und Bürgerkrieg, wachten viele Maximalisten aus ihren Umsturzdelirien auf und meldeten Zweifel an, ob Russland tatsächlich als Beispiel für Italien dienen konnte. Allerdings: Diese Zweifel schlugen sich nur in endlosen Theoriedebatten nieder, die nicht einmal alle Schriftgelehrten der Partei decodieren konnten. In die große Öffentlichkeit drangen sie nicht. Die Sozialisten gaben sich geschlossen und hielten sich an die Parteitags­beschlüsse, die den Stempel der dominierenden Maximalisten trugen.11 Die Revolutionspropaganda ging also ungebremst weiter. Auch zahlreiche Genossen, die es längst besser wussten, ließen sich immer wieder zu Hymnen auf Lenin, die Revolution und die Diktatur des Proletariats hinreißen, so dass sich die Umsturzerwartung an der Basis weiter steigerte und die Lenin-­ Begeisterung fast messianische Züge gewann.12 Warum? Warum waren gerade in Italien die Industrie- und Landarbeiter so empfänglich für die Botschaften Lenins? In Italien herrschte schon seit 1900 ein latenter Bürgerkrieg, der sich häufig in blutigen Zusammenstößen ­zwischen der Arbeiterschaft und den staatlichen Sicherheitskräften entlud; selbst das Militär kam dabei regelmäßig zum Einsatz. Hunderte von Toten waren Jahr für Jahr bei diesen Konflikten zu beklagen, die sich immer wieder um die gleichen Forderungen drehten: Land für die Tagelöhner, Pächter und Kleinbauern, mehr Lohn und bessere soziale Absicherungen für die Industriearbeiter. Der Staat war für diese beiden gesellschaftlichen Gruppen nichts anderes als ein Feind, der die 9 Stefano Caretti: La rivoluzione russa e il socialismo italiano (1917 – 1921). Pisa 1974, S. 142. 10 Siehe dazu allgemein Giorgio Petracchi: Il mito della rivoluzione sovietica in Italia, 1917 – 1920. In: Storia contemporanea (1990), Nr. 6, S. 1107 – 1130. 11 Caretti: La rivoluzione russa (wie Anm. 9), S. 159. 12 Siehe ebd., S. 93 und S. 63.

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Großindustriellen und die Großagrarier schützte und ihre eigenen, nur allzu gerechten Forderungen mit brutaler Repression beantwortete. Der Krieg, die dadurch verschärfte soziale Misere und das Signal aus Russland bestätigten diese tiefverwurzelten Perzeptionen ewiger Benachteiligung – das Volk, so die Devise der lautstärksten Sozialisten, hatte im Krieg nichts zu gewinnen. Es war höchste Zeit, ihn zu beenden. Lenins Forderungen oder das, was man dafür hielt, trafen den Nerv dieser breiten gesellschaftlichen Schichten, die seit 1919 ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen: Sie traten in den Streik und besetzten die großen Fabriken Norditaliens, sie legten den Verkehr lahm, enteigneten zahlreiche Großgrundbesitzer und gingen dabei so brachial zu Werke, dass sogar vielen Sozialisten der Atem stockte. Italien, so schien es vielen, stand 1919/20 am Vorabend einer blutigen Revolution. Die sozialistische Partei profitierte von dieser Stimmung. Sie wurde in den Parlamentswahlen 1919 zur stärksten Partei und gewann bei den Kommunalwahlen vor allem in Norditalien satte Mehrheiten. Sie fand aber nie eine Antwort auf die Frage, was sie mit ihrer Macht anfangen sollte. Der parlamentarische Weg in die sozialistische Zukunft, wie ihn die Reformer skizzierten, verbot sich wegen der revolutionären Stimmung im eigenen aufgewühlten Anhang. Der revolutionäre Weg war nach der Beschlusslage eigentlich verbindlich. Die Maximalisten sprachen auch ständig davon. Sie riefen sogar zu Solidaritätsstreiks für die Russische Revolution auf und zögerten 1919 keine Sekunde, der Kommunistischen Internationale beizutreten, womit sie noch einmal bekräftigten, dass ihnen die Ziele Lenins heilig waren.13 Den Worten der Umsturzpropheten folgten aber keine Taten; die Maximalisten konnten sich nicht einmal auf ein Aktionsprogramm einigen und zerstritten sich am Ende doch noch über den definitiven Beitritt zur Kommunistischen Internationale. Sie blieben Revolutionsträumer – mit der fatalen Folge freilich, dass sie die Erwartungen der Basis ebenso anheizten wie die Vergeltungswut der Schichten, die sich von ihren radikalen Verheißungen bedroht fühlten. Nur eine kleine Minderheit um Amedeo Bordiga, Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti meinte es wirklich ernst. Sie brach im Januar 1921 endgültig mit der Mutterpartei und rief die Kommunistische Partei Italiens ins Leben.14

13 Caretti: La rivoluzione russa (wie Anm. 9), S. 186 und S. 191. 14 Siehe Helmut König: Lenin und der italienische Sozialismus 1915 – 1921. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte der kommunistischen Internationale. Tübingen 1967.

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3. Die ambivalente Haltung der Regierung Angesichts der Tatsache, dass es im eigenen Land eine revolutionäre Linke mit umsturz- und gewaltbereitem Massenanhang gab, war die Reaktion der Regierung leicht vorhersehbar – könnte man meinen. Doch so einfach war die Sache nicht: Die Regierung in Rom begrüßte die Februarrevolution, aber nicht, weil ihr die neuen Freiheiten für das russische Volk viel bedeutet hätten. Ihr ging es einzig und allein um die Intensivierung der Kriegsanstrengungen, die die neuen Machthaber in Petrograd versprachen. An ­diesem Kriterium maß man in Rom auch die Regierung Kerenskij und schließlich die bolschewistische Regierung, die seit der Machtübernahme auf einen raschen Friedensschluss zusteuerte und deshalb in Rom auf heftige Ablehnung stieß.15 Dass Lenin und seine Genossen das Zarenreich nach bolschewistischen Vorstellungen umkrempelten und dabei alles aus dem Weg räumten, was ihnen als störend erschien, und dass sie die Revolution in alle Welt tragen wollten, kümmerte in Rom zunächst nur wenige. Diese Aspekte traten erst nach dem ­Ersten Weltkrieg in den Vordergrund – erst nach 1918 fürchtete man in Rom eine Art Ansteckung, wobei aber nie klar zu erkennen war, wie tief diese Angst in den staatlichen Stellen wirklich saß und in welchem Maße sie instrumentalisiert wurde, um die sozialistische Opposition und jede andere Form von Dissidenz zu unterdrücken. Im Z ­­ eichen der Ambivalenz stand auch die Russlandpolitik der italienischen Regierung. 1917/18 lehnte sie Kontakte zur Regierung Lenin kategorisch ab; sie schickte sogar kleine militärische Kontingente nach Archangel’sk, Murmansk und nach Sibirien,16 die dort an der Seite der Alliierten nicht nur die bolschewistische Revolution eindämmen und die »Etablierung einer starken deutschen Position«17 verhindern sollten; sie sollten auch Flagge zeigen und den Anspruch Italiens auf eine Großmachtrolle unterstreichen.18 Rom wäre sogar bereit gewesen, eine wie auch immer beschaffene russische Gegenregierung anzuerkennen, vorausgesetzt, 15 Außenminister Sonnino an die Botschaften in London, Paris, Washington und Petrograd, 25. 12. 1917. In: DDI. Quinta Serie, Bd. IX, S. 545. 16 Siehe Giorgio Petracchi: L’intervento italiano in Russia (wie Anm. 4), S. 465 – 522; ders.: La Russia rivoluzionaria nella politica italiana. Le relazioni italo-­sovietiche 1917 – 25. Rom/Bari 1982, S. 85 – 97. 17 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, S. 161. 18 Außenminister Sonnino an die Botschaften in London, Paris, Washington, an den Kriegsminister und an den Generalstabschef des Heeres, 24. 6. 1918. In: DDI. Quinta Serie, Bd. XI, S. 98.

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dass sie gegen die Bolschewiki vorgegangen wäre.19 Selbst die Teilnahme an einer militärischen Intervention schloss die italienische Regierung nicht aus.20 Der Botschafter drängte ständig in diese Richtung, er sah in einer Militäraktion gegen die Bolschewiki eine »humanitäre Pflichtaufgabe«.21 1919/20 drehte der Wind. Die italienische Regierung korrigierte ihren Kurs, und zwar ohne Rücksicht darauf, dass sich die bolschewistische Regierung zu konsolidieren begann und der innere Terror in Russland auf einen ersten Höhepunkt zusteuerte. Den Ausschlag für diese Korrektur gab die Enttäuschung über die Politik der alten Verbündeten, die Italiens territoriale Ansprüche bei den Friedensverhandlungen zurückwiesen und Italien auch sonst keinen Raum für Expansionen ließen. Rom musste also, wenn es nicht in das zweite oder dritte Glied zurücktreten wollte, neue Allianzen suchen, wobei neben dem Deutschen Reich auch das bolschewistische Russland ins Visier geriet. Italien zog deshalb das Truppenkontingent aus Russland zurück,22 Rom votierte gegen westliche Einmischungen in die inneren Verhältnisse Russlands und brachte schon 1920 den Gedanken ins Spiel, den wirtschaftlichen Austausch wieder aufzunehmen – gleichsam als Vorspiel zu einem Neustart der diplomatischen Beziehungen.23 So groß kann die Furcht vor einer Bolschewisierung Italiens also nicht gewesen sein. Die Ministerpräsidenten Francesco Saverio Nitti und Giovanni Giolitti kannten das Potenzial ihrer Sicherheitskräfte. Ihnen war auch nicht verborgen geblieben, dass weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung bolschewistische Experimente fürchtete; da und dort bildeten sich im Zeichen ­­ der grande paura rossa sogar erste Bürgerwehren, die in grimmiger Entschlossenheit nur einen Zweck verfolgten: den Linken mit Waffengewalt entgegenzutreten. Und Nitti und ­Giolitti wussten schließlich genau, dass die sozialistische Partei tief gespalten und in ihrer großen Mehrheit letztlich nicht bereit war, das Signal zum großen Sturm zu geben. Italien, so ihre gelassene Einsicht, war nicht reif für eine sozialistische Revolution – es sah in manchen Gegenden nur so aus. 19 Außenminister Sonnino an die Botschaften in Paris, London, Washington und Russland, 9. 11. 1918. In: DDI. Sesta Serie: 1918 – 1922, Bd. I, S. 41. 20 Botschafter Tomasi Della Torretta an Außenminister Sonnino, 14. 10. 1918. In: DDI. Quinta Serie, Bd. XI, S. 508; Außenminister Sonnino an die Botschaften in London, Paris, Tokio, Washington, in Russland und an den Generalstabschef des Heeres, 21. 10. 1918. In: Ebd., S. 544 f. 21 Botschafter Tomasi Della Torretta an Außenminister Sonnino, 14. 10. 1918. In: DDI. Quinta Serie, Bd. XI, S. 508; Botschafter Tomasi Della Torretta an Außenminister Sonnino, 21. 6. 1918. In: Ebd., S. 83. 22 Lomellini: La »grande paura« rossa (wie Anm. 4), S. 92. 23 Tommaso Detti: La Rivoluzione d’ottobre e l’Italia. In: Studi Storici 15 (Oktober – Dezember 1974), 4, S. 891.

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4. Mussolini und der »carnevale leninista« Mussolini nahm die Nachricht vom Sturz des Zaren mit ebenso großer Begeisterung auf wie die Meldung, dass Kerenskij im Juli 1917 die Macht an sich gerissen hatte. Der neue Diktator habe die »russische Revolution und das Russland der Revolution« gerettet.24 Die Bildung der ersten provisorischen Regierung und deren autoritäre Umbildung durch Kerenskij 25 liefen auf eine Intensivierung des Krieges und auf eine Bestätigung seiner These hinaus, der Krieg werde eine soziale Revolution nach sich ziehen. »Die Revolution fürchtet den Krieg nicht, der Krieg rettet die Revolution«, schrieb er im Juli 1917.26 So ähnlich hatte es Mussolini 1914/15 prophezeit und mit dieser Vorhersage hatte er für den Kriegseintritt Italiens gekämpft. Lenin und die Oktoberrevolution hingegen waren ihm ein Dorn im Auge. Die Revolution an sich störte ihn dabei nicht. Er träumte 1917/18 ja selbst von großen Umwälzungen; dass diese das Werk einer revolutionären Avantgarde sein und zahlreiche Opfer unter der führenden Schicht fordern würde, hielt er für selbstverständlich. In puncto Radikalität und revolutionärer Umsturzambition stand Mussolini Lenin nicht nach. Er hatte vor 1914 nicht umsonst dem revolutionären Flügel der sozialistischen Partei angehört und wahre Hassfeldzüge gegen das bürgerlich-­aristokratische Establishment geführt. Mussolini hätte das Zeug zum Leninisten gehabt, wenn der Nationalist, der Imperialist und der Antisemit in ihm nicht in eine ganz andere Richtung gezogen hätten. Lenin wollte Frieden um jeden Preis, um die Revolution zu retten. Bei Mussolini war es umgekehrt: Er wollte den Krieg, um eine Revolution zu beginnen und um der Größe Italiens willen, dessen Grenzen in seinen Augen viel zu eng gezogen waren. Krieg, Revolution und imperiale Expansion gehörten in seinem Zukunftsprojekt zusammen. Grundvoraussetzung für ­dieses Projekt war die Schaffung einer schlagkräftigen Volksgemeinschaft, in der für fremde Elemente und sogenannte Volksfeinde kein Platz war.27 Wer zu diesen Gruppen zählte, bestimmte Mussolini. Es würde zu weit führen, d ­ ieses Projekt und dessen voraussichtliche Kollateralschäden in allen Einzelheiten darzustellen. Zwei 24 »Viva Kerensky!«, 26. 7. 1917. In: Edoardo Susmel/Duilio Susmel (Hrsg.): Opera Omnia di Benito Mussolini (im Folgenden: OO). Bd. IX: Dalla crisi del ministero Boselli al Piave (18 giugno 1917 – 29 ottobre 1917). Florenz 1952, S. 77. 25 Siehe Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. München 2001, S. 465 – 481; Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjet­union 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 80 – 87, sowie die Neuauflage aus dem Jahr 2017. 26 Bandiere rosse, 5. 7. 1917. In: OO. Bd. IX, S. 27. 27 Siehe Hans Woller: Mussolini. Der erste Faschist. München 2016, S. 159 – 161.

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Opfergruppen sollen allerdings herausgegriffen werden, weil sie Mussolini besonders wichtig waren und weil sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Oktoberrevolution standen: die Juden und die Sozialisten. Die Juden waren ihm schon lange unheimlich. Jetzt – 1918/19 – steigerte sich diese Abneigung, weil er in ihnen die Drahtzieher des Bolschewismus und – noch schlimmer – des Defätismus in Russland sah. Nicht genug damit, dass er Lenin als deutschen Agenten denunzierte,28 er betrachtete ihn auch als Juden und erfand sogar einen neuen Namen für ihn: Ceorbaum beziehungsweise Cederbaum.29 Fast die ganze Führung der Kommunistischen Partei war laut Mussolini in jüdischer Hand, und zwar in Russland ebenso wie in Ungarn, wo 1919 der Kommunist Béla Kun die Macht erobert und die Revolutionshoffnungen der europäischen Linken weiter gestärkt hatte. Diese Juden in höchsten Führungspositionen wurden, so Mussolini, vom Finanzkapital in London und New York gesteuert, das ebenfalls von Juden beherrscht werde. Die Juden rächten sich damit an der arischen Rasse, die sie viele Jahrhunderte lang zur Zerstreuung [über die ganze Welt] verdammt hat. […] Die von den Juden dominierte und kontrollierte internationale Plutokratie hat ein überragendes Interesse daran, dass der Prozeß der völligen Desintegration des Lebens in Russland auf den Höhepunkt getrieben wird. Ein gelähmtes, desorganisiertes und dem Hunger ausgeliefertes Russland wird morgen das Feld sein, auf dem die Bourgeoisie […] wie die Made im Speck leben wird. Die Könige des Goldes meinen, dass der Bolschewismus noch etwas fortdauern sollte, um den Boden für neue Aktivitäten des Kapitalismus noch besser bereiten zu können.30

Diese fast von der gesamten Mussolini-­Forschung übersehene Analyse stammt vom 4. Juni 1919.31 Lenin und der Bolschewismus erscheinen darin als ›Werkzeuge des jüdischen Finanzkapitals‹, das entschlossen sei, sich an der »arischen Rasse« 28 Da Stürmer a Lénine, 25. 7. 1917. In: OO. Bd. IX, S. 74. 29 Avanti, il mikado!, 11. 11. 1917. In: OO. Bd. X: Dal Piave al convegno di Roma (30 ottobre 1917 – 12 aprile 1918). Florenz 1952, S. 41. 30 I complici, 4. 6. 1919. In: OO. Bd. XIII: Dal discorso di Piazza San Sepolcro alla marcia di Ronchi (24 marzo 1919 – 13 settembre 1919). Florenz 1954, S. 169 f.; siehe auch Apologia o condanna? Il »Documento« Sadoul, 16. 3. 1919. In: OO. Bd. XII: Dagli armistizi al discorso di Piazza San Sepolcro (13 novembre 1918 – 23 marzo 1919). Florenz 1953, S. 301. – Im Oktober 1920 nahm er die Behauptung, der Bolschewismus sei eine Schöpfung der Juden ohne nähere Begründung wieder zurück. Siehe dazu Ebrei, bolscevismo e sionismo italiano, 19. 10. 1920. In: OO. Bd. XV: Dal secondo congresso dei fasci al trattato di Rapallo (26 maggio 1920 – 12 novembre 1920). Florenz 1954, S. 269. 31 Eine Ausnahme bildet Richard J. B. Bosworth: Mussolini. Un dittatore italiano. Mailand 2004, S. 153, der allerdings die ideologische Bedeutung ­dieses Zitats nicht erkannte. Siehe auch Giorgio Petracchi: La Russia rivoluzionaria nella politica italiana. Le relazioni

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zu rächen – sie erscheinen damit als tödliche Bedrohung der westlichen Welt, die Mussolini allerdings eher auf die leichte Schulter nahm. Zugleich figurierten sie in Mussolinis Analyse aber als Erfüllungsgehilfen des Bürgertums, das in Russland nach dem vollbrachten Vernichtungswerk der Juden eine Art Schlaraffenland erwartete, in dem der Kapitalismus weitere vielversprechende Betätigungsfelder finden werde. Zwei Jahre später, 1921, hatte sich diese Prophezeiung erfüllt. Russland war in Mussolinis Augen »ein kapitalistischer Staat, wie er im Buche stand«. Die kommunistische Regierung habe ihren Namen nicht verdient. Sie sei in »Wahrheit nichts anderes als eine ›bürgerliche‹ Regierung«, die es zu bekämpfen galt.32 Wenn Mussolini über den Juden Lenin und die jüdischen Bolschewisten herfiel, wollte er aber nicht nur die neue russische Regierung treffen. Vor allem ging es ihm darum, seine alten Genossen zu attackieren, die ihn 1914 aus der sozialistischen Partei geworfen hatten. Die Geister hatten sich damals am Kriegseintritt geschieden – der PSI war dagegen, Mussolini dafür gewesen. Seitdem denunzierte er die Sozialisten als Vaterlandsverräter, als »große Verbrecherbande« und als »schreckliche Feinde«,33 die nach 1917/18 alles nur noch schlimmer machten, weil sie sich mit großer Mehrheit auf die Seite der Bolschewisten schlugen, die Russland aus dem Krieg führten und damit der Sache Italiens schadeten. Oder anders formuliert: Die Sozialisten dienten den Interessen der Juden und besorgten das Geschäft einer ruchlosen internationalen Bourgeoisie, die in Russland ungeahnte neue Expansions- und Gewinnchancen erwartete. Der Überlebenskampf des Vaterlands und die vitalen Expansionsprojekte Italiens galten ihnen dagegen schändlicherweise so gut wie nichts. Mussolini zog mit beispielloser Aggressivität und Häme über die Sozialisten her. Kein Wunder: Sie störten nicht nur seine Vision einer zu imperialistischen Abenteuern aufgelegten Volksgemeinschaft, sondern banden auch breite soziale Schichten, die er als Gefolgschaft für sich selbst beanspruchte. Ebenso klar ist aber, dass er weder die Sozialisten noch eine Ansteckung der italienischen Gesellschaft durch das Virus der Russischen Revolution fürchtete. Italien sei genauso wenig Russland wie Deutschland, wo der bolschewistische Funke auch nicht gezündet habe.34 italo-­sovietiche 1917 – 25, mit einem Vorwort von Renzo De Felice. Rom/Bari 1982, der ebenso wie De Felice die Bedeutung des Antibolschewismus für Mussolini relativiert. 32 Italia e Russia, 2. 11. 1921. In: OO. Bd. XVII: Dal primo discorso alla camera alla conferenza di Cannes (22 giugno 1921 – 13 gennaio 1922). Florenz 1955, S. 204 – 205. 33 Ciò che abbiamo ottenuto, 25. 12. 1917. In: OO. Bd. X, S. 167. 34 Liebknecht è stato fucilato, 17. 1. 1919. In: OO. Bd. XII, S. 152.

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[Der] Bolschewismus ist ein russisches Phänomen […]. Es ist ihm nur gelungen, einen Teil Russlands anzustecken. […] Nur eine Bevölkerung, die mongolisch und tartarisch geprägt ist, kann ein Regime wie das von Lenin hinnehmen bzw. erdulden […]. In den westlichen Nationen, die zur griechisch-­römischen Zivilisation gehören und durch und durch individualistisch sind, würde ein solches Regime keine vierundzwanzig Stunden überleben. Italien […] ist [von allen Ländern] das vom Lenismus am wenigsten gefährdetste.35

Eher als Italien werde noch Großbritannien bolschewistisch. Der Bolschewismus habe im Westen aber generell keine Chance, eine Toxikose sei hier nicht möglich – predigte Mussolini immer wieder, wobei er zur Untermauerung seiner Behauptung häufig auf rassistische Stereotype zurückgriff: Russland sei anders, asiatisch,36 tartarisch und mongolisch geprägt und deshalb eine leichte Beute Lenins gewesen. Die italienischen Sozialisten bereiteten Mussolini deshalb keine größeren Sorgen. Sie hatten sich in seinen Augen schon 1915 ins Abseits manövriert und dann weiter verrannt, als sie 1917 bedingungslos auf die Bolschewiki setzten, ohne zu erkennen, dass Lenin der Totengräber Russlands und des Sozialismus war. »Das Regime, das sich in Russland durchgesetzt hat – durch Verrat und die Komplizenschaft der Deutschen –, ist kein sozialistisches Regime, es ist eine rote Autokratie, die ihre Zaren, ihre Großfürsten, ihre Beamten, ihre Polizisten, ihre Galgen hat wie das Regime« des gestürzten Zaren, hielt er den Sozialisten ein Jahr nach der Oktoberrevolution vor.37 Im Mai 1920 wurde Mussolini noch deutlicher: Die Herrschaft von Lenin »ist eine Tyrannei, bestialischer, barbarischer, autokratischer, militaristischer als die Geschichte je eine gekannt hat«.38 Der Anhang der Sozialisten mochte in manchen Städten zwar die Straßen und Plätze beherrschen und dort einen »carnevale leninista« aufführen,39 die Führung der Partei werde aber niemals den Versuch machen, das Spiel in Ernst zu verwandeln. Dazu war sie zu zerstritten, zu feige und letztlich in ihrer Mehrheit auch zu klug. »Hört doch auf, euch wie Löwen zu gebärden«, schleuderte er den Sozialisten 35 Le manovre dei »boches«. Ancora un ricatto?, 24. 11. 1918. In: OO. Bd. XII, S. 29. Siehe auch La decisione, 15. 4. 1919. In: OO. Bd. XIII, S. 58. 36 Liebknecht è stato fucilato (wie Anm. 34). 37 Gli orrori del »Banditismo« leninista denunciati da un socialista russo nella rivista di Filippo Turati, 6. 10. 1918. In: OO. Bd. XI: Dal convegno di Roma agli armistizi (13 aprile 1918 – 12 novembre 1918). Florenz 1953, S. 396. 38 Il Paradiso del Pidocchio. Missioni e missionari, 20. 5. 1920. In: OO. Bd. XIV: Dalla marcia di Ronchi al secondo congresso dei fasci (14 settembre 1919 – 25 maggio 1920). Florenz 1954, S. 456. 39 Dopo la catastrofe, la »svolta« del »PUS«. Dalle barricate alle urne!, 2. 8. 1919. In: OO. Bd. XIII, S. 268.

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Abb. 1  Benito Mussolini

entgegen, »wenn ihr nichts als Hasenfüße seid, und hört auf, von Barrikaden zu sprechen, wenn ihr nichts anderes könnt, als an die Urnen zu gehen«.40 Gefahr drohte allenfalls dann, wenn sich die Dinge verselbständigten, wenn – mit anderen Worten – die umstürzlerischen Potenzen der revoltierenden Industriearbeiter und der aufbegehrenden Landarbeiter zusammenflossen und die Schubkraft der Anarchisten verstärkten, die nach 1918 eine weitere Renaissance erlebten. Danach sah es aber nicht aus, und die sozialistische Partei machte keine Anstalten, eine ­solche Großallianz zu schmieden. Mussolini höhnte deshalb nur: »Impotenz: so lautet das Wort, das die Sozialisten […] definiert.«41 Er hielt sie für »vom Leben und der Geschichte Ausgestoßene«,42 sie ­seien »dazu verdammt, […] zu knurren und zu bellen, die Karawane aber zieht – wie es im alten Gleichnis heißt – weiter auf den großen Straßen, die von fünf Jahren einer globalen Tragödie blutgetränkt sind und die – trotz der Hunde – ihr Ziel erreicht«.43 Beißen würden die Sozialisten jedenfalls nicht. Denn: Die sozialistische Partei »ist ein großes und fettes schwerfälliges Tier, mit dem der faschistische Leopard nach Belieben scherzen kann«.44 40 41 42 43 44

I volti e le maschere, 3. 3. 1920. In: OO. Bd. XIV, S. 350. Ammissioni nemiche, 20. 6. 1918: In: OO. Bd. XI, S. 136. L’ora presente, 23. 6. 1918. In: OO. Bd. XI, S. 145. Consensi, 10. 9. 1918. In: OO. Bd. XI, S. 350. Un gesto di coraggio, 19. 10. 1920. In: OO. Bd. XV, S. 267.

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Dass heißt aber nicht, dass Mussolini verborgen geblieben wäre, dass in Italien das »Gespenst des Kommunismus«45 umging und viele Bürger nicht nur verunsicherte, sondern in Panik versetzte. Ihm und seinen Faschisten spielten diese grassierenden Ängste in die Hände. Je größer die gefühlte Gefahr, desto größer das Bedürfnis nach Abwehrkräften, die stark genug waren, sie zu bannen. Die Faschisten taten deshalb alles, um die Ängste zu schüren, während sie sich zugleich als diejenigen präsentierten, die als einzige in der Lage s­ eien, den Sozialisten und Anarchisten die Stirn zu bieten. Die Regierung allein sei dazu, so Mussolini, nicht fähig. Sie gab der Linken zu viel Raum und machte ihr gegenüber zu viele Zugeständnisse – aus Furcht vor einem Bürgerkrieg, den Mussolini und seine Gesinnungsgenossen nicht scheuten. Das Ergebnis gab den Faschisten Recht: Sie avancierten zu den Hoffnungsträgern erst der Großagrarier, dann der Großindustriellen und schließlich zu Bündnispartnern der Regierung, obwohl sie nie einen Zweifel daran ließen, dass sie ganz eigene Ziele verfolgten. »Unser Ausgangspunkt im Kampf gegen den Bolschewismus ist nicht statisch-­konservativ oder […] reaktionär«,46 wie der Ausgangspunkt der Regierung und der alten Führungsschichten. Mussolinis seltsame Polemik gegen das Judentum, gegen die Bourgeoise und den Kapitalismus wies ebenfalls in diese Richtung. Für die Regierung verhieß das wenig Gutes. Mussolini hatte nach dem Bruch mit den Sozialisten seinen revolutionären Projekten mitnichten abgeschworen, sie richteten sich zunächst gegen die Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten, die als ›Antiitaliener‹ im Zusammenspiel mit der Regierung ausgeschaltet wurden, dann aber in zunehmendem Maße gegen das bürgerliche Establishment selbst, das ihm so lange die Hand gereicht hatte. Die faschistische Revolution fraß schließlich ihre Väter und Paten.

5. Zusammenfassung Die Russische Revolution verstärkte die zentrifugalen Kräfte in der italienischen Gesellschaft. Sie wirkte wie ein Katalysator der Spaltung, die seit Jahrzehnten im Gang war. Lenins Botschaft beschleunigte diesen Prozess und brachte ihn zur Reife: Sie befeuerte die Revolutionshoffnungen der Sozialisten und rief zugleich die konservativen Führungskräfte auf den Plan, die nicht daran dachten, das Feld kampflos zu räumen. Daher verwandelte sich der seit längerem herrschende ›kalte‹ Bürgerkrieg nach dem ­Ersten Weltkrieg in einen ›heißen‹.

45 L’altro spettro, 29. 11. 1919. In: OO. Bd. XIV, S. 157. 46 I fatti di mantova e la duplice viltà dei capi, 8. 12. 1919. In: OO. Bd. XIV, S. 187.

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Die russischen Revolutionen trugen entscheidend zur Spaltung der sozialis­ tischen Partei und damit zur Schwächung der demokratischen Potenziale Italiens bei. Seit Jahrzehnten uneins, hatten die konkurrierenden Flügel bis 1917 dennoch immer wieder einen gemeinsamen Kurs zu finden vermocht. Die Oktoberrevolution und der Entscheidungszwang, unter den Lenin auch die italienischen Sozialisten setzte, zerstörten die Einheit der Partei, die sich – von der Abspaltung arg zerzaust – fortan auch noch mit ihren feindlichen Brüdern von der Kommunistischen Partei auseinandersetzen musste – so als hätte sie in der tödlichen Konfrontation mit den aufblühenden Faschisten nicht schon genug zu tun gehabt. Die italienische Regierung schürte und instrumentalisierte die in konservativen Kreisen grassierende grande paura rossa, die sie selbst nicht wirklich teilte. Auch sie zielte auf eine Spaltung der sozialistischen Partei, wobei sie deren reformerischen Flügel an sich binden und den revolutionären Flügel weiteren Repressalien aussetzen wollte. Dass sie mit dieser Politik das Vertrauen ihres sich schutzlos fühlenden bürgerlichen Anhangs verspielte und den Faschisten weiteren Auftrieb verschaffte, war ein Kollateralschaden, den Mussolini gerne registrierte und für seine Zwecke ausbeutete. Mussolini war die Angst vor dem Bolschewismus völlig fremd. Eine von »Furcht und Hass erfüllte Beziehung zum Kommunismus«, wie sie Ernst Nolte als »bewegende Mitte von Hitlers Empfindungen und von Hitlers Ideologie« konstatierte,47 gab es bei ihm nicht, auch bei Hitler müsste sie erst noch bewiesen werden. Mussolini kannte die italienischen Sozialisten aus eigener Erfahrung. Er hielt sie für revolutionäre Maulhelden oder für viel zu klug und pragmatisch, als dass sie das mehr als zweifelhafte russische Experiment in Italien wiederholen wollten. Auch er scheute sich aber nicht, die Bedrohungsgefühle in konservativen Kreisen anzuheizen. Er gewann damit neue Anhänger und die partielle Akzeptanz der Regierung, die ihn in der Konfrontation mit den Sozialisten für ihre Zwecke einspannen wollte. Der daraus resultierende Herrschaftskompromiss, der ihm 1922 zur Macht verhalf, wäre ohne die toxischen Fernwirkungen der Oktoberrevolution wohl kaum zustande gekommen. Der Antibolschewismus war weder für die Futuristen noch für die Nationalisten konstitutiv. Antibolschewisten waren aber auch Mussolini und die frühen Faschisten nicht. Wie hätte der ›Duce‹ sonst den Plan der Regierung, diplomatische Beziehungen mit Russland aufzunehmen, unterstützen können? Und wie sonst hätte er den russischen Gesandten in Italien schon im November 1922 ein

47 Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt a. M./Berlin 1987, S. 16.

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weitreichendes Bündnis z­ wischen Moskau und Rom in Aussicht stellen können?48 Nicht zum letzten Mal übrigens – weitere Avancen folgten Mitte und Ende der 1920er Jahre.49 Gewiss, die Faschisten profilierten sich im Abwehrkampf gegen den Bolschewismus und profitierten von dem Klima der Bedrohung, das die Sozialisten durch ihre am russischen Vorbild orientierte Revolutionspropaganda schufen. Eine echte Herausforderung sahen sie in ihren Gegnern aber nicht. Sie hassten und bekämpften sie auch nicht primär deshalb, weil sie sich zu Lenin bekannten und sich als Kommunisten bezeichneten, sondern weil sie auf die Frage »Krieg oder Frieden?« die falsche Antwort gegeben und sich deshalb als Vaterlandsverräter disqualifiziert hatten. Die Faschisten fühlten sich diesen Defätisten überlegen und als echte, im Krieg gestählte Revolutionäre, die ihre eigene Agenda hatten. Die Faschisten gingen aufs Ganze, sie wollten ›neue Menschen‹ in ›neuen Gesellschaften‹ schaffen und schließlich einen expansionsbereiten faschistischen Volksstaat bilden.50 Als Mussolini sich 1919 aufmachte, um seinen Staatstraum zu verwirklichen und Italien zu neuer Größe zu verhelfen, waren seine Hauptfeinde das ›parasitäre Bürgertum‹, der ›gefräßige Finanzkapitalismus‹ mit seinen Hochburgen in London, New York und Paris und das ›internationale Judentum‹. Der Antibolschewismus spielte in den Gedanken des ersten Faschisten nur eine untergeordnete Rolle. Anlass genug, den »genuine[n] Schrecken«51 über den Bolschewismus als Triebfeder der faschistischen Bewegungen nach 1918 neu zu bewerten? Vieles spricht dafür, auch diese These Ernst Noltes noch eingehender auf den Prüfstand zu stellen – und zu verwerfen.

48 Siehe Petracchi: La Russia rivoluzionaria nella politica italiana (wie Anm. 31), S. 231. 49 Siehe das Vorwort von De Felice in: Petracchi: La Russia rivoluzionaria nella politica italiana (wie Anm. 31), S. XIII. Der Antibolschewismus avancierte erst in den 1930er Jahren zu einem Faktor der italienischen Außenpolitik. 50 Siehe Emilio Gentile: Der »neue Mensch« des Faschismus. Reflexionen über ein totalitäres Experiment. In: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.): Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung. München 2014, S. 89 – 106. 51 Siehe Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945, S. 547.

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Revolution und Gegenrevolution Die ungarische Räterepublik als Echoraum des Roten Oktober

Die beiden russischen Revolutionen von 1917 fanden in Ungarn einen bemerkenswerten Echoraum, in dem gleichläufige, aber auch gegenläufige, abwehrende Kräfte parallel freigesetzt wurden. Mit unzähligen sichtbaren und unsichtbaren Fäden waren die Ereignisse in Ungarn mit jenen in Russland verknüpft. An erster Stelle ist die vermeintlich große Ähnlichkeit der revolutionären Abläufe zu nennen: Auch der ungarischen Räterepublik ging – wie dem Roten Oktober in Russland 1917 – eine analoge zweistufige Entwicklungsgeschichte voraus. Am Anfang stand der Kollaps der imperialen Ordnung. Während das russische Zarenreich infolge der Februarrevolution 1917 zusammenbrach, hörte die Habsburgermo­ narchie mit dem Ausbruch der Budapester Asternrevolution,1 die in Ungarn verwirrenderweise ebenfalls Oktoberrevolution genannt wird, am 31. Oktober 1918 auf zu existieren. Auf beide Revolutionen, die im Wesentlichen durch Massen­ demonstrationen und desertierende Soldaten ausgelöst worden waren, folgten bürgerlich-­demokratische Regierungen, die sich im Falle Russlands für acht, im Falle Ungarns für fünf Monate an der Macht halten konnten, bis die Bolschewiki in Russland im Oktober 1917 und der Revolutionäre Regierungsrat in Ungarn im März 1919 die Regierungsführung übernahmen. Nach beiden kommunistischen Revolutionen brachten sich in Russland und in Ungarn mit ähnlicher Vehemenz und militärischer Wucht schließlich gleichermaßen die Konterrevolution und der Antibolschewismus in Stellung.2 1 Die Asternrevolution (őszirózsás forradalom) erhielt ihren Namen durch die gleichnamige weiße Herbstblume, die sich die revoltierenden ungarischen Soldaten an ihre Mützen steckten. 2 Siehe Robert Gerwarth: Fighting the Red Beast: Counter-­Revolutionary Violence in the Defeated States of Central Europe. In: Robert Gerwarth/John Horne (Hrsg.): War in Peace: Paramilitary Violence in Europe after the Great War. Oxford 2013, S. 52 – 71; Béla Bodó: The White Terror in Hungary, 1919 – 1921: The Social Worlds of Paramilitary Groups. In: Austrian History Yearbook 42 (2011), S. 133 – 163; Dávid Turbucz: Anti-­ Bolschewismus im Weltbild Miklós Horthys. Vorstellung und Wirklichkeit. In: Albert Dikovich/Edward Saunders (Hrsg.): Die Ungarische Räterepublik 1919 in Lebensgeschichten und Literatur (Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien, 15). Wien 2017, S. 215 – 233.

