Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen: Eine Spurensuche [1 ed.] 9783412517557, 9783412517533


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Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen: Eine Spurensuche [1 ed.]
 9783412517557, 9783412517533

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Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen Eine Spurensuche

KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft

Helen Geyer, Maria Stolarzewicz (Hg.)

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 16 Herausgegeben von

Detlef Altenburg (†) Michael Berg (†) Albrecht von Massow

Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen Eine Spurensuche Herausgegeben von Helen Geyer und Maria Stolarzewicz

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Die Herausgeberinnen haben sich bemüht, alle Inhaber von Bild- und Nutzungsrechten zu ermitteln. Sollten dennoch Reichte-Inhaber nicht berücksichtigt worden sein, wird gebeten, dies den Herausgeberinnen mitzuteilen: [email protected], oder darüber das Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena zu informieren: Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Carl-Alexander-Platz 1, 99425 Weimar. Aktuelle elektronische Adressen der Institutsleitung und des Sekretariats sind unter folgender Adresse zu ermitteln: www.hfm-weimar.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Foto des Stolpersteins von Gustav Lewin in der Steubenstraße 19 in Weimar, Stolperstein entworfen und verlegt von Gunter Demnig; Gustav Lewin, Larghetto aus dem Quintett Mag der Himmel, HSA | ThLMA Weimar; Portrait der Sängerin Rose Pauly, Stadtarchiv Gera, Reußisches Theater Gera, Programmbuch 1920–21. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: H Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51755-7

In memoriam an Prof. Dr. Dr. h. c. Michał Bristiger (1921–2016), den großen Gelehrten sowie großartigen Lehrer und Freund

Inhalt

Maria Stolarzewicz Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler Zum Geleit. Verfolgte MusikerInnen im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Ausstellung im Stadtmuseum Weimar präsentiert im Jubiläumsjahr 2019. Erste Erkenntnisse eines Forschungsprojekts des Vereins weim | art e. V. . . . . . . . . 15 Tiago de Oliveira Pinto Grußwort zur Eröffnung der Tagung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Dieter Borchmeyer Jüdische Akkulturation in Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Bernhard Post Weimar – „Das kulturelle Herz Deutschlands“ und die Schicksale von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Irina Lucke-Kaminiarz Der Fall Dr. Ernst Praetorius. Seine Hintergründe und Wirkungen . . . . . . . . . . . . 81 Christoph Gann Nicht mal EMIGRANT war er! Pfui, Teufel! Und dann nur Halb- u. nicht mal gesessen. Der Komponist Günter Raphael in der NS-Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Christine Oeser Jüdische Musiker im Konzentrationslager Buchenwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Claudia Maurer Zenck Mit der Geige ins KZSinti- und Roma-MusikerInnen im NS-Staat . . . . . . . . . . . . 193

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Inhalt

Frank Harders-Wuthenow Verarbeitung oder Sublimierung. Holocaust-Reflexion in Opern von Mieczysław Weinberg, André Tchaikowsky, Szymon Laks und Tadeusz Zygfryd Kassern . . . . . 245 Matthias Pasdzierny Emigranten im Schaufenster? Rückkehr aus dem Exil und der Wiederaufbau des ostdeutschen Musiklebens nach 1945 – am Beispiel des Arbeiterliedarchivs und mit einem Seitenblick auf die Situation in Thüringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Maria Stolarzewicz Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche 281 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Maria Stolarzewicz

Vorwort

„Wenn eines Tages eure Stimmen … verhallt sind, […] dann gehen wir zugrunde.“ Mieczysław Weinberg, Alexander Medwedew, Die Passagierin (1968)

Der folgende Band bildet eine Dokumentation des Forschungsprojekts Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche. Das Projekt hatte zum Ziel, Schicksale ausgewählter – vor allem jüdischer – Persönlichkeiten des musikalischen Lebens Thüringens zu erforschen, sowie einem breiten und differenzierten Publikum zugänglich zu machen. Dies erfolgte in zwei Schritten: im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung und durch eine Wanderausstellung. Das Vorhaben wurde vom April 2018 bis zum Juni 2019 vom Verein weim | art e. V. getragen. Die Leitung des Projekts lag in den Händen von Prof. Dr. Helen Geyer, für dessen Umsetzung war Dr. Maria Stolarzewicz verantwortlich. Die Veranstaltungen wurden in Kooperation mit dem Stadtmuseum Weimar und der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar realisiert. Die Vorbereitung und Durchführung des Projektes ermöglichte die Thüringer Staatskanzlei. Der Sammelband besteht aus zwei Teilen, in welchen Ergebnisse der Tagung und der Ausstellung präsentiert werden.

Erster Teil Die wissenschaftliche Tagung fand vom 31. Januar bis zum 1. Februar 2019 im Stadtmuseum Weimar statt. Namhafte Forscherinnen und Forscher aus ganz Deutschland diskutierten über verschiedene Aspekte der Verfolgung von „nichtarischen“ MusikerInnen im NS-Deutschland. Den ersten Block bildeten Referate, die sich mit der NS-Kulturpolitik beschäftigten und ihren Einfluss auf Lebensläufe der in Thüringen wirkenden MusikerInnen analysierten. Das zweite Thema der Tagung bildete die Musik in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und die künstlerische Verarbeitung der Holocausterfahrung. Der dritte thematische Block widmete sich den Fragen der Auswanderung und Remigration verfolgter MusikerInnen während und nach der NS-Zeit. Einen Überblick über die deutschjüdischen Kontakte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert brachte der Festvortrag „Jüdische Akkulturation in Deutschland?“ von Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Borchmeyer (Heidelberg). Ähnlich strukturiert sind die Inhalte des folgenden Bandes. Er beginnt aber mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler, in dem die Verfolgung der jüdischen Musikerinnen und Musiker im NS-Staat und die Entwicklung des Nationalsozialismus in Weimar im Kontext der Gründung der Weimarer Republik und des Bauhauses besprochen werden. Danach kommt das Grußwort, mit dem

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Maria Stolarzewicz

Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto die Tagung im Januar 2019 eröffnet hat. Die Musik als immaterielles Kulturerbe gesehen im Verhältnis zu verfolgten MusikerInnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts und heute bildet den Leitgedanken seiner Überlegungen. Der erste Tagungsbeitrag ist den Ambivalenzen der sogenannten jüdischen Akkulturation in Deutschland gewidmet. Professor Dieter Borchmeyer stellt vielfältige Aspekte der komplexen deutsch-jüdischen Beziehungen dar, die meist von jüdischen Autoren seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Nachkriegszeit reflektiert wurden. Die weiteren drei Aufsätze geben Einblicke in die NS-Musikpolitik, die rassistische Verfolgung, Ausgrenzung und Vernichtung von MusikerInnen mit jüdischer Abstammung am Beispiel ausgewählter Thüringer Persönlichkeiten. Dr. Bernhard Post (Weimar) analysiert im Artikel „Weimar – ‚Das kulturelle Herz Deutschlands‘ und die Schicksale von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé“ die Rolle der Weimarer Eliten in der nationalsozialistischen Politik und Kulturpolitik. Vor diesem Hintergrund stellt er die Lebensumstände der großherzoglichen Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt (1865–1942) und des ersten Cellisten der Staatskapelle Weimar und Lehrers der Weimarer Staatlichen Musik(hoch)schule Eduard Rosé (1859–1943) dar. Dr. Irina Lucke-Kaminiarz (Weimar, Beitrag „Der Fall Dr. Ernst Praetorius. Seine Hintergründe und Wirkungen“) präsentiert die Aktivitäten des Weimarer Generalmusikdirektors Ernst Praetorius (1880–1946) am Deutschen Nationaltheater und der Staatlichen Musik(hoch)schule. Sie untersucht die Umstände seiner Verfolgung sowie Entlassung 1933 und bespricht seine späteren Aktivitäten in der Türkei. Christoph Gann (Meiningen) berichtet über das Schicksal des Komponisten Günter Raphael (1903–1960), der während der NS-Zeit in Meiningen lebte. Am Beispiel von Raphael, der durch die jüdische Abstammung seines Vaters im NS-Deutschland als ein „Halbjude“ galt, wird der juristische Umgang der NS-Behörden mit den sogenannten Mischlingen in Bezug auf ihre Berufsaktivitäten näher erörtert (Aufsatz „Nicht mal EMIGRANT war er! Pfui, Teufel! Und dann nur Halb- u. nicht mal gesessen. Der Komponist Günter Raphael in der NS-Zeit“). Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit MusikerInnen, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert waren. Christine Oeser M. A. (Osnabrück) stellt die Schicksale dreier prominenter jüdischer Musiker im Kontext der Lagergeschichte des KZs Buchenwald dar: Hermann Leopoldi (1888–1959), Jo Juda (1909–1985), und Robert Clary (1926–2014). Mit dem immer noch wenig erforschten Thema der rassistischen Verfolgung und der Schicksale von Roma- und Sinti-Gefangenen in Buchenwald, Mauthausen, Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen und Ravensbrück im Vergleich zu den Schicksalen der Juden setzt sich Prof. Dr. Claudia Maurer Zenck in ihrem Beitrag „Mit der Geige ins KZ. Sinti- und Roma-MusikerInnen im NS-Staat“ auseinander. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Holocausterfahrung steht im Mittelpunkt des Beitrags von Frank Harders-Wuthenow (Berlin), „Verarbeitung oder Sublimierung – Holocaust-Reflexion in Opern von Mieczysław Weinberg, André Tchaikowsky, Szymon Laks und Tadeusz Zygfryd Kassern“. Der Autor analysiert unter diesem Aspekt die Werke aus Polen stammender Komponisten: Mieczysław Weinbergs Die Passagierin, André Tchaikowskys The Merchant of Venice (Der Kaufmann von Venedig), Szymon Laks’

Vorwort

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L’Hirondelle inattendue (Die unerwartete Schwalbe) und Tadeusz Zygfryd Kasserns The Anointed (Der Gesalbte). Dr. Matthias Pasdzierny (Berlin) thematisiert im Beitrag „Emigranten im Schaufenster? Rückkehr aus dem Exil und der Wiederaufbau des ostdeutschen Musiklebens nach 1945“ die Probleme der verfolgungsbedingten Emigration und Remigration jüdischer MusikerInnen. Den Schwerpunkt seines Aufsatzes bilden die Hintergründe und Umstände der Rückkehr von prominenten MusikerInnen aus dem Exil nach Ostdeutschland im Kontext der Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in der Deutschen Demokratischen Republik.

Zweiter Teil Die Wanderausstellung präsentiert einen Überblick über Schicksale jüdischer Persönlichkeiten des musikalischen Lebens Thüringens vor und während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in einer komprimierten Form. Sie konnte schon einen breiten Kreis Interessierter erreichen. Sie wurde nämlich im Stadtmuseum Weimar, im Thüringer Museum Eisenach (Stadtschloss) und im hochschulzentrum am horn der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar präsentiert. Die Ausstellung wird später im Rahmen des 30. Rudolstadt-Festivals Roots Folk Weltmusik im Juli 2020 dargeboten. Aufgrund der Untersuchungen, die in mehreren Thüringer Archiven durchgeführt wurden, erzählt die Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche die Lebensgeschichten von Musikerinnen und Musikern, die als Mitglieder Thüringer Theater, Musikhochschulen, Musikschulen und als private Lehrer die kulturelle Landschaft Thüringens mitgestalteten und nach 1933 ihrer „jüdischen“ Abstammung wegen im nationalsozialistischen Deutschland tragische Schicksale erlitten oder ermordet wurden. So war es etwa mit der Sopranistin Florence Singewald (1896–1992), die am Neuen Operettentheater in Gera von etwa 1920 bis 1922 wirkte. Anfang 1944 wurde sie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Dort stand sie zwei Mal vor Dr. Joseph Mengele „zur Selektion“. Nach der zweiten „Selektion“ wurde sie in das Frauenlager Salzwedel transportiert, wo sie in der Munitionsfabrik der Firma Polte-Werke Magdeburg bis zur Befreiung Schwerstarbeit leisten musste. Im Stadtarchiv Gera erhielten sich ihre handschriftlich verfassten Briefe an den Historiker Walther Simsohn, in denen sie über ihr Schicksal berichtet. In der Ausstellung konnten 73 Musikerinnen und Musiker berücksichtigt werden. Sieben herausragenden Persönlichkeiten des Thüringer Musiklebens wurden einzelne Tafeln gewidmet: Am Beispiel der Biografie des weltberühmten Cellisten Eduard Rosé (1859– 1943), der Mitglied der Staatskapelle Weimar und Lehrer an der Musik(hoch)schule Weimar war, lässt sich die Grausamkeit des Unterganges eines prominenten jüdischen Künstlers in NS-Deutschland plausibel darstellen. Josefine Back-Freund (1886–1964) stammte aus der Wiener Künstlerfamilie Eibenschütz-Freund, welche intensive Kontakte zu fast allen musikalischen Größen jener Zeit pflegte. Back-Freund wirkte in Altenburg als Sängerin und Gesangspädagogin seit 1907 bis zu ihrem Tod. Anfang 1944 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, wo sie bis zum Ende des Krieges inhaftiert war. Die bereits genannte am Neuen

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Maria Stolarzewicz

Operettentheater in Gera zwischen 1920 und 1922 engagierte Sängerin Florence Singewald überlebte die Verhaftung in Auschwitz-Birkenau und Salzwedel. Zu einem Großteil der NS-Zeit wirkte Komponist Günter Raphael (1903–1960) in Meiningen. Meta Redelmeier (1882–1976) konnte in ihrer Heimatstadt Sondershausen bis 1935 als staatlich anerkannte Lehrerin Geige unterrichten und im Loh-Orchester musizieren. Ende 1938 floh sie mit ihrer Familie nach Palästina, wo sie bis zu ihrem Tod blieb. Die Musikwissenschaftlerin, Musikjournalistin und Interpretin Alter Musik Dr. Cornelia Schröder-Auerbach (1900–1997) verbrachte ihre Jugend in Jena. Hier lernte sie u. a. Klavier und wurde für kurze Zeit eine Schülerin Max Regers. In der Rudolstädter Landeskapelle war über 20 Jahre Paul Joseph Lindner (1894–1975) als Posaunist tätig. Dank seiner im Stadtarchiv Rudolstadt aufbewahrten Personalakte konnte seine Vita zum ersten Mal rekonstruiert werden. Weniger umfangreiche Biografien konnten von 35 Personen rekonstruiert werden. Unter ihnen wurden auch prominente Künstlerinnen und Künstler berücksichtigt, wie etwa die am Anfang ihrer Karriere in Gera engagierte, später weltweit bewunderte Interpretin der Strauss- und Wagner-Opern Rose Pauly (1894–1975), Musikwissenschaftler Dr. Adolf Aber (1893–1960) aus Apolda, der sich nach 1933 als Verleger für deutsche Musik in Großbritannien einsetzte und der aus Altenburg stammende und in den USA wirkende Geiger Felix Freilich (1920–2002). Erwähnt mit Namen, Lebensdaten und Berufsbezeichnung wurden 15 Personen, über welche detailliertere Quelleninformationen auffindbar sind. Weitere Personen wurden lediglich kurz dargestellt, in vielen Fällen wegen des fehlenden Quellenmaterials. Im Rahmen der folgenden Publikation werden die Inhalte der Ausstellung im Vergleich zu den Ausstellungstafeln in einer leicht veränderten, meistens erweiterten Form veröffentlicht. Die Thüringer Städte, mit denen die in der Ausstellung dargestellten Personen verbunden waren, werden alphabetisch geordnet. Die Musikerinnen und Musiker, die an einem Ort wirkten, werden ebenfalls alphabetisch angeführt. Der zusammengestellte Überblick bildet eine erste Bestandsaufnahme, die durch weitere Forschungsarbeiten vervollständigt und vertieft werden soll. Dank der Unterstützung durch die Thüringer Staatskanzlei und die Deutsche Bank Stiftung wird die Fortführung dieses Projektes (2019–2021) an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar ermöglicht. *** An dieser Stelle gilt ein großer Dank dem Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Thüringer Staatskanzlei, dem Beauftragten der Landesregierung für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus, Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, für die Idee des Projektes und dessen finanzielle Unterstützung. Einen herzlichen Dank richte ich an Prof. Dr. Helen Geyer für die anregende Leitung des Projektes. Ich danke auch dem Vorsitzenden des Vereins weim | art e. V., Prof. Dr. Steffen Höhne, und der Geschäftsführerin Julia Heinrich für das engagierte Managen des Projekts. Jürgen Postel danke ich für die schöne grafische Gestaltung der Ausstellungstafeln und Werbematerialien. Dem Leiter der Reihe KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Prof. Dr. Albrecht von Massow und Harald Liehr vom Böhlau Verlag danke ich dafür, dass

Vorwort

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diese Dokumentation im Rahmen dieser etablierten Reihe des Verlags erscheinen kann. Tom Adler danke ich für die Hilfe bei den Textkorrekturen. Für Hilfe und Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Projektes danke ich ganz herzlich folgenden weiteren Personen: Georg Bartnick, Weimar; Susanne Bartsch, Städtische Museen Jena; Hannes Bertram, Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar; Dr. Miriam Bistrovic und Carrie Jedlicka, Leo Baeck Institute, New York/Berlin; Dr. Rolf von Bockel, Neumünster; Hans Otto Eckler, Weimar; Ingrid Faber, Stadtarchiv Gera; Dr. Sophie Fetthauer, Universität Hamburg; Ruthy Friedmann und die Familie von Meta Redemeier, Israel; Christoph Gann, Meiningen; Dr. Maren Goltz, Kustodin der Sammlung Musikgeschichte der Meininger Museen – Max-Reger-Archiv; Prof. Dr. Christian Hecht, Stadtmuseum Weimar und Förderverein des Museums; Carina Hegner, Stadtarchiv Apolda; Roswitha Hennig, Stadtarchiv Mühlhausen; Angelika Herkert, Stadtarchiv Karlsruhe; Nele Hertling, Berlin; Christa Hirschler und Bettina Bärnighausen, Schlossmuseum Sondershausen; Sabine Jirschitzka-Löffler, Kerstin Richter, Stadtarchiv Erfurt; Uta Junglas, Stadtmuseum Weimar; Antje Kalcher, Archiv der Universität der Künste Berlin; Ann Kersting-Meuleman, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main; Grit Kurth und Gabriele Krynitzki, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar; Dr. Irina Lucke-Kaminiarz, ehemalige Leiterin des Hochschularchivs – Thüringisches Landesmusikarchiv Weimar; Dieter Marek, Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt; Dr. Christoph Meixner, Esther Schönberger und Thomas Wiegner, Hochschularchiv – Thüringisches Landesmusikarchiv Weimar; Damian Poloczek, Weimar; Dr. Bernhard Post, ehemaliger Leiter des Landesarchivs Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar; Manja Radenau und Tobias Zober, Stadtarchiv und Historische Bibliothek Rudolstadt; Christian Repkewitz, Altenburg; Dr. Alf Rößner, Stadtmuseum Weimar; Peter Sarkar, musica reanimata; Sabine Schäfer, Weimar; Doris Schilling und Karin Lorenz, Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Altenburg; Dr. Harry Stein, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora; Dr. Wolfram G. Theilemann und Manuela Schmidt, Stadtarchiv Nordhausen; Wolfgang Wendel, Karlsruhe; Johannes Wiesel, Staatstheater Karlsruhe. Weimar, im Oktober 2019 

Maria Stolarzewicz

Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler

Zum Geleit Verfolgte MusikerInnen im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Ausstellung im Stadtmuseum Weimar präsentiert im Jubiläumsjahr 2019. Erste Erkenntnisse eines Forschungsprojekts des Vereins weim | art e. V.

Die Weimarer Republik nicht von ihrem Ende her zu denken, sondern als demokratisches Ereignis, ohne das unsere heutige Bundesrepublik nicht denkbar wäre, ist die wohl wichtigste Erkenntnis des 100. Jubiläums, dessen in Weimar am 6. Februar 2019 mit einem großen Festakt gedacht wurde. Dennoch kommen wir nicht umhin, wenn wir in politischen Jahrestagen denken, die Erinnerung an die zeitgleiche Gründung des Bauhauses 1919 mit der Erinnerung an dessen Vertreibung durch die Regierung des Thüringer Ordnungsbundes, unterstützt durch die Vereinigte Völkische Liste unter NSDAP-Gauleiter Dintner, ab 1924 zu verbinden. Das Bauhaus siedelte 1925 von Weimar nach Dessau; in Thüringen setzte die NSDAP alles daran, das Land zum Vorreiter nationalsozialistischer Politik umzugestalten. Am 3./4. Juli 1926 führte die Partei ihren ersten Reichsparteitag nach der Wiedergründung nicht nur in Weimar, sondern im Deutschen Nationaltheater (DNT) durch, um den verhassten Geburtsort der deutschen Republik symbolisch in Beschlag zu nehmen – ihn zu besetzen. Nur zehn Jahre nach Gründung der Weimarer Republik erlangte infolge der Landtagswahl 1929 in Weimar mit Wilhelm Frick ein Nationalsozialist ein Ministeramt, verantwortlich für Volksbildung und Inneres. Dass Frick und NSDAP-Staatsrat Marschler 1931 durch konstruktives Misstrauensvotum abgesetzt wurden, lag jedoch an Konflikten in der Rechtskoalition, nicht daran, dass Frick einen Kultur-Erlass „Wider die Negerkultur, für deutsches Volkstum“ und nationalsozialistische Schulgebete auf den Weg gebracht und den Nationalsozialisten Paul Schultze-Naumburg zum Direktor der Weimarer Kunsthochschule, des früheren Staatlichen Bauhauses Weimar, ernannt hatte. Schultze-Naumburg, dessen 1928 erschienenes Buch Kunst und Rasse erstmals den Begriff der „entarteten Kunst“ popularisierte, übernahm 1931 den Vorsitz im Kampfbund deutscher Architekten und Ingenieure, einer der für die Bücherverbrennungen 1933 verantwortlichen Organisationen. Auf seine Anweisung wurde, zum Teil unter Zerstörung der Werke, das BauhausWerkstattgebäude und das Weimarer Schlossmuseum von Werken u. a. Barlachs, Schlemmers, Dix’ und Kokoschkas gesäubert. Unter den Bann fielen auch Werke Emil Noldes. Als Anhänger der NS-Rassenideologie und erklärter Antisemit verletzte diese Verfemung durch die Nationalsozialisten Nolde sehr. Weitere zehn Jahre später, im Frühjahr 1939, gastierte die Wanderausstellung Entartete Kunst im Weimarer Schlossmuseum. Sie enthielt rund 700 beschlagnahmte Kunstwerke, darunter von früheren Bauhäuslern wie Feininger, Klee und Kandinsky. Ergänzt wurde sie

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Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler

zusätzlich in Weimar durch die von Hans Severus Ziegler verantwortete Ausstellung Entartete Musik. Ziegler, der in der Amtszeit Fricks als Referent im Thüringer Volksbildungsministerium arbeitete, wurde 1936 Generalintendant des DNT sowie Staatskommissar für die Thüringer Landestheater und zielte mit der Ausstellung gegen „nichtarische“ MusikerInnen und Komponisten, deren Ausschluss aus dem Musikleben gefordert wurde, sowie gegen moderne Musikrichtungen. Die kulturelle Bedeutung Thüringens und der Klassikerstadt Weimar begründete den Eifer, mit dem die Nationalsozialisten sowohl vor 1933 als auch im Besonderen nach der Machtübernahme bemüht waren, Thüringen als „Mustergau“ zu etablieren. So sollte jede Erinnerung an die ihnen verhasste Weimarer Republik und die Kunst der Moderne übertüncht werden. Mit dem „Gauforum Weimar“ entstand eines der wenigen weitgehend fertiggestellten Ensembles nationalsozialistischer Herrschaftsarchitektur, das rücksichtslos in die städtebauliche Struktur der früheren Residenzstadt eingriff. Dem ambitionierten Projekt „Topographie der Moderne“ Rechnung tragend, wird im ehemaligen Gauforum, in dem heute das Thüringer Landesverwaltungsamt seinen Sitz hat, neben der Ausstellung über die Geschichte des Gebäudes ab kommenden Jahr auch die Ausstellung Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeit und der Krieg ihren dauerhaften Sitz nehmen. Vom 1. Februar 2019 bis zum 31. März 2019 wurde im Bertuchhaus des Stadtmuseums Weimar die Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche gezeigt. Diese Exposition versteht sich als Ehrung von vielfach aufgrund des NSRegimes vergessenen, vor allem jüdischen, Kulturschaffenden. Sie soll dazu dienen, diesen Musikerinnen und Musikern Namen und Aufmerksamkeit zurückzugeben, sie dabei jedoch nicht vorrangig als Holocaust-Opfer wahrzunehmen, sondern als Kunstschaffende und Teil unserer Kulturgeschichte. Vor 1933 gab es ein sehr breites musikalisches Spektrum in Deutschland, zu dem insbesondere auch Künstlerinnen und Künstler jüdischer Herkunft beitrugen. Gerade ihre Leistungen wurden in der Wanderausstellung Entartete Musik verfemt – zusammen mit avantgardistischen Komponisten, die die moderne Musik entscheidend prägten. Die Kultur- und Kunstpolitik der Nationalsozialisten diente ideologischer Stabilisierung entlang der Orientierungspunkte Heimat, Rasse, Volkstum und Tradition. Kultur hatte sich in den Dienst des Regimes und seiner ideologischen Ziele zu stellen. Dabei setzten die Nationalsozialisten insbesondere auf populäre Genres und technische Innovationen, praktizierten im Übrigen jedoch eine Haltung, wie sie nicht deutlicher zum Ausdruck kommen könnte als mit den Worten des völkisch denkenden und antisemitischen Autors und späteren Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst: „Hier wird scharf geschossen! Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!“, heißt es in dem Stück Schlageter, das auf Wunsch Hitlers die Widmung „Für Adolf Hitler / in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue“ trug. Die Anwendung des Brownings bekamen diejenigen zu spüren, die im NS-Rassenund -Kulturverständnis weder als ProduzentInnen noch als RezipientInnen einen Platz haben durften. Ihre Ausgrenzung begann mit dem Reichskulturkammergesetz von 1933. Das Gesetz unterstellte das Kulturleben vollkommen der Kontrolle des Regimes und jede kulturelle Äußerung unter Zensur. Davon waren alle Sparten und besonders stark

Zum Geleit

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Theater, Film und Architektur betroffen. Nur Mitglieder der Reichskulturkammer durften künstlerisch tätig werden. Das bedeutete ein faktisches Berufsverbot für alle jüdischen Künstlerinnen und Künstler, aber auch für politisch unliebsame Kulturschaffende. Werke von jüdischen Kulturschaffenden aus der Zeit vor 1933 wurden verfemt, verbrannt, verboten. Als Kulturrezipienten wurde jüdischen Bürgerinnen und Bürgern ab 1935 der Zugang zu Bibliotheken, Museen, Theatern und Kinos untersagt. Im Gegensatz zu Film, Literatur und Kunst jener Zeit gilt die Verfolgung von Musikerinnen und Musikern bislang als weniger intensiv wissenschaftlich be- und aufgearbeitet. Zwar ist bekannt, dass viele Interpreten und Komponisten aus Deutschland vertrieben oder in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet wurden. Kurt Weill, Arnold Schönberg und Hanns Eisler, Fritz Busch und Bruno Walter gehören zu den bekanntesten Komponisten oder Dirigenten, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung Deutschland verlassen mussten und ihr Werk im Ausland fortsetzen konnten. Viele Musikerinnen und Musiker jedoch, die nicht ins Exil gingen, gerieten in Vergessenheit, weil ihre Arbeiten nach 1933 nicht mehr rezipiert werden durften. Erst gegen Ende der 1980er Jahre rückte diese Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern wieder stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, insbesondere dank der Arbeit des Vereins „musica reanimata“. Die Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen ist Teil eines Forschungsvorhabens, das im Auftrag der Thüringer Staatskanzlei der Verein weim | art e. V. als Träger des Projekts mit der Geschäftsführerin Frau Julia Heinrich sowie der Mitarbeiterin Frau Dr. Maria Stolarzewicz in Kooperation mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar unter wissenschaftlicher Leitung von Frau Professor Helen Geyer durchführt. Das Forschungsvorhaben soll dazu beitragen, die reiche regionale Musikgeschichtsschreibung auf mögliche Lücken und Leerstellen zu überprüfen. Den einst verfemten und verfolgten KünstlerInnen soll der ihnen gebührende Platz in der Kulturgeschichte zurückgegeben und ihre Werke sollen wieder in das öffentliche Musikleben integriert werden. Die temporäre Ausstellung im Weimarer Stadtmuseum dokumentiert die „musikarchäologische“ Arbeit, die insbesondere Frau Dr. Stolarzewicz im Laufe des letzten Jahres geleistet hat und der sich hoffentlich weitere Erkenntnisse und eine noch größere Öffentlichkeit anschließen werden.

Tiago de Oliveira Pinto

Grußwort zur Eröffnung der Tagung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche

Es obliegt mir, das Symposium Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen mit einigen Gedanken zur gleichnamigen Ausstellung zu eröffnen, was ich gerne aus der Warte des von mir geleiteten UNESCO-Lehrstuhls tue. Dabei geht es um die Betrachtung von Musik als immaterielles Kulturerbe der Menschheit. Stellvertretend für diese Würdigung sei aus der Reihe der in unserem Projekt porträtierten Musikerinnen und Musiker der Dirigent und Komponist Gustav Lewin genannt, dessen Elegie für Violoncello und Klavier anlässlich der Eröffnung der Ausstellung im Weimarer Stadtmuseum (2019) nach vielen Jahrzehnten wieder zu Gehör kam. Gustav Lewin war bis 1933 Dozent an unserer Hochschule für Musik. Sein Schicksal ist nur eines von mehreren, die uns besonders nahegehen und die in der Ausstellung erzählt werden. Lewins Wirken fällt auch in die Zeit der Gründung und des Aufbaus des Weimarer Bauhauses. Er erlebte somit eine Zeit der ästhetischen Umbrüche, des Sich-Öffnens für die Welt, was mit Neugier, mit Wagemut, aber auch mit Abkehr von viel Überkommenem geschehen musste. Lewins Œuvre entstand zum größten Teil im 20. Jahrhundert, stilistisch befindet sich seine Musik aber noch tief im späten 19. Jahrhundert, geprägt von lyrischem Ausdruck. In seiner Elegie erklingen Akkordfolgen, die im Klavierpart mächtig voranschreiten, das Violoncello gleichsam stützend, ihm aber auch immer wieder vorauseilend. Zugleich ist Lewins Komposition eine sich uns im Hier und im Jetzt vermittelnde Musik, die ihre Zeit in emotionaler Hinsicht spiegelt, indem sie dafür immer von Neuem Anlauf nimmt, als eine aus entlegenen Abgründen, in düsteren Farben sich auftürmende Klangfülle. Am Ende folgt als beklemmend wirkende, unbeantwortete Frage das Erschaudern vor der nahen Zukunft. Es ist ein Moment des Rückzugs. Doch plötzlich, wie ein Lichtstrahl, der sich in Wiederholungen immer wieder durchsetzt, erklingt versöhnend das Hauptthema im Violoncello. Bange Vorahnung oder nur ein melancholischer Nachhall aus romantischer Epoche? Wahrscheinlich beides. Musik zeigt sich hier in ihrem Ablauf als ein mehrdeutiges Medium, immateriell, also unfassbar, und doch berührend, schnell verflüchtigt und so präsent zugleich. Verboten, verfolgt, verstummt, vertrieben. Damit sah sich musikalische Praxis schon immer und in sämtlichen Geschichtsperioden konfrontiert. Wir Wissenschaftler fragen uns dann, ob es musikalische Strukturen als solche sind, die Musikern Schicksale bescheren wie Verfolgung und Verbannung. Sicher nicht musikalische Strukturen oder die Musiker alleine. Vielleicht die Fähigkeit der Musik, Sprache zu sein, ohne das Wort zu verwenden, zu verbinden, ohne deswegen zu berühren oder zu ertasten? Ist das ihr innewohnende und

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Tiago de Oliveira Pinto

ungeheuer subversive, den dominierenden Tendenzen ihrer Zeit gegensteuernde Potenzial als Erklärung für die Verfolgung von Musikern zu bemühen? Sicherlich ist das oftmals der Fall. In den hier porträtierten Schicksalen sind es aber die jüdischen Biografien der Musiker, die ihnen zum Verhängnis werden, ungeachtet ihres Werks – so auch Gustav Lewins Elegie. Das ist die größte Tragik dieser Epoche, der auch Lewin angehört. Selbst wenn die heutige Gesellschaft meint, aus dieser Zeit des Schreckens gelernt zu haben: Es geht weiter mit der Bedrohung von Musikern, auch im 21. Jahrhundert. Es betrifft jüdische Künstler, aber auch andere. Ein weiteres Forschungs- und Kooperationsprojekt unseres Instituts befasst sich mit der großartigen Musiktradition in Afghanistan, die seit Jahrzehnten und bis heute der Verfolgung und dem Verbot in großem Stil ausgesetzt ist. Doch wie kann musikalisches Kulturerbe bewahrt werden? Immaterielle Güter wie Musik können nur bestehen, wenn sie durch das Musizieren zum Erklingen gebracht werden. Anders als Baudenkmäler sind sie ein lebendiges Erbe. Eine Einrichtung wie unsere Hochschule ist dazu prädestiniert, ein solches Kulturerbe selbst zu leben, es damit zu erhalten und weiterzugeben. Wir sind kein Museum, das Erbe aufbewahrt, sondern Musikerbe wird tagtäglich von uns praktiziert. Und ein Ausstellungsprojekt wie dieses gibt ein Zeugnis dafür ab, wie wichtig uns dieser umfassende Umgang mit dem musikalischen Kulturerbe ist. Lebendiges Musikerbe führt uns dann unweigerlich zu denjenigen, die Musik zum Erklingen bringen, sie schaffen, sie erleben und schätzen: zu den Menschen. Deswegen berührt Musik so sehr. Sie hat unmittelbar mit uns allen zu tun. Wer das nicht wahrhaben möchte, wie der König in Ludwig Uhlands Ballade Des Sängers Fluch, ersticht den Sänger brutal, um ihn zum Schweigen zu bringen. Nur durch die Verbannung und das Verstummen des Musikers wird auch die Musik der aufgezwungenen Stille weichen. Bei Ludwig Uhland hatten die Musiker die Königin und den ganzen Hofstaat emotional berührt. Doch, ein Baudenkmal kann zerstört werden, Musik nicht. In ihrer Essenz vermag es die Musik immer wieder, gerade dank ihrer Immaterialität, verfestigte, selbst materielle Strukturen aufzubrechen. Soll also verstummtes musikalisches Kulturerbe wieder zu Gehör kommen, nähern wir uns unweigerlich denen, die es erschaffen und dafür leben und gelebt haben, Menschen, die Musik als Teil ihres Daseins begreifen. Das gilt für all die hier porträtierten Musiker. Das Lebenswerk dieser Persönlichkeiten zu würdigen, indem auch ihre Musik zu Gehör kommt, ist die beste Art, ein lebendiges Bild von ihnen zu erstellen. Bei der genannten Komposition von Gustav Lewin war das deutlich nachzuvollziehen. Den Kollegen Lewin, den ich heute vertrauensvoll so nennen darf, und viele andere, deren Musik verstummt war, wieder erklingen zu lassen und in Erinnerung zu rufen gibt diesen Musikern neues Leben und damit den Platz in der Geschichte und in der heutigen Welt, der ihnen zusteht. Im Namen des Instituts für Musikwissenschaft möchte ich der Ausstellungsmacherin Maria Stolarzewicz meine große Anerkennung und meinen Dank dafür aussprechen, dass sie die Materialien für diese Ausstellung gesichtet und erarbeitet hat. Meiner Kollegin Helen Geyer danke ich für die wissenschaftliche Betreuung dieses Projekts, ebenso allen, die daran mitgewirkt haben und noch mitwirken. Auch den Musizierenden gilt unsere große Anerkennung und unser Dank. Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Tagung heiße ich sehr herzlich willkommen und wünsche einen an neuen Erkenntnissen reichen Austausch.

Dieter Borchmeyer

Jüdische Akkulturation in Deutschland? Leidet man nicht immer am meisten dort, wo man am tiefsten liebt, wenn auch am vergeblichsten? Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (1921)

In seinem Buch Über die Deutschen schreibt Gordon A. Craig 1982: „Warum hat sich Heinrich Heines Prophezeiung nicht erfüllt, daß die Deutschen und die Juden, die beiden ,sittlichen Völker‘, wie er sie nannte, ein neues Jerusalem in Deutschland schaffen würden, Heimstatt der Philosophie, Mutterboden der Weissagung und eine Zitadelle der reinen Spiritualität?“1 Craig bezieht sich hier auf Heines Essay „Shakespeares Mädchen und Frauen“, in dem in der Tat von der „innigen Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und den Germanen“, die Rede ist.2 Diese Affinität zwischen Deutschtum und Judentum ist so oft sowohl auf deutscher als auch jüdischer Seite unter sehr verschiedenen, pro- wie antijüdischen Vorzeichen empfunden und beschrieben worden, dass man damit ein Buch füllen könnte. „Man hätte uns die Juden des neuesten Europa nennen sollen, denn wie die Juden sind wir umher verstreuet und ihnen fast gleich [nämlich durchaus gering] geachtet“, schreibt etwa Ernst Moritz Arndt in Geist der Zeit II.3 Diese Situation der Zerstreuung, der Diaspora, der fehlenden nationalstaatlichen Einheit hat auch Goethe als das gemeinsame Geschick von Juden und Deutschen angesehen, das beiden ähnliche Charaktermerkmale verleihe.4 Selbst Richard Wagner spekuliert trotz seiner notorischen Judäophobie in einem Brief an Nietzsche vom 24. Oktober 1872 über die Verwandtschaft zwischen Deutschtum und Judentum im Hinblick auf deren „metaphysische“ Begründung, die anderen Nationen fernliege.5 Die Behauptung einer solchen deutsch-jüdischen Verwandtschaft – die im Verhältnis der europäischen Nationen zu den Juden wohl einzigartig ist – hat auf deutscher Seite meist rein diagnostischen Charakter. In der Regel werden daraus keine Konsequenzen für eine tiefere Verbindung von Deutschen und Juden gezogen oder gar Appelle an beide Seiten gerichtet, sich Gemeinsamkeit und Verwandtschaft bewusst zu machen und so gewissermaßen Arm in Arm die eigene Geschichte zu gestalten; das geschieht in größerem 1 Gordon A. Craig, Über die Deutschen, München 1982, S. 144. 2 Heinrich Heine, „Shakespeares Mädchen und Frauen“, in: ders., Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Klaus Briegleb, München u. a. 1976, Bd. IV, S. 25. 3 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit II, in: ders., Ausgewählte Werke, hrsg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds, 16 Bde. Leipzig o. J. [1908], Bd. X, S. 149. 4 Vgl. Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, S. 354 ff. Auf dieses Buch stützen sich vielfach die folgenden Ausführungen, zumal auf das Kapitel VIII, S. 538–677 („Deutschtum und Judentum – Eine tragische Illusion?“). 5 Vgl. ebd., S. 11 (Motto).

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Rahmen erst in den zwanziger Jahren unter dem bedrohlichen Eindruck des wachsenden Antisemitismus. Auf jüdischer Seite sind jene Konsequenz und jener Appell hingegen stets an der Tagesordnung gewesen, und sie nehmen zur Zeit des Ersten Weltkriegs geradezu beschwörenden Charakter an. Das Verhältnis des Judentums zum Deutschtum ist bei überwältigend vielen Juden eine Liebesbeziehung – freilich eine einseitige.6 Viele an eine innige Verbindung von Deutschtum und Judentum appellierende jüdische Autoren haben das lange nicht wahrhaben wollen, oder sie mögen sich hin und wieder wie Goethes Philine – gegenüber Wilhelm Meister, der ihr Liebeswerben zurückweist – gedacht haben: „Wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?“7 Spätestens seit Auschwitz stellt der Disput über die Verwandtschaft von Judentum und Deutschtum eine, so scheint es, grauenhaft ad absurdum geführte Gespensterdebatte dar. Leo Baeck, Gershom Scholem und andere bedeutende Vertreter des deutschen Judentums, die das Dritte Reich überlebten, haben rigoros den Schlussstrich unter diese Debatte gezogen. Der ehemalige Berliner Rabbiner Leo Baeck war seinerzeit der wichtigste Repräsentant des liberalen Judentums in Deutschland und seit dem Ersten Weltkrieg, zu dessen Beginn er die deutschen Juden noch emphatisch zur patriotischen Identifikation mit dem Deutschen Reich aufgefordert hat, bis 1942 die Führungsfigur der deutschen Judenheit; eine Emigration lehnte er trotz schwerster Bedrängnis ab. Doch 1945, nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt, in das er 1943 eingeliefert worden war, konstatierte er: Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zu Segen werden können. Dies war eine Illusion.8

Noch rigoroser urteilt Gershom Scholem in seinem Aufsatz „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch“ (1962), dass es ein solches Gespräch nie gegeben habe, sondern ein jüdischer Monolog geblieben sei, der das Echo der eigenen Stimme für die Antwort des Dialogpartners hielt. Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der Ebene historischer Realität, niemals anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch bezahlt worden ist.9

6

Vgl. Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher, Deutschland, jüdisch Heimatland. Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute, München u. a. 2008. 7 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, München 152005, Bd. VII, S. 233. 8 Zit. n. Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997, S. 426. Auch in: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden in Deutschland, hrsg. von Christoph Schulte, Stuttgart 1993, S. 7. 9 Gershom Scholem, Judaica 2, Frankfurt a. M. 1970, S. 10.

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Dem steht die Überzeugung Martin Bubers (1939) gegenüber, dass es dieses Gespräch, ja eine „deutsch-jüdische Symbiose“, durchaus gegeben habe,10 gerade in den Jahrzehnten vor seinem willkürlichen Abbruch durch die Nazis. Buber selbst hat zwischen 1926 und 1930 mit dem Katholiken Josef Wittig und dem Protestanten Viktor von Weizsäcker die interkonfessionelle Zeitschrift Die Kreatur ins Leben gerufen, welche die Herausgeber ausdrücklich als Forum des „Gesprächs“ verstanden.11 Von Lessing und Moses Mendelssohn bis zu Martin Buber und seinem Freundeskreis sowie der Beziehung von Thomas Mann zu Erich von Kahler und anderen jüdischen Autoren – nicht zuletzt aber seiner großen literarischen Antwort auf die jüdische Renaissance in seinen Josephsromanen – hat es das von Scholem verleugnete deutsch-jüdische Gespräch in vielleicht seltenen, aber dafür umso bedeutenderen Ausnahmen immer wieder gegeben. Der Name Scholem steht für eine Familie, welche die ganze Spannbreite deutschen Judentums im 20. Jahrhundert verkörpert. Gershom Scholems ältester Bruder Reinhold bekannte sich zur rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei, sein Bruder Werner hingegen saß in den zwanziger Jahren als Abgeordneter der KPD im Reichstag, im Jahre 1940 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Der dritte Bruder, Erich, war Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und gehörte dem „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an, der die Mehrheit der deutschen Juden repräsentierte. Während der Vater und die Brüder das angestammte Judentum und die geschlossene jüdische Glaubens- und Lebensgemeinschaft als etwas längst Überständiges empfanden, vom dem sich bereits der Großvater mit dem Ziel der Integration in die deutsche Gesellschaft um der beruflich-wirtschaftlichen Karriere willen gelöst hatte, bekannte sich Gerhard, der sich später Gershom nannte, als Einziger unter den vier Brüdern zum (noch nicht durch Assimilation vermeintlich sich selbst entfremdeten) Judentum. Er überwarf sich deshalb mit seinem Vater, identifizierte sich mit dem Zionismus, wurde mit seinen zahllosen Schriften zum großen Wiederentdecker der Kabbala und der jüdischen Mystik im Allgemeinen. In seinem Essay „Juden und Deutsche“ (1966)12 hat Scholem fast noch schärfer als in seinem erwähnten Aufsatz über das vermeintliche deutsch-jüdische Gespräch geurteilt. „Die heutzutage manchmal gehörte Rede vom Verschmelzungsprozeß der beiden Gruppen, der angeblich ohne das Eingreifen des Nationalsozialismus […] auf dem besten Wege gewesen wäre, ist ein zurückprojizierter Wunschtraum.“13 Scholem stellt den Prozess der jüdischen Emanzipation und Assimilation in Deutschland als einen Vorgang rapide zunehmender Selbstentfremdung und als „Selbstaufgabe der Juden“14 dar. Die unleugbare „Intimität, die für die Juden die Beziehung zum Deutschen annahm“, sei aus dem historischen Faktum erklärbar, dass vier Fünftel der Judenheit im Zeitalter der Aufklärung in und um den deutschen Sprachraum herum lebten und „die deutsche Kultur eben diejenige“ war, „der 10 Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 150–153. 11 Vgl. dazu: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, Aufbruch und Zerstörung, hrsg. von Avraham Barkai, Paul Mendes-Flohr und Steven M. Lowenstein, München 1997, S. 159 f. 12 Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 177–201. 13 Ebd., S. 188. 14 Ebd., S. 183.

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sie zuerst begegneten“, und zwar gerade in dem Moment, da jene auf einen der „fruchtbarsten Wendepunkte“ und Höhepunkte ihrer Geschichte zusteuerte. Die Amalgamierung einer großen historischen Stunde, für die Juden durch die Namen Lessing und Schiller bezeichnet, hat ihrer Intensität und ihrem Umfang nach keine Parallele in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völkern. Aus dieser Begegnung […], der ersten auf dem Weg nach Westen, von diesem neuen Bild her fiel ein großer Schein auf alles Deutsche. Noch heute, nach so viel Blut und Tränen, können wir nicht sagen, daß es nur ein trügerischer war. Er war auch mehr. Er enthielt Elemente von großer Fruchtbarkeit, Ansätze zu bedeutenden Entwicklungen.15

Die Liebe, mit der sich die Juden des deutschsprachigen und osteuropäischen Raums der deutschen Kultur zuwandten, ja verschrieben, stieß freilich weniger auf Gegenliebe als auf Abneigung. Dazu Scholem: Die Liebesaffäre der Juden mit den Deutschen blieb, aufs Große gesehen, einseitig, unerwidert und weckte im besten Fall etwas wie Rührung […] oder Dankbarkeit. Dankbarkeit haben die Juden nicht selten gefunden, die Liebe, die sie gesucht haben, so gut wie nie. […] Der Liebe der Juden zu Deutschland entsprach die betonte Distanz, mit der die Deutschen ihnen entgegentraten.16

Eine Distanz, die dazu führte, dass die Mehrheit der Deutschen mehr oder weniger ungerührt, ja überwiegend willfährig die kollektive Exkommunikation der Juden aus der deutschen Gesellschaft und Kultur im Dritten Reich hinnahm und den Massenmord an ihnen weithin übersah – was nicht denkbar gewesen wäre, wenn sie die Juden in ihrem kollektiven Bewusstsein sich selber zugezählt hätten. „Daß die Deutschen die Juden in ihrer geistigen Welt nötig hatten, wird jetzt, wo sie nicht mehr da sind, von vielen bemerkt und als Verlust beklagt, aber als sie sie hatten, wirkten sie als irritierendes Element“, so Scholem. Die zunehmende Dominanz der Juden in repräsentativen gesellschaftlichen Bereichen war den Deutschen „unheimlich“.17 Dass sie mit der Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger etwas verloren hätten, gar ein Stück ihrer selbst, ihrer eigenen Identität, kam jedenfalls den meisten nicht in den Sinn. So schlug das Verschwinden der Juden den Deutschen im Allgemeinen nicht aufs Gemüt, wenn es nicht sogar als Erleichterung empfunden wurde – und Trauer konnte sich bei ihnen auch nach 1945 nicht einstellen, da sie in der Regel gar kein Gefühl des Verlusts hatten. „Das deutsche Judentum ist ein Toter, der nicht bestattet und beklagt wurde.“ So hat Ernst Simon, der langjährige Weggefährte von Martin Buber, zur Eröffnung seiner Rede „Das geistige Erbe des deutschen Judentums“ zur Eröffnung des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem am 31. Mai 1955 mit erschütterndem Lakonismus festgestellt.18

15 16 17 18

Ebd., S. 185 f. Ebd., S. 194, 197. Ebd., S. 194. Ebd., S. 162.

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Die Geschichte der Juden in Deutschland wird heute meist nur von ihrer letzten Phase – ganzen anderthalb Jahrhunderten – zwischen Aufklärung und Drittem Reich her gesehen. Das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus hat die Erinnerung an die über tausend Jahre jüdischer Kultur in Deutschland und ihre Ausstrahlung weit in den Osten Europas im allgemeinen Bewusstsein nahezu ausgelöscht, wie er eben überhaupt die Kultur des osteuropäischen Judentums mit seiner starken deutschen Prägung vernichtet hat. Als im September 1925 der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ sein jährliches Treffen in Worms abhielt, dessen Höhepunkt ein Festgottesdienst in der im Jahre 1036 geweihten Synagoge bildete, geschah das nach den Worten der Organisatoren, um „mit dem deutschen Volke die Tausendjahrfeier des deutschen Rheinlands zu begehen“.19 Freilich: Die Geschichte der Juden im Rheinland reicht erheblich weiter zurück als die der Deutschen. Mit den Römern kamen auch Juden in die Gebiete um Köln, Mainz, Speyer, Worms und Trier, und schon im 4. Jahrhundert gab es in der heutigen Rheinpfalz jüdische Gemeinden. Der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ konnte also mit Stolz darauf verweisen, dass sich Juden mindestens fünfhundert Jahre vor den germanisch-deutschen Stämmen im Rheinland angesiedelt hatten, was Sigmund Freud maliziös kommentiert hat: „in der deutschen Stadt Köln mit dem deutschesten aller Dome hätten die Juden doch schon lange vor den Deutschen gelebt.“20 Der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ erklärte 1925 in einer Verlautbarung: „Seit mehr als 1600 Jahren wurzeln sie [die Juden] in deutscher Erde, atmen sie deutsche Luft […], lieben sie deutschen Acker, deutsche Wälder, Seen und Flüsse.“21 Von jüdischer „Assimilation“ kann in diesen frühen Jahrhunderten, da die deutsche Erde noch nicht deutsch war, wohl kaum geredet werden. Das wichtigste Produkt der Parallelgeschichte von Juden und Deutschen ist die jüdische-deutsche Sprache, das rund tausend Jahre alte, später in fast ganz Europa verbreitete, in hebräischen Lettern geschriebene Jiddisch („mamme loschn“ – „Muttersprache“, wie es von seinen Sprechern genannt wird), das aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangen ist. Seit dem 13. Jahrhundert entwickelte sich eine reiche jiddische Literatur, die aus geistlicher Volksepik und aus – von jüdischen Spielleuten bearbeiteten – Heldensagen und Ritterromanen bestand. Ein wichtiges Beispiel ist das um 1300 entstandene Strophenepos Dukus Horant, das sich eng mit der mittelhochdeutschen Kudrun berührt. Durch die christlichen Verfolgungen im Mittelalter, die dem Zusammenwirken jüdischer und deutscher Kultur mehr und mehr ein Ende setzten, und die dadurch bedingten Migrationen der Juden hat sich das Jiddische vom deutschsprachigen Gebiet aus in Europa verbreitet, vor allem nach Osteuropa. Infolge der massenhaften Auswanderung osteuropäischer Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert breitete es sich besonders in Amerika aus. (Das 1978 mit dem Nobelpreis gekrönte Lebenswerk des gebürtigen Polen Isaac B. Singer ist das bedeutendste Beispiel jiddischer Literatur in Amerika.) Während das Westjiddische im Zuge der Judenemanzipation seit dem 18. Jahrhundert auszusterben begann, 19 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, (wie Anm. 11), S. 154. 20 Vgl. Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 27. 21 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, (wie Anm. 11), S. 154.