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Auf den ersten Blick ähneln sich in der Tat die Vorgänge in Russland und Ungarn sowohl in ihrer Chronologie als auch in ihren politischen Etappen frappant. Zu dieser Wahrnehmung trugen auch zeitgenössische Beobachter und Beobachterinnen bei, die eine eindeutig sowjetrussische Beeinflussung und Unterwanderung der ungarischen Räterepublik auszumachen glaubten. Sie schufen damit ein Bild der Räterepublik als bolschewistisches Exportprodukt und begründeten ein wirkmächtiges historiografisches Narrativ, das bis heute unter Historikerinnen und Historikern Akzeptanz und weite Verbreitung findet. Die Ähnlichkeit der beiden Entwicklungen wird häufig damit begründet, dass zahlreiche zentrale Anführer der ungarischen Räterepublik ihre revolutionären Ideen direkt aus Sowjetrussland mitgebracht hätten. Denn im Gegensatz zu Galionsfiguren der deutschen Arbeiterbewegung wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hatten einige Protagonisten der ungarischen Räterepublik wie Béla Kun und Tibor Szamuely die Russische Revolution als Kriegsgefangene in Russland direkt miterlebt,3 dort eine »bolschewistische Schulung« durchlaufen und ihre glühende Revolutionsbegeisterung mit nach Ungarn genommen. Auch die Verfasser des Schwarzbuch des Kommunismus vertraten den Standpunkt, bei Ungarn handle es sich europaweit »um den ersten Fall, in dem die Bolschewiki ihre Revolution exportieren konnten«.4 Das (Sprach-)Bild vom ›Export‹ findet sich auch in zahlreichen Schriften neueren Datums.5 Lenin selbst gab damals der Exportthese bereits reichlich Nahrung, indem er am achten Parteitag der KPR (b), der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), am 18. März 1919 über die Arbeit der überwiegend aus Kriegsgefangenen gebildeten »ausländischen Gruppen« der Partei festhielt: 3 Zur bolschewistischen Agitation unter den österreichisch-­ungarischen Kriegsgefangenen siehe u. a. Hannes Leidinger/Verena Moritz: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr: Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittelund Osteuropa 1917 – 1920. Wien 2003. 4 Stéphane Courtois/Nicolas Werth/Jean-­L ouis Panné u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München, Zürich 1998, S. 300. 5 Karl-­Heinz Gräfe hat in einem Artikel in einem Abschnitt mit dem Titel War der Übergang zur Räterepublik ein sowjetischer Export? äußerst kritisch diese Frage untersucht. Siehe dazu Karl-­ Heinz Gräfe: Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19. In: UTOPIE kreativ 168 (Oktober 2004), S. 885 – 900, hier S. 889. – Die Exportthese taucht ebenfalls auf bei Hannes Leidinger/Verena Moritz: Export und Wirkung der ›Oktoberideen‹ 1918/19. In: dies.: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr (wie Anm. 3), S. 533 – 6 48 sowie jüngst Dietrich Beyraus Kapitel The Resonance of the Revolution and its Export in Dietrich Beyrau: Portent or Salvation: The Russian Revolution. In: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hrsg.): Revolutions and Counter-­Revolutions: 1917 and its Aftermath from a G ­ lobal Perspective. Frankfurt am Main 2017, S. 55 – 77, hier S. 72.

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»Hunderttausende von Kriegsgefangenen aus Armeen, die die Imperialisten ausschließlich für ihre Zwecke geschaffen hatten, haben es nach ihrer Rückkehr nach Ungarn, Deutschland und Österreich fertiggebracht, daß die Bazillen des Bolschewismus diese Länder restlos durchdrangen.«6 In Lenins Aussage über die »Bazillen des Bolschewismus«7 und dessen flächendeckende Verbreitung steckte im Kern eine der Gründungsideen der Kommunistischen Internationale, der Komintern, die zwei Wochen zuvor auf dem Gründungskongress in Moskau am 4. März 1919 ins Leben gerufen worden war. Eines der Hauptziele der Komintern bestand in der globalen Verbreitung der kommunistischen Ideen, um dadurch »den Sieg der kommunistischen Revolution in der ganzen Welt«,8 die Weltrevolution, voranzutreiben. Für die Komintern galten die im Krieg gebildeten ausländischen Gruppen der KPR (b) als wichtigste Zellen dieser »kommunistischen Weltpartei«.9 Ihre Mitglieder gründeten später in ihren Ländern eigene kommunistische Parteien, die sich (theoretisch) an die Richtlinien der Komintern zu halten hatten. Auch dem berühmten deutschen Sozialdemokraten Eduard Bernstein fiel damals die häufige Gleichsetzung der beiden Sowjetsysteme auf. In seinem Geleitwort zu der vom linksbürgerlichen Politiker Oszkár Jászi verfassten bemerkenswerten Studie Magyariens Schuld, Ungarns Sühne über die Revolution und Gegenrevolution in Ungarn bemerkte er: »Vielfach glaubt man die Errichtung der Räterepublik in Ungarn nur als eine durch Agenten der Bolschewisten künstlich angestiftete Nachahmung, wenn nicht Nachäffung dessen einschätzen zu sollen, was in Rußland eingetreten war, und ist geneigt, über sie als eine Travestie des russischen Dramas mit Achselzucken hinwegzugehen.« Doch »diese Annahme«, so Bernstein weiter, sei »durchaus irrig«, das Beispiel Russlands »hat zwar für die Proletarierrepublik Ungarns die Form geliefert, das Aufkommen dieser aber ist geradezu naturgemäß aus Verhältnissen erwachsen, zu denen die Agitation

6 W. I. Lenin: VIII. Parteitag der KPR(b) 18. – 23. März 1919: Bericht des Zentralkomitees, 18. März. In: ders.: Werke. 42 Bde. Berlin 1955 – 1970. Bd. 29, S. 131 – 149, hier S. 147. 7 Dazu siehe auch Hannes Leidinger/Verena Moritz: »Bazillen des Bolschewismus«: Die Krise der Zentralmächte und die Heimkehrerproblematik im Jahr 1918. In: dies.: Gefangen­ schaft, Revolution, Heimkehr (wie Anm. 3), S. 453 – 504. 8 Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt vom 6. März 1919. In: Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des ­Ersten Kongresses. Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongress. Hamburg 1920, S. 3 – 18, hier S. 3. 9 Zu den Gründungsjahren der Komintern und der transnationalen Weltsicht ihrer Protagonistinnen und Protagonisten siehe: Brigitte Studer: The Transnational World of the Cominternians. Basingstoke 2015; Alexander Vatlin: Die Komintern: Gründung, Programmatik, Akteure (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, 10). Berlin 2009.

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der Bolschewisten nur in einem mäßigen Grade beigetragen hat«.10 Bei näherem Hinsehen werden tatsächlich einige grundlegende Unterschiede ­zwischen Russland und Ungarn deutlich. Einer der wichtigsten liegt im Krieg respektive in der jeweiligen Kriegssituation und dem Zustand des anschließenden ›Nichtfriedens‹. Ein weiterer großer Unterschied besteht im Verhältnis ­zwischen Sozialdemokratie und Kommunisten. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist es, den Echoraum der Russischen Revolution in Ungarn auszuloten. Unter Echoraum ist jener Resonanzkörper zu verstehen, der einen Impuls aufnimmt und ihn identisch, abgeschwächt, abgeändert oder selektiv verstärkt wiedergibt. Die Ereignisse des Roten Oktober fanden nicht nur einen »europäischen Echoraum«,11 sondern eine globale Resonanz – rund um den Globus positionierten sich Regierungen, Parteien, Organisationen und Einzelpersonen zu den russischen Geschehnissen, die in ihrer Konsequenz als »universalgeschichtlicher Schlüsselmoment«12 die Welt des gesamten 20. Jahrhunderts nachhaltig prägen sollten.13 Mit Blick auf Ungarn wird im Folgenden danach gefragt, w ­ elchen Widerhall die Russische Revolution auf dem ehemaligen Territorium der Stephanskrone fand. Wie kam es zur ungarischen Räterepublik, ­welche Rolle spielten dabei die Ereignisse in Russland und wer nahm wann aus ­welchen Gründen darauf Bezug? Eine Analyse der einzelnen Phasen der ungarischen Räterepublik, die in der westlichen Historiografie bis dato erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, lässt Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Rätesysteme deutlicher hervortreten. Die Quellenbasis bilden zeitgenössische Berichte, Pressedebatten, die Telegrammkorrespondenz z­ wischen Moskau und Budapest sowie Selbstzeugnisse direkt beteiligter Protagonistinnen und Protagonisten aus den unterschiedlichen politischen Lagern.

10 Eduard Bernstein: Geleitwort. In: Oskar Jászi: Magyariens Schuld, Ungarns Sühne: Revolution und Gegenrevolution in Ungarn. München 1923, S. IX –XV , hier S. IX . – Die ungarische Originalfassung erschien bereits im September 1920 in Wien: Oszkár Jászi: Magyar kálvária – magyar föltámadás: A két forradalom értelme, jelentősége és tanulságai. Bécs [Wien] 1920. 11 Karl Schlögel während einer Podiumsdiskussion zu 1917 – 2017. Das Echo der Russischen Revolution im Schweizerischen Landesmuseum Zürich am 9. April 2017, zitiert nach Walter Bernet: Die Revolution kommt ins Rollen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10. April 2017. 12 Martin Aust: Die Oktoberrevolution in der Welt. In: ders.: Die Russische Revolution: Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. München 2017, S. 212 – 228, hier S. 212. 13 Zur globalen Resonanz siehe Julia Richers: Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive. In: Heiko Haumann (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917. 2. Aufl. Köln/ Weimar/Wien 2016, S. 105 – 118; Tobias Rupprecht: Die Russische Revolution und der globale Süden. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (2017) 34 – 36, S. 21 – 26.

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1. Ungarn im Kriegs- und Revolutionsjahr 1917 Kurz vor Ausbruch der russischen Februarrevolution schilderte Katinka Károlyi, die junge Ehefrau des späteren Ministerpräsidenten Mihály Károlyi, die seltsam kriegsferne Atmosphäre in der ungarischen Metropole Budapest mit den Worten: Bei unserer Rückkehr [aus Berlin] überraschte uns das Budapester Klima – man tanzte, ging zu Gesellschaften, spielte. […] Der Krieg interessierte nur nebenbei, unser Stand war von ihm nicht betroffen – die ›anderen‹ führten ihn weiter. Die Einkommen der Grundbesitzer hatten sich verdreifacht, denn der Weizenpreis war in die Höhe geschnellt. […] Mit vollen Händen wurde das Geld ausgegeben […]. Der Krieg war zum Geschäft geworden.14

Ihre Erinnerungen veranschaulichen eindrücklich, wie der ungarische Adel, der damals die classe politique in Ungarn stellte, vom Krieg weit weniger betroffen war als das von Katinka Károlyi als »andere Nation« bezeichnete kämpfende Fußvolk. So hatte das ungarische Parlament im Verlauf des Krieges beispielsweise ein Gesetz verabschiedet, das Großgrundbesitzer vom Militärdienst befreite, damit sie ihre Güter verwalten konnten. Viele nahmen ­dieses Privileg in Anspruch, obwohl ihre Güter seit jeher von Gutsverwaltern und nicht von ihnen selbst bewirtschaftet wurden. Die Gräuel an der Front und die zunehmende Lebensmittelknappheit erschienen der hauptstädtischen Oberschicht fern und unwirklich. Diese Diskrepanz z­ wischen Kriegsbrutalität und Realitätsverweigerung führte dazu, dass Proteste gegen den Krieg und gegen die prekären Lebensbedingungen 1917 immer häufiger und lauter wurden. Als aus einer ähnlichen Konstellation heraus im Februar 1917 in Russland die Revolution ausbrach, nahm die politische Elite dies in Ungarn zwar mit Erstaunen zur Kenntnis. Da die Provisorische Regierung unter Georgij E. L’vov und Aleksandr F. Kerenskij jedoch keinen Kriegsaustritt Russlands plante, sondern den Kampf an der Seite der Entente fortsetzte, maß man der Februarrevolution – im Gegensatz zur späteren Oktoberrevolution – vorerst keine besondere Bedeutung bei. Ganz anders wirkten die revolutionären Ereignisse in Russland im Frühjahr auf die ungarische Arbeiterschaft. Ein sozialdemokratischer Zeitzeuge und späteres Mitglied der Räteregierung schrieb damals über den Einfluss der Februarrevolution auf die ungarische Arbeiterschaft: »Unter dem gewaltigen Eindruck der russischen Revolution wurden die Arbeiterunruhen noch

14 Katharina Károlyi: Aufbruch ohne Wiederkehr: Die Lebenserinnerungen einer ungewöhnlichen Frau. Oldenburg/Hamburg 1967, S. 148 – 149.

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lebhafter.«15 Streiks und Demonstrationen sollten trotz Versammlungsverbots im Jahr 1917 nicht abbrechen und ebneten den Boden für die revolutionären Umwälzungen in Ungarn im Herbst 1918. In der aufgeheizten Stimmung machte die Kunde von der russischen Oktoberrevolution einen immensen Eindruck auf die kriegsgebeutelten Gesellschaftsschichten in Ungarn. Als am 25. Oktober 1917 die Sozialdemokratische Partei Ungarns (Magyarországi Szociáldemokrata Párt) zu einer Massenkundgebung in der Industriehalle des Budapester Stadtwäldchens aufrief, um die russische Oktoberrevolution zu feiern und für eine Annahme des Friedensappells der jungen Sowjetregierung zu demonstrieren, erschienen rund 100.000 Menschen. In der Menge wurden Parolen wie »Das ungarische Proletariat soll vom russischen lernen!« skandiert.16 Am anschließenden außerordentlichen Parteitag nahm auch Sándor Garbai, der spätere Vorsitzende der Räteregierung, direkt Bezug auf das russische Beispiel sowie den Einfluss und die Sogwirkung, die die Oktoberrevolution auf andere Länder haben werde. Feierlich hielt er fest: Die angeheizte Lokomotive der Revolution ist von Petrograd abgefahren. Wir wissen nicht, wann sie ankommt, aber es wird Aufgabe jeder sozialdemokratischen Partei sein, an diese Lokomotive ihren eigenen großen Waggon anzukoppeln. Die bourgeoise Gesellschaft fühlt, dass es sich hier nicht nur um eine bürgerliche, sondern auch um eine soziale Revolution handeln wird.17

Diese soziale Revolution imaginierte Garbai nicht nur als Marx’sche »Lokomotive der Geschichte«, sondern auch als eine grenzüberschreitende sozialistische Bewegung, als globalen Echoraum des Roten Oktober, der am Ende die Weltrevolution hervorbringen werde. Die ungarische Sozialdemokratie war nicht immer so revolutionär gesinnt gewesen. Im Gegenteil: Trotz einer langen Tradition in der Opposition hatte sie 15 Entstehung und Zusammenbruch der ungarischen Rätediktatur. (Sozialistische Bücherei, 14) Wien 1919, S. 5. – Beim Verfasser dieser anonymen Schrift handelt es sich nicht, wie fälschlicherweise häufig angenommen, um Wilhelm Ellenbogen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit um Vilmos Böhm, langjähriges Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Partei Ungarns. Böhm war unter der Károlyi-­Regierung im Herbst 1918 zum Kriegsminister ernannt worden, wurde dann in der Räteregierung mit der Führung des Armeeoberkommandos der ungarischen Roten Armee betraut und fungierte gleichzeitig gemeinsam mit Gyula Hevesi und Antal Dovcsák als Rätekommissar für Fragen der Sozialisierung. 16 Siehe Dezső Nemes u. a.: Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung: von den Anfängen bis 1962. Berlin 1983, S. 106. 17 Sándor Garbai zitiert nach Nemes u. a.: Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung (wie Anm. 16), S. 107 f.

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häufig einen eher gemäßigten Ton angeschlagen.18 Bei Kriegsausbruch stellte sie sich, wie die meisten europäischen Schwesterparteien, hinter ihre Landesregierung. Bezeichnend für die passive Haltung der ungarischen Sozialdemokratie war ihre Nichtteilnahme an der Zimmerwalder Konferenz im September 1915. Nur kursorisch berichtete das Parteiorgan Népszava (Volksstimme) vom historischen Zusammenschluss sozialistischer Kriegsgegner; über die Folgekonferenz in Kiental im April 1916 informierte die Zeitung ihre Leserschaft gar nicht.19 Mit den großen Verlusten im Karpatenfeldzug und an weiteren Abschnitten der Ostfront sowie mit den ersten sich abzeichnenden Hungersnöten nahm die Kriegsmüdigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung rasch zu. In der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften erhielt der linke Flügel immer stärkeren Zulauf. Im Oktober 1917 begründeten radikale Mitglieder des bekannten Galilei-­Zirkels 20 mit (anarcho-)syndikalistischen Kräften eine marxistische Untergrundorganisation, die sich Gruppe ungarischer Sozialisten für Zimmerwald nannte und einen revolutionären Umsturz propagierte.21 Fast zur gleichen Zeit sahen sich auch gemäßigte, reformorientierte Vertreter aus Politik und Gesellschaft veranlasst, aktiver zu werden. Zwecks eines gemeinsamen Kampfes für Friedensverhandlungen, einer grundlegenden Bodenreform und einer umfassenden Ausweitung des Wahlrechts schlossen sie sich zum sogenannten Wahlrechtsblock zusammen. Darin vertreten waren die Károlyi-­Partei von Mihály Károlyi, die linksliberale Bürgerlich-­Radikale Partei unter Oszkár Jászi, die Demokratische Partei unter Vilmos Vászonyi sowie schließlich auch die Sozialdemokratische Partei unter Garbai. Alle drei Programmpunkte fanden jedoch fatalerweise im mehrheitlich konservativ geprägten Parlament kein Gehör. 18 Zur Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Ungarns in und vor dem ­Ersten Weltkrieg siehe Péter Sipos: Die Sozialdemokratische Partei Ungarns und die Gewerkschaften 1890 – 1944 (Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, 193). Budapest 1991; Lajos Varga: Háború, forradalom, szociáldemokrácia Magyarországon: 1914. július – 1919. március [Krieg, Revolution und Sozialdemokratie in Ungarn: Juli 1914 bis März 1919]. Budapest 2010. 19 An der Zimmerwalder Konferenz, die vom 5. bis 9. September 1915 im gleichnamigen schweizerischen Bauerndorf stattfand, riefen sozialistische Kriegsgegner aus zahlreichen europäischen Ländern die Zimmerwalder Bewegung ins Leben, die ein sofortiges Kriegsende ohne Annexionen und Kriegskontributionen forderte. Siehe Bernard Degen/Julia Richers (Hrsg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe. Zürich 2015. 20 Zu den Hintergründen des einflussreichen Galilei-­Zirkels siehe jüngst Péter Csunderlik: Radikálisok, szabadgondolkodók, ateisták: a Galilei Kör (1908 – 1919) története [Radikale, Freidenker, Atheisten: Die Geschichte des Galilei-­Zirkels (1908 – 1919)]. Budapest 2017. 21 Siehe Nemes u. a.: Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung (wie Anm. 16), S. 102.

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In Ungarn hatten sich im Verlauf des Weltkrieges nicht nur die sozialen Gegensätze und Spannungen zusehends verschärft. Neben innenpolitischen Konflikten führten auch die verschiedenen Wellen zurückkehrender Kriegsgefangener zu einer weiteren Destabilisierung der Lage. Die k. u. k. Armee hatte schätzungsweise rund zwei Millionen Soldaten an Russland verloren, darunter waren ca. 600.000 ungarische Armeeangehörige.22 Je nach Region und Status hausten die österreichisch-­ ungarischen Kriegsgefangenen in den russischen Lagern in prekären Verhältnissen; viele von ihnen starben an Kälte, Hunger und Krankheiten. Hinzu kam, dass bis zur Machtübernahme der Bolschewiki auch in der Gefangenschaft die Standesunterschiede z­ wischen ungarischen Offizieren und einfachen Soldaten gewahrt wurden.23 Diese von vielen Soldaten empfundene Rechtlosigkeit sowie die allgemeine Kriegsmüdigkeit führten dazu, dass sich Tausende in den Kriegsgefangenenlagern für sozialistische Ideen gewinnen ließen. Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-­Litovsk z­ wischen den Mittelmächten und den Bolschewiki im März 1918 ermöglichte schließlich eine erste organisierte Rückführung von Kriegsgefangenen nach Ungarn. Endlich in der Heimat angekommen, wurden viele Heimkehrer jedoch als vermeintliche Bolschewiki äußerst misstrauisch empfangen, interniert oder sogleich wieder an die Front geschickt. Hunderttausende Kriegsgefangene verblieben vorerst noch in Russland und fühlten sich aufgrund der Nachrichten über den skandalösen Empfang ihrer Leidensgenossen in der Heimat zunehmend von der eigenen Regierung verraten und entfremdet. In dieser Situation fiel die bolschewistische Agitation unter den Kriegsgefangenen auf fruchtbaren Boden. Besonders deutlich zeigte sich dies anhand der rund 100.000 ungarischen Soldaten, die nach der Oktoberrevolution in die neu gegründete Rote Armee der Bolschewiki eintraten. In revolutionären Zentren wie Tomsk bildeten sich unter den 22 Siehe Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im E ­ rsten Weltkrieg. Göttingen 2005. 23 Offiziere hatten einen deutlich privilegierteren Status in den Gefangenenlagern, sie erhielten bessere Unterkünfte, Verpflegung, einen Sold und durften ihre Bediensteten behalten. Während Soldaten zu harter Arbeit in- und außerhalb des Lagers beigezogen wurden, verbrachten Offiziere die langen, tatenlosen Tage häufig mit dem Aufbau eines kulturellen Lebens im Lager (z. B. schriftstellerische Arbeit, Konzerte, ­Theater, Malerei). Dazu siehe Leidinger/Moritz: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr (wie Anm. 3); Eszter Kaba: Alltag in den russischen Kriegsgefangenenlagern im ­Ersten Weltkrieg. Tatsachen und Irrglauben. In: Róbert ­Fiziker/Csaba Szabó (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg aus ungarischer Sicht (Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien, 14). Wien 2015, S. 409 – 426; Lena Radauer/ Matthias Egger: Kultur im Lager: Kulturelle Aktivitäten der österreichisch-­ungarischen Kriegsgefangenen in Russland 1914 – 1918. In: Österreich in Geschichte und Literatur 58 (2014) 2, S. 160 – 178.

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Kriegsgefangenen kleine revolutionäre Zellen. Diese national organisierten Zellen legten ab Mitte März 1918 den Grundstein für die Schaffung ausländischer Gruppen innerhalb der KPR (b). Die ungarische Sektion wurde am 24. März 1918 mit vier Mitgliedern gegründet: Béla Kun, Tibor Szamuely, Ernő Pór und Endre Rudnyánszky.24 Die winzige Gruppe wuchs auch in den darauffolgenden Monaten kaum und erreichte bis Dezember 1918 lediglich eine Anzahl von rund neunzig Mitgliedern.25 Dies zeigt, dass sich zwar viele Soldaten für revolutionäre Ideen begeistern ließen, aber ihre Sympathiebekundungen nicht automatisch in einen Parteieintritt mündeten. Jene überzeugten Revolutionäre, die sich in den verschiedenen ausländischen Gruppen der KPR(b) zusammengefunden hatten, hielten in einer gemeinsamen Resolution vom 14. April 1918 fest: »Wir erklären unsere unerschütterliche Entschlossenheit, den revolutionären Kampf zu Hause gegen unsere Regierungen in Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien in Form eines bewaffneten Aufstands aufzunehmen, und wir werden erst dann ruhen, wenn Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus gestürzt sind und wir auf ihren Ruinen freie Räterepubliken errichtet haben.«26 Während sich in Sowjetrussland also kleinere Gruppen überzeugter Revolutionäre auf eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer vorbereiteten, spitzte sich die Lage in Ungarn weiter zu. Im April 1918 war es zu einem Streik in Budapest gekommen, an dem sich über 100.000 Menschen beteiligten. Im Juni folgten in Wien, Budapest und anderen Städten der Doppelmonarchie weitere große Streikaktionen. Als in Budapest auf die streikende Arbeiterschaft tödliche Schüsse abgefeuert wurden, weiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus – rund eine halbe Million Arbeiterinnen und Arbeiter legten über mehrere Tage das Land lahm.27 Mit den neuen, entscheidenden Offensiven der Entente gegen die Mittelmächte in den darauffolgenden Wochen, die unter anderem zum Zusammenbruch der Balkanfront und der italienischen Front führten, desertierten 24 Zu Tomsk und der revolutionären Gruppe um Béla Kun siehe Ivan Volgyes: Hungarian Prisoners of War in Russia, 1916 – 1919. In: Cahiers du monde russe et soviétique 14 (1973) 1 – 2, S. 54 – 85, insbes. S. 59 f. und S. 71 f. – Zur Geschichte der ungarischen Internationalisten in russischer Kriegsgefangenschaft siehe die ausführliche Studie von Antal Józsa: Háború, hadifogság, forradalom: Magyar internacionalista hadifoglyok az 1917-es oroszországi forradalmakban [Krieg, Kriegsgefangenschaft, Revolution: Ungarische Internationalisten als Kriegsgefangene in der Russischen Revolution von 1917]. Budapest 1970. 25 Volgyes: Hungarian Prisoners of War (wie Anm. 24), S. 73. 26 Die Resolution wurde zwei Tage später in der Pravda abgedruckt, siehe: S’ezd voennoplennych [Kongress der Kriegsgefangenen]. In: Pravda, 16. April 1918, S. 3. 27 Siehe Nemes u. a.: Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung (wie Anm. 16), S. 118 – 120.

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Abertausende Soldaten der österreichisch-­ungarischen Armee. Die Mittelmächte hatten den Krieg faktisch verloren, und die Krise des politischen Systems, die ungelösten Nationalitätenkonflikte und sozialen Unruhen leiteten den Zerfall der Habsburgermonarchie ein.28

2. Die Asternrevolution und die Károlyi-Regierung Düster beurteilte Oszkár Jászi, der in der Károlyi-­Regierung den Posten des Ministers für nationale Minderheiten innehaben sollte, die Situation der österreichisch-­ ungarischen Monarchie in den letzten Oktobertagen in seiner bereits erwähnten Studie: »Fast alle stimmten wir darin überein, daß die Krise der Monarchie, aber vor allem die Ungarns, eine viel schwerere, viel gefährlichere sein werde als die Krise in Deutschland. Die nationalen Gegensätze, die große Armut, die ungeheure Kulturlosigkeit werden bei uns zu einer unabwendbaren Anarchie führen«.29 In seiner Prognose sollte er vorerst nur teilweise Recht behalten: Die Anarchie trat noch nicht ein, jedoch der Kollaps. Der Zusammenbruch des gemeinsamen k. u. k. Imperiums und der Beginn der Eigenständigkeit Ungarns im 20. Jahrhundert sollte ein Datum erhalten, ein folgenreiches Datum: den 31. Oktober 1918. An jenem Tag geschahen in verdichteter Zeit Dutzende umwälzende Ereignisse nahezu gleichzeitig. Kurz zuvor war die Asternrevolution in Budapest ausgebrochen. Schon seit Tagen waren die Straßen der ungarischen Hauptstadt geflutet mit Soldaten, Flüchtenden und Demonstrierenden. Nach russischem Vorbild wurde ein revolutionärer Soldatenrat gegründet, dessen Mitglieder mit weißen Herbstrosen an den Mützen am 30. Oktober neuralgische Punkte in Budapest besetzten. Der österreichische K ­ aiser Karl I. (Ungarns König Karl IV.) setzte in der Folge den amtierenden konservativen Ministerpräsidenten István Tisza ab, ernannte für 48 Stunden Graf János Hadik und schließlich am 31. Oktober den ›roten Grafen‹ Mihály Károlyi zum neuen Ministerpräsidenten. Um 5 Uhr nachmittags drangen revolutionäre Soldaten in das Wohnhaus des abgesetzten Ministerpräsidenten Tisza ein und erschossen ihn als einen der Kriegsverantwortlichen. Am selben Tag erklärte Ungarn den Austritt aus der Realunion mit Österreich und rief seine Truppen von der italienischen Front zurück. Dies bedeutete das faktische Ende der Doppelmonarchie. Die k. u. k. Monarchie war aufgelöst. 28 Für neuere Studien zum Zerfall der Habsburgermonarchie siehe u .a. Steven Beller: The Habsburg Monarchy 1815 – 1918. Cambridge/New York 2018; Pieter M. Judson: Habsburg: Geschichte eines Imperiums, 1740 – 1918. München 2017. 29 Jászi: Magyariens Schuld (wie Anm. 10), S. 21 f.

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Von nun an musste sich Ungarn allein verantworten. In Windeseile stellte Mihály Károlyi ein neues Kabinett zusammen, das im Wesentlichen aus ehemals oppositionellen, bürgerlichen und sozialdemokratischen Ministern bestand.30 In einem weiteren Schritt rief Károlyi schließlich am 16. November 1918 die demokratische Volksrepublik Ungarn aus. Das Land befand sich in einer gigantischen innen- wie außenpolitischen Krise. Die drängende Heeresfrage sowie die lange geforderten Wahlrechts- und Bodenreformen ließen auf sich warten, konnten aber auch durch die neue Regierung nicht so rasch gelöst werden. Dies sollte sich als fatales Versäumnis herausstellen. Die sozialen Missstände hielten infolge des verlorenen Krieges an und kulminierten. Die ungarische Gesellschaft radikalisierte sich zunehmend und spaltete sich in zwei Pole. Béla Kun und weitere ehemalige Kriegsgefangene nutzten die Gunst der Stunde, um in dieser instabilen Lage von Sowjetrussland nach Ungarn heimzukehren und die revolutionäre Stimmung im Land weiter anzufachen. Bereits am 1. November 1918 war 20 Revolutionären die Rückkehr nach Ungarn geglückt.31 Rund 80 bis 120 weitere folgten in den ersten zwei Novemberwochen,32 darunter auch Béla Kun, der am 17. November – einen Tag nach der Ausrufung der Volksrepublik – in Budapest eintraf. Vorrangiges Ziel war es, die am 4. November 1918 in Moskau provisorisch gegründete Kommunistische Partei Ungarns (Kommunisták Magyarországi Pártja)33 auf ungarischem Boden als offizielle Partei ins Leben zu rufen. Nach intensiver Agitation unter Mitgliedern des linken Flügels der Sozialdemokratie sowie unter diversen linken Splittergruppen gelang dies am 24. November 1918.34 Trotzdem kann die ausgesprochen kleine Zahl in Russland radikalisierter Revolutionäre, die zurück in Ungarn kommunistische Agitation betrieb, nicht für die zunehmend revolutionäre Stimmung in Ungarn allein verantwortlich gemacht werden – oder wie es Iván Völgyes formulierte: »it becomes clear that the presence of these Bolsheviks had no significant influence on the course Hungarian history

30 Die breite Öffentlichkeit erfuhr die detaillierte Zusammensetzung des Kabinetts über die Vasárnapi Újság vom 3. November 1918. 31 Siehe Volgyes: Hungarian Prisoners of War (wie Anm. 24), S. 80. 32 Bericht der ungarischen Gruppe an das Zentralkomitee der KPR(b) über ihre Aktivitäten im Monat November 1918, abgedruckt in György Milei: Dokumentumok az OK(b)P Magyar Csoportjának történetéből [Dokumente zur Geschichte der ungarischen Gruppe der KPR(b)]. In: Párttörténeti közlemények 4 (1958) 1, S. 165 – 187, hier S. 173 – 174. 33 Zur Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns (KPU) siehe Rudolf L. Tőkés: Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic: The Origins and Role of the Communist Party of Hungary in the Revolutions of 1918 – 1919 (Atlantic Studies on Society in Change, 75). New York 1993, S. 79. 34 Ebd., S. 95 f.

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was to take«.35 Gegenteilige, immer noch weitverbreitete Darstellungsweisen blenden vor allem all jene linken Strömungen aus, die bereits vor der Heimkehr der Revolutionäre in Ungarn starken Zuwachs erhalten hatten. Sicherlich trug die Präsenz der äußerst tatkräftigen Rückkehrer um Béla Kun weiter dazu bei, dass die linkssozialistischen Kräfte zu einem immer gewichtigeren, taktgebenden Faktor wurden. Die Machtverhältnisse veränderten sich bis zum Frühjahr 1919 dermaßen zugunsten der revolutionären Kräfte, dass von einer Art »Doppelherrschaft«36 gesprochen werden kann, wie sie zur Zeit der Provisorischen Regierung in Russland 1917 Bestand hatte. Auch Béla Kun und Lenin sahen damals eine Paral­lele z­ wischen der russischen Februarrevolution und der Károlyi-­Regierung. So charakterisierte Béla Kun in einem Beitrag in der Pravda die neue Regierung in Ungarn als »ungarisches Kerenskijregime«,37 während Lenin Károlyi direkt als »ungarischen Kerenski[j] « bezeichnete.38 Ohne einen wertenden Vergleich kam damals Jászi aus, der der Károlyi-­Regierung zumindest gute Absichten attestierte. Über ihre Arbeit unter den kaum noch zu bewältigenden Bedingungen der Krise resümierte er: »Die Regierung der Oktoberrevolution war […] ein letzter Versuch zur vernünftigen Regelung der sich wild hinwälzenden Gesellschaftskräfte.«39 Von der Implosion der sozialen Ordnung konnte die junge Kommunistische Partei profitieren. Mit Erfolg agitierte sie unter der wachsenden Masse Unzufriedener. Dies veranlasste die zunehmend hilf- und machtlose Regierung dazu, Kun und weitere führende Kommunisten im Februar 1919 verhaften zu lassen. Als ihre schweren Misshandlungen im Gefängnis in der Öffentlichkeit bekannt wurden, erlangte die kleine KPU eine bis dahin ungekannte Popularität. Auch außenpolitisch spitzte sich die Lage zu. Die ententefreundliche Károlyi-­ Regierung hatte auf rasche und günstige Friedensverhandlungen gehofft und dabei die Aufstellung eines republikanischen Heeres zur Sicherung der Landesgrenzen vernachlässigt. Dies nutzten tschechoslowakische, rumänische, serbische und französische Truppen, um auf ungarisches Territorium vorzustoßen. So waren rumänische Truppen seit November 1918 kontinuierlich nach Westen vorgedrungen und hatten unter anderem Siebenbürgen an Rumänien angeschlossen. Die neu geschaffene Tschechoslowakei bemächtigte sich im Zuge ihrer 35 36 37 38

Volgyes: Hungarian Prisoners of War (wie Anm. 24), S. 80. Gräfe: Von der Asternrevolution zur Räterepublik (wie Anm. 5), S. 892. Béla Kun: Vengerskaja »Kerenščina«. In: Pravda vom 1. November 1918, S. 2. W. I. Lenin: Außerordentliche Sitzung des Plenums des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Rotarmistendeputierten, 3. April 1919. In: ders.: Werke. Bd. 29 (wie Anm. 6), S. 242 – 259, hier S. 257. 39 Jászi: Magyariens Schuld (wie Anm. 10), S. 21. Mit ›Oktoberrevolution‹ meinte Jászi die ungarische Asternrevolution vom Oktober 1918.