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blieb das Ostjiddische die Alltagssprache der meisten Juden in Osteuropa, bis die jüdischen Kulturzentren durch den Nationalsozialismus vernichtet wurden – und die im Jiddischen, dessen „Aussprache sich weitgehend mit der eines Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach deckt“, zum Ausdruck kommende, „durch Jahrhunderte bewahrte Anhänglichkeit der Juden an Deutschland“ (Viktor Klemperer)22 mit grausamstem Undank vergolten wurde. Die neuere Geschichte der Akkulturation der Juden in Deutschland – um uns statt „Assimilation“ oder gar „Symbiose“ des am wenigsten belasteten, unverfänglichsten, ideologie- und wertungsfreiesten Begriffs für jenen Prozess zu bedienen23 – lässt sich zwischen zwei symbolischen Daten fassen: der Entstehung zweier epochaler Bibelübersetzungen, die Anfang und Ende jener Akkulturation bezeichnen. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts übersetzte Moses Mendelssohn, der Vordenker der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, den man als den Vater der jüdisch-deutschen Geschichte der Moderne bezeichnen könnte, die Thora – die fünf Bücher Mose – und zudem das Hohelied aus dem Hebräischen ins Deutsche. Es war eine Übersetzung für seine Kinder und die deutschen Juden, die – sozial abgesondert und kulturell strikt von ihrer christlichen Umwelt getrennt, Jiddisch sprechend und in jüdischen Schulen erzogen – großenteils des Deutschen nicht mächtig waren und die er mit dieser Übersetzung und ihrem Kommentar in die deutsche Sprache und Kultur einführen wollte. Geschrieben war sie ursprünglich nicht in lateinischen, sondern in hebräischen Lettern, da nur diese für die meisten Juden lesbar waren. An dem altvertrauten Text der Thora sollten die Juden Deutsch lernen. Das war der Beginn der jüdischen Akkulturation in Deutschland. Hundertfünfzig Jahre später gingen zwei jüdische Denker – Martin Buber und Franz Rosenzweig – erneut daran, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen, nun aber unter genau entgegengesetzten Vorzeichen. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben die aus Deutschland stammende, aus dem 1819 gegründeten „Verein für die Cultur und Wissenschaft der Juden“ hervorgehende „Wissenschaft des Judentums“ (mit ihrer 1872 gegründeten Berliner „Lehranstalt“) und die „jüdische Renaissance“ (so der Titel von Martin Bubers Programmessay in der Zeitschrift Ost und West von 1901) einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Sie bilden den Hintergrund des monumentalen Übersetzungsunternehmens von Buber und Rosenzweig. In den anderthalb Jahrhunderten der „Assimilation“ hatten die deutschen Juden meist das Hebräische verlernt, sie waren ganz und gar in deutscher Sprache und Kultur verwurzelt. Suchte Mendelssohn die Juden über die Sprache der Gegenwart für die deutsche Kultur zu gewinnen, so bemühten sich Buber und Rosenzweig, ihnen über das Deutsche die Sprachwelt ihrer Vorväter wieder nahezubringen – sollte ihre Übersetzung doch in eine 22 Viktor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Neuaufl. Stuttgart 2007, S. 107 f. 23 Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II, Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, hrsg. von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner, München 1996. Zum Begriff der Akkulturation siehe auch Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 9–36 („Erfolgreiche Akkulturation und ihre Grenzen“).

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nicht an der geschriebenen, sondern an der gesprochenen Sprache orientierte Aura eingehüllt werden, die dem hebräischen Original, seiner Oralität, sinnlichen Bildlichkeit und Rhythmik möglichst nahekam24 – und sie zu locken, so das Idealziel der Übersetzer, sich diesem Original unmittelbar zuzuwenden.25 Als 1925, acht Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, der erste Band von Bubers und Rosenzweigs Übersetzung erschien (die Buber nach dem frühen Tod des Freundes 1929 allein fortführte), konnten die beiden noch nicht ahnen, dass jene gewissermaßen das Schwanenlied der jüdischen Akkulturation in Deutschland werden sollte. Als die Übersetzung 1961, nach über 35 Jahren, endlich abgeschlossen wurde, waren die mit ihr einst verbundenen Hoffnungen auf eine jüdisch-deutsche geistige Allianz längst zerstoben, durch die nationalsozialistische Rassendoktrin, die zwischen Juden und Deutschen eine undurchdringliche Scheidewand errichtet hatte, und durch den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas für immer in den Hades der Undenkbarkeit hinabgetrieben. „Ihre Übersetzung“, so Gerschom Scholem in seiner Rede im Hause Bubers anlässlich des Abschlusses des monumentalen Unternehmens, „war etwas wie ein Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten.“ Nun aber sei aus dem Gastgeschenk „das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“ geworden.26 Deutschland hat weit länger gebraucht, die Emanzipation der Juden rechtlich durchzusetzen, als etwa Frankreich, das die jüdische Bevölkerung 1791 als erster europäischer Staat seinen anderen Bürgern gleichstellte. Mit dem Einmarsch napoleonischer Truppen, der Gründung des Großherzogtums Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf und des Königreichs Westfalen durch Napoleon gelangte diese Errungenschaft nach Deutschland. Eine derart im revolutionären Gedankengut wurzelnde Judenemanzipation gab es in Deutschland im Grunde nicht. Sie blieb eine von Staat zu Staat unterschiedlich umgesetzte hoheitliche Anordnung, die vielfach eher als Übel denn als Fortschritt empfunden wurde. Erst der Reichstag des Norddeutschen Bundes verfügte am 3. Juli 1869: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hervorgehenden Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben.“ Das bedeutete die Gleichstellung auch der Juden, im Rahmen der Neudefinition des Judentums als bloßer Konfession, die sie als „Nation“ ignorierte.27

24 Vgl. Franz Rosenzweig, „Die Schrift und das Wort. Zur neuen Bibelübersetzung“, in: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. von Reinhold und Annemarie Mayer (= Gesammelte Schriften, Bd. III), Dordrecht 1984, S. 777–783. 25 Vgl. 50 Jahre Martin Buber Bibel. Beiträge des Internationalen Symposions der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg und der Martin Buber-Gesellschaft, Berlin 2014, bes. S. 5 ff., außerdem S. 207–230. 26 Gershom Scholem, Judaica 1, Frankfurt a. M. 21963, S. 214 f. 27 Damit wäre eigentlich einem Hauptargument des Antijudaismus die Grundlage entzogen. Paul de Lagarde hatte in seiner Rede „Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik“ (1853) geschrieben: „Juden dürfen am Staatsleben nicht teilnehmen, wann und weil sie unfähig dazu sind: einen anderen Grund sie auszuschließen gibt es nicht: […] Es ist unmöglich, eine Nation in

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1871 wurde die Geltung des Gesetzes von 1869 auf das ganze Reich ausgedehnt. Die Umsetzung der staatsbürgerlichen Gleichheit blieb dem ungeachtet umstritten. Vielfach stand sie nur auf dem Papier. So sehr jüdische Intellektuelle sich in der Folgezeit weltweite Reputation erwarben, blieben sie doch in den staatlichen Bildungsinstitutionen erheblicher Benachteiligung ausgesetzt. Gleichwohl gelang den deutschen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein sozialer und ökonomischer Aufstieg, ja eine soziale Umschichtung wie in keinem anderen europäischen Land: Gehörten um 1800 noch zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung zur armutsnahen Unterschicht, so zählte in den Jahrzehnten des Kaiserreichs eine fast ebensolche Mehrheit zur Ober- und Mittelschicht. Diese rapide Etablierung der deutschen Juden im Bürgertum, ihre beispiellose Aufstiegsmobilität, übertrifft diejenige der Juden in England, Holland oder Frankreich bei Weitem.28 Es fragt sich, ob dieses Faktum eigentlich mit dem Begriff einer „Assimilation“ der Juden vereinbar ist, die ja Anpassung an etwas vorher schon Dagewesenes bedeutet. Vielfach waren die Juden jedoch Vorreiter des modernen Bürgertums, schufen etwas, das vorher durchaus noch nicht da war und sich ohne sie kaum so schnell entwickelt hätte. Die wachsende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Juden im Kaiserreich, ihre (gemessen am Anteil an der Gesamtbevölkerung, der nie mehr als rund 1 Prozent betrug) deutliche Überrepräsentanz in den innovativen kulturellen Strömungen29 ist eindrucksvoll von Gottfried Benn in seinem Lebens- und Epochenabriss Doppelleben von 1950 beschrieben worden: Der Glanz des Kaiserreichs, sein innerer und äußerer Reichtum, verdankte sich sehr wesentlich dem jüdischen Anteil der Bevölkerung. Die überströmende Fülle von Anregungen, von artistischen, wissenschaftlichen, geschäftlichen Improvisationen, die von 1918–1933 Berlin neben Paris rückten, entstammte zum großen Teil der Begabung dieses Bevölkerungsanteils, seinen internationalen Beziehungen, seiner sensitiven Unruhe und vor allem seinem todsicheren Instinkt für Qualität.30

Die „essentielle Leistung der Juden für die kulturelle Moderne“, ja ihre förmliche Bedeutung als „Modernisierungselite“ (Helmuth Kiesel)31 löste freilich eine zunehmende, mit einem ausgeprägten Neidkomplex verbundene Angst vor „Verjudung“ und Überfremdung aus.32 Ein durch seine Geschichte in seiner Identität stets gefährdetes Volk wie die Deutschen suchte sich in seiner frisch gewonnenen Nationalstaatlichkeit gegenüber allem und allen der Nation zu dulden. Und eine Nation sind die Juden“, in: ders., Deutsche Schriften, München 2 1934, S. 30. 28 Vgl. dazu die wegweisende Monografie von Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 29 Vgl. Helmuth Kiesel, „Moderne und Judentum“, in: ders., Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 74–85. 30 Gottfried Benn, Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen, in: ders., Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, Bd. V, S. 85 f. 31 Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, (wie Anm. 29), S. 77, 83. 32 Dieser Neidkomplex ist das Hauptthema des Buchs von Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt a. M. 2011.

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„Fremden“ kompensatorisch abzugrenzen – ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Juden sich ja von ihrer jüdischen Identität und den Ritualgesetzen ihrer Religion weithin losgesagt hatten und gerade mit der deutschen Kultur identifizierten. Obwohl die deutschen Juden im Vergleich mit den Juden der europäischen Nachbarländer im 19. Jahrhundert rechtlich eher im Rückstand waren, haben sie sich die deutsche Kultur emphatisch zu eigen gemacht. Während Moses Mendelssohn noch glaubte, in beiden Welten, der jüdischen wie der deutschen, gleichermaßen leben zu können, Akkulturation also für ihn noch nicht die Preisgabe des jüdischen Glaubens und seiner Praktiken bedeutete, zeigt schon die Geschichte seiner eigenen Familie, dass bereits in der darauf folgenden Generation die deutschen Juden mehr und mehr aus der eigenen Tradition auswanderten und sich der deutschen Kultur verschrieben. Deutsche Lektüre wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert zur Leidenschaft der städtischen Juden, deren Lieblingsautoren Lessing und Schiller waren. Goethe wurde von den deutschen Juden erst im späteren 19. Jahrhundert entdeckt, seitdem aber umso intensiver gelesen und studiert, wie die ansehnliche Zahl prominenter jüdischer Goethe-Forscher bezeugt. Pioniere der jüdischen Goetheverehrung schon im frühen 19. Jahrhundert waren die Salons von Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn und Rahel Varnhagen. Darauf bezieht sich Nietzsche in Der Fall Wagner, wenn er in der exzentrischen Manier seiner späten Schriften bemerkt, Goethe sei „den Deutschen immer anstössig“ gewesen; er habe „ehrliche Bewunderer nur unter Jüdinnen gehabt“.33 Wie ist es zu erklären, dass die Internalisierung der deutschen Kultur für die deutschen Juden im Vergleich zu dem Verhältnis, das die Juden anderer europäischer Länder zu den sie jeweils umgebenden Nationalkulturen pflegten, eine entschieden bedeutendere Rolle spielte? Als die westeuropäischen Juden die Gettos verließen, trafen sie in der Regel – gerade in Frankreich – auf eine schon lange bestehende kulturelle Tradition, einen festen intellektuellen und ästhetischen Kanon. Deutschland hingegen war bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein in europäischen Augen weithin – zumal literarisch – unbeschriebenes Blatt. Dann aber reichte mit einem Schlage dieses Blatt nicht mehr aus, um all das aufzunehmen, was sich in wenigen Jahrzehnten tat: Es kam zu einem beispiellosen Aufschwung der deutschen Musik, Philosophie und Literatur, der die deutsche Kultur plötzlich zur Weltkultur machte, woran wenige Jahrzehnte zuvor noch niemand gedacht hatte. Dieser Aufschwung fiel aber genau mit dem Beginn der jüdischen Akkulturation zusammen. Die Freundschaft zwischen Lessing und Mendelssohn, den Gründervätern der modernen deutschen Literatur und der jüdischen Akkulturation, ist dafür das epochale Symbol.34 Die deutschen Juden sahen sich nicht in fest gefügte historische Räume hineinversetzt, deren Mobiliar sie nutzen, aber nicht mehr schaffen und anschaffen konnten, sondern wurden in einen gerade eben beginnenden kulturellen Prozess mit hinein-

33 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München u. a. 1980, Bd. VI, S. 18. 34 Vgl. dazu neuerdings das Kapitel „Lessing und die jüdische Aufklärung“ bei Monika Fick, LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 42016, S. 490–518.

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gezogen. Deshalb ist der im späten 19. Jahrhundert aufgekommene Begriff der Assimilation (der Juden an die deutsche Kultur) zumindest einseitig. Die Besonderheit der neueren deutsch-jüdischen Geschichte besteht in der Ausbildung eines Konzepts von „Bildung“ – ein Begriff, der bezeichnenderweise nicht adäquat in andere Sprachen übersetzbar ist –, bei dem es nicht um Aneignung von zweckbezogenem Wissen, Spezialwissen- und -kompetenz (in welchem Sinne der Begriff heute von der sogenannten Bildungspolitik zweckentfremdet wird), sondern um ein den ganzen Menschen umfassendes Ideal, um eine universale und harmonische Persönlichkeitsentfaltung geht.35 Die Utopie der Kulturnation, die das politisch zerrissene Deutschland überwölbte, bot den Juden eine Identifikationsmöglichkeit, hier war Freiheit und Gleichheit zu finden, die es eben nur im Reich des Geistes und der Kultur gibt, die ihnen eine Staatsnation in dieser Zeit aber niemals hätte bieten können. Und Bildung erleichterte mehr als in anderen Ländern den sozialen Aufstieg, wie Simone Lässig festhält: „Dem kulturellen Konstituierungsvorgang des Bürgertums kam […] in Deutschland ein viel höheres Gewicht zu als in anderen europäischen (Zentral-)Staaten. Während etwa in England vorrangig der geschäftliche Erfolg für Akzeptanz sorgte, wurde das Grundmodell der bürgerlichen Kultur in Deutschland auch für das Besitzbürgertum verbindlich“ – und Bildung so auch zum „Katalysator sozialer Mobilität“ und der wirkungsvollste „Aufstiegskanal“ für die Juden, deren zahllose Bildungsinitiativen im 19. Jahrhundert sie wirklich zum Vorreiter der modernen Kultur machten. „Aus dieser Sicht kann es nicht verwundern, dass sich Bildung auch in der Debatte um eine ,Verbesserung‘ der Juden zu einem Gravitationspunkt entwickelte und nahezu alle Emanzipationsdokumente beherrschte.“36 Die jüdische „Bildungsoffensive“ drängte freilich aus dem rein kulturellen Bereich mehr und mehr in die Politik. Das Freiheits- und Humanitätsversprechen der klassischen deutschen Kultur, wie es für die Juden von Schiller oder Beethoven repräsentiert wurde, sollte doch auch von der politisch-rechtlichen Realität eingelöst werden. 1848 war das wichtigste Jahr in der politischen Bewusstseinsbildung der deutschen Juden. Von Liberalismus und Parlamentarismus sowie von einem darauf basierenden Nationalstaat versprachen sie sich ihre rechtliche Gleichstellung mit den anderen Staatsbürgern. Deshalb identifizierten sie sich weithin mit den nationalen Bestrebungen der Deutschen. Die Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ) prägte schließlich die Formel vom „deutschen Bürger jüdischen Glaubens“, die dann der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) in den neunziger Jahren zum politischen Programm erhob. Doch selbst der ultraorthodoxe Israelit, das Gegenorgan des „Central-Vereins“, erklärte 1870: „Wir deutschen Juden sind Deutsche und nichts anderes […], Deutsche durch Geburt und Gesinnung.“37 35 Vgl. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, (wie Anm. 28), S. 24 u. ö. u. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Paris 1993, darin bes. das Kapitel „Die ,zerstörte Geistesgemeinschaft‘: Bildung und Judentum“, S. 85–91. 36 Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, (wie Anm. 28), S. 71, 659. 37 Vgl. dazu: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III, Umstrittene Integration 1871–1918, hrsg. von Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz, München 1997, S. 597.

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Trotz aller Beschwörungen jüdisch-deutscher Seelenverwandtschaft durchschauten indessen viele jüdische Intellektuelle angesichts des grassierenden Antisemitismus ihren illusionären Charakter. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der im deutschen Judentum noch einmal alle Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer vollständigen Integration hinwegfegte, brachte der jüdische Journalist Moritz Goldstein mit seinem Artikel „Deutsch-jüdischer Parnaß“ in der nationalkonservativen Kulturzeitschrift Der Kunstwart vom März 1912 – drei liberale Organe hatten ihn zuvor abgelehnt, da sie durch den Artikel ein auf liberaler jüdischer wie nichtjüdischer Seite sorgsam gehütetes Tabu verletzt sahen – ohne Rücksicht auf Verluste einen hässlichen Misston in die Sirenengesänge jüdisch-deutscher „Symbiose“.38 Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch. Wir mögen nun Max Reinhardt heißen und die Bühne zu ungeahntem Aufschwung beflügeln […] oder als Max Liebermann die moderne Malerei führen: wir mögen das deutsch nennen, die andern nennen es jüdisch, sie hören das „Asiatische“ heraus, sie vermissen das „germanische Gemüt“, und wenn sie schon die Leistung – mit Vorbehalten – anerkennen müssen, sie wünschten, wir leisteten weniger.39

Ja, Goldstein konstatiert provozierend: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht.“ 40 Und doch: „Trotz Verfolgung, Verhöhnung, Missachtung ist das Judentum im Laufe einer mehr als tausendjährigen Gemeinschaft mit dem Deutschtum so eng in den Wurzeln verwachsen, dass sie beide nicht mehr voneinander gelöst werden können.“ 41 Der wachsende Anteil der Juden am gegenwärtigen deutschen Kulturleben, ja ihre Dominanz in Bereichen wie dem Feuilleton, dem Theater und der Musik zeigen nach Goldstein, dass „deutsche Kultur zu einem nicht geringen Teil jüdische Kultur“ ist.42 Am Ende von Goldsteins kritischen Betrachtungen steht Ratlosigkeit, der Schmerz des sich doch so sehr als Deutscher fühlenden Juden, immer wieder grausam aus seiner Identität herausgeworfen zu werden: Der deutsche Frühling ist auch uns ein Frühling, wie der deutsche Winter unser Winter war, und gegen diesen seit ungezählten Generationen miterlebten Wechsel der Jahreszeiten, was bedeutet [eine skeptische Anspielung auf den Zionismus] unserm Herzen der östliche blaue Himmel, unter dem Palmen, Zedern und Oliven gedeihen? Ein Wunder allenfalls. Sind wir nicht aufgewachsen mit dem deutschen Märchen? Haben wir nicht Rotkäppchen und Dornröschen gespielt, waren wir nicht betrübt über Schneewittchen und froh mit den sieben Zwergen? Lebt nicht auch uns der deutsche 38 Vgl. ebd., S. 354 f. 39 Moritz Goldstein, „Deutsch-jüdischer Parnaß“, in: Der Kunstwart 25 (1912), S. 281–294, hier S. 286. 40 Der Satz erscheint bei Goldstein in Kursivdruck. 41 Ebd., S. 291. 42 Ebd.

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Dieter Borchmeyer Wald, dürfen nicht auch wir seine Elfen und Gnomen erblicken, verstehen nicht auch wir das Rauschen des Baches und den Gesang der Vögel?43

Bildet die deutsche Philosophie, Literatur und Musik nicht auch den größten Raum in der Innenwelt der Juden? Aber nein, all das wird ihnen abgestritten, und so appelliert Goldstein an sie, nicht den Kopf in den Sand zu stecken und sich ihres existenziellen Dilemmas bewusst zu werden. Mit schonungsloser Aggressivität polemisiert er am Ende seines Essays gegen „die Juden, die nichts merken, die unentwegt deutsche Kultur machen, die so tun, als ob, und sich einreden, man erkenne sie nicht“.44 Die grausame Konsequenz ist für ihn: „Unser Verhältnis zu Deutschland ist das einer unglücklichen Liebe, wir wollen endlich männlich genug sein, uns die Geliebte, statt ihr endlich kläglich nachzuschmachten, mit kräftigem Entschlusse aus dem Herzen zu reißen – und bliebe ein Stück Herz hängen.“ 45 Goldsteins Essay löste eine vehemente Kontroverse aus46: Entrüstung bei den liberalen Juden im Umkreis des „Central-Vereins“ – Musterbeispiel ist etwa der Artikel von Ernst Lissauer mit dem in diesen Jahren fast epidemisch häufig (so oder in umgekehrter Reihenfolge) verwendeten Titel „Deutschtum und Judentum“ 47 –, lebhafte Zustimmung hingegen aufseiten der Zionisten,48 obwohl Goldstein sich ein Leben in Palästina unter Palmen, Zedern und Oliven für die deutschen Juden mit ihrem in tausend Jahren ererbten Kulturhintergrund nicht recht vorstellen konnte. Der Traum der Einheit von Judentum und Deutschtum, wie ihn die deutschen Juden seit dem späten 18. Jahrhundert träumten, nahm seine glühendsten Farben bezeichnenderweise in der Zeit des Ersten Weltkriegs an.49 Das Stahlbad und die Katharsis dieses Kriegs – als welche ihn die meisten deutschen Intellektuellen 1914 feierten – schien auch den Juden endlich das zu geben, was sie seit mehr als einem Jahrhundert ersehnt hatten: nämlich ihre vollständige gesellschaftliche und kulturelle Integration. Quer durch alle ideologischen 43 Ebd. 44 Ebd., S. 294. 45 Ebd., S. 292. 46 Vgl. die Rückschau von Moritz Goldstein, „German Jewry’s Dilemma. The Story of a Provocative Essay“, in: The Leo Baeck Institute Yearbook 2 (1957), S. 236–254 u. ders., Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933, hrsg. von Kurt Koszyk, München 1977; siehe auch Irmtraud Ubbens, „Aus meiner Sprache verbannt …“ Moritz Goldstein, ein deutsch-jüdischer Journalist und Schriftsteller im Exil, München 2002. 47 Ernst Lissauer, „Deutschtum und Judentum“, in: Der Kunstwart 25 (1912), S. 6–12. 48 Vgl. Gershom Scholem, „Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1933“, in: ders., Judaica 4, Frankfurt a. M. 1984, S. 229–261, hier S. 259. 49 Vgl. Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, (wie Anm. 23). Sieg sucht freilich zu demonstrieren, dass das deutsche Judentum nicht so vollständig eine emphatische Einheitsfront auf der Seite der deutschen „Sache“ gebildet hat, wie vielfach in der Forschung dargestellt. Stimmen wie die von Ludwig Geiger, dem Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums, der trotz grundsätzlicher Kriegsbejahung vor der Zerschneidung der internationalen Bande der Gelehrtenrepublik warnt (ebd., S. 72), und die im Verlauf des Kriegs zunehmende „jüdische Friedenssehnsucht“ (ebd., S. 151–172), sollen ein Gegengewicht zu der allzu pauschalen Einschätzung der Haltung des deutschen Judentums gegenüber dem Krieg bilden.

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Fronten innerhalb des deutschen Judentums stand dasselbe, ob orthodoxe Minderheit, Zionisten oder „assimilatorische“ Juden, bis auf wenige prominente Ausnahmen auf der Seite des Krieg führenden Deutschland.50 Hatte sich vor dem Krieg – das Beispiel Goldsteins zeigt es – unter der jüdischen Gemeinschaft immer wieder Skepsis breitgemacht, ob angesichts der allenthalben spürbaren Schikanen der staatlichen Behörden und des antisemitischen Ressentiments von einer gelungenen Integration die Rede sein könne und die Gleichberechtigung der Juden nicht lediglich Theorie sei, schien das im Moment des Kriegsausbruchs so gut wie vergessen. Die patriotische Kriegsbejahung hatte nicht zuletzt ihren Grund darin, dass die deutschen Juden darauf hofften, ihr Erzfeind, das zaristische Russland mit seinen anhaltenden Pogromen noch in der jüngsten Vergangenheit, werde durch den Krieg vernichtend aufs Haupt geschlagen. Das Kaiserreich galt den meisten deutschen Juden als Bollwerk gegen diese Hauptmacht des Antisemitismus. Hinzu kommt, dass die Zionisten die Unterstützung des Deutschen Reichs für die jüdischen Kolonien in Palästina erhofften – wie schon 20 Jahre zuvor Theodor Herzl beim Besuch Wilhelms II. im Heiligen Land. (Tatsächlich hat wohl nicht zuletzt das Deutsche Reich durch seine wiederholten Interventionen beim verbündeten Osmanischen Reich die Auflösung der jüdischen Kolonien in Palästina, das zu seinem Herrschaftsgebiet gehörte, verhindern können.) Als Deutschland Anfang August 1914 den Krieg erklärte, schlug das allenthalben ausbrechende „Augusterlebnis“ seine Wellen bis weit in die jüdische Welt hinein. Dem Aufruf des Kaisers zum gemeinsamen Gottesdienst für das Vaterland folgten auch die Synagogen landauf, landab. In der Reichshauptstadt strömten so viele Massen zum Gottesdienst herbei, dass die Synagoge sie nicht fassen konnte und der Berliner Rabbiner Leo Baeck ihn unter patriotischen Beschwörungen mehrfach abhalten musste. „Incipit vita nova“, schreibt der kriegsbegeisterte Martin Buber am 30. September 1914 an den Zionisten Karl Kohn.51 Nie sei ihm „der Begriff ,Volk‘ so zur Realität geworden wie in diesen Wochen“. Noch am 1. April 1916, auf der ersten Seite seiner neuen Zeitschrift Der Jude bekennt er: „Im Sturm der Begebenheit hat der Jude mit elementarer Gewalt erfahren, was Gemeinschaft ist.“52 Der Aufruf „An die Kulturwelt“, das sogenannte „Manifest der 93“ vom September 1914 – einer der prominentesten, weltweit wahrgenommenen Beiträge zur Kriegspropaganda, in dem sich führende deutsche Intellektuelle zur deutschen Sache bekannten und die Welt von deren Gerechtigkeit zu überzeugen suchten – hatte den jüdischen Bühnenautor Ludwig Fulda (der sich, von den Nazis verfolgt, 1939 in Berlin das Leben genommen hat) zum Autor und wurde auch von prominenten jüdischen Gelehrten und Künstlern

50 Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III, (wie Anm. 37), S. 356 ff. u. Bd. IV, (wie Anm. 11), S. 16 ff. 51 Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. von Grete Schaeder, 3 Bde., Heidelberg 1972, Bd. I, S. 370 f. 52 Der Jude, Jg. 1, S. 1. Zu Bubers nationalistisch geprägter Kriegsphilosophie vgl. Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, (wie Anm. 23), S. 140–149 und zu der Gegnerschaft zwischen dem Pazifisten Scholem und dem Kriegsapologeten Buber ebd., S. 156 ff.

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wie Max Reinhardt und Max Liebermann unterzeichnet.53 Vonseiten der Regierung wurde zumal gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit ein Bild von Deutschland als dem Freund der Juden kultiviert. Eine der repräsentativen Kriegsreden sei hier ausführlich zitiert, da sie von einem der Wortführer des „Central-Vereins“ stammt, zu dem und dessen Positionen sich die Mehrheit der Juden bekannte: dem Juristen Eugen Fuchs. In seinen vom „Central-Verein“ 1919 herausgegebenen Publikationen Um Deutschtum und Judentum hat Fuchs die Überzeugung ausgesprochen: „Wir sind keine Fremdkörper mehr im Staate, keine fremde Rasse. […] Wir haben jahrzehntelang in unserer Kindheit nichts anderes gewußt, als daß wir Deutsche sind, an deutscher Dichtung und deutscher Kunst, an deutscher Kultur und deutscher Gesittung haben wir uns vollgesogen.“ Und im geschichtlichen Rückblick bemerkt er, dass die im Mittelalter „unter Mord und Brand“ aus dem Westen Deutschlands vertriebenen Juden doch „als getreue Kinder eines unväterlichen Vaterlandes die deutsche Sprache mitgenommen und bis in die fernsten Lande und jüngsten Zeiten bewahrt haben“.54 Die deutschen Juden wollen, so Fuchs, gewiss „innere Belebung, Renaissance des Judentums, nicht Assimilation“, doch in entschiedener Opposition zum Zionismus bekennt er: „Wir sind Deutsche und wollen Deutsche bleiben, und hier in Deutschland auf deutschem Boden unsere Gleichberechtigung erringen, unbeschadet unserer jüdischen Eigenart, unserer Treue, unserer Glaubensgemeinschaft.“55 Ja, haben andere Volksgruppen nur ein Vaterland, so die Juden auch noch ein Mutterland (eine mit unterschiedlicher Zuordnung zu Vater und Mutter bei vielen Juden der Zeit auftauchende Wendung): „Für uns ist Deutschtum und Judentum Vater und Mutter.“56 Der Krieg, so die kühnste These von Fuchs, habe nicht nur die Juden ganz und gar in Deutsche verwandelt, sondern gewissermaßen auch die Deutschen in Juden, denn beide seien nun durch den Hass der Welt eins geworden. Der Haß, dessen sich die Juden erfreuen, ist etwas, was sie mit den Deutschen teilen. Wir haben jetzt einen Haß gegen die Deutschen gesehen, dem nur noch ein Haß der Weltgeschichte gleicht, der Haß gegen die Juden. Diese Gemeinsamkeit des Hasses wird ihnen zeigen, daß die meistgehaßten Menschen nicht die schlechtesten sind, daß jüdische und deutsche Geistesart sehr geistesverwandt ist; man möchte das Wort prägen, daß die Deutschen die Juden unter den Völkern sind.57

53 Vgl. Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1997. Der Aufruf hatte eine katastrophale Wirkung im Ausland und nährte dessen Ansicht von der deutschen Überheblichkeit (vgl. ebd., S. 80–111). 54 Eugen Fuchs, Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze, hrsg. im Auftrag des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens von Leo Hirschfeld, Frankfurt a. M. 1919, S. 132. 55 Ebd., S. 133. 56 Ebd., S. 140. 57 Ebd., S. 153.

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Im Vergleich mit einer Rede wie dieser wirkt etwa Erich von Kahlers Broschüre Der vorige, der heutige und der künftige Feind (1914) eher maßvoll, obschon auch sie sich in deutschtümelnder Begeisterung ergeht. Im Mittelpunkt der Schrift steht eine Typologie der deutschen Kriegsgegner, die natürlich ganz zum Vorteil Deutschlands ausfällt. Dieses allein „trägt den Sinn der Welt, und es ist eine heilige Übereinstimmung darin, daß diese berufene Nation zur rechten Stunde sich gerade auf dem Höhepunkt findet, wo sie ihre eigene Art am vollkommensten ausdrückt, und daß der schreitende Weltgeist zu bestimmter Stunde gerade ihrer bedarf, um sich fortzuwandeln.“58 Diese geschichtsteleologische Idee, die Deutschland – in Übertragung des biblischen Auserwähltheitsgedankens vom jüdischen auf das deutsche Volk – als vom Weltgeist berufen auszeichnet, das zukünftige Geschick der Menschheit zu bestimmen, findet sich in vielen Kriegsschriften jüdischer Autoren. Die messianische Idee des Judentums, deren spezifische religiöse Substanz jenen Autoren nicht selten verloren gegangen ist, wird gewissermaßen in ein utopisches Deutschtum gerettet, in Hegel’schem Sinne in ihm aufgehoben. Begeistert urteilt der Rezensent der Frankfurter Zeitung über die mehrfach aufgelegte, von den meisten deutschen Zeitungen besprochene Broschüre von Kahler, die deutschen Soldaten, die den Faust und die Bibel und den Zarathustra in der Tasche haben [der sprichwörtliche Faust im Tornister, dessen Lektürehäufigkeit von Nietzsches Zarathustra allerdings weit übertroffen wurde], sollten auch Erich von Kahlers Büchlein vom vorigen, heutigen und künftigen Feind lesen können, und der kosmische Atem, den sie daraus verspüren werden, wird ihnen Helligkeit und Ruhe und Kraft zum Rest des schweren Kriegshandwerks geben.59

Die Schrift eines jüdischen Autors wird von der führenden deutschen Tageszeitung neben den „heiligen“ Büchern der deutschen Kulturtradition dem deutschen Soldaten in den Tornister gesteckt! 20 Jahre später werden die Bücher desselben Autors von der Gestapo eingestampft. Eines der wichtigsten – freilich auch schon zu seiner Zeit umstrittensten – Zeugnisse für das Traumziel einer vollkommenen jüdischen Integration ist Hermann Cohens Schrift Deutschtum und Judentum aus dem zweiten Kriegsjahr (der ein ebenso betitelter Aufsatz von ihm vorausgegangen war).60 Hermann Cohen (1842 bis 1918), Sohn eines jüdischen Kantors, wurde 1876 in Marburg der erste jüdische Philosophieprofessor in Deutschland. 58 Erich von Kahler, Der vorige, der heutige und der zukünftige Feind, Heidelberg 1914, S. 3 f. 59 Anton Fendrich, „An der inneren Front. Eine Bücherbesprechung“, in: Frankfurter Zeitung vom 11.04.1915. 60 Die Formel „Judentum und Deutschtum“ oder umgekehrt ist wie erwähnt – auch die Beispiele Nahum Goldmanns und Erich Kahlers werden es zeigen – repräsentativ für die Selbstreflexion der deutschen Juden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise gab sich die Zeitung des „Central-Vereins“ 1922 den neuen Untertitel Blätter für Deutschtum und Judentum. Vgl. auch die oben zitierten Aufsätze des Antizionisten Eugen Fuchs, Um Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 54). Siehe dazu das Kapitel „Auseinandersetzungen über Deutschtum und Judentum“ bei Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, (wie Anm. 23), S. 231–255.

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Er gründete zusammen mit Paul Natorp die epochemachende Marburger Schule des Neukantianismus und schrieb eine Reihe von maßgebenden Monografien über Kant, dem er in seinen späteren Werken ein eigenes, doch immer von ihm inspiriertes System der Philosophie gegenüberstellte. Cohen galt seinerzeit als bedeutendster Universitätsphilosoph des Kaiserreichs. Nach seiner Emeritierung 1912 begann er ein zweites wissenschaftliches Leben in Berlin, wo er an der dortigen „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ wirkte. Hier verfasste er sein religionsphilosophisches Hauptwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919). In seiner Schrift Deutschtum und Judentum stellt Cohen sich dezidiert in die Tradition des deutschen Idealismus, der für ihn gewissermaßen das Telos der Philosophiegeschichte ist. Sein religionsgeschichtliches Pendant aber ist der jüdische Monotheismus. In ihm ist der Idealismus für Cohen ebenso impliziert, wie der Idealismus den jüdischen Monotheismus expliziert. Beide sind in der Moderne ebenso wenig voneinander zu lösen wie Judentum und Deutschtum. Aus der Überlegenheit des deutschen Idealismus leitet Cohen einen „Rechtstitel auf die geistige Vorherrschaft“ ab,61 der im Grunde auch die politische in sich fasst und dem Judentum aufgrund der Affinität des biblischen Monotheismus zum Idealismus ebenfalls eine Sonderstellung einräumt. Für den Juden in aller Welt ist Deutschland, so Cohen, das „Mutterland seiner Seele“,62 dem gegenüber allen Juden, aus welchem Land auch immer, „Pflichten der Pietät“ obliegen.63 Diesen Standpunkt hat Cohen auch in einem im Auftrag des Auswärtigen Amts verfassten Aufruf an die Juden in Amerika – die vermeintlich überwiegend auf der Seite der deutschen Kriegspartei standen64 – nachdrücklich vertreten, in dem er Deutschland als „Mutterland der abendländischen Judenheit“ bezeichnet. „Jeder Jude des Abendlandes hat neben seinem politischen Vaterland als das Mutterland seiner modernen Religiosität, wie seiner ästhetischen Grundkraft und damit des Zentrums seiner Kulturgesinnung, Deutschland zu erkennen, zu verehren und zu lieben.“65 Auch in Deutschtum und Judentum betont Cohen, dass die „Millionen russischer Juden“, die (mit jiddischer Sprache und deutschem Kulturhintergrund) in Amerika eingewandert sind und denen mindestens ein 61 Vgl. Hermann Cohen, Jüdische Schriften. Mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig, hrsg. von Bruno Strauß, 3 Bde. (= Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums), Berlin 1924. Bd. I., S. XL (Zitat von Franz Rosenzweig). 62 Diese Formulierung erscheint bei Cohen im Sperrdruck, den wir in den folgenden Zitaten nicht berücksichtigen. 63 Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus, Gießen 1915, S. 35. 64 Vgl. demgegenüber Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, (wie Anm. 23), S. 64 f., der diese immer wieder geäußerte Meinung bezweifelt. Die Mehrheit der amerikanischen Juden habe nicht die deutsche Seite favorisiert, sondern sei auf eine Neutralitätspolitik bedacht gewesen. 65 „Du sollst nicht einhergehen als Verleumder“. Ein Appell an die Juden Amerikas. Aus der New Yorker Staatszeitung abgedruckt, in: Israelisches Familienblatt, 24.06.1915. Wieder in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. II, S. 229–236, hier S. 234. Zu Cohens Haltung im Ersten Weltkrieg vgl. Barbara Beßlich, Wege in den ,Kulturkrieg‘. Zivilisationskrieg in Deutschland. 1890–1914, Darmstadt 2007, S. 331–337.

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Jahrhundert lang der „Geisteshauch“ Deutschlands „doch wohl den stärksten Kulturtrost“ in ihrer Unterdrückung und Verfolgung gebracht hat, in ihrer neuen Heimat, „selbst wenn sie dort Bürger geworden sind, […] dennoch die gemeinsame Pflicht“ haben, „Deutschland als ihr seelisch-geistiges Mutterland pietätvoll zu achten“.66 Die „innere Gemeinschaft zwischen Deutschtum und Judentum“ rührt nach Cohen von ihrer gemeinsamen „menschheitlichen“ Ausrichtung her.67 Das Spezifikum des deutschen Geistes liegt darin, dass er „weltbürgerlich“ ist68 – so wie man dem jüdischen immer wieder seine „Internationalität“ vorhält. Die menschheitliche Perspektive aber resultiert aus dem Monotheismus, für den eben Gott nicht mehr eine National- oder Stammesgottheit, sondern der Gott aller Völker ist. „War Jehova der Einzige, der Schöpfer der Welt, so war er auch der Gott aller Menschen, aller Geschlechter“, zitiert Cohen Herder.69 Der „Begriff der Menschheit“ nun „hat seinen Ursprung im Messianismus der israelischen Propheten“. Dieser bildet den „Grundpfeiler des Judentums, er ist seine Krone und Wurzel“, das „schöpferische Grundmotiv des Monotheismus“.70 Der Messianismus ist nach Cohen auch der idealistischen Philosophie eingeschrieben. Durch sie – als den Gipfel des abendländischen Denkens – kommt dem „deutschen Geist“ eine „Weltmission“ zu, er ist geradezu der „Erziehungsgeist der Völker“.71 Cohens Schlussfolgerung: So sind wir in diesen Zeiten eines epochalen Völkerschicksals auch als Juden stolz darauf, Deutsche zu sein, denn wir werden uns der Aufgabe bewußt, die alle unsere Glaubensgenossen auf dem Erdenrunde von der religiösen Bedeutung des Deutschtums, von seiner Einwirkung, von seinem Rechtsanspruch [!] auf die Juden aller Völker […] überzeugen soll. So fühlen wir uns als deutsche Juden in dem Bewußtsein einer zentralen Kulturkraft, welche die Völker im Sinne der messianischen Menschheit zu verbinden berufen ist, und wir dürfen den Vorwurf von uns abweisen, als ob es unsere Art wäre, die Völker und die Stämme zu zersetzen.

In Absage an das Klischee vom zersetzenden jüdischen Geist also bekennt Cohen sich zur „Anerkennung der deutschen Vormacht [!]72 in allen Grundlagen des Geistes- und Seelenlebens“.73 Die Parallele zwischen Deutschtum und Judentum ist keineswegs nur von jüdischen Gegnern des Zionismus wie Hermann Cohen oder Eduard Fuchs gezogen worden, son66 Cohen, Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 63), S. 35. 67 Ebd., S. 28. 68 Ebd., S. 27. Vgl. dazu auch die Schrift von Hermann Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, Berlin 1914, bes. S. 29. In einem Brief an Paul Natorp vom 10.12.1914 spricht Cohen von der „kosmopolitischen Nationalität“ der Deutschen, in: Helmut Holzhey, Cohen und Natorp (= Der Marburger Neukantianismus in Quellen), Stuttgart 1986, Bd. II, S. 438. 69 Cohen, Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 63), S. 28. 70 Ebd., S. 28. 71 Ebd., S. 27. 72 Das Wort ist gesperrt gedruckt. 73 Ebd., S. 37.

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dern durchaus auch von dezidierten Zionisten wie Chaim Weizmann (dem späteren ersten Präsidenten des Staates Israel)74 und Nahum Goldmann, dem späteren Präsidenten des Jüdichen Weltkongresses.75 Im Mittelpunkt seiner Schrift Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums (1916) steht die These – während ein Krieg tobt, in dem sich die europäischen Nationen zerfleischen –, „daß unsere heutige Kultur eine universale ist, daß bei allen Trennungen und Unterschieden der einzelnen Nationalkulturen sie doch alle von der höheren, allen Nationen gemeinsamen Weltkultur überbrückt werden.“76 Für Goldmann steht nun aber fest, dass das Judentum „an der Entwicklung des weltkulturellen Charakters unserer Kultur“ entscheidend mitgewirkt hat und dass es auch an dessen zukünftiger Fortentwicklung führend beteiligt sein wird – wie es überhaupt „die wichtigsten Faktoren der modernen Kultur“ mitbestimmt hat.77 Ebenso ist Goldmann sich aber sicher, „daß die künftige Weltkultur in ihrem tiefsten Wesen deutsch sein wird, daß Deutschland in Zukunft mehr noch als bisher die Mission haben wird, Herz und Zentrum unserer Weltkultur zu sein“.78 Judentum und Deutschtum sind also für Goldmann gleichsam die beiden Herzkammern der zukünftigen Weltkultur. Angesichts des allgemeinen jüdischen Patriotismus wurden die Hoffnungen auf eine vollständige Integration grausam enttäuscht, als am 16. Oktober 1916 eine vom Kriegsministerium angeordnete (ergebnislos ausgehende und schließlich auch vom Kaiser missbilligte) sogenannte „Judenzählung“ veranlasst wurde, um angebliche jüdische Drückeberger unter den Soldaten ausfindig zu machen.79 Für viele Juden war das ein Wendepunkt in ihrem Verhältnis zu Deutschland.80 Ernst Simon hat in seinem Essay „Unser Kriegserlebnis“ (1919) plastisch beschrieben, wie er durch die Judenzählung aus dem „schönen Traum“ vom Hineinwachsen „in das Leben dieses fremden und geliebten Volkes“ mit „einem furchtbaren Schlage“ geweckt, vom kriegsbegeisterten deutschen Patrioten und „entjudeten Ästheten“ zum Zionisten bekehrt wurde.81 Mit der deutschen Niederlage, der Revolution 1918/19, die Juden vielfach in vorderster Front sah, geriet das deutsch-jüdische Verhältnis in eine neue Krise. Trotz des immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus ermöglichte die Weimarer Republik den Juden jedoch eine Teilhabe an der deutschen Kultur, ja in weiten Teilen eine Dominanz in der-

74 Vgl. Hans-Joachim Becker, Fichtes Idee der Nation und das Judentum. Den vergessenen Generationen der jüdischen Fichte-Rezeption, Amsterdam 2000, S. 333 f. 75 Dieser hat in seinen frühen Schriften seinen Vornamen Nachum, später Nahum geschrieben. 76 Nachum Goldmann, „Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums“, in: Weltkultur und Weltpolitik, hrsg. von Ernst Jaeckh, München 1916, S. 8 f. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 9. 79 Vgl. dazu Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, (wie Anm. 23), S. 87–96. 80 Zur tiefen Enttäuschung beispielsweise Hermann Cohens, der so große Hoffnungen auf die zukünftige Einheit von Judentum und Deutschtum gesetzt hatte, vgl. Cohen, Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 63), S. 93. 81 Ernst Simon, Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, S. 18 ff.

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selben wie nie zuvor. Die Außenseiter wurden mehr und mehr zu Innenseitern.82 Es sei das Judentum, so Thomas Mann 1923, das den „literarisch-kritizistischen Geist europäischer Demokratie“ in Deutschland vornehmlich vertrete.83 Der zionistische Schriftsteller Gustav Krojanker stellte 1922 in der von ihm herausgegebenen Essaysammlung Juden in der deutschen Literatur, an der u. a. Julius Bab, Max Brod, Martin Buber, Moritz Goldstein und Arnold Zweig mitgewirkt haben, einleitend fest, dieses Buch „wäre noch wahrscheinlich vor einem Jahrzehnt nicht möglich gewesen“.84 In dem abschließenden Essay von Alfred Wolfenstein über „Das neue Dichtertum des Juden“ wird vor dem Hintergrund der in der Weimarer Republik aufblühenden jüdisch-deutschen Literatur noch einmal die „seltsame Verwandtschaft oder Doppelgängerschaft“ zwischen Judentum und Deutschtum reflektiert, die vor allem in seiner von Juden wie Deutschen immer wieder hervorgehobenen Diasporaexistenz bestehe: „Keiner, außer dem Juden, lebt so vielfältig unter alle Völker und Erdteile verstreut wie der Deutsche.“ Beide präge „Ruhelosigkeit“, ewige Wanderschaft, das ahasverische Unbehaustsein. Wie den „ewigen Juden“ gebe es auch den „ewigen Deutschen“: „Feindliche Brüder in der Ortlosigkeit ihres Suchens.“ Und wenn der Deutsche dem Judentum seine Abneigung entgegenbringe, sei das zu einem guten Teil „Unzufriedenheit mit sich selbst“, die Deutsche wie Juden gleichermaßen bestimme: „Schwer wird die Wiederholung einer negativen Eigenschaft beim Anderen ertragen.“ Und doch begegneten sich die feindlichen Brüder immer wieder auf dem Felde der „Dichtung in einer geliebten Sprache“.85 Stimmen wie diesen treten andere gegenüber, welche die Harmonie durch dissonante Klänge stören, so Jakob Wassermann in seiner Autobiografie Mein Weg als Deutscher und Jude (1921), von deren Pessimismus sich Krojanker im Vorwort seiner Essaysammlung denn auch vorsichtig distanziert. „Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen“, bekennt Wassermann.86 Auch ihm leuchtet ein, dass „eine Schicksals- und Charakterähnlichkeit“ zwischen Juden und Deutschen vorhanden ist: Hier wie dort jahrhundertelange Zerstückelung und Mittelpunktlosigkeit. Fremdgewalt und messianische Hoffnung auf Sieg über alle Feinde und auf Einigung. […] Hier wie dort Mißkennung von außen, Übelwollen, Eifersucht und Argwohn, heterogene Formungen innerhalb der Nation hier wie dort, Zwietracht der Stämme. Unvereinbare Gegensätze individueller Wesenszüge: praktische Regsamkeit und Träumerei; Gabe der Spekulation im niedern und im hohen Sinn; Spartrieb, Sammeltrieb, Handelstrieb, Bildungstrieb und Trieb zu erkennen und dem Gedanken zu dienen. Überfülle der For82 Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, (wie Anm. 11), S. 167–190 sowie Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, (wie Anm. 29), S. 74–85. 83 Thomas Mann, 3. Brief aus Deutschland, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 21974, Bd. XIII, S. 288. 84 Gustav Krojanker, Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, Berlin 1922, S. 10. 85 Ebd., S. 355 f. 86 Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, mit einem Nachwort von Marcel ReichRanicki, Frankfurt a. M. 2005, S. 131. Auch: Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 87 f.