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Republikgründung der Slowakei. Das Banat wurde von Serbien kontrolliert. Die brisante Lage eskalierte schließlich vollends mit der sogenannten Vix-­Note, die am 20. März 1919 um 10 Uhr morgens von Oberstleutnant Fernand Vix, dem Generalstabsoffizier der französischen Armee und Leiter der seit November 1918 in Budapest tätigen Militärmission der Entente, der Károlyi-­Regierung übergeben wurde. Mit der Vix-­Note ordneten die Alliierten ultimativ einen weiteren Rückzug der Ungarn zu neuen Demarkationslinien an, die sich 100 Kilometer weiter im Landesinneren befanden und magyarisch besiedelte Landstriche vom Kernland abzutrennen drohten. Des Weiteren forderte man eine 40 bis 50 Kilometer breite neutrale Zone, um die verfeindeten Parteien voneinander zu trennen. Die Károlyi-­Regierung weigerte sich, das Ultimatum anzunehmen und trat unter Protest zurück.40 In der außenpolitischen Situation zeigte sich ein entscheidender Unterschied ­zwischen Russland und Ungarn: Die Provisorische Regierung in Russland führte unter Kerenskij den Krieg weiter, während die neue Regierung in Ungarn ihre Kriegshandlungen von sich aus beendete. Diese pazifistische Haltung half dem Land jedoch wenig, da der Krieg weiter um Ungarn herum tobte und schließlich Ungarn selbst erreichte, als die Nachbarländer territoriale Ansprüche stellten und weite Gebiete des ehemaligen Königreichs besetzten. Eine politische Radikalisierung fand in Ungarn folglich nicht nur durch das allgemeine Kriegselend, durch Pauperisierung und Hunger statt, sondern auch durch den immensen Druck der Nachbarländer und der Entente, die Ultimaten stellten und die territoriale Desintegration des Landes vorantrieben. In dieser äußerst prekären innen- und außenpolitischen Situation entstand die Räteregierung.

3. Die ungarische Räterepublik und das Hoffen auf die Weltrevolution Nach Károlyis Rücktritt wurde am 21. März 1919 die Regierungsführung der Sozialdemokratischen Partei übergeben, die die Wahl hatte abzulehnen, einen aussichtslosen Alleingang zu wagen oder sich mit der Kommunistischen Partei Ungarns zusammenzuschließen. Sie entschied sich angesichts der innen- und außenpolitischen Krisensituation für Letzteres. Ein beteiligter Zeitgenosse schilderte die 40 Siehe bspw. Mária Ormos: From Padua to the Trianon 1918 – 1920. Highland Lakes (N. J.) 1990; Ignác Romsics: Dismantling of Historic Hungary: The Peace Treaty of Trianon, 1920. Boulder (Colo.) 2002; Gabriel Foco: Der verlorene Friede nach dem gewonnenen Krieg: Kritik an den Pariser Vororteverträgen 1919 – 1920 aus ungarischer Sicht. Wien 2005.

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Atmosphäre, in der die ungarische Sozialdemokratie diesen Schritt damals vollzog, wie folgt: »Nur wer die damalige bluterregende Situation miterlebt hat, nur der die Unzufriedenheit der Massen, die Arbeitslosen- und Heimkehrerdemonstrationen, den mit kommunistischer Taktik geführten Streik […] gesehen hat, nur der die damalige Massenpsyche verstanden hat, der wird die folgenschwere Entscheidung der Partei verstehen.«41 Die beiden Linksparteien einigten sich auf eine Parteifusion, wählten die neue Bezeichnung Ungarische Sozialistische Partei (Magyarországi Szociálista Párt) und riefen gemeinsam die Räterepublik aus. Garbai wurde Vorsitzender des Revolutionären Regierungsrates, Kun Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten.42 Im Gegensatz zu Sowjetrussland setzte sich die ungarische Räteregierung also gleichermaßen aus Kommunisten und Sozialdemokraten zusammen. Ein weiterer, bedeutender Unterschied zur Situation in Russland lag in der Tatsache, dass in Ungarn sogar bürgerliche Kreise die Räteregierung aufgrund ihres resoluten Auftretens gegenüber den territorialen Ansprüchen der Nachbarländer anfangs wohlwollend tolerierten. Dieses überraschende Phänomen versuchte die Wiener Neue Freie Presse am 22. März 1919 einem internationalen Publikum wie folgt zu erläutern: »Auch die nichtsozialistischen Kreise stellen sich hinter die neue Regierung. Nicht aus Sympathie für die sozialistisch-­kommunistischen Ideen, [sondern] aus Hass gegen die Entente.«43 Selbst kritische, ausgesprochen antikommunistische Augenzeugen wie der Schweizer Journalist Henry Charles Schmitt hielten das im Ausland rasch kolportierte Bild eines einseitigen kommunistischen Putsches für eine Fehlinterpretation der Lage. Schmitt erläuterte in einem umfangreichen, mehrteiligen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung: »[Es] kann von einem eigentlichen Umsturz nicht gut gesprochen werden, vielmehr von einer Koalition, von einem Uebergang der Gemäßigten zu den Extremsten. Nach meinen Informationen ist die Soviet­ republik in Ungarn nicht eine politische Konsequenz der Gärung, sondern eine Aeußerung des Nationalitätsgefühls.«44 Für Schmitt war ferner unbestritten, dass 41 Entstehung und Zusammenbruch der ungarischen Rätediktatur (wie Anm. 15), S. 11 – 12. 42 Zur Zusammensetzung der Räteregierung siehe die Gründungsdokumente in: Sándorné Gábor/Tibor Hajdu/Gizella Szabó (Hrsg): A magyar Tanácsköztársaság: 1919 ­március 21 – 1919 augusztus 1. [Die ungarische Räterepublik: 21. März 1919 bis 1. August 1919]. 2 Bde. Budapest 1959 – 1960, hier Bd. 1, S. 3 – 5. 43 Neue Freie Presse vom 22. März 1919 (Abendausgabe), zit. nach András Siklós: Die Ungarische Räterepublik. In: Péter Baló (Hrsg.): Ungarn 1919 und Österreich. Wien 1979, S. 9 – 63, hier S. 19. 44 Henry Schmitt: Die Umwälzung in Ungarn. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24. März 1919 (Erstes Morgenblatt), S. 1 – 2, hier S. 1.

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der »russisch-­bolschewistische Einschlag« in Ungarn zum damaligen Zeitpunkt »gewiß noch gering« gewesen sei.45 Ein gewichtiges Argument, das gegen eine von Moskau gesteuerte Aktion spricht, liegt in der Tatsache, dass man im Kreml in den ersten Stunden der ungarischen Revolution nichts Genaueres über sie wusste respektive die Echtheit der Nachrichten über die Ausrufung der Räterepublik ernsthaft anzweifelte. Lenin selbst berichtete ausführlich über sein anfängliches Misstrauen: Als […] die Meldung über die ungarische kommunistische Revolution eintraf, und zwar eine von Genossen Béla Kun unterzeichnete Meldung, wünschten wir mit ihm zu sprechen, um genauer festzustellen, wie es sich mit dieser Revolution verhält. Die ersten Meldungen über sie gaben gewissen Grund zu der Befürchtung, daß es sich um einen Betrug der sogenannten Sozialisten, der Sozialverräter handeln könnte, daß sie die Kommunisten hintergangen hätten, um so mehr, als diese im Gefängnis saßen. Und so sandte ich am Tag nach der ersten Meldung über die ungarische Revolution einen Funkspruch nach Budapest, bat Béla Kun, an den Apparat zu kommen, stellte ihm bestimmte Fragen, um nachzuprüfen, ob er selbst am Apparat war […].46

Das Gespräch mit Béla Kun beruhigte und beeindruckte Lenin. In seinem Bericht über das Funkgespräch hielt er erstaunt fest: »Wir haben uns völlig davon überzeugt, daß die ungarische Revolution sofort, ungewöhnlich rasch kommunistische Bahnen eingeschlagen hat. Die Bourgeoisie selber hat die Macht den Kommunisten Ungarns abgetreten. Die Bourgeoisie hat der ganzen Welt gezeigt, daß sie, wenn eine schwere Krise eintritt, wenn die Nation in Gefahr ist, nicht regieren kann.«47 In Moskau hatte man den Blick für eine künftige Revolution ständig auf Deutschland gerichtet; dass Ungarn dem prognostizierten deutschen »Angel-, Schlüssel-, Hebelpunkt der Weltrevolution«48 zuvorkam, überraschte alle. 45 Ebd., S. 2. 46 W. I. Lenin: Mitteilung über ein Funkgespräch mit Béla Kun. In: ders.: Werke. Bd. 29 (wie Anm. 6), S. 230 f., hier S. 230. – Das von Lenin erwähnte Telegramm an Béla Kun war auf Deutsch verfasst und lautete: »Bitte mitzuteilen, w ­ elche reellen Garantien Sie dafür haben, daß die neue ungarische Regierung wirklich kommunistisch und nicht nur einfach sozialistisch, das heißt sozialverräterisch wird.« Lenin hielt des Weiteren interessanterweise damals fest: »Es ist ganz sicher, daß eigenartige Verhältnisse ungarischer Revolution bloße Nachahmung unserer russischen Taktik in ihren Einzelheiten zu einem Fehler machen. Vor ­diesem Fehler muß ich warnen, aber ich möchte wissen, worin Sie reelle Garantien sehen.« W. I. Lenin: Niederschrift eines Funktelegramms an Béla Kun, 23. März 1919. In: ders.: Werke. Bd. 29 (wie Anm. 6), S. 213. 47 Lenin: Mitteilung über ein Funkgespräch mit Béla Kun (wie Anm. 46), S. 231. 48 Karl Liebknecht: Zur Lage der russischen Revolution. In: ders.: Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 9: Mai 1916 bis 15. Januar 1919. Berlin 1968, S. 560 – 562, hier S. 560.

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­ mzingelt von nichtkommunistischen Ländern war die Ausrufung der ungariU schen Räterepublik in der Tat eine Sensation. Für noch mehr Erstaunen sorgte die Räteregierung, als es der ungarischen Roten Armee gelang, militärisch erfolgreich Teile der verlorenen Gebiete von den Nachbarländern zurückzuerobern, nachdem Verhandlungen ­zwischen Kun und der Entente über die künftigen Grenzen Ungarns gescheitert waren. Gleichzeitig waren sich alle Seiten der instabilen Lage, in der sich das Land damals befand, bewusst. Ungarns revolutionäre Regierung hoffte in dieser Situation auf eine »Internationalisierung des Umsturzes«, denn »isoliert konnte die ungarische Räterepublik nicht bestehen«.49 Massenstreiks, soziale Unrast und Proteste auf dem ganzen Kontinent sowie die Ausrufung der Bayerischen Räterepublik gaben ­diesem Optimismus anfangs durchaus Aufwind. Ob realistisch oder nicht, begann man auf den Hoffnungsträger Weltrevolution und auf ein baldiges Heranrücken der sowjetrussischen Roten Armee zu setzen. Diese Erwartungen wurden von verschiedenen Seiten rhetorisch geschürt.50 Bereits das Grußtelegramm der Bolschewiki vermittelte diesen Eindruck, als sie am 22. März 1919 von ihrem Parteitag aus mit Verve versprachen: »Die Arbeiterklasse Russlands wird Ihnen mit allen Kräften zu Hilfe kommen.«51 Mit der Zuversicht vereinter revolutionärer Kräfte und dem Glauben an eine bevorstehende Weltrevolution bemerkte Jenő Hamburger, ungarischer Volkskommissar für Agrarfragen, bei einer Volksversammlung in Kaposvár am 7. April 1919: »Wir sind tief davon überzeugt, dass ganz Europa in einigen Wochen in Brand stehen wird und überall die Proletarierdiktatur ans Ruder kommen wird!«52 Ähnlich sah es auch die junge Sowjetregierung. Keine Woche später formulierte sie eine Grußbotschaft an die beiden Räterepubliken in Ungarn und Bayern mit den Worten: »Unsere auswärtige Lage verbessert sich mit jedem Tag: an der Spitze der ungarischen Sowjetrepublik steht unser Genosse Béla Kun; in Bayern ist eine 49 Martin Schulze Wessel: Ungarn – Avantgarde der Weltrevolution? Die Räterepubliken in München und Budapest. In: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hrsg.): Bayern – mitten in Europa: vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 2005, S. 372 – 384, hier S. 378. 50 Tibor Hajdu: Plans of Strategic Cooperation between the Russian and Hungarian Red Armies. In: Peter Pastor (Hrsg.): Revolutions and Interventions in Hungary and its Neighbor States, 1918 – 1919 (War and Society in East Central Europe, 20, Atlantic Studies on Society in Change, 39, East European Monographs, 240). New York 1988, S. 367 – 375. Siehe auch Tamás Krausz u. a. (Hrsg.): 1919: A Magyarországi Tanácsköztársaság és a kelet-­ európai forradalmak [1919: Die ungarische Räterepublik und die osteuropäischen Revolutionen]. Budapest 2010. 51 Telegramm des VIII. Parteitags der KPR(b) zur Begrüßung der Regierung der ungarischen Räterepublik, abgedruckt in Népszava vom 25. März 1919. 52 Hamburger zitiert nach Jászi: Magyariens Schuld (wie Anm. 10), S. 123.

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Sowjetrepublik entstanden; bald wird ganz Deutschland unserem Beispiel folgen.« Danach werde »das sich erhebende Proletariat der ganzen Welt seinen Unterdrücker – das Weltkapital – stürzen und das neue Reich des Kommunismus erschaffen«.53 In dieser Atmosphäre bereitete man sich in Budapest auf die pompösen Feierlichkeiten zum 1. Mai vor, an denen über 600.000 Menschen teilnahmen.54 Der Glaube an eine bevorstehende Weltrevolution hatte eine zunehmend beschwörende Wirkung und Bedeutung – und dies nicht nur auf Seiten der Räterepublik, die auf sowjetrussische Hilfe wartete. Diese Revolutionen in der Mitte Europas können vielmehr in ihrer Bedeutung auch »für die Bolschewiki und die ganze sowjetische Gesellschaft gar nicht groß genug eingeschätzt werden«.55 Zum Zeitpunkt, als sich die Bayerische Räteregierung bereits im Niedergang befand und die ungarische Räteregierung um ihr Überleben kämpfte, schrieb Grigorij E. Zinov’ev in seinem Leitartikel zur ersten Ausgabe des Komintern-­Organs Die Kommunistische Internationale: Jetzt, wo wir diese Zeilen niederschreiben, hat die Dritte Internationale als ihre Hauptbasis bereits drei Sowjet-­Republiken: in Russland, in Ungarn und in Bayern. Aber niemand wird sich wundern, wenn zur Zeit, wo diese Zeilen in Druck erscheinen, wir bereits nicht drei, sondern sechs oder eine größere Anzahl von Sowjet-­Republiken haben werden. In tollem Tempo saust das alte Europa der proletarischen Revolution entgegen.56

Zinov’ev sollte sich irren: Als seine Zeilen Anfang August 1919 schließlich erschienen, hatten sich alle Hoffnungen auf eine rasche Ausbreitung der kommunistischen Umstürze zerschlagen. Die Weltrevolution, auf die man angesichts der ­vielen Aufstände, Massenstreiks und Räteexperimente gehofft hatte, trat nicht ein. Während man in Budapest noch den 1. Mai feierte, schritten nahezu zur gleichen Zeit Tschechen und Rumänen gemeinsam zum Angriff, dem die Rote 53 Stenogramm der 14. Moskauer Gouvernementskonferenz der RKP(b) vom 12. April 1919, zitiert nach Gleb J. Albert: Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917 – 1927. Köln/Weimar/Wien 2017, S. 244 f. 54 Die umfangreichen Feierlichkeiten zum 1. Mai, die Budapest mit viel Aufwand in eine rote Festung verwandelten, wurden in damaligen Wochenschauen dokumentarisch festgehalten. Siehe den online abrufbaren Vörös Riport Film (Rote Filmwochenschau) Nr. 5 vom Mai 1919 unter dem Titel Der erste freie Erste Mai. 55 Albert: Das Charisma der Weltrevolution (wie Anm. 53), S. 94. – Zur transnationalen Weltsicht der Revolutionäre siehe auch Gleb J. Albert: From »World Soviet« to »Fatherland of All Proletarians.« Anticipated World Society and Global Thinking in Early Soviet Russia. In: InterDisciplines 3 (2012) 1, S. 85 – 119. 56 G. Sinowjew [Grigorij E. Zinov’ev]: Die Perspektiven der proletarischen Revolution. In: Die Kommunistische Internationale 1 (August 1919) 1, S. IX–XIV, hier S. IX.

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Armee Ungarns trotz zeitweiliger Erfolge nicht standhalten konnte. Der bis Ende Juli andauernde Ungarisch-­Rumänische Krieg endete mit der Besetzung weiter Teile des Landes durch rumänische Truppen. Am 1. August kapitulierte die ungarische Armee, und die Räterepublik brach zusammen. Béla Kun sowie viele weitere Mitglieder der Räteregierung mussten fliehen. Die rumänischen Truppen brachten in der Folge nahezu ganz Ungarn unter ihre Kontrolle. Am Ende zerbrach das ungarische Räteexperiment an den immensen innen- und außenpolitischen Herausforderungen sowie dem Ausbleiben der sowjetrussischen Hilfe und der erhofften Weltrevolution.

4. Die Gegenrevolution und der ›weiße‹ Terror Der bekannte österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer sah in seiner im Frühling 1919 verfassten Schrift Der Weg zum Sozialismus – in Anlehnung an hitzige Debatten, die wenige Jahre zuvor in Zimmerwald und Kiental bereits geführt worden waren und nun nach den beiden russischen Revolutionen von 1917 und der revolutionären Stimmung in Deutschland, Österreich und Ungarn wieder brandaktuell wurden – nur zwei mögliche Wege, den Sozialismus zu erreichen: den parlamentarisch-­ demokratischen oder den radikal-­revolutionären. Vor Letzterem warnte er seine wachsende Leserschaft im April 1919 eindringlich.57 Dadurch werde der Sozialismus nicht als »das Ergebnis planmäßig aufbauender Arbeit« erreicht, sondern als »Folge eines furchtbaren Sturmes, der zuerst alles zerstört, alles vernichtet, damit dann auf den Trümmern der alten Welt eine neue erstehe«. Käme der Sozialismus auf ­diesem Wege, so Bauer, weiter, »dann müssten wir alle ihn furchtbar teuer erkaufen: erkaufen mit Jahren des Bürgerkrieges, erkaufen mit ungeheuerlicher Zerstörung unserer Produktionsmittel, erkaufen mit noch vielen Jahren gesteigerten Elends«.58 Die ungarische Räterepublik war zu d­ iesem Zeitpunkt erst wenige Tage alt und war ohne Putsch, ohne Bürgerkrieg und vorerst noch ohne Blutvergießen eingetreten. Im Gegenteil: Anfangs standen die ungarische Arbeiterschaft sowie weite Teile des Bürgertums hinter der neuen Regierung, selbst die konterrevolutionären Kräfte waren in den ersten Wochen der Räteregierung noch keine deutlich wahrnehmbare Bewegung. Dies änderte sich in den Sommermonaten, in denen 57 Die Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand musste kurz nach Erscheinen von Otto Bauers Schrift in einer Anzeige mitteilen, dass die Publikation »der starken Nachfrage wegen nur bar abgegeben werden« könne. Siehe Anzeige in Oesterreichische Buchhändler-­Correspondenz vom 30. April 1919, S. 261. 58 Otto Bauer: Der Weg zum Sozialismus. Wien 1919, S. 32.

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die gigantischen innenpolitischen Probleme und die außenpolitische Kriegssitua­ tion nicht gelöst werden konnten. Die Räterepublik reagierte auf die Krise mit einer Intensivierung des ›roten Terrors‹ gegen vermeintliche und tatsächliche Gegner.59 Zur selben Zeit begannen sich konterrevolutionäre Kräfte zu formieren. Wien und Szeged entwickelten sich dabei zu den beiden wichtigsten Zentren der Gegenrevolution. Während in Wien um prominente konservative Politiker wie István Bethlen und Pál Teleki die Antibolschewistische Liga gegründet wurde, organisierten sich in Szeged antikommunistische Offizierskorps, die unter dem ehemaligen k. u. k. Admiral Miklós Horthy eine konservativ-­autoritäre Gegenregierung bildeten.60 Nach dem geordneten Rückzug der rumänischen Truppen aus Budapest zog Horthy mit seinen Truppen am 16. November 1919 schließlich feierlich in die ungarische Hauptstadt ein. Auf den ›roten‹ folgte nun der ›weiße‹ Terror, der durch verschiedene Offizierskommandos verübt wurde und unzählige Todesopfer forderte.61 Zu den Opfern dieser Offizierskorps gehörten neben den Protagonisten der Räterepublik auch zahlreiche Mitglieder der Sozialdemokratie, Liberale, einfache Bürgerinnen und Bürger, Bäuerinnen und Bauern, Arbeiterinnen und Arbeiter – und vor allem auch die jüdische Bevölkerung. Die im E ­ rsten Weltkrieg und im Verlauf der Räterepublik bedrohlich angewachsene antisemitische Stimmung schlug in pure Gewalt um. Man machte die jüdische Gemeinschaft sowohl für die Kriegsniederlage als auch für das kommunistische Gesellschaftsexperiment kollektiv verantwortlich.62 Unter dem Vorwurf des ›Judeo-­Bolschewismus‹ wurden Hunderte jüdische Frauen und Männer misshandelt, erschlagen und erhängt.63 In 59 Das Horthy-­Regime sprach von 600 Opfern des »roten Terrors«, wobei diese Zahl auch die Deserteure und die gewöhnlichen Straftäter mit einschloss. Der Historiker István Deák schätzt die Zahl der tatsächlichen politischen Opfer deshalb auf 200 bis 300. Siehe hierzu István Deák: Revolutionäre oder Verräter? Politische Prozesse in Ungarn ­zwischen 1919 und 1958. In: Transit. Europäische Revue 15 (1998), S. 60 – 72, hier S. 62; siehe auch: Tamás B. Müller: Vörösterror az Országházban 1919 [Roter Terror im Parlament 1919]. Budapest 2016. 60 Siehe Béla Bodó: Hungarian Aristocracy and the White Terror. In: Journal of Contemporary History 45 (2010) 4, S. 703 – 724. 61 Die Opferzahlen des ›weißen Terrors‹ werden widersprüchlich beziffert. Die Schätzungen bewegen sich z­ wischen 500 und 5.000 Opfern. Siehe Deák: Revolutionäre oder Verräter (wie Anm. 59), S. 63. – Der ›rote‹ und ›weiße‹ Terror ist in Ungarn bis heute ein geschichtspolitisch heißes Eisen, siehe dazu Béla Bodó: Memory Practices: The Red and White Terrors in Hungary as Remembered after 1990. In: East Central Europe 44 (2017) 2 – 3, S. 186 – 215. 62 Ein bekanntes antisemitisches Zeitdokument ist die in Tagebuchform verfasste Schrift von Cécile Tormay: Bujdosó könyv: feljegyzések 1918 – 1919-ből [Heimatlosenbuch: Aufzeichnungen aus den Jahren 1918 – 1919]. Budapest 1920. 63 Zu den antisemitischen Ausschreitungen und dem Vorwurf des ›Judeo-­Bolschewismus‹ siehe jüngst Julia Richers/Regina Fritz: Der Vorwurf des ›Judeo-­Bolschewismus‹ und die

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zahlreichen O ­ rtschaften brachen antisemitisch motivierte Gewaltexzesse aus, die von der zivilen Bevölkerung getragen wurden und viele Todesopfer forderten.64 Auf juristischer Ebene leitete man Prozesse gegen führende Mitglieder der Räterepublik ein. Die in den überlieferten Akten geäußerten Aussagen formten dabei maßgeblich das spätere Geschichtsbild über die Räterepublik. Darin erschien überdeutlich die These vom bolschewistischen Exportprodukt. Für die obersten Richter des königlichen Strafgerichtshofes war zweifelsfrei erwiesen, dass »Bösewichte des ungarischen Bolschewismus«, genauer gesagt »einige aus Russland heimgekehrte Abenteurer« unter dem Vorwand, den Kommunismus in Ungarn zu verwirklichen, »die Staatsgewalt mit bewaffneter Hand an sich gerissen« hätten.65 Dabei betonten sie vor allem auch die zentrale Rolle Béla Kuns: »Béla Kun ist der ureigentlichste Schöpfer, Organisator, die treibende und erhaltende Kraft, die Seele der sogenannten Räterepublik gewesen. […] Dies ist natürlich, denn Béla Kun hat die bolschewistische Schule in Russland besucht, dort Erfahrungen gesammelt, dort selbst eine hervorragende Rolle gespielt.«66 In ihren Anklageschriften ließen sie keinen Zweifel daran, dass es sich bei der ungarischen Räterepublik um einen sowjetrussischen Export und um eine von Moskau gesteuerte bolschewistische Revolution gehandelt habe.

Folgen der Räterepublik für die jüdische Gemeinschaft in Ungarn. In: Christian Koller/ Matthias Marschik (Hrsg.): Die ungarische Räterepublik 1919: Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen. Wien 2018, S. 155 – 166; Béla Bodó: Pál Prónay: Paramilitary Violence and Anti-­Semitism in Hungary, 1919 – 1921 (The Carl Beck Papers in Russian & East European Studies, 2101). Pittsburgh 2011. – Zum ideologischen Konzept des ›jüdischen Bolschewismus‹ als Propagandainstrument in der Weimarer Republik siehe zudem den Beitrag von Agnieszka Pufelska in ­diesem Band. 64 Gábor Kádár und Zoltán Vági zählen mindestens vierzig s­ olche Fälle, wo die örtliche Bevölkerung Jüdinnen und Juden tätlich angriff. Siehe Gábor Kádár/Zoltán Vági: A vegső döntés: Berlin, Budapest, Birkenau 1944 [Die letzte Entscheidung: Berlin, Budapest, B ­ irkenau 1944]. Budapest 2013, S. 110; siehe auch Gábor Kádár/Zoltán Vági: Antiszemita ­atrocitások, gyilkosságok, pogromok a fehérterror időszakában [Antisemitische Gewalt­taten, Morde, Pogrome während der Zeit des Weißen Terrors]. Abgerufen unter URL : http:// konfliktuskutato.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=138:antiszem ita-­atrocitasok-­g yilkossagok-­pogromok-­a-­feherterror-­idszakaban-&catid=16:esetek, letzter Zugriff: 30. 04. 2018. 65 Einleitung zu: Königliches Ungarisches Justizministerium (Hrsg.): Aktenstücke aus dem Archiv Ungarischer Gerichtshöfe über die Prozesse einiger Kommunisten, 1919 – 1920. Budapest 1920, S. 6. 66 Dokument Nr. I: Haftbefehl des königlichen Strafgerichtshofes zu Budapest vom 26. Dezember 1919, Zahl 5736 gegen den Volksbeauftragten für Äußeres der ungarischen Räteregierung Béla Kun. Abgedruckt in: Königliches Ungarisches Justizministerium (Hrsg.): Aktenstücke (wie Anm. 65), S. 11 – 25, hier S. 21.

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Abb. 1 Zeitgenössische antibolschewistische Darstellung der ungarischen Räterepublik als von Moskau gesteuerte Aktion. Quelle: Titelblatt der Publikation des Journalisten Henry Charles Schmitt: Die rote Hölle in Ungarn. Bolschewistische Momentbilder. Bern 21919

Die Betonung der Exportthese hatte dabei eine weitere wichtige Funktion: Mit der Externalisierung des kommunistischen Räteexperiments konnte der Kommunismus als etwas durch und durch Fremdes und ›Unungarisches‹ gedeutet werden. So betonten die Richter: eine Revolution kann wohl Gewalttätigkeiten sanktionieren, jedoch nur dort und dann, wo und wenn sich die Revolutions-­Regierungsmacht auf den allgemeinen Willen einer Nation stützen kann. Wahrlich, die Räterepublik beruht nicht auf dem Willen der Mehrheit der Nation. Die Ideen und Ziele dieser waren der überwiegenden Mehrheit des Volkes fremd und nicht sympathisch. […] Diese Regierungsgewalt war nichts anderes als Gewalttätigkeit bewaffneter Banditen über eine von den Blutverlusten des langen Weltkrieges für Augenblicke erschöpften und bewusstlosen Nation. Für ihre Regierungshandlungen sind sie daher als gemeine Verbrecher verantwortlich.67

67 Ebd., S. 24.

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Eine Revolution, so die Richter weiter, sei nur dann eine Revolution, wenn sie »in erster Linie einen nationalen Charakter« habe und vom »Willen der Volksmehrheit« getragen werde. Doch die »Proletarierdiktatur« sei eine »internationalistische Bewegung« gewesen, die nicht dem Willen der Mehrheit der Nation entsprochen, »ja nicht einmal im Willen der Minderheit«, sondern nur »in dem einer Abenteurerbande« fuße.68 Mit diesen richterlichen Aussagen war klar, dass es strafrechtlich legitim erschien, die »fremden Elemente« hinter Gitter zu bringen oder – wie die Richtersprüche mit ihren Maximalstrafen zeigen – zu liquidieren.

5. Der Echoraum der Revolution In Ungarn fanden die revolutionären Entwicklungen Russlands einen gewaltigen Echoraum, sowohl bei ihren leidenschaftlichen Befürwortern als auch bei ihren ebenso leidenschaftlichen Gegnern. Taktgleich mit der Russischen Revolution, der Gründung der Kommunistischen Internationale und den ersten europäischen Räteexperimenten formierte sich in Europa, aber auch darüber hinaus eine tatkräftige ›antibolschewistische Internationale‹. Gerade das Horthy-­Regime legitimierte sich zu einem nicht unwesentlichen Teil »durch die Beschwörung der Gefahr des Roten Terrors«.69 Noch Jahre spätere wurde in Ungarn immer wieder auf die Räterepublik von 1919 implizit oder durchaus explizit Bezug genommen – so beispielsweise beim Numerus-­Clausus-­Gesetz von 1920 oder dem Zweiten Judengesetz von 1939, wo die Teilnahme respektive Nichtteilnahme an der Räterepublik nicht nur wörtlich Erwähnung fand, sondern als Gradmesser für politische Zuverlässigkeit galt und juristisch existenzielle Auswirkungen auf das Leben Einzelner hatte.70 Sowjetrussland und die Bolschewiki verantwortlich zu machen, ermöglichte es dem Horthy-­Regime, Kommunisten als fremdartig zu verfolgen und nach innen konsolidierend zu wirken. Somit hatte die Ahndung der 68 Dokument Nr.  II: Urteil des königlichen Strafgerichtshofes zu Budapest vom 19. Dezember 1919, Zahl B. 10.303/II. in der Strafsache des Leiters der politischen Nachforschungsabteilung der ung. Räteregierung Otto Korvin (Klein) und Genossen. Abgedruckt in: Königliches Ungarisches Justizministerium (Hrsg.): Aktenstücke (wie Anm. 65), S. 26 – 4 4, hier S. 27. 69 Deák: Revolutionäre oder Verräter (wie Anm. 59), S. 64. 70 Gesetz 1939:IV über die Einschränkung der jüdischen Expansion im öffentlichen Leben und in der Wirtschaft. Budapest, 5. Mai 1939. Abgerufen unter: https://www.herder-institut.de/resolve/ qid/273.html, letzter Zugriff: 16. 08. 2019; siehe auch Mária M. Kovács: Törvénytől sújtva: A Numerus Clausus Magyarországon 1920 – 1945 [Vom Gesetz betroffen: Der Numerus Clausus in Ungarn 1920 – 1945]. Budapest 2012.

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Rätemitglieder unter Horthy eine integrative Funktion, mit der die ungarische Bevölkerung von ihrer partiellen Unterstützung der Räterepublik freigesprochen respektive diese (historiografisch) unter den Teppich gekehrt werden konnte. Der Antibolschewismus und die Ächtung der Räterepublik wurden – neben der Revision des Friedensvertrags von Trianon – zu den innen- und außenpolitischen Leitplanken der gesamten Horthy-­Ära. Die Betonung der Ähnlichkeiten – mehr noch, der Wesensgleichheit – der beiden Sowjetsysteme verhinderte über Jahrzehnte hinweg eine tiefgreifende Analyse der tatsächlichen Ursprünge der ungarischen Räterepublik und ihrer zahlreichen Unterschiede zum sowjetrussischen Beispiel. Gerade eine Untersuchung der internen Telegrammkorrespondenz fördert wichtige Erkenntnisse zutage. So erhielten die ungarischen Protagonisten selten direkte Instruktionen aus Moskau. Im Gegenteil: Häufig erwies sich die Parteispitze der KPR(b) als äußerst schlecht informiert und bat ihrerseits um rasche Aufklärung hinsichtlich der revolutionären Ereignisse in Ungarn, Österreich und Deutschland.71 Darüber hinaus verhielt sich die ungarische Räteregierung häufig nicht konform mit den Direktiven der Komintern. Die Namensgebung der Partei mag hier ebenso als Beispiel dienen wie insgesamt die außergewöhnliche Zusammenarbeit ­zwischen ungarischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Eduard Bernsteins eingangs erwähnten Einschätzungen ist letztlich in weiten Teilen Recht zu geben. Die Russische Revolution fand in Ungarn einen Echoraum, jedoch waren es die ungarischen Zustände selbst, die einen revolutionären Prozess einleiteten. Die bolschewistische Schulung von Menschen wie Kun und Szamuely spielte nicht eine dermaßen große Rolle, wie sie ihr im Nachhinein beigemessen wurde. Auch entfaltete die ungarische Räterepublik ihre Wirkung nicht in der Form einer Kopie oder »Travestie« der russischen Verhältnisse. Selbst Lenin bestätigte bereits früh, dass es ein »Fehler« sei, das russische Beispiel eins zu eins auf Ungarn anzuwenden: »Es ist ganz sicher, daß eigenartige Verhältnisse ungarischer Revolution bloße Nachahmung unserer russischen Taktik in ihren Einzelheiten zu einem Fehler machen. Vor d­ iesem Fehler muß ich warnen«.72 In einer späteren Grußbotschaft an die ungarische Arbeiterschaft betonte Lenin noch deutlicher die bestehenden Unterschiede z­ wischen Sowjetrussland und Räteungarn, indem er festhielt: »Die Form des Übergangs zur Diktatur des Proletariats ist in Ungarn eine ganz andere als in Rußland.« Der Unterschied lag in seinen Augen vor allem 71 Siehe János M. Bak: Aus dem Telegrammwechsel z­ wischen Moskau und Budapest, März – August 1919. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1972) 2, S. 187 – 224. 72 W. I. Lenin: Niederschrift eines Funktelegramms an Béla Kun, 23. März 1919. In: ders.: Werke. Bd. 29 (wie Anm. 6), S. 213.

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im freiwilligen Rücktritt der bürgerlichen Regierung und in der »sofortige[n] Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse«, der »Einheit des Sozialismus« auf kommunistischer Grundlage.73 Doch nicht nur Lenin, sondern auch Kun warnte mehrfach davor, das »russische Modell« unverändert auf Ungarn anwenden zu wollen. Dies belegen auch zeitgenössische Berichte; so bestätigte ein sozialdemokratischer Beobachter, dass einige damals »das russische Muster kopiren [sic]« wollten, doch die »erfahrenen Führer« – »unter ihnen der Genosse Béla Kun« – hätten deutlich auf die Gefahren hingewiesen, die durch »eine kritiklose Nachahmung des russischen Musters« entstehen könnten.74 Ungarns Räterepublik ging in der Tat einen eigenen Weg und machte eine eigenständige Entwicklung durch. Am Ende waren es nicht die Bolschewiki und Sowjetrussland, sondern die katastrophalen ungarischen Verhältnisse, die aus vielen Menschen Kommunisten machten.

73 W. I. Lenin: Gruß an die ungarischen Arbeiter. In: ders.: Werke. Bd. 29 (wie Anm. 6), S. 376 – 380, hier S. 377. Lenin verfasste seine Grußbotschaft an die ungarischen Arbeiter am 27. Mai 1919, veröffentlicht wurde sie in der Pravda am 29. Mai 1919. 74 Entstehung und Zusammenbruch der ungarischen Rätediktatur (wie Anm. 15), S. 13.

Der globale Resonanzraum der Oktoberrevolution

Michael Dreyer

›Red Scare‹ in den USA

Die USA sind ein Land der Einwanderer. Es ist eine Binsenweisheit, dass jeder einzelne Bürger der USA oder dessen Vorfahren, mit Ausnahme der Native Americans, irgendwann z­ wischen 1621 und heute eingewandert sind. Und doch sind auch Aussagen wie die folgende keine Seltenheit: Another weak point in our system is our laws encouraging immigration, and affording facilities to naturalization. In the early state of the country liberality in these points was thought to be of advantage, as it promoted the cultivation of our wild lands, but the dangers which now threaten our free institutions from this source more than balance all advantages of this character. […] However well disposed they [the immigrants] may be to the country which protects them, and adopts them as citizens, they are not fitted to act with judgment in the political affairs of their new country, like native citizens educated from their infancy in the principles and habits of our institutions. Most of them are too ignorant to act at all for themselves, and expect to be guides wholly by others.1

Es klingt ein wenig wie der gegenwärtige Präsident der USA (dessen ­Mutter aus Schottland kommt und dessen Großvater väterlicherseits aus der damals bayerischen Pfalz als Wehrdienstflüchtling einwanderte), aber die Sprache ist dann doch etwas zu altertümlich dafür. Tatsächlich handelt es sich bei dem Verfasser dieser Zeilen um einen bekannten Maler des 19. Jahrhunderts, der 1835 anonym vor einer Foreign Conspiracy Against the Liberties of the United States warnte. Eine zweite Auflage 1841 versah er dann auch mit seinem Namen: Samuel Morse, dessen heutiger Ruhm weniger mit alten Gemälden als mit neuer Technologie, nämlich dem Telegrafen, verbunden ist.2 Die auswärtige Verschwörung, die Morse für die USA fürchtete, waren katholische Einwanderer, die sich der Führung der Priester anvertrauen und damit letzten Endes als ›Fünfte Kolonne‹ für den Vatikan dienen würden. In den weiteren Ausführungen geht es um einen besonders eklatanten Fall dieser Furcht vor einer antiamerikanischen Verschwörung, verbunden mit 1 Samuel Morse: Foreign Conspiracy Against the Liberties of the United States. New York 1835, S. 57. Das Original erschien anonym, die Ausgabe von 1841 trug den Namen des Verfassers. 2 Ebd.