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Dieter Borchmeyer meln und Mangel an Form. Ein seelisches Leben ohne Bindungen, das unversehens zur Hybris führt, zu Hoffart und unbelehrbarem Starrsinn. Hier wie dort schließlich das Dogma der Auserwähltheit.87

(Ein Dogma, das Wassermann verwirft.88) Und doch, trotz aller spiegelbildlichen Ähnlichkeit in Schicksal und Charakter – oder gerade eben deswegen –, gibt es einen deutschen Hass auf die Juden, die als „Sündenbock“ für alle eigenen Verfehlungen der Deutschen herhalten müssen, den selbstzerfleischenden Hass auf das eigene Spiegelbild. Ausgerechnet „ein Volk, das unablässig von sich selbst verkündet, in Bildung, Kunst, Forschung und Idealismus an der Tete der Völker zu marschieren“, ist es, das „solch berghohen Haß häuft“.89 Und es ist zwecklos zu glauben, so die schmerzliche Anapher im vierundzwanzigsten Kapitel von Wassermanns Autobiografie, dass sich diesem Hass unter Berufung auf Vernunft und Menschlichkeit Einhalt gebieten lasse: Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. – Es ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen worden ist. Es macht sie nicht im mindesten bedenklich, es rührt sie nicht, es entwaffnet sie nicht: sie schlagen auch die rechte. – […] Es ist vergeblich, beispielschaffend zu wirken. Sie sagen: wir wissen nichts, wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört. – […] Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. – Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude.90

Und trotz alledem bleibt das jüdische Liebesleid um das Deutsche. „Leidet man nicht immer am meisten dort, wo man am tiefsten liebt, wenn auch am vergeblichsten?“91 Wegen seiner Autobiografie kam es zu einer lebhaften Auseinandersetzung Wassermanns mit Thomas Mann.92 Dieser dankt in einem Brief aus dem Jahre 1921 Wassermann zunächst überaus herzlich und zustimmend für sein „Lebensbuch“. Dann aber hält er ihm vor, dass der Bericht über seine jüdische Ausgrenzung doch eine gewisse „dichterische Hypochondrie“ verrate. Ein Teil der Klage und Anklage Wassermanns betreffe nicht die jüdische Ausgrenzung – sondern diejenige des modernen Literaten und Romanschriftstellers. Deutschland sei nun einmal keine „Gesellschaft“, und deshalb könne der Romancier hierzulande niemals die repräsentative Stellung einnehmen, die er in Frankreich innehat. Anderseits könne sich Wassermann über seinen Erfolg beim Publikum weiß Gott nicht 87 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, (wie Anm. 86), S. 125. 88 „Es ist die Tragik im Dasein des Juden, daß er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurechtfinden. Es hat sich mir bei fast allen Juden, denen ich begegnet bin, bestätigt, und es ist der tiefste, schwierigste und wichtigste Teil des jüdischen Problems.“ Ebd., S. 56. 89 Ebd., S. 124 f. 90 Ebd., S. 127 f. 91 Ebd., S. 130. 92 Vgl. zum Folgenden Jacques Darmaun, Thomas Mann, Deutschland und die Juden, Tübingen 2003, S. 123 f.

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beklagen, denn dieser sei ungeheuer, und ihm stünden alle Türen und Tore offen. Thomas Mann hält also das Verfolgungsgefühl Wassermanns für hochgradig übertrieben. Ein nationales Leben, von dem man den Juden auszusperren sucht, in Hinsicht auf welches man ihm Mißtrauen bezeigen könnte, gibt es denn das überhaupt? Deutschland zumal, kosmopolitisch wie es ist, alles aufnehmend, alles zu verarbeiten bestrebt, […] sollte es ein Boden sein, worin das Pflänzchen Antisemitismus je tief Wurzel fassen könnte?93

Wie tief Thomas Mann sich mit seiner rhetorischen Frage geirrt hat, braucht leider Gottes nicht ausgeführt zu werden. Als ihm 1935 Wassermanns Witwe den von ihm offenbar vergessenen Brief präsentiert, merkt er im Tagebuch vom 9. September 1935 selbstkritisch an, jener sei „im Geist der Betrachtungen [eines Unpolitischen]“ geschrieben „und unerlaubt gutgläubig, was Deutschland betraf“.94 Wassermann hat Thomas Manns Irrtum bereits in seinem Antwortbrief hellsichtig bloßgestellt. Es gehe gar nicht um schriftstellerischen Erfolg und das „persönliche Wohl und Wehe“. Thomas Mann sei aufgrund seiner Sozialisation, wie man heute sagen würde, und seiner „inneren Verfassung“ blind für die eigentlichen Motive von Wassermanns Anklage, blind für die kollektive Abgründigkeit des Antisemitismus und die zahllosen Mechanismen der Ausschaltung von Juden aus öffentlich-repräsentativen Positionen. Rechnen Sie die dadurch entstehende Bitterkeit für nichts, die Beleidigung des innersten Selbstgefühls für nichts? Dringt Ihre Phantasie nicht in diese beständig aufzehrende Lebenspein von Tausenden, den niedergetretenen Stolz, die freche Umgehung von Menschenrecht und Bürgerrecht?95

Wassermanns pessimistische Diagnose der Stellung des Judentums in Deutschland wurde von sehr vielen deutschen Juden mitnichten geteilt. Ein Großteil fiel aus allen Wolken, als die nationalsozialistische Machtergreifung alle Träume einer deutsch-jüdischen Kultursynthese vernichtete und denen recht zu geben schien, die – wie Gershom Scholem – schon längst der Überzeugung waren, dass die trügerische Harmonie, die sich so viele deutsche Juden vorgaukelten, bald ein Ende nehmen, sich in schreiende Dissonanz auflösen würde. Aber selbst jetzt glaubten viele Juden, dass der böse Spuk bald wieder vorbei sein würde, entschieden sich gegen eine Emigration oder kehrten, als die Nazis wegen der bevorstehenden Olympischen Spiele ihre antisemitische Propaganda und Politik vorübergehend herunterfuhren, aus dem Exil nach Deutschland zurück. Ein Musterbeispiel für die Haltung eines die Emigration verweigernden deutschen Juden, der sich von seinem patriotischen Kulturideal nicht lösen konnte, sind die Tage-

93 Thomas Mann, „[An Jakob Wassermann] über ‚Mein Weg als Deutscher und Jude‘“, in: ders., ­Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a. M. 21974, S. 463–465, hier 465. 94 Thomas Mann, Tagebücher 1933–1934, hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1997, S. 186. 95 Zit. n. Mann, Gesammelte Werke, Bd. XIII, (wie Anm. 93), S. 887–889, hier S. 889.

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bücher des Romanisten Victor Klemperer während des Dritten Reichs.96 Der „Wille zum Deutschsein“ war in ihm stets mächtiger als seine Verankerung im Judentum.97 Einen „Deutschen im verwegensten Sinn des Wortes“ hat Benedetto Croce einst den jungen Klemperer genannt, den er als Lektor in Neapel kennenlernte – Klemperer zitiert dieses spöttische Wort selbst98 –, und er ist dieser verwegene Deutsche im Grunde immer geblieben. Auch er hat im Ersten Weltkrieg ganz und gar die Partei Deutschlands ergriffen und war ein entschiedener Gegner der zionistischen Auffassung des Judentums als „Nation“. Das ist für einen deutschen Juden in dieser Zeit nicht weiter ungewöhnlich, ja repräsentativ. Nicht mehr selbstverständlich hingegen ist, dass er sich auch nach 1933 noch nachdrücklich zu seiner deutschen Identität bekannte. Als ein Freund ihn 1935 daran erinnert, wie deutsch er doch vor der Naziherrschaft gewesen sei, ruft er aus: „War?! Ich bin für immer Deutscher.“ Und auf den Einwand des Freundes, die Nazis würden das nicht zugeben, konstatiert er: „Die Nazis sind undeutsch.“99 Als er von September 1941 an den Judenstern tragen muss, bekennt er noch einmal: „Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran festhalten: Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut.“100 Nicht nur die Juden sind verschwunden, bemerkt er im Mai 1942 mit traurig-bitterer Ironie, sondern auch die Deutschen scheinen „irgendwo untergetaucht“, und man müsse warten, dass sie „zurückkommen“.101 Nichts als „Wahnsinn der Nationalsozialisten“ sei es, „die Juden aus ihrem Deutschpatriotismus herauszudrängen“, notiert er im Februar 1945.102 Martin Buber hat in seinem Aufsatz „Sie und wir. Zum Jahrestag der Kristallnacht“ (1939)103 daran festgehalten, „daß ein großer und echter Bund zwischen dem deutschen und dem jüdischen Geist bestanden hat, ein Bund, der seine Bestätigung durch echte Fruchtbarkeit erhielt“.104 Ein Bund, der von Deutschland nun gebrochen worden ist, weniger von seiner Bevölkerung als von seinem Staat, dem Buber einen beispiellosen, seinen eigenen Bestand erschütternden „Verrat“ vorwirft, der darin besteht, dass er eine Minderheit – die jüdische – ohne Verfehlung von deren Seite vernichtet. „Denn ein Staat kann nicht bestehen, wenn ihm seine Bürger nicht vertrauen, daß er ihnen ebenso die Treue wahrt wie

 96 Victor Klemperer, „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ Tagebücher 1933–1945, 8 Bde., Berlin 1995. Die wichtigsten einschlägigen Äußerungen Klemperers sind von Martin Walser in seinem Essay „Das Prinzip Genauigkeit. Über Victor Klemperer“ wiedergegeben, in: ders., Werke, hrsg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt a. M. 1997, Bd. XII, S. 780–805.  97 Ebd., S. 787.  98 Ebd., S. 790.  99 Dieser Gedanke kehrt noch in Klemperers LTI (1946) wieder. Der Nationalsozialismus sei von seiner Rhetorik (zumal Hitlers „undeutsch gefügten Sätzen“) bis zu seinen imitierten Ritualen „im Kern […] undeutsch“, nach: Klemperer, LTI, (wie Anm. 22), S. 75, 77. 100 Walser, „Das Prinzip Genauigkeit“, (wie Anm. 96), S. 793. 101 Ebd., S. 797. 102 Ebd., S. 795. 103 Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 154–161. 104 Ebd., S. 156.

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sie ihm.“105 Die Kristallnacht106 sei nicht „Ausbruch der Volksleidenschaft, eines volkstümlichen Judenhasses“ gewesen (den er allenfalls in Polen, aber nicht in Deutschland erlebt habe), sondern „Befehl von oben“, der „mit der Genauigkeit einer Maschine ausgeführt“ wurde. Ohne deutschen Untertanengeist, der die Obrigkeit mit Gott gleichsetzt, wäre das freilich nicht denkbar gewesen, und obwohl Buber in Deutschland, wie erwähnt, kaum je Menschen begegnet sein will, die von einem regelrechten Judenhass erfüllt gewesen seien, so doch oft solchen, „denen die Juden verdächtig erschienen“ und die daher zwar nicht die „grobe Form“ ihrer Ausstoßung, aber deren „Grundtendenz“ billigten.107 Buber geht dem Grund dafür nach – einer der vielen Versuche jüdischer Autoren, den Antisemitismus nicht einfach anzuklagen, sondern kritisch zu fragen, wodurch auch die Juden selbst ihn ausgelöst haben könnten. Eine Selbsterforschung, „ohne uns zu schonen“, hält er für unbedingt notwendig, um daraus Konsequenzen für die zukünftige Existenz des jüdischen Volks zu ziehen.108 Eines der auslösenden Momente sei etwa die Tatsache, dass die Beteiligung der Juden an der Wirtschaft in den europäischen Ländern „nicht beim Fundament des Hauses beginnt, sondern im zweiten Stockwerk“; dass sie kaum Anteil hätten an der „Urproduktion, an der mühevollen Erlangung der Rohstoffe, der Schwerarbeit am Boden, sowohl Landwirtschaft wie Bergwerk“ betreffend. Im Handwerk bevorzugten sie Berufe, „die im Sitzen ausgeübt werden“, und in der Industrie technologische und Leitungsfunktionen; sie hielten sich mithin „von der schweren Arbeit an der Maschine fern“.109 (Dass es dafür wiederum Gründe gegeben hat, die von den Juden gerade nicht zu verantworten waren, weil sie von der „Urproduktion“ grundsätzlich ausgeschlossen wurden, reflektiert Buber in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise nicht.) Alldem soll das jüdische Volk in seiner altneuen palästinensischen Heimat entgehen. Es soll sein Haus wirklich von den Grundmauern her selber bauen. Und das Haus des Volks hat keine andere Grundmauer als die des Dienstes seiner breiten Schichten, die die Gesellschaft tragen, an der Erzeugung und Bearbeitung der Rohstoffe. […] Jedes geistige Werk wird rechtmäßig nur aus der Fülle des Lebens geboren, die dem großen körperlichen Werk des Volks entspringt; alles andere ist künstlich und vergänglich.110

Eben das – die künstliche, abgehobene, freischwebende Intelligenz des Judentums – ist für Buber die Problematik der jüdisch-deutschen „Symbiose“ gewesen. Kaum ein Begriff ist bis heute umstrittener als derjenige der Symbiose, die vor 1933 zwischen der jüdischen und deutschen Bevölkerung existiert habe. Gershom Scholem hat ihn rundweg diskreditiert. Martin Buber hingegen redet 1939 vom Ende der deutsch-jüdi105 Ebd., S. 154. 106 Dieser Begriff („Reichskristallnacht“) wird heute aus dem „politisch korrekten“ Vokabular ausgeschlossen und durch „Reichspogromnacht“ ersetzt – zu Unrecht, ist er doch eine zynische Vokabel, die vom (Berliner) Volksmund geprägt wurde, und gerade nicht nationalsozialistischer Provenienz. 107 Ebd., S. 155 ff. 108 Ebd., S. 156. 109 Ebd., S. 158. 110 Ebd., S. 159.

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schen Symbiose – die es für ihn zuvor also durchaus gegeben hat. Die „Entwicklung der deutschen Judenheit seit ihrer Emanzipation, die jetzt durch einen Eingriff des Wirtsvolkes oder richtiger des Wirtsstaates [Begriffe, die uns aufgrund ihrer nationalsozialistischen und antisemitischen Verwendung heute zusammenzucken lassen] ihren Abschluß gefunden“ habe – „einen Eingriff, der sich freilich in der automatischen Gründlichkeit seiner Vernichtungstat, in seiner ausgerechneten Raserei seltsam genug in der Geschichte der abendländischen Menschheit im 20. christlichen Jahrhundert ausnimmt“ – sei ohne Zweifel der „merkwürdigste und bedeutsamste Fall“ einer Symbiose, die über „Assimilation“, d. h. „äußere Anpassung“ weit hinaus von „einer echten gewachsenen Verbundenheit mit Erde und Kultur, einer zwar in sich problematischen, aber doch existentiellen, in die Tiefen unserer Existenz reichenden Synthese“ zeuge und deren Ende den Charakter der Zerreißung eines organischen Zusammenhangs hat. […] Ich sage: es war der merkwürdigste und bedeutsamste Fall. Denn die Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen, wie ich sie in den vier Jahrzehnten, die ich in Deutschland verbrachte, erlebt habe, war seit der spanischen Zeit die erste und einzige, die die höchste Bestätigung empfangen hat, welche die Geschichte zu erteilen hat, die Bestätigung durch die Fruchtbarkeit. […] Es gibt kein Gebiet deutscher Existenz, in dem in diesem Zeitalter nicht jüdische Menschen führend mitgewirkt hätten, wertend, ordnend, deutend, lehrend, gestaltend. Das war kein parasitäres Dasein; ganzes Menschentum wurde eingesetzt und trug seine Frucht. Aber tiefer noch als durch individuelle Leistung wird die Symbiose durch ein eigentümliches Zusammenwirken deutschen und jüdischen Geistes beglaubigt.111

Durch das erzwungene Ende dieses Zusammenwirkens sei ein organischer Zusammenhang zerrissen worden sei, der auch „eine tiefere Zerreißung im Deutschtum selbst“ bedeute, „als sich heute ahnen läßt“. Buber beruft sich auf Paul Tillichs Gedenkrede auf Hegel, ein Jahr vor der Katastrophe der nationalsozialistischen Machtergreifung, in der Tillich sagte, das „jüdische Prinzip“, womit er das „prophetische Prinzip des Geistes“ meinte, sei „unser eigenes Schicksal geworden und eine ,secessio judaica‘ wäre eine Trennung von uns selbst“.112 Diese Trennung sei nun vollzogen worden, und die Deutschen hätten sich damit eines guten Teils ihrer Identität beraubt. Dieser ihnen verloren gegangene Teil ihres Selbst, die „großen Kräfte und Werte“ der deutsch-jüdischen Symbiose, sollen aber nun von den „jüdischen Menschen aus deutschem Land“ als Teil ihrer eigenen Identität nach Palästina, auf „jüdische Erde“ übertragen und gerettet werden. „Sie bringen uns, in jüdische Substanz eingegangen, von jenem deutschen Seelenelement mit, das ihre Peiniger verleugnen und ersticken.“113 „Ein und ein halbes Jahrtausend haben Juden und Nichtjuden in den deutschsprachigen Ländern zusammengelebt“, so der israelische Historiker Avaraham Barkai, haben Juden sich mit der deutschen Kultur in einem Maße identifiziert, wie es in keinem anderssprachigen Land der Fall war. „In einem einzigen Jahrzehnt entfesselter Unmenschlichkeit 111 Ebd., S. 150 ff. 112 Ebd., S. 152 f. 113 Ebd., S. 153.

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wurde diesem Zusammenleben ein ungeahnt jähes Ende bereitet.“114 Das hatte niemand vorausgesehen – voraussehen können. „Auch wir Zionisten nicht“, so Ernst Simon in seiner Rede zur Eröffnung des Leo-Baeck-Instituts 1955 in Jerusalem. „Wer die Schrecken der Katastrophe voraussehen konnte, mußte so schlecht sein wie jene, die sie über uns gebracht haben.“115 Gleichwohl ist von einigen Historikern116 die These aufgestellt worden, man müsse die Geschichte der deutschen Juden rückwärts, von ihrem Ende in den Vernichtungslagern her schreiben, auf das sie zwangläufig zulaufe.117 Derartiges backshadowing, welches das nachträgliche Wissen über die Folgen vergangener historischer Abläufe schon deren Zeitgenossen zumutet und von ihnen verlangt, hat der Historiker Michael A. Bernstein als wissenschaftlich obsoletes Apokalyptisieren der Historiografie scharfer Kritik unterzogen.118 Durch ein solches backshadowing würde die gesamte jüdisch-deutsche Geschichte mit ihren überragenden zivilisatorischen Leistungen, ihren Idealen und Hoffnungen, ihrem Anteil an der deutschen Kultur sowie ihrer Weltausstrahlung als ein einziger Irrweg, als heillose Folge von Selbstentfremdung, Selbsttäuschung und Selbstbetrug entlarvt. Damit hätte Hitler einen verhängnisvollen posthumen Sieg über das Judentum errungen. Ihm diesen zu verweigern, sollten wir indessen all unsere Vernunft aufbieten und die Einsicht walten lassen, dass die Wege der Geschichte von ihrem Verlauf her interpretiert werden sollten – und nicht im Blick auf ihr wie immer geartetes Ende.

114 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV, (wie Anm. 11), S. 371. 115 Deutschtum und Judentum, (wie Anm. 8), S. 172. 116 Vgl. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1914. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. XVI, München 1994, welche die jüdisch-deutsche Geschichte nachdrücklich rückwärts liest, ohne freilich in penetrante Vereinfachungen zu verfallen. Das geschieht hingegen bei Daniel Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and The Holocaust, New York 1996. Goldhagen zäumt die jüdisch-deutsche Geschichte in einem Maße von hinten her auf, dass er Vernichtungsfantasien gegenüber den Juden auch in die vergangenen Jahrhunderte projiziert, den Gedanken physischer Auslöschung des Judentums – als vermeintlich zwangsläufiges Resultat seiner Geschichte in Deutschland – auch aus Texten herausliest, die das Judentum lediglich in einem emanzipatorisch-liberalen Sinne aufheben wollen. 117 So argumentiert etwa programmatisch der jüdisch-amerikanische Germanist Sander Gilman, „Why and How I Study the German“, in: German Quarterly 62 (1989), S. 192–201: „The Holocaust remains for me […] the central event of modern German culture, the event toward which every text every moment in German history and, yes culture moved inexorably.“ (S. 200 f.) Er hofft, dass seine Studenten ebenso denken wie er. Studium des Deutschen bedeutet für Gilman, den Weg „vom Text zum Krematorium“ hermeneutisch nachzuvollziehen. 118 Michael A. Bernstein, Foregone Conclusions. Against Apocalyptic History, Berkeley u. a. 1994.

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Weimar – „Das kulturelle Herz Deutschlands“ und die Schicksale von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé

In allen Städten des Deutschen Reiches und fast europaweit wurden durch das NS-Regime Menschen mit jüdischen Wurzeln diskriminiert, ausgegrenzt, vertrieben oder ermordet. Was macht Weimar in diesem Zusammenhang besonders? Dieser Frage wird an den Beispielen der Schicksale zweier Künstler mit jüdischer Herkunft nachgegangen, die in Weimar wirkten: die Sopranistin Jenny Fleischer-Alt und der Cellist Eduard Rosé. Beide waren Ausnahmekünstler und fühlten sich der europäischen Musikkultur verpflichtet. Wie ihre Familien waren sie ausgesprochen konservativ eingestellt und vertrauten auf die kulturellen Werte wie auch die gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit. Das schützte sie nicht davor, gerade auch in einer Stadt, die sich traditionell so stark über kulturelle Werte definiert, Verfolgung zu erleiden.

Zwei neue Stars auf der Bühne und im Orchester des Weimarer Hoftheaters Jenny Fleischer-Alt Jenny Alt1 gab am 15. November 1885 ihr erfolgreiches Debüt auf der Bühne des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar mit der Rolle Margarete von Valois in der damals viel gespielten Oper Die Hugenotten des jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer (1791–1864). Die hochtalentierte Sopranistin wurde am 3. August 1863 in Pressburg (heute Bratislava) geboren. Sie trat früh zum christlichen Glauben über. Einen wichtigen Teil ihrer Ausbildung, bei der sie auch mit der Musik Wagners in Berührung kam, erhielt sie am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Bereits im jugendlichen Alter gastierte sie mit großem Erfolg als Koloratursängerin in Wien und 1 Zu Jenny Fleischer-Alt vgl. den Eintrag in dem von der Universität Hamburg betreuten Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (im Folgenden: LexM), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00005324, letzter Zugriff: 17.01.2019. Henriette Rosenkranz, „Unrecht über den Tod hinaus – das Schicksal der Sängerin Jenny Fleischer-Alt aus Weimar“, in: „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon“. Schicksale 1933–1945, hrsg. von Monika Gibas, Erfurt 22010, S. 67–74; Bernhard Post, „Jenny Fleischer-Alt – Eine Künstlerin zwischen Wagner-Verehrung und rassischer Verfolgung“, in: Festschrift. 25 Jahre Wagner-Verband 1990–2015, 125 Jahre Richard-Wagner-Zweigverein Weimar 1890–1899, hrsg. vom Richard-Wagner-Verband, Leipzig 2016, S. 84–95.

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Abb. 1: Innenansicht des Großherzoglichen Hoftheaters zu Weimar; Adressbuch der Großherzoglichen Hauptsund Residenzstadt, Weimar 1902, S. 322.

Prag, wo sie dann am Königlich Deutschen Landestheater ihr erstes Engagement hatte. Im September 1884 wurde sie an das Königliche Hoftheater in Wiesbaden engagiert. Mit gerade 21 Jahren belief sich ihr jährliches Einkommen auf rund 10.000 Mark. Ihr großes Repertoire umfasste u. a. Titelrollen wie etwa die Carmen in Bizets Oper oder die Lucia in Donizettis Lucia di Lammermoor. Im Jahr 1885 gelang es dem Liszt-Schüler Hans Bronsart von Schellendorf (1830–1913), sie nach Weimar zu engagieren. Zwar war die Gage in Weimar geringer als in Wiesbaden, doch sah ihr Vertrag großzügige Regelungen für wohldotierte Gastspiele auf anderen Bühnen vor. Und sie erhielt in Weimar immerhin rund das Dreifache der Gage des wenig später für Weimar verpflichteten 2. Konzertmeisters Richard Strauss. Mehrfach gab sie Konzerte am großherzoglichen Hof und wurde schließlich 1890 zur „Großherzoglichen Kammersängerin“ ernannt. Im selben Jahr musste sie jedoch ihre Bühnenkarriere beenden, da sie den Maler Friedrich Martin (Fritz) Fleischer (1861–1938) heiratete, der ebenfalls jüdischer Herkunft war. Dessen großbürgerliche Familie empfand es als unpassend, sie durch ein Engagement an ein Theater gebunden zu sehen. Sie trat

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Abb. 2: Ankündigung von Die Hugenotten von Giacomo Meyerbeer mit Jenny Alt vom Königlichen Hoftheater Wiesbaden in der Rolle der Margarete von Valois – ihr Debüt in Weimar am 15. November 1885. LATh-HStA Weimar, Hofmarschallamt Nr. 3190a.

Abb. 3: Jenny Alt als Margarete von Valois in Weimar 1885. Privatbesitz von Familie Hans Gál, London.

jedoch weiterhin bei besonderen Veranstaltungen am großherzoglichen Hof oder bei Vereinsabenden des in den 1870er Jahren in Weimar gegründeten Richard-Wagner-Vereins auf. So sang sie bei dem am 13. Februar 1891 im Hotel Elephant veranstalteten Vereinsabend die Partie des Waldvogels aus dem II. Aufzug des Siegfried, am Klavier begleitet von Richard Strauss.2 Wenig später schuf ihr Mann Fritz Fleischer das Bild Mehr Licht!, das Goethes Tod und damit das Ende der Weimarer Klassik mit ihren aufklärerischen Zielsetzungen thematisierte. Großherzog Carl Alexander bedachte Fleischer mit dem Professorentitel und ließ das Bild im Goethe-Haus präsentieren. Im Rahmen der damals wachsenden Goethe-Verehrung 2 Irina Kaminiarz, „Richard Strauss und der Richard Wagner-Zweigverein Weimar im Allgemeinen Richard Wagner-Verein“, in: Festschrift, (wie Anm. 1), S. 106.

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Abb. 4: Ernennung von Jenny Alt zur Großherzoglichen Kammersängerin durch Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach am 21. Juli 1890. LATh-HStA Weimar, DNT und Staatskapelle Nr. 256, Bl. 36r.

Abb. 5: Jenny und Fritz Fleischer bei einem Spaziergang (um 1920). LATh-HStA Weimar, Nachlass Familie Fleischer-Ehlermann.

diente dies der kulturpolitischen Vermarktung Weimars als Gegenentwurf zur Reichshauptstadt. Wie dies wohl auch beabsichtigt war, verharrten die zahlreichen Besuchergruppen zum Abschluss des Rundgangs ergriffen vor dem Gemälde, und dieses fand zudem über Postkartendrucke hunderttausendfache Verbreitung.3

3 Zur Geschichte des Bildes vgl. Bernhard Post, „Ein Weimarer Kulturkampf bis aufs Messer? Der Maler Fritz Fleischer, die Techniken der ‚alten Meister‘ und das Bauhaus“, in: Thüringische und Rheinische Forschungen Bonn – Koblenz – Weimar – Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, hrsg. von Norbert Moczarski und Katharina Witter, Leipzig u. a. 2014, S. 370–394.

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Abb. 6: Der Musiksalon von Jenny Fleischer-Alt in ihrer Villa in der Belvederer Allee. Hier veranstaltete sie auch private Konzerte. LATh-HStA Weimar, Nachlass Familie FleischerEhlermann.

Abb. 7: Fritz Fleischer, Mehr Licht! LATh-HStA Weimar, Nachlass Familie Fleischer-Ehlermann.

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Eduard Rosé Eduard Rosé4 wurde am 29. März 1859 in Jassy/Rumänien mit dem Familiennamen Rosenblum geboren. Er besuchte gemeinsam mit seinem Bruder Arnold (1863–1946) von 1876 bis Juli 1879 das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo auch Gustav Mahler (1860–1911) zwischen 1875 und 1878 studierte. Zur gleichen Zeit wurde dort Jenny Fleischer-Alt als Sängerin ausgebildet. Alle drei Musiker sollten künstlerisch wie auch familiär ein Leben lang auf das Engste miteinander verbunden bleiben.5 Die Lebenswege von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé kreuzten sich dann später wieder in Weimar. Ein weiterer Bruder von Eduard Rosé, Alexander Rosé (1858–1904), lebte als Musikalienhändler und Konzertunternehmer in Wien. Der jüngste Bruder Berthold Rosé (1870–1925) wurde Schauspieler. Im Jahre 1882 gründete Arnold Rosé ein Streichquartett, dem zunächst auch Eduard angehörte.6 Noch im selben Jahr nahmen beide den Bühnennamen Rosé an. Eduard Rosé war von 1884 bis 1887 als 1. Solocellist an der Königlichen Hofoper in Budapest tätig. Zwischen 1887 und 1891 unternahm er Konzertreisen durch Österreich-Ungarn und das europäische Ausland. Der Dirigent Arthur Nikisch verpflichtete ihn dann 1891 für das Bostoner Symphonie-Orchester. Im selben Jahr konvertierte er zum Protestantismus und führte nun auch amtlich den Namen Rosé. Von 1892 bis 1897 war er als Cellist zu den Bayreuther Festspielen engagiert.7 Im Jahr 1898 heiratete er Emma Mahler (1875–1933), eine Schwester Gustav Mahlers, und im Jahr 1902 sein Bruder Arnold Justine Mahler (1868–1938), ebenfalls eine Schwester des Komponisten. Noch in Boston wurde 1900 der erste Sohn Ernst geboren, der später Schauspieler wurde. Emma Mahler-Rosé wollte aber nach Europa zurückkehren. Vermutlich da bereits Arnold Rosé seit 1881 Konzertmeister des Wiener Hofopernorchesters und Mitglied der Wiener Philharmonie war, empfahl Mahler seinen Schwager Eduard 1900 an das Großherzogliche 4 Ausführlich zur Biografie vgl. Bernhard Post, „Eduard Rosé. Ein Musikerschicksal im Spannungsfeld zwischen europäischer Kultur und deutscher Provinz“, in: Mainzer Zeitschrift, Jg. 96/97, 2001/2002 (= Festschrift für Friedrich Schütz), S. 417–435 sowie ders., „Eduard Rosé (1859–1943). 1. Cellist und Musikpädagoge“, in: Kulturverlust. Katalog des Deutschen Nationaltheaters Weimar zur Ausstellung vom 11. Mai bis 7. Juli 2002, S. 50–59 und „Eduard Rosé“. Lexikonbeitrag für die Bibliographie des Musikschrifttums (BMS), http://www.musikbibliographie.de, letzter Zugriff: 05.01.2020, sowie das Répertoire International de Littérature Musicale (RILM) im World Wide Web 2005, https://www.rilm.org, letzter Zugriff: 05.01.2020. Zu den Brüdern Rosé vgl. auch: Oesterreichisches Musiklexikon online, hrsg. vom Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, https://musiklexikon.ac.at/ml/musik_R/RoseFamilie.xml, letzter Zugriff: 18.01.2019. Zur Familie Rosé Artikel von Peter Petersen in LexM, https:// www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002646, letzter Zugriff: 05.01.2020. 5 Vgl. hierzu auch den Briefwechsel: Gustav Mahler ‚Liebe Justi‘. Briefe an die Familie, hrsg. von Stephen McClatchie, Bonn 2006. 6 Das Rosé-Quartett. Fünfzig Jahre Kammermusik in Wien. Sämtliche Programme vom 1. Quartett am 22. Januar 1883 bis April 1932, mit einem Vorwort von Dr. Julius Korngold. Arnold Rosé gewidmet von Verehren seiner Kunst, [Wien 1932]. 7 Vgl. Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die ‚Juden‘ 1876 bis 1945, hrsg. von Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter Schmidt, Berlin 2012, S. 351.

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Hoftheater in Weimar. In Weimar wurde dann 1902 der zweite Sohn Wolfgang geboren. Den späteren Klaviervirtuosen rühmte der Leiter der Staatlichen Musikschule, ab 1930 Staatlichen Hochschule für Musik, Bruno Hinze-Reinhold (1877–1964) als seinen besten Schüler.8 Angesichts der vergleichsweise geringen Gage in Weimar war das Leben der Familie Rosé stets von einer gewissen wirtschaftlichen Not überschattet, zumal der Musiker zunächst auch nicht die eigentlich in Aussicht gestellte Dozentenstelle an der Großherzoglichen Musikschule erhielt.9 Er war daher gezwungen, sein Einkommen mit Gastauftritten während der Theaterferien aufzubessern. So wirkte er bei Wagner-Aufführungen in München sowie Gastspielen des Rosé-Quartetts,10 aber auch als Solocellist bei Sommerkonzerten des Kurorchesters in Warnemünde11 mit.

Das kulturelle Klima in Weimar von der Jahrhundertwende bis zum NS-Regime Wege nach Weimar lautet der Titel eines 2003 erschienenen Buches, das literarische Streifzüge durch Thüringen bietet.12 Ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung betont die gelungene Beschreibung des jahrhundertelangen Bemühens, „Kunstanstrengung gegen politische Zwänge zu stellen.“13 Ungeachtet der ausführlichen Hinweise auf die Verbrechen des NSRegimes im Buch erinnert dessen Titel in fataler Weise jedoch ausgerechnet an eine Veröffentlichungsreihe des von den Nationalsozialisten hochverehrten völkischen Antisemiten Friedrich Lienhard (1865–1929).14 Dieser „verließ demonstrativ die verjudete Hauptstadt   8 Vgl. Peter Petersen, Art. „Wolfgang Rosé“, in: LexM, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_ lexmperson_00002647 sowie der Eintrag bei Gustav-Mahler.eu: https://mahlerfoundation.org/en/ mahler/familie/generation-7-son-emma-mahler-and-eduard-rose-ernest-wolfgang/wolfgang-rose, letzter Zugriff: 17.01.2019.   9 Konzept des Antwortschreibens des Generalintendanten an Rosé vom 01.10.1902. Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar (Weiterhin: LATh-HStA Weimar) Generalintendanz DNT Nr. 192, Bl. 70. 10 Vgl. die Urlaubsgesuche ebd., Bl. 176 u. 178. 11 Urlaubsgesuch vom 03.07.1917, ebd., Bl. 166. 12 Jochen Klauß, Wege nach Weimar. Literarische Streifzüge durch Thüringen, Düsseldorf 2003. Eine eher dezidiert kritische Auseinandersetzung signalisierte daher der Zusatz zum Titel der Ausstellung zum Kulturstadtjahr 1999 mit seiner Anleihe bei Lienhard: „Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik“. Der Katalog zur Ausstellung hrsg. von Hans Wilderotter und Michael Dorrmann. 13 Besprechung von Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung vom 01.12.2003; http://www.buecher. de/shop/buecher/wege-nach-weimar/klauss-jochen/products_products/detail/prod_id/12066123/ #review, letzter Zugriff: 09.01.2019. 14 Friedrich Lienhard, „Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus“, 1 (1905/06)–6 (1908). Eine Übersicht seiner Veröffentlichungen unter https://www.ub.uni-frankfurt.de/archive/ lienhard_werk.html. In der UB Frankfurt auch sein Nachlass unter der Signatur Na 21. Der 1. Band der „Wege“ im Internet unter https://www.projekt-gutenberg.org/lienhard/weimar/weimar.html: 09.01.2019. „Seine nationalistisch-völkischen Thesen übten neben den rassistischen Ansichten von

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und ließ sich in der Stille Thüringens nieder“, wird zum 70. Geburtstag seines Schülers, Ernst Wachler (1871–1945), berichtet.15 Und Wachler wiederum war bereits seit 1902 Mitarbeiter des dezidiert antisemitisch ausgerichteten Hammer-Verlags in Leipzig gewesen.16 Hier erschien seit 1907 das Handbuch der Judenfrage des Verlegers Theodor Fritsch, das bis 1939 insgesamt 45 Auflagen erleben sollte.17 Wachler verstand sich andererseits aber auch ausdrücklich als Schüler des Aufklärers Johann Gottfried Herder. Bereits dieses Beispiel mahnt, Weimar und seine Kultureliten nicht einfach mit Aufklärung, Kultur, Klassik und damit Humanität gleichzusetzen. Und auch Goethes viel zitierte Worte „Mehr Licht!“ gilt es zu hinterfragen. War dies tatsächlich ein Appell des Klassik-Heroen für die Beachtung der Ziele der Aufklärung gewesen oder doch eher der nachvollziehbare Wunsch eines Sterbenden, der in seinen letzten Stunden unter einer rapide zunehmenden Sehschwäche angesichts einer transienten Obskuration als Folge eines Blutdruckabfalls litt?18 Tatsächlich hatten Weimarer Kultureliten um und nach 1900 die Weimarer Klassik völkisch instrumentalisiert und machten sie damit später auch zum propagandistischen Werkzeug des nationalsozialistischen Regimes.19 Ein Anziehungspunkt für Lienhard und Wachler war der völkische Literaturpapst Adolf Bartels (1862–1945) gewesen. Bartels gilt als Mitbegründer der völkisch-nationalistischen Heimatkunst am Ende des 19. Jahrhunderts.20 Das Wirken von Adolf Bartels verschaffte „Weimar schon frühzeitig den Ehrentitel einer antisemitischen Hochburg“, wie die Presse stolz zu dessen 75. Geburtstag im Jahre 1937 meldete.21 Bereits 1924 hatte er die Rettung Deutschlands durch den Nationalsozialismus propagiert.22 Entsprechend wurde er von den Nationalsozialisten geschätzt: Hitler schenke Adolf Bartels erheblichen Einfluss auf bürgerlich konservative Kreise aus und galten vielen als Signale für die nationalsozialistische Kunstauffassung der folgenden Jahrzehnte“, vermerkt der Artikel zu Lienhard im Stadtlexikon Weimar. Lexikon zur Stadtgeschichte, hrsg. von Gitta Günther, Wolfram Huschke und Walter Steiner, Weimar 1998, S. 279. 15 Curt Hotzel, „Ernst Wachler und Weimar“, in: Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat, 10. Jg. 1941, H. 4, S. 99. 16 Ebd., S. 100. 17 Das Buch von Theodor Fritsch erschien erstmals 1887 unter dem Titel Antisemiten-Katechismus. 18 Zum Tode Goethes und seinen letzten Worten vgl. Post, „Ein Weimarer Kulturkampf“, (wie Anm. 3), S. 370 und einen weiteren Deutungsversuch von Hubert Spiegel, „Mehr Licht war nicht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.12.2017, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/wiejohann-wolfgang-von-goethe-unsere-welt-verliess-15275980-p5.html?printPagedArticle=true#page Index_4, letzter Zugriff: 11.01.2019. 19 Vgl. auch den Sammelband: ‚Hier, hier ist Deutschland …‘ Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, hrsg. im Auftrag der Gedenkstätte Buchenwald und der Stiftung Weimarer Klassik von Ursula Härtl, Burkhard Stenzel und Justus H. Ulbricht, Göttingen 1997. 20 Vgl. Thomas Rösner, „Adolf Bartels“, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, hrsg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbrich, München 1996, S. 882. 21 Hans Severus Ziegler, „Ein Vorkämpfer für völkische Kulturerneuerung. Dem Dichter und Literaturhistoriker Adolf Bartels zum 75. Geburtstag“, in: Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland (Weimar), 14.11.1937, S. 15. 22 Adolf Bartels, Der Nationalsozialismus. Deutschlands Rettung, Leipzig 1924.

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Goebbels Bartels’ Literaturgeschichte23 Weihnachten 1930.24 Der Reichspropagandaminister wiederum ließ Bartels zu dessen 75. Geburtstag ein Bild und 5000 Reichsmark überreichen.25 Und schließlich erhielt Bartels 1942 zum 80. Geburtstag das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP.26 Hans Severus Ziegler (1893–1978), ein Schüler von Bartels, der auf das Theater und die Musik nicht nur in Weimar einen unheilvollen Einfluss gewinnen sollte, resümierte: An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, daß Männer wie Wächtler, Schloesser, auch Baldur v. Schirach und der Verfasser in der Atmosphäre des völkischen Altmeisters Adolf Bartels eine jahrzehntelange kulturpolitische Schulung erfahren haben, die für ihr Schaffen richtunggebend geblieben ist.27

Ziegler war zunächst u. a. Herausgeber der politischen Wochenzeitung Der Völkische gewesen, aus der die Tageszeitung Der Nationalsozialist hervorging.28 Gleichzeitig war er Mitte der 1920er Jahre Stellvertreter von Artur Dinter (1876–1948), dem ersten Gauleiter der NSDAP in Thüringen. Auch Dinter war als völkischer Schriftsteller hervorgetreten. Sein antisemitischer Roman Die Sünde wider das Blut (1917) erreichte eine Auflage von 260.000 Exemplaren. Während Hitlers Haftzeit organisierte er Tarnorganisationen für die zu dieser Zeit verbotene NSDAP und trat bei ihrer Neugründung 1925 als Mitglied Nummer 5 ein. Dinters damaligen Stellvertreter Ziegler bezeichnete Goebbels nach ersten Begegnungen Mitte der 1920er Jahre zwar als „Lumpen“ und „Schleimscheißer“,29 erkannte aber auch später dessen Bestreben, die Rolle einer Art „Kulturdiktator“ in Weimar einzunehmen, und wusste dies zu nutzen.30 Ziegler selbst sah die Bedeutung der Kulturpolitik darin, Thüringen „zu einer Zelle des nationalen Widerstands- und Freiheitswillens umzubilden und von hier aus Kräfte der sittlichen und geistigen Erneuerung ins Reich hinausstrahlen zu lassen.“31

23 Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur, 2 Bde. Leipzig 1901/1902. 24 Tagebucheintrag vom 30.12.1930. Vgl. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hrsg. von Elke Fröhlich, München u. a. 1987, Bd. 1, S. 652. 25 Tagebucheintrag vom 16.11.1937, ebd., Bd. 3, S. 336. 26 Steven Nyole Fuller, The Nazis’ Literary Grandfather: Adolf Bartels and Cultural Extremism, 1871–1945, New York u. a. 1996. 27 Hans Severus Ziegler, „Zehn Jahre völkische Kulturpolitik in Thüringen“ (1936), in: ders., Wende und Weg. Kulturpolitische Reden und Aufsätze, Weimar 1937, S. 35. Ziegler war 1914 zum Studium in Cambridge, ab 1915 in Jena und Greifswald und absolvierte Privatvorlesungen bei Adolf Bartels. Eine ausführliche Biografie im Thüringen Handbuch, hrsg. vom Thüringischen Hauptstaatsarchiv, Weimar 1999, S. 644 f. 28 Gründung der Zeitung Der Völkische am 01.03.1924; ab 1925 NSDAP-Gauzeitung Der Nationalsozialist; ab 01.04.1933 Thüringische Staatszeitung, dann Thüringer Gauzeitung. 29 Tagebucheintrag vom 27.03.1926, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 169. 30 Tagebucheintrag vom 06.06.1930, ebd., S. 557. 31 Ziegler, Wende und Weg, (wie Anm. 27), S. 35.

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Zu den völkisch-nationalen Kreisen in Weimar gehörte aber beispielsweise auch Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935). Mit ihrem Ehemann, dem radikalen Antisemiten Bernhard Förster, hatte sie 1886 in Paraguay die Siedlerkolonie „Neu-Germania“ gegründet. Nach dem Scheitern des Projekts und dem Selbstmord ihres Mannes kehrte sie nach Deutschland zurück, betreute das Archiv ihres Bruders Friedrich Nietzsche und pflegte den psychisch erkrankten Philosophen schließlich bis zu dessen Tode im Jahre 1900 in Weimar.32 Nach der Aussage von Harry Graf Kessler empfand sie sich auch nach der Machtübernahme durch die Nazis in Thüringen 1932 noch eher als deutschnational, hatte aber keine Probleme, sich mit diesen – obwohl von konservativen Kreisen eher als vulgär betrachtet – zu arrangieren.33 Zu nennen ist Carl Baily Norris von Schirach (1873–1949), vormals ein preußischer Offizier, der im Jahr 1908 zum Generalintendanten des Weimarer Hoftheaters ernannt wurde. Sein ehemaliger Mitschüler Thomas Mann spottete über den „fußleidenden General“, der nun ein Theater leite.34 Unter dessen Intendanz erfolgte eine Verlagerung des Spielplans auf die Stücke der Klassik.35 Ab 1909 fanden alljährlich nationale Festspiele für die deutsche Jugend statt, deren „Seele“ war von Anfang an Adolf Bartels gewesen, der 1906 den Deutschen Schillerbund gegründet hatte. Der Schillerbund verstand sich als ein Protest gegen „die Moderne, gegen Naturalismus, Sensualismus und Sexualismus auf der Bühne.“36 Als Folge der Revolution wurde von Schirach 1918 als Intendant abgelöst. Sein älterer Sohn Karl (1900–1919) erschoss sich im Jahr darauf angeblich wegen der erfolgten Abdankung des Kaisers und des Friedenvertrags von Versailles. Sein jüngerer Sohn Baldur (1907–1974), über den sich Thomas Mann als den „Sonnenjüngling“ lustig machen sollte, wurde 1931 zum Reichsjugendführer der NSDAP ernannt.37 Ab 1940 war er als Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. In der von ihm zu verantwortenden Deportation der Wiener Juden sah er „einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur“.38 Zu den Rechtskonservativen, die damals in Weimar Rang und Namen hatten, gehörte beispielsweise auch Hans Wahl (1885–1949), der seit 1918 Direktor des Goethe-Nationalmuseums war und ab 1928 auch das Goethe- und Schiller-Archiv leitete. Den Beginn seiner

32 Ulrich Sieg, Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt, München 2019. 33 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Berlin u. a. 1967, Tagebucheintrag vom 07.08.1932, nach: https://gutenberg.spiegel.de/buch/tagebucher-1918–1937–4378/15, letzter Zugriff: 02.03.2019. 34 Zu den Verbindungen zwischen Mann und von Schirach vgl. Bernhard Post, „Thomas Mann ‚Königliche Hoheit‘. Spiegelungen Thüringer Geschichte und Geschichten im Roman“, in: „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßtes Neue“. Festschrift für Volker Wahl zum 65. Geburtstag, Bad Zwischenhahn 2008, S. 479–480. 35 Vgl. hierzu auch die Spielpläne dieser Jahre im Internet über das Portal Theater und Musik in Weimar 1754–1990, http://www.theaterzettel-weimar.de, letzter Zugriff: 02.03.2019. 36 Ernst Voss, „Die ersten Nationalfestspiele für die deutsche Jugend in Weimar, Juli, 1910“, in: Monatshefte für deutsche Sprache und Pädagogik 11, Nr. 6 (Juni 1910), S. 174–179, hier S. 176. 37 So in der Familie überliefert nach Auskunft von Richard von Schirach (München) bei einem Gespräch mit dem Verfasser in Weimar im August 2007. 38 Rede Baldur von Schirachs vom 14.09.1942. Zit. n. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 22005, S. 536.

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antisemitischen Haltung datiert er selbst bereits in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.39 Zu nennen ist weiterhin Armin Tille (1870–1941), Leiter der Staatsarchive in Thüringen, der sich ausdrücklich als Vorkämpfer für den Nationalsozialismus verstand.40 In Weimar wirkte er in der Vereinigung „Historisch-genealogischer Abend“, zu deren Ehrenvorsitzendem er 1933 gewählt wurde. Im Rahmen der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (14. Juli 1933) verwies Tille im selben Jahr gegenüber der Landesregierung auf die Bedeutung archivalischer Quellen bei der Ermittlung von Familienzusammenhängen und forderte, künftig beispielsweise auch „etwaige Mischlinge, bei den ein Elternteil farbig (namentlich Neger) gewesen ist“, der Zwangssterilisation zuzuführen.41 Und dem Rassenforscher Karl Astel (1898–1945), dem späteren Rektor der Universität Jena, teilte er seine Überzeugung mit, dass in allen amtlichen Dokumenten künftig wieder das Gewerbe und die Religion der Eltern erfasst werden müssten.42 Hier wurden Vorarbeiten für die geplante Ausgrenzung sowie die „Arisierung“ jüdischen Vermögens eingefordert, die später aber auch hilfreich für Machwerke wie das ab 1940 in fünf jeweils erweiterten Auflagen erschienene Lexikon der Juden in der Musik waren.43 Tille wiederum wurde von einer „fest etablierte[n] nordische[n] Bewegung“ unterstützt, in welcher Walter Tröge (1888–1955), seit 1924 der Syndikus des Thüringer Bauernverbandes mit Sitz in Weimar, eine zentrale Rolle spielte. Aufgrund seines „halb-ländlichen Charakters mit Einschlüssen von hohem eugenischen Wert“ erschien Thüringen diesen Kreisen als das geeignete Exerzierfeld zur Umsetzung der Blut-und-Boden-Ideologie des Reichsbauernführers Richard Walther Darré (1895–1953) wie der Verherrlichung des nordisch-ländlichen Idylls, wie sie beim Rassentheoretiker Hans F. K. Günther (1891– 1968) zu finden ist.44 Die Thüringer oder mitteldeutsche Kultur einschließlich der Musik

39 W. Daniel Wilson, Der Faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich, München 2018, S. 21.Vgl. hierzu auch Hans Wahl im Kontext. Weimarer Kultureliten im Nationalsozialismus, hrsg. von Rüdiger Haufe, Franziska Bomski und W. Daniel Wilson (= Publications of the English Goethe Society, 84:3), Leeds 2015. 40 Bernhard Post, „Franz Armin Tille. 26. Februar 1870–14. Oktober 1941“, in: Lebensbilder Thüringer Archivare, hrsg. vom Vorstand des Thüringer Archivarverbandes, Rudolstadt 2001, S. 242–255. 41 Schreiben Tilles an das Thüringische Staatsministerium vom 03.05.1933, LATh-HStA Weimar, Bestand Staatsarchiv Weimar, Nr. 3. 42 Schreiben Tilles an Karl Astel vom 10.08.1933, LATH-HStA Weimar, Bestand Staatsarchiv Weimar, Nr. 3. Astel wurde 1933 zum Präsidenten des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen ernannt. Er leitete ein Institut für menschliche Erbforschung und Rassenlehre an der Universität Jena und war von 1939 bis 1945 deren Rektor. Vgl. auch Uwe Hoßfeld, Institute, Geld, Intrigen. Rassenwahn in Thüringen, 1930 bis 1945, Erfurt 2014. 43 Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke (= Veröffentlichung des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage, Bd. 2), Berlin 1940, https://archive.org/details/ LexikonDerJudenInDerMusik/page/n1, letzter Zugriff: 01.03.2019. 44 Paul Weindling, „‚Mustergau‘ Thüringen. Rassenhygiene zwischen Ideologie und Machtpolitik“, in: Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, hrsg. von Norbert Frei (= Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), München 1991, S. 89.

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wurde in diesem Zusammenhang als „deutsche Stammesleistung“ für ganz Deutschland45 verstanden. Im Rahmen seiner Beweisführung bietet Wilhelm Greiner (1879–1957) in einem Beitrag in der von Gauleiter Sauckel initiierten Zeitschrift Das Thüringer Fähnlein zu „Eigenart und Reichtum der thüringischen Kultur“ alle Musiker auf, die im weitesten Sinne mit Thüringen in Verbindung gebracht werden können. Selbst der gebürtige Hallenser Händel, „aus dem nördlichen Grenzgebiet [Thüringens] stammend“, wurde hierfür rekrutiert.46 Dass dieses völkische Denken dann tatsächlich auch vor den Eliten im musikalischen Bereich nicht haltmachte, zeigt Irina Lucke-Kaminiarz in ihrem Beitrag auf.47 Und die gesellschaftlichen Aktivitäten von Hellen Mueller-Schlenkhoff (1884–1961), der Gattin des Oberbürgermeisters Dr. Walther Felix Mueller (1879–1970), der von 1920 bis 1937 im Amt war, trugen dazu bei, dieses völkisch-nationale Gedankengut in den Kreisen des ohnehin konservativen Bürgertums der Stadt allgemein populär zu machen. Als begeisterte Filmamateurin hielt sie diese gesellschaftlichen Ereignisse sogar auf Zelluloid fest.48 Einig war man sich in diesen Kreisen – Nationalsozialisten, Alldeutsche, Völkische, Monarchisten – ohnehin darin, „das wesensfremde Joch [der Republik, B. P.] von Weimar abzuschütteln“ zu müssen.49 Sie wurden dabei von der Vorstellung getrieben, „dass [das klassische, B. P.] Weimar dereinst für alle edlen Menschen der Erde Erlöser und Erfüller werden wird“ – so der völkische Schriftsteller Leonhard Schrickel (1876–1931).50 Bereits im August 1924 war als Höhepunkt des ersten Parteitags der NS-Freiheitsbewegung, einer Tarnorganisation der damals verbotenen NSDAP, das „Deutsche Kulturbekenntnis“ als eine Art „Generalprobe des Schulterschlusses sämtlicher Republikgegner“ erfolgt.51 Das „Grüne Herz“ insgesamt wurde zunehmend auch als kultureller Wertebewahrer im Deutschen Reich angesichts der als Kulturverlust interpretierten Moderne verstanden und sym45 Hermann Giesau, „Sächsisch-Thüringische Kunst als Wesensausdruck des Mitteldeutschen Men­ schen“, in: Jahrbuch für Denkmalpflege in der Provinz Sachsen und in Anhalt 1933/34, S. 5–47. 46 Wilhelm Greiner, „Eigenart und Reichtum der thüringischen Kultur“, in: Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heima,. 3/1934, S. 8–13. 47 Irina Lucke-Kaminiarz, „Der Fall Dr. Ernst Praetorius. Seine Hintergründe und Wirkungen“, in diesem Band S. xxx. 48 Das Kino Mon Ami zeigte Filme, welche Hellen Mueller-Schlenkhoff zwischen 1929 und 1935 von gesellschaftlichen Ereignissen in der Stadt gedreht hatte, in der Reihe Gefeiert und Missbraucht – Weimar als Instrument der Politik, https://www.kinomonami.de/schulkino/drehort-weimar/, letzter Zugriff: 01.03.2019, Vgl. hierzu auch die Beiträge von Justus Ulbrich „Kulturrevolution von rechts. Das völkische Netzwerk 1900–1930“ sowie Donald R. Tracey, „Der Aufstieg der NSDAP bis 1930“, in: Nationalsozialismus in Thüringen, hrsg. von Detlev Heiden und Gunther Mai, Weimar u. a. 1995, S. 29–48 u. 49–74. 49 Hans Joachim Düning, Der SA-Student im Kampf um die Hochschule (1925–1935). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Universität im 20. Jahrhundert (= Diss. Jena 1935), Weimar 1936, S. 29. 50 Leonhard Schrickel, Weimar. Eine Wallfahrt in die Heimat aller Deutschen, Weimar 1926, S. 278. 51 Justus H. Ulbricht, „‚Wo liegt Weimar?‘ Nationalistische Entwürfe kultureller Identität“, in: „Hier, hier ist Deutschland …“. Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, hrsg. im Auftrag der Gedenkstätte Buchenwald und der Stiftung Weimarer Klassik von Ursula Härtl, Burkhard Stenzel und Justus H. Ulbricht. Göttingen 1997, S. 34.

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bolisierte eine „Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung bildungsbürgerlicher, kultureller und akademischer Eliten“ besonders in seiner Hauptstadt Weimar.52 Mit gutem Grund hatte also der Schriftsteller Leonhard Schrickel bereits im Jahr 1926 eine Reise nach Weimar als eine „Wallfahrt in die Heimat aller Deutschen“ bezeichnen können. Ausgerechnet Weimar wurde also durch das „Versagen der geistigen Elite“ früh zu einem Ort, an dem nationalsozialistisches Ideengut mit der Unterstützung durch ein nationalkonservatives Bürgertum Fuß fassen konnte.53 Und Harry Graf Kessler stellte nach einem Besuch im Nietzsche-Archiv im Sommer 1932 fest: „Kurz, diese ganze Schicht des intellektuellen Deutschlands, das in der mehr goethischen, romantischen Periode seine Wurzeln hat, ist ganz Nazi-verseucht, ohne zu wissen warum.“54 Immerhin konnte er zu diesem Zeitpunkt noch die vage Hoffnung hegen, dass sich „diese beiden Haufen von Finsterlingen [Schleicher vs. Hitler] jetzt, da sie entzweit sind, sich gegenseitig aufreiben.“55 Bereits ein Jahr später jedoch konnte der nationalkonservative Historiker Max Buchner (1881–1941) seine Abrechnung mit der Weimarer Republik betiteln Auf dem Wege nach Weimar und von Weimar nach Potsdam. Ein geschichtlicher Rückblick auf die Wandlungen des Bismarckreiches zum Parteienstaat und das Wieder-Erwachen des nationalen Deutschlands – ebenfalls wieder mit einer Anleihe bei Lienhard.56

Die politische Entwicklung 1918–193257 Der sogenannte „Deutsche Oktober“ des Jahres 1923, der Versuch eines kommunistischen Putsches in Sachsen und Thüringen sowie die hierauf veranlasste Reichsexekution, hatte die junge Demokratie in Thüringen nachhaltig destabilisiert. Die Arbeiterparteien waren einmal mehr tief gespalten, und ab März 1924 regierte das Land eine rechtsbürgerliche Parteienkoalition als „Thüringer Ordnungsbund“. Zur Regierungsbildung war es mit Unterstützung der Stimmen der „Vereinigten Völkischen Liste“ gekommen, der auch ehe-

52 Jürgen John und Bernhard Post, „Von der Landesgründung zum ‚NS-Trutzgau‘. Thüringen-Diskurse 1918 bis 1945“, in: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, hrsg. von Matthias Werner (= Veröff. der Historischen Kommission für Thüringen, Kl. Reihe, Bd. 13), Köln u. a. 2005, S. 103. 53 Volker Mauersberger, Hitler in Weimar. Der Fall einer deutschen Kulturstadt, Berlin 1999, S. 27. 54 Kessler, Tagebücher, (wie Anm. 33), Tagebucheintrag vom 07.08.1932. 55 Tagebucheintrag vom 14.08.1932, ebd. 56 Zu Buchner vgl. Christoph Weisz, Geschichtsauffassung und politisches Denken. Münchner Historiker der Weimarer Zeit (= Beiträge zur einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, Bd. 5), Berlin 1970, S. 45–48. 57 Ausführlich Bernhard Post, „Vorgezogene Machübernahme 1932. Die Regierung Sauckel“, in: Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, hrsg. von Detlev Heiden und Gunther Mai (= Thüringen gestern und heute, Bd. 2), Erfurt 1996, S. 147–181.

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malige Mitglieder der nach Hitlers gescheitertem Putschversuch von 1923 zunächst verbotenen NSDAP angehörten.58 Die Nationalsozialisten wussten diese politische Situation im Land Thüringen und die kulturelle Legitimationskraft seiner Hauptstadt zu nutzen, um hier den Aufbau der Partei voranzutreiben. Während Hitler in Bayern nach seinem Putschversuch noch bis 1927 Redeverbot hatte, ermöglichte es die politische Konstellation im Lande Thüringen, dass der erste Reichsparteitag der NSDAP nach deren Wiedergründung am 3./4. Juli 1926 in Weimar stattfinden konnte. Die Nationalsozialisten maßen spektakulären Aufmärschen gerade in der Stadt, in der die erste demokratische Verfassung für das Deutsche Reich verabschiedet worden war, eine besondere Propagandawirkung bei. Denn jedes Mal, wenn am Ort der Nationalversammlung von 1919 nun Parteiveranstaltungen der NSDAP stattfinden konnten, bedeutete dies auch zugleich eine Verunglimpfung der Demokratie. Zudem ließ sich die Strahlkraft des klassischen Weimar für das, was die Nazis unter „deutschen Werten“ verstanden, bestens umdeuten und instrumentalisieren. Und es stimmt daher nachdenklich, wenn heute rechte Gruppierungen ausgerechnet wieder den Platz vor dem Nationaltheater nutzen, um mit Verschwörungstheorien die Ausgrenzung und Vertreibung von Menschen zu fordern und dies mit dem Erhalt angeblicher deutscher Werte zu rechtfertigen suchen. An die Stelle der Warnung vor einer jüdischen Weltverschwörung59 ist heute die vor einer Islamisierung Deutschlands getreten. Noch perfider macht, dass dabei gerade an diesem Ort die Parole „Wir sind das Volk“ missbraucht wird, die 1989 für den friedlichen Protest für Freiheit und demokratische Grundwerte stand.60 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete es in seiner Rede zum Festakt „100 Jahre Nationalversammlung“ am 6. Februar 2019 daher auch mit Recht als „historisch absurd, wenn die schwarz-rot-goldene Fahne heute ausgerechnet von denen geschwungen wird, die einen neuen nationalistischen Hass entfachen wollen.“61 58 Vgl. hierzu die Erinnerungen des späteren NSDAP-Ministerpräsidenten Willy Marschler, „Das nationalsozialistische Thüringen bis zum 30. Januar 1933“, in: Sonderausgabe der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung vom 26.08 1937 unter dem Titel Fünf Jahre Aufbauarbeit in Thüringen. Fritz Sauckel zehn Jahre Gauleiter, S. 2. 59 Zu den Verschwörungstheorien vgl. Johannes Baldauf, Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom, Bundeszentrale für politische Bildung, 14.10.2015, http://www.bpb.de/politik/ extremismus/rechtsextremismus/210327/juedische-weltverschwoerung-ufos-und-das-nsu-phantom, letzter Zugriff: 21.01.2019. Auch in Frankreich ist im Zuge der Demonstrationen der „Gelbwesten“ bei Teilnehmern aus rechten Kreisen wieder von einer jüdischen Weltverschwörung die Rede. Vgl. hierzu das Interview mit dem Historiker Denis Peschanski, „Es gibt seit Jahrhunderten ein antisemitisches Kontinuum in Frankreich“, in: Die Welt vom 19.02.2019, https://www.welt.de/politik/ ausland/article189008465/Historiker-Denis-Peschanski-ueber-Antisemitismus-in-Frankreich.html, letzter Zugriff: 19.02.2019. 60 So das Transparent bei einer Veranstaltung am 19.01.2019. Vgl. den Bericht der Thüringer Allgemeinen vom 21.01.2019, S. 3. 61 Vgl. den Artikel zu der Rede „Demokratie ist und bleibt ein Wagnis, weil sie sich ihren Bürgern anvertraut!“, in: Thüringer Allgemeine vom 06.02.2019, https://www.thueringer-allgemeine.de/

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Aber zurück in die Weimarer Republik: In der damaligen Landeshauptstadt Weimar war die ältere Generation der demokratiefeindlichen nationalkonservativen Eliten eine unheilvolle Allianz mit der um das Jahr 1900 geborenen Generation eingegangen. Die Älteren lehnten die Republik strikt ab. Die Jüngeren waren von der scheinbaren Agonie Deutschlands nach dem verlorenen Krieg enttäuscht und begeisterungsfähig für die Parolen und die charismatischen Leitfiguren der damals neuen Rechten. Die Republik und ihre Repräsentanten hatten aus ihrer Perspektive eine vergleichbare Zündkraft nicht zu bieten. Das Ergebnis der Wahl zum V. Landtag von Thüringen vom 8. Dezember 1929 brachte der NSDAP eine Verdreifachung ihrer Landtagsmandate auf Kosten der bürgerlichen und der beiden Arbeiterparteien. Zwar verfügten die Nationalsozialisten auch jetzt nur über sechs der 53 Landtagssitze, aber sie waren damit die notwendigen Mehrheitsbeschaffer für die bürgerlichen Parteien der Regierungskoalition geworden. Hitler nutzte diese Situation und erpresste von den Koalitionspartnern erhebliche Zugeständnisse. Er betrachtete die Regierungsbeteiligung in Thüringen als „Experimentierfeld“ für die beabsichtigte Machtübernahme im Reich. Als Ergebnis hatte damit ab dem 23. Januar 1930 erstmals ein Nationalsozialist – Wilhelm Frick (1877–1946) – entscheidende Ämter in der Regierung eines der deutschen Länder inne. Wilhelm Frick übernahm als Staatsminister das Innenressort sowie den Geschäftsbereich Volksbildung. Damit sicherten sich die Nationalsozialisten den Zugriff auf wichtige Bereiche wie Polizeiwesen, Erziehung und Kultur. Als Innenminister ließ nun Frick ab 1930 gezielt Demokraten aus Polizeistellen entfernen und durch Nationalsozialisten ersetzen. Ein Ermächtigungsgesetz mit weitreichenden Befugnissen für die Exekutive peitschte er auf verfassungsmäßig äußerst bedenklicher Grundlage durch. Im Bereich Volksbildung verursachte Frick heftige Debatten durch die Einführung nationalsozialistisch gefärbter Schulgebete und weiterer Zensurmaßnahmen, die im Zusammenhang mit seinem berüchtigten „Negererlaß“ vom 5. April 1930 gegen sogenannte fremdländische Einflüsse standen. Bücher wie Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque (1898–1970) wurden für den Schulunterricht verboten. Hans Severus Ziegler, inzwischen auch Landesleiter des 1928 gegründeten „Kampfbundes für deutsche Kultur“, wurde von Frick zum Kultur-, Kunst- und Theaterreferenten ernannt. Paul Schultze-Naumburg (1869–1949), ebenfalls ein Mitglied des „Kampfbundes“, wurde Direktor der Weimarer Kunsthochschule. Kurz zuvor hatte er seine Schrift Kunst und Rasse veröffentlicht, in der er die zeitgenössische Kunst als das Produkt einer Degeneration der „nordischen Rasse“ anprangerte.62 In seiner neuen Position veranlasste er umgehend den Weimarer Bildersturm. Die Bilder von Otto Dix (1891–1969), Lyonel Feininger (1871– 1956), Paul Klee (1879–1940) und anderen wurden aus den Museen entfernt, die Fresken von Oskar Schlemmer (1888–1943) in der Hochschule zerstört.63 Die Porträtmalerin suche/?q=+%E2 %80 %9EDemokratie+ist+und+bleibt+ein+Wagnis%2C+weil+sie+sich+ihren+B% C3%BCrgern+anvertraut%21%E2 %80 %9C, letzter Zugriff: 27.04.2019. 62 Paul Schultze-Naumburg, Kunst und Rasse, München 1928. 63 Vgl. Sigrid Hofer, „Die Hochschule unter Paul Schultze-Naumburg. Kulturpolitische Programmatik und traditionsverpflichtete Architektenausbildung“, in: Aber wir sind! wir wollen! und wir schaffen!

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Bernhardine Beines von Ziegesar gratulierte Frick hierzu: „Ich sende der Stadt, die als erste wieder vornehm deutsch fühlt, meine herzlichsten Glückwünsche und wünsche ihr eine Zukunft, ihrer Vergangenheit gleich.“64 Dieser Erlass Fricks bot aber auch die Handhabe für die Bestrebungen, nicht nur in die Spielpläne der thüringischen Theater einzugreifen, sondern darüber hinaus jüdische Künstlerinnen und Künstler aus den Ensembles und Orchestern zu vertreiben. Auf dem Verwaltungsweg wurden ihre Arbeitsbedingungen erschwert bzw. die Engagements einfach nicht mehr verlängert. Die sozialdemokratische Zeitung Das Volk überschrieb deshalb auch den Leitartikel vom 17. Januar 1931 mit der Frage „Nationaltheater oder Nazitheater?“. Erst am 1. April 1931 war die DVP bereit, dem Treiben Fricks ein Ende zu bereiten und einen gemeinsamen Misstrauensantrag von KPD und SPD zu unterstützen. Anlass zu diesem Meinungsumschwung waren beleidigende Angriffe Sauckels auf seine damaligen Koalitionspartner gewesen.65 Es folgte eine kurzlebige Minderheitsregierung. In der Zeit zwischen dem Sturz Fricks und der Wahl Sauckels zum Regierungschef bald darauf sprach Hitler auf 14 Großveranstaltungen in Thüringen (davon sechs in Weimar), also durchschnittlich einmal pro Monat. Eine Großveranstaltung in Weimar fand am 14. März 1932 statt, zwei Tage nach dem 1. Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl, die mit einem beachtlichen Erfolg für Hitler ausging. Mit 33,7 Prozent lag er in Thüringen nur 1 Prozent hinter dem Amtsinhaber Hindenburg. Thomas Mann, der im März 1932 an den Goethe-Feierlichkeiten in Weimar teilnahm, stellte entsetzt fest: „Weimar ist ja eine Zentrale des Hitlertums“.66 Und als sich dann der Festzug mit Reichkanzler Heinrich Brüning (1885–1970) voran Richtung Goethe-Sarg in der Fürstengruft in Bewegung setzte, konnte sich der Reichskulturwart Edwin Redslob (1884–1973) des Gedankens nicht erwehren: „Wir begraben hier die Republik“.67 Der Gauleiter Sauckel hingegen tobte. Als Festredner seien Pazifisten, „ja sogar ein Jude aus

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Von der Großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität Weimar. 1860–2010, hrsg. von Frank Simon-Ritz, Klaus-Jürgen Winkler und Gerd Zimmermann, Weimar 2010, Bd. 1, S. 321–347. Schreiben an Wilhelm Frick als Kultusminister von Thüringen vom 27.11.1930. LATh-HStA Wei­ mar, Thür. Ministerium für Volksbildung C 1428, Bl. 15. Vgl. hierzu die hitzigen Diskussionen in der 79. Sitzung des Thüringer Landtags am 01.04.1931. Protokoll des V. Landtags von Thüringen, S. 1820–1859 unter: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/ viewer/jportal_derivate_00194914/509000340_1479b.tif, letzter Zugriff: 29.04.2019. Thomas Mann, „Meine Goethereise, Rede am 5. April 1932“, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 13, Frankfurt a. M. 1974, S. 71 ff. Zu Weimar als „nationalsozialistisches Experimentierund Paradefeld“ vgl. auch Peter Merseburger, Mythos Weimar, Stuttgart 1998. Der von Gauleiter Fritz Sauckel 1938 herausgegebene Bildband Der Führer in Weimar. 1925–1938 vermerkt allein für diesen Zeitraum 33 Besuche Hitlers in der Stadt. Edwin Redslob, Von Weimar nach Europa. Erlebtes und Durchdachtes, Jena 1998, S. 163. Zu den GoetheFeierlichkeiten vgl. auch Hiltrud Häntzschel, „‚Hitler bei Betrachtung von Goethes Schädel‘. Das Goethe-Jahr 1932 in der populären Presse“, Erstpublikation: Galerie. Revue culturelle et pédagogique 26 (2008), H. 1, 50–77. Weiterhin im Goethezeitportal unter http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/ PDF/db/wiss/goethe/haentzschel_goethejahr_1932.pdf, letzter Zugriff: 01.01.2019. Zu den Feierlichkeiten vgl. auch Volker Wahl, „Vor der Fürstengruft. Reichsgedenkfeier zu Goethes 100. Todestag 1932“, in: Weimar–Jena: Die große Stadt, H. 5/1 (2012), S. 59–67.

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Paris und einer aus der Tschechoslowakei“ eingeladen.68 Den NSDAP-Mitgliedern wurde die Teilnahme daher untersagt. In einer Gegenveranstaltung betonte Staatsrat Ziegler, dass Goethe „Erzieher zu Volkstum, Führertum und Nation“ sei.69 Die Thüringer Minderheitsregierung trat schließlich am 7. Juli 1932 zurück, da die SPD nicht bereit war, einer Besteuerung der Konsumvereine sowie einer Änderung der Wohnungsmietsätze zuzustimmen. Die so erforderlich gewordenen Landtagswahlen fanden am 31. Juli 1932 gleichzeitig mit den Wahlen zum Reichstag statt und brachten den Nationalsozialisten die absolute Mehrheit. Auch das Ergebnis der Reichstagswahl lag für die NSDAP in Thüringen mit 43,9 Prozent der Stimmen 6,5 Prozentpunkte über dem Reichsdurchschnitt.

Die Künstler und das nationalkonservative Milieu in Weimar bis 1933 Jenny Fleischer-Alt Jenny Fleischer-Alt verfügte neben ihrem Gesangstalent offensichtlich über eine hohe musikpädagogische Begabung. Schon frühzeitig hatte sie das absolute Gehör von Hans Gál (1890–1987), dem Sohn ihrer Schwester, erkannt und ihn gefördert, sodass dieser Klavierunterricht erhielt und bereits als 19-Jähriger die Staatslehrerprüfung für Klavier ablegen konnte. Sie erteilte zudem private Gesangsstunden für talentierte Sängerinnen. Versuche jedoch, sie als Gesangspädagogin für die 1872 von Carl Müllerhartung in Weimar gegründete Orchesterschule zu gewinnen, blieben lange Zeit erfolglos. Erst angesichts der Krise der Schule in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der qualifizierte Musiklehrer fehlten, vor allem auch nicht auskömmlich bezahlt werden konnten, war sie hierzu bereit. Bereits im Mai 1919 gab sie einen glänzenden Einstand mit einem erfolgreichen Konzert ihrer Schülerinnen. Die ab August 1919 vorgenommene Festeinstellung mit halbjähriger Kündigungsfrist hatte Bruno Hinze-Reinhold als Leiter der Schule umso lieber befürwortet, als es sich Jenny Fleischer-Alt angesichts ihres nicht unerheblichen Vermögens leisten konnte, auf ein Festgehalt zu verzichten, und sich mit einem Fixum für einzelne Schülerinnen begnügte. Später wurde sie auch förmlich nach dem Thüringischen Staatsbeamtengesetz vereidigt. Zum Bruch kam es im Rahmen der seit längerer Zeit angestrebten Umstrukturierung der Staatlichen Musikschule zu einer Hochschule. Für die Lehrer der künftigen Hochschulklassen war der Professorentitel vorgesehen. Offensichtlich hatte Hinze-Reinhold die Kammersängerin auch für die Leitung einer Gesangsklasse bereits eingeplant, wofür die Staatsregierung jedoch die Zustimmung verweigerte. Es kam daraufhin am 22. April 1926

68 Vgl. den Aufruf des Gauleiters Sauckel an die Mitglieder der Ortsgruppe Weimar der NSDAP vom 20.01.1932. Stadtarchiv Weimar, Stadtverwaltung 1919–1945, 4-43-8. O. Bl. Sowie das Programm der Feierlichkeiten LATh-HStA Wei­mar, Generalintendanz des DNT 855, o. Bl. 69 Die Rede abgedruckt in der Weimarischen Zeitung vom 21.03.1932, S. 5.

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zu einer Aussprache zwischen Hinze-Reinhold und der Sängerin, deren Stellungnahme protokolliert wurde: Die mit Ihnen eingehend besprochenen, und von Ihnen gebilligten Vorschläge, den Ausbau meiner Gesangsklasse zu einer Hochschulklasse betreffend, haben leider nicht die Zustimmung des Ministeriums gefunden. Da meine Lehrtätigkeit an der Staatlichen Musikschule mir aber in der jetzigen Form nicht genügt, bitte ich, wenn möglich zum 1. Januar 1927 um meine Entlassung.70

An der Entscheidung der Landesregierung und damit dem Ausscheiden der Pädagogin aus dem Dienst konnten auch Petitionen von Schülerinnen und deren Eltern nichts ändern. Trotz des deutlich spürbar wachsenden Antisemitismus blieb sie im Vorstand des Weimarer Wagner-Vereins, dessen Schatzmeisterin sie seit 1919 gewesen war. Im Jahr 1930 wurde sie sogar dessen Vorsitzende, legte dieses Amt aber 1933 nieder.71 Leider fehlen Quellen, die Aufschluss darüber geben, wie man sich im Verein den Umgang nationalistischer WagnerVerehrer mit einer jüdischen Wagner-Interpretin vorstellen muss. Auch wissen wir nicht, wie Jenny Fleischer-Alt mit dem offenen Antisemitismus von Richard Wagner umging.72

Eduard Rosé Obwohl Rosé im Jahr 1924 das Pensionsalter erreicht hatte, wurde er noch zwei Jahre weiter beschäftigt. Neben seiner Tätigkeit im Orchester war er von 1911 an auch als Lehrer für Violoncell- und Klavierspiel an der Weimarer Musikschule angestellt gewesen.73 Ein infolge von Inflation und Wirtschaftskrise finanziell schlechteres Angebot bei der turnusmäßig notwendigen Erneuerung seines Vertrages nahm Rosé Anfang 1924 jedoch zum Anlass, seine Lehrtätigkeit zu kündigen. Der tatsächliche Hintergrund war aber wohl ebenfalls die von Professor Hinze-Reinhold vorgenommene Umstrukturierung mit dem Ziel, der Schule eine Anerkennung als Hochschule zu verschaffen.74 Mit einer weiteren Verwendung als Musiklehrer ohne die Ernennung zum Professor wollte Rosé sich vermutlich nicht abfinden. Hinze-Reinhold drückte sein Bedauern darüber aus, „daß Sie [Rosé, B. P.] von der Art Ihrer Tätigkeit an der Musikschule nicht befriedigt sind, doch hat es nicht in meiner Macht gelegen, Ihnen Ihre Stellung glücklicher [handschriftlich ersetzt für: künst70 LATh-HStA Wei­mar, Thüringisches Ministerium für Volksbildung Nr. 6565 (= Personalakte Jenny Flei­scher-Alt), Bl.  9. 71 Die Protokollbücher des Richard Wagner-Verbandes Deutscher Frauen (e. V.) 1909–1949, bearb. von Günther W. Wilberg im Auftrag des Richard Wagner Verbands International [1993], S. 396. 72 Deutungsversuche von Peter Gülke, „Richard Wagners Antisemitismus – Schattenlinien im Bilde eines Genies“ und Wolfgang Müller, „Zum Gedenken an die Großherzogliche Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt (1863–1942)“, in: Festschrift, (wie Anm. 1). 73 Dieser Vertrag, der ein Festgehalt von 600 Mark sowie Sondervergütungen für zusätzliche Stunden vorsah, wurde im Oktober 1917 verlängert. LATh-HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium Nr. 25832 (= Personalakte Rosé, Musikschule), pag. 58. 74 Vgl. hierzu den Organisationsentwurf LATh-HStA Wei­mar, Volksbildungsministerium (Abt. C) Nr. 1550, Bl. 45.

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lerischer, B. P.] zu gestalten.“75 Schließlich stimmte das Volksbildungsministerium einer vorzeitigen Auflösung des noch gültigen Vertrages zum 1. Oktober 1924 zu.76 Da an der fachlichen Eignung des Cellisten eigentlich keine Zweifel bestanden und ihm und der Sängerin Fleischer-Alt die Leitung einer Hochschulklasse ungeachtet ihrer musikalischen und pädagogischen Fähigkeiten und ihres langjährigen verdienstvollen Wirkens vorenthalten wurde, müssen hinter der Ablehnung antisemitische Tendenzen in der rechtsbürgerlichen Landesregierung, die zudem auf die Unterstützung durch die Nationalsozialisten angewiesen war, vermutet werden.

Thüringen unter nationalsozialistischer Herrschaft Am 26. August 1932 übernahm der NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel die Leitung der Landesregierung sowie des Innenministeriums. Was die nationalsozialistische Regierung Thüringens in den nachfolgenden Monaten zu bieten hatte, war allerdings nur eine Reihe vollmundiger Absichtserklärungen und ein weitgehend ergebnisloser Aktivismus. Selbst die von Sauckel vorbereiteten Gesetze mit antisemitischer Zielrichtung – so etwa eines gegen das Schächten – wurden sogar auf Weisung der Reichsparteileitung erst einmal ausgesetzt, da man vor der angestrebten Machtübernahme im Reich nicht unnötig zusätzliche Konflikte etwa mit der Landwirtschaft riskieren wollte. Aber einer Wahl unter demokratischen Bedingungen musste sich die NSDAP in Thüringen ohnehin nicht mehr stellen. Hitler wurde am 30. Januar 1933 von Hindenburg nach dem Sturz Schleichers zum Reichskanzler ernannt. Der zumindest noch demokratisch gewählte Landtag von Thüringen trat dann am 14. Februar 1933 letztmalig zusammen. Ab 1933 war Ziegler dann künstlerischer Leiter und Chefdramaturg am Deutschen Nationaltheater und gleichzeitig Staatskommissar für die thüringischen Landestheater. Im Jahre 1936 wurde er zum Generalintendanten ernannt und gleichzeitig in den Reichskultursenat berufen. Gemeinsam mit dem Weimarer Generalmusikdirektor Paul Sixt (1908– 1964) sowie dem Chefdramaturgen Otto zur Nedden (1902–1994) gestaltete er die Ausstellung Entartete Musik. Eine Abrechnung, mit der die Entfernung jüdischer Komponisten und Künstler aus dem Musikleben in Deutschland gerechtfertigt werden sollte.77 Die Ausstellung wurde anlässlich der Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf eröffnet und war dann als Wanderausstellung auch Weimar zu sehen. Obwohl gerade die Musik vom Austausch 75 Maschinenschriftl. Abschrift des Antwortschreibens von Hinze-Reinhold vom 21.03.1924 auf eine nicht erhalten gebliebene Eingabe Rosés, ebd., pag. 4. 76 LATh-HStA Wei­mar, Thüringisches Volksbildungsministerium Nr. 25832 (= Personalakte Rosé, Musikschule), Bl. 10. 77 Hans Severus Ziegler, Entartete Musik – Eine Abrechnung von Staatsrat Dr. H. S. Ziegler, Völkischer Verlag, Düsseldorf o. J. [1938], 32 S. mit Abb. Der Begleitband zur Ausstellung unter: https:// archive.org/details/EntarteteMusik_758/page/n23, letzter Zugriff: 13.01.2019. Vgl. auch: Irina Kaminiarz, „Entartete Musik und Weimar“, in: Das dritte Weimar, hrsg. von Lothar Ehrlich u. a., Köln u. a. 1999, S. 267–292.

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von Ideen lebt, Musik international ist, erschien den Nazis dieses „Medium wie kaum ein andres geeignet, deutsche Größe und Ewigkeit zu versinnbildlichen.“78 Ziegler konnte übrigens nach dem Ende des NS-Regimes noch bis 1962 als Lehrer eines Internatsgymnasiums auf der Nordseeinsel Wangerooge arbeiten. Sixt wurde Generalmusikdirektor in Detmold, und zur Nedden erhielt eine Professur für Theaterwissenschaften in Köln.

Das Schicksal der Juden in Weimar In Weimar selbst waren im Jahre 1933 von den 49.449 Einwohnern nur 91 jüdischen Glaubens, von denen 45 dem Israelitischen Religionsverein als Mitglied angehörten.79 Eine Synagoge gab es nicht, und jüdisches Leben war in der Weimarer Öffentlichkeit nicht präsent. Die wenigen ansässigen Familien waren weitestgehend assimiliert, übten ihre Religion und Tradition im familiären Kreis aus oder hatten sich vom Judentum abgewandt. Inzwischen waren am Schwanseebad und an den Einfallstraßen nach Weimar Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht!“ aufgestellt worden. Aufgrund des Berufsverbots durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden der Geiger Professor Hans Bassermann (1888–1978) entlassen und der Musikdirektor Gustav Lewin (1869– 1938) in den Ruhestand versetzt.80 In der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 gab es in Weimar gerade noch ein jüdisches Geschäft, einen Schreibwaren- und Spielzeugladen in der Teichgasse. An diesem kleinen Geschäft tobten sich die SA-Leute mangels anderer Ziele aus, ohne dass der Inhaberin Hedwig Hetemann (1866–1943, Theresienstadt), die bei den Kindern seit Jahrzehnten als „Puppenfrau“ beliebt gewesen war, jemand zu Hilfe kam. Bereits am folgenden Tag trafen die ersten Verhafteten auf dem Weimarer Bahnhof zum Weitertransport nach Buchenwald ein. Sauckel, der Goebbels bereits am 12. November melden konnte, „daß auch in Thüringen alles wieder in Ordnung ist“,81 kommentierte die Vorgänge um die Reichskristallnacht einen Monat später vor rund 3000 Mitgliedern der NSDAP in Weimar: Und derjenige ist als Politischer Leiter, als Hoheitsträger, als SA- oder SS-Führer, oder an welcher Stelle er immer stehen mag, untragbar, der in der Beurteilung der jüdischen Frage irgendwie schwankend werden könnte, der auf das Barmen eines Juden Rücksicht nehmen könnte, der es bedauern könnte, dass diese ‚armen Juden‘ nun auswandern müssen oder dass sie eingesperrt werden oder dass sie nun selber arm werden.82 78 Dieter Marek, „Die Zeit des Nationalsozialismus“, in: Genius huius Loci. Kulturelle Entwürfe aus fünf Jahrhunderten. Katalog zur Ausstellung, Weimar 1992, S. 178. 79 Vgl. hierzu Erika Müller und Harry Stein, Jüdische Familien in Weimar vom 19. Jahrhundert bis 1945, ihre Verfolgung und Vernichtung (= Weimarer Schriften, H. 55), Weimar 1998, S. 31. 80 Zu den Schicksalen vgl. die entsprechenden Beiträge im Katalog zur Ausstellung Kulturverlust, (wie Anm. 4). 81 Tagebucheintrag vom 12.11.1938, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, (wie Anm. 24), Teil I, Bd. 3, S. 532. 82 LATh-HStA Wei­mar, Reichsstatthalter Nr. 186, Reden des Reichsstatthalters (11.12.1938), Bd. 1, Bl. 79.

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Insgesamt hatten die Gestapostellen Mitteldeutschlands fast 10.000 jüdische Männer und Knaben in das Konzentrationslager eingeliefert, zwölf davon waren Weimarer Bürger. Da aber die inzwischen anlaufenden Arisierungsverhandlungen nicht beeinträchtigt werden sollten, wurde nach den Vorgaben der zuständigen Gestapostellen nach einigen Wochen mit der Entlassung der Inhaftierten um den Preis ihrer Immobilien und der bevorstehenden Auswanderung aus Deutschland begonnen.83 In der Folge wurden die Maßnahmen zur Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben weiter verstärkt.84 So durften sie neben unzähligen anderen Repressionen öffentliche Veranstaltungen nicht mehr besuchen, hatten die in diesem Zusammenhang als stigmatisierend zu wertenden Vornamen Sara oder Israel zu benutzen und erhielten ein „J“ in ihre Ausweise gestempelt. Ab dem Jahre 1941 mussten die jüdischen Bürger überall in Deutschland ihre Häuser und Wohnungen verlassen und wurden in sogenannte „Judenhäuser“ eingewiesen. In Weimar wurde dies in verstärktem Maße betrieben, da nicht zuletzt wegen der zahlreichen für den Bau des „Gauforums“ und anderer NS-Bauvorhaben abgerissenen Häuser ein akuter Wohnraummangel herrschte. So mussten sich beispielsweise acht Familien ein kleines Haus am Brühl 6 teilen. Hier lebten die Menschen auf engstem Raum unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Ausgrenzung gipfelte in der Verpflichtung zum Tragen eines sogenannten „Judensterns“ ab September 1941. Bei der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 schließlich koordinierten Vertreter der Entscheidungsgremien in Partei und Staat den Ablauf der „Endlösung der Judenfrage“, wie der geplante Massenmord in der verschleiernden NS-Terminologie bezeichnet wurde.85 In der Folge begannen auch in Thüringen die Deportationen in die Vernichtungslager, die im offiziellen Sprachgebrauch als „Aussiedlung aus dem Altreich“ oder „Umsiedlung jüdischer Familien nach dem Osten“ bezeichnet wurden. Von der Staatspolizeistelle Weimar wurden die Deportationen in Zusammenarbeit mit dem Oberfinanzpräsidenten in Rudolstadt, verantwortlich für die Sicherstellung der jüdischen Vermögenswerte, langfristig geplant und gründlich vorbereitet.86 Auf Befehl der Gestapo hatten sich am 10. Mai 1942 insgesamt 342 Personen aus ganz Thüringen einschließlich des preußischen Regierungsbezirks Erfurt in der Reithalle des Marstalls in Weimar als der zentralen Sammelstelle einzufinden.87 Vom Güterbahnhof aus wurden sie in Viehwaggons über Leipzig, wo noch Juden aus Sachsen hinzukamen, in das Getto Bełżyce südwestlich von Lublin gebracht. Bis auf eine Überlebende fanden alle den Tod in den Gaskammern von Majdanek. Im September 83 Bernhard Post, „Juden in Wiesbaden von der Jahrhundertwende bis zur ‚Reichskristallnacht‘“, in: Katalog zur Ausstellung des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden 1988, S. 58–62. 84 Eine Zusammenstellung bei Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, hrsg. von Joseph Walk, Heidelberg 2 1996. Eine kurze Darstellung für Thüringen bei Anna-Ruth Löwenbrück, Juden in Thüringen, hrsg. von der Landeszentrale f. pol. Bildung (= Thüringen Blätter zur Landeskunde), Erfurt 1995. 85 Kurt Pätzold und Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der „Endlösung“, Berlin 1992. 86 Vgl. hierzu den Aktenbestand „Oberfinanzpräsident“ im Hauptstaatsarchiv Weimar. 87 Marlis Gräfe und Bernhard Post, Geheime Staatspolizei. Staatspolizeistelle Weimar, hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald und dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, Weimar 21998.

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desselben Jahres erfolgte ein zweiter Transport vom Marstall aus nach Theresienstadt, in dem sich auch Eduard Rosé befand.88 Weitere Transporte fanden im März und Mai 1943 statt. Sauckel schwor die führenden Funktionäre der NSDAP in Weimar am 31. Dezember 1943 nochmals auf die „totale Vernichtung des Judentums“ ein.89 In amerikanischer Kriegsgefangenschaft gab Sauckel später hingegen an, „er habe niemals eine Vernichtung des Judentums angestrebt oder auch nur für möglich gehalten.“90

Die Weimarer Künstler und ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten Jenny-Fleischer Alt Jenny Fleischer-Alt und ihr Mann waren beide protestantisch getauft und werden ihre jüdische Abstammung nicht öffentlich thematisiert haben. Wegen ihres hohen Alters und ihrer finanziellen Unabhängigkeit hatten sie vermutlich in den ersten Jahren der Naziherrschaft kaum Veranlassung, gegenüber Behörden ihre Abstammung nachzuweisen. Dass von dort eine Überprüfung zunächst nicht stattfand, hängt vermutlich auch mit der festen Einbindung des Ehepaares in das nationalkonservative Milieu der Stadt zusammen. Mathilde von Freytag-Loringhoven (1860–1941) hatte noch anlässlich des 70. Geburtstags von Fritz Fleischer im Jahr 1931 in der Presse nicht nur dessen konsequentes Auftreten gegen den „Kulturbolschewismus“ des Bauhauses, sondern ebenso sein großes Engagement für das Verbot des Schächtens in dieser gerade in Thüringen dezidiert antisemitischen Debatte hervorgehoben.91 Angehörigen der Kultureliten in Weimar war seine Herkunft jedoch durchaus bekannt, und Hans Wahl wies einen Korrespondenzpartner bezüglich Fritz Fleischers lapidar darauf hin: „… er ist Jude“.92 Die in Weimar geborene Elgin Strub (geb. 1929), Tochter des Geigers Max Strub (1900– 1966) und später Ehefrau des Geigers John Edward Joseph Ronayne (1931–2009), vermutet, dass sich in den gesellschaftlichen Kreisen der Fleischers eine direkte Ausgrenzung aufgrund einer jüdischen Abstammung erst später bemerkbar machte. Noch für die Jahre 1937/38 berichtet sie von häufigen gesellschaftlichen Einladungen zu Jenny FleischerAlt und „Onkel Frietz“ (sic!), wie das in England aufgewachsene Mädchen den Namen betonte. An diesen Gesellschaften nahmen auch beispielsweise Constanze von Milde, die 88 Müller und Stein, Jüdische Familien in Weimar, (wie Anm. 79), S. 102–121. 89 LATh-HStA Wei­mar, Reichstatthalter Nr. 190, Reden und Aufsätze des Reichsstatthalters, Bd. 5, Bl. 463–479. 90 Aufzeichnungen Sauckels für US-Major Kelly vom 17.10.1945 im Gefängnis in Nürnberg, Institut für Zeitgeschichte München, Archivbest. Fa 190, Bl. 15. 91 Thüringische Landeszeitung vom 02.03.1931, S. 6. Fleischers Schwester Helene, in zweiter Ehe verheiratet mit dem Grafen Karl Theodor zu Leiningen­Neudenau, trat ebenfalls als engagierte Tierschützerin hervor und setzte sich bereits zum Beginn der 1920er Jahre für eine Novellierung der entsprechenden Reichsgesetze ein. Vgl. Post, „Ein Weimarer Kulturkampf bis aufs Messer?“, (wie Anm. 3), S. 373. 92 Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar 149/1003, Bl. 135: Hans Wahl an W. Klemm am 27.01.1937.

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Witwe des Baritons Ludwig von Milde (1859–1927), oder die Gräfin Bose teil.93 Die Mutter hatte die fünfjährige Elgin zum Geigespielen animieren wollen. Zum Üben gab sie ihr eine Kindergeige, die einmal Arnold Rosé gehört hatte. Die Geige war Elgin jedoch am Hals unangenehm. Sie wollte Klavier spielen, worin sie dann auch „Tante Jenny“ bestärkte, die die inzwischen Siebenjährige dann sogar bei einem Klavierabend in der Belvederer Allee debütieren ließ.94 Die kinderlos gebliebene Ehe endete mit dem Tod von Prof. Fleischer am letzten Tag des Jahres 1937. An seiner Beisetzung nahm Elgin Strub teil, und das Mädchen versuchte anschließend „Tante Jenny“ zu trösten.95 Wenig später hatten Bürgerinnen und Bürger mit jüdischen Wurzeln gemäß der Verordnung vom 26. April 1938 ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden.96 Der Besitz der verwitweten Sängerin einschließlich des Kapitalvermögens und der mit wertvollen Möbeln und Kunstwerken ausgestatteten Villa wurde auf rund 700.000 Reichsmark taxiert. Die Möglichkeit der „Sicherstellung“ dieses Vermögens im Interesse der deutschen Wirtschaft durch den Beauftragten für den Vierjahresplan – Hermann Göring – wurde hierbei bereits angekündigt. Am 7. September 1939 erfolgte eine Sicherungsanordnung, die Jenny Fleischer-Alt nur noch einen stark eingeschränkten Zugriff auf ihr Vermögen erlaubte. Es wurden ihr gerade noch 1700 Reichsmark zur Bestreitung der laufenden Kosten für das große Haus, für Steuer, Arztrechnungen und zum Unterhalt der auf ihre Unterstützung angewiesenen Menschen zugestanden. Mit ihren jetzt stark reduzierten Mitteln hatte die Künstlerin die Menschen zu versorgen, die mit ihr im Haus lebten. Dazu gehörten ihre Schwester Ilka Gál (1867–1942) mit ihrer Tochter Edith (1888–1942). Da beiden eine Emigration nicht gelungen war, hatten sie sich vor den antijüdischen Ausschreitungen in Wien nach Weimar geflüchtet. Ilkas Sohn, der als Kind von Jenny Fleischer-Alt geförderte Hans Gál, inzwischen ein erfolgreicher Komponist, hatte nach seiner Entlassung als Leiter des Konservatoriums in Mainz 1933 noch rechtzeitig über einen Zwischenaufenthalt in Wien in die Emigration nach England gehen können.97 Jenny Fleischer-Alt hingegen hatte sich trotz der zunehmenden Diskriminierungen und der ihr auferlegten Einschränkungen noch im September 1939 geweigert, Deutschland zu verlassen, und verwies dabei auf ihr fortgeschrittenes Alter und die angegriffene Gesundheit. Ab 1940 wurde auch die Villa als sogenanntes „Judenhaus“ genutzt.98 Zunächst musste Jenny Fleischer-Alt zwei ältere Frauen, Käthe Friedländer und die Arztwitwe Martha Kreis, 93 94 95 96

Elgin Strub, Skizzen einer Künstlerfamilie in Weimar, [London] 1999, S. 79. Ebd., S. 84 f. Ebd., S. 86. Vgl. auch den Beitrag von Henriette Rosenkranz zum Schicksal der Sängerin: Rosenkranz, „Unrecht über den Tod hinaus“, (wie Anm. 1). 97 Als Dozent der Universität Edinburgh, Mitbegründer der dortigen Festspiele und Künstler wurde er später mit dem „Order of the British Empire“ ausgezeichnet. Umfassende Informationen zu Hans Gál auf der Homepage http://www.hansgal.com, letzter Zugriff: 18.01.2019. 98 Zur Geschichte des Hauses vgl. den Artikel von Christiane Weber, „Jähes Ende einer kulturvollen Zeit. Belvederer Allee 6“ (= Häuser und ihre Geschichte 103) in: Thüringisches Landeszeitung vom 03.05.1997, sowie Müller und Stein, Jüdische Familien in Weimar, (wie Anm. 79), S. 138.

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Abb. 8a und b: Gesuch von Jenny Fleischer-Alt an die Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten Thüringen vom 19. Februar 1942, den von dort kurz zuvor weiter eingeschränkten Zugriff auf ihr Vermögen im Interesse der von ihrer Unterstützung abhängigen Menschen wieder auf einen höheren Satz anzuheben. Jenny FleischerAlt widerstrebte es offensichtlich, mit dem vom nationalsozialistischen Regime für Bürgerinnen jüdischer Abstammung vorgeschriebenen Zwangsnamen „Sara“ zu unterscheiben – siehe die Unterschrift. LATh-HStA Wei­mar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 699, Bl. 117 r u. v.

bei sich aufnehmen. Da beide fast völlig mittellos waren, mussten auch sie aus dem ohnehin schmalen Budget mitversorgt werden. Mitte Dezember 1941 hatte auch der Cellist Eduard Rosé in die Belvederer Allee 6 umzuziehen. Im Februar 1942 wurde die Summe, die Jenny Fleischer-Alt monatlich von ihrem Konto abheben durfte, durch die Devisenstelle in Rudolstadt auf 500 Reichsmark herabgesetzt. Im selben Monat verunglückte ihre Schwester Ilka schwer, was hohe Behandlungs-

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Abb. 8b

kosten verursachte, die nun nicht mehr aufzubringen waren. Sie erlag am 4. März 1942 im Weimarer Sophienhaus ihren Verletzungen. Die Situation für Jenny Fleischer-Alt war inzwischen verzweifelt. Der Tod der Schwester, Schulden und die begründete Furcht vor einer bevorstehenden Deportation trafen zusammen. Sie wählte deshalb gemeinsam mit ihrer Nichte Edith Gál den Freitod und verstarb am 7. April 1942. Die Nichte erlag den Folgen des Selbstmordversuchs am 11. April 1942.

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Abb. 9: Grabstätte des Ehepaars Fleischer in Jena. LATh-HStA Weimar, Nachlass Familie Fleischer-Ehlermann.

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Die Villa wurde umgehend „arisiert“. Zusammen mit dem zugehörigen Nachbargrundstück erwarb die Stadt Weimar sie gegen Übernahme der wegen der Kontensperrung aufgelaufenen städtischen Abgaben und nutzte sie als Isolierabteilung des Städtischen Krankenhauses. Das Mobiliar, Bilder, Einrichtungsgegenstände sowie die Bibliothek von Fritz Fleischer mit einem Gesamtwert nach amtlicher Schätzung von weit über 50.000 Reichsmark versteigerte das Finanzamt Weimar an interessierte Privatleute und Behörden. Einiges davon erwarb damals Walter Scheidig (1902–1977), dem die Hintergründe bekannt gewesen sein müssen, für die Staatliche Kunstsammlung in Weimar.99 Die Familie von ­Helmuth Ehlermann, dem Neffen von Fritz Fleischer, konnte bei dieser Zwangsversteigerung immerhin einige Möbel und Bilder erwerben, die sich noch heute im Besitz der Familie befinden. Das Finanzamt Weimar behielt für eigene dienstliche Verwendungen einige Teppiche, Bestecke und Möbel sowie einen elektrischen Heizofen.