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grassierender Xenophobie: die ›Red Scare‹ am Ende und nach dem Ende des ­ rsten Weltkrieges. Dabei soll gezeigt werden, dass diese ›Red Scare‹ weniger E eine politische Bewegung war, sondern lediglich eine besondere Form fremdenfeindlicher Übergriffe.

1. Die ›Red Scare‹ 1917 – 1921 – im Lichte von 1964 Die wenigen, aber intensiven Jahre der ›Red Scare‹3 stellen eine besondere Zeit in der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und eine interessante Episode in der unmittelbaren globalen Resonanz auf die russische Oktoberrevolution dar. Es wird sich zeigen, dass die ›Red Scare‹ zwar gemeinhin als die amerikanische Antwort auf die sozialistische Revolution gilt, bei näherer Betrachtung aber nur sehr wenig mit ihr zu tun hatte. Die Besonderheiten im Vergleich zu Europa sind offensichtlich. Zunächst einmal muss man konstatieren, dass es für die USA niemals eine echte Bedrohung gab. Es war ausgeschlossen, dass die Oktoberrevolution von Russland hätte nach Amerika exportiert werden können. Allein die geografische Entfernung, aber auch inhaltliche Gründe machten dies unmöglich; eine Erkenntnis, zu der amerikanische Politiker auch bereits 1917 hätten gelangen können. Außerdem lassen sich der Beginn und das Ende der ›Red Scare‹ in den USA auf zwei konkrete Daten festlegen – und beide Daten haben nur sehr wenig mit dem Kommunismus zu tun. Die einleitende These, dass der Sozialismus russischer Prägung niemals eine Chance in den USA hatte und dass die ›Red Scare‹ viel mehr über die politische Kultur der USA aussagt als über eine etwaige Bedrohung von außerhalb, soll eingangs mit zwei wichtigen klassischen Untersuchungen untermauert werden, die ­zwischen 1917 und 1921 in den USA noch unbekannt waren. Die erste Abhandlung ist Werner Sombarts jedenfalls in Deutschland recht berühmte Schrift Warum gibt es in den Vereinigten Staate keinen Sozialismus? von 1906. Anscheinend ist diese Abhandlung erstmals 1976 ins Englische übersetzt worden, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Mehrheit der Amerikaner zur Zeit der ›Red Scare‹ das Buch unbekannt war.4 Sombart argumentiert, dass der Sozialismus in den USA, anders als in Europa, niemals eine 3 Als Überblick siehe Robert K. Murray: Red Scare. A Study in National Hysteria 1919 – 1920. Westport, CT, 1980 (Erstausgabe 1955). 4 Werner Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Tübingen 1906. – Die englische Version ist: Why is there no Socialism in the United States? White Plains, NY 1976.

›Red Scare‹ in den USA  |

Chance gehabt habe oder in der Zukunft haben werde. Das liege daran, dass sich die amerikanischen Parteien in drei zentralen Punkten von ihren europäischen Pendants unterschieden. E ­ rstens ­seien amerikanische Parteien generell nicht an einer ideologischen Programmatik ausgerichtet. Zweitens s­ eien Republikaner und Demokraten beide dem Ideal eines gleichberechtigten Bürgertums verpflichtet. Und drittens herrsche in den USA eine demokratische und egalitäre politische Kultur, w ­ elche die politische und gesellschaftliche Marginalisierung der Arbeiter nicht kenne. Wenn Arbeiter Teil des Bürgertums sind, gründen sie keine sozialistischen Arbeiterparteien – eine Analyse und Vorhersage, die wesentlich bis heute Bestand hat. Die zweite relevante Untersuchung, Paranoid Style in American Politics, stammt von Richard Hofstadter, der seine Gedanken 1964 zunächst als Essay im Harper’s Magazine veröffentlichte, und danach rasch auch als Buch, das großen Absatz fand.5 Der Anlass für Hofstadters Überlegungen war die Präsidentschaftskandi­ datur von Barry Goldwater und der Aufstieg der John Birch Society, einer Organisation, die Senator McCarthy wie einen Sympathisanten des Kommunismus aussehen ließ und die überall kommunistische Verschwörungen witterte – selbst Präsident Eisenhower war für die Birchers ein Kommunist.6 Hofstadter sah keinen Einzelfall, sondern vielmehr eine regelmäßige und wiederkehrende Besonderheit der amerikanischen Politik. American politics has often been an arena for angry minds. […] I believe there is a style of mind that is far from new and that is not necessarily right-­wing. I call it the paranoid style simply because no other word adequately evokes the sense of heated exaggeration, suspiciousness, and conspirational fantasy that I have in mind. […] It is the use of paranoid modes of expression by more or less normal people that makes the phenomenon significant.7

Die Vermischung vager Bedrohungsängste mit dem uramerikanischen Gefühl des Exzeptionalismus war für die Birchers ebenso typisch wie für McCarthy, für die nativistische Partei der Know-­Nothings wie für den eingangs zitierten Morse; und eben auch für die ›Red Scare‹ nach dem ­Ersten Weltkrieg. In allen diesen 5 Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. New York 1965. – Der Essay, der dem Band den Namen gab, erschien erstmals im Harper’s Magazine (November 1964), S. 77 – 86. 6 Goldwater, der langjährige Senator von Arizona, war eine Ikone der Republikaner. Die John Birch Society, benannt nach einem 1945 von chinesischen Kommunisten getöteten amerikanischen Missionar, war eine kurzzeitig einflussreiche rechtsradikale Organisation, die sich die Abwehr des Kommunismus auf die Fahnen geschrieben hatte. 7 Ebd., Harper’s Magazine, S. 77.

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Fällen fehlt die Verbindung ­zwischen paranoider Furcht und realer Bedrohung fast völlig. Als Übersicht lassen sich die Beispiele für Hofstadters Theorem wie folgt darstellen: Tabelle 1  Paranoide Verschwörungen in der Geschichte der USA Jahr

Bewegung

Feinde

›Lösung‹

1797

Federalists und die Ostküste

Illuminatenorden, der Religion und Staat zerstören wolle

Sedition Act von 1798

1820er

Anti-­Masons

Freimaurer, die Demokratie und Recht zerstören wollten

Aufdecken ausländischer Geheimgesellschaften

1850er

Know-­Nothings

Katholiken und Einwanderer, die die USA dem Papst ausliefern wollten

Keine weitere Einwanderung

1917 – 21

Red Scare I

Pazifisten, Kommunisten und Einwanderer, die gegen die USA agierten

Stärkung des Patriotismus; Beschränkung der Einwanderung

1947 – 57

Red Scare II

Kommunisten und ›Fellow Travelers‹ (Mitläufer)

Säuberungen im Staat sowie im öffentlichen Leben

2009 ff.

Tea Party

›Washington‹ als politische und gesellschaftliche Elite

Staatsabbau und Machtbeschränkung der Bundesregierung

2011

Occupy Wall Street

Verschwörung der ›1 %‹

Keine Lösung

Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors (wie auch die weiteren Tabellen)

Die Liste ist keineswegs vollständig, zeigt aber einige der wichtigsten Beispiele auf. Übrigens sei hier nur am Rande vermerkt, dass es auch progressiv-­ paranoide Verschwörungstheorien gab und gibt: etwa im 19. Jahrhundert die Idee, dass der Sklavenhandel die amerikanische Republik zerstören wolle oder einzelne Ideen des Progressive Movement um die Jahrhundertwende. In unseren Tagen wären manche Aspekte des Black Lives Matter oder der Occupy-­Wall-­Street-­Bewegung zu nennen. Was aber auch typisch ist für die Hofstadter’sche Paranoia ist die Kombination von Verschwörungstheorie und Xenophobie. Diese Verbindung kann im Kontext der ›Red Scare‹ geradezu mustergültig beobachtet werden.

›Red Scare‹ in den USA  |

2. Bomben, Streiks und Polizeigewalt – Eine Ereignisgeschichte der ›Red Scare‹ Der Kontext der ›Red Scare‹ begann schon geraume Zeit vor der Russischen Revolution und der ihr gewidmeten Aufmerksamkeit. Die Furcht vor Illoyalität amerikanischer Bürger mit Migrationshintergrund erwuchs bereits im ­Ersten Weltkrieg, und sie wurde von niemand Geringerem als dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Woodrow Wilson geschürt. In seiner State of the Union Address von 1915, also zu einer Zeit, als der Kriegseintritt der USA noch in weiter Ferne lag, hatte Wilson folgende Warnung für seine Mitbürger: There are citizens of the United States, I blush to admit, born under other flags but welcomed under our generous naturalization laws to the full freedom and opportunity of America, who have poured the poison of disloyalty into the very arteries of our national life; who have sought to bring the authority and good name of our Government into contempt, to destroy our industries wherever they thought it effective for their vindictive purposes to strike at them, and to debase our politics to the uses of foreign intrigue. I urge you to enact such laws at the earliest possible moment and feel that in doing so I am urging you to do nothing less than save the honor and self-­respect of the nation. Such creatures of passion, disloyalty, and anarchy must be crushed out. They are not many, but they are infinitely malignant, and the hand of our power should close over them at once. They have formed plots to destroy property, they have entered into conspiracies against the neutrality of the Government, they have sought to pry into every confidential transaction of the Government in order to serve interests alien to our own. It is possible to deal with these things very effectually. I need not suggest the terms in which they may be dealt with.8

Es ist bemerkenswert, dass der Präsident hier nicht zu Ruhe und Mäßigung aufrief, sondern stattdessen Öl ins Feuer goss beziehungsweise das Feuer überhaupt erst entfachte. Die Rede wurde am 7. Dezember 1915 gehalten – an dem Tag, der 26 Jahre später als Tag von Pearl Harbor in die Geschichte eingehen sollte und neue Verfolgungswellen für ›ethnisch zweifelhafte Bürger‹ auslösen sollte. 1915 hatte Wilson natürlich noch nicht die Amerikaner japanischer Herkunft im Auge, sondern seine Warnungen richteten sich gegen diejenigen, die in

8 Woodrow Wilson: State of the Union 1915, 7. Dezember 1915. Abgerufen unter URL: http://www.let.rug.nl/usa/presidents/woodrow-­wilson/state-­of-­the-­union-1915.php, letzter Zugriff: 11. 06. 2019.

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Gewerkschaften, als Anarchisten, Pazifisten, Sozialisten und generell als Ausländer die USA ›bedrohten‹. Es ging um Juden, Russen und Deutsche.9 Die Kriegspropaganda der USA legte die Grundlage für die ›Red Scare‹, zumal die Zielgruppen weitgehend identisch waren. Die Ikonografie war einfach; in einigen der bekanntesten Darstellungen wird das Deutsche Kaiserreich als King-­ Kong-­ähnlicher wilder Affe gezeigt, mit einer Keule mit der Inschrift ›Kultur‹ in der einen Pranke, einer verzweifelten blonden Schönheit in der anderen und der Pickelhaube auf dem Kopf mit geiferndem Maul. Diese Darstellung richtete sich zunächst nach außen, aber auch nach innen – die deutschen Einwanderer, die in die Millionen gingen, wurden der Sympathie mit dem alten Heimatland verdächtigt, auch wenn sie ihre vorgebliche Loyalität mit den USA betonten. Die Gesetzeslage wurde entsprechend dieser Bedrohungsanalyse mehrfach verschärft. Urbild dieser paranoiden Gesetze sind die Alien and Sedition Acts von 1798, die zwar schon lange außer Kraft waren, die aber die neue Gesetzgebung inspirierten. Tabelle 2  Gesetzeslage und ›Red Scare‹ Gesetz

Jahr

Ziel

Bemerkungen

Alien and Sedition Acts

1798

Verschärfung der Immigration, Einschränkung der Meinungsfreiheit

Gesetze liefen 1800 und 1801 aus bzw. wurden nach dem Wahlsieg Jeffersons aufgehoben

Defense Secrets Act

1911

Unterstrafestellen von Geheimnisverrat

Abgelöst durch neuere Gesetze

Espionage Act

1917

Verbot von Propaganda gegen die Wehrpflicht etc.; Unterstützung für Feinde der USA

Geltendes Recht; vielfach geändert (Anwendung z. B. in den Fällen Snowden und Manning)

Sedition Act

1918

Verschärfung des Espionage Act

Aufgehoben vom Kongress am 13. 12. 1920

Der Kontext des Defense Secrets Act von 1911 war der Aufstand auf den Philippinen, die die USA nach dem Spanischen Krieg besetzt hatten. Dieses Gesetz war die erste einschlägige Bestimmung seit den Gesetzen von 1798 und bereitete die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den ­Ersten Weltkrieg vor. Die ›Red Scare‹ wurde wesentlich unter den Bestimmungen des Espionage Act von 1917 und des Sedition Act von 1918 bekämpft – beide wurden bereits während des Krieges erlassen. Sie richteten sich gegen Pazifisten und Sozialisten deutscher Herkunft, nicht gegen die vermeintliche Gefahr durch den Bolschewismus. 9 Zu d­ iesem Komplex Jörg Nagler: Nationale Minoritäten im Krieg. »Feindliche Ausländer« und die amerikanische Heimatfront während des ­Ersten Weltkriegs. Hamburg 2000.

›Red Scare‹ in den USA  |

Als pazifistische Propaganda galten etwa Aufrufe gegen die Wehrpflicht, aber auch gegen den Kauf von Kriegsanleihen, den War Bonds. Diese Gesetze wurden 1920/21 weiter genutzt, und es handelte sich dabei keineswegs um ›zahnlose Tiger‹. Unter dem Sedition Act kam es in den zwei Jahren seiner Gültigkeit zu rund 1500 Verfahren, aus denen wiederum etwa 1000 Verurteilungen resultierten. Mit dem Gesetz verbunden war auch ein Ausschuss im Senat, der durchaus als Vorläufer des House Un-­American Activities Committee der McCarthy-­Ära gelten kann: Das Overman Committee untersuchte 1918/19 deutsche Propaganda und ihre Verbindung zum russischen Bolschewismus. Die Ereignisse der ›Red Scare‹ sind relativ gut untersucht und auch im Wesentlichen nicht umstritten.10 An dieser Stelle soll es genügen, die Ereignisse, die sich über ein gutes Jahr hinzogen, tabellarisch im Überblick aufzuführen. Tabelle 3  Chronik der ›Red Scare‹ Datum

Ereignis

Folgen

Januar 1919

Generalstreik in Seattle

Erster Generalstreik der USA; das öffentliche Leben in Seattle stand still

April – Juni 1919

Mehrere anarchistische Bombenattentate (u. a. Anschlag auf Attorney General Palmer)

Verfolgungswelle, die ›Palmer Raids‹

Sommer 1919

Rassenunruhen (Süden, Washington, Chicago)

Blutige Auseinandersetzungen z­ wischen Schwarzen und Weißen

September 1919

Polizeistreik in Boston

Verschärfung der ›Red Scare‹

September 1919

Stahlstreik in sieben Staaten

Kriegsrecht; Streikbrecher

November 1919

Streik in Kohlebergwerken

Friedliches Ende im Dezember 1919

November 1919 – Januar 1920

›Palmer Raids‹

Verhaftung radikaler Ausländer; Deportation von 556 Personen ins Ausland

Januar 1920

Ausschluss von fünf sozialistischen Abgeordneten aus dem Parlament von New York

Proteste gegen Verfolgung

1. Mai 1920

Voraussage politischer Unruhen durch Attorney General Palmer

Politische Blamage Palmers aufgrund des Ausbleibens von Unruhen

10 Als knappe, aber gründliche historische Übersicht siehe Helke Rausch: Red Scare: Bodenwellen der russischen Oktoberrevolution in den USA 1919/20 (Jahrbuch für historische Kommu­ nismusforschung, 2017). Berlin 2017, S. 131 – 148; immer noch lesenswert Stanley Coben: A Study in Nativism: The American Red Scare of 1919 – 20. In: Political Science Quarterly 79 (1964), S. 51 – 75.

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Diese Ereignisse sind nicht trivial. Streiks, die zum Teil politisch motiviert waren, eine ganze Reihe von Bombenanschlägen und blutige Rassenunruhen waren ungewohnte Erscheinungsformen der politischen Auseinandersetzung in den USA. Aber man muss auch die Relationen beachten. In der gesamten Zeit gab es ca. 165 Tote, ca. 3000 Verhaftungen und 556 Deportationen von unerwünschten Ausländern. Zum Vergleich: In den Tagen der russischen Februarrevolution waren ca. 400 Tote zu verzeichnen, im Bürgerkrieg starben in Russland insgesamt ungefähr 8 Millionen Menschen. Und Emil Julius Gumbel zählt in seiner Bilanz der frühen Weimarer Republik bis 1920 nicht weniger als 376 gezielte politische Morde auf, von den ungezählten Toten im Laufe der Auseinandersetzungen ganz zu schweigen.11 Den Höhepunkt, zugleich aber auch ihren Wendepunkt erreichte die ›Red Scare‹ im Januar 1920. Das Staatsparlament von New York nutzte seine autonome Organisationsgewalt, um fünf sozialistische Abgeordnete aus seinen Reihen auszuschließen. Damit war eine symbolische Grenze überschritten und es regnete politische Proteste. Zu den prominentesten Stimmen zählte Charles Evans Hughes, der Präsidentschaftskandidat der Republikaner von 1916 und spätere Außenminister (1921 – 1925) und Chief Justice (1930 – 1941) im Supreme Court der USA.12 Anhand der Reaktion wurde deutlich, dass die ›Red Scare‹ durchaus auch politische Hintergründe hatte. Das drakonische Eingreifen des Justizministers (dem in den USA die Bundespolizei unterstellt ist), Attorney General A. M ­ itchell 13 Palmer, war eng verbunden mit den Ambitionen ­dieses Politikers, 1920 die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten zu erreichen. Palmer bereitete einen Law-­and-­Order-­Wahlkampf vor. Dazu gehörte auch die Vorhersage erheblicher Unruhen zum sozialistischen Feiertag, dem 1. Mai. Als an ­diesem Tag allerdings nichts passierte, war Palmer entsprechend blamiert. Die Medien griffen die Blamage auf und die Stimmung begann, gegen den Justizminister umzuschlagen. Everybody is laughing at A. Mitchell Palmer’s May Day ›revolution‹. The joke is certainly on A. Mitchell Palmer, but the matter is not wholly a joke. The spectacle of a Cabinet officer going around surrounded with armed guards because he is afraid of his own hand-­made bogey is a sorry one, even though it appeals to the humor of Americans. Of course, the terrible ›revolution‹ 11 Emil Julius Gumbel: Zwei Jahre Mord. Berlin 1921. 12 Siehe Hughes Upholds Socialists Rights. In: New York Times, 10. Januar 1920, S. 1, 3. – In dem Brief, den Hughes an den Speaker des New Yorker Abgeordnetenhauses richtete, schrieb Hughes: »Nothing […] is a more serious mistake at this critical time than to deprive Socialists or radicals of their opportunities for peaceful discussion and thus to convince them that the Reds are right and that violence and revolution are the only available means at their command.« 13 Zu ihm siehe Stanley Coben: A. Mitchell Palmer, Politician. New York 1963.

›Red Scare‹ in den USA  |

did not come off. Nobody with a grain of sense supposed that it would. Yet, in spite of universal laughter, the people are seriously disgusted with these official Red scares. They cost the taxpayers thousands of dollars spent in assembling soldiers and policemen and in paying wages and expenses to Mr. Palmer’s agents. They help to frighten capital and demoralize business, and to make timid men and women jumpy and nervous.14

Damit war die Bewerbung Palmers um die Kandidatur für die Demokraten praktisch beendet. Aber auch die Wahlchancen der Demokraten insgesamt wurden durch ihre Verantwortung für die 1920 gemeinhin als gescheitert betrachtete ›Red Scare‹ nicht gefördert. An ­diesem Punkt zeigt sich die Verbindung zu Hofstadters Theorem: So plötzlich, wie die paranoiden Momente amerikanischer Politik auftauchten, endeten sie auch wieder. Dies gilt auch für das abrupte Ende der ›Red Scare‹ 1920, das zunächst Palmers Karriere zum Erliegen brachte, im weiteren Verlauf aber auch zum erdrutschartigen Sieg der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl 1920 beitrug. Im November 1920 wurde Senator Warren Harding zusammen mit seinem Vizepräsidentenkandidaten Calvin Coolidge gegen die Demokraten, den Gouverneur von Ohio James M. Cox und den amtierenden stellvertretenden Marineminister, Franklin D. Roosevelt gewählt.15 Das Wahlergebnis bescherte den Republikanern mit 60,3 zu 34,2 Prozent einen Vorsprung von über 26 Prozent; bis heute der größte prozentuale Unterschied, der je erreicht wurde. Coolidge hatte als Gouverneur von Massachusetts den Bostoner Polizeistreik erfolgreich beenden können. Diesem Erfolg verdankte er primär seine Nominierung als republikanischer Kandidat für den Posten des amerikanischen Vizepräsidenten. Wähler irischer und deutscher Abstammung, die 1916 noch die Neutralität im Krieg versprechenden Demokraten gewählt hatten, verließen in Scharen die Partei und liefen zu den Republikanern über. Die Wahl von 1920 war keine politische Neuausrichtung im Sinne einer realigning election;16 die Ausnahme in einer langen Periode Republikanischer Dominanz waren eher die acht Jahre der Präsidentschaft Wilsons gewesen.17 Aber die ›Red Scare‹ trug, wenn sie überhaupt langfristige Auswirkungen hatte, eindeutig zur Schwächung der Demokraten und 14 Boston American, 4. Mai 1920; zitiert nach Kenneth D. Ackerman: Young J. Edgar: ­Hoover, the Red Scare, and the Assault on Civil Liberties. New York 2007, S. 283 f. 15 Generell zu dieser Wahl etwa Wesley M. Bagby: The Road to Normalcy. The Presidential Campaign and Election of 1920. Baltimore 1962. 16 Zu ­diesem Konzept siehe V. O. Key: A Theory of Critical Elections. In: The Journal of Politics 17 (1955), S. 3 – 18. 17 Zwischen 1896 und 1932 siegten die Republikaner in allen Präsidentschaftswahlen mit Ausnahme des zweimaligen Erfolges von Woodrow Wilson.

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zur Bestätigung der zur Zeit der ›Red Scare‹ oppositionellen Republikaner bei. Stellte diese Epoche überhaupt jemals eine echte politische Gefahr für die USA dar? Die Antwort ist ein eindeutiges Nein.

3. Sozialismus, Pazifismus und Bolschewismus in den USA Wenn zu Beginn unter Bezug auf Sombart darauf verwiesen wurde, dass es keinen Sozialismus in den USA gab, darf dies nicht wörtlich verstanden werden. Natürlich gab es eine sozialistische Partei (Socialist Party of America), nur führte sie im Vergleich zu Europa ein kümmerliches Dasein.18 Dies wird deutlich, wenn man sich die Wahlergebnisse der Partei ­zwischen 1900 und 1920 anschaut: Tabelle 4  Ergebnisse der Sozialistischen Partei bei den Präsidentschaftswahlen Jahr

Ergebnis in %

1900

0,6

1904

3,0

1908

2,8

1912

6,0

1916

3,2

1920

3,4

Das sind nicht gerade gewaltige Ergebnisse. Der Sozialismus galt auch damals als unamerikanisch, als Produkt von Einwanderern. Und in der Tat waren viele Politiker der Partei in erster oder zweiter Generation eingewandert. Das bedeutete aber auch, dass der Erfolglosigkeit auf nationaler Ebene durchaus gewisse Erfolge auf lokaler Ebene gegenüberstanden. In Gebieten, in denen viele Menschen mit deutschem Migrationshintergrund lebten, konnte die Sozialistische Partei Wahlen gewinnen. Sie stellte einzelne Kongressabgeordnete, und Emil Seidel, der in Pennsylvania geborene Sohn von Einwanderern aus Pommern, war 1912 nicht nur Vizepräsidentenkandidat, sondern auch gewählter Bürgermeister von Milwaukee. Was für den Sozialismus galt, lässt sich sinngemäß auch auf pazifistische Bestrebungen übertragen. Zwar gibt es auch eine indigene Tradition des Pazifismus in den USA , die vor allem mit religiösen Minderheiten, etwa den Quäkern, 18 Als Überblick etwa Paul Buhle: Marxism in the USA. From 1870 to the Present Day. London 1987; Seymour Martin Lipset/Gary Marks: It Didn’t Happen Here. Why Socialism Failed in the United States. New York 2000.

›Red Scare‹ in den USA  |

verbunden ist. Aber der Pazifismus, der im ­Ersten Weltkrieg den Behörden Angst einjagte, war mit dem Sozialismus eng verbunden und folglich mit der Migration aus Deutschland und Russland. Auch an ­diesem Punkt wird deutlich: Die ›Red Scare‹ richtete sich primär gegen Amerikaner mit Migrationshintergrund. Anstelle von ›Red Scare‹ könnte diese Epoche auch die Bezeichnung ›Immigration Scare‹ tragen. Dem Narrativ des Melting Pot hat immer auch ein negatives Narrativ entgegengestanden, das den Migranten vorwarf, alle möglichen realen und politischen ›Krankheiten‹ in die USA einzuschleppen. Diese Sichtweise lässt sich bereits für das frühe 19. Jahrhundert zeigen – schon vor Samuel Morse –, erst recht aber für die Zeit der ›Red Scare‹. Der Melting Pot wird in dieser Tradition als slippery slope verstanden, als zunächst harmlos aussehende, aber zunehmend bedroh­licher werdende Veränderung amerikanischer Werte. In einer Karikatur von 1919, die sich gegen die Migration von Ausländern in die USA richtete, schaut ein besorgter Uncle Sam auf ›The World’s Melting Pot‹, in dem sich Gewerkschaften, Bolschewismus, Anarchismus, rote Fahnen, ›the mad notions of Europe‹ und ›Unamerican ideals‹ zu einer trüben Brühe vermischen. Die Überschrift lässt keinen Zweifel: »We can’t digest the scum«. Das erste und vielleicht etwas verblüffende Resultat über die politische Stoßrichtung der ›Red Scare‹ ist, dass die Angst vor der bolschewistischen Infiltration nach 1917 eine bleibende Wirkung vor allem durch eine dauerhafte Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen entfachte. Zwischen 1917 und 1921 wurden drei Gesetze erlassen, die die bisherigen sehr großzügigen Bestimmungen zunehmend einschränkten. Tabelle 5  Immigrationsgesetzgebung der USA Jahr

Gesetz

Inhalt

1790 – 1898

Zwölf verschiedene Gesetze

Ab 1891 umfassende Regulierung der Einwanderung in die USA

1903

Immigration Act of 1903

Ausschluss von Anarchisten

1906

Naturalization Act of 1906

Standardisierung der Einbürgerung

1907

Immigration Act of 1907

Restriktion für kranke Einwanderer

1917

Immigration Act of 1917

Restriktion für Einwanderer aus Asien

1918

Immigration Act of 1918

Erweiterung und Verschärfung des Gesetzes von 1903

1921

Emergency Quote Act

Erstmals Länderquoten für Einwanderer

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Für über einhundert Jahre nach der Gründung der USA gab es überhaupt keine umfassenden Immigrationsgesetze. Im Prinzip konnte jeder Einwanderer, der es bis New York schaffte, die USA betreten und fünf Jahre danach Bürger der USA werden. Schon ab 1903 wurde diese Praxis zunehmend eingeschränkt, jedoch erst die im Kontext der ›Red Scare‹ erlassenen Gesetze führten zu einer grundlegenden Neuregelung. 1921 wurden Länderquoten eingeführt, die das Ziel verfolgten, ›unerwünschte‹ Einwanderer (etwa Asiaten und Osteuropäer) von den USA fernzuhalten. Ein Nebeneffekt dieser Länderquoten von 1921 lag darin, die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge aus Europa nach 1933 schwierig (und in vielen Fällen unmöglich) zu gestalten. Diese restriktiven Einwanderungsgesetze gelten im Prinzip bis heute; wobei man allerdings, mit dem Blick auf Europa, das Wort ›restriktiv‹ relativieren muss. Seit 2010 gibt es jedes Jahr über eine Million Einwanderer in die USA; von denen jeweils 400.000 aus Asien und Südamerika stammen. Das sind andere Zahlen als in Europa. Wie bereits erwähnt, führten die Verhaftungen der ›Red Scare‹ zu ungefähr 1500 Gerichtsverfahren. An dieser Zahl wird der zweite, noch weniger zu erwartende Nebeneffekt der ›Red Scare‹ deutlich, denn die damit angestoßenen Strafverfahren hatten einen fundamentalen Einfluss auf die amerikanische Verfassungsentwicklung.

4. Konsequenzen: Die ›Red Scare‹ und das First Amendment Mit entsprechender Verzögerung erreichten die Fälle, die nach dem Espionage Act und dem Sedition Act vor die Gerichte gebracht wurden, auch den Supreme Court der USA . Den Richtern stellte sich die Frage, wie diese Einschränkungen der Meinungsfreiheit mit dem Konzept des First Amendment von 1791, des ersten Zusatzes zur Verfassung der USA, in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Bis 1927 gab es eine Reihe von Fällen, die erstmals ­dieses Grundrecht systematisch vor die Verfassungsrechtsprechung brachten. Da Verfassungsänderungen in den USA extrem schwierig sind – seit 1787 sind lediglich 27 Änderungen vorgenommen worden –, kommt den Urteilen des Supreme Court für die reale Verfassungsentwicklung enorme Bedeutung zu.19 Und das gilt auch für die Urteile, die ohne die ›Red Scare‹ vermutlich nicht erfolgt wären. 19 Auf die Rolle und Funktion des Supreme Court kann hier nicht eingegangen werden. Als Einführung Michael Dreyer/Nils Fröhlich: Der Supreme Court: Hüter der Verfassung oder Interpret der Gegenwart? In: Christian Lammert/Markus B. Siewert/Boris

›Red Scare‹ in den USA  |

Tabelle 6  ›Red Scare‹ im Supreme Court Fall

Urteil

Inhalt

Bemerkung

Schenck v. United States (1919)20

9 : 0 [Holmes]

Das First Amendment schützte nicht den Aufruf gegen Wehrpflicht

clear and present danger test

Debs v. United States (1919)21

9 : 0 [Holmes]

Dto. für Rede gegen Wehrpflicht



Abrams v. United States (1919)22

7 : 2 [Clarke, dissenting Holmes/Brandeis]

Pamphlet gegen USTeilnahme am Krieg in Russland

Die Richter Holmes und Brandeis werteten das Pamphlet als keine direkte Gefahr

Gitlow v. New York (1925)23

7 : 2 [Sanford, dissenting Holmes/Brandeis]

Kommunistische Schrift verletzte ein Gesetz des Bundesstaates New York

Das First Amendment band den Einzelstaat

Whitney v. California (1927)24

9 : 0 [Sanford, concurring Holmes/Brandeis]

Kommunismus sei Missbrauch des First Amendment

Holmes und Brandeis argumentierten, dass Demokratie Meinungsfreiheit brauche

Brandenburg v. Ohio (1969)25

Per curiam

Hob das Whitney-­Urteil von 1927 auf

imminent lawless action test

Ursprünglich handelte es sich bei diesen Fällen um Maßnahmen, die gegen die Antikriegspropaganda in den USA gerichtet waren. Aber ihre Folgewirkung ging weit über diesen konkreten Anlass hinaus. Zunächst waren diese Fälle überhaupt die ersten, in denen sich der Supreme Court systematisch mit Umfang und Grenzen der Meinungsfreiheit nach dem First Amendment befasste – und dies immerhin fast 130 Jahre nach der Verabschiedung der Bill of Rights 1791. Ebenso wichtig und von geradezu revolutionärer Bedeutung für die Verfassungsinterpretation ist die spätestens mit dem Fall Gitlow 1925 festgeschriebene Auffassung des Supreme Court, dass die Grundrechte der US-Verfassung nicht nur die Bundesregierung binden, sondern auch die einzelnen Staaten der USA.

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Vormann (Hrsg.): Handbuch Politik USA. Wiesbaden 2016, S. 155 – 179. – Zur Entwicklung der Meinungsfreiheit siehe Michael Dreyer: Meinungsfreiheit als Verfassungsprinzip. Geschichte und Struktur des E ­ rsten Amendments in den USA. In: Werner Kremp (Hrsg.): Pressefreiheit in USA und Deutschland. Trier 2000, S. 25 – 49. Schenck v. United States, 249 U. S. 47 (1919). Debs v. United States, 249 U. S. 211 (1919). Abrams v. United States, 250 U. S. 616 (1919). Gitlow v. New York, 268 U. S. 625 (1925). Whitney v. California, 274 U. S. 357 (1927). Brandenburg v. Ohio, 395 U. S. 444 (1969).

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Das mag einem deutschen Leser nicht sonderlich bedeutsam erscheinen, aber es ist die Einfallstür, über die später die gesamte Bürgerrechtsrechtsprechung für die Einzelstaaten verbindlich erklärt wurde – die sogenannte incorporation der Bürger­rechte. Bis zu Gitlow galt das Urteil in Barron v. Baltimore, wo der Supreme Court 1833 festgestellt hatte, dass die Grundrechte nur für die Bundesregierung geltendes Recht waren.26 Einige Passagen dieser Urteile sind so berühmt geworden, dass sie in die politische Folklore der USA und selbst darüber hinaus eingegangen sind. Jeder weiß beispielsweise, dass das Recht auf freie Rede nicht das Recht enthält, grundlos ›Feuer!‹ in einem vollbesetzten ­Theater zu rufen. Dieser Satz stammt aus dem ersten der in der Tabelle angeführten Urteile. Charles Schenck, Generalsekretär der Sozialisten in Philadelphia, hatte 15.000 Flugblätter gegen die Wehrpflicht verteilt und war nach dem Espionage Act in unterer Instanz schuldig gesprochen worden. Der Supreme Court hielt ­dieses Urteil einstimmig aufrecht, und Justice Oliver Wendell Holmes schrieb in seinem Urteil die Worte, die um die Welt gingen: The most stringent protection of free speech would not protect a man in falsely shouting fire in a theatre and causing a panic. […] The question in every case is whether the words used are used in such circumstances and are of such a nature as to create a clear and present danger that they will bring about the substantive evils that Congress has a right to prevent. It is a question of proximity and degree. When a nation is at war, many things that might be said in time of peace are such a hindrance to its effort that their utterance will not be endured so long as men fight, and that no Court could regard them as protected by any constitutional right.27

Damit hatte Holmes den clear and present danger test formuliert. Danach lasse sich freie Rede dann einschränken, wenn ihre Ausübung eine unmittelbare Gefahr für die Interessen der USA bedeute. Holmes führte ­dieses Thema in einem weiteren Urteil genauer aus, als es um eine Rede gegen die Wehrpflicht von Eugene V. Debs, des vielfachen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten, ging: The main theme of the speech was Socialism, its growth, and a prophecy of its ultimate success. With that we have nothing to do, but if a part or the manifest intent of the more general utterances was to encourage those present to obstruct the recruiting service and if in passages such encouragement was directly given, the immunity of the general theme may not be enough to protect the speech.28 26 Barron v. Baltimore, 32 U. S. 243 (1833). 27 Schenck v. United States, 249 U. S. 47 (1919), at 52. 28 Debs v. United States, 249 U. S. 211 (1919), at 212 f.