Eduard Rosé Als Emma Mahler-Rosé am 8. Juni 1933 stirbt, erhält die Benachrichtigung der Theaterintendanz durch Eduard Rosé den auf eine Regierungsverordnung hin um den Zusatz erweiterten Eingangsstempel: „Wer behauptet, Deutschland sei am Kriege schuld, lügt. Diese Lüge ist die Wurzel unserer Not.“100 Sein Sohn Wolfgang Rosé konnte sich als Pianist noch einige Zeit mit Konzerten im Ausland und im privaten Bereich über Wasser halten. Seinen Bruder Ernst, der Schauspieler geworden war, hatte Ziegler aus dem Ensemble des Nationaltheaters entfernt, und er erhielt auch ansonsten keine Engagements mehr und ging schließlich nach Berlin. Aus der schönen Wohnung mit Blick hin zum Ettersberg sollte Eduard Rosé als Folge der großen Pläne Sauckels zum Ausbau seiner „Gauhauptstadt“ vertrieben werden. Das ganze Stadtviertel wurde abgerissen, um Platz für das sogenannte „Gauforum“ zu schaffen, das noch  99 Die Klassik Stiftung Weimar stellt seit einiger Zeit im Rahmen der Provenienzforschung Ermittlungen hinsichtlich des in der Vergangenheit möglicherweise unrechtmäßig erworbenen Kulturgutes an. Im Falle von Jenny Fleischer-Alt konnten trotz intensiver Recherchen zu den bereits verstorbenen Erben keine weiteren Nachlassvorgänge ermittelt werden. Vgl. den Blog-Beitrag von Romy Langeheine, „Der Fall Jenny Fleischer“ (02.05.2017), https://blog.klassik-stiftung.de/der-fall-jenny-fleischer/, letzter Zugriff: 20.01.2019. 100 LATh-HStA Weimar, Thüringisches Ministerium für Volksbildung Nr. 25383 (= Personalakte Eduard Rosé, Deutsches Nationaltheater), Bl. 72.

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heute das Stadtbild beeinträchtigt.101 Rosés Hauswirt, der Tapezierermeister Karl Körber, erwarb ein anderes Haus in der Marienstraße 16, ganz in die Nähe der Gaupressestelle gelegen. Hier vermietete er Eduard Rosé wieder eine kleine Wohnung im Dachgeschoss. Die Tochter des Hauswirts betreute den Cellisten und erledigte auch seine Einkäufe. Eduard Rosé verbrachte viel Zeit vor seinem Rundfunkgerät, um die Musik hören zu können, die sein Lebensinhalt gewesen war. Gelegentlich begleitete er die Rundfunkübertragungen von Konzerten auch auf seinem Cello. Auf einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes hin wurden dann im Jahre 1939 alle Rundfunkgeräte in jüdischem Besitz eingezogen.102 Anfang 1939 kehrten beide Söhne Rosés nochmals nach Weimar zurück, obwohl ihnen in der vergleichsweise kleinen Stadt Gefahr drohte, da viele sie ja kannten. Arnold Rosé, der in der Londoner Emigration von dieser Absicht gehört hatte, teilte seiner Tochter die Sorge um seine Neffen mit. Diese wollten aber vor der bereits geplanten Emigration am 29. März, dem 80. Geburtstag von Eduard Rosé, bei ihrem Vater sein.103 Anschließend emigrierten beide in die USA. Für die sogenannten Affidavits, Bürgschaften, die für die Einreise erforderlich waren,104 hatten Walter Gropius, der 1937 nach Harvard berufen worden war,105 und der Dirigent Serge Alexandrovich Koussevitzky,106 der von 1924 bis 1949 das Bostoner Symphonie-Orchester leitete, gesorgt. Die gesamte Familie Rosé war inzwischen ebenso wie auch Hans Gál im Lexikon der Juden in der Musik verzeichnet. Sie waren allesamt Künstler, die international hohes Ansehen genossen. Nun wurde im Vorwort dieses Machwerks der Nazis behauptet, dass ihre Leistungen „sich aber bei näherem Zusehen auch als inhaltsleer herausstellen.“107 Für einen Menschen wie Eduard Rosé, der sein ganzes Leben mit großem Selbstbewusstsein und Stolz auf seine Fähigkeiten als Musiker ausgestattet gewesen war, musste es extrem bedrückend sein, die schrittweise Demontage seiner künstlerischen Leistung wie auch die Auflösung seiner Familie durch die Machenschaften des NS-Regimes ertragen zu müssen. Wahrscheinlich versuchte er deshalb auch ungeachtet der Vorgänge um ihn herum, sein Leben in gewohnter Weise fortzuführen, soweit ihm dies noch möglich war. Kennzeichnend ist eine von ihm vor 101 Zu den Gauforen in Weimar, Dresden, Augsburg und Frankfurt/Oder vgl. die Dissertation von Christiane Wolf, Gauforen. Zentren der Macht. Zur nationalsozialistischen Architektur und Stadtplanung, Berlin 1999. 102 Mit dem Erlass vom 20.09.1939 wurde Juden deutscher Staatsangehörigkeit wie auch staatenlosen Juden der Besitz von Rundfunkgeräten untersagt. Vgl. Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, (wie Anm. 84), S. 305. 103 Richard Newman, Alma Rosé. Wien 1906–Auschwitz 1944, Bonn 2002, S. 134. 104 Zu den Einwanderungsbestimmungen der USA vgl. den Katalog der Ausstellung der Deutschen Bibliothek in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933–1941, hrsg. von Brita Eckert, Frankfurt a. M. 1985, S. 187–193. 105 Vgl. hierzu Reginald R. Isaacs, Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk, Frankfurt a. M. u. a. 1986, Bd. 2/II, S. 894. 106 „I was glad to hear that you succeeded in bringing over Wolfgang Rosé whom I hope to hear sometime in the near future.“ Schreiben von Serge Koussevitzky an Walter Gropius vom 30.10.1941, BauhausArchiv, Berlin. 107 Lexikon der Juden in der Musik, (wie Anm. 43), S. 81, 226–227. Jenny Fleischer-Alt ist nicht vermerkt.

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Abb. 10a und b: Gesuch des 83-jährigen Eduard Rosé an den Weimarer Polizeipräsidenten Paul Hennicke vom 17. September 1941, ihn vom Tragen des sogenannten „Judensterns“ zu entbinden. Das Schreiben wurde an die Gestapo weitergeleitet. LAThHStA Weimar, Amtsgericht Weimar, Nr. 139, Bl. 1.

Gericht getroffene Aussage bezüglich seiner Kenntnisnahme der von den Nazis erlassenen antijüdischen Gesetze und Vorschriften: „Ich bin Künstler und kümmere mich um sonstige Sachen nicht.“108 Zu einem gravierenden Einschnitt in dieser mühsam aufrechterhaltenen Normalität musste deshalb die Verordnung über das Tragen des sogenannten Judensterns werden. Rosé war natürlich bewusst, dass ihn dieses Stigma endgültig aus dem „normalen“ Leben ausgrenzen würde. Besuche im „Residenz-Café“ am Stadtschloss konnten angesichts der inzwischen betont nationalsozialistischen Ausrichtung des Lokals, das zu einem 108 Aussage Rosés im Strafverfahren gegen ihn am 16.12.1941. LATh-HStA Weimar, Schöffengericht Weimar Nr. 139, Bl. 20v.

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Stammlokal von Nazi-Größen bis hin zu Hitler geworden war, nicht mehr stattfinden.109 Nun würden ihm auch die Besuche im „Schwan“ oder dem „Fürstenhof“ (heute „Russischer Hof“), wo er als jahrzehntelanger Stammgast bis dahin noch immer verkehren konnte, nicht mehr möglich sein. Ganz Bürger des Deutschen Reiches, mit einem noch immer ungebrochenen Vertrauen auf Rechtsstaatlichkeit, stellte er in dieser Situation unter Verweis auf seine protestantische Religionszugehörigkeit an den Polizeipräsidenten von Weimar als die zuständige Behörde am 17. September 1941 das Gesuch, „mich gütigst davon 109 Vgl. die Kapitel zu den Gästen und zu dem Wirt als Parteigänger der NSDAP bei Ulrike Sebert und Karen Schröder, Das Residenz-Cafe. Weimars ältestes Kaffeehaus, Würzburg 1999.

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Abb. 11: Totenschein von Eduard Rosé. Er verstarb am 24. Januar 1943 in Theresienstadt an einem Darmkatarrh. Národní archiv Prag, www.holocaust. cz/de/opferdatenbank/ opfer/28725-eduard-rose/.

entbinden zu wollen, den bewußten Stern zu tragen, da andernfalls meine Ernährung auf nicht zu überwindende Schwierigkeiten stoßen würde!“110 Das Gesuch wurde umgehend an die Geheime Staatspolizei weitergeleitet. Es folgten eine Hausdurchsuchung und ein erstes Verhör in der Gestapo-Leitstelle im Marstall. Zunächst wurde ihm vorgeworfen, das Schreiben nur mit seinem Familiennamen Rosé unterzeichnet und dabei auf den diskriminierenden Zwangsnamen „Israel“111 verzichtet 110 Aussage Rosés im Strafverfahren gegen ihn am 16.12.1941. LATh-HStA Weimar, Schöffengericht Weimar Nr. 139, Bl. 1. Abgedruckt bei Müller und Stein, Jüdische Familien in Weimar, (wie Anm. 79), S. 50 f. 111 Nach der zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17.08.1938 war für männliche Personen jüdischer Abstammung die

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zu haben. Bei der Hausdurchsuchung wurde weiterhin festgestellt, dass er sich, was für Juden inzwischen verboten war, über eine alte Kleiderkarte noch einen Anzug und Wäsche gekauft hatte. Er kam daraufhin rund eine Woche in Untersuchungshaft und wurde mehrfach verhört.112 Nach seiner Rückkehr beschrieb er der Tochter seines Vermieters die Tage im Marstall mit den Worten: „Ich darf ja nichts sagen, aber Dantes Hölle ist ein Kinderspiel!“113 Charakterisierend für Rosé war andererseits aber auch seine Entrüstung darüber, dass ihn die Wärter in der Untersuchungshaft einfach geduzt hätten, was er sich allerdings verbeten habe. Bei einer weiteren Hausdurchsuchung wurde festgestellt, dass Rosé trotz Verwarnung abermals gegen Vorschriften verstoßen hatte. Auf Bezugsscheinen für Lebensmittel war der Stempel „J“ beseitigt worden. Damit war es ihm möglich gewesen, weiterhin in seinen gewohnten Geschäften einzukaufen. Die inzwischen für Juden vorgeschriebenen Läden lagen weit von der Wohnung des alten Mannes entfernt.114 In einem „beschleunigten Verfahren“ wurde am 5. Dezember 1941 vor dem Schöffengericht in Weimar gegen Eduard Rosé Anklage wegen Urkundenfälschung erhoben. Da ihm die Untersuchungshaft angerechnet werden musste, wurde er lediglich zur Zahlung einer Geldstrafe von 70 Reichsmark sowie zur Übernahme der Kosten des Verfahrens verurteilt.115 Noch im selben Monat musste er seine Wohnung räumen und wurde in das Haus der Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt in der Belvederer Allee 6 eingewiesen, das inzwischen als eines der sogenannten „Judenhäuser“ bestimmt worden war. Nach dem Freitod der Sängerin und der Beschlagnahmung ihrer Villa musste er im Frühjahr 1942 noch einmal in ein anderes „Judenhaus“ am Brühl umziehen. Am 20. September 1942 wurde Eduard Rosé nach Theresienstadt deportiert. Er starb dort am 24. Januar 1943 gemäß „Todesfallanzeige“ des Ältestenrates des Gettos an einem Darmkatarrh.116 Die Generalintendanz des Nationaltheaters hatte allerdings bereits am 11. November 1942 an den Thüringischen Minister für Volksbildung gemeldet: „Der Konzertmeister a. D. Rosé hat sein Ruhegehalt seit dem 1. Oktober d[e]s. J[ahre]s. nicht abgehoben. Es wird angenommen, daß Rosé, welcher Jude ist, nicht mehr hier in Weimar lebt.“117

Führung des Vornamens „Israel“ und für weibliche „Sara“ zwingend vorgeschrieben. Reichsgesetzblatt I, S. 1044. 112 Vgl. hierzu die Verhörprotokolle vom 02. bis 08.10.1941 in LATh-HStA Weimar, Schöffengericht Weimar Nr. 139, Bl. 2–8. 113 Interview mit Margarete Vogler (Marienstraße 16, Weimar) über Eduard Rosé und Gustav Lewin, durchgeführt von Prof. Dr. Günther Kraft und Oberassistent Kurt Thomas, beide Hochschule für Musik „Franz Liszt“, am 18.06.1970. Hochschularchiv, C 154. Die Zeitzeugin starb noch im selben Jahr. 114 Ebd., Bl. 10–14. 115 Ebd., Bl. 23. 116 https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/28725-eduard-rose/, letzter Zugriff: 01.03.2019. 117 LATh-HStA Weimar, Ministerium für Volksbildung (= Personalakten Eduard Rosé, Deutsches Na­ tio­nal­theater), Nr.  25383, Bl.  78.

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Seine persönlichen Unterlagen, zu denen auch Korrespondenzen beispielsweise mit seinem Schwager Gustav Mahler gehört haben dürften, hatte er vor der Deportation Albrecht Türk, einer Aufsicht des Goethe-Hauses, anvertraut.118 Albrecht Türk starb 1988 kinderlos in Weimar. Eine Nachbarin in der Ackerwand 11 konnte sich Mitte 1990er Jahre noch gut an ihn erinnern. Niederschmetternd war ihre Auskunft, sein „Papierkram und die Bücher“ hätten noch Jahre in einem Schuppen im Hof gelegen, wären dann aber bei der Sanierung des Hauses in den Container gewandert.

Das „kulturelle Herz Deutschlands“? Auch „sozialistisches Traditionsverständnis“ begriff Weimar und die Klassik im Zusammenhang mit den „historischen Kämpfen um eine humanistische Idee und deren reale Verwirklichung.“119 Und nicht nur das Stadtmarketing wirbt damit, dass Weimar seit jeher das „kulturelle Herze Deutschlands“ gewesen sei, auch die beiden Hochschulen am Ort wollen mit diesem Label Studierende aus aller Welt anlocken. Schülerinnen und Schüler soll eine Exkursion nach Weimar bei der Suche nach einem tieferen „Verständnis unserer Identität und eine[r] klare[n] Werteorientierung in einer immer komplexer werdenden

Abb. 12: Es lässt sich in den Akten der Friedhofsverwaltung nicht nachvollziehen, wer die Grabstelle für das Ehepaar Emma und Eduard Rosé auf dem Historischen Friedhof in Weimar beauftragt hat. Mit Unterstützung durch die Gustav Mahler Vereinigung e. V. Hamburg wurde diese im Jahr 2018 restauriert. Foto: Thomas Bleicher.

118 Schreiben Albrecht Türks an die Generalintendanz des Nationaltheaters vom 22.10.1947, ebd. 119 Einleitung von Walter Dietze zu Weimar. Klassiker-Stätten im Bild, hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Weimar 1976, S. 3.

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Welt“ unterstützen.120 Der Lernkanon stellt fest: „Die Weimarer Klassik orientiert sich an den humanistischen Idealen und möchte die Menschen zum Wahren, Guten und Schönen erziehen. In Anlehnung an das antike Kunstideal wird nach Menschlichkeit sowie der Übereinstimmung von Inhalt und Form gestrebt“.121 Es fragt sich allerdings, ob bei diesen Weimar-Besuchen auch ein kritischer Blick dahingehend vermittelt wird, dass – wie die Geschichte gerade dieser Stadt beweist – klassische Bildungsideale nicht automatisch als eine Schutzimpfung gegen Inhumanität, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit verstanden werden dürfen, sondern diese Ideale vielmehr auch gerade für das Gegenteil missbraucht werden können. Beim näheren Hinsehen zeigt sich in dem damaligen Geschehen schnell ein erschreckendes „Verschmelzungspotential“ zwischen den neuen politischen „Werten“ und der immer noch hochgehaltenen humanistisch-„goetheanischen“ Grundhaltung.122 Dessen sollten wir uns in der aktuellen Werte-Diskussion stets bewusst sein. Ein Prüfstein für politische Parolen, besonders auch wenn sie den Erhalt kultureller Werte reklamieren, damit aber letztlich auf die Ausgrenzung von Menschen abzielen, muss daher für uns stets stets die Maßgabe unseres Grundgesetzes sein. Der Artikel 1 bestimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

120 So das Leitbild des Johanneums in Hamburg. Vgl. hierzu auch den Bericht der Klassenstufe 10 von der Traditionsreise nach Weimar 2015, https://www.johanneum-hamburg.de/index.php/reisennachrichten/477-das-kulturelle-herz-deutschlands, letzter Zugriff: 21.01.2019. 121 Vgl. die Lektürehilfen für Schule und Studium, https://lektuerehilfe.de/literaturepochen/weimarerklassik, letzter Zugriff: 21.01.2019. 122 Annette Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, München 2012, S. 288.

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Der Fall Dr. Ernst Praetorius Seine Hintergründe und Wirkungen

1. Dr. Ernst Praetorius (20.09.1880, Berlin – 27.03.1946, Ankara), biografische Anmerkungen Ernst Praetorius gehörte zu den wohl am umfassendsten ausgebildeten Musikern in Deutschland. Er hatte ein außerordentliches Gehör, spielte mehrere Instrumente, darüber hinaus war er Dirigent, Musikwissenschaftler, Musikhistoriker, Hochschullehrer, Herausgeber, Musikarchivar und -bibliothekar. Praetorius kam aus einer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Familie von Ärzten, Intellektuellen, Industriellen und Künstlern. Er wurde am 20. September 1880 in Berlin als Sohn des angesehenen Orientalisten Prof. Dr. Franz Praetorius geboren. Er erhielt, nach der Übersiedlung mit den Eltern nach Breslau, von 1887 bis 1899 Geigenunterricht, dazu Kompositionsunterricht bei Otto Reubke, einem Bruder von Franz Liszts Lieblingsschüler Julius Reubke. Von 1899 bis 1905 studierte Praetorius Musikwissenschaft in Berlin, 1905 wurde er mit dem Thema Die Mensuralnotation des Franchinus Gaffurius und in der folgenden Zeit bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts promoviert. 1905/06 unternahm er mithilfe des Preußischen Kultusministeriums Forschungsreisen nach Dänemark und andere skandinavische Länder, um Archive und Bibliotheken für die musikgeschichtliche Edition der Denkmäler Deutscher Tonkunst zu erforschen. Als Zeichen seines Ansehens als junger, vielseitiger Musiker und Musikwissenschaftler erhielt er 1906 den Ruf zum Direktor des Musikhistorischen Museums Wilhelm Heyer in Köln. Seine Beschäftigung mit der Instrumentensammlung1, die einen wichtigen Teil des Museums in Köln bildete, ermöglichte es ihm, die meisten Orchesterinstrumente zu spielen, wie dies seine Weimarer Orchestermusiker mitteilten.2 1909 begann Praetorius seine Theaterlaufbahn als Korrepetitor und Kapellmeister an der Oper in Köln, dem damals größten Theater Deutschlands. 1912/13 wechselte er als Kapellmeister an das Schauspielhaus Bochum, 1913/14 war er am Neuen Theater Leipzig und am Stadttheater Breslau, danach für ein Jahr am Stadttheater Lübeck tätig. Von 1915 bis 1922 wirkte er erneut am Stadttheater Breslau, wo sein Vater eine Pro1 Die dortige Instrumentensammlung stammte aus Leipzig. 1926 wurde sie vom Freistaat Sachsen und dem Inhaber des Peters-Verlages für die Universität Leipzig erworben und wieder nach Leipzig gebracht. 2 Bericht des Kapellmitgliedes Walter Socha über 50 Jahre Kapellgeschichte, Weimar 1963, Typoskript, DNT, Sammlung Staatskapelle.

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fessur innehatte. 1922 ging er als Kapellmeister an die Große Volksoper in Berlin (Theater des Westens) und an die Staatsoper Unter den Linden, die damals Max von Schillings (1868–1933) leitete. Seit August 1924 war er als Generalmusikdirektor am Deutschen Nationaltheater (DNT) in Weimar tätig.3 Der Wechsel nach Weimar ergab sich aus Praetorius’ persönlicher Situation. Im F ­ ebruar 1924 wurde die Ehe mit seiner Frau Eva, geb. Martersteig, geschieden, im Dezember 1924 heiratete er die jüdische Kinderärztin Dr. Käte Jeanette Ruhemann. Beide brachten jeweils drei Kinder mit in die neue Ehe, Ernst Praetorius hatte nun für einen acht Personen umfassenden Haushalt zu sorgen. Er suchte nach einem neuen Wirkungsort und fand ihn in Weimar.

Exkurs: Weimar als völkisch-antisemitisches Zentrum Deutschlands und die Umstände von Praetorius’ Berufung nach Weimar Die Staatskapelle Weimar kannte Praetorius bereits von Gastdirigaten, ebenso wie den Ruf der Stadt als heimliche Kulturhauptstadt. Was ihm unbekannt blieb, war Weimars Rolle als völkisches und antisemitisches Zentrum Deutschlands. Seit sich 1895 der Führer der deutschen Antisemiten, Adolf Bartels (1862–1945), und Vertreter der gründerzeitlichen Heimatdichtung und nationalistischen Lyrik wie Ernst von Wildenbruch (1845–1909), später völkische Literaten wie Friedrich Lienhard (1865–1929) oder Ernst Wachler (1871–1945) in Weimar niederließen, versammelten sie rasch einen Kreis von Gleichgesinnten und „Schülern“ um sich, die sich zu frühen Protagonisten der NS-Kultur entwickelten.4 Adolf Bartels wurde 1905 von Großherzog Wilhelm Ernst zum Professor ernannt. Er sah Weimar und Bayreuth als die Basis deutscher Kultur an, im Gegensatz zu Berlin und zur Moderne. Hatte sich Bayreuth als Festspielort für das Musikdrama Richard Wagners durchgesetzt, so sollte Weimar zum Festspielort für das „Wortdrama“ werden. Das zeigte sich an den von Bartels initiierten ersten „Nationalfestspielen für die deutsche Jugend“ vom 6. bis zum 24. Juli 1909 in Weimar. Es wurden Friedrich Schillers Wilhelm Tell, Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm, Heinrich von Kleists Prinz von Homburg und Johann Wolfgang von Goethes Egmont aufgeführt. Außer Jugendlichen aus dem „deutschen Reichsgebiet“ kamen auch ca. 600 Schüler, vor allem deutscher Herkunft, aus Antwerpen, Brüssel, St. Petersburg und aus Österreich. Bartels und seine Vertrauten bauten schrittweise das Deutsche Nationaltheater Weimar zur Stätte völkischer und bald nationalsozialistischer Kulturidentität aus, durch Ver3 Irina Lucke-Kaminiarz, „Dr. Ernst Praetorius, Generalmusikdirektor“, in: Bernhard Post, Irina Lucke-Kaminiarz, Harry Stein, Kulturverlust. Die Vertreibung und Ermordung jüdischer Musiker des DNT Weimar, Ausstellung im Deutschen Nationaltheater Weimar, Katalog, Erfurt 2002, S. 44–49. 4 Vgl. Irina Kaminiarz, „Entartete Musik und Weimar“, in: Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, hrsg. von Lothar Ehrlich, Jürgen John und Justus Ulbricht, Weimar 1999, S. 267–292.

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einnahmung des Ortes mittels Propagandaveranstaltungen der NSDAP – 1924 mit dem „Deutschen Kulturbekenntnis“, dem zweiten Parteitag der NSDAP 1926 – sowie durch zunehmend versuchte Beeinflussung des Spielplanes und den Kampf gegen die zeitgenössische Kunst. Praetorius, wie auch seine Vorgänger im Amt, Peter Raabe (1907–1920)5, Carl Leonhardt (1920–1922)6 und Julius Prüwer (1923–1924),7 waren Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (ADMV, 1861–1937), der neue Musik sowie ihre Schöpfer künstlerisch und finanziell förderte.8 Die genannten Weimarer Hofkapellmeister resp. Generalmusikdirektoren führten neue Werke auf und waren umgehend den Angriffen der völkischen Gruppierung ausgesetzt. Gegen Peter Raabe, eigentlich durchaus konservativer Haltung, hatte es in Vorbereitung und Durchführung des 50. Tonkünstlerfestes des ADMV 1920 in Weimar eine Pressekampagne unter dem Titel „Gegen den Raabe-Rummel“ der „Bauhaus-Jünger“ gegeben. Peter Raabe hatte bereits am 7. November 1919 erstmals ein Werk Arnold Schönbergs, Fünf Stücke für 5 Peter Raabe (1872, Frankfurt/Oder – 1945, Weimar) war Dirigent und Musikwissenschaftler. Er studierte an der Königlichen akademischen Hochschule für Musik, Berlin, und an den Universitäten Berlin, München und Jena, wo er 1916 zum Dr. phil. promoviert wurde. Als Kapellmeister wirkte er u. a. in Königsberg, Amsterdam, München und Mannheim, Gastspiele führten ihn in viele europäische Länder. 1907–1920 war er Hofkapellmeister in Weimar, 1910–1945, war er zugleich Kustos des Weimarer Liszt-Museums, Verfasser eines Liszt-Werkverzeichnisses sowie Mitherausgeber der Liszt-Gesamtausgabe. 1920–1934 war er GMD in Aachen. 1935 wurde Raabe in der Nachfolge von Richard Strauss Präsident der NS-Reichsmusikkammer. Vgl. auch dazu: Nina Okrassa, Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Köln u. a. 2004. 6 Carl Leonhardt (1886, Coburg –1969, Tübingen) war Dirigent und Musikwissenschaftler. Er hatte u. a. in Leipzig bei Arthur Nikisch studiert, war musikalischer Assistent zu den Bayreuther Festspielen, Kapellmeister in Hannover, 1922 GMD in Stuttgart. In Weimar (1920–1922) setzte er sich für zeitgenössische Musik ein: Opern von Franz Schreker, Claude Debussy, Hans Pfitzner sowie Instrumentalwerke von Arnold Schönberg und Igor Strawinsky Mit einem derartigen musikalischen Programm hatte er sich ins Fadenkreuz der völkischen Gruppierung in und um Weimar begeben. 7 Julius Prüwer (1874, Wien –1943, New York) war Pianist und Dirigent. Er bekam Unterricht von Arthur Friedheim und Moritz Rosenthal, Enkelschüler Franz Liszts. Er war auch Brahms-Schüler. Von Hans Richter wurde er zum Dirigenten ausgebildet. 1894–1896 war er Kapellmeister in Köln, 1896–1923 in Breslau, dort auch 1920–1923 Operndirektor, 1923–1924 musikalischer Oberleiter der Weimarischen Staatskapelle, 1924–1933 Professor für Dirigieren an der Berliner Musikhochschule. 1933 emigrierte er über Stationen in der UdSSR und Österreich in die USA. Seit 1943 war er als Lehrer in New York tätig. 8 Der ADMV wurde 1861 in Weimar von Franz Liszt und mehr als 700 Musikern aus aller Welt gegründet. Vgl. dazu: Irina Kaminiarz, „Zur Geschichte des Allgemeinen Deutschen Musikvereins“, in: Irina Kaminiarz, Richard Strauss. Briefe aus dem Archiv des ADMV, Köln u. a. 1995, S. 9–20; Irina Lucke-Kaminiarz, „Die Tonkünstlerversammlungen des ADMV – ein internationales Forum zeitgenössischer Musik?“, in: Liszt und Europa, hrsg. von Detlef Altenburg und Harriet Oelers, Laaber 2008, S. 63–75; Irina Lucke-Kaminiarz, „Die Franz-Liszt-Stiftung und Fürstin Marie zu Hohenlohe-Schillingsfürst, geb. Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein“, in: Liszt-Nachrichten Nr. 18/2011, S. 8–14.

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Orchester op. 16, in Weimar aufgeführt. Während des Weimarer Tonkünstlerfestes 1920 erklangen neben Liszts Werken auch Schönbergs Orchesterstücke, die Sinfonie (D-Dur) von Eduard Erdmann und Hermann Scherchens Streichquartett op. 1. Dazu heißt es in der Thüringer Tageszeitung vom 22. September 1920: Gegen den Raabe-Rummel. Unter diesem Titel wird uns aus einem Kreis von Kunstfreunden geschrieben: […] Seitdem der sogenannte neue Kurs auch für Weimars Kunstleben seinen Einschlag gebracht hat, wirkt außer diesem im Theater eine Clique, welche die Bauhaus-Jünger […] als Gegengewicht gegen alle Äußerungen der Unzufriedenheit über die Leistungen sogenannter neuester Kunst üben. Diese Tendenzmache nahm aufdringliche Formen im Raabe-Rummel an […], Forderte man doch bei der letzten Vorstellung Raabes, […] die Besucher auf, sich von den Plätzen zu erheben, sobald der Dirigent erscheint. Herr Raabe hat ja in Weimar allerhand gelernt, Opern konnte er vorher kaum leiten […].

Derartige Behauptungen seitens dieses „Kreises von Kunstfreunden“ gegen renommierte Künstler in Verbindung mit völkischen und rassistischen Attacken gehörten bald zum Kontinuum in Weimar. Außerdem hatte der Rechtsruck nach den Landtagswahlen im Februar 1924 zu einem Machtzuwachs der völkischen und nationalsozialistischen Kreise geführt. Zeitgleich bildeten sich auch in Kulturinstitutionen wie Theater und Staatlicher Musikschule nationalsozialistische Betriebszellen, von denen, neben der nationalsozialistischen Presse, die Hetze gegen missliebige Künstler mitorganisiert wurde. Das betraf Raabes Nachfolger, vor allem Julius Prüwer und Ernst Praetorius. So bat Prüwer bereits nach einem Jahr, zu Ende der Spielzeit 1923/24, um seine Entlassung. Die vielfachen Beleidigungen wegen seiner jüdischen Abstammung hatten dazu geführt. Prüwer schrieb am 6. Juli 1924 ein Entlassungsgesuch an den Generalintendanten des DNT, Dr. Franz Ulbrich: Ich habe in den dreissig Jahren meiner Tätigkeit nicht so viel Anfeindungen, Anpöbelungen und Intrigen aushalten müssen wie in den zwölf Monaten meiner hiesigen Tätigkeit Ich bitte Sie um Lösung meines Vertrages ab 1. August 1924 […].9

Im Prüwers Erläuterungsschreiben zur Kündigung vom 9. Juli 1924 ist zu lesen: Man hat mich hier in einem Blatt wegen meiner Abstammung fast wöchentlich beschimpft und beleidigt. Leute, deren Gesichtskreis über Weimar nicht hinausragt, wagen es, mir, der in Berlin und Wien usf. von Presse und Publikum seit Jahren einstimmig anerkannt wird, Belehrungen über Tempi, Programme usw. zu geben. Ein Referent, der systematisch arbeitet, um mich aus meiner Stellung zu bringen, wagt es, in frechstem Tone sich über meine Zeitmaße in Meistersingern lustig zu machen, obzwar ihm bekannt ist,

9 Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Generalintendanz (im Folgenden: LAThHStAW), GI 212, Bl. 221.

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dass ich in Bayreuth drei Jahre mitgearbeitet und nicht nur im Festspielhaus, sondern in Wahnfried selbst unzählige Proben abgehalten habe.10

Halbbildung, Ignoranz und Böswilligkeit dieser Kreise sind hier bestens beschrieben, sie scharten sich mehr und mehr um die nationalsozialistischen Würdenträger. Intendant Ulbrich hatte verfügt, dass die Kündigung Julius Prüwers erst wirksam werden könne, wenn ein Nachfolger gefunden sei. Es wurden auch Berliner Künstleragenturen eingeschaltet, darunter Mertens und Meyer. Außer Praetorius wurden als mögliche Nachfolger Dirigenten aus Altenburg, Krefeld und Graz benannt, die aber nicht Praetorius’ exzellenten Ruf unter Musikern hatten. Julius Prüwer, der Ernst Praetorius aus Breslau und von den Tonkünstlerfesten des ADMV kannte, unterstützte dessen Kandidatur in Weimar. Am 20. Juni 1924 schrieb er an den Weimarer Intendanten Ulbrich: Ich glaube bestimmt, dass sie einen besseren Ersatzmann als Praetorius nicht finden werden. […] Als Dirigent brauche ich ihn ja nicht zu empfehlen. […] Praetorius ist aber ein Mann, der absolut selbständig ein Operninstitut leiten kann. Ich halte das für sehr wichtig. Sie werden in Praetorius einen Menschen finden wie Sie ihn suchen.11

Auch Dr. Leo Kestenberg12 vom Kultusministerium Berlin setzte sich bei Ulbrich umgehend für Praetorius ein: Herr Dr. Praetorius ist mir als Dirigent durch seine Leistungen an der Volksoper und seit Anfang dieses Jahres an der hiesigen Staatsoper bekannt. Er ist ein außerordentlich gewandter, schlagfertiger und allen Problemen der musikalischen Opernleitung gewachsener Künstler. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass Dr. Praetorius in allen musikalischen Kreisen durch sein unglaublich gutes, geradezu an das Wunderbare grenzende Gehör bekannt ist, das ihn befähigt, das Orchester mit einer selbstverständlichen Souveränität zu führen.

10 Ebd., Bl. 223. 11 Ebd., GI 211, Bl. 14. 12 Leo Kestenberg (1882, Rosenberg/Österreich-Ungarn –1962, Tel Aviv) war deutsch-israelischer Pianist, Musikpädagoge, Kulturpolitiker und Reformer. Durch Vianna da Motta wurde er Enkelschüler Franz Liszts, er nahm 1900 an Busonis Meisterkurs in Weimar teil und debütierte 1906 als Pianist in Berlin. Er wurde gefeierter Liszt-Interpret und engagierte sich für die Demokratisierung der Künste (Freie Volksbühne Berlin; Volksbildungsprojekt der Krolloper). 1918 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1920 Referent im Preußischen Kultusministerium und leitete die Berufungspolitik für die Berliner Theater und Orchester. 1932 wurde er aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt, 1933 emigrierte er nach Prag und 1938 nach Tel Aviv. 1953 wurde er wegen seiner Verdienste um die Musikerziehung zum Präsidenten der International Society for Music Education (SME) gewählt und kam noch einmal zu einem Besuch nach Berlin. 2017 wurde in seinem Wohnort Berlin-Wilmersdorf eine Gedenktafel angebracht.

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Auch über dessen Fähigkeiten, verwaltungstechnischen Anforderungen gerecht werden zu können, teilte er mit: Ich könnte mir sehr wohl denken, dass er auch die auf diesem Gebiet liegende Aufgabe überlegen lösen könnte, da Pretorius eine außerordentlich gebildete, feinsinnige Persönlichkeit ist, die sich sicher sehr schnell in einen neuen Wirkungskreis einarbeiten könnte. […] Ich zweifle nicht, dass er an der Spitze eines Instituts von entsprechendem Umfange Bedeutendes leisten wird.13

2. Dr. Ernst Praetorius als Generalmusikdirektor am Deutschen Nationaltheater Weimar (1924–1933) Dr. Ernst Praetorius wurde zum 15. August 1924 als Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar engagiert. Er präsentierte sich dem Weimarer Publikum mit Ludwig van Beethovens Oper Fidelio am 14. September 1924 äußerst erfolgreich. Walter Socha schrieb in seinen Erinnerungen als Mitglied der Weimarischen Staatskapelle: Schon in der ersten Probe erkannten wir, dass am Pulte ein Mann stand, energiegeladen, mit einem unwahrscheinlichen Gehör und ausgeprägtem Sinn für Dynamik. Er hat es dem Orchester nicht leicht gemacht (der Bühne aber auch nicht). Es gab manchmal Differenzen, aber er setzte sich stets durch. Und der Erfolg? Die herrlichen Aufführungen: Carmen (3 Orchesterproben allein für die „alte“ Carmen), der einzig schöne Rosenkavalier, der Ring (jedes Frühjahr im Sonder-Abonnement 4 Sonntage hintereinander). Prachtvoll die Zusammenarbeit mit dem Intendanten Dr. Ulbrich (Regie), z. B. Mrazek: „Madonna am Wiesenzaun“, Wolf-Ferrari: „Die schalkhafte Witwe“. Aber nicht nur die große Oper war seine Stärke, auch für die Spieloper hatte er eine besondere Liebe, z. B. die humorbeschwingten „Schneider von Schönau“, Rossinis „Barbier“, Lortzings „Wildschütz“ (von der ein Sänger sagte: 50mal habe ich die Partie gesungen und jetzt ist es eine neue Oper).14

Abb. 1: Generalmusikdirektor Dr. Ernst Pretorius (1880–1946), Jahrbuch des DNT, 1929/30, S. 51, Foto: Hermann Eckner, LATh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

13 LATh-HStAW, GI 211, Bl. 2. 14 Zit. n. Wolfram Huschke, … von jener Glut beseelt. Geschichte der Staatskapelle Weimar, mit Essays von Detlef Altenburg und Nina Noeske, Jena 2002, S. 166, Bericht des Kapellmitgliedes Walter Socha über 50 Jahre Kapellgeschichte, (wie Anm. 2).

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Mit Praetorius gewann Weimar einen hervorragenden Dirigenten. Der neue Generalmusikdirektor hatte jedoch nicht nur musikalische Herausforderungen zu bewältigen, er musste sich auch mit finanziellen und administrativen Hindernissen am Theater auseinandersetzen. Praetorius’ Anstellung in Weimar erfolgte zu einem für das Deutsche Nationaltheater turbulenten Zeitpunkt. Im Juni 1924 war Intendant Dr. Ernst Hardt vom Amt zurückgetreten. An seine Stelle trat ab 1. Juli 1924 Dr. Franz Ulbrich, zuvor Intendant u. a. in Meiningen, seit 1923 Generaldirektor der Theater des Landes Thüringen. Vor dem neuen Intendanten standen komplizierte Aufgaben, denn die Lage der Theater nach dem Ende des Krieges und dem Ende der Hoftheater mit ihrer Finanzierung durch die Abb. 2: Generalintendant Fürstenfamilien war katastrophal. Die Inflation 1922/23 Dr. Franz Ulbrich (1885–1950), hatte verheerende Wirkungen. Im Januar 1923 waren für Jahrbuch des DNT, 1929/30, eine Karte 500 M zu zahlen, im März 4100 M, im Juni S. 51, Foto: Hermann Eckner, 10.000 M und im Oktober 55 Millionen Mark. Franz LATh-HStA Weimar, Bestand: Ulbrich hielt es für seine wichtigste Aufgabe, die finan- Generalintendanz des Deutschen zielle Lage des Weimarer Theaters zu verbessern. Im neuen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar. Generalmusikdirektor fand er den geeigneten Partner. Es war ihr gemeinsames Anliegen, eine Entwicklung zu initiieren, die Weimar wieder zu einem auch überregional beachteten Anziehungspunkt machte. Dabei spielte die Begeisterung beider für die seit Liszts Zeiten in Weimar lebendige Festspielidee eine entscheidende Rolle.15 Festspiele ermöglichten es, neue Publikumskreise zu gewinnen, Finanzen zu akquirieren, überregionale Aufmerksamkeit zu erreichen und große Aufführungen zu erarbeiten, die im normalen Repertoirebetrieb nicht möglich sind. Dazu gehörten neben der Erhöhung der Vorstellungszahlen auch Gastspiele. Franz Ulbrich und Ernst Praetorius konzipierten bereits 1924/25 die „Osterfestspiele“ für 1925 in Weimar, die zu einem großen und überregionalen Erfolg werden sollten. Zu den Osterfestspielen 1925 standen Ulbrichs Inszenierungen von Goethes Faust I und II auf dem Programm. Den Höhepunkt bildete am 14. April 1925 die Aufführung des Rosenkavalier unter der Leitung seines Komponisten Richard Strauss, des ehemaligen Weimarer zweiten Kapellmeisters (1889–1894). In der Partie des Octavian war Marie Gutheil-­ Schoder zu erleben, die einst von Strauss als Elevin ans Weimarer Hoftheater geholt worden 15 Franz Liszt hatte sie in seinem Projekt einer Goethestiftung in Weimar ins Auge gefasst, die jeweils zu Goethes Geburtstag Wettbewerbe in Weimar vorsah, jährlich im Wechsel der Kunstgattungen. Dieses Konzept zur Erneuerung der Künste und Weimars als Kunstmittelpunkt Deutschlands scheiterte. Gleichwohl gelang es Liszt, so etwas für die Musik zu etablieren, in Gestalt der jährlichen, an wechselnden Orten stattfindenden großen Tonkünstlerversammlungen des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (1859, 1861–1914, 1920–1937). Vgl. dazu die in der Anm. 8 genannten Publikationen von Irina Lucke-Kaminiarz.

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war. Nun stand sie als Gast aus Wien auf der Bühne. Es war ein Programm, das zahlreiche Gäste auch von außerhalb anzog. Richard Strauss wurde zum Ehrenbürger der Stadt Weimar ernannt, was das Interesse der überregionalen und internationalen Presse hervorrief. Am 15. April 1925 stellte Ernst Praetorius in den Mittelpunkt seines Festprogramms Werke, die mit Thüringen in besonderer Verbindung standen. Die Weimarische Staatskapelle (ständig 60 Mitglieder) wurde mithilfe des Loh-Orchesters aus Sondershausen und des Altenburger Theaters auf 100 Musiker aufgestockt, so wie es zu den Tonkünstlerfesten des ADMV seit Liszts Zeiten üblich war. Praetorius leitete Franz Liszts symphonische Dichtung Tasso, Richard Strauss’ Tondichtung Also sprach Zarathustra op. 30 und Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Hiller op. 100, im Publikum saß Richard Strauss. Abgeschlossen wurden die Weimarer Osterfestspiele 1925 nach Richard Wagners Tristan und Isolde mit der Oper Tiefland des Lisztschülers Eugen d’Albert, die Marta sang Marie Gutheil-Schoder. Im Konzept von Ulbrich und Praetorius spielte die Nutzung von Gedenktagen eine große Rolle, damit ließen sich Höhepunkte schaffen. Die „Osterfestspiele“ 1926, „Ostern in Weimar“, waren vom Max-Reger-Fest geprägt, das Ernst Praetorius aus Anlass des 10. Todestages des Komponisten im April durchführte. Im Juni 1927 erinnern die Weimarer in Bad Lauchstädt an ein Programm, mit dem der Weimarer Intendant Johann Wolfgang Goethe vor 125 Jahren das dortige Theater wiedereröffnet hatte: Goethes Vorspiel Was wir bringen und Wolfgang Amadeus Mozarts La clemenza di Tito in der Regie Franz Ulbrichs. Im März 1927 wurde der 100. Todestag Ludwig van Beethovens gefeiert. Im Eröffnungskonzert wurde das Tripelkonzert op. 56 mit etablierten Weimarer Künstlern aufgeführt. Es traten auf: Bruno Hinze-Reinhold, der Direktor der Staatlichen Musikschule, Professor für Klavier und gefragter Konzertpianist, Robert Reitz, der erste Konzertmeister der Staatskapelle sowie Professor an der Musikschule, und Walter Schulz, Professor für Cello an der Musikschule und angesehenes Mitglied der Staatskapelle. Außerdem fand eine BeethovenGedächtnisfeier mit vier Konzerten statt. 1928 folgte zu Franz Schuberts 100. Todestag ein Gedächtniskonzert mit der 4. und der 5. Sinfonie sowie der Klavierfantasie op. 15. 1931 widmete Ernst Praetorius seinem bevorzugten Komponisten Anton Bruckner zum 35. Todestag ein gigantisches Fest. Innerhalb von 17 Tagen (vom 16. Juni bis 3. Juli) führte er in der Stadtkirche St. Peter und Paul alle neun Sinfonien Bruckners mit der verstärkten Weimarischen Staatskapelle auf. Am 4. März 1932 gab es anlässlich des 200. Geburtstages von Joseph Haydn ein Sonderkonzert der Staatskapelle, wobei Walter Schulz ein wiederentdecktes Konzert für Violoncello in C-Dur präsentieren konnte. Auf die Feiern zu Goethes 100. Todestag 1932 soll in Verbindung mit Praetorius’ Lehrtätigkeit an der Staatlichen Musikhochschule näher eingegangen werden. In den Konzerten spielten auch neue Formen der Programmgestaltung eine Rolle, wie sie vom ADMV intendiert und von den besten Kapellmeistern in ganz Europa erprobt wurden. Es handelte sich um Konzerte, die sich einzelnen Epochen der Musikgeschichte zuwandten, wie Barock (Johann Sebastian Bach, Benedetto Marcello, Giuseppe Tartini, Johann Hermann Schein, 1930), Klassik (Joseph Haydn, Mozart, Beethoven, 1928), romantische Strömungen (Frédéric Chopin, Johannes Brahms, 1929), Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts (Liszt, d’Albert) etc. Die beliebten „Länderprogramme“ setzte Ernst

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Praetorius fort mit russischen Abenden und zum Teil gewagten Programmen. Zum Beispiel bot das Konzert am 25. November 1927 Alexander Borodins 2. Sinfonie, die 7. Sinfonie des sowjetischen Komponisten Nikolai Mjaskowski und im Februar 1929 Igor Strawinskys Feuervogel-Suite sowie Alexander Glasunows Violinkonzert in a-Moll. Selbstverständlich engagierte sich Ernst Praetorius für die zeitgenössische Musik. Unter seiner Leitung erklangen neben Werken von Richard Strauss, Gustav Mahler und Strawinsky auch Kompositionen von Karol Szymanowski, Ferruccio Busoni, Paul Graener, Franz Schreker, Rudi Stephan sowie der Weimarer Komponisten Richard Wetz und Gustav Lewin. Schon Anfang der 1920er Jahre wurden Arthur Honeggers Pacific 231 und Paul Hindemiths Nuschi-Nuschi-Suite geboten. Paul Hindemith spielte in Praetorius’ Konzert am 8. März 1929 als Solo-Bratscher seine Kammermusik Nr. 5, op. 36 Nr. 4 und am gleichen Abend (!) den Solopart in Hector Berlioz’ Harold in Italien. Auch die zeitgenössische Oper war im Blickfeld des Generalmusikdirektors. Vom Publikum gut angenommen wurde Paul Graeners Hanneles Himmelfahrt, eher widersprüchliche Aufnahme fanden Paul Hindemiths Cardillac (1927), Ernst Křeneks Jonny spielt auf (1928) oder Max Brands Maschinist Hopkins (1929). Ein dreitägiges Musikfest des Deutschem Nationaltheaters und der Staatlichen Musikschule widmete Ernst Praetorius im November 1926 Waldemar von Baußnern zu dessen 60. Geburtstag. Baußnern war 1909–1916 Direktor der Weimarer Musikschule, langjähriges Mitglied des ADMV und er hatte 1912 in Weimar eine „Vereinigung für zeitgenössische Tonkunst“ gegründet. Es gab Benefizkonzerte zur Einrichtung von Stipendienfonds für die Orchesterschüler und zur Förderung der Weimarer Kulturstätten und Kunstinstitute. Wie eng die Verbindung zwischen Theater und Publikum war, zeigten seit 1925 zur Faschingszeit die Theaterbälle, mit Staatskapelle, Chor, Ballett und am 21. Februar 1925 einer „Jazzbandkapelle“. All diese Aktivitäten waren große Erfolge von Ernst Praetorius und Franz Ulbrich, das Deutsche Nationaltheater war wieder ein bedeutender kultureller Anziehungspunkt in Deutschland und von brillanter künstlerischer Ausstrahlungskraft.

3. Praetorius als Leiter des Schülerorchesters und Lehrer an der Staatlichen Musikschule Weimar Seit Oktober 1925 leitete Ernst Praetorius das Orchester der Staatlichen Musikschule Weimar und unterrichtete die Klasse Dirigieren. Die Institution befand sich unter der Leitung Bruno Hinze-Reinholds auf dem Wege zur akademischen Lehranstalt und erwies sich bald als ein höchst erfolgreiches Wirkungsfeld für den Dirigenten. Seine Leistungsanforderungen an die Studierenden waren hoch, dennoch liebte und verehrte man ihn. Man nannte ihn, wie auch in der Staatskapelle Weimar, liebevoll „Prae“.16 Er führte die Studierenden zu großen Erfolgen und festigte die Verbindung zwischen Staatlicher Musikschule und Theater, 16 Karl-Heinz Köhler, „Erschallet, ihr Lieder, erklinget ihr Saiten“ von denen Hofmusicis zur „Weimarischen Staatskapelle“. Versuch einer Deutung ihrer Geschichte in 12 Kapiteln, einem Zwischenspiel nebst Epilog, Weimar 1986, S. 83.

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Abb. 3: Lehrerkollegium der Staatlichen Musikhochschule Weimar, 1932 (u. a. Direktor Bruno HinzeReinhold, Praetorius, Reitz), HSA| ThLMA Weimar.

die Besten der Studierenden wirkten bei den großen Aufführungen des DNT mit, was für die jungen Musiker unverzichtbare Erfahrungen waren. Im Juni 1926 leitete Praetorius ein Festkonzert in Erinnerung an die Gründung der Orchesterschule 1872. Es erklangen Werke von Niels Wilhelm Gade, Antonio Vivaldi, Marco Enrico Bossi, Paul Hindemith sowie vom Dozenten der Musikschule, Richard Wetz, der Praetorius für die anspruchsvollen Aufführungen seiner Kompositionen stets dankbar war. Der Direktor der Staatlichen Musikschule, Bruno Hinze-Reinhold, beantragte 1926, Dr. Ernst Praetorius wegen seiner ausgezeichneten Leistungen als Lehrer und künstlerischer Leiter des Schülerorchesters in den Professorenstand zu erheben. Das Ministerium stimmte diesem Vorschlag ebenso wenig zu wie dem Antrag Hinze-Reinholds, Jenny Fleischer-Alt17 als Lehrerin für Gesang mit dem Professorentitel auszuzeichnen. Auch eine Anerkennung des Cellisten Eduard Rosé, der ebenfalls an der Musikschule unterrichtete, fand nicht statt. Nach drei Semestern Aufbauarbeit mit dem Orchester trat Ernst Praetorius 1927 von dessen Leitung zurück, weil die Professur ausgeblieben war.18 Zur gleichen Zeit, am 1. April 1927, hatte Jenny Fleischer-Alt aus nämlichem Grund gekündigt. Die Orchesterleitung über17 Bernhard Post, „Jenny Fleischer-Alt – Eine Künstlerin zwischen Wagner-Verehrung und rassischer Verfolgung“, in: Festschrift. 25 Jahre Wagner-Verband 1990–2015, 125 Jahre Richard-Wagner-Zweigverein Weimar 1890–1899, hrsg. vom Richard-Wagner-Verband, Leipzig 2016, S. 84–95. 18 Wolfram Huschke, Zukunft Musik. Eine Geschichte der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Köln u. a. 2006, S. 181.

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Abb. 4: Gartenfest in der Klosterruine, 2. Februar 1932, HSA| ThLMA Weimar.

nahm zunächst Max Strub, bevor er als 1. Konzertmeister nach Berlin ging. 1928/29 kehrte Praetorius zurück und übernahm mit Beginn des Schuljahres 1929/30 den Praxisteil der Dirigentenausbildung, Richard Wetz, neben Bruno Hinze-Reinhold der wichtigste Lehrer, behielt den ersten Teil der Dirigentenausbildung bis zu den Übungen am Klavier. Das erste Orchesterkonzert 1929/30, am 25. November 1929, brachte ein sehr anspruchsvolles Programm, einen Liszt-Wagner-Abend unter Praetorius’ Leitung zu Gehör. Liszts Les Préludes sowie Wagners Lohengrin-Vorspiel, Siegfried-Idyll, zwei Wolfram-Gesänge aus Tannhäuser und die Ouvertüre zu Rienzi zeigten eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit des Orchesters. Neben den hohen Leistungsanforderungen, die Praetorius an seine Studenten stellte, hatte er stets auch viel Sinn für Humor. Bruno Hinze-Reinhold, der selbst die Faschingszeit hingebungsvoll, auch im Liszt-Outfit, mit seinen Studenten feierte, beschrieb eines der Faschingskonzerte, das Praetorius leitete: Der Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters, Dr. Ernst Praetorius hat es sich nicht nehmen lassen, das Schülerorchester in einigen beschwingten Weisen anzuführen. Ich erinnere mich dabei an die Zeit seiner Autobegeisterung, wo er zum allgemeinen Gaudium im ölbeklexsten Arbeitskittel mit einem großen Autoschlüssel einen Strauß’schen Walzer dirigierte.19

19 Bruno Hinze-Reinhold, Lebenserinnerungen, hrsg. von Michael Berg, Weimar 1997, S. 84.

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Nach dem musikalischen Programm fand ein Ball bis zum frühen Morgen statt, es gab Bratwürste und Getränke, das „Residenz-Café“ („Resi“) lieferte Gebäck, am beliebtesten waren „Hinze-Reinhold Törtchen“ und „Praetorianer“.20 Ein Kulminationspunkt für die nunmehrige Musikhochschule (seit 1930) und ihre Protagonisten war die Verbindung der Feierlichkeiten zum eigenen 60-jährigen Gründungsjubiläum und mit Goethes 100. Todestag, der zu einem weltweit beachteten Ereignis im März 1932 wurde. Es kamen Thomas Mann als Festredner, Gerhard Hauptmann, Ricarda Huch und weitere Gäste aus 70 Ländern. Es war Bruno Hinze-Reinhold gelungen, das Festkonzert der Hochschule mit der Eröffnung des eigens für das Goethe-Jahr errichteten Konzert- und Kongressgebäudes, der Weimarhalle, zu verbinden. Ernst Praetorius dirigierte: Franz Liszts Goethe-Festmarsch für großes Orchester, Chor der Engel aus Faust II 21, Klavierkonzert A-Dur mit Hinze-Reinhold als Solist; Ludwig van Beethovens Meeresstille und glückliche Fahrt für gemischten Chor und Orchester. Der Weimarer Männerchor, der „Neue gemischte Chor“, gegründet von Praetorius, und die Studierenden leisteten Hervorragendes. Diesen großen und internationalen Erfolg der Hochschulmitglieder nutzte Bruno HinzeReinhold, um die Professur für Ernst Praetorius erneut zu beantragen – wieder vergebens.

Exkurs: Die „Festspiele des Bayreuther Bundes deutscher Jugend in Weimar“ im Juli 1926, der „Franz-Liszt-Bund zur Förderung der deutschen Festspiele in Weimar“ und die Rolle Peter Raabes für den Franz-Liszt-Bund (FLB) Das Jahr 1926 brachte Zäsuren. Den Osterfestspielen des DNT mit dem Max-Reger-Fest unter Praetorius’ Leitung folgten nun ganz andere Feste und Feiern. Anfang Juli hatte im Deutschen Nationaltheater Weimar der 2. Parteitag der NSDAP stattgefunden, gegründet wurde die „Hitlerjugend“, Namensfinder war der Adolf-Bartels-Schüler Hans Severus Ziegler. Vom 17. bis zum 31. Juli 1926 fanden die „Deutschen Festspiele des Bayreuther Bundes deutscher Jugend“ (BBdJ) in Weimar statt, während Bayreuth ganz im Zeichen des 50-jährigen Bestehens des Festspielhauses stand. Der Bund war ein Jahr zuvor gegründet worden und hatte rasch Ortsgruppen in Weimar, Arnstadt, Eisenberg, Dessau, Hamburg und Dresden. Sein Leiter war Otto Daube.22 Der BBdJ bildete eine Ergänzung zum Bayreuther Kreis um Housten Stewart Chamberlain und dessen Frau Eva, Hans von Wolzogen, Alfred Heuß (Herausgeber der Zeitschrift für Musik) sowie Siegfried und Winifred Wagner. Es handelte sich um die kulturelle Oppo20 Ebd. 21 Uraufgeführt in einer von Heinrich Zöllner bearbeiteten Fassung für gemischten Chor und Orchester. 22 Otto Daube (1900, Halle –1992, Königsfeld/Schwarzwald), Musikpädagoge, glühender NS-Anhänger. Er verstand den BBdJ als „Kampfbunde wider die Entartung in der Kunst“ und meinte: „Deutscher Geist ist es, den uns Weimar und Bayreuth bewahrt haben.“ (Otto Daube, „Weimar – Bayreuth. Zu den Deutschen Festspielen 1926 im Nationaltheater Weimar“, nach: Quellen zur Geschichte Thüringens 1919–1945, hrsg. von Thomas Neumann, Erfurt 1998, S. 117). 1926 Leiter der „Deutschen Festspiele in Weimar“, 1937 Landesleiter der RMK, Gau Westfalen, 1948 Lehrer in Hattingen.

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sition von rechts gegen Avantgarde, Moderne, Weimarer Republik und Internationalität. Richard Wagners Festspielidee sollte nun auf die Galionsfiguren der völkischen Klammer Weimar–Bayreuth übertragen werden, auf die „lebenden deutschen Meister“, inspiriert von Bartels’ „Nationalspielen“ 1909. In den Akten des Nietzsche-Archivs, das die Gäste aus Bayreuth mehrfach besuchten, heißen die neuen Festspiele in Weimar kurz und treffend „Siegfried-Wagner-Festspiele“. Die „lebenden Meister“ sind: „Friedrich Lienhard, der Künder der Reichsbeseelung, Siegfried Wagner, der Hüter des heiligen Grals, Hans von Wolzogen23, der große Idealist.“24 Im Mittelpunkt der ersten Festspiele des Bundes unter der künstlerischen Leitung Siegfried Wagners standen Der Bärenhäuter und Sternengebot von Siegfried Wagner, Hans von Wolzogens Longinus und als Abschluss Beethovens 9. Sinfonie. Hinzu kamen Formen der völkisch-nationalen Fest- und Feierkultur wie Morgenfeiern und Fackelzüge. So ein Fackelzug führte zum Hause Lienhards, Belvederer Allee 3, zur „Ehrung der anwesenden Meister Siegfried Wagner, Hans von Wolzogen, Franz Stassen25 und Wilhelm Kotzde.“26 Die Festspiele des BBdJ in Weimar waren von einem unglaublichen Missmanagement gekennzeichnet, das vor allem ihr Leiter, zugleich Leiter des BBdJ, Otto Daube sowie die Leitung des Türmer27 zu verantworten hatten. Noch während der Aufführungen wurde ein „Notruf des Bayreuther Bundes deutscher Jugend S.O.S.“ verfasst, in dem es heißt: […] Je unbestrittener der ideelle Gewinn ist, desto schmerzlicher ist die Tatsache, dass die Festspiele im Deutschen Nationaltheater finanziell schwer gefährdet sind. Dass die Vorstellungen abgebrochen werden müssen, wenn nicht augenblicklich Hilfe gebracht wird. […] Wer aber zur Zeit über bares Geld nicht verfügt, möge ein Darlehen oder mit einer Bürgschaft [1000–2000 M – ilk] dem Bayreuther Bund der deutschen Jugend zu Hilfe kommen. […] Wir beschwören die Geister Richard Wagners und Goethes. Die Persönlichkeit im Sinne des heiligen Grals wird über die Zukunft der deutschen Kultur entscheiden.28

23 Hans Paul Freiherr von Wolzogen (1848–1938), Literat, Redakteur, Librettist, wurde 1877 von Richard Wagner nach Bayreuth geholt, wo er von 1878 bis 1938 die Bayreuther Blätter herausgab. Nach Wagners Tod wurde er zu einer zentralen Gestalt des „Wahnfried-Kreises“, er war an der Leitung des „Allgemeinen Richard Wagner Vereins“ beteiligt, 1928 gehörte er zu den Unterzeichnern des Gründungsmanifestes des „Kampfbundes für deutsche Kultur“, er feierte Hitler als Verkörperung des völkischen Geistes und verglich ihn mit Richard Wagner. 24 Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar (im Folgenden: GSA), 70/324. 25 Franz Stassen (1869–1949) war Maler, Jugendfreund Siegfried Wagners und Wagnerianer. Er gestaltete u. a. den Türmer, den Lienhard herausgab, auch Lienhards Buch Wege nach Weimar mit seinen Zeichnungen. 26 Wilhelm Kotzde (1878–1948) war Volksschullehrer, dann Schriftsteller. Er vertrat eine völkisch orientierte Geisteshaltung und gehörte frühzeitig zu den Anhängern des Nationalsozialismus. 27 Der Türmer war die wohl bedeutendste nationale Rundschau, er wurde 1898 von Jeannot Emil Freiherr von Grothfuß gegründet, seit 1920 wurde er von Friedrich Lienhard, seit 1928 von Karl August Walther herausgegeben. 28 GSA 70/324.

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In dieser Form wurde der „Notruf“ dann doch nur im kleinen Kreis verbreitet. Statt dessen wurde die Öffentlichkeit über die Gründung eines „Franz-Liszt-Bundes (FLB) zur Förderung der deutschen Festspiele in Weimar“29 informiert. Er wurde ausschließlich zur finanziellen Sanierung der Festspiele des BBdJ gegründet und stand unter dem Protektorat der Fürstin von Albanien, die in Weimar lebte. Das Ziel des Bundes wurde folgendermaßen formuliert: „Für die kulturbewussten Kreise Weimars ist die Festspielidee eine heilige Aufgabe! Der Franz-Liszt-Bund will ihnen Gelegenheit geben, diese Aufgabe zu erfüllen.“30 Die Unterzeichner der Satzung sind nach Damen und Herren getrennt aufgeführt. Unter den weiblichen Personen sind u. a. zu finden: die Fürstin Anna Kekule v. Stradonitz, Dr. h. c. Elisabeth Förster-Nietzsche, Hellen Mueller-Schlenkhoff, die Gattin des Oberbürgermeisters, die die Gründung des FLB im Film dokumentierte, sowie Elsa Reger, die Witwe Max Regers, die das Reger-Archiv begründete. Elisabeth Förster-Nietzsche war, abgesehen von ihrem fragwürdigen Umgang mit Nietzsches Nachlass, eine kulturelle Instanz in Weimar. Sie stand nicht nur mit den Intellektuellen und Künstlern des „Neuen Weimar“ um Harry Graf Kessler und Henry van de Velde in Verbindung, sondern auch mit den völkischen Kreisen, darunter Ernst Wachlers31 „Jungbrunnentisch“. In den Akten des Nietzsche-Archivs spielt der „FLB zur Förderung der Festspiele des BBdJ“ immer wieder eine Rolle. Bei den Herren unterzeichneten: Dr. Werner Deetjen (Direktor der Landesbibliothek), Dr. Konrad Dürre (Hauptschriftleiter des Türmer), Prof. Dr. Max Hecker (Archivar am Goethe- und Schiller-Archiv), Major a. D. Max Oehler (Archivar am NietzscheArchiv), Dr. Ernst Praetorius (Generalmusikdirektor, GMD), Major a. D. Dr. Franz Ulbrich (Generalintendant), Prof. Dr. Hans Wahl (Direktor des Goethe-Nationalmuseums, im Folgenden GNM), Karl August Walter (Schriftsteller, Herausgeber des Türmer). Dabei handelt es sich 1926 um einen veritablen Teil der Weimarer Kulturelite. Dies bezeugt auch, dass die völkisch-nationalen Kreise hoffähig geworden waren und ihre Bestrebungen intensivierten. Es ist nicht zu übersehen, dass sich in Weimar und Bayreuth die Gegner der Finde-siècle-Kultur, der Moderne oder der Unterhaltungs- und Massenkultur versammelten und sich von der Gesellschaft, in der sie lebten, distanzierten. Sie stellten sich als Bewahrer eigentlich deutschen Geistes und deutscher Kultur dar. Für Ulbrich und Praetorius sollte es sich zeigen, dass ihre Haltung durchaus ambivalent erscheinen musste. In der Literatur über diese Zeit werden beide häufig als DeutschNationale bezeichnet.32 Dafür sprachen ihre Ämter im Vorstand des „Franz- Liszt-Bundes zur Förderung der deutschen Festspiele in Weimar“; später waren beide Mitglied in Rosenbergs 1928 gegründetem „Kampfbund für deutsche Kultur“. Unter diesem Mantel 29 Irina Kaminiarz, „Der Franz-Liszt-Bund und sein Verhältnis zum ADMV“, in: „Denn in jenen Tönen lebt es.“ Wolfgang Marggraf zum 65. Festschrift, Weimar 1999, S. 179–197. 30 GSA 70/324. 31 Ernst Wachler (1871, Breslau – 1945, Theresienstadt) kam 1902 als Chefredakteur der Weimarer Zeitung in die Stadt und versammelte im „Restaurant Jungbrunnen, Schillerstr.“ Gleichgesinnte um sich, wie Adolf Bartels, den Opernrepetitor und Klavierlehrer Adolf Emge, den Architekten und Dramenschreiber Bruno Heinrich Eelbo, Peter Gast, mitunter Aloys Obrist. 32 Vgl. Okrassa, Peter Raabe, (wie Anm. 5), S. 139.

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Abb. 5: Dr. Ernst Praetorius und Siegfried Wagner 1926 während der Festspiele des BBdJ vor dem Weimarer DNT, LATh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

ließ sich allerdings manches leichter bewerkstelligen; wenn man schon künstlerisch nach eigenem Gusto arbeitete, konnte man sich doch als „gesinnungstreu“ geben. Intendant Ulbrich und sein Generalmusikdirektor Praetorius erwiesen sich durchaus als Protagonisten der Moderne, wenn man sich die Spielpläne ansieht. Dumpfes Deutschtum ist für beide nicht vorstellbar, es sind die „barocken“ Verhältnisse, die sie in diese Situation zwingen. Denn sie haben sich in den Dienst des DNT mit seiner großen Geschichte gestellt. Die beiden künstlerischen Leiter des Deutschen Nationaltheaters mit ihrer bisher erfolgreichen Festspielidee gerieten durch die „Gastfestspiele“ aus Bayreuth unter Druck, da diese unprofessionell vorbereitet und geleitet waren. Nun hatten sich Intendant und GMD des DNT an der Rettung der Situation und des Theaters zu beteiligen. Bei der weiterhin finanziell bedrohlichen Situation der „Festspiele des BBdJ in Weimar“ wurde dazu aufgerufen, dass auch Frauen sich als Unterstützer eintragen sollten. Da beschloss wohl auch die Familie Praetorius, dass Dr. Käte Jeanette Praetorius dies tun sollte. Die Tatsache, dass ihr Name nur ein Mal in den Dokumenten des FLB zu finden ist, könnte darauf deuten, dass sie sich in diesem Kreis unwohl fühlte. Dass sie Jüdin war, war in Weimar bekannt. Auffallend ist, dass bei der Gründung des „Franz-Liszt-Bundes“ 1926 Peter Raabe, der Mann, der das Liszt-Museum leitet, jahrelang über Liszt gearbeitet und seine Werke aufgeführt, Biografie und Werkverzeichnis vorgelegt hatte, also nahezu unumgänglich in Sachen Liszt war, keine Rolle spielte. Erst 1927 wandte sich zunächst Max Oehler, dann

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Arnold Paulsen33 als Vorsitzender des FLB an Peter Raabe, um Adressen von Persönlichkeiten zu erhalten, die für den FLB geworben werden sollten. In den Unterlagen des FLB befinden sich zwei Adressenlisten, eine von unbekannter Hand, sie umfasst vor allem Namen aus Bayreuth und Weimar (Heinrich Lilienfein, Carl von Schirach, Dr. Otto Reuter, Dr. H. S. Ziegler, S. Wagner, E. Chamberlain, Prof. Henry Thode, H. von Wolzogen, Ilse Stapff, Prof. Robert Reitz, Max Strub, Prof. Hinze Reinhold, Richard Wetz, Julius Wahle, Max Hecker). Die andere Liste stammt von Prof. Arthur Seidl (1863–1928, Archivar und Vorstandsmitglied des ADMV). Diese ist untergliedert nach Ländern und enthält Namen wie Richard Strauss, aus Österreich Julius und Erich Wolfgang Korngold, Paul Stefan, Guido Adler, Wilhelm Kienzl, Hugo von Hofmannsthal, Alma Mahler, Egon Wellesz, aus der Schweiz Felix Weingartner, Friedrich Klose, Othmar Schoeck, aus Ungarn Béla Bartók, Zoltán Kodály etc. Raabe antwortete Paulsen umgehend: Ich muss offen sagen, dass nach meiner Ansicht die Gesellschaft nur einen vernünftigen Zweck hätte, wenn durch ihre Tätigkeit auch einmal für Liszt selbst etwas geschähe, das heißt, wenn einige Mittel für das Liszt-Museum aufgebracht würden.34

Am 16. und 17. Juni 1927 fand die Generalversammlung des Franz-Liszt-Bundes statt. Peter Raabe stellte in der Statutendiskussion sein Liszt-Bild sowie eine völlig neue Konzeption des Bundes vor. Durch diese Aussage wurde klar, welch fragwürdige Konstruktion der „Franz-Liszt-Bund zur Förderung der deutschen Festspiele des BBdJ in Weimar“ war. Im Oktober 1927 gab es dann die erste Veröffentlichung der Satzungen des „Franz-LisztBundes“. Dessen Vorsitzender blieb Staatsminister Paulsen. In der Hauptversammlung 1929 äußerte sich Peter Raabe wieder und stellte klar: Was will der Bund? Das Wichtigste für ihn ist die Pflege des Lisztmuseums sowie die Förderung der Lisztforschung. […] Alle stehen auf dem Boden, den er vorbereitet hat, sei es Reger oder Hindemith. Das Lisztmuseum müsste zu einem Archiv des musikalischen Fortschritts ausgebaut werden. […] Diesen musikalischen Fortschritt zu schaffen, ist keine Weimarer Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit der Welt.35

Er machte deutlich, dass es darauf ankomme, möglichst bekannte Persönlichkeiten im Vorstand zu haben, da der Bund ein Weltbund sein müsse. Er nannte Conrad Ansorge, Alexander Siloti, Eugen d’Albert, Frederic Lamond, Emil Sauer, es müsse der Eindruck vermieden werden, als sei der FLB eine Weimarer Angelegenheit. Zweck müsse sein die

33 Arnold Paulsen (1864, Sömmerda – 1942, Weimar) war Innenminister unter Großherzog WilhelmErnst von Sachsen-Weimar-Eisenach, wurde wegen seine liberalen Haltung bald nach Berlin versetzt. 1919–1921 und 1927–1930 war er Thüringischer Staatsminister. 34 GSA 70/326. 35 Ebd.

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Förderung der Liszt-Forschung, des Liszt-Museums in Weimar und der Bestrebungen der Franz-Liszt-Stiftung sowie künstlerischer Veranstaltungen im Geiste Liszts.36 Ergo ging es beim neuen FLB nun nicht mehr um die Förderung im Geiste Bayreuths und der Weimarer völkischen Adepten. Peter Raabe wurde zum ersten Vorsitzenden des Bundes und Ernst Praetorius zum Stellvertreter gewählt, Vorstandsmitglieder waren außerdem Staatsminister Dr. Paulsen, Weimars Oberbürgermeister Dr. Walter Felix Mueller, der Pianist Joseph Pembauer (Wien), Siegfried Wagner (Bayreuth), Prof. Dr. Arnold Schering (Berlin), Prof. Hans Wahl (Weimar) und Richard Wetz (Erfurt, Weimar). Welches Ansehen der neue Franz-Liszt-Bund bald hatte, zeigte das Antwortschreiben Carl von Schirachs vom Mai 1929 auf die Einladung, Mitglied des Bundes zu werden: Aus grundsätzlichen Erwägungen möchte ich außer der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft nur dem ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘, zu dessen Vorstande ich gehöre, als Mitglied zugezählt werden. Die Erfahrung des Krieges- und namentlich der Nach-Kriegszeit lassen mir jede Entwicklung […] auf irgend einer anderen als rein-völkischen Grundlage als völlig aussichtslos erscheinen.37

Dieser neue Franz-Liszt-Bund sollte sich als segensreich für Ernst Praetorius erweisen. Raabe gelang es, das reiche Archiv des ADMV 1930 wieder nach Weimar zu holen. Und er stellte den von der Ziegler-Clique bekämpften Generalmusikdirektor und Hochschullehrer Ernst Praetorius als neuen, sachkundigen Bibliothekar und Archivar für die hochrangigen ADMV-Bestände vor.38 1933 trat Praetorius vom Vorstand zurück, seine Stelle nahm der Ziegler-Intimus Nobbe ein, ebenfalls kam Hans Severus Ziegler neu in den Vorstand. Damit saß Ziegler in den Vorständen aller wichtigen Weimarer Kulturvereine. Raabe wurde bald Vorsitzender des ADMV, in diesem Amt sah sich er bald veranlasst, die Selbstauflösung des ADMV durchzusetzen, er löste auch den FLB auf. Vor allem die Auflösung des ADMV war für die NS-Herrschaft wichtig, um die Tonkünstlerfeste des in ganz Europa bekannten und geachteten Vereins beerben und 1938 stattdessen die ersten „Reichsmusiktage“ installieren zu können. Danach hatte Raabe für das NS-Regime seine Schuldigkeit getan. Er wurde nach der Entlassung Richard Strauss’ aus diesem Amt 1935 Präsident der Reichsmusikkammer. Allerdings wurden die eigentlichen Entscheidungen in Sachen Musik bereits vom Abteilungsleiter Musik im Goebbels-Ministerium gefällt. Der Abteilungsleiter Musik war seit 1936 Heinz Drewes, er hatte sich vom Mitglied der Weimarer Ziegler-Clique, früherem DNT-­Repetitor und Kapellmeister für die Operette in die Schaltstellen des NS-Systems hochgedient. Die Theaterkrise 1929/30 hatte ihn, da ohne Vermögen, ins Elend gestürzt. Das trieb ihn in die Arme der NS-Adepten um Zieg36 Die Idee zu einer Franz-Liszt-Stiftung äußerte schon Großherzog Carl Alexander von SachsenWeimar-Eisenach unmittelbar nach dessen Tod 1886. Die Stiftung wurde dann ins Leben gerufen, und bis 1943 unterstützten ihre finanziellen Mittel viele Musiker und die Pflege ihrer Nachlässe. Vgl. dazu: Lucke-Kaminiarz, „Die Franz-Liszt-Stiftung“, (wie Anm. 8), S. 6–14. 37 Carl Norris v. Schirach, Generalintendant des Weimarer Hoftheaters bis 1918, Vater des Reichsjugendführers Baldur von Schirach; GSA 70/327. 38 Hochschularchiv/Thüringisches Landesmusikarchiv (im Folgenden: HSA/ThLMA), ADMV, Karteikartensammlung, dabei Karteikarten zu Neuerwerbungen von Praetorius’ Hand.

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Abb. 6: Dr. Hans Severus Ziegler (1893–1978), Foto: Hermann Eckner, LATh-HStA Weimar, Bestand Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

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Abb. 7: Dr. Ernst Nobbe (1894–1938), Generalintendant, Generalmusikdirektor, Jahresschau des DNT Weimar, 1933/34, S. 8, LATh-HStA Weimar, Bestand Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

Abb. 8: Paul Sixt (1908–1964), Musikhochschuldirektor, Generalmusikdirektor, Mitarbeiter an Zieglers Ausstellung Entartete Musik, Düsseldorf 1938, Jahresschau des DNT Weimar, 1936– 1937, S. 7, LATh-HStA Weimar, Bestand Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

ler. Ziegler hatte jeden Intimus, den er favorisierte, in Ämter und Macht gebracht, versuchsweise 1930 Dr. Ernst Nobbe39, war aber an der Unfähigkeit dieses Favoriten 1931 gescheitert, 1933 gelang es dann. Nobbe war in Stuttgart wegen des § 175 (Verdacht auf Homosexualität) entlassen worden. Hans Severus Ziegler musste 1935 aus gleichem Grund seine Ämter ruhen lassen, bis Hitler selbst das Ganze stoppte. Die Weimarer nannten Ziegler hinter vorgehaltener Hand „Hans Severus Perversus“, vor allem wegen seiner päde­ rastischen Neigungen. Später war Ziegler, ab Mitte der 1950er Jahre bis 1962, als Lehrer des Dr. Siemens-Knabengymnasiums auf Wangerooge wohl „gut aufgehoben“. Mit einem weiteren Mitglied der Weimarer NS-Clique, Paul Sixt, nunmehr GMD und Hochschuldirektor, führte Ziegler die Ausstellung Entartete Musik durch und präsentierte sie zu den 1. Reichsmusiktagen in Düsseldorf 1938.

39 Dr. Ernst Nobbe (1894–1938), war in Stuttgart wegen des § 175 entlassen worden, 1927–1932 Kapellmeister am DNT Weimar, 1932/33 in Schwerin, ab April 1933 GMD in Weimar.

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4. Der „Fall“ Dr. Ernst Praetorius Das Deutsche Nationaltheater in Weimar war Mitte der 1920er Jahre von völkisch-nationalsozialistischen Kreisen mit Erfolg und Duldung durch Teile der Landesregierung zur Stätte einer NS-Kulturidentität und zur Bühne von NS-Propagandaveranstaltungen geworden. Nun sollte es darum gehen, in Spielpläne und Konzertprogramme einzugreifen, um die völkisch-nationalsozialistische Idee durchzusetzen. Hans Severus Ziegler wurde hierbei zur entscheidenden Gestalt, da er bereits eine wichtige Rolle in der NS-Kulturpolitik spielte. Er verfolgte systematisch den bei Staatskapelle, Musikschule und Publikum so beliebten Dirigenten Dr. Ernst Pretorius, wie er das bereits bei Julius Prüwer getan hatte, und ließ ihn zum „Fall“ werden. Seine „Vorwürfe“ waren der Einsatz des Dirigenten für neue Musik – und ebenso, dass er mit einer jüdischen Ärztin verheiratet war. Das, was Ziegler initiierte, erinnert an mittelalterliche Inquisition und weist ein pathologisches Ausmaß des Hasses auf. Der DNT-Spielplan wurde eingangs dargestellt. Ziegler hatte bereits im Mai 1926 bei einer Veranstaltung der NSDAP gegen Werke jüdischer Künstler eine „ehrenamtliche staatliche Zensurstelle“ gefordert. Kurz vor dem NSDAP-Parteitag 1926 hatte er dem Intendanten des DNT eine „Theaterdenkschrift der NSDAP-Landesleitung und -Landtagsfraktion Thüringen an Generalintendant Dr. Franz Ulbrich vom 10. Juni 1926“ 40 übergeben lassen. Darin verlangt er, das Theater „in Bezug auf den Spielplan vor einer Überfremdung zu bewahren“. „Das deutschblütige Element im Solopersonal“ solle nicht zugunsten „jüdischer Elemente“ zurückgedrängt werden. „Experimente mit blutlosen Überästhetendramen der Gegenwart und mit ebenso törichten atonalen Musikwerken allerjüngster Musikanten“ sollen unterbleiben. Jüdische und nichtnationale Dramatik dürfe nicht länger aufgeführt werden, stattdessen neben thüringischen Dichtern William Shakespeare, Kleist, Friedrich Hebbel, Franz Grillparzer, Ernst von Wildenbruch und Ludwig Anzengruber. Zur Musik heißt es: Bei Opern-Uraufführungen und Oper(n)-Erstaufführungen haben künftig Werke deutschblütiger Tondichter den Vorrang vor Werken jüdischer und ausländischer Tondichter. Dasselbe gilt von den zur Aufführung gelangenden […] Sinfonien. Hier ist besonders eine betonte Pflege Mozarts, Beethovens, Schuberts, Schumanns, Brahms und Bruckners geboten.41

Liszt fehlt überhaupt. Ziegler machte von der Erfüllung dieser Forderungen die Zustimmung der NSDAP-Fraktion im Landtag zu einem Zuschuss von 67.000 RM abhängig. Der Zuschuss ging dann an das Theater. In der Spielzeit 1926/27 waren in den Aufführungsprogrammen tatsächlich keine jüdischen Autoren vertreten, stattdessen wurde ein Theaterstück von Otto Erler aufgeführt, dem Schwager Zieglers. Schon im nächstjährigen Spielplan waren Carl Sternheim und Hindemith wieder verzeichnet. Mit Praetorius und Ziegler trafen konträre Welten aufeinander. Praetorius war im Allgemeinen Deutschen Musikverein, unter Fachleuten wie auch beim Publikum wegen seiner künstlerischen Fähigkeiten, auch wegen seines Engagements für neue Tonschöpfungen hoch anerkannt. Das konnte nicht 40 LATh-HStAW, Thür. Min. f. Volksbildung, C 1296, Bl. 87–91. 41 Ebd.

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infrage gestellt werden wegen der nationalistischen Engstirnigkeit Einzelner. 1927 wurden, wie bereits erwähnt, Hindemiths Cardillac, 1928 Křeneks Jonny spielt auf und 1929 Brandts Maschinist Hopkins aufgeführt. Ziegler veröffentlichte seinen berüchtigten Artikel „Es wird Zeit abzutreten. Ein für Weimar unzulänglicher Generalmusikdirektor“ in der Zeitschrift Der Nationalsozialist vom 31. März 1928. Das war die erste große öffentliche Attacke gegen den Generalmusikdirektor. Auch persönlich versuchte Ziegler, den Dirigenten wegen seiner jüdischen Frau zu diffamieren. Intendant Franz Ulbrich, der seit vier Jahren verlässlich und erfolgreich mit Ernst Praetorius zusammenarbeitete, schrieb umgehend an das Ministerium für Volksbildung einen achtseitigen Brief, in dem er sich hinter seinen GMD stellte und die Vorwürfe entkräftete.42 Zieglers Artikel war als Anlage beigefügt. Ulbrich fragte nach den Grundlagen, die der Autor für seine Postulate habe, und stellte fest: Laienhafte Kenntnis von der inneren Organisation der hiesigen Theaterleitung, falsche Information über Theatervorgänge, Vermutungen, Meinungen, einseitige Bewertungen von Pressestimmen, die sich mit der auf falschen Voraussetzungen aufgebauten Tendenz des Artikels zufällig decken, tendenziöse Einstellungen, usw.43 Der Autor unterstellt ohne jede Berechtigung eine eigene Verantwortlichkeit des hiesigen Generalmusikdirektors für die Annahme von Werken, für Engagements und Besetzungen, obgleich dieser in solchen Dingen nur ein Vorschlagsrecht besitzt, während die Entscheidung der Theaterleitung nach Beratung mit den übrigen musikalischen Vorständen (Kapellmeister, Spielleiter) trifft. Somit trug auch der Theaterleiter und nicht der Generalmusikdirektor die Verantwortung für die Annahme des unserer Kasse bitter nötigen Jonny spielt auf […].

Seit der Leipziger Uraufführung (1927) war die Oper Jonny spielt auf sehr populär und sicherte den Theatern Einnahmen, was auch für das DNT wichtig war. Ulbrich widerlegte weitere absurde Vorwürfe Zieglers. Ziegler hatte jedoch auch Unterstützer in seiner Kampagne gegen Praetorius. Der Weimarer Lehrer und Kritiker Dr. Otto Reuter veröffentlichte einschlägige Berichte sowohl in der Berliner NS-Propagandazeitschrift Signale als auch in der Ortspresse. Ulbrich sah sich veranlasst, bereits im Juni 1928 wiederum in einer mehrseitigen Äußerung zur Hetze gegen Praetorius Stellung zu nehmen.44 Konterkariert wurde das noch durch die Intrigen, die von den NS-Betriebszellen in Theater und Musikschule ausgingen. Da aber diese NS-Anhänger weder als Künstler noch als Persönlichkeiten hoch im Ansehen der Belegschaften standen, fanden sie nur wenig Resonanz und ihre Machenschaften blieben zunächst folgenlos. Das beruhte auf Praetorius’ überragendem Künstlertum, seiner Menschlichkeit, Großzügigkeit und seinem Humor. Die angesehensten Orchestermusiker, die Studenten und das Publikum standen hinter ihm. Trotzt allem sollte sich seine Situation bald wieder verschlechtern. Die Landtagswahlen am 8. Dezember 1929 hatten dazu geführt, dass in Thüringen die erste NS-Regierung in einen deutschen Landtag einziehen konnte. Wie das in NS-Kreisen gefeiert wurde, zeigen selbst die Gästebücher des unter deutschen und europäischen Künstlern bekannten „Wei42 LA-ThHStAW, GI, 211, Bl. 72–75. 43 Ebd., Bl. 58. 44 Ebd., Bl. 72–74.

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marer Künstlervereins“. Dort steht unter dem 11. Januar 1930: „Am Tag der Einführung Dr. Frick in das Thüringer Ministerium. Einladender: Dr. Hans Severus Ziegler. Gäste: Adolf Hitler, Rudolf Heß.“45 Ziegler wurde Fricks „Fachreferent für Kunst und Theater“. Nun konnte er durchsetzen, was er bereits 1926 angekündigt hatte. Per Erlass vom 5. April 1930, „Wider die Negerkultur für deutsche Volkstum“46, konnte Ziegler nun gegen die „Verseuchung deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur“, auch mithilfe der Gewerbeordnung und mit polizeilichen Mitteln, vorgehen. Gemeinsam mit dem Architekten und Maler Paul Schultze-Naumburg47 nahm Ziegler im Oktober 1930 eine Säuberungsaktion in den Weimarer Kunstsammlungen vor.48 Am 23. Dezember 1930 schrieb Ziegler an den zuständigen Ministerialrat im Ministerium, Praetorius dürfe die Weimarer Bühne nicht länger musikalisch leiten, er stehe dem „wesenhaft Deutschen“ und „Religiös-Mystischen“ kalt gegenüber und mute dem Publikum „Negermusik“ zu49. Er schlug seinen Intimus, den bislang als 1. Kapellmeister tätigen Dr. Ernst Nobbe, als Praetorius-Nachfolger vor, der 2. Kapellmeister Karl Fischer und Solorepetitor Paul Sixt sollten ihm zur Seite stehen. Am 30. Dezember 1930 beauftragte das Thüringische Volksbildungsministerium unter Fricks Leitung den Intendanten Dr. Franz Ulbrich, Praetorius’ Vertrag nicht zu verlängern und die GMD-Stelle einzusparen. Schon einen Tag später (sic!) versammelte sich der Theaterbeirat des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Es wurde im Protokoll50 festgestellt, dass finanzielle Gründe nicht ausschlaggebend sein könnten, und es wurde bezweifelt, dass Nobbe für die vorgesehene Position geeignet sei. Alle Mitglieder des Beirates, außer Ziegler, sprachen sich für die Abb. 9: Ernst Praetorius, Foto mit Verlängerung des Vertrages mit Dr. Ernst Praetorius aus. Widmung an Adolf Hertel, ApoMitglieder des Beirates waren Oberbürgermeister Walther theker, Sänger und Sprecher des Felix Mueller, Prof. Dr. Werner Deetjen (Direktor der Lan- „Neuen Chores“ Weimar, später Privatschüler von E. Praetorius, desbibliothek), Prof. Dr. Max Hecker (Archivar am Goe- Berlin 1934, LATh-HStA Weimar, the- und Schiller-Archiv), Prof. Dr. Hans Wahl (Direk- Bestand: Generalintendanz des tor des GNM), Generalintendant Dr. Franz Ulbrich und Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar. Dr. Hans Severus Ziegler. 45 LA-ThHStAW, Alte Bestände, Historische Schriften und Drucke, F1913, Gästebücher 1–2. 46 Vgl.: Quellen zur Geschichte Thüringens, Bd. 3, hrsg. von Jürgen John, Erfurt 1996, S. 140 f. 47 Schultze-Naumburg zeigte seit dem Ersten Weltkrieg eine völkisch-rassistische Haltung, radikalisierte sich in den 1920er Jahren als NS-Adept, im April 1930 wurde er Leiter der Weimarer Hochschule, im November Direktor der vereinigten Lehranstalten für Baukunst, bildende Kunst und Handwerk. 48 Vgl. Bernhard Post, „Weimar – ‚Das kulturelle Herz Deutschlands‘ und die Schicksale von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé“, in diesem Band, S. xxx. 49 LA-ThHStAW, GI Nr. 211, Bl. 212. 50 LA-ThHStAW, GI Nr. 211, Bl. 228.

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Adolf Hertel, Weimarer Apotheker und Mitglied des „Neuen gemischten Chores“, den Praetorius zur Aufführung der großen Chorwerke gegründet hatte, schrieb am 6. Januar 1930 an das Ministerium für Volksbildung: Die Chormitglieder haben mit größtem Befremden aus den Tageszeitungen gelesen, daß man den Vertrag mit Herrn Dr. Praetorius nicht wieder erneuern werde. Der Chor ist sich der großen Bedeutung dieses hervorragenden Künstlers bewußt und sieht in dessen Verabschiedung die größte Gefahr für Weimars Musikleben. Auf Grund seiner bisherigen Leistungen erhebt der ‚Neue gemischte Chor‘ Anspruch darauf, in solch wichtiger Angelegenheit gehört zu werden.51

Aus ganz Deutschland kamen Meinungsäußerungen von Dirigenten, die sich hinter Praetorius stellten. Der wohl bedeutendste Beitrag ist der Peter Raabes. Er schrieb am 14. Januar 1931 aus Aachen „an die Schriftleitung der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung ‚Deutschland‘“: Der ‚causa finita‘ überschriebene Aufsatz des Herrn Dr. Reuter […] erweckt den Anschein, als ob die aufsehenerregende Entlassung des Herrn Dr. Praetorius eine künstlich aufgebauschte Angelegenheit sei […]. Nicht nur meine innerliche Verbundenheit mit Weimar, sondern auch die Tatsache, dass ich 13 Jahre hindurch den umstrittenen Posten bekleidet habe, gibt mir aber wohl das Recht, […] meine Auffassung der Öffentlichkeit zu unterbreiten. […] Es kommt aber hier nicht darauf an, ob Herr Reuter mit Herrn Praetorius zufrieden war, sondern wie dessen Tätigkeit von erfahrenen Sachkennern beurteilt werden muss. […] Ich bin alljährlich zu wiederholten Malen während der gesamten Amtsdauer des Herrn Praetorius im Weimarer Theater gewesen und habe im Gegenteil festgestellt, dass Herr Dr. Praetorius sich immer mehr in die besondere Aufgabe dieser ganz einzigartigen Weimarer Stellung hineingefunden hat […] Wenn aber nur künstlerische Gründe massegebend sind, muss der Fall auch dem Urteil der künstlerischen Sachverständigen unterbreitet werden. […] Auswärtige Zeitungen berichten, dass ein musikalischer Laie in diesem Falle als Fachberater in Tätigkeit getreten sei. Das ist bei der Wichtigkeit und dem Ernst der Lage wohl eine falsche Meldung […] wenn nicht das Ansehen aller, denen in Thüringen die wirklich heilige Aufgabe der Kunstbetreuung zufällt, als erschüttert, nein als vernichtet angesehen werden soll.52

Raabes Brief sollte veröffentlicht werden – was nicht geschah, er befindet sich in den Akten des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung und der Generalintendanz des DNT. In der Presse wurde stattdessen mitgeteilt, dass Praetorius gehen müsse und seine Aufgaben Dr. Nobbe übernehme. Am 15. Januar 1930 trat Oberbürgermeister Mueller nochmals an den Ministerialrat heran, mit der Forderung, Praetorius im Amt zu belassen, Nobbe sei den Anforderungen nicht gewachsen. Am gleichen Tag äußerte sich auch Ernst Praetorius in der Presse. Er erinnerte in seinem Artikel „Kapellmeister und Kritiker. Zu den Erörterungen

51 LA-ThHStAW, Volksbildung, Bl. 111. 52 LATh-HStAW, Volkbildung, C 38, Bl. 107–108.

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um die Generaldirektorenfrage“53 an die eindeutig politische Hetze gegen ihn seit 1928 und wehrte sich dagegen, für das niedrige Niveau des Opernspielplanes verantwortlich zu sein, denn die wirtschaftliche Not schränkt die künstlerischen Möglichkeiten auch im Konzertleben ein. So wurde Bergs Wozzek gegen das Dreimädelhaus ausgetauscht, das mehr Geld bringe. […] Ich habe zweifellos den Fehler gemacht, in den ersten Jahren zu viel neue Musik gebracht zu haben. Das hat ein Teil der Konzertbesucher übelgenommen. Ich habe aber den Fehler eingesehen und bin von 1927 an wesentlich konservativer geworden.54

Der Theaterbeirat des DNT reichte beim Land Thüringen Klage ein wegen der Entlassung Ernst Praetorius’ und dreier jüdischer Künstler. Praetorius seinerseits klagte im März 1930 vor dem Schiedsgericht des Deutschen Bühnenvereins in Berlin, was dann zu einer Vertragsverlängerung bis zum 31. August 1933 führte. Die Vertragsverlängerung um zwei Jahre war wohl auch deshalb möglich, weil sich wiederum durch Wahlen politische Gegebenheiten verändert hatten. Die NSDAP schied zum 1. April 1931 aus der Regierung aus, und Ziegler wurde als Referent für das DNT entlassen. Der Wahlsieg der NSDAP am Jahresende 1932 führte dann 1933 zur ungehemmten Entfaltungsmöglichkeit für Hans Severus Ziegler und seine Clique. Alle Missliebigen wurden entlassen, das betraf zunächst alle jüdischen Künstler, wie Hans Bassermann, Gustav Lewin und andere. Aber auch der 1. Konzertmeister Robert Reitz55, der nicht Jude war, wurde aus dem Orchester entlassen. Er gehörte wie der Pianist und Musikhochschuldirektor Bruno Hinze-Reinhold und der Cellist Walter Schulz zum „Weimarer Trio“ und zu den angesehensten Musikern in Thüringen. Reitz wurde unter dem Druck der Verhältnisse schließlich NSDAP-Mitglied. Er teilte in einem Fragebogen der amerikanischen Militäradministration 1945 mit: In einer Geheimsitzung im Ministerium, wurde ich als künstlerischer Beirat der Staatskapelle gefragt, ob ich Dr. Nobbe für fähig halte, den Posten des Generalmusikdirektors auszufüllen. Nach meiner künstlerischen Ueberzeugung antwortete ich mit: Nein. – Dr. Nobbe bekam natürlich die Stellung doch, und da ihm von Dr. Ziegler, der an der Geheimsitzung teilgenommen hatte, meine Aussage mitgeteilt wurde, erklärte Dr. Nobbe, dass er mit mir zusammen nicht arbeiten könne.56

Robert Reitz erhielt schließlich die 1. Geigenlehrerstelle an der Musikhochschule, nach 25-jähriger Mitgliedschaft in der Weimarischen Staatskapelle. Ähnliches traf auch andere Orchestermusiker und Persönlichkeiten, die ihre Sympathie für Praetorius in irgendeiner 53 Allgemeine Thüringische Landeszeitung, 83. Jg., Nr. 15 (15.01.1931). 54 Ebd. 55 Robert Reitz (1884 Burgdorf – 1951 Zürich), Violinist, 1909–1930 Konzertmeister in Weimar, 1909–1935 Leiter einer Violinklasse an der Musikschule, 1919 Professur, hinzu kamen zahlreiche Privatschüler, darunter zeitweilig Marlene Dietrich. Reitz trat auch als Interpret und Herausgeber älterer Musik an die Öffentlichkeit. 1942–1945 in der Schweiz, 1945–1951 Konzertmeister am Sender Beromünster. 56 Vgl. Huschke, Zukunft Musik, (wie Anm. 18), S. 217.

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Form gezeigt hatten. So wurde der Sohn des Apothekers und Chorsängers Adolf Hertel, der Cellist Günther Hertel, mit undurchsichtigen Begründungen entlassen.57 Elisabeth Förster-Nietzsche schenkte Günther Hertel als Zeichen ihrer Anteilnahme im September 1933 das Buch Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft, wie das sein Dankesbrief an sie zeigt58. Auch für weitere Praetorius-Mitverfolgte zeigte sie Anteilnahme oder setzte sie sich ein. Das betraf u. a. Bernhard Vollmer, den Intendanten des Theaters Altenburg, der fristlos entlassen wurde, weil er sich für Praetorius geäußert hatte. Die Verbindung zwischen Ernst Praetorius und Elisabeth Förster-Nietzsche war zustande gekommen durch die musikalischen Veranstaltungen im Nietzsche-Archiv, an denen er und seine Künstler beteiligt waren, und durch die Zusammenarbeit zur Rettung der Bayreuther Festspiele in Weimar durch den Franz-Liszt-Bund, beide waren Vorstandsmitglieder. Das führte auch zu privaten Kontakten zu Ernst Praetorius und seiner Frau Käte, wie in sieben Briefen von ihm (1930–1935) sowie 26 Briefen (1926–1935) von ihr an Elisabeth FörsterNietzsche deutlich wird. Sie war nach wie vor eine Instanz in Weimar, und sie hatte, wie zur Jahrhundertwende, Kontakt mit beiden Seiten. So setzte sie sich bei Würdenträgern des NS-Regimes für Ernst Praetorius ein, wie z. B. bei Kultusminister Rust. Käte Praetorius schrieb im Sommer 1933 aus Berlin an Elisabeth Förster-Nietzsche über Vollmer: Wir waren niemals befreundet, aber die Ungerechtigkeit in der Behandlung meines Mannes und der erbarmungslose Hass, mit dem Dr. Ziegler und Dr. Nobbe ihn verfolgten, hat Herrn Vollmer veranlasst, sich für ihn einzusetzen. Die oben erwähnten Herren erhielten davon Kenntnis und haben den Minister bewogen, Herrn Vollmer fristlos zu entlassen. […] Nun habe ich gedacht, ich wende mich an Sie und bitte Sie, Herrn Vollmer zu empfangen und eventuell behilflich zu sein. […] Vor allem sind wir erschüttert über den Hass, den Herr Vollmer wie uns verfolgt. […] Ob das wirklich im Geiste des Führers ist, muss ich doch stark bezweifeln.59

Dr. Ernst Praetorius hatte um Beurlaubung bis zum Vertragsende, dem 31. August 1933, gebeten. Er verließ Weimar im Frühjahr 1933 und kam nach Berlin, um dort ein neues festes Engagement zu suchen. Bruno Hinze-Reinhold hatte sich ebenfalls von seinem Amt im April 1933 beurlauben lassen und wollte in Berlin an seine Karriere als Konzertpianist anknüpfen, den Umzug bewerkstelligte Ernst Praetorius mit seinem Auto. Dr. Franz Ulbrich war im Februar 1933 von Göring ans Berliner Schauspielhaus berufen worden. Leider hat die Übersiedlung der Familie nach Berlin Praetorius’ finanzielle Lage nicht verbessert. Ein festes Einkommen fand er nicht mehr. Er bekam von Zeit zu Zeit einzelne Dirigate bei kleineren Theatern und Rundfunksendern, teils mit Hinze-Reinhold. Um den Unterhalt seiner Familie bestreiten zu können, fuhr er täglich von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends Taxi. Er unterrichtete zwischendurch Schüler, darunter auch die aus Weimar. Im Frühjahr 1934 schilderte Käte Praetorius Elisabeth Förster-Nietzsche ihre Situation:

57 LATh-HStAW, GI, 1928, Bl. 9. 58 GSA 72/BW 2233. 59 GSA 72/BW 4239.

Der Fall Dr. Ernst Praetorius

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Es ist unsere große Not, die uns dazu veranlasst, vor allem mich bewegt, weil ich Tag für Tag mitansehen muss, wie mein guter, sonst so optimistischer Mann nervöser und verzweifelter wird, kaum noch Schlaf findet und immer vom Öffnen des Gashahns spricht. Es ist wirklich eine bittere, bittere Not. 60

Elisabeth Förster-Nietzsche schrieb in Praetorius’ Angelegenheit wiederum nach Berlin. Im Oktober 1934 fuhr er zu der alten Dame zu Besuch nach Weimar, danach schrieb er ihr: Ich bin von Weimar sehr befriedigt nach Berlin heimgekehrt; die wirkliche Herzlichkeit, mit der man mir überall begegnet ist, hat mir sehr, sehr wohl getan, und ich habe wieder neue Spannkraft gesammelt, um meinem Chauffeurberuf nachzugehen.61

In Ernst Praetorius’ Weimarer Personalakte, in der sich Aufzeichnungen befinden, in denen er Einnahmen und Ausgaben akribisch auflistete, ist nachzulesen, in welcher Notlage er sich zunehmend mit seiner großen Familie befand. Er schrieb mehrfach an Staatskommissar Hans Hinkel, darunter im Juni 1933: „Ich stehe also in kurzer Zeit mit meiner achtköpfigen Familie vor dem Verhungern oder vor dem Gasschlauch.“62 Am 19. Oktober 1933 folgte ein weiterer Hilferuf an Hans Hinkel, mit der Bitte, seinen Brief an den „Reichskanzler Adolf Hitler“ auf direktem Wege weiterzuleiten. Der Brief an Hitler lautet: [o. D., 22. September 1933] Dr. Ernst Praetorius / Generalmusikdirektor Weimar/z. Z. Berlin-Wilmersdorf / Prinzregentenstr.93, Hochzuverehrender Herr Reichskanzler. Die äußerste Notlage zwingt mich, […] Ihre kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen. Nur weil ich Ihren kunstliebenden Sinn und ihr hohes Interesse an der Kunst kenne, wage ich es, mein Schicksal in Ihre Hände zu legen. Ich war seit 1924 Generalmusikdirektor in Weimar und habe des öfteren die Ehre gehabt, vor Ihnen, Herr Kanzler, musizieren zu dürfen und zu meiner Freude gehört, dass Ihr Urteil über die von mir geleiteten Vorstellungen stets günstig war. Am 12. Februar dieses Jahres hatte ich die ganz besonderes ehrende Genugtuung, vor Ihnen, Herr Kanzler, und der Reichsregierung die Festaufführung des Tristan zu Wagners 50. Todestag zu leiten; nach der Vorstellung wurde ich Ihnen vorgestellt und von Ihnen durch Handschlag ausgezeichnet. Am 20. Januar war mir indessen schon mitgeteilt worden, dass mein Vertrag nicht verlängert werden würde, da man Vertrauensmänner des Herrn Kanzlers, wie Dr. Ziegler und Dr. Nobbe, an das Theater berufen wollte; seit dieser Zeit versuche ich vergebens, eine andere Stelle, die meinen Fähigkeiten 60 GSA 72/BW 4239. 61 GSA 72/BW 4238. 62 Bundesarchiv Berlin, zit. n. Cornelia Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1985, S. 238. Hans Hinkel (1901, Worms – 1960, Göttingen), Journalist, Ministerialbeamter und SS-Brigadeführer. Teilnehmer am Hitler-Putsch 1923, Teileigner des Berliner „Kampfverlages“, 1933 Reichskulturkammer, 1935 im Goebbels-Ministerium zuständig für „Kulturpersonalien“, 1942 Leitung der Filmabteilung, 1944 Reichsfilmintendant, 1945 interniert, 1947 wegen seiner Verwicklung in den Raub polnischer Kulturgüter an Polen überstellt, 1953 Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland.