›Red Scare‹ in den USA  |

Diese ersten beiden Urteile wurden von Justice Holmes geschrieben, und sie hielten für einen einstimmigen Obersten Gerichtshof die die Meinungsfreiheit einschränkenden restriktiven Gesetze der ›Red-­Scare‹-Epoche als verfassungsgemäß aufrecht. Aber schon bald plagten Holmes die Zweifel hieran, und in den folgenden Urteilen stellte er sich, zusammen mit Justice Louis D. Brandeis, gegen die Mehrheitsinterpretation des Gerichtes. Diese dissenting opinions von Holmes und Brandeis wurden nicht zuletzt deshalb berühmt, weil sie allesamt inzwischen geltendes Verfassungsrecht geworden sind. In den folgenden Jahrzehnten hob der Supreme Court seine früheren Urteile nach und nach auf und schloss sich dabei der Interpretation von Holmes und Brandeis an. Schon in Abrams v. United States findet sich noch im Jahr 1919 der erste Dissens von Holmes und Brandeis. Ausgerechnet der Autor des clear and present danger tests befand in ­diesem konkreten Fall, dass der Test nicht greife, da es keine s­ olche Gefahr gebe. Und 1927 traten Brandeis und Holmes in Whitney v. United States für einen robusten Wettbewerb der Ideen ein, der essenziell für die Demokratie selbst sei.29 Hier begann eine Entwicklung, die 1969 zu einem gewissen Abschluss kam. In Brandenburg v. Ohio wurde Clarence Brandenburg, den die unteren Gerichte in Übereinstimmung mit dem Präzedenzfall Whitney für schuldig befunden hatten, freigesprochen. Der Supreme Court hob Whitney explizit auf und schränkte den clear and present danger test erheblich ein. Jetzt musste der Standard der imminent lawless action erfüllt sein, also der unmittelbar drohenden gesetzwidrigen Handlung.30 Und den sah das Gericht nicht gegeben. Das Urteil in Brandenburg ist zugleich eine Erinnerung daran, dass politische Meinungsfreiheit zwar allen Menschen zugute kommt, dass diejenigen, die diese Durchbrüche erzielen, aber nicht immer nette Menschen sind. Brandenburg war ein örtlicher Führer des Ku Klux Klan in Ohio, und seine Rede war gegen ›Nigger‹ und Juden gerichtet. Trotzdem war das Urteil bahnbrechend und eine ferne Nachwirkung der ›Red Scare‹.

5. Paranoia als Element der politischen Kultur in den USA und die ›Red Scare‹ Insgesamt waren die wenigen Jahre der ›Red Scare‹ im Sinne Hofstadters eine Epoche unter mehreren, in denen die US-Politik auf eine vermeintliche äußere wie innere Bedrohung mit einer paranoiden Überreaktion antwortete. Im Vergleich zu 29 Whitney v. California, 274 U. S. 357 (1927), at 375. 30 Brandenburg v. Ohio, 395 U. S. 444 (1969).

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den zeitgleich ablaufenden Verfolgungsmaßnahmen in vielen europäischen Staaten mutet die amerikanische Reaktion allerdings geradezu harmlos und zurückhaltend an. Gleichwohl handelte es sich zweifellos um eine Überreaktion; ­zwischen 1917 und 1920 waren die USA niemals auch nur entfernt in irgendeiner Gefahr, vom Bolschewismus ›angesteckt‹ zu werden. Im Vergleich zu Justizminister Palmer 1920 hatte Senator Joe McCarthy ab 1947 geradezu handfeste Beweise für seine ›Second Red Scare‹, denn es gab in der US-Administration eine ganze Reihe von Spionen Stalins, wie Untersuchungen gezeigt haben.31 Die paranoide Reaktion der amerikanischen Politik auf die ›bolschewistische Bedrohung‹ durch die russische Oktoberrevolution, die im Wesentlichen eine fremdenfeindliche Reaktion war, verweist aber auch noch auf tieferliegende Besonderheiten der amerikanischen politischen Kultur. Die Idee des American exceptionalism konstatiert seit der Kolonialzeit, dass Amerika eine perfekte Nation sei.32 Damit korreliert der manichäische Charakter der amerikanischen Politik, der gerade in den paranoiden Epochen zum Vorschein kommt. Wenn Amerika perfekt ist, dann sind alle Gegner der USA die Verkörperung des Bösen.33 Auch ­dieses Denkmuster lässt sich historisch weit zurückverfolgen; schon Alexis de Tocqueville hatte 1835 diesen wenig attraktiven Zug der amerikanischen Politik festgestellt.34 Wenn Wilson den ­Ersten Weltkrieg als die Chance sah ›to make the world safe for democracy‹, dann folgte daraus, dass alle Feinde der USA zugleich auch Feinde der Demokratie waren. Daran hat sich bis heute nichts geändert; auch Donald Trump folgt dem gleichen Drehbuch. Und da die Verkörperung des Bösen seit spätestens 1945 mit dem Namen Hitler belegt werden kann, sind folgerichtig alle Gegner der USA seither mit Hitler verglichen worden.35 31 Um nur ein Beispiel zu nennen: Eines der prominentesten liberalen Opfer des McCarthyismus war Alger Hiss, ein Beamter im State Department, den McCarthy angeblich in seiner Hexenjagd zu Unrecht verfolgte und der für viele Jahre in weiten Teilen der öffentlichen Meinung als Held gefeiert wurde. Inzwischen sind die meisten Historiker der Auffassung, dass Hiss tatsächlich ein sowjetischer Spion war; vgl. Christopher Andrew/Vasili Mitrokhin: The Sword and the Shield: The Mitrokhin Archive and the Secret History of the KGB. New York 1999, S. 591. 32 Zur Entwicklung des Konzeptes Seymour Martin Lipset: American Exceptionalism. A Double-­Edged Sword. New York 1996. 33 Detlef Junker: Die manichäische Falle. Das Deutsche Reich im Urteil der USA 1871 – 1945. In: Klaus Hildebrand (Hrsg.): Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn. München 1996, S. 141 – 158. 34 Siehe Torsten Oppelland: Demokratie und Krieg: Alexis de Tocqueville und das Dilemma der NATO. In: Klaus Dicke/Helmut Hubel (Hrsg.): Die Krise im Kosovo. Erfurt 1999, S. 49 – 57. 35 Selbst eine kurze Suche im Internet findet Textpassagen und Karikaturen, die etwa Castro, Milošević, Osama bin Laden, Saddam Hussein, Chirac, Putin und andere als Hitler zeigen.

›Red Scare‹ in den USA  |

Auch 1920 war der radikale Dualismus des Manichäismus, der die perfekten

USA den unmenschlichen Feinden gegenüberstellt, sichtbar. Mal galt dies symbo-

lisch, mal auch sehr direkt, wenn etwa das Deutsche Reich im Vorfeld des E ­ rsten Weltkriegs in Karikaturen als wahnsinniger Affe dargestellt wurde. Gleichwohl: Paranoide Abschnitte der amerikanischen Geschichte mögen zwar denjenigen, die sie durchleben müssen, als Ewigkeit vorkommen. Aber in der Realität sind sie nach wenigen Jahren auch wieder beendet. Und gelegentlich gibt es sogar das paradoxe Ergebnis, dass die paranoide Furcht zu einer Verstärkung der Freiheit führt. So war es auch bei der ›Red Scare‹. Die bis heute enorm starke Stellung des First Amendment und der fast unbegrenzten Meinungsfreiheit in den USA wurde hier auf den Weg gebracht, wenn auch zunächst in Verurteilungen der Angeklagten. Diese begründeten aber wiederum Pfadabhängigkeiten und neue Verfassungsinterpretationen, und so bleibt das überraschende Ergebnis: Die ›Red Scare‹ von 1917 bis 1920 fußte auf einer irrationalen und paranoiden amerikanischen Furcht vor den Auswirkungen des Bolschewismus. Im Ergebnis begründete sie aber eine neue Entwicklung der amerikanischen Grundrechtsinterpretation und damit letzten Endes ein Anwachsen der Freiheit.

Natürlich gilt das auch für die Innenpolitik; Darstellung von Barack Obama oder Donald Trump als Hitler sind reichlich zu finden. Eine Google-­Suche ergibt über 18 Millionen Treffer für das Suchwort ›Obama Hitler‹ und über 24 Millionen für ›Trump Hitler‹.

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Gotelind Müller

Vorbild Russland? China und die Oktoberrevolution

Die Bedeutung der Oktoberrevolution für China wurde einmal von Mao Zedong in einem vielfach zitierten Satz kurz und bündig so umrissen: »Die Geschützsalven der Oktoberrevolution brachten uns den Marxismus-­Leninismus«. Der Zusammenhang, aus dem das berühmte Zitat entnommen ist, lautet: Die Chinesen gelangten zum Marxismus durch Vermittlung der Russen. Vor der Oktoberrevolution waren den Chinesen nicht nur Lenin und Stalin, sondern auch Marx und Engels unbekannt. Die Geschützsalven der Oktoberrevolution brachten uns den Marxismus-­Leninismus. Die Oktoberrevolution half den fortschrittlichen Menschen der ganzen Welt und auch Chinas, mit der proletarischen Weltanschauung als Instrument die Geschicke eines Landes zu untersuchen und ihre eigenen Probleme neu zu erwägen. Den Weg der Russen gehen, so lautete die Schlußfolgerung.1

Und chinesische Schüler erfahren heute in der Sekundarstufe I, die jeder in China im Normalfall durchläuft, im Unterricht zu ›Weltgeschichte‹, in dem die Oktober­ revolution den epochalen Wandel hin zur modernen Weltgeschichte einläutet,2 zur historischen Bedeutung derselben: Die russische sozialistische Oktoberrevolution ist die erste siegreiche sozialistische Revolution in der Geschichte der Menschheit. Der erste sozialistische Staat der Welt wurde damit geboren. Der Sieg der Oktoberrevolution erschütterte die Herrschaft des Imperialismus zutiefst, förderte

1 Siehe Maos Beitrag zum 28. Jahrestag der Gründung der KP Chinas, 1949: »Über die demokratische Diktatur des Volkes«. In: Mao Tse-­t ung [Mao Zedong]: Ausgewählte Werke. Bd. IV. Peking 1969, S. 437 – 452, hier S. 440. 2 Siehe die curricularen Vorgaben für den Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I. Die gegenwärtig benutzten Geschichtsschulbücher basieren auf dem vorläufigen Curriculum, das 2001 eingesetzt wurde. Siehe Quanri-­zhi yiwu jiaoyu Lishi kecheng biaozhun (shiyangao) [Pflichterziehung Ganztagssystem: Curriculumsstandard Geschichte (vorläufige Version)]. Beijing 2001. Das Curriculum wurde 2011 in endgültiger Fassung erlassen, allerdings werden darauf basierende Schulbücher derzeit erst erstellt. Für die Oktoberrevolution siehe im vorläufigen Curriculum S. 28 – 29.

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Abb. 1  Cover des Sekundarstufe-­I-Schulbuchs zur modernen Weltgeschichte (2012)

die Entwicklung der internationalen sozialistischen Bewegung und befeuerte den Befreiungskampf der kolonialisierten und halbkolonialisierten Völker.3

China selbst, so sei hinzugefügt, wird nach Mao als Letzteres gesehen: ein halbkolonialisiertes Volk, dessen Befreiungskampf somit von der Oktoberrevolution befeuert wurde. Passend hierzu skizziert das zitierte Sekundarstufe-­IGeschichtsbuch nicht nur die Szene des »ersten Schusses« des Panzerkreuzers Aurora als dramatischen Aufruf zur Stürmung des Winterpalastes in Petrograd, sondern präsentiert die Aurora pointiert auf dem Cover des Bandes zur modernen Weltgeschichte. Letztere steht somit in der Sicht heutiger Geschichtspolitik der V ­ olksrepublik China klar im ­­Zeichen der Oktoberrevolution. Und dem eingangs zitierten Mao 3 Shijie lishi [Weltgeschichte], Klasse 9, 2. Halbjahr. Beijing 2012, S. 5. Die Ausgaben ­dieses Verlages – lange Zeit Monopolist im Schulbuchsektor und, wie sich derzeit abzeichnet, auch künftig wieder allein für die Geschichtsschulbücher zuständig – sind bis heute in China am weitesten verbreitet.

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zufolge verdankt auch Chinas Befreiungskampf der Oktoberrevolution den Zugang zum Marxismus-­Leninismus. Ob, und wenn ja, inwieweit dem so ist, sei im Folgenden untersucht.

1. Die Vorgeschichte Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Verflechtungsgeschichte z­ wischen Russland und China im Allgemeinen oder spezifischer auf revolutionäres Gedankengut hin darzustellen.4 Daher s­ eien nur einige kurze Stichworte angeführt. Auf der einen Seite galt Russland bis ins späte 19. Jahrhundert im Vergleich zu den ›aggressiver‹ agierenden westlichen Großmächten, vor allem Großbritannien, in China als relativ freundlich gesonnener Nachbar. Erst die territorialen Ambitionen Russlands im Fernen Osten, die im späten 19. Jahrhundert zu Konflikten führten, ließen diesen Eindruck zunehmend schwinden, zumal ein Zankapfel die Mandschurei, das Heimatgebiet der in Peking regierenden mandschurischen Qing-­Dynastie, wurde. Andererseits galten die ›beiden Autokratien‹, der Qing-­ Hof und die Romanovs, die jeweils stark agrarisch geprägte und noch kaum industrialisierte Länder regierten, als strukturell ähnlich. Entsprechend wurden in China auch von all denen, die die Qing-­Regierung kritisierten, die russischen Revolutionäre und ihre antizarischen Aktivitäten mit besonderem Interesse verfolgt. Ein weiterer wesentlicher Faktor in der komplexen Beziehungsgeschichte ­zwischen China und Russland war Japan, das mit Russland in Nordostasien rivalisierte und im Russisch-­Japanischen Krieg 1904/05 das russische Imperium geradezu vorführte. Da viele Chinesen zu d­ iesem Zeitpunkt in Japan studierten und eifrig aus dem Japanischen ins Chinesische übersetzten, schlug die naturgemäß negative japanische Darstellungsweise Russlands auch auf die chinesische Sichtweise durch,5 zumal man im japanischen Sieg über Russland nur zu gerne auch den ersten Triumph der ›gelben Rasse‹ über die ›weiße‹ sehen wollte.6 Da 4 Siehe hierzu Don C. Price: Russia and the Roots of the Chinese Revolution, 1896 – 1911. Cambridge, Mass. 1974; Thomas B. Bernstein/Hua-­y u Li (Hrsg.): China Learns from the Soviet Union, 1949 – Present. Lanham, MD 2010. – Zur diplomatischen Seite siehe u. a. Sarah C. M. Paine: Imperial Rivals: China, Russia, and Their Disputed Frontier (1858 – 1924). ­Armonk, NY u. a. 1996. 5 Gotelind Müller: Chinesische Perspektiven auf den Russisch-­Japanischen Krieg. In: Maik Sprotte/Wolfgang Seifert/Heinz-­D ietrich Löwe (Hrsg.): Der Russisch-­ Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit? Wiesbaden 2007, S. 203 – 239. 6 Dass die Japaner genau diesen Schluss nicht gezogen wissen wollten, hat Urs Matthias Zachmann gezeigt: China and Japan in the Later Meiji Period. China Policy and the Japanese

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zudem die russische Revolution von 1905 zeigte, dass es in der russischen Gesellschaft gärte, gab diese Entwicklung ostasiatischen Revolutionären neuerlichen Auftrieb.7 Von chinesischen Nationalisten wie chinesischen Anarchisten, die aufgrund drohender Verfolgung meist im Ausland, vor allem Japan, aber auch Frankreich und weiteren westlichen Ländern agierten,8 wurde daher nicht nur über russische Revolutionäre und ihre Aktivitäten berichtet. Es wurden zudem – anders als oben von Mao behauptet – erste Schriften über den Marxismus oder Übersetzungsauszüge marxistischer Werke veröffentlicht. Wie die Rezeptionsgeschichte des Marxismus in China zur Genüge gezeigt hat,9 fand die erste Berührung Chinas mit dem Marxismus und seinen Spielarten somit durchaus vor 1917 statt und lief auch nicht primär über Russland, da meist aus dem Japanischen oder dem Englischen ins Chinesische übersetzt wurde. Vielmehr waren die besten chinesischen Spezialisten für den Marxismus zunächst in der Nationalen Volkspartei (Guomindang, GMD ) beziehungsweise ihrem Vorläufer, dem Revolutionsbund, zu finden, deren primäres Interesse eher den ökonomischen Theorien von Marx als seinen Revolutionsgedanken galt – ganz im Gefolge der beispielgebenden japanischen Marxismusrezeption. Das chinesische Interesse an Russlands Revolutionsgeschichte konzentrierte sich in den letzten Jahren der 1912 abgetretenen Qing-­Dynastie wiederum in erster Linie auf das Erbe der Narodniki (Volkstümler) des späten 19. Jahrhunderts, die die bäuerliche Bevölkerung politisch ›aufklären‹ wollten beziehungsweise auf den terroristischen Ableger Narodnaja Volja (Volkswille), der durch Attentate auf Regimevertreter von sich reden machte.10 Discourse on National Identity, 1895 – 1904. London/New York 2009. 7 Siehe Gotelind Müller: China and the Russian Revolution of 1905. In: Felicitas Fischer von Weikersthal u. a. (Hrsg.): The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective: Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas. Bloomington, Indiana 2013, S. 279 – 289. 8 Eine umfassende Darstellung findet sich in Gotelind Müller: China, Kropotkin und der Anarchismus: Eine Kulturbewegung im China des frühen 20. Jahrhunderts unter dem Einfluß des Westens und japanischer Vorbilder. Wiesbaden 2001. 9 Siehe u. a. Martin Bernal: Chinese Socialism to 1907. Ithaca/London1976; Arif Dirlik: The Origins of Chinese Communism. New York 1989. 10 Näheres hierzu wird beschrieben in Gotelind Müller: China and the ›Anarchist Wave of Assassinations‹: Politics, Violence, and Modernity in East Asia around the Turn of the Twentieth Century. In: Carola Dietze/Claudia Verhoeven (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of Terrorism. Oxford Handbooks Online. Februar 2014; sowie Gotelind Müller: Die Anfänge des Terrorismus in China: eine empirische Studie. In: Urs Matthias Zachmann/Christian Uhl (Hrsg.): Japan und das Problem der Moderne: Wolfgang Seifert zu Ehren. München 2015, S. 109 – 124.

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2. Die Anfänge der Oktoberrevolutionsrezeption in China Bezeichnenderweise war auch die erste greifbare chinesische Wahrnehmung der Oktoberrevolution in einem Lager zu finden, das später zum entschiedenen Gegner derselben wurde: bei den Anarchisten. In der Aprilausgabe der Zeitschrift Laodong (Arbeit), die von März bis Juli 1918 erschien, wurden die Ereignisse der Oktoberrevolution kurz umrissen.11 Das Problem war, dass zu ­diesem Zeitpunkt noch kaum gesicherte Informationen über die Oktoberrevolution vorlagen und die Anarchisten daher zunächst optimistisch annahmen, bei den Vorgängen in Russland handle es sich um eine gelungene soziale Revolution, die unter Umständen sogar quasianarchistische Züge aufwies. Schnell wurde allerdings deutlich, dass die russischen Anarchisten von den Bolschewiki keineswegs freundlich behandelt wurden, und so begann bereits mit der folgenden Ausgabe die Stimmung nach und nach zu kippen.12 Der Informationsfluss lief dabei vor allem über internationale anarchistische Kontakte im Westen. Die bürgerliche chinesische Presse hingegen hatte nach der russischen Februarrevolution, über die noch berichtet worden war (stets im Gefolge westlicher Quellen), die Oktoberrevolution erst einmal nicht weiter wahrgenommen, da das Interesse zwischenzeitlich ganz auf die Ereignisse des E ­ rsten Weltkriegs gerichtet war, in den China im August 1917 auf Seiten der Alliierten eingetreten war. Im heutigen China gilt anstelle der Anarchisten, die in der öffentlichen Darstellung bewusst totgeschwiegen werden, einer der späteren Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) als ›erster‹ Rezipient der Oktoberrevolution: Li Dazhao. Direkt nach Ende des E ­ rsten Weltkriegs Ende 1918 veröffentlichte er zwei Artikel zum Sieg des Bolschewismus und dem Sieg des einfachen Volkes, die allerdings kaum mehr waren als eine enthusiastische Zustimmungsbekundung zu einer neuen Entwicklung, die versprach, eine grundsätzliche Alternative zu einer Welt zu liefern, die sich in dem gerade beendeten ­Ersten Weltkrieg selbst zerfleischt hatte.13 Li Dazhao selbst war zu d ­ iesem Zeitpunkt ideologisch den 11 Yichun (Pseudonym): Eguo guojipai shixing zhi zhenglüe [Die von den russischen Extremisten (d. h. Bolschewiki) praktizierte Politik]. In: Laodong (Arbeit) Nr. 2, Nachdruck o. O. o. J., S. 5 – 14. Diesem Artikel gesellte sich noch ein weiterer zu Lenin als Pionier einer sozialen Revolution hinzu (ebd. S. 14 – 19). 12 Bereits die Folgenummer der Laodong enthielt eine vorsichtige Distanzierung und einen breiteren Fokus auf diverse Akteure, widmete aber den russischen Entwicklungen breiten Raum. Bis zur 5. und letzten Ausgabe der Zeitschrift war der Tenor gänzlich in Skepsis umgeschlagen, da man u. a. von Verhaftungen von Anarchisten in der Sowjetrussland erfahren hatte. 13 Li Dazhao: BOLSHEVISM de shengli [Der Sieg des Bolschewismus)], und Shumin de shengli [Sieg des einfachen Volkes]. In: Xin qingnian [Neue Jugend] Bd. 5, Nr. 5 (15. 11. 1918).

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Anarchisten noch näher als dem, was die Oktoberrevolution vertrat, obgleich es noch dauern sollte, bis derlei politische Feinheiten erkannt wurden. Für Li Dazhao war zu ­diesem Zeitpunkt lediglich entscheidend, dass in Russland eine Revolution ›funktioniert‹ hatte, und d­ ieses Erfolgsrezept sollte man in China studieren und erlernen. »Nothing succeeds like success«, schien das Motto Li Dazhaos zu sein. Ganz wesentlich für die Rezeption der Oktoberrevolution in China war eben der damalige historische Kontext: der Erste Weltkrieg und die anschließenden Friedensverhandlungen von Versailles mit ihrem Bezug zum chinesischen Anliegen, nun als ›Siegermacht‹ die ehemals deutsche und nun japanisch besetze Kolonie im ostchinesischen Shandong wiederzuerlangen. Da dies nicht erfolgte und damit die großen Hoffnungen, die US -Präsident Wilson geschürt hatte, in den Augen der chinesischen Öffentlichkeit enttäuscht worden waren, so dass China die Unterzeichnung des Vertrags schließlich ablehnte,14 war der Westen bei vielen Chinesen diskreditiert. Daher sah man nur zu gerne in Russland und der Oktoberrevolution eine neue, ganz andere Alternative. Geschickt wurden diese Stimmungen durch die Sowjets unterstützt, beispielsweise durch die sogenannte Karachan-­Erklärung, in der sie ankündigten, auf die durch den Zaren von China ergatterten Vorrechte verzichten zu wollen.15 Während die Wilson’sche Rhetorik in China als ›hohl‹ wahrgenommen wurde, betrachtete man das neue Sowjetregime, das auch noch vom Westen geschnitten wurde, mit Sympathie. Selbst das eher bürgerliche Lager äußerte sich nun vorsichtig positiv über die neue Regierung in Russland. So erschien beispielsweise in der Erstausgabe der liberal orientierten Zeitschrift Neue Welle (Xinchao) am 1. Januar 1919 ein Artikel des später als Gefolgsmann von Chiang Kai-­shek bekannten Historikers, Aktivisten und Diplomaten Luo Jialun, der in der Oktoberrevolution die Verkörperung des »neuen Trends« der Welt sah, wenngleich er diesen nicht rundum befürwortete.16

14 Für die komplexen Hintergründe zu dieser Entwicklung siehe Gotelind Müller: Versailles and the Fate of Chinese Internationalism: Re-­Assessing the Anarchist Case. In: Urs Matthias Zachmann (Hrsg.): Asia after Versailles. Asian Perspectives on the Paris Peace Conference and the Interwar Order, 1919 – 33. Edinburgh 2017, S. 197 – 211. 15 Siehe Paine: Imperial Rivals (wie Anm. 4), Kap. 12. 16 Der Artikel trug den Titel: Jinri zhi shijie xinchao [Die neuen aktuellen Welttrends]. In: X ­ inchao Nr. 1. (1. 1. 1919).

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3. Die frühen 1920er Jahre Im Laufe der Zeit veränderte sich allerdings der chinesische Blick auf Russland, je mehr über die konkreten Umstände des neuen Regimes in Russland bekannt wurde. Anteil daran hatten erneut in erster Linie die Anarchisten, die nun zunehmend kritische bis feindliche Artikel über Russland veröffentlichten, zumeist basierend auf Berichten im Westen bekannter russischstämmiger Anarchisten wie Aleksandr Berkman oder Emma Goldman. Sie hatten den ›Altmeister‹ des Anarchismus, Pëtr Kropotkin, in Russland besucht und berichteten von vielen politisch motivierten Festnahmen. Bald besuchten auch erste Chinesen das neue Russland, unter ihnen einige Anarchisten, die nun aus erster Hand berichten konnten. Da sich die ersten chinesischen Kommunisten gerade erst zu formieren begannen, konnten sie den anarchistischen Attacken gegen das Sowjetregime kaum etwas entgegensetzen, vor allem deshalb, da sie selbst in der Regel noch keine Landeserfahrung im neuen Russland hatten. Lediglich der auch als Literat bekannt gewordene Qu Qiubai, der Russisch gelernt hatte, Anfang der 1920er Jahre Russland bereiste und dann eine Zeit lang als Korrespondent in Moskau lebte, wo er der KPCh beitrat, steuerte bereits in den frühen 1920er Jahren positiv gestimmte Berichte aus erster Hand bei und hielt das sowjetisch geführte Russland für ein Vorbild Chinas.17 Im Laufe der 1920er Jahre entschlossen sich immer mehr chinesische Kommunisten, in die Sowjetunion zu gehen. Die Anarchisten ihrerseits hatten derweil bereits das sowjetische System als »gescheitertes Experiment« gegeißelt.18 Und auch andere Vertreter des politisch sozialistisch, aber nicht bolschewistisch orientierten Lagers hatten sich nach Besuchen im Russland der frühen 1920er Jahre öffentlich kritisch geäußert.19 17 Li Yu-­n ing/Michael Gasster: Ch’ü Ch’iu-­pai’s Journey to Russia, 1920 – 1922. In: Monumenta Serica. Bd. 1970, Nr. 1, S. 537 – 556; – Qu Qiubai veröffentlichte seine Eindrücke u. a. in zwei Büchern: Xin Eguo youji [Reisenotizen aus dem neuen Russland] und Chidu xin shi [Eine Geschichte des Herzens in der roten Hauptstadt]. 18 Hier waren v. a. Huang Lingshuang, Hua Lin und Qin Baopu publizistisch rege, die alle mehr oder minder lange im sowjetischen Russland gewesen waren. Die Veröffentlichungen waren i. d. R. in Form von Briefen oder Artikeln in diversen Zeitschriften erschienen. Umfassender war die Reihe Chi-­E congshu [Reihe über das Rote Russland] über das neue Russland, die der anarchistische Minzhong (Volksmassen-)Verlag Anfang der 1920er Jahre in Kanton herausgab, eröffnet mit einer Aufsatzsammlung Qin Baopus zur Oktoberrevolution. Siehe: Eguo geming luncong [Gesammelte Beiträge zur Oktoberrevolution]. Guangzhou 1923. Danach folgte als zweiter Band: Baopu: Eguo geming zhi shibai [Das Scheitern der Revolution in Russland]. Guangzhou 1924. 19 Hierzu zählte etwa der Gründer von Chinas erster Sozialistischer Partei (1911), Jiang Kanghu, der das neue Russland 1921/22 besucht hatte und wenig begeistert zurückkehrte.

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Demgegenüber waren die Sowjets außenpolitisch und ideologisch in die Offensive gegangen: Über die Komintern unterstützten sie in Asien, darunter eben auch in China, die Gründung von kommunistischen Parteien, bauten in erster Linie über Sibirien laufende eigene Kommunikationskanäle auf und knüpften über die offizielle Außenpolitik Bande mit Sun Yat-­sen, dem Führer der GMD, der nun nicht mehr mit der bisherigen Unterstützung durch den Westen rechnen konnte. Trotz ideologischer Unterschiede begrüßte er die Unterstützung der Bolschewiki durch Geld und Berater, die unter anderem zur Reorganisation seiner GMD zu einer leninistischen Partei führten, während er selbst um die Legitimität seiner Südregierung gegen die offiziell China vertretende Warlordregierung in Peking kämpfte.20 Der Deal, die noch kleine KP Chinas durch den individuellen Beitritt der KP-Mitglieder in einer Einheitsfront mit der GMD zusammenzuschweißen, war von der Sowjetunion gewollt und wurde von Sun Yat-­sen akzeptiert, der von den Bolschewiki den »Weg zum Erfolg« lernen wollte (so wie es der erwähnte KP-Mitbegründer und die Oktoberrevolution bejubelnde Li Dazhao bereits getan hatte). Mittelfristig sollte diese Strategie der Kommunistischen Partei Chinas enorme Zuwächse bringen. Das im weiteren Sinne bürgerliche Lager in China wiederum blieb der Oktoberrevolution sowie der international isolierten Sowjetunion gegenüber eher verhalten, zumal viele der Auffassung waren, dass das rückständige China zunächst eine kapitalistische Entwicklung durchleben müsse, bevor eine Revolution und ein Umbau des Staates gelingen könnte. Einen weiteren wichtigen Faktor in der Außenwahrnehmung der Oktoberrevolution in China spielten etliche ›Weiße‹, die sich nach dem Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg nach China absetzten und naturgemäß kein gutes Haar am ›roten‹ Regime ließen. Die Warlord­regierung in Peking verweigerte den Bolschewiki zunächst die offizielle Anerkennung, was diese wiederum konsequent in die Arme Sun Yat-­sens und der GMD im Süden Chinas trieb. Dass der Mitbegründer der KPCh, Li Dazhao, durch einen Warlord 1927 aus der mittlerweile sowjetisch geführten russischen Botschaft in Peking, in die er geflüchtet war, mit Waffengewalt abtransportiert und exekutiert wurde,21 unterstreicht augenfällig, dass der Sowjetunion auf staatlicher Ebene zu d­ iesem Zeitpunkt noch immer kein Respekt gezollt wurde.

Siehe u. a. Jiangs veröffentlichten Reisebericht: Jiang Kanghu: Jiang Kanghu xin-­E youji [ Jiang Kanghus Bericht über seine Reise in das neue Russland]. Shanghai 41925 (Erstauflage 1923). 20 Zu Sun siehe u. a. Marie-­Claire Bergère: Sun Yat-­sen. Paris 1994. 21 Zu Li siehe die klassische Studie von Maurice Meisner: Li Ta-­Chao and the Origins of Chinese Marxism. Cambridge, Mass. 1967.

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4. Spätere Sichten auf die Oktoberrevolution in China In den kommenden Jahrzehnten differierte die chinesische Sicht auf die Oktoberrevolution nach politischen Lagern: Die GMD unter Sun Yat-­sens Nachfolger Chiang Kai-­shek, der 1927 den Bruch der Einheitsfront herbeiführte, wie auch bürgerliche Kräfte setzten sich nun klar von der Oktoberrevolution im Sinne eines ›Anfangs allen Übels‹ ab. Die KPCh wiederum bezog sich auf die Oktoberrevolution als ihr konstitutives Gründungsmoment. Allerdings war auch für die KPCh, die schließlich 1949 in Peking die Macht übernahm, der Kontext des jeweiligen Verhältnisses zur Sowjetunion von Bedeutung. Da man an der Oktoberrevolution und der Lenin-­Ära keinesfalls rütteln wollte sowie an der Stalins nach dessen Tod 1953 auch nur bedingt, musste alles, was später zum Zerwürfnis mit der Sowjetunion führte, als Abweichung vom »gemeinsamen« Erbe der Oktoberrevolution erklärt werden.22 Maos eingangs angeführte Wertung, die zwar 1949 verfasst wurde, aber während der Kulturrevolution (1966 – 1976), als der ›sowjetische Revisionismus‹ zum Hauptfeind avanciert war, massiv propagiert wurde, signalisierte dem chinesischen Adressaten, dass zwar die Russen den Weg bereitet hätten, aber die Chinesen nun diejenigen ­seien, die das Banner der Revolution weitertrügen. Auch mediale Verarbeitungen der Oktoberrevolution wurden und werden auch heute gerne bemüht: So wird unter anderem der von Stalin zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution 1937 angeregte Film Lenin im Oktober, der auf Stalins Geheiß das Bild seiner eigenen Rolle in der Oktoberrevolution (völlig überzeichnet) verankern sollte, bis heute Schülern in China empfohlen.23 Interessant ist es in ­diesem Zusammenhang, die großen Jahrestage der Oktoberrevolution anhand des Sprachrohrs der KPCh, der Volkszeitung (Renmin ribao), zu verfolgen, die die Entwicklung des offiziellen Bildes der Oktoberrevolution in der Volksrepublik (VR) China reflektiert. So wird deutlich, dass der Höhepunkt der Oktoberrevolutionsrezeption nach der Etablierung der chinesischen Volksrepublik 22 Zur Geschichte des Zerwürfnisses siehe u. a. Lorenz M. Lüthi: The Sino-­Soviet Split. Cold War in the Communist World. Princeton/Oxford 2008. 23 Siehe z. B. das Schulbuch zur modernen Weltgeschichte für die Sekundarstufe I in der Sichuan-­ Ausgabe: Shijie lishi Bd. 2, Chengdu 2006, S. 33. – Der Film Lenin im Oktober (Lenin v ­Oktjabre) (1937) wurde in der Chruščëv-­Ära entsprechend bzgl. Stalins Rolle »zurückgestutzt«. Die chinesische (bzgl. Stalin nicht zurückgestutzte) Fassung hatte ihre Popularität in China auch nach dem Bruch mit der Sowjetunion nicht eingebüßt und ist daher bis heute sehr bekannt. Siehe Tina Mai Chen: Film and Gender in Sino-­Soviet Cultural Exchange, 1949 – 1969. In: Bernstein/Li (Hrsg.): China Learns from the Soviet Union (wie Anm. 4), S. 426. Sie wurde 2002 in der alten Übersetzung der Changchun Film Studios auch als DVD unter dem Titel Liening zai shiyue (Lenin im Oktober) in Umlauf gebracht.

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zum 40. Jahrestag 1957 ausgemacht werden kann.24 Zu d ­ iesem Zeitpunkt war China auf dem Weg zu seiner ersten ideologisch radikalen Hochphase, die in der Kampagne des ›Großen Sprungs nach vorn‹ gipfeln sollte: Mao besuchte zum zweiten und letzten Mal die Sowjetunion, nahm zusammen mit zahlreichen Führern anderer sozialistischer Staaten an den Feierlichkeiten teil und pries in Moskau den »Ostwind«, der nun über den »Westwind« dominiere.25 Die Kommentare in der Volkszeitung zur Oktoberrevolution überschlugen sich derweil förmlich in ihrem Enthusiasmus,26 und Mao wurde zitiert, der in der Oktoberrevolution den Garanten unverbrüchlicher brüderlicher Freundschaft z­ wischen der Sowjetunion und der VR China ausmachte und die chinesische Revolution als »Fortsetzung« der Oktoberrevolution definierte.27 Der Leitartikel zum Jahrestag hob besonders hervor, dass mit der Oktoberrevolution der globale Aufstieg des Sozialismus und Abstieg des Kapitalismus eingeläutet worden sei, sie Russland zu einem modernen, industrialisierten und technologisch führenden Land gemacht habe und China nun all dies von der Sowjetunion lernen wolle.28 1967, zehn Jahre später, befand sich China in seiner zweiten ideologisch radikalen Hochphase, der Großen Proletarischen Kulturrevolution. Nun war das ­Verhältnis zur Sowjetunion von »unverbrüchlicher Freundschaft« zu offener Feindschaft umgeschlagen; eine chinesische Teilnahme an den sowjetischen Jubiläumsfeierlichkeiten stand diesmal also außer Frage, und China sah sich nun als wahrer Erbe der Oktoberrevolution. Diese Ansicht verband China mit einer Warnung an alle diejenigen, die ­dieses Erbe verrieten. Diese ›Verräter‹ wähnte man nicht nur in der ›revisionistischen‹ Sowjetunion, die nun massiv attackiert wurde, sondern natürlich auch im eigenen Umfeld. Dementsprechend konzentrierte sich der zentrale Beitrag der Volkszeitung auf die innerchinesischen Feierlichkeiten; ganz so, als sei die Oktoberrevolution ein primär chinesisches Ereignis, zu dem auch die gerade laufende Kulturrevolution in eine Kontinuitätslinie gestellt wurde.29 24 Es finden sich hier mehrere Dutzend Beiträge. 25 Hintergrund für Maos Euphorie war u. a. der Erfolg der Sowjets bei der Entwicklung moderner Waffensysteme, mit denen der technologischen Überlegenheit der US-Amerikaner ein Ende bereitet werden sollte, und von denen er zu profitieren hoffte. 26 Die zahlreichen Beiträge in der Volkszeitung umfassen interessanterweise auch eine Würdigung der Oktoberrevolution durch den Dalai Lama. 27 Die Kommentare in der Volkszeitung konzentrieren sich primär auf die Festwoche, d. h. die Zeitspanne vom 6. bis 12. November 1957. 28 Shiyue geming wansui! Shehuizhuyi wansui! [Es lebe die Oktoberrevolution! Es lebe der Sozialismus!]. In: Renmin ribao, 6. November 1957, S. 1. 29 Mao »ließ feiern« und seinen damaligen »Kronprinzen« Lin Biao die Hauptrede halten. Siehe den Leitartikel des Tages: Weida de Makesizhuyi wansui! Weida de Lieningzhuyi wansui! Weida de Mao Zedong sixiang wansui! Shoudu renmin longzhong jihui jinian shiyue geming

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Und international bemühte man sich zu zeigen, dass die chinesische Lesart auch außerhalb Chinas Unterstützung finde.30 1977, erneut zehn Jahre später, war Mao tot und China befand sich im Umbruch nach der Kulturrevolution. Die ideologische Verunsicherung führte dazu, dass man die Oktoberrevolution in der Volkszeitung nun nur noch mit spärlichen Artikeln bedachte und primär als historisches Großereignis lobte, das die Welt die Bedeutung der Diktatur des Proletariats gelehrt und das Banner der Befreiung aller unterdrückten Völker aufgepflanzt habe. Diesem Vorbild folge China nun weiter treu, wohingegen der sowjetische ›Revisionismus‹ erst überwunden werden müsse. Vorsichtige positive Signale an die Sowjetunion waren jedoch nun eingebaut.31 1987 hatte sich dann der ideologische Krampf etwas gelöst, zumal sich ein Tauwetter mit der Sowjetunion anbahnte. Das Oktoberrevolutionsgedenken schaffte es allerdings seither nicht mehr auf die erste Seite der Zeitung, die die Berichterstattung auf Artikel zu Gedenkfeiern durch Dritte oder Beiträge einzelner Autoren, wie des Vorsitzenden der chinesisch-­sowjetischen Freundschaftsgesellschaft, die mittlerweile wiedererstanden war, beschränkte. Die Zeit der offiziellen Glückwunschadressen kehrte jedoch nicht wieder. Wiederum zehn Jahre später existierte die Sowjetunion bereits nicht mehr, und so wurden 1997 die chinesischen Beiträge zur Oktoberrevolution noch spärlicher. Es wurde lediglich berichtet, dass zumindest die russische KP sowie einige Kommunisten früherer Sowjetrepubliken das Ereignis noch feierten. Damit war das Thema faktisch zu einem der internationalen Berichterstattung geworden. 2007 schließlich konnte man der Zeitung lediglich eine kurze Auslandsnotiz zur russischen KP-Feier entnehmen und 2017 verzichtete man zum ersten Mal – trotz des einhundertjährigen Jubiläums – ganz auf Berichte zu ­diesem Thema. Stattdessen widmete sich die Volkszeitung dafür aber umso ausführlicher der Bedeutung des »chinesischen Wegs« zum Sozialismus, wie ihn der gerade beendete 19. Parteitag der KPCh weitergeschrieben hatte. Soweit bekannt, wurden die zunächst geplanten Feierlichkeiten zum Oktoberrevolutionsgedenken in China mit Hinblick auf die diplomatischen Beziehungen wushi zhounian [Es lebe der großartige Marxismus! Es lebe der großartige Leninismus! Es leben die großartigen Mao Zedong-­Ideen! Das Volk der Hauptstadt versammelt sich feierlich zum Gedenken des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution]. In: Renmin ribao, 7. November 1967, S. 1. 30 Hier wurden in Beiträgen rund um den Jahrestag primär Albanien und Vietnam ins Feld geführt, aber auch angebliche Unterstützung aus den Reihen sowjetischer Arbeiter, die Mao ihren eigenen »revisionistischen« Führern vorzögen. 31 Shiyue geming de qizhi shi bu ke zhansheng de [Das Banner der Oktoberrevolution ist unbesiegbar]. In: Renmin ribao, 7. November 1977, S. 1. Zu d­ iesem Zeitpunkt war der Machtkampf ­zwischen Maos direktem Nachfolger Hua Guofeng und dem letztlich siegreichen Deng X ­ iaoping noch nicht entschieden.

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zu Russland und die dort kontrovers laufenden Diskussionen wieder abgesagt und das Thema lieber in akademische Fachkreise verwiesen.32 Dafür eröffnete man eine russisch-­chinesische Ausstellung mit Objekten der Oktoberrevolution im Nationalmuseum in Peking und bemühte sich durch die chinesische Version einer neuen Lenin-­Biografie als weiterem russisch-­chinesischem Projekt, dem Jahrestag doch noch eine gebührende Ehrung zuteilwerden zu lassen.33 Trotz diplomatischen Schweigens der Volkszeitung berichteten andere offizielle chine­ sische Medien über Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Oktoberrevolution, die zumindest in Kuba und Vietnam noch wie gewohnt stattgefunden hätten.34 Dieser Zeitraffer hat deutlich gemacht, dass die chinesische Sicht auf die Oktoberrevolution aufs Engste mit dem jeweils aktuellen politischen Verhältnis ­zwischen China und der Sowjetunion beziehungsweise z­ wischen China und Russland verknüpft war und ­welche Rolle sich China selbst ideologisch im internationalen Kontext zuwies. Rein numerisch gesehen weist die Betrachtung der einschlägigen Beiträge in der Volkszeitung in Zehn-­Jahres-­Jubiläumsschritten eine deutliche Abwärtskurve auf, was nahelegt, dass die Oktoberrevolution zwar 32 Eine zweckoptimistische Einschätzung, dass Putin immerhin in Russland überhaupt ein Gedenken, wenn auch mit Einschränkungen, angeordnet habe, veröffentlichte etwa der frühere Leiter der Abteilung für Osteuropa- und Zentralasienstudien der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, einem linientreuen Think Tank der chinesischen Regierung, Wu Enyuan, ohne allerdings die Kontroverse um den Jahrestag im heutigen Russland abzustreiten. Wu Enyuan: Pujing wei shenme yao jinian shiyue geming 100 zhounian [Warum will Putin den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution begehen?], 21. Juni 2017. Abgerufen unter URL: http:// sohu.com/a/150648899_688065, letzter Zugriff 05. 10. 2017. Ferner wurden im Vorfeld des Jahrestages mehrere wissenschaftliche Konferenzen abgehalten. 33 Liening de pixiang deng 200 yu jian linggui wenwu zai Jing zhanchu. Jinian E shiyue geming bainian [Lenins Lederkoffer und weitere über 200 wertvolle Objekte in Peking ausgestellt: zum Gedenken an 100 Jahre russische Oktoberrevolution]. In: Xin Jing bao (Neue P ­ ekinger Zeitung), 07. 11. 2017. Abgerufen unter URL : http://news.sina.com.cn/c/2017 – 11 – 07/ doc-­ifynmvuq9299959.shtml, letzter Zugriff: 09. 11. 2017. – Zur Lenin-­Biografie siehe die Meldung der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Neues China (Xinhua) vom 3. 11. 2017: Communist parties of Russia, China [sic!] publish new book on Lenin to mark centenary of October Revolution. Abgerufen unter URL: http://news.xinhuanet.com/​english/2017-11/03/c_136726709.htm, letzter Zugriff: 09. 11. 2017. 34 Für die chinesische Berichterstattung, siehe die Meldung der offiziellen Nachrichtenagentur Xinhua: Feature: Cuba marks 100 anniversary of Russian Oct. Revolution [sic], 08. 11. 2017. Abgerufen unter URL: http://news.xinuanet.com/english/2017-11/08/c_136737095.htm, letzter Zugriff: 09. 11. 2017. Die Feierlichkeiten in Vietnam wurden u. a. von der regierungsnahen Huanqiu shibao/Global Times im Rahmen der Berichterstattung über die russischen geteilten Meinungen zu den Oktoberrevolutionsfeiern zitiert: »Eluosi jie shiyue geming bainian ningjie gongshi« [Russland nutzt die 100 Jahre Oktoberrevolution zur Festigung des Gemeinschaftssinns]. In: Huanqiu shibao, 06. 11. 2017.

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als Gründungsmoment ihre historische Bedeutung für China behielt, ansonsten aber anstelle des »Vorbilds Russland« der eigene »chinesische Weg« wichtiger geworden war.

5. Die Oktoberrevolution in China heute Wie eingangs erwähnt, gilt die Oktoberrevolution im offiziellen chinesischen Geschichtsbild nach wie vor als Epochenscheide der Weltgeschichte.35 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem einstigen Vorbild und späteren Hauptfeind, ist die Diskussion um das Erbe der Sowjetunion und die Lehren, die man aus ihr ziehen muss, in China voll entbrannt. Während die Russland- beziehungsweise Sowjetunionforschung in China zunächst mit den frühen 1990er Jahren in die Krise geriet, da man sich in den 1980er Jahren hoffnungsfroh auf die Gorbačëv’schen Reformen konzentriert hatte und dieser Forschungsgegenstand nun weggebrochen war,36 musste politisch dringlich eine Antwort auf den Untergang der Sowjetunion gefunden werden. Ein eindrückliches Beispiel bildet eine didaktische Fernsehserie zur Geschichte der KPdSU für den parteiinternen Gebrauch, die in China nach langem inhaltlichen Gezerre (was die Sensitivität der Thematik unterstreicht) 2006 schließlich erschien und die alle politischen Kader zur ideologischen Bildung anzuschauen hatten. Sie verkörpert eine ideologisch ›linke‹ (und historiografisch pro-Stalinsche) Lesart der Geschichte, die von vielen Russland-/Sowjetunionhistorikern, die sich mittlerweile internationalen Forschungstrends zugewandt hatten, kritisiert worden war. Trotzdem genoss die Serie politische Unterstützung, die zum zwanzigsten Jahrestag des Endes der Sowjetunion 2011 nochmals bekräftigt wurde. Die Oktoberrevolution wird darin naturgemäß gefeiert, aber die Frage, ob Russland ein Vorbild für China sei, wird vor allem aufgrund der politischen Entwicklungen nach Stalin in Zweifel gezogen. Das Fazit lautet: Die politischen Anfänge ­seien vorbildlich gewesen, aber 35 Das erwähnte (Anm. 2) endgültige Curriculum für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I von 2011 ist insofern bemerkenswert, als es eine vorsichtige Neuausrichtung durch die Kontextualisierung der Oktoberrevolution mit dem ­Ersten Weltkrieg andeutet, die nun die Epochenscheide gemeinsam repräsentieren sollen. Siehe: Yiwu jiaoyu Lishi kecheng biaozhun [Pflichterziehung Ganztagssystem: Curriculumsstandard Geschichte]. Beijing 2011, S. 30 – 32. Inwiefern sich dies in den künftigen Schulbüchern zur Weltgeschichte niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. 36 Zur chinesischen Russland/Sowjetunionforschung siehe Cheng Yang: Strukturkrise und Neuanfang: Russlandforschung in China. In: Osteuropa 65 (2015) 5 – 6, S. 149 – 168; und ­Shaolei Feng: Bambus im Wind: 35 Jahre Osteuropaforschung in China. In: Ebd., S. 169 – 174.

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mit dem Amtsantritt Chruščëvs sei das Erbe Lenins in der Sowjetunion verraten worden. Der Zusammenbruch der sowjetischen politischen Ordnung sei daher selbst verschuldet. Es liege somit an China, diese Fehler nicht zu wiederholen und somit vom russischen Negativbeispiel zu lernen.37 Vielmehr müsse China auf seinem eigenen Weg weitergehen, um nach dem »ersten sozialistischen Staat der Welt«, wie die Sowjetunion im eingangs erwähnten Schulbuch gepriesen wird, zumindest der »letzte« bleiben zu können und damit das »wahre« Erbe der Oktoberrevolution zu verwirklichen. Dieses »wahre« Erbe solle – nach heutiger Diktion – in der Verwirklichung des »chinesischen Traums« und der Renaissance als Großmacht bestehen. Vielleicht, so die leise Hoffnung, werde ja auch Russland unter Putin, der in China wohlgelitten ist, noch einsehen, dass es heute durchaus einmal umgekehrt etwas vom Vorbild China lernen könne. Denn d­ ieses habe nun den »richtigen«, modernen und zukunftsweisenden Weg gefunden, den die Sowjetunion am Ende vergeblich gesucht hatte: den »Sozialismus 2.0«.38

37 Siehe hierzu Gotelind Müller: Documentary, World History, and National Power in the PRC. Global Rise in Chinese Eyes. London/New York 2013. Kapitel 4 ist einer Analyse der besagten Serie Ju an si wei gewidmet. 38 Siehe die bereits erwähnte (Anm. 34) regierungsnahe Zeitung Huanqiu shibao zum Jahrestag der Oktoberrevolution: Shiyue geming bainian, renlei jinbu de yige shiji [Hundert Jahre Oktoberrevolution, ein Jahrhundert Fortschritt der Menschheit], 6. 11. 2017. – In der englischen Ausgabe selbiger Zeitung, der Global Times, erschien am gleichen Tag eine gekürzte Übersetzung: October Revolution legacy remains despite Soviet Union dissolution. Abgerufen unter URL : http://www.globaltimes.cn/content/1073772.shtml, letzter Zugriff: 09. 11. 2017. Dieser Artikel fasst die »Verdienste« der Oktoberrevolution aus offizieller Sicht zusammen und betont, dass die Sowjetunion durchaus reformierbar gewesen wäre, dies aber – anders als in China – aufgrund »politischen Zauderns und Schwächung der Führung der Partei« nicht angepackt worden sei, was daher zum Kollaps habe führen müssen.

Gero Fedtke

Zentralasiens Muslimkommunisten und die Revolution im Orient

Im Januar 1918 schrieb der Samarkander Lehrer und Publizist Hāği Muin Šukrullā in der von ihm mit herausgegebenen Zeitung Hurrijat (Freiheit): Die Bolschewiki haben zwar in den ersten Tagen nach ihrer Machtübernahme verkündet, den kleinen Nationen endlich Freiheit und Selbständigkeit zu geben, doch blieben dies trockene Worte auf Papier. Sie haben bislang nicht einer Nation Autonomie und Selbstständigkeit bestätigt. Sie sind vielmehr gegen jede Nation, die Autonomie und Selbständigkeit erklärt hat, mit Kanonen und Maschinengewehren vorgegangen und werden dies weiterhin tun.1

Man kann davon ausgehen, dass Šukrullā eine Mehrheitsmeinung zumindest der gebildeten einheimischen Schichten Turkestans zu d­ iesem Zeitpunkt artikulierte. Seine Aussage scheint die Sichtweise zu bestätigen, dass sowjetische Herrschaft in Zentralasien von Beginn an eine Fremdherrschaft war, die die Eigenständigkeitsbestrebungen der einheimischen – in ihrer überwältigenden Mehrzahl muslimischen – Bewohner gewaltsam unterdrückte. Im November 1917 hatten Siedlerrevolutionäre in Taschkent die erste Sowjetregierung Turkestans gebildet; ihr gehörte nicht ein Vertreter der einheimischen muslimischen Bevölkerung an. Eine einheimische Gegenregierung, die Autonomie für Turkestan forderte, vernichtete sie im Februar 1918 in einem wahren Massaker, bei dem ungefähr 10.000 Menschen ums Lebens gekommen sein sollen. Šukrullā schien Recht zu behalten. Doch bereits zehn Monate später hatte die Kommunistische Partei Turkestans ungefähr 45 Prozent einheimische Muslime unter ihren Mitgliedern und auch in ihrem Zentralkomitee.2 Diese muslimischen Kommunisten hielten im Mai 1919 in Taschkent ihre erste eigene Parteikonferenz ab. Sie sandten ein Telegramm an Lenin, in dem sie schrieben: »Wie von Ihnen lange erwartet, ist der 1 Hojji Muin: Bolsheviklar va biz. In: Hurrijat, 9. Januar 1918. Abgerufen unter URL: http:// ziyouz.uz/matbuot/jadid-­matbuoti/hoji-­muin-­bolsheviklar-­va-­biz-1918/, letzter Zugriff: 03. 05. 2019. 2 P. G. Antropov/A. Gurevič: Materialy i dokumenty 2. s’’ezda Kompartii Turkestana. Moskau–Taschkent 1934, S. 39.

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Orient erwacht! Er ist ganz vom revolutionären Brand erfasst, mehr noch: er wird kommunistisch.«3 Šukrullā hatte in seinem kritischen Artikel vom Januar 1918 eine s­ olche Partei­ nahme von Muslimen für unmöglich erklärt: »Um Uneinigkeit unter den Muslimen zu schüren, haben [die Bolschewiki] die muslimischen Soldaten, die muslimischen Arbeiter und Bauern provoziert. Aber sie werden sie damit nicht auf ihre Seite ziehen können. Denn die Muslime durchschauen die betrügerische Absicht und werden sich nicht täuschen lassen.«4 Und doch gehörte auch er nun zu den Unterstützern der Sowjetmacht. Die Zeitung Hurrijat gab er ab Juni 1918 unter dem Namen mehnatkašlar tovuši (Stimme der Arbeiter) als eine sowjetische Zeitung heraus. Šukrullā war nicht allein – nicht wenige muslimische Unterstützer des neuen Sowjetstaates hatten eine zunächst kritische Einstellung revidiert. Dieser Wandel ist erklärungsbedürftig. Warum entschieden sich Muslime dafür, die Sowjetmacht zu unterstützen und Kommunisten zu werden? Hatten sie sich doch betrügen lassen? Eine Erklärung wird in ­diesem Beitrag angeboten.5 Darüber hinaus werde ich der Frage nachgehen, ob von der Revolution im Russischen Reich ein Impuls auf die muslimisch geprägten Nachbarländer ausging. Der Blick über die Grenzen des Russischen Reiches hinaus ermöglicht es, die Spezifika der Verhältnisse in Russland klarer herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit liegt auf Turkestan und Buchara sowie auf Afghanistan und Persien. Es ist unstrittig, dass siebzig Jahre Sowjetherrschaft im russischen beziehungsweise sowjetischen Zentralasien tiefgreifende Veränderungen bewirkten, die Wirtschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt den Islam in der Region bis heute prägen.6 Im Folgenden soll jedoch nicht im Zentrum stehen, w ­ elche Bedeutung und Folgen der als ›Oktoberrevolution‹ bezeichnete Macht- und Systemwechsel im Russischen Reich langfristig für Zentralasien hatte. Es soll vielmehr versucht werden, die zeitgenössischen Perspektiven der Akteure nachzuvollziehen und aufzuzeigen, ­welche Bedeutung sie der Russischen Revolution beimaßen und ­welche Auswirkungen diese auf ihre Handlungsoptionen hatte. 3 Telegramm an Lenin vom 30. Mai 1919. In: Gosudarstvennyj Archiv Russkoj Federacii (GARF), f. 130, op. 3, d. 601, ll. 62 – 6 4. 4 Hojji Muin: Bolsheviklar (wie Anm. 1). 5 Die vorhandene Literatur zu muslimischen Kommunisten hat zu dieser Frage wenig anzubieten. Die im Wesentlichen auf den Kaderakten der aserbaidschanischen Muslimkommunisten aufbauenden Ausführungen bei Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 234 – 236, geben in dieser Hinsicht vor allem eine nachträgliche sowjetische Binnenerzählung wieder. 6 Siehe hierzu Adeeb Khalid: Islam after Communism. Berkeley ²2014, v. a. die einführenden Bemerkungen auf S. 3 f.

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Der Begriff Zentralasien bezeichnet kein exakt definiertes Territorium. Er umfasst sowohl das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangte Gebiet, das aus dem Generalgouvernement Turkestan sowie den von ihm territorial umschlossenen Protektoraten Buchara und Chiva bestand, als auch angrenzende Gebiete und Staaten.7 Diese Gebiete sind im russischen Begriff vostok in seiner Bedeutung ›Orient‹ mit angesprochen, der einen – wie auch im deutschen Sprachgebrauch nicht präzise definierten – größeren Raum umfasst. Dieser reicht von der nordafrikanischen Atlantikküste bis zum Pazifik und bezieht sich im Wesentlichen als Gegensatz zur christlichen Welt auf als islamisch identifizierte Länder sowie China und die Mongolei.8 Nach dem Scheitern der Räterepubliken in Europa setzten die Führer der Bolschewiki große Hoffnungen auf eine Revolution im Orient. Mit ›Orient‹ war auch hier in erster Linie die muslimische Welt gemeint, einschließlich der zum Russischen Reich gehörenden Gebiete in Zentralasien und im Kaukasus, denen – da Teil des sowjetischen Machtbereichs – eine besondere Rolle in dieser Revolution im Orient zukommen sollte.9 Für die einheimische Bevölkerung hatte sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die Sammelbezeichnung Muslime etabliert. Die vorwiegend aus dem europäischen Russland zugewanderten Siedler wurden von den Zeitgenossen mehrheitlich als Europäer bezeichnet, in synonymem Gebrauch auch als Russen. Diese Bezeichnungen verwende ich ebenfalls.

1. Muslimische Kommunisten im russischen Zentralasien Wer waren die ersten einheimischen Kommunisten in Zentralasien? Um sich ihnen und ihrem Selbstverständnis zu nähern, ist ein Blick auf die ersten Umbenennungen von Städten im sowjetischen Zentralasien erhellend. Zahlreiche Städte wurden in der Sowjetunion nach wichtigen Revolutionären benannt. Diese Benennungen waren wichtiger Ausdruck des Selbstverständnisses des ersten sozialistischen Staats 7 Zu ­diesem Raum gehören nach heutigen Grenzen die Staaten Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan sowie der Süden Kasachstans, die westlichen Provinzen Chinas (Xinjiang), Afghanistan und Iran (ich verwende die bis in die 1950er Jahre übliche Bezeichnung Persien). 8 Siehe dazu exemplarisch die Einführung zu der sechsbändigen Geschichte des Orients: Istorija Vostoka. Tom 1: Vostok v drevnosti. Moskau 1997, S. 6 – 12. – Zum deutschen Orientbegriff: Anton Escher: Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert. In: Burkhard Schnepel u. a.: Orient – Orientalistik – Orientalismus. Bielefeld 2011, S. 123 – 149. 9 Siehe dazu Baberowski: Feind (wie Anm. 5), S. 207 – 210.

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der Welt. In Zentralasien erfolgte die erste Umbenennung 1919: aus Aşgabad (der heutigen Hauptstadt Turkmenistans) wurde Poltorack. Die nächsten Namensänderungen folgten 1926: aus Pišpek (heute Bischkek, Hauptstadt Kirgisistans) wurde Frunze und aus Qarshi (heute in Usbekistan) Behbudī. Wer waren die Namensgeber? Pavel Gerasimovič Poltorackij war Volkskommissar in der ersten Turkestanischen Sowjetregierung in Taschkent. Er wurde im Juli 1918 durch Einheiten der kurz zuvor in Aşgabad proklamierten Transkaspischen Sowjetregierung, die sich gegen die Taschkenter Regierung stellte, gefangen gesetzt und hingerichtet. Die Umbenennung ehrte den gefallenen Revolutionär und markierte den Sieg über seine Mörder.10 Pišpek war der Geburtsort des 1925 verstorbenen Michail Vasil’evič Frunze, Veteran der revolutionären Bewegung in Russland und ein Held des Bürgerkriegs, in dem er unter anderem die sowjetischen Truppen angeführt hatte, die 1919 und 1920 in Zentralasien die Weißen besiegten. Bis zu seinem Tod war er Kriegskommissar.11 Die Würdigung Mahmudchodscha Behbudīs fällt aus dieser Reihe: Er war nie Mitglied der Kommunistischen Partei und tat sich auch nie als bedeutender kommunistischer Denker hervor. Er ist vielmehr bekannt als einer der bedeutendsten turkestanischen Denker und Akteure der unter der Bezeichnung Dschadidismus bekannt gewordenen Reformbewegung unter den Russlandmuslimen.12 Die Wahl 10 Zu Poltorackij siehe: R. Ja. Radžapova (Hrsg.): Revoljuciej Prizvannye. Biografičeskie očerki. Bd. 2. Taschkent 1991, S. 11 – 18. Einen guten Überblick bietet der Namensartikel unter URL : https://ru.wikipedia.org/wiki/Полторацкий,_Павел_Герасимович, letzter Zugriff 03. 05. 2019. – Über die Transkaspische Regierung gibt es keine explizite Untersuchung. Den noch immer besten Überblick bietet: Joseph Castagné: Le Bolchévisme et l’Islam. Les organizations soviétiques de la Russie musulmane. In: Revue du Monde Musulman 51 (1922), hier S. 190 – 200; Siehe auch Alexander G. Park: Bolshevism in Turkestan 1917 – 1927. New York 1957, S. 26 – 30; V. Ž. Cvetkov: Zabytyj front. Iz istorii Belogo divženija v Turkestane. 1918 – 1920 gg. In: Graždanskaja vojna v Rossii. Sobytija, mnenija, ocenki. Moskau 2002, S. 569 – 578. 11 Zu Frunze mit Schwerpunkt auf Turkestan siehe die Kurzbiographien in Kučkar C ­ hasanov: Poslancy Lenina. Taschkent 1974; L. P. Zotova (Hrsg.): Revoljuciej Prizvannye. Biografičeskie očerki. Bd. 1. Taschkent 1987. 12 Yuri Bregel: ›BEHBŪDĪ‹. In: Encyclopaedia Iranica. IV/1, S. 99 – 100. Abgerufen unter URL : http://www.iranicaonline.org/articles/behbudi-­molla-­mahmud-­kaja, letzter Zugriff: 03. 05. 2019. – Das Standardwerk zum Dschadidismus ist Adeeb Khalid: The Politics of Muslim Cultural Reform. Jadidism in Central Asia (Comparative Studies on Muslim Societies, 27). Berkeley u. a. 1998; aus den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre siehe auch: Begali Qosimov: Milliy Uyg’onish. jasorat, ma’rifat, fidoyilik. Taschkent 2002; Ingeborg Baldauf: Jadidism in Central Asia within Reformism and Modernism in the Muslim World. In: Die Welt des Islams 41 (2001) 1, S. 72 – 88; Dilorom Alimova: Džadidizm v Srednej Azii. Puti obnovlenija, reformy, bor’ba za nezavisimost’. Taschkent 2000.

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Qarshis zum Ort der Würdigung folgte einer ähnlichen Logik wie im Falle Poltorackijs: In Qarshi starb Behbudī im März 1919 eines gewaltsamen Todes. Er befand sich zu dieser Zeit dort in Gefangenschaft, und es ist wahrscheinlich, dass der Bek von Qarshi – der lokale Statthalter des Emirs von Buchara – den Befehl zu seiner Hinrichtung beziehungsweise Ermordung gab. 1926 wurde Qarshi in den Status einer Stadt erhoben und in d­ iesem Zuge umbenannt. Im selben Jahr würdigte Fajzulla Chodžaev, der Regierungschef der Sowjetrepublik Usbekistan, Behbudī als »Autor revolutionärer Werke«: »Kaum einer der Turkestanischen Dschadiden kann in seiner politischen und gesellschaftlichen Tätigkeit mit ihm verglichen werden.«13 1.1 Muslimische Progressisten Wer war Behbudī und worin bestand seine von Chodžaev gelobte Tätigkeit? Behbudī entstammte einer Familie von Geistlichen. Er absolvierte das Studium an einer madrasa (islamischen Hochschule) und war unter anderem als muftī tätig. Damit gehörte er zu der privilegierten Gruppe der zentralasiatischen Gelehrten, der ulamā. Einige ulamā wie Behbudī sahen die Gründe für die Unterlegenheit der musli­ mischen Welt gegenüber den europäischen Mächten insgesamt, wie im Besonderen Turkestans gegenüber Russland, in ihrer angeblichen eigenen Rückständigkeit. Diese Rückständigkeit galt es aufzuholen, was ihnen nur durch einen grundlegenden Wandel der eigenen Gesellschaft möglich schien. Sie brachen mit der zentralasiatischen (beziehungsweise allgemein islamischen) Tradition, nach der es Rückständigkeit oder Fortschritt gar nicht geben konnte, da die Zeit gottgegeben war, die Zukunft auf Prophezeiungen basierte und die Menschheit oder einzelne Gesellschaften sich auf ihrem Weg durch die Zeit nur ›auf und ab‹ bewegten. Diesem Verständnis setzten sie – gleich anderen Modernisierern dieser Epoche – die Vorstellung einer auch qualitativ fortschreitenden Zeit entgegen, in der sich die Menschheit zu immer höheren Entwicklungsstufen vorwärts bewege. Sie machten sich die Ideen von Fortschritt und Zivilisierung zu eigen und setzten sich das Ziel, ihre als rückständig verstandene Gesellschaft in die moderne (zamānavī) Welt zu führen. Jürgen Osterhammel spricht in ­diesem Zusammenhang von Selbstzivilisierung.14 13 Fajzulla Chodžaev: K istorii revoljucii v Buchare. Taškent 1926, S. 6. 14 Zum Zeitverständnis siehe Franz Wenneberg: An Inquiry into Bukharan Qadīmism – Mirza Salim-­bik (Anor, 13). Berlin 2002, S. 8 f., 49 – 58. – Zur Selbstzivilisierung siehe Jürgen

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Abb. 1 Mahmudchodscha Behbudī, 1875 – 1919

Diese Gelehrten initiierten ein umfassendes Aufklärungs- und Reformprojekt. Ein zentrales Element in ­diesem Projekt war eine Reform sowohl des für nützlich erachteten Wissens selbst wie der Art und Weise seiner Vermittlung. Die Unterrichtsinhalte an Schulen (maktab) und Hochschulen (madrasa) sollten nicht mehr traditionellen Prinzipien folgen. Vielmehr sollten Lehrer ein an pragmatischen Bedürfnissen ausgerichtetes Lesen, Schreiben und Rechnen sowie ein zeitgemäßes Wissen in Geografie, Geschichte und Naturwissenschaften vermitteln. Wissensbereiche wurden entsakralisiert und der Islam auf ein separates Unterrichtsfach beschränkt. Schüler und Studenten sollten nach einer ›neuen Methode‹ lernen. 1901 wurde die erste Neumethodenschule in Taschkent gegründet. Die Bezeichnung Dschadiden ist von der ›neuen Methode‹ (usul-­i ğadida) abgeleitet, die Gegenstand heftiger Konflikte ­zwischen ihren Befürwortern und Gegnern war. Behbudī gehörte zu den engagiertesten Verfechtern des Fortschrittsprojekts in Turkestan: Er schrieb zahlreiche Lehrbücher für Schulen, publizierte Artikel und gab Zeitungen heraus (darunter gemeinsam mit Šukrullā die Zeitung Hurrijat), organisierte eine Bibliothek, schrieb und inszenierte aufklärerische Theaterstücke – alles, um das Modernisierungsanliegen voranzubringen. Behbudī nutzte auch die politischen Freiheiten der Revolution von 1905, um das Reformanliegen voranzubringen. Er thematisierte dabei die Bedeutung, die die politische Ordnung des Osterhammel/Boris Barth (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesse­ rung seit dem 18. Jh. Konstanz 2005, S. 392 ff.

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Russischen Reiches insgesamt für die Angelegenheiten Turkestans hatte, und rief die Muslime Turkestans zur Beteiligung an den Dumawahlen auf. 1907 formulierte er ein Projekt für eine Autonomie Turkestans.15 Behbudī war »russländisiert«. Russländisierte Muslime wie er waren bewusst akkulturiert und strebten nach Emanzipation im Zarenreich.16 Behbudī sprach von »unserem Vaterland Russland« (Rusija vatanimiz). Er verlangte die vollen Rechte eines Staatsbürgers, um sich für die Muslime Turkestans engagieren zu können. Er war nicht russifiziert: Er blieb bewusst Muslim und sah in der russischen Herrschaft eine Herausforderung für die muslimische Gesellschaft. Doch bestand seine Antwort auf diese Herausforderung darin, das Imperium als Arena eigenen politischen Wirkens anzunehmen. Er stritt dafür, die Existenz der turkestanischen Muslime im Rahmen des Russischen Reiches zu gestalten; somit lag ihm auch Russlands Schicksal insgesamt am Herzen.17 Behbudī propagierte wie andere Dschadiden nicht nur das Fortschrittsprojekt, er kritisierte auch die Personengruppen, die er für die Rückständigkeit verantwortlich machte: »Richter, die Analphabeten sind, Lehrer, die kein Wissen haben, Muftis, die von Gerechtigkeit nichts wissen und Imame, die den Koran nicht rezitieren können.«18 Die so Kritisierten attackierten wiederum Reformanliegen und Persönlichkeiten. Diese Traditionalisten – zumeist als Qadimisten bezeichnet – konnten ebenfalls für Veränderungen und Reformen eintreten, hielten dabei aber an überkommenen Grundwerten und Autoritäten – die sie selbst 15 Mahmudxo’ja Behbudiy: Xayrul umuri avsatuho. In: Churšid, 11. Oktober 1906. In: Tanlangan asarlar. Taschkent 1999, S.146 – 150; Necip Hablemitoglu: Mahmud Hoca Behdudi’nin ›Türkistan Medeni Muhtariyeti ayihasi – 1907‹. In: Timur Kocaoglu (Hrsg.): Reform Movements and Revolutions in Turkistan: 1900 – 1924. Studies in Honor of Osman Khoja. Haarlem 2001, S. 436 – 4 66. 16 Siehe Daniel Brower: Turkestan and the Fate of the Russian Empire. London 2002, S. 19, 66; Hans Rogger: Russia in the Age of Modernization and Revolution. 1881 – 1917. London 1983, S. 198. Dieser Begriff bewegt sich im Rahmen der »Akkulturation«, wie ihn Trude Maurer und Eva-­Maria Auch verwenden. Siehe Trude Maurer/Eva-­M aria Auch: Leben in zwei Kulturen. Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich. Wiesbaden 2000. – Stärker ausgeprägt war diese Identifikation mit Russland bei den tatarischen Progressisten an der Wolga und auf der Krim. Siehe hierzu Christian Noack: Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung bei Tataren und Baschkiren. 1861 – 1917. Stuttgart 2000, S. 153 – 1555 und passim. 17 In ­diesem Sinne ist auch die Eigenbezeichnung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der osmanischen Presse publizierenden Russlandmuslime zu verstehen, die sich rusyalı (Russländer) nannten. Siehe Volker Adam: Rußlandmuslime in Istanbul am Vorabend des ­Ersten Weltkrieges. Die Berichterstattung osmanischer Periodika über Rußland und Zentralasien. Frankfurt am Main 2002, S. 13. 18 Behbudiy: Xayrul umuri avsatuho (wie Anm. 15), S. 147.