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entspricht, zu finden, ja ich bemühe mich vergebens, auch nur etwas zu verdienen, um meine Familie und mich vor äußerster Not zu bewahren. Ich weiss, dass das nicht Ihr Wille sein kann, Herr Kanzler, ich weiss, was Ihnen die Kunst, was Ihnen der Künstler bedeutet. Ich bin rein deutsch, die Meister, die mir am nächsten stehen, sind Wagner und Bruckner, wovon meine Weimarer Tätigkeit Zeugnis ablegt. […] Seit März [dieses Jahres] nun bemühe ich mich immer und immer wieder um eine entsprechende Stellung oder auch um eine gelegentliche Tätigkeit, aber ich laufe wie gegen Mauern und es gelingt mir nichts. Für meine künstlerischen Fähigkeiten, die Sie, Herr Kanzler, ja selbst kennen, sagen meine Freunde Paul Graener und Georg Vollorthun gut; für meine menschlichen Qualitäten bürgt Frau Förster-Nietzsche, die sich überall, wo sie nur konnte für mich eingesetzt hat. Aber auch sie, die hochverehrte alte Freundin kann nichts erreichen und überall schliesst sich eine Wand. […] Deshalb, hochverehrter Herr Reichskanzler, dieser Brief an Sie. Haben Sie die Güte sich der Vorstellungen zu erinnern, die Sie von mir hörten: den fliegenden Holländer, Wildschütz, Barbier von Bagdad, im Januar dieses Jahres Tiefland und am 12. Februar den Tristan, […] ich bin mit Leib und Seele Musiker und Künstler, habe nie etwas anderes ausser meiner Kunst und besonders meinen beiden Meistern Wagner und Bruckner gekannt, bin niemals politisch tätig oder parteipolitisch gebunden gewesen. […] Herr Reichkanzler, an dessen Gerechtigkeit ich mich mit unbedingtem Vertrauen wende. […] gez. Praetorius63

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda antwortete „auf das an den Herrn Reichskanzler gerichtete Schreiben vom 22. September 1933“ im Dezember 1933.64 Darin wurde Praetorius empfohlen, sich direkt mit Berliner Staatsoper und Städtischem Theater in Verbindung zu setzen und sich um Gastspiele zu bemühen. Eine feste Stelle war damit nicht gemeint. Am 10. Februar 1935 schreibt Ernst Praetorius an Adolf Leitgen, den Adjutanten des Hitler-Stellvertreters65, u. a.: Ich wende mich auf Veranlassung des Herrn Staatskommissar Hinkel an Sie […]. Durch die Machenschaften des Herrn Dr. Ziegler in Weimar, der jetzt von allen Aemtern beurlaubt worden ist, bin ich von Weimar entfernt worden und sitze nun beinahe zwei Jahre stellungslos in Berlin […], [und] heute, nach 25jähriger künstlerischer Tätigkeit an den ersten Theatern Deutschlands mich und meine Familie durch Chauffieren zu ernähren versuche. […] indem ich Ihnen schon im Voraus meinen herzlichsten Dank ausspreche, empfehle ich mich Ihnen ergebenst. Heil Hitler! Pr.66

63 Vgl. Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei, (wie Anm. 62), S. 234 f. 64 GSA 72/BW 4239. 65 Alfred Leitgen (1902, Rixdorf – 1977 od. 1988 Purcha, Starnberger See), Journalist, 1933–1941 mithilfe Martin Bormanns Pressereferent von Rudolf Heß, nach Heß’ Flucht nach England von Bormann aus der NSDAP ausgeschlossen, KZ Sachsenhausen, 1944 Bewährungsbatallion der Waffen-SS, 1948 Internierungshaft, zu den Nürnberger Prozessen als Zeuge. 66 Vgl. Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei, (wie Anm. 62), S. 246.

Der Fall Dr. Ernst Praetorius

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5. Dirigent und Lehrer in Ankara Paul Hindemith, selbst verfemt, erhielt im Frühjahr 1935 den Auftrag, den Aufbau europäischen Musiklebens in der Türkei nach den Vorgaben Mustafa Kemal Atatürks mithilfe deutscher Musiker zu gestalten. Auch der Ausbau Ankaras als neue Hauptstadt war eine Aufgabe, an der alle mitzuwirken hatten. Die glänzende Aura Istanbuls, gegründet als Byzantion, weltbekannt als Konstantinopel und Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, galt es zu überwinden. Der Erste, den Hindemith in diese Aufgaben einband, war Dr. Ernst Praetorius, mit dem er seit Jahren befreundet war. Hindemith wies die deutsche Regierung wiederholt darauf hin, dass es darum gehe, das Musikleben in der Türkei nach deutschem Vorbild aufzubauen – und das im Wettbewerb mit der Sowjetunion und den vielen, gut ausgebildeten sowjetischen Musikern, ebenso stand man in Konkurrenz mit Frankreich. Hindemith betonte, dass gerade Praetorius für die Umsetzung dieser Aufgabe der richtige Kandidat war. Praetorius’ Antrittskonzert fand am 10. November 1935 in Ankara statt, die führenden türkischen Minister sowie die Vertreter der deutschen Botschaft waren anwesend, auf dem Programm standen Werke von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms. Sein Erfolg war riesig, was sich auf seine weitere Tätigkeit in der Türkei positiv auswirkte. Er wirkte nun als Lehrer, er unterrichtete die Dirigentenklasse sowie Fagott, und er war der Generalmusikdirektor. Er komponierte auch, seine handschriftlichen Kompositionen befinden sich im Konservatorium zu Ankara, ebenso seine umfangreichen Noteneditionen. Dass er die türkische Sprache beherrschte, erleichterte seine Arbeit und öffnete ihm viele Türen, er hatte sie binnen kürzester Zeit kurz vor seiner Abreise aus Deutschland gelernt. Praetorius sorgte im Konzertleben Ankaras immer wieder für Höhepunkte, so leitete er die Gastkonzerte am 25. November 194367 mit Wilhelm Kempf und am 9. Februar 194468 mit Walter Gieseking. Praetorius’ Konzerte waren außerordentlich beliebt und mussten mehrfach wiederholt werden. Unter den Gästen befanden sich die ranghöchsten Mitglieder der türkischen Gesellschaft. Welch hohen Ansehens er sich in Ankara erfreute, zeigt auch die Tatsache, dass er 1936 nicht nur seine Frau, sondern später auch seine Schwiegermutter nach Ankara holen konnte. An Hans Hinkel schrieb er im Januar 1936: Sie wissen, dass ich […] allen Ihren Anordnungen widerspruchlos gefolgt bin. So habe ich auch den schwersten Schritt meines Lebens getan und mich am 2. Mai 35 von meiner Frau scheiden lassen, um endlich wieder in meinem Beruf tätig sein zu können. […] Ich muss einen Dispens bekommen, der es uns ermöglicht, wieder zusammen zu leben oder zu heiraten, oder meine Frau muss auf dem 67 Archiv des Sinfonieorchesters Ankara: Georg Friedrich Händel, Concerto grosso op. 6, Nr. 11 c-moll; J. S. Bach, Klavierkonzert f-moll BWV 1056; L. v. Beethoven, Klavierkonzert Nr. 1 op. 15; nach: ebd., S. 353. 68 Archiv des Sinfonieorchesters Ankara: Robert Schumann, Klavierkonzert op. 54; L. v. Beethoven, letztes Klavierkonzert Nr. 5 op. 73; nach: Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei, (wie Anm. 62), S. 354.

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Gnadenwege für arisch erklärt werden. Ich bin heute 55, meine Frau 45 Jahre alt, Kinder sind nicht vorhanden. […] Sollte es nicht möglich sein, […] zwei Menschen, denen man ausser ihrer tiefen Zuneigung für einander nichts vorwerfen kann, die Möglichkeit eines friedlichen Lebensabends zu verschaffen, der es ihnen gestattet, die hohe kulturelle Mission im Auslande zu erfüllen […].69

Schließich durfte sich nicht nur seine Frau, sondern später auch seine Schwiegermutter in Ankara ansiedeln. Zur Kriegszeit wurden viele Deutsche in der Türkei interniert, Praetorius hingegen blieb in Ankara und konnte als Generalmusikdirektor und Hochschullehrer seiner Arbeit nachgehen. Ernst Praetorius fand in der neuen türkischen Hauptstadt viele Anhänger, auch unter Deutschen. Als die NSDAP 1941 beantragte, ihm die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ihn an Deutschland auszuliefern, da er mit einer jüdischen Frau zusammenlebe und Präsident des „Vereins zur Unterstützung jüdischer Emigranten“ sei, wies der deutsche Botschafter in Ankara, von Keller, darauf hin, dass das reichlich viel Aufsehen geben werde. Man nahm Abstand davon. Eigentlich wollte Ernst Praetorius nach Deutschland zurückkehren. Dies gelang ihm nicht mehr. 1946 musste er sich, wie bereits 1936, der Operation nach einem Darmverschluss unterziehen. Nach wenigen Tagen schweren Leidens verstarb er am 27. März 1946 in Ankara. Hunderte Bürger der Stadt begleiteten Ernst Praetorius zur letzten Ruhe. Käte Praetorius schrieb an das Ehepaar Hindemith: „Betrauert von der ganzen Stadt, zu Grabe getragen von hunderten von Menschen, die ihn alle so geschätzt und geliebt haben.“70 Im Antwortschreiben auf Telegramm und Brief der Hindemiths schrieb sie: Er war „beliebt und bekannt bei hoch und niedrig und mehr noch durch den Charme seiner Person wie durch sein Können und Wissen“.71 Bruno Hinze-Reinhold, der nach dem Krieg wieder in Weimar lebte, hatte die Adresse von Käte Praetorius in Ankara 1949 über große Umwege erhalten, er kondolierte und erkundigte sich sowohl nach Praetorius’ Kindern als auch nach ihren Söhnen. Er schrieb unter dem Datum 1. Februar 1929 (gemeint war: 1949): Wie oft muss ich […] an die Zeit der Zusammenarbeit mit Ihrem lieben, nicht immer ganz leicht zu nehmenden Mann denken und an unsere freundschaftlichen Beziehungen, die sich in der Notzeit in Berlin verstärkten, auch an unser, von meiner Seite etwas hilfloses Skatspielen.72

69 Vgl. ebd., S. 243–245. 70 Archiv des Instituts Paul Hindemith, Frankfurt a. M. Der Briefwechsel von Paul Hindemith und seiner Frau Gertrud mit Ernst und Käte Praetorius ist hochinteressant und zeigt viele Facetten des Lebens und Wirkens in Ankara. Zit. n. Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei, (wie Anm. 62), S. 365. 71 Ebd., S. 366. 72 HSA/ThLMA, NL Bruno Hinze-Reinhold.

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Nicht mal EMIGRANT war er! Pfui, Teufel! Und dann nur Halb- u. nicht mal gesessen. Der Komponist Günter Raphael in der NS-Zeit

1 Einleitung Günther Raphael ist eines der besten Talente der jüngeren deutschen Generation, ein Musiker, der eine ungewöhnliche Beweglichkeit der Phantasie und ein grosses wirkliches Können besitzt. Wir haben zweifellos noch viel Gutes von ihm zu erwarten.1 Dr. Wilhelm Furtwängler, 25. Februar 1936

Günter Raphaels (Tafel 1) Weg als aufstrebender Musiker fand sein Ende in der NS-Zeit. Grund waren nicht seine Kompositionen. Diese wurden in einer Konzertkritik von März 1933 sogar als „echte, gesunde, kerndeutsche Musik“2 bezeichnet. Die Ausgrenzung und schließlich das Berufsverbot erfolgten allein wegen der „nichtarischen“ Abstammung des Komponisten.3 Raphael hat sich nach Kriegsende über die „stumme Periode“ kaum öffentlich geäußert. Seine Bemerkung über sich selbst „Nicht mal EMIGRANT war er! Pfui, Teufel! Und dann nur Halb- u. nicht mal gesessen“4 weist auf seinen Zwiespalt hin. Er blieb in der NS-Zeit in Deutschland, die ersten Jahre konnte er noch konzertieren, seine Werke wurden – wenn auch im geringeren Umfang als früher – aufgeführt, und es gab Rundfunkausstrahlungen. Anders als die verfolgten Juden wurde er nicht deportiert. Schließlich trat er nicht politisch gegen die Diktatur in Erscheinung, gehörte nicht zur Widerstandsbewegung und kam nicht in Haft. Vielmehr musste er Kompromisse eingehen, spielte auch mal das Horst-WesselLied, unterzeichnete teilweise mit „Heil Hitler“ und machte geltend, sich „stets im absolut nationalen Sinne betätigt“5 zu haben. Raphael äußerte, es sei hinsichtlich der inneren und der äußeren Emigration kaum zu sagen, was schlimmer gewesen sei. Dabei führte er einen heute aktuell debattierten Fall an: 1 Raphael-Nachlass, Christine Raphael Stiftung (im Folgenden: Raphael-NL). Falsche Schreibweisen von Günter Raphaels Vornamen bleiben in Zitaten beibehalten. 2 Meininger Tageblatt, 20.03.1933. 3 Raphaels Großeltern väterlicherseits, Julie Cohn (27.09.1835–25.04.1914) und Abraham Rudolf Raphael (22.01.1823–22.02.1875), waren Juden. 4 Raphael an Böttner, 02.04.1946. Bernhard Böttner überließ dem Verf. freundlicherweise Kopien von allen an ihn gerichteten Briefen Raphaels. 5 Gesuch Günter Raphaels an den Präsidenten der RMK Joseph Goebbels, 02.09.1935, Raphael-NL.

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Entweder verdammt dazu zu sein, im Lande zu bleiben: das Schicksal Emil Nolde’s, vor dessen Atelier in Berlin oder in Seebüll an der dänischen Grenze SS-Männer wachten, um sich davon zu überzeugen, ob der Maler auch wirklich das über ihn verhängte Malverbot befolgte, Pinsel und Palette eines ‚Entarteten‘ hatten trocken zu sein und zu bleiben. Dies hat mir Nolde 1939 selbst erzählt.6

Der Raphael-Biograf Thomas Schinköth meinte, Raphael habe zu gut gewusst, dass sein Entwicklungsweg „Kompromisse einschloss, die der Frage würdig waren.“7 Angesichts der Möglichkeiten, die Raphael zumindest eine Zeit lang noch verblieben waren, und von Rundfunkübertragungen bis wenigstens 1942 hielt Schinköth den Hinweis für veranlasst, dass „jegliche Verklärung der Lage“ unangemessen sei.8 Raphael sei dem Tod mehrmals nahe gewesen, „nicht zuletzt durch drohende Deportationen“.9 Und möglicherweise habe es bei einer medizinischen Behandlung den Versuch gegeben, ihn zu ermorden. Raphael sei „ein Opfer des NS-Staates, daran bleibt nichts zu rütteln.“10 Raphael selbst gab in Briefen an, zwei bzw. drei Mal vor der Verschleppung durch die SS bzw. die Gestapo gestanden zu haben. Timothy Jackson, der sich im Zusammenhang mit dem Komponisten Jean Sibelius mit Raphael befasste, erhob dagegen den Vorwurf, Raphael habe in seinen Briefen nicht das geringste Interesse für andere allein aus Rassegründen Entlassene gezeigt. Raphael habe versucht, sich so gut wie möglich in das NS-System einzupassen und die „großen Räder“ wie Sibelius dazu zu bringen, ihm aus seinem Dilemma zu helfen.11 Vorliegend soll – auch unter Berücksichtigung bislang nicht in der Raphael-Literatur ausgewerteter Quellen – versucht werden, bisherige Feststellungen zu hinterfragen und Missverständnisse aufzuklären. Als Autoren, die sich neben Schinköth12 besonders mit Raphaels Leben und Wirken in der NS-Zeit befasst haben, sind Dieter Hoßfeld13 und Maren Goltz14 zu nennen. Günter   6 Günter Raphael, Musik aus erster Hand, Typoskript, ca. 1957, S. 11, Raphael-NL.   7 Thomas Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen. Günter Raphael im NS-Staat, Neumünster 2 2010, S. 9.   8 Ebd., S. 125 u. 137.   9 Ebd., S. 125. 10 Ebd., S. 137. 11 Timothy Jackson, „Sibelius the Political“, in: Sibelius in the Old and New World. Aspects of His Music, Its Interpretation, and Reception, hrsg. von dems., Veijo Murtomäki, Colin Davis und Timo Virtanen, Frankfurt a. M. 2010, S. 69–123, hier S. 107 („His sole purpose is to fit into the Nazi system as best as he can, and to get the ‚big wheels‘ like Sibelius to help him out of his predicament.“). 12 Zu Schinköths Buch siehe Besprechung vom Verfasser, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, Kloster Veßra 2011, S. 360–362. 13 Dieter Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960). Leben und Werk eines humanistischen Künstlers und Hochschulpädagogen, Dissertation, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1982. 14 Maren Goltz, „‚Jung, ideenreich, gesund und zu jedem Spass aufgelegt‘ – Günter Raphael am Beginn seiner Laufbahn in Berlin und sein Wirken in Leipzig“, in: Erkundungen zu Günter Raphael – Mensch und Komponist, hrsg. von Matthias Herrmann, Altenburg 2010, S. 18–27; Matthias Herrmann, „Günter Raphaels Leben und Wirken in Meiningen“, in: ebd., S. 28–45; ders., Musikstudium in der Diktatur. Das Landeskonservatorium der Musik/die Staatliche Hochschule für Musik Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Stuttgart 2013, dort insbesondere S. 81–92; ders., „Ottomar

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Raphael war auch Gegenstand von Tagungen.15 Anlässlich seines 50. Todestags wurde in Meiningen eine Ausstellung über sein Schicksal in der NS-Zeit gezeigt.16 Erstaunlich erscheint die Berücksichtigung Raphaels in Werken/Veranstaltungen mit Titeln wie Jüdische Musiker in Leipzig,17 Musik des osteuropäischen Judentums, Juden in Südthüringen,18 „Juden in Thüringen 1933–1945“19 oder das Erscheinen der Raphael-Kurzbiografie, verfasst von dessen Schwiegersohn Fredrik Pachla, in der Reihe Jüdische Miniaturen.20 Denn Günter Raphael ist zu keinem Zeitpunkt Jude gewesen. Er war wie seine Eltern Christ. Der Umstand, dass sein Vater vom Judentum zum Christentum übergetreten war, dies bereits 1887, also über 15 Jahre vor Geburt des Sohnes, macht Günter Raphael nicht jüdisch. Nach der jüdischen Religion kommt es darauf an, ob die Mutter jüdisch ist. Auch nach der NS-Definition galt Günter Raphael nicht als Jude. Schinköth meinte dennoch: „obwohl von Geburt an in deutsch-protestantischem Sinne und gänzlich unberührt von jüdischen Religionsgemeinschaften erzogen und aufgewachsen, muß Günter Raphael in einer Studie über jüdische Musiker in Leipzig Erwähnung finden.“ Denn Raphael sei von den Nationalsozialisten 1934 zum „Halbjuden“ gestempelt und „systematisch öffentlicher Betätigungsmöglichkeiten beraubt“ worden.21 Weshalb ihn dies zu einem jüdischen Musiker machen soll, ergründet sich nicht. In einer Besprechung von Pachlas Kurzbiografie heißt es gar: Mit der Auswahl Raphaels werde „einmal mehr die breite Streuung jüdischer Provenienzen sowie einzelfallabhängiger Fügungen und Reaktionsmuster seitens Tätern und Betroffenen unterm Hakenkreuz“ belegt. Und weiter: „So war der Berliner Raphael selbst nicht Jude von Geburt, sondern durch Abstammung.“22 Für die Einordnung waren in der NS-Zeit die Nürnberger Gesetze von 1935 entscheidend. Danach kam es auf die Anzahl der jüdischen Großelternteile an. Ohne einen solchen war man „deutschblütig“, mit einem war man „Mischling 2. Grades“ („ViertelGüntzels Rolle bei der Arisierung des Meininger Musiklebens und seine stillte Rehabilitierung nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, Kloster Veßra 2010, S. 251–266. 15 Matthias Hermann, „‚Günter Raphael ist Halbjude und hat als solcher keinen Platz im deutschen Musikleben‘. Bemerkungen über den Komponisten zwischen 1933 und 1945“, in: Die Musik des osteuropäischen Judentums – totalitäre Systeme – Nachklänge, hrsg. vom Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik, Leipzig u. a. 1997, S. 115–121; Erkundungen zu Günter Raphael, (wie Anm. 14). 16 Ausstellung Musik. Sie heilt die Wunden. Günter Raphaels Meininger Jahre von Christoph Gann, Meininger Museen 15.10.2010–30.01.2011. Zudem: Christoph Gann, „Günter Raphaels Meininger Jahre“, in: Heimatklänge, Geschichtliche Landeskunde Folgen 93/1 und 93/2, Meininger Tageblatt, 13.10.2010 und 19.10.2010. 17 Thomas Schinköth, „Günter Raphael: Die ‚grosse Hoffnung der deutschen Musik‘“, in: Thomas Schinköth, Jüdische Musiker in Leipzig 1855–1945, Altenburg 1994, S. 236–254. 18 Juden in Südthüringen geschützt und gejagt, Bd. 3, hrsg. von Hans Nothnagel, Suhl 1999, S. 26, dort mit Hinweis auf jüdische Großeltern väterlicherseits. 19 Europäisches Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten, Bd. 2, Erfurt 1997, S. 108. 20 Fredrik Pachla, Günter Raphael. Ein Komponistenschicksal, Berlin 2017. 21 Schinköth, Jüdische Musiker, (wie Anm. 17), S. 236. 22 Andreas Vollberg, http://info-netz-musik.bplaced.net/?p=15553, letzter Zugriff: 03.01.2019.

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jude“), mit zweien „Mischling 1. Grades“ („Halbjude“), und mit dreien war man denen mit vier gleichgestellt und galt als „Volljude“. Günter Raphael fiel unter die Kategorie „Mischling 1. Grades“, d. h. „Halbjude“. Die Regelungen zur Eheschließung verdeutlichen die Sonderstellung der „Halbjuden“.23 Sie unterlagen als einzige keinem Eheverbot. Ohne besondere Genehmigung durften sie aber nur untereinander heiraten oder einen „Volljuden“ – dann wurden sie aber selbst zum Juden. „Mischlinge 2. Grades“ durften dagegen nur einen „Deutschblütigen“ oder – mit besonderer Genehmigung – einen „Mischling 1. Grades“ heiraten. Auch spätere Maßnahmen gegen Juden, wie z. B. die Pflicht zum Tragen eines Judensterns, die Anfügung des Zusatznamens Sara oder Israel oder die Einweisung in „Ghettohäuser“ oder Deportationen z. B. in das Getto Theresienstadt oder Vernichtungslager im Osten, betrafen sie nicht. Allerdings ist zu betonen, dass sie das nicht wissen konnten und bis Ende der NS-Diktatur mit der Ungewissheit leben mussten, was passieren könnte.24 Da die Maßnahmen gegen „Mischlinge 1. Grades“ im Vergleich zu denen gegenüber Juden oder auch Sinti und Roma deutlich geringer waren, fanden die Betroffenen nach 1945 keine große Aufmerksamkeit. Auch die Forschung widmete sich ihnen meist nur am Rande. Welche Nachteile für sie bestanden und über welche Möglichkeiten sie verfügten, lässt sich gut am Beispiel Günter Raphaels darstellen.

2 Biografisches Seine wesentlichen Lebensdaten und eine Werkübersicht stellte Günter Raphael im Jahr 1932 selbst für die Zeitschrift für Musik zusammen. Anlass war das 62. Deutsche Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins im Juni 1932 in Zürich. Raphael schrieb: Geboren am 30. April 1903 in Berlin als Sohn des Organisten und Chordirigenten an St. Matthäi Georg Raphael und Enkel mütterlicherseits des ehemaligen Domchordirektors und Kirchenkomponisten Albert Becker. Musikalische Studien zunächst privat bei Arnold Ebel, dann 1922–25 Schüler der Berliner Hochschule: Robert Kahn (Komposition), Max Trapp (Klavier), Walter Fischer (Orgel) und Rudolf Kraffelt (Kapellmeister). Im Sommer 1925 Chorstudien bei Arnold Mendelssohn Darmstadt. Ab Herbst 1926 Lehrer für Komposition und Theorie am Landeskonservatorium und Kirchenmusikalischen Institut zu Leipzig. Erster Förderer meiner Werke: der Thomas-Kantor Karl Straube (vgl. ZFM vom Juni 1931).

23 Vgl. Erläuterungen des Meininger Medizinalrats Dr. Krüger im Hetzblatt Der Stürmer, Nr. 42/1936. 24 Zu der Gefährdungslage für „Mischlinge“ und zu diese betreffenden diskriminierenden Gesetzen vgl. Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 2003, S. 222 ff.; Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 32007, insbesondere S. 96 ff., 162 ff., 202 ff., 257 ff.

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Abb. 1: Albert Becker und Georg Raphael, Christine Raphael Stiftung.

Hauptwerke: 2 Sinfonien, 2 Variationswerke für Orchester, Requiem und Tedeum für achtstimmigen Chor und Orchester, Cellokonzert, 3 Streichquartette, 3 Quintette, Sonaten für Klavier, Violine, Bratsche, Cello, Flöte, Oboe, Orgelwerke, a cappella Chorwerke (12stimm. Psalm usw.).25

Ergänzenswert ist, dass seine Mutter Maria Raphael, geb. Becker, Geigerin war. Sein Vater Georg Raphael, der auch komponierte, starb im Jahr 1904. Günter Raphaels ältere Schwester Maria Magdalena, genannt Marlen, wurde am 12. Mai 1901 geboren. Raphael galt vor Beginn der NS-Diktatur als junges Talent. Seine 1. Sinfonie wurde am 14. Oktober 1926 unter Wilhelm Furtwängler im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Seine Berufung nach Leipzig erfolgte auf Vermittlung Straubes. Die Kritiken in den Musikzeitschriften zu Raphaels Schaffen fielen sehr unterschiedlich aus. Im April 1926 lobte Adolf Diesterweg in der Zeitschrift für Musik den „jugendlichen Günter Raphael“ und meinte: „Solch gesundes Streben verdient Ermutigung! Möge es vom vergiftenden Hauch moderner Irrlehren bewahrt bleiben!“26 Die Aufführung von Raphaels Sinfonie unter Furtwängler wurde als „außergewöhnlich starke Talentprobe“ bezeichnet.27 Raphaels Mut sei zu bewundern, „mit dem er sich in einer Zeit, die den Protest gegen alles Romantische auf ihre Fahnen geschrieben hat, von solchen Zielen in aller Klarheit abwendet, ganz bewußt an die große Entwicklung der Sinfonie anknüpft, wie sie sich von Brahms über Bruckner und Mahler vollzogen hat.“28 Werke Raphaels wurden mal als „durchaus Sprache der Zeit – aber weder atonal noch kakophonisch“29, 25 26 27 28 29

Zeitschrift für Musik (im Folgenden: ZfM), 1932, S. 491. ZfM, April 1926, S. 221. ZfM, November 1926, S. 640. Die Musik, Dezember 1926, S. 217. ZfM, Oktober 1927, S. 583.

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mal als „mit schöpferischen Verlangen ohne Erlangen“30 bezeichnet. Es gehe auch mal „lustig“, ja „direkt humoristisch“ zu.31 Tatsächlich war Günter Raphael ein sehr humorvoller Mensch. In Die Musik hieß es im Mai 1928, Raphael schlage einen „echten Ton deutscher Rassenhaftigkeit“32 an; einen Monat später wurde beklagt, dass man „kein leisestes Nachzittern jener tiefschürfenden Umwälzungen“ spüre, „welche die Musik eben erst hinter sich hat.“ Man könne nicht verbieten, dass solche Werke geschaffen werden, aber sie würden vielfach sogar gewürdigt. So gehöre Raphael jenem Leipziger Kreis an, der die „Kämpfens- und Ringensmüdigkeit, der allein die Anerkennung solcher Werke entspringen kann, für sich auszunutzen und sich in Szene zu setzen“ wisse.33 Einen weiteren Monat später hieß es, Raphael verwechsle „geschickte Satztechnik im akademischen Sinne, über die er durchaus verfügt, mit Kunst.“ Seine Nachahmungen Beethovens, Brahms’ und Regers seien „völlig überflüßig“.34 Zu einem Quintett und zwei Sonaten Raphaels hieß es, diese ließen einen „vollständig kalt“, Raphael sei auf einem Holzweg, seine Kunst rückwärtsschauend.35 Zur Aufführung des Violinkonzerts (op. 21) in Zürich im Jahr 1932 hieß es, „die Langeweile des Neu-Leipziger Akademismus“ habe sich über den Saal gelegt.36 Andererseits wurde in der gleichen Zeitschrift zuvor das Finale seiner Kleinen Sonate (op. 25) gelobt, „welches durchaus modernes Empfinden atmet und zum guten Teil seine Wirkungen vom Jazz hernimmt.“37

3 Günter Raphael und die Anfänge der NS-Zeit Die NS-Zeit begann für Raphael erfreulich. Am 1. Februar 1933 kam es zur Uraufführung seines Divertimento (op. 33) unter Furtwängler mit dem Berliner Philharmonischen Orchester in der Stadthalle von Magdeburg. Dort erklangen auch Tschaikowskys 5. Sinfonie und Werke Richard Wagners. Das zwei Monate später, am 7. April, folgende „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ betraf Raphael nicht direkt, da das Landeskonservatorium der Musik eine Stiftung privaten Rechts war. Jedoch verpflichtete eine sächsische Verordnung vom 24. Juni 1933 die Aufsichtsbehörden hinsichtlich aller Lehrkräfte an privaten Unterrichtsanstalten zur Erörterung, ob die Voraussetzungen des Gesetzes gegeben sein würden, wenn die Lehrkräfte Beamte im Sinne des Gesetzes wären. Wohl etwa drei Monate später 30 31 32 33 34 35

Die Musik, Juni 1926, S. 694. Die Musik, Oktober 1926, S. 59. Die Musik, Mai 1928, S. 608. Die Musik, Juni 1928, S. 685. Abfällig zu den „Neu-Leipzigern“ auch ZfM, Januar 1933, S. 56 f. Die Musik, Juli 1928, S. 740. Die Musik, Dezember 1928, S. 213 f. In der Ausgabe von Januar 1929, S. 307, hieß es, dass „Raphael dort überall, wo seine Musik überhaupt nicht mehr will als einfach einen akademischen Reger und einen verbürgerlichten Strauß vermischen, Anleihen bei eben der Moderne macht, deren zersetzendem Geist er so bieder widerstehen möchte“. 36 Die Musik, Juli 1932, S. 756. 37 Die Musik, Mai 1932, S. 624.

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wurden am Landeskonservatorium Fragebögen zur Abstammung verteilt. Zwei Lehrer waren „nichtarischer“ Abstammung: Oskar Laßner (1888–1971) und Günter Raphael. Raphael bat wohl einige Wochen nach Ausfüllen des Fragebogens die Reichsmusikkammer (RMK) „um Hilfe und Schutz“. Nach einem vorliegenden Entwurf38 schrieb er, dass die Eltern seines Vaters „einer hochangesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie“ entstammten. Der Großvater sei früh verstorben und die Großmutter sei innerlich protestantisch eingestellt gewesen und habe ihren Sohn im christlichen Sinne erziehen lassen. Auch seine Abstammung mütterlicherseits legte er dar und fuhr fort:

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Abb. 2: Günter Raphael mit seiner Verlobten Pauline Jessen, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

Aus dieser erblichen Gebundenheit heraus ist es verständlich, dass ich als Musiker die modischen Einflüsse in der Musikgebarung der Nachkriegsjahre ablehnte. Ich bin vielmehr darum bemüht gewesen, die Tradition der deutschen Musik, wie sie die grossen Meister uns lehrten, nach den Möglichkeiten der mir geschenkten Kräfte weiterzupflegen. […] Wenn ich nicht mehr im Dienste der deutschen Kunst und nach dem Vorbilde der alten Meister weiterwirken und schaffen könnte, so würde meinem Leben Sinn und Ziel genommen werden. Deshalb bitte ich die Reichsmusikkammer, meinen Darlegungen ein gütiges Gehör schenken und meiner Bitte Erfüllung geben zu wollen, denn im anderen Falle stünde ich vor der Vernichtung meines geistigen Daseins.

4 Die Entlassung Raphaels in Leipzig Am 30. November 1933 war die Frage einer Entlassung Raphaels und Laßners Thema der Sitzung des Aktions-Ausschusses des Kuratoriums des Landeskonservatoriums. Zugegen waren die fünf Ausschussmitglieder: Oberbürgermeister Dr. Carl Goerdeler als Vorsitzender des Kuratoriums, Stadtrat Dr. Nitzsche, Ministerialdirigent Dr. Woelker, Stadtrat Hauptmann sowie der Stadtverordnete Studentkowski. Von der fachlichen Seite wurden der Direktor des Landeskonservatoriums Prof. Walther Davisson und der Vorsteher des Kirchenmusikalischen Instituts Prof. Dr. Karl Straube zugezogen. Laut dem Protokoll39 wies Studentkowski darauf hin, dass bei der Universität und den Privatschulen die „gesetzlichen Bestimmungen über die Ausschaltung nichtarischer Lehrkräfte streng durchgeführt worden seien und daß deshalb eine etwaige andere Entscheidung in den vorliegenden Fällen unübersehbare Folgerungen haben könnte“. Nach der sächsi38 Undatierter Entwurf mit Korrekturen, Raphael-NL. 39 Abgedruckt in: Maren Goltz, Das Kirchenmusikalische Institut. Spuren einer wechselvollen Geschichte, Leipzig 2001, S. 44.

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schen Verordnung war eine Entlassung nicht zwingend. Sie sah (nur) vor, „den Rechtsträgern der Schule nahezulegen, die in Betracht kommenden Lehrkräfte unter Beachtung der gesetzlichen Kündigungsbestimmungen zu entlassen. Soweit dies abgelehnt wird oder Zweifel entstehen“, war dem Ministerium zu berichten. Der Ausschuss beschloss, „den Herren Raphael und Laßner zum nächsten gesetzlich zulässigen Termin zu kündigen und gegebenenfalls ihnen durch Sonderaufträge zu ermöglichen, ihre Schüler durch die nächste Prüfung zu führen.“ Raphael, davon wohl noch nichts wissend, sprach mit Furtwängler, um eine Weiterbeschäftigung am Landeskonservatorium zu erreichen. Am 13. Dezember 1933 suchte Raphael zudem Davisson auf. Dieser hielt es für günstig, wenn Raphael sich um einen Termin bei Goerdeler bemühen würde. Davisson selbst schrieb sogleich an Goerdeler und erinnerte an dessen kürzliches Angebot, Raphael einmal zu empfangen.40 Dazu kam es jedoch nicht. Das von Goerdeler unterschriebene Kündigungsschreiben datiert auf den 14. Dezember 1933. Die Kündigung Raphaels erfolgte zum 31. März 1934. Zugleich wurde er gebeten, „im Interesse des Instituts und Ihrer Schüler, […] diese noch durch die kommende Prüfung [zu] führen, Ihre Tätigkeit also bis zum 15. Juli 1934 auszuüben.“41 In dem Kündigungsschreiben wurde auf die Verordnung, den Fragebogen und die aus diesem folgende „nichtarische“ Abstammung hingewiesen. Zur Verordnung hieß es allerdings falsch, dass nach dieser die Lehrkräfte zu entlassen seien, obwohl dies nur nahegelegt wurde. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Goerdeler, Davisson oder Straube sich in der Ausschusssitzung für einen Verbleib Raphaels eingesetzt haben. Ein Hinweis des Ausschusses an das Ministerium, dass eine Entlassung zumindest zweifelhaft erscheine, erfolgte nicht. Eine besondere Verantwortung kam hierbei den zugezogenen Teilnehmern Straube und ­Davisson zu. Sie verfügten über die Fachkenntnis und hatten diese an die Ausschussmitglieder zu vermitteln.42 Der Thomaskantor Straube, einst Schüler von Raphaels Großvater Albert Becker und ursprünglich Förderer Günter Raphaels, hatte neun Jahre zuvor geschrieben: „Herrn Günter Raphael […] kenne und schätze ich als eines der stärksten Talente unter der jungen deutschen Musikergeneration. […] Es handelt sich bei ihm nicht um einen ‚Musikstudenten‘, sondern um eine der großen und seltenen Hoffnungen für die Zukunft der deutschen Musik!“43 Im August 1933 hatte Straube an Raphael („Lieber Teddy“) geschrieben, er habe in einer schlaflosen Nacht an ihn, seine Arbeiten, seinen Psalm und seine Zukunft gedacht. Straube meinte damals: „Auch mir erscheint es klug, wenn wir ganz still uns verhalten und nicht ein Werk veröffentlichen, das vielleicht sogar bedeutend werden kann und deshalb 40 Vgl. Davisson an Raphael, 18.12.1933, Raphael-NL. 41 Eine Abschrift wurde vom Verf. 2010 im Raphael-Nachlass entdeckt. Raphael hatte in einem Brief an seine Mutter vom 14.04.1936 Goerdelers rechtliche Darlegung zitiert, ohne darauf hinzuweisen, dass es aus dem Kündigungsschreiben stammte. U. a. Schinköth ging von einer Kündigung am 15.07.1934 aus, Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 56. 42 Die Auffassung von Maren Goltz, in: Musikstudium in der Diktatur, (wie Anm. 14), S. 84, dass Davisson und Straube „lediglich“ hinzugezogen worden seien, wird daher nicht geteilt. 43 Schreiben Karl Straubes, 20.10.1924, Raphael-NL.

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Abb. 3: Abschrift des Kündigungsschreibens vom 14. Dezember 1933, Christine Raphael Stiftung.

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schon als störend empfunden wird.“44 Straube empfahl, Raphael solle sich mit dem Komponisten Jean Sibelius in Verbindung setzen. Einen Schatten auf Straube wirft auch der Umstand, dass er bereits im September 1933 Raphaels Theorielehrer-Stelle dem ehemaligen Studenten Gottfried Müller für die Zeit ab Ostern 1934 angeboten hat. Der erst 19-jährige Müller dankte Straube für „das wundervolle Angebot“.45 Dies verdeutlicht, dass Straube – und sicherlich auch Davisson – um Raphaels Verbleib nicht kämpfen wollten. Am 24. Juli 1934, kurz nach Ende von Raphaels Tätigkeit am Landeskonservatorium, schrieb Straube dennoch an seine Ehefrau: „Das Ergebnis der Aktion Raphael habe ich vorausgesehen, aber es ist gut, daß wir Alles versucht haben, was nur möglich war, um dieses Schicksal abzuwenden.“ 46 Über Goerdeler meinte er, dass dieser es für objektiv wichtig halte, „daß er in seiner Stellung bleibt und dort Übergriffe nach Möglichkeit verhindert, dagegen scheint ihm die Erhaltung von Raphael als Lehrkraft eine nebensächliche Angelegenheit zu sein. Werden David und Gottfr. Müller verpflichtet, so haben wir vollwertigen Ersatz sowohl für Thomas, wie für Teddy.“ 47 Furtwängler setzte sich dagegen für Raphael ein. Er sprach Goebbels in verschiedenen Unterredungen auf den „Fall Raphael“ an. Zu einem Gespräch vom 18. Mai 1934 vermerkte Furtwängler: „Grundsätzliche Fragen der Zuständigkeit Furtwänglers, da er dauernd mit seinem Namen Dinge decken muss, die er nicht erfährt und in wirklich wichtigen Fällen nicht helfen kann. Beispiel: Günther Raphael.“48 In einer Notiz Furtwänglers vom 20. Juni 1934 im Vorfeld seiner Besprechung mit Goebbels am 25. Juni 1934 hieß es zur Kündigung Raphaels, dass der Vertreter des sächsischen Ministeriums die Kündigung für notwendig hielt. Und weiter: Anlässlich der Bedeutung, die dieser Kündigung eines ausgezeichneten Musikers beizumessen ist, bittet Herr Oberbürgermeister Goerdeler um eine Besprechung in Berlin zwischen Herrn Dr. Furtwängler und Herrn Minister Goebbels zur prinzipiellen Regelung. Sämtliche Schüler von Raphael haben sich in einer Eingabe an die Reichsmusikkammer und an Dr. Furtwängler gewandt.49

Später äußerte Raphael über das Gespräch zwischen Goebbels und Furtwängler von Juni 1934, dass Goebbels nicht abgeneigt gewesen sei. Dann habe die „Leipziger Partei dazwischen“ gefunkt, „daß selbst der Oberbürgermeister umfiel.“50 Auch Davisson hatte sich an Furtwängler gewandt, erhielt jedoch im Juli 1934 die Mitteilung, dass Furtwängler persönlich mit Goebbels den Fall Raphael besprochen habe: 44 Straube an Raphael, 10.08.1933, Raphael-NL. 45 Müller an Straube, 19.09.1933, Zentralbibliothek Zürich, Mus. Nachl. 117, A229; siehe auch Müller an Straube, 09.10.1933 und 30.12.1933, ebd., A231 und A228. Siehe auch Goltz, Musikstudium in der Diktatur, (wie Anm. 14), S. 86. 46 Zit. n. ebd., S. 87. 47 Ebd. 48 Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Archiv Prieberg, Furtwängler Aufzeichnungen 1934. 49 Ebd. 50 Raphael an Maria Raphael, 14.04.1936, Raphael-NL.

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„Gegen die Entscheidung des Ministers dürfte in diesem Falle nichts mehr unternommen werden können.“51 Davisson schrieb an Raphael: Sie wissen auch ohne viel Worte, daß ich diese Entscheidung nicht nur persönlich, sondern auch für das Konservatorium tief bedaure. Damit spreche ich auch die Empfindung Ihrer Schüler und aller derer, die Sie lieb gewonnen haben, aus. Was Sie als Lehrer geleistet haben soll Ihnen am Con. nicht vergessen werden und was Sie als Musiker zu sagen haben, dafür braucht niemand bange zu sein!52

Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Davisson solche Worte schon in der maßgeblichen Ausschusssitzung gefunden hätte.

5 Raphael und Sibelius Raphael nahm im Mai 1934 Kontakt zu Sibelius auf. Anlass war der bevorstehende 100. Geburtstag Albert Beckers am 13. Juni. Raphael bat Sibelius, den er als „den bedeutendsten Schüler“ seines Großvaters bezeichnete, um einen „kleinen Aufsatz“ über Becker. Die persönlichen Erinnerungen in kurzen Worten sollten mit solchen von Straube in der Allgemeinen Musikzeitung veröffentlicht werden. Raphael schloss mit dem Hinweis, er denke gerne „noch an die schönen Stunden in Helsingfors zurück, die ich mit Ihnen verleben durfte.“53 Raphael hatte Sibelius dort im April 1932 besucht. Dieser hatte ihm ein Engagement im Radio Helsingfors vermittelt. Sibelius antwortete am 28. Mai 1934: „Junger Meister Günter Raphael, Mit dem besten Willen ist es mir unmöglich. Ihr aufrichtiger Bewunderer Jean Sibelius.“54 Da in der Raphael-Literatur bisher das Ausgangsschreiben nicht bekannt war, entstand der Eindruck, Sibelius habe knapp und schroff eine Bitte des bedrängten Raphael abgelehnt.55 Da die Absage lediglich Worten über Becker galt, die Raphael überdies bereits für ungefähr 1. Juni erbat, erscheint die Antwort von Sibelius nicht harsch, sondern durchaus freundlich. Raphael, sich gerade in Tondern in Dänemark aufhaltend, legte erst mit Brief vom 6. Juni 1934 seine persönliche Situation offen. Er verstehe die Absage sehr wohl, „bedaure dies aber umsomehr, als gerade jetzt ein paar Worte von Ihnen von grosser Bedeutung sein würden, denn in den allernächsten Tagen wird sich mein zukünftiges Geschick entscheiden. Meine Stellung als Kompositions-Lehrer 51 Davisson an Raphael, 24.07.1934, Raphael-NL. 52 Ebd. 53 Raphael an Sibelius, 18.05.1934, zit. n. Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 109. Für den Hinweis auf den dort in deutscher Sprache wiedergegebenen Briefwechsel danke ich Prof. Dr. Tomi Mäkelä, Halle. 54 Raphael-NL. Bei Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 71, und von ihm übernommen Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 110, heißt es irrig „Wissen“ statt „Willen“. 55 Schinköth behauptet, Raphael habe einen Hilferuf an Sibelius gesandt und um ein Gutachten gebeten, mit dem er bei Behörden intervenieren wollte, Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 71.

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ist mir gekündigt worden, weil ich nicht völlig reinarischer Abstammung bin, und es ist sehr ungewiss, ob meine bisherige Lebensarbeit und der Name meines Grossvaters Albert Becker es vermögen werden, mir weiterhin die Lebensmöglichkeit als schaffender Musiker in Deutschland zu sichern.“56 Als eine Antwort ausblieb, schrieb Raphael am 16. August 1934 erneut. Er habe „infolge des Arierparagraphen“ seine Stellung in Leipzig verlassen müssen. Und weiter: Trotz aller Bemühungen der deutschen Musikerschaft, an deren Spitze Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler, Karl Straube u. Sigmund von Hausegger stehen, ist es nicht gelungen, meine Entlassung rückgängig zu machen. Der Propaganda-Minister Dr. Goebbels hat entschieden, dass die Kündigung aufrechterhalten bleibt u. an seiner Entscheidung ist nichts mehr zu ändern. In wieweit diese Entscheidung meine sonstige kompositorische Tätigkeit u. meine Stellung als Musiker in Deutschland betrifft, weiss ich nicht. Furtwängler meinte zwar, dass ich weiterhin in Deutschland aufgeführt werden könne. Dennoch ist meine augenblickliche Lage nicht gerade sehr zukunftsreich.57

Raphael bat Sibelius daher um Mitteilung, „ob und wieweit die Möglichkeit bestehen, mir einen Wirkungskreis, sei es durch meine Kompositionen, wie Sie es schon in so liebenswürdiger Weise taten, oder durch Ausübung einer Lehrtätigkeit in Finnland für die Zukunft zu bereiten.“ Die Nachricht solle „aber möglichst ‚unpolitisch‘ abgefasst sein […], da ein grosser Teil der Auslandsbriefe nach Deutschland geöffnet werden“. Sibelius antwortete knapp am 28. August 1934: „Lieber Herr, Nachdem ich mit [unleserliches Wort, kein Name] gesprochen, fände ich dass es unmöglich ist hier eine Existenz zu gründen für Sie – die Verhältnisse sind zu klein. Ergeben, Ihr Jean Sibelius.“58 Im Sommer 1935 spielte das Ehepaar Raphael Rundfunkaufnahmen auf zwei Klavieren in den Sendern Stockholm, Helsingfors und Oslo ein.59 Am 14. August 1935 suchte Raphael den Verleger Wilhelm Hansen in Kopenhagen auf und bot ihm eine Suite für kleines Orchester zur Veröffentlichung an. Raphael bat Sibelius, dies durch „ein paar vermittelnde Zeilen“ zu unterstützen.60 Sibelius hatte sich früher zu einer Empfehlung an den Verlag bereit erklärt. Ob Sibelius Hansen kontaktierte, ist unklar. Im März 1936 suchte Günter Raphael das letzte Mal Unterstützung von Sibelius. Der Verlag Breitkopf & Härtel wollte einen Prospekt zu den Werken Raphaels, ihren Interpreten und Aufführungen herausgeben, der nur im Ausland eingesetzt werden sollte. Darin sollten Urteile von Sibelius, Furtwängler, Straube und dem Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth aufgenommen werden. Raphael bat Sibelius daher um „ein paar Worte“.61 Sibelius lehnte die Bitte ab. Er schreibe „schon längst prinzipiell keine Urteile“ mehr. Und weiter: 56 Zit. n. Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 110. 57 Ebd. 58 Raphael-NL. Von Schinköth irrig auf den 19.09.1934 datiert, Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 72. 59 Siehe ZfM, Oktober 1935, S. 1182. 60 Raphael an Sibelius, 15.08.1935, zit. n. Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 111. 61 Raphael an Sibelius, 02.03.1936, ebd.

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Abb. 4: Brief von Jean Sibelius an Günter Raphael vom 28. August 1934, Christine Raphael Stiftung.