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verkörperten – fest, während die Dschadiden gerade diese in Frage stellten.19 Auch Behbudī distanzierte sich zunächst von russischen Sozialisten und Kommunisten. Im Frühjahr 1918 schloss er sich aber der Taschkenter Sowjetregierung an – er wurde Mitglied des Kollegiums des Nationalitätenkommissariats, an dessen Spitze ein muslimisches Mitglied der Kommunistischen Partei Turkestans stand. Führt eine direkte eine Linie von Dschadiden und Dschadidismus zu den muslimischen Kommunisten? Fajzulla Chodžaev, der Behbudī in Ehren hielt, gehörte nicht zum Kreis der zentralasiatischen Gelehrten. Er entstammte einer wohlhabenden bucharischen Adelsfamilie, die durch Handel mit Russland reich geworden war. Seine Schulbildung erhielt er überwiegend in Moskau; er sprach fließend Russisch. Eine ­solche Bildung war auch in Turkestan in den Bildungsinstitutionen erhältlich, die die russische Kolonialmacht anbot. Es waren zwar im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nur wenige Einheimische, die diese Angebote wahrnahmen – unter den späteren muslimischen Kommunisten kam ihnen aber eine besondere Rolle zu. Seit 1884 stellten ›Russisch-­Einheimische Schulen‹ das Basisangebot des russischen Staates für Einheimische dar, die in erster Linie russisch-­europäische Bildung vermittelten und nur nachgeordnet ein muslimisches Programm, das zum Teil identisch mit dem der Neumethodenschulen war.20 Das 1879 gegründete Taschkenter Lehrerseminar bildete in einem vierjährigen Studium Lehrer für diese Schulen und Beamte der Kolonialverwaltung aus; sein Gründer Ostroumov hatte es sich zum Ziel gesetzt, ein Drittel der Studienplätze mit Einheimischen zu besetzen.21 Grundsätz19 Die verbreiteten Bezeichnungen Qadimismus und Qadimisten (von qadīm = alt) sind als Gegensatz zum Dschadidismus (von ğadīd = neu) gebildet. Zum Qadimismus siehe Stéphane A. Dudoignon: Qu’est-­ce que la »qadîmiya«? Éléments pour une sociologie du traditionalisme musulman, en Islam de Russie et en Transoxiane (au tournant des XIXe et XXe siècles). In: Stéphane A. Dudoignon u. a. (Hrsg): L’Islam de Russie. Conscience communautaire et autonomie politique chez les Tatars de la Volga et de l’Oural, depuis le XVIII siècle. Actes du colloque international de Qazan, 29 avril-1er juin 1996. Paris 1997, S. 207 – 226; Franz Wenneberg: An Inquiry into Bukharan Qadīmism – Mirza Salim-­bik. Anor 13. Berlin 2002; Adeeb Khalid: Society and Politics in Bukhara, 1868 – 1920. In: Central Asian Survey 19 (2000) 3/4, S. 367 – 396. – Hans Bräker spricht von »traditionalistischen Reformern«. Siehe Hans Bräker: Kommunismus und Weltreligionen Asiens: Zur Religions- und Asienpolitik der Sowjetunion. Bd. I, 1: Kommunismus und Islam. Religionsdiskussion und Islam in der Sowjetunion. Tübingen 1969, S. 51 f. 20 Kiriak Bendrikov: Očerki po istorii narodnogo obrazovanija v Turkestane. 1865 – 1924 gody. Moskau 1960, S. 199 – 208; Khalid: Politics (wie Anm. 12), S. 157; Alexander Morrison: Russian Rule in Samarkand. A Comparison with British India. Oxford 2008, S. 66 – 72. 21 Zumindest bis 1904 glückte dies allerdings nicht: Bis zu ­diesem Jahr stellten sie nur 67 von 415 Studenten. Für die Zeit von 1905 bis 1917 liegen mir keine Zahlen vor. Zum Lehrerseminar siehe

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lich konnten sämtliche weiterführenden Schulen von Einheimischen besucht werden, doch war ihre Zahl auch an den Gymnasien gering. Lediglich die Handelsschulen verzeichneten mit rund 17 Prozent einen substanziellen Anteil einheimischer Schüler. Gering war auch die Zahl turkestanischer Absolventen von Hochschulen in Zentralrussland, aber auch diese gab es. Während die als Dschadiden Bezeichneten vornehmlich aus dem sesshaften Teil der einheimischen Bevölkerung stammten und einen klassischen oder reformierten muslimischen Bildungshintergrund hatten, entstammten die Absolventen russischer Bildungseinrichtungen häufiger säkularen und nomadischen Milieus. Sie bildeten eine zentralasiatische Intelligenzija und traten mehrheitlich entschieden für das Modernisierungsprojekt ein. Vor der Revolution von 1917 prägten Dschadiden die Stimme der Debatten, nach 1917 traten nach und nach Angehörige der Intelligenzija in den Vordergrund. Was sie verband, war das Eintreten für den Fortschritt. ›Progressist‹ (taraqqīparvar) war eine bevorzugte Eigenbezeichnung. Ich verwende diesen Begriff für die Anhänger und Protagonisten des Fortschrittsprojekts. Mit dem Begriff Progressisten ist somit ein größerer Personenkreis erfasst als mit dem Begriff Dschadiden. Viele Progressisten wurden muslimische Kommunisten. 1.2 Die Revolution in Turkestan und Buchara Die Februarrevolution änderte die Rahmenbedingungen des Streits z­ wischen Progressisten und Traditionalisten grundlegend: Die neue Freiheit bot große Möglichkeiten zur politischen Betätigung; Akteure beider Lager sahen in ihr eine Chance, die es unbedingt zu ­nutzen galt.22 In Taschkent gründeten Angehörige der ulamā, von denen zumindest einige Protagonisten des progressistischen Projekts waren, den Islamrat (šurā-­i islāmija), dessen russischer Name Rat der muslimischen Deputierten (Sovet Musulmanskich Deputatov) lautete. Die Sowjets und Exekutivkomitees der Europäer dürften als Vorbild gedient haben. Bendrikov: Očerki (wie Anm. 20), S. 99 – 116, 146 – 156; Vladimir Bartol’d: Istorija kul’turnoj žizni Turkestana. Moskau 1927, deutsche Übersetzung in: Vladimir Bartol’d: Gesammelte Werke. Bd. 1. Berlin 2009, S. 127. 22 »The failure to seize the opportunity to act«, wrote a Jadid teacher, »will be an enormous crime, a betrayal of not just ourselves, but of all Muslims«. Siehe Adeeb Khalid: Making Uzbekistan. Nation, empire, and revolution in the early USSR. Ithaca 2015, S. 7. Einen guten Überblick über diese Aktivitäten bietet Khalid: Ebd., S. 56 – 82. Marco Buttino: Revoljucija naoborot. Srednjaja Azija meždu padeniem carskoj imperii i obrazovaniem SSSR. Moskau 2007, S. 112 – 129, 162 – 171, 186 – 193.

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Dieser Organisationsgründung folgten weitere in vielen Städten Turkestans.23 Nach anfänglichen Versuchen, gemeinsam die Belange der Muslime Turkestans zu vertreten, zerstritten sich Progressisten und Traditionalisten allerdings schnell. Bei den Wahlen, die im Verlaufe des Jahres 1917 in Turkestan abgehalten wurden, offenbarte sich die Minderheitenposition der Progressisten. Bezeichnend ist hier das Ergebnis der Wahlen zur Taschkenter Stadtduma Ende Juli 1917: Die Traditionalisten gewannen 64 von 112 Sitzen, die Progressisten nur 11.24 Sie waren damit eine kleine, aber nicht unbedeutende Partei. 1917 klärten sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse; auch der Konflikt ­zwischen Traditionalisten und Progressisten verschärfte sich zusehends. Dies betraf zunächst vor allem das Emirat Buchara. Im Unterschied zum Generalgouvernement hatte Buchara einen muslimischen Herrscher, den die provisorische Regierung innenpolitisch gewähren ließ. Sie unterstützte zwar ein Manifest, in dem der Emir im April 1917 sehr zurückhaltende Reformschritte ankündigte, mischte sich aber in die inneren Angelegenheiten Bucharas nicht weiter ein. Bucha­rische Progressisten organisierten eine Demonstration, um dem Emir ›ihren Dank auszusprechen‹ und zugleich ihre politische Präsenz zu etablieren. Sie trafen auf eine Gegendemonstration von Traditionalisten, die in den Anliegen der Progressisten eine fundamentale Bedrohung Bucharas als Hort echter muslimischer Herrschaft sahen. Die Konfrontation der beiden Seiten eskalierte zu blutiger Gewalt. Der Emir entschied sich, die Traditionalisten zu unterstützen. Er ließ einige Organisatoren der progressistischen Demonstration festnehmen und auspeitschen – mindestens einer von ihnen starb an den Folgen. Die bucharischen Progressisten flohen ins Exil nach Turkestan. Der Emir nutzte die sich zunehmend auflösende russische Staatsgewalt, um de facto unabhängig zu werden. Dabei setzte er auf die traditionalistischen Kräfte.25 Sowohl die spontanen blutigen Zusammenstöße als auch die als Strafe vollzogene Auspeitschung zählen zu den frühesten bekannten Fällen, in denen der 23 Abduxoliq Mingnorov: Turkistonda 1917 – 1918 yillardagi milliy siyosiy tashqilotlar. Taschkent 2002, S. 4. 24 Die Wahlen galten für die ganze Stadt Taschkent. Unterstellt man, dass nur muslimische Bewohner für eine der beiden Listen stimmten, hätten ca. 74 % für die Traditionalisten und ca. 13 % für die Progressisten gestimmt. Diese Angaben sind Näherungswerte auf folgender Grundlage: 1914 hatte Taschkent 180.000 Einwohner in der Altstadt und 70.000 in der Neustadt. 1907 waren 99,4 % bzw. 20 % der jeweiligen Bewohner Muslime. Das Wahlergebnis nach: Turkestanskij Kur’er, 2. August 1917. In: Pobeda Oktjabrskoj revoljucii v Uzbekistane. Sbornik Dokumentov. Bd. 1 (im Folgenden PORvUz 1). Taschkent 1963 I, S. 204 f.; siehe auch ­Buttino: Revoljucija (wie Anm. 23), S. 162 – 168. 25 Zu den Ereignissen siehe Khalid: Uzbekistan (wie Anm. 22), S. 62 – 6 4 mit weiterführender Literatur.

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Streit ­zwischen Progressisten und Traditionalisten gewalttätige Formen annahm. Dies geschah in einem bereits von Gewalttätigkeit geprägten Klima: 1916 hatte Turkestan einen Aufstand vor allem nomadischer Gruppen gegen einen Mobilisierungsbefehl der Zarenregierung erlebt, dessen Niederschlagung, wie Marco Buttino es ausgedrückt hat, »einem umfassenden Krieg der gesamten russischen gegen die muslimische Bevölkerung und einer ethnischen Säuberung« gleichkam.26 Schätzungen gehen von 10.000 Toten unter den Siedlern und 100.000 bis 200.000 Toten unter den Nomaden aus. Rund 250.000 Menschen flohen trotz des Winters über die schneebedeckten Pässe nach China.27 Ein Wiederaufflammen der Kämpfe für 1917 war zu erwarten.28 Gemessen an dieser Gewaltorgie mag die Gewalt von Traditionalisten gegen Progressisten im Frühjahr 1917 geringfügig wirken. Sie war aber von ungleich größerer Bedeutung für die Revolution in Turkestan und die Wandlung muslimischer Progressisten zu Kommunisten. Dies zeigt auch deutlich eine frühe Episode aus Turkestan: Auf eine im Mai 1917 in der progressistischen Zeitung Turān veröffentlichte Kritik an den Traditionalisten reagierte der qāzi (der für die einheimische Bevölkerung zuständige Richter) des Taschkenter Stadtteils Sebzār mit einem Todesurteil gegen den Autor. Nur mit Hilfe der russischen Polizei der Neustadt konnte dieser gerettet werden. Die Episode ist charakteristisch: Progressisten sahen in vielen Fällen in einer Kooperation mit Siedlerrevolutionären die einzige Chance, sich der Traditionalisten zu erwehren oder sich gegen diese durchzusetzen. Ausgerechnet die in Sowjets organisierten europäischen Eisenbahner und Soldaten erwiesen sich als potenter Kooperationspartner, obwohl gerade sie wenig Neigung zeigten, in ihrer Politik muslimische Interessen zu berücksichtigen. 26 Buttino: Revoljucija (wie Anm. 23), S. 71. 27 Zu den Ereignissen von 1916 siehe Katsunori Nishiyama: Russian Colonization in Central Asia. A Case Study of Semirechye, 1867 – 1922. In: Hisao Komatsu u. a. (Hrsg.): Migration in Central Asia. Its history and current problems. Osaka 2000, S. 65 – 84, hier S. 79 – 83. Marco Buttino: Turkestan 1917, la révolution des russes. In: Cahiers du Monde russe et sovietique 32 (1991), S. 61 – 77, hier S. 66 f. 28 Diese Unruhen sind verschiedentlich als Beginn der Revolution in Zentralasien oder als nationaler Aufstand gegen die Fremdherrschaft gedeutet worden. Die Aufständischen formulierten aber keine nationalen oder revolutionären Programme. Tatsächlich offenbarten die Unruhen die Schwäche der Kolonialadministration und machten sichtbar, wie sehr die nomadische Bevölkerung Turkestans unter dem Druck bäuerlicher Siedler aus dem europäischen Russland litt und wie wenig in den Augen dieser Siedler das Leben eines einheimischen Nomaden galt. Die nomadische Bevölkerung hatte im weiteren Verlauf der Revolution sehr zu leiden, spielte aber keine entscheidende Rolle. Für spezifisch nomadische Anliegen gab es keine wirksame Lobby.

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Dieser Prozess wurde beschleunigt durch die im Spätsommer 1917 in Turkestan ausbrechende Hungersnot, die eine große Rolle für die Dynamik der Revolution in Turkestan insgesamt spielte. Engpässe in der Lebensmittelversorgung waren bereits im Verlauf des Jahres 1916 Auslöser von Unruhen gewesen. Nach einer vorüber­ gehenden Entspannung der Versorgungslage zu Beginn des Jahres 1917 führte ab dem Spätsommer der Verteilungskampf um die knappen Nahrungsressourcen zu entscheidenden Umstürzen sowohl bei Siedlern als auch bei Einheimischen.29 Der folgenschwerste Umsturz ereignete sich am 12. September 1917 in Taschkent: Arbeiter und Soldaten bildeten ein Revolutionskomitee, um »die ganze Macht zu übernehmen, umgehend alle unverzichtbaren Lebensmittel zu regis­ trieren und ihre Verteilung zu übernehmen«.30 Aus d ­ iesem Umsturzversuch und den auf ihn folgenden Kämpfen ging die erste turkestanische Sowjetregierung hervor, die die einheimische Bevölkerung explizit nicht an der Macht beteiligen wollte. Den Siedlerrevolutionären in Turkestan galt dieser 12. September als das zentrale Revolutionsereignis in Turkestan; der Oktoberputsch in ­Petrograd spielte in ihren Revolutionserzählungen keine oder nur eine marginale Rolle. So gesehen fand in Turkestan keine Oktoberrevolution statt, sondern eine Septemberrevolution. Den Regierungsmitgliedern wurde innerhalb weniger Monate bewusst, dass sie um eine Beteiligung der Muslime nicht herumkommen konnten. Dafür spielten drei wesentliche Faktoren eine Rolle: Erstens verlieh die große muslimische Bevölkerungsmehrheit den muslimischen politischen Forderungen Nachdruck. Die europäischen Revolutionäre betrachteten die Traditionalisten als Feinde und sahen mit Sorge ihre dominante Position in der muslimischen Gesellschaft. Sie suchten daher nach Verbündeten auch unter den Muslimen.31 Zweitens sahen sie sich an verschiedenen Fronten militärischem Druck ausgesetzt. Drittens drängten ab dem Frühjahr 1918 Abgesandte der sowjetischen Zentralregierung zur Aufnahme von Muslimen, die als wichtigster Verbündeter der Turkestaner Siedlerrevolutionäre wirksamen Druck ausüben konnte. 29 Marco Buttino: Politics and Social Conflict during a Famine: Turkestan immediately after the Revolution. In: ders. (Hrsg.): In a Collapsing Empire: Underdevelopment, Ethnic Conflicts and Nationalisms in the Soviet Union. Milano 1993, S. 257 – 278. 30 Resolution der Versammlung im Taschkenter Alexandergarten am 12. 9. 1917, publiziert in P. G. Antropov/P. Alekseenkov: Materialy i dokumenty 1. s’’ezda Kompartii Turkestana. Taschkent 1934, S. 63 f.; siehe auch Buttino: Revoljucija (wie Anm. 23), S. 181 – 186. 31 Zentrale Bedeutung kommt in ­diesem Zusammenhang einer Demonstration der muslimischen Mehrheitsbevölkerung in Taschkent am 13. 12. 1917 zu. Siehe Gero Fedtke: Roter Orient. Muslimkommunisten und Bolschewiki in Turkestan (1917 – 1924). Köln/Weimar/Wien 2019, S. 155 – 157.

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Ausgerechnet die Taschkenter Sowjetregierung bot so den geflüchteten bucha­ rischen Progressisten die erste Möglichkeit, nach Buchara zurückzukehren. Im März 1918 nahmen Jungbucharer, unter ihnen Fajzulla Chodžaev, an einem Feldzug gegen das Emirat Buchara teil, der allerdings scheiterte. Das sowjetische Taschkent wurde ihr bevorzugtes Exil.32 Im Mai 1918 wurden die ersten progressistischen Muslime Mitglieder der Taschkenter Sowjetregierung. In der Folgezeit stiegen Anzahl und Einfluss der muslimischen Regierungsmitglieder. 1.3 Arbeiter ohne Fabriken Was die russischen Revolutionäre und die muslimischen Progressisten neben der Suche nach Verbündeten inhaltlich verband, war das Fortschrittsdenken, war der Wille, mit der Vergangenheit zu brechen und die eigene Gesellschaft – wenn nicht gar die ganze Welt – in eine lichte Zukunft zu führen. Der Muslimkommunist Umarov aus Samarkand fand dafür im Dezember 1918 diese Worte: »Unsere Organisation ist durch einen gemeinsamen Gedanken zusammengeschweißt: eine bessere Zukunft zu erkämpfen!«33 Um einiges nüchterner benannte Rizaeddin Muhammad Šakirov, Vertreter der Turkestanischen Sowjetregierung in Moskau, im Sommer 1919 in einem Bericht an Lenin die Motive der Zusammenarbeit von Muslimen und der jungen Sowjetregierung: Die [muslimischen] Arbeiter kamen zu dem Schluss, dass die Anerkennung und Unterstützung der Sowjetmacht nötig sei, einerseits zur Fortführung des Fortschritts, der nicht ohne bestimmte und freundschaftliche, wenigstens friedliche, Beziehungen zur bestehenden Staatsmacht möglich ist, und andererseits zum Schutz vor der Willkür der fanatischen Geistlichkeit, die wesentlich gefährlicher war als die Religion und Privateigentum nicht anerkennenden Bolschewiki.34

Die Siedlerrevolutionäre knüpften ihrerseits das Zusammengehen mit den Progressisten an eine Bedingung: Sie waren nur dann bereit, Muslime an der Macht teilhaben zu lassen, wenn sie sie als Arbeiter anerkennen konnten. Das anfängliche Ausschließen muslimischer Teilhabe hatten sie mit dem Fehlen »proletarischer 32 Zum Feldzug siehe Vladimir Genis: Vice-­konsul Vvedenskij. Služba v Persii i Bucharskom Chanstve. Moskau 2003, S. 132 – 140. Khalid: Uzbekistan (wie Anm. 21), S. 119 f. 33 Antropov: Materialy 2. s’’ezda (wie Anm. 2), S. 52. 34 Bericht von Šakirov, 17. Juni 1919. In: Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no – političeskoj istorii (RGASPI), f. 5, op. 2, d. 133, l. 9.

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Klassenorganisationen der muslimischen Bevölkerung« begründet.35 In den wenigen Fällen, in denen sie Muslime in ihre Reihen aufgenommen hatten, hatten sie diese zwar als Arbeiter anerkannt, aber zugleich darauf beharrt, dass es sich um Ausnahmefälle handele.36 Muslimische Progressisten ihrerseits bezeichneten sich als Arbeiter, wie es Šakirov mit größter Selbstverständlichkeit in seinem Brief an Lenin tat. Und auch Šukrullā sprach in seinem Artikel vom Januar 1918 von muslimischen Soldaten, Arbeitern und Bauern. Die Verwendung dieser Begriffe durch muslimische Akteure bedarf der Diskussion. Vor 1917 spielten sie im Sprachgebrauch der Muslime Turkestans kaum eine politische Rolle. Mit der Revolution kam ihnen eine neue Bedeutung zu. In dem Maße, in dem Sowjets an politischer Bedeutung gewannen, ›alle Macht den Sowjets‹ zustand und zugleich nur Soldaten, Arbeiter und Bauern Sowjets Legitimität beanspruchten, mussten sich Muslime, die Teilhabe an der Macht einforderten, zu diesen Kategorien verhalten. Einheimische muslimische Soldaten gab es so gut wie gar nicht, da die Muslime Turkestans im Zarenreich keinen Militärdienst leisten durften. Muslimische Soldaten in Turkestan waren mit großer Mehrheit Tataren. Turkestans Progressisten waren Stadtbewohner, die sich schwerlich als Bauern definieren konnten oder wollten. In einigen in Turkestan gebildeten Sowjets erschienen Muslime als vierte Kategorie. Diese Sonderrolle für Muslime hatte aber keinen Bestand. Damit blieb der Begriff Arbeiter, mit dem sich progressistische Muslime auseinandersetzen mussten. Es gab in Turkestan kaum Industrie; die Arbeiter im russischen Sprachgebrauch vor 1917 waren nahezu ausschließlich Europäer – in der überwältigenden Mehrzahl waren sie für die Eisenbahn tätig. Die Existenz eines muslimischen Industrieproletariats in dem Sinne, in dem die europäischen Marxisten diesen Begriff gebrauchten, ließ sich tatsächlich schwerlich behaupten. Dennoch fand der Begriff Arbeiter im Laufe des Jahres 1917 Eingang sowohl in die Sprache, mit der Progressisten und Sowjetmacht ihren Zusammenschluss ausdrückten, als auch in die Sprache, in der progressistische und traditionalistische Muslime ihre Konflikte austrugen. Eine zentrale Bedeutung für die muslimische Beanspruchung des Begriffs Arbeiter kam den über 100.000 sogenannten tyloviki (Hinterlandarbeitern) zu, den 1916 für Arbeiten im Hinterland der Front (tyl) mobilisierten Einheimischen, die im Frühjahr 1917 nach Turkestan zurückkehrten. Viele hatten gegen die oft harten Lebens- und Arbeitsbedingungen und die schlechte Versorgung an 35 Naša Gazeta, Taschkent, 133, 23. 11. 1917. 36 So im Fall Sultan Chodschas, den sie als »einzigen Vertreter der Arbeiterbevölkerung der Altstadt [Muslime]« in der Taschkenter Stadtduma bezeichneten. Naša Gazeta, Taschkent 115, 12. 9. 1917.

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ihren Einsatzorten mit Bittschreiben und Streiks protestiert. Sie hatten damit die politischen Ausdrucksformen der Arbeiter eingeübt und brachten sie mit nach Turkestan – ebenso die Symbolik wie beispielsweise rote Fahnen. Den Begriff Arbeiter beanspruchten sie für sich. Ihre Lohnhefte, die ihren Arbeitseinsatz dokumentierten, wiesen sie auch formal als Arbeiter aus und halfen, bei europä­ ischen Revolutionären die Anerkennung als muslimische Arbeiter durchzusetzen.37 Mit der Eigenbezeichnung Arbeiter operierten die tyloviki ebenso in Auseinandersetzungen innerhalb der muslimischen Gesellschaft. Auch diese Entwicklung ist im Kontext der Hungersnot zu betrachten. So entbrannte in Samarkand im Spätsommer 1917 ein heftiger Konflikt ­zwischen Progressisten und Traditionalisten, in dem die Verteilung der knappen Lebensmittel eine zentrale Rolle spielte. Dieser Konflikt eskalierte im September vor den Samarkander Dumawahlen. Bei Zusammenstößen ­zwischen Unterstützern beider Seiten gab es Verletzte.38 Die Aktivisten der progressistischen Seite, darunter viele tyloviki, bedienten sich in ­diesem Konflikt des Begriffs Arbeiter: Sie bezeichneten ihre Organisation als Muslimische Arbeiterunion (musulmān zehmatkašlar ittifāqi), erklärten, insbesondere die Rechte der muslimischen Arbeiter und Armen (musulmān iščilar va qaššāqlar) zu vertreten, und reklamierten in erster Linie die Lebensmittelangelegenheiten als wichtigste ›Arbeiterrechte‹. Die Versorgung der Arbeiter sollte nicht mehr in die Zuständigkeit des städtischen Lebensmittelkomitees fallen; die Mehlrationen für die Arbeiter und Armen sollten erhöht werden.39 Diese Klassenrhetorik konnten die Mitglieder der Arbeiterunion n ­ utzen, um die Unterstützung der europäischen Arbeiter und Soldaten zu mobilisieren. Umgekehrt machten sich die Samarkander Europäer diese Kontakte zunutze, um ihr Vorgehen gegen Samarkander Traditionalisten zu legitimieren. Anfang 1918 erklärte das militärrevolutionäre Komitee Samarkands die šurā-­i islāmija für aufgelöst, mit der Begründung, sie habe in konterrevolutionärer Agitation zur Zerstörung der muslimischen Arbeiterorganisation aufgerufen. Die Arbeiterunion wandte sich daraufhin schnell an den Samarkander Gebietssowjet, um dessen Unterstützung und Bestätigung für die Übernahme von Gebäude, Einrichtung und Telefon der šurā zu erhalten.40 Sowjet und Arbeiterunion profitierten beide von ihrem Bündnis. 37 Siehe Fedtke: Orient (wie Anm. 31). 38 Siehe die ­kurzen Darstellungen in Khalid: Politics (wie Anm. 12), S. 264; M. Ju. ­Juldašev (Hrsg.): Oktjabr’skaja Socialističeskaja Revoljucija i Graždanskaja Vojna v Turkestane. Vospominanija Učastnikov. Taschkent 1957, S. 147 f. 39 Ch. Š. Inojatov (Hrsg.): Pobeda Oktjabrskoj revoljucii v Uzbekistane. Sbornik ­Dokumentov. Bd. 2. Taschkent 1972 (im Folgenden PORvUz 2), S. 94 f. 40 PORvUz 2 (wie Anm. 39), S. 104.

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In der Ittifāq fand allerdings kein Klassenverband zusammen, wie es der Begriff der Arbeiterunion für das europäische marxistisch gebildete Ohr implizierte, sondern eine Solidargemeinschaft, die mit anderen Solidargemeinschaften in der Stadt Samarkand um die knappen Lebensmittel konkurrierte.41 Diese Situation beschrieb sie selbst: »Das ganze Land ist Schauplatz eines Kampfes geworden. Jede Gesellschaft, jede Partei ist gezwungen, für ihr eigenes Wohl zu kämpfen.«42 Die Klassenrhetorik nutzten die Aktivisten der Arbeiterunion, um ihre Ansprüche gegenüber ihren Konkurrenten zu begründen. Sie wählten diese Sprache nicht, um sich einem von europäischen Sozialisten beziehungsweise Kommunisten diktierten Herrschaftsdiskurs unterzuordnen. Dies wird allein daran deutlich, dass es gerade die Zeitung der Arbeiterunion war, die der am Anfang ­dieses Artikels zitierte Šukrullā mit herausgab und in der er seine Kritik an den Bolschewiki veröffentlichte. Muslimische Akteure verwendeten die revolutionäre Sprache sowohl untereinander wie in der Kommunikation mit Siedlerrevolutionären. Sie eigneten sich diese Sprache an, weil es die Sprache der Revolution war. 1.4 Muslimische Kommunisten Einem ähnlichen Mechanismus folgte auch die sehr rapide Zunahme an muslimischen Kommunisten in der ersten Hälfte des Jahres 1918. Allerdings war in ­diesem Fall der Einfluss der europäischen Revolutionäre größer. Sowohl Bolschewiki als auch Linke Sozialrevolutionäre 43 waren bestrebt, nur Parteimitglieder in den Sowjetorganen zuzulassen. Dies wirkte als Druck auf die in Sowjets organisierten muslimischen Akteure, sich einer der beiden Parteien anzuschließen. Auch konnte die Zugehörigkeit zu einer Partei unter den Bedingungen der Hungersnot 41 Die Zusammensetzung dieser Solidargemeinschaften orientierte sich an den Strukturen, die die turkestanische Gesellschaft vorgab, wie Familien oder Stadtviertelgemeinschaften. So umfasste das Spektrum der Mitglieder der Samarkander Arbeiterunion neben kleinen Handwerkern und Arbeitern (beispielsweise in einer Teemanufaktur) auch Händler, ehemalige Amtsträger (amaldār), ehemalige Dolmetscher, sogar ›Bajs‹ und ›Vertreter der Geistlichkeit‹. Und an ihrer Spitze standen daher auch keine einfachen Arbeiter, sondern adlige Gelehrte. M. ­Urunchodžaev: Samarkandskaja partijnaja organizacija v avangarde boev s vragami revoljucii. In: A. I. Zevelev (Hrsg): Za sovetskij Turkestan. Sbornik vospominanij. Taschkent 1963, S. 187 – 192, hier S. 187 f.; siehe auch Hurrijat 28, 4. August 1917. In: PORvUz 1 (wie Anm. 24), S.203 f. 42 Hurrijat 33, 25. August 1917. In: PORvUz 1 (wie Anm. 24), S. 239. 43 Die Taschkenter Sowjetregierung wurde von beiden Parteien getragen. Sie vereinten sich im März 1919 zur Kommunistischen Partei Turkestans. Siehe dazu und zu den Spezifika dieser Parteien in Turkestan Fedtke: Orient (wie Anm. 31), S. 123 – 139.

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den Zugang zu Arbeit und Getreide erleichtern und vor den ständig drohenden Konfiskationen schützen. So soll der Muslimkommunist Ismail Gabitov als Regierungsmitglied in Taschkent Mitglieder für muslimische Gewerkschaften mit Getreidezuteilungen geworben haben.44 Dieser Mechanismus spielte auch für den Zusammenhalt der europäischen Revolutionäre eine große Rolle.45 Muslime bildeten aber auch unabhängig von den existierenden Parteien der europäischen Revolutionäre eigene Parteiorganisationen. Diese eigenständigen Gründungen von muslimischen Organisationen, die ›bolschewistisch‹ oder ›kommunistisch‹ im Namen trugen, können seit Juni 1918 belegt werden. So entstand in der Taschkenter Altstadt eine »muslimische bolschewistische Partei« (musulmān balševik firqasi). Ein deutliches Indiz für die Eigenständigkeit dieser Gruppierung ist der Umstand, dass die Taschkenter europäischen Bolschewiki sie nicht als Teil ihrer Parteiorganisation anerkannten.46 Vergleichbare Gründungen gab es auch in anderen Städten Turkestans. Einige dieser einheimischen Organisationen erreichten in kurzer Zeit große Mitgliederzahlen. Diese kamen oft dadurch zustande, dass sich vorhandene Solidargemeinschaften geschlossen als Parteiorganisation formierten. So wurde aus der Samarkander Arbeiterunion zugleich die Samarkander altstädtische kommunistische Partei.47 Die Gründung zahlreicher bolschewistischer und kommunistischer Organisationen in Turkestan war eine Bewegung ›von unten‹, die auf Eigeninitiative erfolgte. Die Gründer dieser Organisationen nahmen die Bezeichnung der neuen Herrscher Russlands auf und gaben sich dieselbe Bezeichnung. Damit 44 Naša Gazeta, Taschkent, Nr. 63, 2. 4. 1918. 45 Bericht von Kazakov, Sorokin und Temljancev an die Turkkomissija 1919. In: RGASPI, f. 17, op. 84, d. 27, l. 21. – Zusammenfassung der Berichte einer gemeinsamen Sitzung von Vertretern des Exekutivkomitees, Parteikomitees und städtischen Muslimbüros von Andijon vom 17. November 1919. In: RGASPI, f. 122, op. 1, d. 29, l. 5ob. 46 Mingnorov: Turkistonda (wie Anm. 23), S. 23. Antropov: Materialy 1. s’’ezda (wie Anm. 34), S. 13; Naša Gazeta, Taschkent, Nr. 119, 15. Juni 1918. – Noch im Oktober existierte die ›muslimische bolschewistische Partei‹ in der Altstadt eigenständig. Siehe Khalid: Uzbekistan (wie Anm. 21), S. 109. 47 Ein anderes Beispiel für eine ­solche Gründung ist die ›Gesellschaft der muslimischen kommunistischen Werktätigen‹ (musulmān zehmatkaš-­ištirākijun ğamijati) im Bezirk Bog’ishamol der Stadt Samarkand, die ebenfalls im Juni 1918 in der Zeitung Arbeiter lest (mehnatkašlar āqi) von 1655 Mitgliedern berichtete. Siehe PORvUz 2 (wie Anm. 38), S. 324. – In Taschkent soll die Zahl der Kommunisten in der Altstadt bis Ende 1918 auf 900 gestiegen sein, in Chudschand innerhalb eines halben Jahres von 20 auf 1000. Die Anzahl der muslimischen Kommunisten Samarkands bezifferte deren Vertreter auf dem zweiten Parteitag der KPT im Dezember 1918 auf »eine gewaltige Menge«. Siehe Antropov: Materialy 2. s’’ezda (wie Anm. 2), S. 7. Eine Erforschung dieser frühen Organisationen steht noch aus. Alle Zahlenangaben sind mit Vorsicht zu betrachten.

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demonstrierten sie auf ihrer lokalen Ebene Anspruch auf Teilhabe an der politischen Führung im neu entstehenden Staatswesen. Sie eigneten sich die Begriffe Arbeiter, Arme und Kommunisten als Selbstbezeichnungen an und füllten sie mit ihren Inhalten. Auf diese Weise entfaltete der Begriff Kommunist als Selbstbezeichnung muslimischer Akteure eine enorme Eigendynamik – die Zahl der Organisationen, die sich als kommunistisch bezeichneten, stieg in den Jahren 1918 bis 1920 rapide an. Muslimkommunisten behielten die Bezeichnung selbst dann bei, wenn sie mit der zentralen Sowjetmacht brachen. Viele der muslimischen Kommunisten zeigten sich seit dem Winter 1919 von ihren Namenspatronen enttäuscht, als sie gewahr wurden, dass die Vorstellungen über die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts nicht identisch waren. Sie traten aber weiterhin für das Ziel der sozialen Revolution als Kommunisten ein. So berichtete 1921 der Sondergesandte Lenins in Turkestan, Adol’f Abramovič Ioffe, dass es für ihn schwer sei, eine Grenze ­zwischen Kommunisten und Basmatschi zu ziehen. Er erlebe es als charakteristisch, dass in vielen Basmatschi-­Verbänden eigene kommunistische Parteizellen existierten. Colin Ross, der 1922 Turkestan bereiste, erfuhr, dass viele Basmatschi sich als »die wahren Kommunisten [bezeichneten], die das Land dem Volke übergeben wollen«.48 Die Bezeichnung Kommunist hatte sich von ihren Trägern im Zentrum emanzipiert.

2. Revolution im Orient? 1919 schrieben die muslimischen Kommunisten Turkestans von einem »revolutionären Brand« im gesamten Orient. Sie formulierten einen Aufruf: An das revolutionäre Proletariat des Orients – der Türkei, Indiens, Persiens, Afghanistans, ­Chivas, Bucharas und Chinas. An alle, alle, alle: Wir, die […] Muslimkommunisten Turkestans, senden Euch unsere brüderlichen Grüße, wir, die Freien, Euch, den Unterdrückten. […] Wir hoffen, bald mit Euch Schulter an Schulter in den Kampf gegen das weltweite kapitalistische Joch zu ziehen, das im Orient die Gestalt der englischen Unterdrückung der einheimischen Völker angekommen hat.49

48 Bericht von Joffe 18. September 1921. In: RGASPI, f. 5, op. 1, d. 2156, l. 19; Colin Ross: Der Weg nach Osten. Reise durch Rußland, Ukraine, Transkaukasien, Persien, Buchara und Turkestan. Leipzig 1923, S. 274. – Als Basmatschi wurden bewaffnete Gruppierungen bezeichnet, die die Sowjetherrschaft nicht anerkannten. 49 Musbjuro R. K. P.(b) v Turkestane. 1, 2 i 3 Turkestanskie Kraevye Konferencii R. K. P., 1919 – 1920 gg. Taschkent 1922, S. 12.

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Seit dem Beginn des E ­ rsten Weltkriegs hatte der Druck extrem zugenommen, den sowohl das Britische Empire als auch das Zarenreich auf das Osmanische Reich, Persien und Afghanistan ausübten. Das Osmanische Reich war selbst Kriegspartei; die britische und russische Besatzung persischen Gebiets – als Operationsbasis für Feldzüge gegen das Osmanische Reich – führte zu Hungersnöten, denen über 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Die 1918 begonnene britische Kampagne in Mesopotamien führte zu einer starken Zunahme der antibritischen Stimmung in Persien und in der arabischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs.50 Die Bolschewiki hingegen entsagten bereits 1917 den Expansionsambitionen des Zarenreichs und machten die 1915 geschlossenen britisch-­russischen Geheimabkommen über die Aufteilung des Osmanischen Reiches und Irans öffentlich. Damit boten sie sich als Verbündete gegen das Britische Empire an, von dem sie nunmehr selbst durch die Einsätze der britischen Interventionstruppen bedroht waren. Die für das Zarenreich bereits beschriebene muslimische Modernisierungsbewegung hatte auch in Afghanistan, Persien und dem Osmanischen Reich ihre Protagonisten – es handelte sich um eine länderübergreifende Bewegung, deren Akteure miteinander vernetzt waren. Anders als im Russischen Reich und dessen Protektoraten Buchara und Chiva hatten in den drei genannten Ländern bereits vor dem E ­ rsten Weltkrieg progressistisch eingestellte Regierungen die Modernisierung ihrer Staaten und Gesellschaften auf ihre politische Agenda gesetzt: die Jungtürken im Osmanischen Reich, die Protagonisten der Konstitutionellen Revolution in Persien und die Jungafghanen um Mahmud Tarzi und Emir Habibullah in Afghanistan. Diese Ausrichtung behielten die Politiker bei, die nach dem Ende des E ­ rsten Weltkriegs an die Macht gelangten: Atatürk im das Osmanische Reich beerbenden türkischen Nationalstaat, Reza Shah in Persien sowie Amanullah Khan in Afghanistan. Wie im russischen Zentralasien führten diese Modernisierungsbestrebungen zu internen Konflikten mit Traditionalisten. Das Kräfteverhältnis ­zwischen Progressisten und Traditionalisten war aber allein deshalb ein anderes, weil sich die Progressisten in Afghanistan, Iran und im Osmanischen Reich selbst an der Macht befanden. Diese Modernisierer formierten sich als nationale Bewegungen. Die Dynamik der Revolution in Russland, die Progressisten dort zu Kommunisten werden ließ, hatte für sie keine Bedeutung. 50 Zum Mesopotamienfeldzug und seinen Auswirkungen siehe Isaiah Friedman: British Miscalculations. The Rise of Muslim Nationalism, 1918 – 1925. New Brunswick 2012, S. 129 – 182. – Zu der Besatzung Persiens siehe Cyrus Ghani: Iran and the Rise of Reza Shah. London 2002, S. 16 – 18 mit weiteren Literaturverweisen.

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Abb. 2  Zum vierten Jahrestag der Revolution brachte ein bucharisches Satirejournal d ­ ieses Bild mit dem Text: »Als in Buchara die Sonne der Revolution aufging, wurden die despotischen Fledermäuse vertrieben, die das Licht nicht ertragen konnten.« Im Zentrum steht das Licht des Fortschritts, das die Traditionalisten vertreibt. Die aufgehende Sonne war ein weitverbreitetes Symbol der Revolution, ebenso die Rote Fahne und der fünfzackige rote Stern. Lediglich Hammer und Sichel sind eindeutig dem Sowjetstaat zuzuordnen.

Besonders deutlich wird dies an einem Vergleich mit Buchara und Chiva, die 1920 durch die Rote Armee erobert und dem Sowjetimperium ›einverleibt‹ wurden. Diejenigen unter Bucharas Progressisten, die wie Fajzulla Chodžaev Kommunisten geworden waren, gelangten nun an die Regierung der neu gebildeten Volksrepublik Buchara. Sie feierten d­ ieses Ereignis als ›große Revolution‹. Ohne die Bajonette der Rotarmisten hätten sie allerdings gegen den Emir und die Traditionalisten keine Chance gehabt. Der Emir wiederum hatte sich zwar um britische Unterstützung bemüht, sie aber in keinem nennenswerten Umfang erhalten. Der Entwicklung im Russischen Reich am nächsten kommt die Sowjetrepublik Gilan, die von Frühsommer 1920 bis Spätsommer 1921 existierte. Sie entstand unter den konkreten Umständen kriegerischer Auseinandersetzungen der Bolschewiki

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mit Truppen, die sich zu Denikin bekannten und von der Stadt Rescht in Gilan aus operierten. Dieses russische Engagement traf auf eine sehr komplexe regionale Situation mit vielen Konfliktparteien, darunter Traditionalisten und in der sogenannten Dschangali-­Bewegung organisierten Progressisten (Konstitutionalisten). Einige der Dschangali-­Aktivisten entschieden sich für ein Bündnis mit den Bolschewiki, bildeten eine sozialistische Partei und riefen die Sowjetrepublik Gilan aus. Diese Entwicklung gleicht insofern der turkestanischen, als der Hauptgrund für die Entscheidung der Gilaner Progressisten für die Zusammenarbeit mit den Bolschewiki die Suche nach Bündnispartnern gegen Traditionalisten war. Anders als die sowjetische Zentralgewalt für Turkestans Muslimkommunisten war die persische Zentralgewalt jedoch kein geeigneter Verbündeter – bei grundsätzlicher Übereinstimmung im Ziel einer Modernisierung Persiens stand die Dschangali-­ Bewegung eher in Opposition zu den in dieser Zeit häufig wechselnden persischen Zentralregierungen. Ebenfalls anders als in Turkestan besetzten britische Truppen gegen Ende des Jahres 1918 die Provinz Gilan zu großen Teilen. Die traditionalistischen Kräfte in Gilan suchten die Nähe zur britischen Besatzungsmacht. Gilaner Progressisten hatten somit zwei wichtige machtpolitische Gründe, die Zusammenarbeit mit Sowjetrussland zu suchen. Die Sowjetrepublik Gilan endete gleichzeitig mit dem Abzug sowjetischer Streitkräfte.51 Eine vergleichbare Episode ereignete sich weder in Afghanistan noch in dem zerfallenden Osmanischen Reich. Die zentrale Sowjetführung war sehr darauf bedacht, die sowjetischen Beziehungen zu ihren südlichen Nachbarländern im Bund gegen das britische Empire zu kontrollieren. Kurz nach seiner Machtübernahme in Afghanistan knüpfte Amanullah Khan im April 1919 diplomatische Beziehungen mit Sowjetrussland. Afghanistan wurde so das erste Land der Welt, das die Sowjetregierung anerkannte, während es sich zugleich im Dritten Anglo-­ Afghanischen Krieg die Unabhängigkeit von britischer Einflussnahme erkämpfte.52 Alle Versuche der muslimischen Kommunisten Turkestans, eigene Außenbeziehungen zu Afghanistan zu etablieren, wurden vom sowjetischen Außenkommissar Čičerin unterbunden. Den von den Muslimkommunisten angekündigten gemeinsamen Kampf gab es daher nicht – das junge Sowjetrussland betrieb in 51 Pezhmann Dailami: Jangali Movement. In: EI Vol. XIV, Fasc. 5, S. 534 – 544. Abgerufen unter URL : http://www.iranicaonline.org/articles/jangali-­movement, letzter Zugriff: 16. 07. 2017 mit weiteren Literaturverweisen; Vladimir Genis: Krasnaja Persia. Bol’ševiki v Gilane. Moskau 2000; Cosroe Chaqueri: The Soviet Socialist Republic of Iran, 1920 – 1921: Birth of the Trauma. Pittsburgh 1995. 52 Zum Dritten Anglo-­Afghanischen Krieg siehe Michael Barthorp: Afghan Wars and the North-­West Frontier 1839 – 1947. London 2002. – Zu den britisch-­afghanischen ­Beziehungen siehe Jon Jacobson: When the Soviet Union Entered World Politics. Berkeley 1994, S. 68 – 72.

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Zentralasien eine klassische Bündnispolitik, zu der eine Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der Bündnispartner gehörte. Exilanten aus Persien und dem Osmanischen Reich waren zwar in Turkestan als Kommunisten aktiv, in ihren Heimatländern aber nicht erfolgreich. Die Sowjet­ regierung unterstützte sie nicht. Eine für Dezember 1919 dokumentierte ›Persische Regierung in Turkestan‹ hinterließ keine weiteren Spuren in der persischen Geschichte. Eine erste kommunistische Partei der Türkei wurde im September 1920 in Baku unter sowjetischer Protektion gegründet. Ihre Protagonisten wie Mustafa Suphi waren in Russland oder Europa zu Kommunisten geworden – Suphi gehörte zuvor eine Zeit lang der muslimkommunistischen Führung Turkestans an. Im Januar 1921 wurden diese türkischen Kommunisten bei Trabzon ermordet. Eine türkische KP existierte danach zwar in der Illegalität, blieb aber bedeutungslos. Persien und Sowjetrussland schlossen wenige Tage nach dem Staatsstreich Reza Khans im Februar 1921 einen Vertrag mit klarer antibritischer Stoßrichtung. Bereits im März 1921 folgte ein Vertrag ­zwischen dem neuen türkischen Nationalstaat und der Sowjetregierung; die erste internationale Anerkennung für die kemalistische Regierung Atatürks. Gute Beziehungen zu all diesen Staaten in gemeinsamer Frontstellung gegen das Britische Empire waren der sowjetischen Zentralregierung wichtiger als die Unterstützung marginaler kommunistischer Bewegungen.

3. Fazit Für die muslimischen Progressisten war die Oktoberrevolution weder Verheißung noch Bedrohung, denn in der Auseinandersetzung um die Modernisierung der muslimischen Gesellschaften war sie kein zentrales Ereignis. Sie bedeutete nur eine Veränderung der Rahmenbedingungen des Konflikts ­zwischen Progressisten und Traditionalisten einerseits und mit dem Britischen Empire andererseits. Diese Veränderung bestand darin, dass erstmals eine russische Zentralregierung das Modernisierungsinteresse der Progressisten grundsätzlich teilte und sich antikolonialistisch aufstellte. Damit eröffnete sie ihnen neue Chancen. Die Veränderung der politischen Koordinaten beinhaltete allerdings zugleich Risiken, weil der Charakter der Modernisierungsvision noch unklar war und die Kontinuität der russisch-­britischen Konfrontation potenziell auch die Kontinuität russischer Großmachinteressen beinhaltete. Aus Perspektive der Progressisten in Turkestan und der südlich angrenzenden Staaten erschienen die Chancen während der Revolutionszeit und in den frühen 1920er Jahren größer als die Risiken. Turkestans Muslimen gelang es mit

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Unterstützung der sowjetischen Zentralregierung in den Jahren 1918 bis 1920, einen allmählich steigenden Einfluss in der Turkestanischen Sowjetregierung zu erringen. Nach 1920 konnten muslimische Kommunisten tatsächlich zumindest einige ihrer Anliegen realisieren. Zentralasien wurde unter sowjetischer Herrschaft modernisiert – Methoden und Auswirkungen dieser Modernisierung sind zu komplex für eine knappe eindeutige Bewertung. Ubajdulla Chodžaev, einem der politisch aktivsten Progressisten der Revolutionsjahre, wird folgende im Jahr 1937 gezogene Bilanz zugeschrieben: »[E]r freute sich in Gesprächen mit seinem Neffen Ch. Muchamedchanov aufrichtig über die Veränderungen im Leben des usbekischen Volkes und sagte, dass sie, die Dschadiden, immer danach gestrebt hätten, wenn auch auf einem anderen Weg – er sagte nicht, auf welchem«.53 Die Risiken des Bündnisses mit den Bolschewiki musste Ubajdulla Chodžaev am eigenen Leibe erfahren: Ab 1920 wurde er als Konterrevolutionär verfolgt, durchlitt wiederholt Arbeitslager und Verbannungen und wurde schließlich 1938 hingerichtet – im selben Jahr wie Fajzulla Chodžaev. Die Rolle, die die muslimischen Progressisten zu Beginn der Sowjetherrschaft gespielt hatten, passte nicht in die offizielle Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und wurde nach anfänglicher Würdigung aus der offiziellen Revolutionsgeschichtsschreibung getilgt. Dieser Prozess begann ausgerechnet 1926, dem Jahr, in dem Behbudī durch die Umbenennung der Stadt Qarshi geehrt wurde, mit der Denunzierung der Dschadiden insgesamt als konterrevolutionäre Bewegung durch die KP Usbekistans.54 Auch für die Nachbarländer bewahrheiteten sich Risiken: Klauseln des persisch-­sowjetischen Vertrages von 1921 eröffneten der Sowjetunion 1941 die Möglichkeit eines Einmarschs in Iran. Und die Menschen Afghanistans leiden bis heute – bei weitem nicht ausschließlich, aber auch – an den Spätfolgen sowjetischen Großmachstrebens.

53 Chamdam Sadykov: Ubajdulla Chodžaev. Štrichi k političeskomu portretu. In: Čelovek i Politika 11 (1991), S. 75 – 82, hier S. 82. 54 Khalid: Uzbekistan (wie Anm 22), S. 320 – 324.

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Autorinnen und Autoren

Bayerlein, Bernhard, Dr. phil. habil.; geb. 1949 in Wiesbaden, Studium der Romanistik und der Geschichtswissenschaft in Mainz, München, Heidelberg, Coimbra, Toulouse und Bochum. M. A. und Dr. phil., Ruhr-­Universität Bochum; Habilitation à diriger des recherches, Université de Bourgogne, Dijon, Frankreich. Senior Researcher am Institut für Soziale Bewegungen, Ruhr-­Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Transnationale und europäische Geschichte der Zwischenkriegszeit; Vergleichende Sozialismus- und Kommunismusforschung; Politische, soziale und kulturelle Bewegungen: Deutsch-­Französische und Deutsch-­Russische Beziehungen; Portugiesische und Spanische Studien. Transnationale Forschungsprojekte, Gastprofessuren und Dozenturen an den Universitäten Mannheim, Dijon, Guadalajara (México), Lausanne, São Paulo u. a. langjähriger Mitarbeiter der Deutsch-­Russischen Historikerkommission (Berlin/Moskau), Initiator und Mitglied des International Committee for the Computerization of the ­Comintern Archives (Strasbourg/Moskau, Council of Europe). Hrsg. von The International Newsletter of Communist Studies; Jahrbuch für historische Kommunismusforschung. Aktuelles Forschungsprojekt Ursprung, Blüte und Dilemma der europäischen Bewegung: Willi Münzenbergs Pariser Wochenzeitung Die Zukunft und die Deutsch-­ Französische Union 1938 – 1940. Publikationen (Auswahl): The Entangled Catastrophe: Hitler’s 1933 ›Seizure of Power‹ and the Power Triangle – New Evidence on the Historic Failure of the KPD, the Comintern, and the Soviet Union. In: Ralf Hofrogge/­Norman Laporte (Hrsg.): Weimar Communism as Mass Movement 1918 – 1933. London 2017; Willi Münzenberg’s ›Last Empire‹. Die Zukunft and the Franco-­German Union 1938 – 1940. New Visions of Anti-­Fascism. In: Moving the Social 58 (2017), S. 51 – 79; (Hrsg.) u. a.: Deutschland-­Russland-­Komintern. 3 Bde. Berlin/Boston 2013 – 2015; »Der Verräter, Stalin, bist Du!«. Der Stalin-­Hitler-­Pakt und das Ende der Linken Solidarität. Berlin/Moskau 2008; Deutscher Oktober 1923. Berlin 2004; (Hrsg.): Les Archives de Jules Humbert-­Droz. 3 Bde. Dordrecht u. a. 1983 – 2001; Die Dimitroff-­Tagebücher. 2 Bde. Berlin 2000. Brüggemann, Karsten, Prof. Dr. phil.; geb. 1965 in Hamburg, Professor für estnische und allgemeine Geschichte am Institut für Geisteswissenschaften der Universität Tallinn und zweiter Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission; Studium der mittleren und neueren Geschichte sowie der Ostslawistik in Hamburg und Leningrad; Promotion 1999 in Hamburg; Habilitation 2013

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an der Justus-­Liebig-­Universität Gießen; von 1998 bis 2001 und 2006 bis 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Nordostdeutsches Kulturwerk bzw. Nordost-­Institut Lüneburg, zuletzt im Rahmen einer von der DFG geförderten Projektstelle; von 2002 bis 2005 Gastlektor und Dozent für Geschichte am Narva-­Kolleg der Universität Tartu in Estland. Publikationen (Auswahl): (Hrsg.) zusammen mit Ralph ­Tuchtenhagen u. a.: Das Baltikum. Eine europäische Region, Bd. 1 – 3. Stuttgart 2018 – 2020; zusammen mit Norbert Angermann: Geschichte der baltischen Länder. Stuttgart 2018; Licht und Luft des Imperiums. Legitimations- und Repräsentationsstrategien russischer Herrschaft an der Ostseeküste im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Nordost-­Instituts, 21). Wiesbaden 2018; zusammen mit Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Eine Kleine Geschichte. Köln/Weimar/Wien 2011; Die Gründung der Republik Estland und das Ende des ›Einen und Unteilbaren Rußland‹ (Forschungen zum Ostseeraum, 6). Wiesbaden 2002; Von Krieg zu Krieg, von Sieg zu Sieg. Motive des sowjetischen Mythos im Massenlied der 1930er Jahre (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 9). Hamburg 2002; seit 2006 gemeinsam mit Mati Laur Hrsg. der Zeitschrift Forschungen zur baltischen Geschichte. Dreyer, Michael, Prof. Dr. phil.; geb. 1959 in Timmendorfer Strand, Studium der Politischen Wissenschaft, der Geschichte und Volkskunde in Kiel und Lexington KY (USA), 1986 Promotion an der Christian-­Albrechts-­Universität zu Kiel mit einer Arbeit über die deutsche Föderalismus-­Theorie im 19. Jahrhundert, 1994 – 2002 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes-­Gutenberg-­Universität in Mainz und an der Friedrich-­Schiller-­ Universität Jena, 2002 Habilitation an der FSU Jena mit einer biografischen Arbeit zu Hugo Preuß, 2002 – 2005 DAAD-Professor an der Northwestern University, Evanston, IL (USA ), seit 2005 Professor für Politische Th ­ eorie und Ideengeschichte an der FSU Jena, seit 2016 Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena, Vorsitzender des Vereins Weimarer Republik e. V.; Forschungsschwerpunkte: Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Deutschland, USA), Verfassungsordnung, politische Th ­ eorie und internationale Wirkung der Weimarer Republik, Politisches System der USA, Minderheiten und Politische ­Theorie, Föderalismus, ­Theorie der Revolution. Publikationen (Auswahl): (Hrsg.) zusammen mit Andreas Braune: Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort (Weimarer Schriften zur Republik, 6). Stuttgart 2019; Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten (Weimarer Schriften zur Republik, 4). Stuttgart 2018; (Hrsg.) zusammen mit Markus Kaim und Markus Lang:

Autorinnen und Autoren  |

Amerikaforschung in Deutschland. Th ­ emen und Institutionen der Politikwissenschaft nach 1945. Stuttgart 2004. Fedtke, Gero, Dr. phil.; geb. 1970 in Leverkusen, Studium der osteuropäischen Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaften in Köln, Bonn und Wolgograd; Promotion an der Universität Jena; seit 2004 Projektkoodinator bei WECF; seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-­Dora; seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Jena. Publikationen (Auswahl): Roter Orient. Muslimkommunisten und Bolschewiki in Turkestan (1919 – 1925). Köln/Weimar/Wien 2019. Als Übersetzer (mit Lena Gorelik): Lena Muchina: Lenas Tagebuch. München 2013. Ganzenmüller, Jörg, Prof. Dr. phil.; geb. 1969 in Augsburg, Studium der Neue­ ren und Neuesten Geschichte, Osteuropäischen Geschichte und Wissenschaftlichen Politik an der Albert-­Ludwigs-­Universität in Freiburg; 2000 – 2001 und 2002 – 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg; 2003 Promotion an der Universität Freiburg mit einer Studie zum belagerten Leningrad; 2004 – 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena; 2008 – 2009 Stipendiat des Historischen Kollegs in München; 2010 Habilitation an der Universität Jena mit einer Studie zum polnischen Adel in den westlichen Provinzen des russischen Zarenreichs; 2010 – 2014 Vertreter des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena; seit 2014 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar, seit 2017 zudem Inhaber der Professur für Europäischen Diktaturenvergleich am Historischen Institut der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Publikationen (Auswahl): (Hrsg.): Europas vergessene Diktaturen? Diktatur und Diktaturüberwindung in Spanien, Portugal und Griechenland (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 24). Köln/Weimar/Wien 2018; (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 23). Köln/Weimar/ Wien 2017; Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850). Köln/Weimar/ Wien 2013 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 46); Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (Krieg in der Geschichte, 22). Paderborn u. a. 2005, 2., durchges. Auflage 2007. Koenen, Gerd, Dr. phil., geb. 1944; Studium der Geschichte und Politikwissenschaften in Tübingen und Frankfurt. In den 1970er Jahren zeitweise Aktivist einer

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neokommunistischen Organisation und Redakteur des Zentralorgans. In den 1980er Jahren freier Autor für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten und Redakteur des Frankfurter Stadtmagazins PflasterStrand. In den 1990er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt der West-­östlichen Spiegelungen von Lew Kopelew zur Geschichte der deutsch-­russischen Fremdenbilder. Zwischen 2008 und 2010 Senior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS); 2015/16 Fellow des Imre-­Kertesz-­Kollegs in Jena. Gerd Koenen lebt als Historiker und Schriftsteller in Frankfurt am Main. Publikationen (Auswahl): Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München 2017; Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara Projekt. Köln 2008; Der Russland-­Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945. München 2005 (ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung 2007); Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 – 1977. Köln 2001; Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Berlin 1998; (Hrsg.) zusammen mit Lew Kopelew: Deutschland und die russische Revolution 1917 – 1924. München 1998. Kroll, Thomas, Prof. Dr. phil.; geb. 1965 in Herford, Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Bielefeld, Köln, Florenz und Düsseldorf; Promotion 1997 in Düsseldorf; Habilitation 2005 in Gießen; 1998 – 2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom; 2001 Stipendiat am Deutschen Historischen Institut in Paris: 2001 – 2003 Wiss. Mitarbeiter an der Universität Salzburg; 2004 – 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen; 2006/2007 Mitglied des Institute for Advanded Study in Princeton N. J.; seit 2007 Professor für Westeuropäische Geschichte an der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena. Publikationen (Auswahl): (Hrsg.) zusammen mit Friedrich Lenger und Michael Schellenberger: Werner Sombart. Briefe eines Intellektuellen, 1886 – 1937. Berlin 2019; Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945 – 1956), 2. Auflage. Köln 2009; Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento. Tübingen 1999. Müller-­Saini, Gotelind, Prof. Dr. phil.; geb. 1963 in Neustadt/Weinstr., Studium der Sinologie, Japanologie und Völkerkunde an den Universitäten Freiburg, Fu-­Jen (Taipei), München (LMU ). Zusatzstudien des klassischen Tibetisch und des Sanskrit an der Universität Bonn. Magister Artium 1988 und Promotion 1992 in München, Habilitation 2002 in Freiburg. Seit 2004 Professorin für Sinologie an der Universität Heidelberg. Gastprofessuren und zahlreiche

Autorinnen und Autoren  |

Forschungsaufenthalte in der VR China, Japan und Taiwan. Forschungsschwerpunkte u. a.: chinesisch-­japanisch-­westliche kulturelle Austauschbeziehungen; neuere chinesische Geschichte und Geistesgeschichte; Geschichtserziehung und Geschichtsbilder in Chinas Medien. Derzeit Leiterin eines deutsch-­russischen Projekts zu chinesischen Wahrnehmungen Russlands und des Westens während des 20. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): Documentary, World History, and National Power in the PRC. Global Rise in Chinese Eyes (Chinese Worlds, 32). London/New York 2013; (Hrsg.): Designing History in East Asian Textbooks. Identity Politics and Transnational Aspirations (Routledge Studies in Education and Society in Asia, 1). London/New York 2011; Representing History in Chinese Media: The TV Drama »Zou Xiang Gonghe« (Towards the Republic) (LIT Studies on Asia, 1). Berlin 2007; China, Kropotkin und der Anarchismus: Eine Kulturbewegung im China des frühen 20. Jahrhunderts unter dem Einfluß des Westens und japanischer Vorbilder (Freiburger Fernöstliche Forschungen, 5). Wiesbaden 2001; Buddhismus und Moderne: Ouyang Jingwu, Taixu und das Ringen um ein zeitgemäßes Selbstverständnis im chinesischen Buddhismus des frühen 20. Jahrhunderts (Münchener Ostasiatische Studien, 63). Stuttgart 1993. Oberloskamp, Eva, Dr. phil.; geb. 1978 in Bonn, Studium der Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Osteuropastudien in Tübingen, Bielefeld, St. Petersburg, Paris und Warschau; Promotion 2008 an der Ludwig-­Maximilians-­Universität München und der Université Paris IV – Sorbonne (Cotutelle); seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München-­Berlin; Forschungsschwerpunkte: Intellektuellengeschichte, Geschichte der europäischen Integration; Geschichte der Terrorismusbekämpfung und Inneren Sicherheit; Energie- und Umweltgeschichte. Publikationen (Auswahl): Towards the German ›Energiewende‹: Ecological Problems and Scientific Expertise in West German Energy Policies during the 1970s and 1980s. In: Frank Trentmann/Anna Barbara Sum/Manuel Rivera (Hrsg.): Work in Progress. Economy and Environment in the Hands of Experts. München 2018, S. 233 – 261; Codename TREVI. Terrorismusbekämpfung und die Anfänge einer europäischen Innenpolitik in den 1970er Jahren. Berlin/ Boston 2017; The European TREVI Conference in the 1970s: Transgovernmental Policy Coordination in the Area of Internal Security. In: Journal of European Integration History 22 (2016), S. 29 – 45; Das Olympia-­Attentat 1972. Politische Lernprozesse im Umgang mit dem transnationalen Terrorismus. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 321 – 352; Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917 – 1939. München 2011.

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|  Autorinnen und Autoren

Pufelska, Agnieszka, PD Dr. phil., Studium der Germanistik, Geschichte und Kultur­wissenschaften. Dissertation 2005 mit der Arbeit Die ›Judäo-­Kommune‹ – ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939 – 1948; Habilitation 2015 mit der Arbeit Der bessere Nachbar? Das polnische Preußenbild in der Zeit der Aufklärung. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-­Institut an der Universität Hamburg in Lüneburg; Hauptforschungsinteressen: Geschichte der deutsch-­polnischen Beziehungen; jüdische Kulturgeschichte; ­Theorie und Methoden der Kulturgeschichtsschreibung; preußische Geschichte und Historiografie. Publikationen (Auswahl): (Hrsg) zusammen mit Hildegard Frübis und Clara Oberle: Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis. Wien/Köln/Weimar 2019; Der bessere Nachbar? Das polnische Preußenbild z­ wischen Politik und Kulturtransfer (1765 – 1795). Berlin 2017; Vernunft jenseits der Vernunft. Zur Judenfeindschaft in der Zeit der Aufklärung. In: Hans-­Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft: Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944. Berlin/München/Boston, Mass. 2015, S. 27 – 46; (Hrsg.) zusammen mit Claudia Globisch und Volker Weiss: Die Dynamik der europäischen Rechten: Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden 2010; Die »Judäo-­ Kommune«: ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939 – 1948. Paderborn/München/Wien/Zürich 2007. Richers, Julia, Prof. Dr. phil.; geb. 1975 in Basel, Studium der Osteuropäischen Geschichte und Anglistik an den Universitäten Budapest und Basel; 2005 Promotion sowie 2013 Habilitation an der Universität Basel; 2013 – 2014 Dozentur für Geschichte Osteuropas; seit 2015 ordentliche Professorin für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte an der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Russlands, der Sowjetunion und des Kalten Krieges, Geschichte Ungarns und des Karpatenraumes, Geschichte revolutionärer Bewegungen; jüdische Geschichte Osteuropas. Publikationen (Auswahl): Der Vorwurf des »Judeo-­Bolschewismus« und die Folgen der Räterepublik für die jüdische Gemeinschaft in Ungarn. In: ­Christian Koller/Matthias Marschik (Hrsg.): Die ungarische Räterepublik 1919: Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen. Wien 2018, S. 155 – 166; Die Schweiz als Zufluchtsort und Wegbereiterin der Revolution. In: Deutsches Historisches Museum/Schweizerisches Nationalmuseum (Hrsg.): 1917 Revolution. Russland und die Folgen. Berlin 2017, S. 69 – 81; (Hrsg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe. Zürich 2015 (mit Bernard Degen); Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer

Autorinnen und Autoren  |

Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert (Lebenswelten osteuropäischer Juden, 12). Köln/Weimar/Wien 2009; (Hrsg.): Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933 – 1945. Basel 2008 (mit Heiko Haumann, Erik Petry). Woller, Hans, Dr. phil.; geb. 1952 in Aldersbach (Niederbayern), Studium der Bayerischen Geschichte, der Neueren Geschichte, der Germanistik und der Politologie in München, Promotion 1979; von 1979 bis 2017 Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München; 1985 bis 1988 Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom; 1994 bis 2015 Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Publikationen (Auswahl): Gerd Müller. Größer als ein Leben. Geschichte eines Fußballgenies. München 2019; Mussolini. Der erste Faschist. München 2016; Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. München 2010; Rom, 28. Oktober 1922: Die faschistische Herausforderung. München 1999; Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948. München 1996; Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth. München 1986.

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Abbildungsverzeichnis

Koenen: Ein Zeitalter wird besichtigt Abb. 1 © OSTEUROPA Oberloskamp: Nachrichten aus einem gelobten Land? Abb. 1 © Wikimedia Commons, lizensiert unter der Creative-­Commons-­Lizenz ›Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland‹, Quelle: ANNO /ÖNB , Sennacieca Revuo, oktobro 1923 Abb. 2 © Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Signatur: WBA 1502, Foto: ­Studio Joël-­Heinzelmann Abb. 3 © Schweizerisches Literaturarchiv (SLA). Nachlass Annemarie Schwarzenbach. Signatur: SLA-Schwarzenbach-­A-5 – 08/262; Wikimedia Commons Brüggemann: Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolschewismus? Abb. 1 © Bundesarchiv, Bild 119 – 1930 – 01/Fotograf ohne Angabe Pufelska: Stabile Feindbilder gegen die instabile Zeit Abb. 1 © Wikimedia Commons, Quelle: https://www.marxists.org/archive/trotsky/photo/t1919b. htm, letzter Zugriff: 10. 05. 2019 Abb. 2 Quelle: Deutsche Nationalbibliothek/Rechtsnachfolger des Verlags unbekannt Woller: Toxische Fernwirkungen Abb. 1 © ullstein bild – Roger-­Viollet Richers: Revolution und Gegenrevolution Abb. 1 Quelle: Universitätsbibliothek Bern/Rechtsnachfolger des Verlags unbekannt Müller: Vorbild Russland? Abb. 1 © Gotelind Müller-­Saini Fedtke: Zentralasiens Muslimkommunisten und die Revolution im Orient Abb. 1 © Fajzulla Chodžaev: K istorii revoljcii v Buchare, Taschkent 1926, S. 6 – 7. Abb. 2 © MAŠRAB, 8. September 1924, Titelseite. Mit freundlicher Genehmigung von Adeeb Khalid

Personenregister

A Aksel’rod, Pavel  155 Alexandre, Michel  161 Atatürk, Mustafa Kemal  22, 265, 268

B Barbusse, Henri  162, 170 Barthel, Max  90, 94 Bauer, Otto  206 Behbudī, Mahmudchodscha  250, 251, 252, 253, 254, 269 Benjamin, Walter  49, 73, 76, 78, 84, 86 Bernstein, Eduard  191, 211 Bessonov, Sergej  69 Blum, André Léon  169 Brandeis, Louis D.  227, 229 Brandler, Heinrich  60, 72 Broué, Pierre  51, 59

Ėjzenštejn, Sergej  10

F Feder, Gottfried  142, 143 Fischer, Ruth Elfriede  60 Friedländer, Otto  85 Fritsch, Emil Theodor  133 Frossard, Ludovic-Oscar  168

G Garbai, Sándor  194, 195, 202 George, David Lloyd  167 Giolitti, Giovanni  180 Goldschmidt, Alfons  76, 89, 93 Goldwater, Barry  217 Graf von Bethlen, István  207 Gramsci, Antonio  177, 178 Gumbel, Emil Julius  80, 222

C

H

Cachin, Marcel  158, 168 Castro Ruz, Fidel Alejandro  36 Chiang Kai-shek  22, 241 Chodžaev, Fajzulla  251, 254, 259, 266, 269 Chodžaev, Ubajdulla  269 Churchill, Winston  160, 167 Clemenceau, Georges Benjamin  166 Coolidge, Calvin  223 Cox, James M.  223

Hamburger, Jenő  204 Harding, Warren  223 Helfferich, Karl Theodor  134 Heller, Otto  77, 79 Henderson, Arthur  157, 165 Hitler, Adolf  20, 37, 47, 50, 101, 103, 114, 118, 141, 142, 174, 230 Ho Chi Minh  36 Hofstadter, Richard  217, 218, 223, 229 Holitscher, Arthur  76, 89, 94 Holmes, Oliver Wendell  227, 228, 229 Horthy, Miklós  112, 207, 211 Hoxha, Enver  36 Hughes, Charles Evans  222 Hyndman, Henry Mayers  162, 163, 164

D Dazhao, Li  240 Debs, Eugene V.  227, 228 Dutt, Rajani Palme  161

E Eckart, Dietrich  138, 139 Eisenhower, Dwight D.  217 Eisner, Kurt  135

J Jászi, Oszkár  191, 195, 198, 200 Joffe, Adolph  133

282

|  Personenregister

Jogiches, Leo  133 Jung, Franz Josef Johannes Konrad  76, 78, 88, 89, 92, 94

K Kandelaki, David  69 Károlyi, Katinka  193 Károlyi, Mihály  195, 198, 199 Kautsky, Karl Johann  40 Kerenskij, Aleksandr  155, 175, 181, 193 Kersten, Kurt  76 Kisch, Egon Erwin  76, 77, 79, 92 Kissinger, Henry Alfred  37 Krestinskij, Nikolaj  60, 61 Kun, Béla  16, 190, 197, 199, 200, 203, 206, 208, 212 Kursell, Otto Konstantin Gottlieb von  107, 114, 123, 139

N Nagy, Imre  37 Nilus, Sergej  132 Nitti, Francesco Saverio  180 Nixon, Richard Milhous  37 Nolte, Ernst  19, 105, 124, 186

P Palmer, A. Mitchell  221, 222, 223, 230 Paquet, Alfons  76, 78, 88, 89, 94, 95 Pjatakov, Juri  60, 72 Pol Pot  37 Poltorackij, Pavel  250 Pór, Ernő  197 Putin, Vladimir  26, 27, 246

Q Qu Qiubai  239

L

R

Lafont, Louis-Ernest  153 Lansbury, George  161 Laqueur, Walter  101, 104 Lefebvre, Raymond-Louis  162 Lenin, Vladimir Il’ič  13, 29, 30, 31, 55, 70, 159, 170, 174, 176, 177, 179, 181, 186, 190, 200, 203, 211 Leverkuehn, Paul  105, 120 Li Dazhao  237, 240 Liebknecht, Karl  14, 15 Litvinov, Maksim  155 Luo Jialun  238 Luxemburg, Rosa  13, 133

Radek, Karl  15, 54, 58, 60, 69, 72, 133 Rappoport, Charles  162 Rathenau, Walther  70, 134, 144 Reed, John  10, 14 Remmele, Hermann  66 Renn, Ludwig  76, 84, 90 Roosevelt, Franklin D.  223 Rosenberg, Alfred Ernst  20, 104, 125, 138, 139 Roth, Moses Joseph  76, 84, 85, 93 Rudnyánszky, Endre  197 Russell, Bertrand  10, 149

M

Sadoul, Jacques  158 Schenck, Charles  227, 228 Scheubner-Richter, Ludwig Maximilian Erwin von  20, 101, 102, 103, 104, 107, 109, 110, 111, 112, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 140 Schmitt, Henry Charles  202, 209 Seghers, Anna  76, 84, 91 Seidel, Emil  224

Mandela, Nelson Rolihlahla  35 Mann, Klaus  76, 90 Mao Zedong  34, 36, 40, 41, 233, 242 Maslov, Arkadij  60 McCarthy, Joseph  217, 230 Müller von Hausen, Ludwig  132 Mussolini, Benito Amilcare Andrea  21, 49, 174, 181, 182, 183, 184, 185, 187

S

Personenregister  |

Siemsen, Hans  78, 86, 95 Slánský, Rudolf  37 Sombart, Werner  216, 224 Souvarine, Boris  161 Stadler, Eduard  134 Stalin, Iosif  31, 33, 34, 50, 55, 57, 58, 60, 63, 64, 66, 68 Šukrullā, Hāği Muin  247, 248, 260, 262 Sun Yat-sen  240 Szamuely, Tibor  190, 197, 211

T Teleki, Pál  207 Thälmann, Ernst Johannes Fritz  60, 62 Thomas, Albert  154, 157, 162, 164 Tito, Josip Broz  36 Tocqueville, Alexis de  230 Toller, Ernst  76, 83, 88, 95 Trockij, Lev  55, 57, 59, 60, 70, 72, 113, 125, 130, 131, 159 Trump, Donald  215, 230

U Unšlicht, Iosif  60

V Vaillant-Couturier, Paul  162 Vászonyi, Vilmos  195 Vinogradov, Boris  66 Vix, Fernand  201 Vogeler, Johann Heinrich  79, 91 Völgyes, Iván  199

W Weber, Joseph  51 Wegner, Armin Theophil  76, 84, 89, 91, 93, 95 Wilson, Woodrow  219, 223, 230

X Xi Jingping  26

Y Yat-sen, Sun  21

Z Zetkin, Clara Josephine  74 Zinov’ev, Grigorij  53, 57, 60, 71, 169, 205

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