Ich bedaure sehr, dass ich auch in Ihrem Fall keine Ausnahme machen kann, aber weil ich so oft ähnliche Anfragen bekomme hat es mich gezwungen ein für allemal abzulehnen. Es tut mir wirklich Leid, Ihnen dieses Mal nicht behülflich sein zu können. Persönlich bin ich überzeugt, dass Empfehlungen in diesem Falle von weniger Bedeutung sind, da Ihre Musik sich sicher durch eigene Kraft ihren Weg bahnt. Mit besten Grüssen von meiner Familie und mir zu Ihnen und Ihrer Frau.62

Ob es Sibelius zu viel Aufwand war, obwohl es sich bei Raphael um den Enkelsohn seines Lehrers handelte, oder welcher Grund ausschlaggebend war, bleibt offen. Jackson stellt die Hypothese auf, dass Sibelius es für politisch unklug gehalten haben könnte, Goebbels in die Quere zu kommen. Sibelius habe befürchtet, wenn er dies tue, würde er seine deutschen Lizenzeinnahmen verlieren.63 Dagegen spricht, dass Sibelius von der Mitwirkung der namhaften deutschen Persönlichkeiten Furtwängler, Straube und Abendroth in Kenntnis gesetzt worden war. Damals konnten Raphaels Werke auch noch in Deutschland aufgeführt werden. Weshalb hätte Sibelius daher nachteilige Folgen befürchten sollen? Der Verlag Breitkopf & Härtel hatte Raphael im November 1934 versichert, man werde seine bisher übernommenen Werke „in jeder Weise in und außerhalb Deutschlands propagieren“ und hege ein lebhaftes Interesse für sein weiteres Schaffen.64 Eine Fortsetzung des Optionsvertrages und eine feste monatliche Gegenleistung hielt man aber nicht für

62 Sibelius an Raphael, 28.03.1936, Raphael-NL. 63 Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 105. 64 Breitkopf & Härtel (Dr. Hellmuth von Hase) an Raphael, 17.11.1934, Raphael-NL.

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möglich. Dadurch war eine sichere Einnahmequelle entfallen. Als Raphael aus der Neuen Bachgesellschaft austrat, verstand der Verleger Dr. von Hase diesen Schritt vollkommen.65

6 Raphael in Meiningen Nach Verlust der Stellung in Leipzig zog Günter Raphael nach Meiningen. Am 18. Oktober 1934 vermeldete das Meininger Tageblatt den Zuzug. Wenige Tage zuvor hatte er seine Schülerin Pauline Jessen, eine dänische Nordfriesin, in Kopenhagen geheiratet. Sie war 193366 nach Meiningen gezogen, wo auch ihre Tante, Gattin des Braumeisters Ernst Heller, lebte. Pauline Jessen unterrichtete nur wenige Wochen an der Musikschule des Konzertmeisters Anton Reichel, da dieser aus politischen Gründen gegen April 1933 Meiningen verlassen musste. Pauline Jessen wohnte in der Berliner Straße 46 und war als private Musiklehrerin tätig. Nach der Hochzeit zog das junge Ehepaar in den ersten Stock des Hauses Helenenstraße 23. Im Erdgeschoss wohnte die verwitwete Eigentümerin und Vermieterin Erna Weidenmüller. Günter Raphael hatte bereits früher in Meiningen konzertiert. Am 17. März 1933 hatte er im kleinen Saal des Schützenhauses zusammen mit dem Reichel-Quartett, Erich Herchet (Violoncell) und seiner späteren Frau einen Kompositionsabend gegeben. Angekündigt war ein „Überblick über das kammermusikalische Schaffen der letzten 10 Jahre des nunmehr 30jährigen Leipziger Komponisten.“67 Zeitgleich hatte im Festsaal des Schützenhauses ein Vortrag der NSDAP-Ortsgruppe Meiningen stattgefunden. Der Parteigenosse Magnus

Abb. 5: Hochzeitsbild, vorne Pauline und Günter Raphael, von links: Tante Linnet, Christine Holst (Brautmutter), Nella Hansen, Maria Becker, Onkel Linnet, Christine Raphael Stiftung.

65 Breitkopf & Härtel (Dr. Hase) an Raphael, 17.12.1936, Raphael-NL. 66 So die Angabe von Pauline Raphael in ihrem Brief an Christian Glöckner, 21.08.1935 (Privatbesitz). Nach anderen Angaben soll sie schon 1931 nach Meiningen gekommen sein, so u. a. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 39. 67 Meininger Tageblatt, 04.03.1933.

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Werner aus Weimar sprach über den Faschismus und die Staatsidee Mussolinis. Das Meininger Tageblatt stellte Raphael und dessen Werke vor und druckte u. a. eine Pressestimme aus dem Völkischen Beobachter über die Uraufführung von Raphaels Divertimentos unter Furtwängler ab.68 Die Konzertkritik des Meininger Tageblatts vom 20. März 1933 sah das Konzert durch einen rasselnden Flügel stark beeinträchtigt. Abschließend hieß es: „Bedauerlich und beschämend zugleich war der dürftige Besuch des Abends, und man kann nur bedauern, daß so viele der sonstigen Freunde echter, gesunder und kerndeutscher Musik sich selbst um einen erlesenen Genuß gebracht haben.“ Ottomar Güntzel sprach in der Zeitschrift für Musik von einem Kompositionsabend mit „außerordentlichem Gehalt“ und der „hochtalentierten Künstlerin Pauline Jessen, die über ein ausgezeichnetes pianistisches Können verfügt“.69 Möglicherweise gab es damals noch weitere Auftritte Raphaels.70 Auch nach dem Umzug unterrichtete Raphael Abb. 6: Ehepaar Raphael mit Anton auf Wunsch einiger ehemaliger Studenten noch alle Reichel auf dem Nebelhorn im Jahr 1936, 14 Tage privat in Leipzig. Der neu an das KonservaPrivatbesitz von Dagmar Pieschacóntorium gekommene Lehrer Johann Nepomuk David Raphael. stellte ihm seine Wohnung zur Verfügung. David wurde auch Patenonkel von Raphaels erstem Kind Dagmar, welches am 12. November 1935 in Meiningen geboren wurde.71 Der Standesbeamte trug das Kind mit der Schreibweise „Raffael“ ein. Nach Überlieferung in der Familie habe der Standesbeamte gewollt, dass der Name nicht so jüdisch klingt.72 68 Meininger Tageblatt, 15. u. 16.03.1933. 69 ZfM, September 1933, S. 956–957, S. 957. 70 Angeblich soll Raphael 1933 im Meininger Theatervestibül einen Kompositionsabend veranstaltet haben. Der Oberleiter der Landeskapelle, Gustav Adolf Schlemm, gab an, ihm seien Vorwürfe von Regierungsseite durch den Vorgesetzten Dr. Ziegler gemacht worden, vgl. Schlemm an Breitkopf & Härtel, 20.05.1947, Staatsarchiv Leipzig, 21106, Nr. 5909. Hoßfeld führt einen Kompositionsabend im Schützenhof Meiningen im Herbst 1935 an, der in Vacha und Hildburghausen wiederholt worden sei, Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 43 f. Raabe hatte Raphael mit Schreiben vom 19.09.1935 mitgeteilt: „Ich glaube, dass Sie Ihren Kompositions-Abend ruhig geben können“, Raphael-NL. Ob statt des Schützenhofs das Schützenhaus gemeint war oder der Schützenhof in Hildburghausen, ist unklar. 71 Weiterer prominenter Pate war Hermann Abendroth. 72 Mündliche Mitteilung von Dagmar Pieschacón-Raphael.

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Abb. 7: Günter Raphael mit Tochter Dagmar, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

Behauptungen, Raphaels hätten unmittelbar vor Geburt ihres Kindes nach England auswandern wollen, müssen als unzutreffend angesehen werden. Schinköth führt an, Raphael sei deswegen Ende Oktober 1935 nach England gereist und optimistisch von dort zurückgekehrt. Die für den 13. November vorgesehene Ausreise habe sich durch die Geburt zerschlagen.73 Pauline Raphael behauptet, die Ausreise sei für den 14. November vorgesehen gewesen. Sie hätten ohne alles, ohne Instrumente, Möbel, Bibliothek, emigrieren wollen. Ihr kleines Kind hätten sie aber keiner Emigration aussetzen wollen. Weiter schilderte sie, dass ihr Mann später mithilfe eines englischen Schülers vier Wochen versucht habe, irgendwo in England eine kleine Organistenstelle zu finden, es sei aber hoffnungslos gewesen.74 Andererseits meinte Pauline Raphael auch, dass es viele Gründe gegeben habe, nicht alles stehen und liegen zu lassen. Sie seien keine Kämpfer gewesen, ihrem Mann habe es vor fremden Sprachen gegraut, und er habe entsetzlich an Deutschland gehangen. Er habe immer gesagt, besser in Deutschland sterben als im Ausland.75 Gegen eine unmittelbar bevorstehende Ausreise im November spricht, dass Pauline Raphael hochschwanger war und es sich keineswegs um eine Frühgeburt handelte.76 Das Verhältnis zwischen David und Günter Raphael verschlechterte sich. Am 12. Januar 1936 schrieb David ihm, er könne seine Räume nicht mehr zur Verfügung stellen. Sein Stundenplan habe sich geändert, und er wisse nicht, wo er die Zeit anderswo zubringen könnte. Zudem hätten sich einige von seinen und Raphaels Schülern in seiner Gegenwart darüber unterhalten, dass sie nächsten Donnerstag Stunde bei der Konkurrenz hätten. Aus Menschlichkeit habe er das Unternehmen gefördert. Wenn es glossiert werde, sehe er sich „in dieser Gesinnung zu allein und habe dann auch natürlich keine Lust, mich nach mehr als einer Seite hin zu exponieren.“77 73 Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 75. 74 Pauline Raphael an Christian Glöckner, 29.09.1985 (Privatbesitz). 75 Ebd. 76 Mitteilung von Dagmar Pieschacón-Raphael. 77 Raphael-NL.

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Ob David von anderer Seite dazu gedrängt oder ob es ihm selbst vielleicht zu heikel wurde, ist nicht bekannt. Raphael fand zumindest für einige Monate Ausweichräume. In größeren Abständen konnte er in der Wohnung des Vaters seines Schülers Carlernst Ortwein unterrichten.78 Auch die berufliche Tätigkeit in Meiningen war nicht komplikationslos, sodass Raphael gegenüber seiner Mutter meinte: „Hier in M. ist’s manchmal grauenhaft. Trotz vieler guter Freunde.“79

7 Raphael und die Reichsmusikkammer Um auf dem Gebiet der Musik beruflich tätig sein zu dürfen, musste Raphael Mitglied der seit Herbst 1933 bestehenden Reichsmusikkammer (RMK) sein, die zur Reichskulturkammer gehörte. Die Landesmusikerschaft Sachsen des Fachverbandes B in der RMK, Ortsmusikerschaft Leipzig, bescheinigte am 22. Juni 1935, dass Raphael „Mitglied der RMK [ist] und berechtigt gegen Entgelt öffentlich Musik auszuüben.“80 Raphael erhielt daraufhin wohl die undatierte vorläufige Mitgliedskarte der RMK, Nr. 00701, unterschrieben vom Reichsführer Richard Strauss. Auf dieser war noch Raphaels alte Leipziger Anschrift aufgeführt. Peter Raabe, der Strauss als Präsident der RMK ablöste, lehnte dagegen mit Entscheidung vom 22. August 1935 Raphaels Aufnahmeantrag ab. Raphael besitze „die nach der Reichskulturkammergesetzgebung erforderliche Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung nicht.“81 Damit verlor Raphael „mit sofortiger Wirkung das Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiete.“82 Raphael wandte sich an seinen Verleger Dr. Hellmuth von Hase vom Verlag Breitkopf & Härtel. Dieser erwiderte: „Obwohl nach den neuesten Massnahmen ähnliches zu erwarten stand, so wirkt das was nunmehr über Sie hereingebrochen ist doch geradezu nieder schmetternd.“ Er wolle vom Verlag aus ein Schreiben an Raabe sowie Durchschläge an Furtwängler und Abendroth senden. Dazu erbat er Informationen zur kirchenmusikalischen Tätigkeit von Raphaels Vater. Von Hase endete mit: Abb. 8: Mitgliedskarte der Reichsmusikkammer, „Ich möchte doch noch immer hoffen, dass unterschrieben von Richard Strauss, Christine Raphael Stiftung. irgend ein Ausweg gefunden wird. In jedem 78 Vgl. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 42. 79 Brief vom 14.04.1936, Raphael-NL. 80 Raphael-NL. 81 Raabe an Raphael, 22.08.1935, Raphael-NL. 82 Ebd.

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Fall muss Ihnen irgendwie geholfen werden.“ Das Abschicken des Briefs verzögerte sich, und von Hase ergänzte nachträglich: Es freut mich, dass inzwischen auch Dr. Furtwängler sich um die Angelegenheit gekümmert hat. […] Ein Sammelprotest von Persönlichkeiten des deutschen Musiklebens erscheint mir nicht ratsam zu sein, da er nach heutigen Begriffen nur zu leicht als „Meuterei“ aufgefasst werden könnte. Je mehr solche Persönlichkeiten sich aber einzeln zu Ihren Gunsten an die RMK wenden, desto wahrscheinlicher erscheint es mir, dass die RMK ihre Verfügung nochmals überprüft.83

Raphael bereitete ein Gesuch an den für die Beschwerde zuständigen Präsidenten der Reichskulturkammer, Reichsminister Joseph Goebbels, vor. In einem Entwurf vom 1. September 193584 bezeichnete er sich als „Kirchenkomponisten G. Raphael“. Er erwähnte, dass die RMK im Juni 1934 entschieden habe, dass er weiterhin als schaffender Komponist seine Tätigkeit in Deutschland ausüben dürfe. In den beim Rat der Stadt Leipzig geführten Personalakten befänden sich „ein zu meinen Gunsten von Vizepräsidenten der R. M. K.85 unterzeichneter Brief an den Rat der Stadt Leipzig, ein Gutachten des Thomaskantors Prof. Dr. Karl Straube und eine Eingabe meiner Schüler mit ca. 35 Unterschriften.“ Er habe sich als Komponist „stets im absolut nationalen Sinne betätigt“. Seine veröffentlichten Werke seien „seiner Zeit von der jüdisch-marxistischen Presse wegen ihrer kirchlichen und nationalen Haltung stark angegriffen worden.“ Er bat Goebbels, ihn „vor der vollständigen geistigen und materiellen Vernichtung zu bewahren, da ich nur in meinem deutschen Vaterlande schaffen und wirken kann.“ Den Entwurf beendete er mit: „In Ergebenheit und Hochschätzung“. In einem Entwurf vom Folgetag änderte er dies in: „Mit dem Ausdruck der grössten Hochachtung!“86 Der Präsident der RMK, Raabe, gestattete Raphael mit Schreiben vom 19. September 1935 „ausdrücklich, bis zur Erledigung Ihrer Angelegenheit Ihrer Berufstätigkeit nachzugehen.“87 Gegenüber Abendroth, an den Raphael sich gewandt hatte, äußerte Raabe, Raphael möge „jetzt ja nicht die Geduld verlieren.“88 Er werde tun, was in seiner Macht stehe. Abendroth meinte, Raabe werde ohne Zweifel nicht ein Mitwirken Raphaels im Kulturbund als Lösung ansehen. Dabei handelte es sich um eine jüdische Organisation, wobei staatlicherseits im August 1935 geregelt wurde, dass nur noch Mitglieder deren Veranstaltungen besuchen durften. Das nichtjüdische Publikum war damit ausgeschlossen. Raphael bezifferte die Zahl der Aufführungen von seinen Werken für den Zeitraum Herbst 1935 bis April 1936 auf 20–30, die alle vom RMK-Präsidenten genehmigt worden

83 Breitkopf & Härtel (Dr. Hase) an Raphael, 28.08.1935, Raphael-NL. 84 Raphael-NL. 85 Vizepräsident war damals Wilhelm Furtwängler. 86 Raphael-NL. 87 Raphael-NL. 88 Abendroth an Raphael, 27.09.1935, Raphael-NL.

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Abb. 9: Vorläufige ­Genehmigung zur Berufsausübung, Schreiben der RMK vom 19. September 1935, Christine Raphael Stiftung.

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seien.89 Raphael beklagte seine Situation. Zwar verwehrten ihm die Nürnberger Gesetze grundsätzlich nicht, an einem Privatinstitut eine Stellung zu erhalten. Allerdings, so Raphael: „Wer aber (nun kommt der Haken!) erst einmal heraus ist der kommt so leicht nicht wieder herein.“ Er wusste nicht, ob es, „besonders in dieser Zeit“, klug ist, die höchsten Instanzen anzurufen. Goebbels sei in Privataudienzen nicht zu erreichen. Göring empfange zwar und, da er – Raphael – Preuße sei, würde dies die Sache bedeutend erleichtern. „Was nützt mir aber ein glänzendes Zeugnis von Hermann, wenn Joseph dagegen ist?“ Raphael fürchtete, dass Goebbels sofort ablehne, wenn er Raphaels Namen noch einmal höre. Demgegenüber gebe es bei „Göring an seinen Theatern ‚Rearisierungs‘-Fälle. Er schützt viele, selbst Volljuden.“ Raabe müsse eine von Raphaels Sinfonien „einmal an neutralen Ort aufführen“. Wenn Raabe nicht den Anfang mache, werde sich kein anderer trauen. Raabe sprach am 5. Mai 1936 mit Goebbels über eine Aufnahme Raphaels in die RMK. Goebbels zeigte sich einverstanden. Benötigt werde aber ein Zeugnis der Partei über die politische Unbedenklichkeit. Raphael hatte Glück. Der Meininger Kreisleiter der NSDAP, Dr. Hermann Köhler, von der Kreisleitung Meiningen-Süd, bescheinigte am 14. Mai 1936: „Abgesehen davon, dass Herr Raphael nicht ganz arischer Abstammung ist, ist in politischer Hinsicht nichts Nachteiliges über ihn bekannt geworden.“90 Für Raphael wurde am 30. Juli 1936 ein vorläufiger Ausweis der Fachschaft III und IV (Komposition und Klavierlehrer) ausgestellt. Ausweislich eines Schreibens des Thüringer Kreisamtes Meiningen hatte Raphael aber seit 28. April 1936 Musikunterrichtsverbot, welches erst am 28. Juni 1937 zurückgezogen wurde.91 Der vorläufige Ausweis der RMK für Raphael mit der Nr. 14722 datiert auf den 3. November 1936.92 Unterzeichnet war er von Raabe. Die Bezeichnung „vorläufig“ hatte nichts mit der „nichtarischen“ Abstammung Raphaels zu tun, sondern erfolgte stets bei dieser Ausweisart (siehe Tafel 2).93 Nachdem Günter Raphael keine Klavierauszüge von Bachkantaten für den Verlag Breitkopf & Härtel mehr anfertigen konnte, unterrichtete Pauline Raphael auch Schüler in Themar, Reurieth und Hildburghausen für 2 Mark die Stunde. Wie sie später berichtete, hätten ihre Schüler jedoch nicht bei den Aufführungen der RMK mitwirken dürfen. Daher habe sie selber Abende in einer „berüchtigten Kneipe“ in der Anton-Ulrich-Straße organisiert.94

89 90 91 92

Raphael an Maria Raphael, 14.04.1936, Raphael-NL. Ebenso nachfolgende Zitate. Abschrift im Raphael-NL. Thüringisches Kreisamt Meiningen an Raphael, 28.06.1937, Raphael-NL. Kopie der Titelseite im Raphael-NL. Weshalb in einer „Liste der wieder aufgenommenen Nichtarier“ von der RMK vom 15.03.1937 zu Raphael steht, er sei am 09.03.1937 laut Entscheid der Reichskulturkammer wieder als Mitglied der RMK aufgenommen worden, erschließt sich nicht; vgl. zu der Liste: Goltz, „Ottomar Güntzels Rolle bei der Arisierung des Meininger Musiklebens“, (wie Anm. 14), S. 258. 93 Der Grund hierfür ist unklar. 94 Pauline Raphael an Christian Glöckner, 21.08.1985 (Privatbesitz).

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8 Die Meininger Schlosskonzerte Höhepunkt von Raphaels Wirken in Meiningen waren die Schlosskonzerte. Für diese stellte Prinz Ernst von Sachsen-Meiningen (1859–1941), Sohn des legendären „Theaterherzogs“ Georg II. (1826–1914), den Marmorsaal des Schlosses zur Verfügung. Zudem übernahm er das Protektorat. Prinz Ernst war ein sehr kunstinteressierter Maler. Das erste Konzert fand am 27. Juni 1935, Beginn 20.15 Uhr, statt. Anlässlich des kurz zurückliegenden 250. Geburtstages von Johann Sebastian Bach stand es unter dem Titel „Bach-Abend“. Ausführende waren Günter und Pauline Raphael. Das Meininger Tageblatt schrieb am nächsten Tag, Günter Raphael habe die Chromatische Fantasie und Fuge „klar und durchsichtig zu Gehör [gebracht] und bestätigte damit seinen Ruf als ausgezeichneten Pianisten. Nicht minder erwies sich Pauline Raphael mit dem Vortrag des Italienischen Konzertes als eine ausgezeichnete Bachspielerin.“ Das gesamte Konzert sei „von Künstlerhand zu höchster Vollendung gestaltet“ worden. Zu dem „sehr genußreichen Abend“ hätten sich „Freunde edelster Musik“ zahlreich eingefunden. In einer anderen Konzertkritik hieß es: Voraussetzung zu dem Gelingen des Abends war aber in der Hauptsache die Macht des musikalischen Temperaments über die „Reflexion“: blutvolles und echtes Musikantentum der beiden Künstler ließen Bach’sche Architektonik in ihrer zugehörigen, geradezu romantischen klanglichen Umwelt entstehen als Ausdruck eines Lebenswillens, der aus deutschem Blut und deutscher Landschaft und aus dem ewig Göttlichen hervorbrach. Bach ist deshalb ewig wie deutsches Blut und deutsche Landschaft. Dies zum Bewußtsein gebracht zu haben, ist der besondere Wert des Abends.95

Ein Jahr später, am 26. Juni 1936, erklangen im Schlosskonzert Werke Raphaels, Brahms’ und Regers.96 Mitwirkende waren das Ehepaar Raphael sowie Prof. Robert Reitz (Violine) und Prof. Walter Schulz (Cello) aus Weimar. Der Marmorsaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Das Meininger Tageblatt bewertete das Konzert als vollen Erfolg, als Ereignis für Meiningen. Allerdings sei die Dauer von zweieinhalb Stunden ohne Pause reichlich lang.97 In der Thüringer Tageszeitung hieß es, dass der mitten in höchster Produktivität stehende Günter Raphael auch nach dem geistigen Umbruch unserer Zeit und den daraus folgenden Umwertungen auf musikalischem Gebiet in den enger gezogenen Kreis musikschaffender deutscher Menschen einbezogen [ist]. Diese Tatsache wird noch dadurch erhärtet, daß die beiden Werke Raphaels in einer Zeit (1925) geschaffen worden sind, in der bereits

95 Zit. n. Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 59. Dort mit Angabe: GreinerPetter, „Raphaels Bach-Abend“ in: Meininger Stadtnachrichten vom 01.07.1935, wobei der wirkliche Titel der Zeitung unklar ist. 96 Raphaels Geigensonate op. 12 Nr. 2; Klaviertrio op. 11. Hoßfeld behauptet irrig, im Marmorsaal habe es ein Konzert Anfang 1936 und eines am 22.06.1936 gegeben, vgl. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 44. 97 Meininger Tageblatt, 29.06.1936.

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die Zersetzung auf musikalischem Gebiet in vollem Gange und Günter Raphael für die Exponenten jener Zeit der Zersetzung undiskutabel war.98

Der Städtische Musikbeauftragte von Meiningen, Ottomar Güntzel, schrieb in der Oktoberausgabe der Zeitschrift für Musik über die verflossene Konzertzeit in Meiningen, dass der Klavierabend Raphaels „der Erwähnung“99 verdiene. Am 30. September 1936 fragte Güntzel allerdings bei dem Landeskonservatorium in Leipzig nach, wann und aus welchem Grund Raphael dort ausgeschieden war. Ihm wurde mitgeteilt, dass Raphael mit Schluss des Sommersemesters 1934 aus dem Lehrkörper ausgeschieden sei: „Für das Ausscheiden Herrn Raphaels war der Arierparagraph maßgebend.“ 100 Unklar ist der Auslöser für Güntzels Erkundigung. Zum Zeitpunkt des Schreibens des Zeitschriftenbeitrags wird er sicherlich noch keinen Zweifel hinsichtlich Raphaels Abstammung gehabt haben. Prinz Ernst unterstützte nicht nur Raphaels Konzertveranstaltungen, sondern förderte auch eine Schülerin Raphaels, die im Jahr 1921 geborene Waltraud Krieg. Als er Raphael zum neuen Jahr 1937 wünschte, dass ihm „ein freies, von keinen Schikanen behindertes Schaffen und Wirken in Ihrer Kunst möge beschieden sein“,101 erwähnte er, dass Krieg ihn um ein Stipendium für ein Studium am Berliner Konservatorium gebeten habe. Seine finanziellen Verhältnisse hätten sich jedoch sehr ungünstig verändert, sodass er ihr nur 350 Mark jährlich anbieten könne. Das Studium musste sie dann jedoch wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ ihres Vaters abbrechen.102 Am 26. April 1937 gab Günter Raphael einen Kompositionsabend in München. Für den 22. Juni 1937 plante er wiederum ein Konzert im Meininger Schloss unter Mitwirkung der gleichen Künstler wie im Vorjahr. Erklingen sollte „Heitere Klassische Musik“ mit Werken von Haydn, Mozart und Beethoven. Diesmal kam es aber zu einem Konflikt. Hauptbeteiligte waren auf der einen Seite Günter Raphael und sein Rechtsbeistand Rechtsanwalt und Notar Dr. Karl Meng. Auf der Gegenseite standen der Städtische Musikbeauftragte Güntzel und der Präsident der Reichsmusikkammer Raabe. Güntzel sprach am 2. Juni 1937 mit Raabe u. a. über das Konzertvorhaben. Anschließend teilte Güntzel Raphael mündlich mit, dass Raabe von einem öffentlichen Auftreten abrate, „um etwaigen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.“103 Raphael machte sodann gegenüber Raabe geltend, dass die Bedenken Güntzels nicht gerechtfertigt seien. Der mit ihm befreundete Rechtsanwalt Dr. Meng habe mit dem Bürgermeister und stellvertretenden  98 Thüringer Tageszeitung, 29.06.1936.  99 ZfM 1936, S. 1249. 100 Schreiben vom 02.10.1936, Meininger Museen, Sammlung Musikgeschichte/Max-Reger-Archiv (MM, SlgMuge/MRA), Br 700,4. 101 Prinz Ernst an Raphael, 01.01.1937, Raphael-NL. 102 Waltraud Krieg kam in sowjetische Gefangenschaft und studierte anschließend erneut. Sie kam 1947 als Opernsängerin an das Deutsche Nationaltheater Weimar, später war sie in Meiningen, Trier und Saarbrücken verpflichtet, siehe Meininger Schülerrundbriefe, Nr. XVI, S. 7 f., sowie Nr. 60, S. 33. 103 Vgl. Raphael an Raabe, 04.06.1937, Raphael-NL.

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Kreisleiter Zierdt gesprochen. Zierdt habe in etwa geäußert: „Da Herr Raphael die Mitgliedskarte besitzt, hat er das Recht das beabsichtigte Konzert öffentlich abzuhalten. Für ein Einschreiten meinerseits liegt keine Veranlassung vor.“104 Raphael meinte gegenüber Raabe zudem, dass es sich „um ein Konzert privaten Charakters (mit Einladungskarten) handelt.“105 Er denke daher, der Musikbeauftragte habe Raabe über „meine Person nicht richtig informiert“. Raphael weiter: Sie wissen, sehr verehrter Herr Doktor, dass ich nichts unternehme, ohne Sie davon vorher in Kenntnis zu setzen. Ich weiss, welch grosse Schwierigkeiten Sie mit der Regelung meiner Angelegenheit hatten. […] Andererseits ist es fast unmöglich, auf dieser Basis mein ferneres Leben weiter zu leben. Bedauerlicherweise geschehen in Meiningen Dinge, die sowohl meine Frau wie mich dauernd schädigen und uns auch die letzten Möglichkeiten, Unterricht zu erteilen, nehmen. Es gibt gewisse Elemente, denen gegenüber wir völlig machtlos sind und denen gegenüber wir einen Schutz von seiten der RMK haben müssen. Ich habe nicht die Absicht, mich im deutschen Musikleben vorzudrängen, oder mich irgendwie sonst breit zu machen. Als schöpferischer Musiker aber ist der jetzige Zustand völlig unhaltbar für mich. Dazu kommt noch, dass die Beziehungen zwischen meinem Verleger Breitkopf u. Härtel und mir unter den augenblicklichen Verhältnissen stark gelitten haben und ich infolgedessen nicht mehr in der Lage bin, meine Werke zu veröffentlichen. Die wenigen Erfolge in einigen Städten Deutschlands, die mir im letzten Winter vergönnt waren, habe ich Ihnen allein zu verdanken. Denken Sie nicht, dass ich nur dazu da bin, Sie in Konflikte zu bringen, oder ihnen irgendwelche Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ich muss aber jetzt klar sehen, auch für die Zukunft, zumal im nächsten Winter auch grössere Werke von mir in Deutschland zur Uraufführung gelangen sollen. Lassen Sie mich bitte wissen, ob ich den Schutz der RMK weiterhin geniessen kann.106

Raphael beabsichtigte nicht, das Konzert abzusagen. Erst am 15. Juni 1937, eine Woche vor dem Konzert, erfuhr Güntzel davon, als ihm ein Dritter eine Einladung zuspielte. Güntzel äußerte sofort sein „größtes Erstaunen“ gegenüber Raphael und schrieb: Ich bedauere aufs tiefste, daß nach unserer ausgiebigen Unterhaltung gelegentlich Ihres letzten Besuches bei mir in Ihrer Haltung und Gesinnung keine Änderung eingetreten ist. Sie denken wohl nicht daran, in welch eine außerordentlich unangenehme Lage Sie mich bringen und nicht zuletzt auch den Präsidenten der RMK. Wenn Ihre Haltung unangenehme Folgen für Sie haben sollte, dann wollen Sie die Schuld ausschließlich bei sich selber suchen.107

Güntzel berichtete an Raabe, dass er in dessen Auftrag Raphael „in sehr ruhigem und freundlichen Ton“ und taktvoller Form mitgeteilt habe, es sei Raabes „Wunsch, das öffentliche Auftreten und Musizieren einzustellen, andernfalls er mit der Entziehung der Mitgliedskarte 104 Meng an Raphael, 05.06.1937, Raphael-NL. 105 Raphael an Raabe, 04.06.1937, Raphael-NL. 106 Ebd. 107 Güntzel an Raphael, 15.06.1937, Raphael-NL.

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Abb. 10: Schreiben des Städtischen Musikbeauftragten Ottomar Güntzel an Günter Raphael vom 15. Juni 1937, Christine Raphael Stiftung.

der RMK rechnen müsse.“108 Raphael sei anfänglich bestürzt gewesen, schien zum Schluss der wohl gut einstündigen Unterhaltung aber eingesehen zu haben, dass die RMK und insbesondere Raabe „es nur gut mit ihm meinen und sein Bestes im Auge haben“. Raphael sei ohne festen Entschluss gegangen und habe in den nächsten Tagen Bescheid geben wollen, was nicht geschehen sei. Güntzel fragte angesichts der Einladungskarte: „Was soll ich als Städt. Musikbeauftragter tun? Einesteils pocht Herr R. auf die Rechte seiner Mitgliedschaft in der RMK, andernteils wird mir die politische Leitung auf die Bude rücken.“ Er bat daher Raabe um „klaren Bescheid“, bevor „das ‚Hauskonzert‘ zur Tat wird“. Raphael wiederum betonte gegenüber Güntzel, „vollständig korrekt und gesetzmässig gehandelt“109 zu haben. Er verwies auf die Ausnahmeregelung durch Goebbels und die Aufschrift auf der Mitgliedskarte, wonach er berechtigt sei, eine musikalische Tätigkeit öffentlich auszuüben. Zudem habe er Rücksicht auf Güntzel genommen, da er dem Konzert einen privaten Charakter gegeben habe. Aus einem Artikel der Thüringer Tageszeitung zitierend, brachte Raphael überdies die Bestimmungen für einen Städtischen Musikbeauftragten vor. 108 Abschrift Güntzel an Raabe, 15.06.1937, MM, SlgMuge/MRA, Br 700,7. Auch nachfolgende Zitate. 109 Raphael an Güntzel, 16.06.1937, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 8.

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Dieser sei „verantwortlich, dass die Konzerte sich in dem örtlichen Konzertgesamtplan eingliedern“. Falls dies nach Termin oder Programm nicht der Fall sei, könne er das Konzert beanstanden. Auf Antrag von ihm könne nötigenfalls die RMK, Reichsfachschaft für Konzertwesen, ein Verbot aussprechen. Raphael endete mit der Grußformel „Heil Hitler!“. Mit diesem Schreiben verschärfte sich – wohl nicht überraschend – die Situation. ­Güntzel konnte die Belehrung schwerlich auf sich sitzen lassen. Auch war für ihn aufgrund der Formulierungen ersichtlich, dass das Schreiben nicht von Raphael selbst verfasst war, sondern von Rechtsanwalt Meng. Güntzel verwahrte sich seinerseits gegenüber Raphael gegen den – tatsächlich nicht erhobenen – Vorwurf, er habe das Konzert beanstandet oder dessen Verbot bei der RMK beantragt. Er bedauerte, dass Raphael aus dem letzten Gespräch „nicht die Lehre gezogen haben, die für Sie die einzig richtige gewesen wäre.“110 Güntzel meinte, selbst loyal und wohlmeinend gehandelt zu haben. Raphael argumentiere „mit allerlei juristischen Spitzfindigkeiten“ und gehe der Kernfrage aus dem Weg. Nicht ganz zu Unrecht widersprach Güntzel dem privaten Charakter des Konzerts, da es auf der Einladungskarte hieß: „Karten an der Abendkasse: 1,50, Schüler 0,75 Kassenöffnung: 19.30 Uhr“. Zudem war der Hinweis enthalten: „Freunde und Bekannte willkommen.“111 Güntzel teilte ferner mit, er habe bei Bürgermeister Zierdt nachgefragt und dieser habe „lediglich als Chef der hiesigen Polizei“112 keine Veranlassung zum Einschreiten gehabt. Als derzeitiger Stellvertreter des Kreisleiters lehne er die Veranstaltung selbstverständlich ab. Meng nahm erneut Kontakt zu Zierdt auf und merkte dabei an, dass Güntzel ursprünglich nur empfohlen habe, das Konzert im privaten Rahmen gegen Erhebung eines Unkostenbeitrags zu veranstalten. Dies dürfte zutreffend sein, da Güntzel selbst gegenüber Raabe den Begriff „Hauskonzert“ verwendete, es aufgrund des Inhalts der Einladungskarte aber nicht als solches ansah. Meng, unter der Bemerkung, er wolle „in dieser Sache streng korrekt als Rechtsanwalt verfahren“, fragte schriftlich bei Zierdt nach, ob dieser das im Marmorsaal des Schlosses – „also in einem Privatraum“ – vorgesehene Konzert als Stellvertreter des Kreisleiters untersage.113 Zierdt antwortete Meng telefonisch: „Ich genehmige“.114 Meng verwahrte sich schriftlich gegenüber Güntzel, diesen persönlich angegriffen zu haben. Raphael habe auch nicht „mit allerlei juristischen Spitzfindigkeiten“ argumentiert. Mit diesem Vorwurf habe Güntzel offenbar ihn, Meng, treffen wollen. Er sei seit vielen Jahren mit den Familien Jessen-Heller befreundet und in der Sache habe er „gar kein geschäftliches Interesse, sondern ein rein menschliches.“115 Raabe teilte Raphael mit Schreiben vom 17. Juni 1937 mit:116 „Ich will Ihr Konzert am 22. Juni nicht untersagen, wofür mir, wie Ihr Anwalt Sie ganz richtig belehrt hat, die Rechtsgrundlage auch fehlen würde.“ Er habe Güntzel seinerzeit gebeten, 110 Güntzel an Raphael, 16.06.1937, Raphael-NL. 111 Einladungskarte, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 6. 112 Güntzel an Raphael, 16.06.1937, Raphael-NL. 113 Meng an Zierdt, 17.06.1937, Raphael-NL. 114 Ebd. 115 Meng an Güntzel, 17.06.1937, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 12. 116 Raphael-NL.

134 Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es in Ihrem eigenen Interesse ist, wenn Sie – so wie die Dinge nun einmal liegen – sich in den nächsten Jahren einer etwas größeren Zurückhaltung befleißigen. Es ist nicht ganz leicht gewesen, die Ausnahme für Sie durchzusetzen und Sie gefährden Ihre Stellung unnützerweise, wenn Sie – auf Ihr Recht pochend – in der Öffentlichkeit erscheinen. Es wird Sie niemand daran hindern, Ihre Kompositionen zu veröffentlichen und Unterricht zu geben, aber Ihr und Ihrer Gattin Auftreten als Kammermusikspieler erregt eben, wie Sie gesehen haben, Anstoß und ich kann Ihnen nur raten, die Veranlassung zu Zwistigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden.

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Abb. 11: Pauline, Dagmar und Günter Raphael vor der Stadtkirche in Meiningen im Jahr 1937, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

Wenn den Minister Klagen erreichten, sei mit Rückgängigmachung der Ausnahmeerlaubnis zu rechnen. Raabe war schlecht informiert, da zum Zeitpunkt seines Schreibens das Musikunterrichtsverbot Raphaels noch bestand. Güntzel, der eine Abschrift erhalten hatte, dankte Raabe „für die rasche Erledigung des Falles Raphael“.117 Raphael habe versucht, „mit Hilfe eines Rechtsanwalts mich ins Unrecht zu versetzen […], damit er ‚sein Recht‘ mit umsogrößerem Nachdruck und mit aller Rücksichtslosigkeit durchdrücken und verfolgen konnte. (Shylock-Erscheinung!).“ Er hoffe, dass Raphael nun Ruhe geben werde „und weitere Störungen vermieden werden, die dem Gedeihen des Musiklebens einer Stadt bestimmt nicht förderlich sind.“ Güntzel täuschte sich, das Konzert fand statt. Trotz des erbitterten Streits im Vorfeld verkannte Raphael die Lage völlig. Er teilte Raabe mit Brief vom 25. Juni 1937118 mit, „dass das vorgestern stattgefundene Schlosskonzert ein voller Erfolg für alle Mitwirkenden gewesen ist.“ Wie in den beiden Jahren zuvor, sei der Marmorsaal „völlig ausverkauft“ gewesen. Und weiter: „Das Konzert verlief ohne jegliche Störung. Die Schlosskonzerte, die mir seit meinem Hiersein S. H., der Prinz Ernst von S.-M. als alleinigem Veranstalter übertragen hat, bilden für Meiningen ein gesellschaftliches Ereignis.“ Anders als in den Vorjahren habe dieses privaten Charakter getragen, ohne Zeitungsbesprechungen. Erkennbar war das Schreiben ohne anwaltlichen Beistand geschrieben. Wenn Raphael hervorhebt, er sei „alleiniger Veranstalter“ der Schlosskonzerte, das Konzert sei „völlig ausverkauft“ und ein „gesellschaftliches Ereignis“, erschließt sich nicht, worin der private Charakter liegen soll. Aber Raphael beließ es nicht dabei, sondern fuhr fort: „Sie sehen, hochverehrter Herr Präsident, welch regen Anteil die Meininger Bevölkerung an meinem Auftreten nimmt und der überaus starke Besuch 117 Güntzel an Raabe, 20.06.1937, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 16. 118 Abschrift Raphael an Raabe, 25.06.1937, Raphael-NL.

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dieser Veranstaltung zeigt Ihnen die Gesinnung der Meininger Bürger.“ Noch dazu verwies Raphael auf seinen Kompositionsabend, der vor einigen Monaten stattgefunden hatte und „der ebenfalls sehr erfolgreich verlief und von der Münchner Presse sehr beachtet wurde.“ Weshalb Raphael die Situation so falsch einschätzen konnte, ist unverständlich. Raabes deutliche Antwort folgte über einen Monat später: Ich danke Ihnen für Ihren Brief vom 25. Juni. Es scheint mir, daß Sie Ihre Lage immer noch nicht richtig beurteilen. Sie sind nun einmal Halbjude und es ist im Dritten Reich nicht erwünscht, dass von einem solchen ‚gesellschaftliche Ereignisse‘ organisiert werden. Wenn Sie sich auf den regen Anteil der Meininger Bevölkerung berufen, so kann ich Ihnen dagegen sagen, daß aus Meiningen auch sehr viele Stimmen zu mir gelangen, die durchaus gegen Sie sind. Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß, wenn Sie weiter in so auffallender Weise sich in der Öffentlichkeit betätigen, damit zu rechnen ist, daß die für Sie erwirkte Ausnahmeerlaubnis rückgängig gemacht wird.119

Güntzel zeigte sich „außerordentlich dankbar“ für Raabes Reaktion. Er selbst sah in dem Treiben [Raphaels] eine Gefährdung der Aufbauarbeit unseres Städtischen Musiklebens insofern, als er gerade diese Kreise, die den Veranstaltungen unserer Landeskapelle aus irgendwelchen Gründen fern bleiben, durch persönliche Besuche und sonstige Beeinflussung für seine Belange zu interessieren und zu gewinnen versucht. Dieses Gebahren wirkt zersplitternd und zersetzend auf unsere musikalische Aufbauarbeit, die ich in der verflossenen Saison mit der Gründung einer ‚KonzertGemeinde‘ begonnen habe.120

Güntzel empfinde zudem fast, „als ob Herr R. auch meine Person seinem Freundeskreis gegenüber nicht immer im besten Licht erscheinen ließe. Sollte ich nach dieser Richtung Positives feststellen können, so werde ich ohne Bedenken fest zufassen. Ich hoffe, damit in Ihrem Sinne zu handeln.“ Nicht alle musikalischen Veranstaltungen in Meiningen waren gut besucht. So kündigte die Thüringer Tageszeitung am 28. August 1937 ein Promenadenkonzert des NSKKMusikzugs121 im Schlossgarten an und schrieb: Es wäre wünschenswert, wenn die Meininger Bevölkerung an den laufenden musikalischen Wochenenddarbietungen stärkeren Anteil nehmen würde wie bisher. Im Angedenken an die großen Kunstförderer unserer Heimatstadt sollte sich jeder Meininger Volksgenosse verpflichtet fühlen, die Kunstund Musikpflege durch persönliche Anteilnahme tatkräftig zu unterstützen.

Pikanterweise stand auf dem Programm auch „Der Rose Hochzeitszug, Charakterstück, v. Leon Jessel“. Dem NSKK-Musikzug und Güntzel war wohl entgangen, dass Jessel ein jüdischer Operettenkomponist war. 119 Raabe an Raphael, 04.08.1937, Raphael-NL. 120 Güntzel an Raabe, 09.08.1937, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 21. 121 NSKK = Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps.

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Güntzels Bemerkung „Shylock-Erscheinung“ über Raphaels Verhalten kann als Anzeichen für eine antisemitische Einstellung gewertet werden. Als einzige Beurteilungsgrundlage ist sie jedoch nicht hinreichend.

9 Aufführung von Raphaels Werken Raphael komponierte eifrig. Im Dezember 1934 schuf er eine Orchesterpartitur seiner Tanzsuite für Orchester und über den Jahreswechsel entstanden 10 Orgelchoräle, die z. T. drei Jahre später in Chemnitz und Leipzig aufgeführt wurden. Im März 1935 beendete er die Skizze zu seiner – nach eigener Zählung – 4. Sinfonie. Raphael fand in den ersten Jahren der NS-Zeit noch Erwähnung in Musikzeitschriften, wenn auch nicht in dem Umfang wie zuvor. Die Zeitschrift für Musik schrieb über die Aufführung eines Raphael-Werkes in Weimar durch Hans Bassermann und W. Schulz, das Stück sei „undankbar“, „fast unspielbar“. Pauline Jessen habe dagegen „mit Bravour“ Klavierstücke ihres späteren Ehemanns gespielt. Beanstandet wurde, dass der tschechische Violinist Váša Příhoda nach Weimar geholt wurde, denn: „Unsere Zeit verlangt gebieterisch: der Deutsche Konzertsaal dem Deutschen Künstler! Später, wenn es uns wieder einmal besser gehen sollte, dann sei er auch dem Ausländer geöffnet.“122 Im Dezember 1933 wurde auf eine Singreise der Kantorei des Landeskonservatoriums Leipzig unter Kurt Thomas in die baltischen Länder und Finnland hingewiesen, bei der Werke u. a. von Max Reger, Johann Nepomuk David und Raphael erklangen.123 Die Aufführungen von Raphaels Divertimento (op. 33) in Breslau („farbenfrohes, inhaltsvolles Stück“124) und der Variationen über eine schottische Volksweise in Hamburg im Jahr 1934 und Leipzig im Jahr 1935 wurden kurz bewertet.125 Der Ausschuss für Programmberatung in der RMK teilte am 9. August 1936 mit, dass „gegen die Aufführung von Werken von Günther Raphael keine Bedenken erhoben werden.“ Darauf wurde in den Kirchenmusikalischen Mitteilungen126 hingewiesen. Schwierig war es, Dirigenten für Aufführungen zu gewinnen. Der Kölner Generalmusikdirektor Prof. Eugen Papst lehnte eine Aufführung ab. Er empfahl, „Herrn Prof. Dr. Raabe für Ihre Werke zu interessieren. Wenn von solcher Seite aus eines Ihrer Werke wieder aufgeführt wird, so wären meines Erachtens alle heute noch bestehenden Bedenken zerstreut und den übrigen Dirigenten die Aufführungsmöglichkeit Ihrer Werke wieder gegeben.“127 122 ZfM, 1933, S. 508. 123 Die Musik, Dezember 1933, S. 238. Im Januar-Heft von 1934, S. 298, wurde auf die Aufführung von Werken von A. Mendelssohn, Raphael und Thomas durch dieselbe Kantorei in Darmstadt hingewiesen. In der ZfM wurde auf Aufführungen von Raphaels Werken in Leipzig bzw. Tübingen hingewiesen, ZfM, März 1933, S. 243, April 1933, S. 388. 124 Die Musik, März 1934, S. 457. Es war das letzte Konzert der Schlesischen Philharmonie vor Rücktritt des Dirigenten Prof. Dr. Georg Dohrn, der u. a. Werke von Raphael „mit begeisterter Hingabe“ betreut habe. 125 Die Musik, Juni 1934, S. 692; April 1935, S. 530. 126 Ausgabe Nr. 33/34, September/Oktober 1936. 127 Papst an Raphael, 10.06.1937, Raphael-NL.

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Der mit Raphaels befreundete Hamburger Generalmusikdirektor Eugen Jochum, den Raphael zuletzt im Sommer 1936 getroffen hatte, stand der Aufführung eines Werks von Raphael dagegen sehr positiv gegenüber.128 Im Rathaussaal von Dortmund kam es am 22. November 1937 im Rahmen der Städtischen Kammerkonzerte zu einer Aufführung von Raphaels Variationen über eine schottische Volksweise. In der Presse erschienen Ankündigungsanzeigen.129 Die Westfälische Landeszeitung schrieb drei Tage vor dem Konzert: „Von den zeitgenössischen Komponisten, deren Werke im Kammerkonzert […] vertreten sind, gehört Günter Raphael zu den bekanntesten.“ Erwähnt wurde, dass er „Sohn des Organisten und Chordirigenten Georg Raphael“ ist. Dirigent war Wilhelm Sieben. Ob diesem der „nichtarische“ Hintergrund Raphaels bekannt war, ist unklar. Die Konzertkritik fiel für Raphael weniger gut aus. Ihm wurde zwar bei der Benutzung erprobter Mittel und Wege „außerordentliches Wissen und Können in der Behandlung der Instrumentation und Satzweise, eine hervorragende Technik in der Durchführung und Ausarbeitung des Thematischen in der Durchlebung des Satzes durch Mannigfaltigkeit der Einfälle“130 zugestanden. Als Ganzes hinterlasse das Werk „den Eindruck eines gewiegten Könners, der seinen Hörern im bunten Wechsel des Partiturbildes immer Interessantes bietet – vorausgesetzt, daß er sich dafür interessiert. Das Interesse wird aber immer ein artistisches sein müssen.“ Raphaels Werk bekenne sich „zu einer älteren ästhetischen Kunstauffassung“, für die das Thema nur kompositorisches Objekt sei, mit dem der Komponist willkürlich verfahre. Bei jeder anderen Melodie würde er „zu einem in der Struktur und Gesamtwirkung gleichen Resultat gekommen sein.“131 Trotz der Presseöffentlichkeit dauerte es fast neun Monate, bis die Hauptstelle Musik von der Aufführung des Raphael Werks erfuhr. Sie wandte sich an den Gauschulungsleiter Westfalen-Süd der NSDAP: Da die Tatsache der jüdischen Abstammung Raphaels in Musikerkreisen allgemein bekannt ist, bitten wir Sie nachzuprüfen, ob die Aufführung des Werkes durch Sieben auf eine entsprechende weltanschauliche Haltung zurückgeht oder ob es ein bedauerliches Versehen gewesen ist. Gegebenenfalls kann Sieben wohl von Ihnen einen entsprechenden Hinweis erhalten.132

In Flensburg dirigierte Günter Raphael die bereits erwähnten Variationen über eine schottische Volksweise, was die Zeitschrift für Musik im März 1938 sogar meldete.133 Ungeachtet der Querelen im Jahr 1937 wollte Raphael auch 1938 ein Meininger Schlosskonzert durchführen. Er wandte sich an den Sohn von Prinz Ernst, Ralf, und fragte, ob dieser mitwirken wolle. Prinz Ernst bat Raphael jedoch, von dem Wunsch Abstand zu neh128 Eugen und Maria Jochum an Raphael, 23.02.1937, Raphael-NL. 129 Westfälische Landeszeitung, 14.11.1937, 22.11.1937. 130 Dortmunder Zeitung, Abendausgabe, 23.11.1937. 131 Ebd. 132 Hauptstelle Musik an Gauleitung Westfalen-Süd, 19.08.1938, Bundesarchiv Berlin, NS 15/153. 133 ZfM, März 1938, S. 262.

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Abb. 12: Eintragung des Ehepaars Raphael im Gästebuch der Familie Beck, Pfingsten 1938, Privatbesitz.

men. Nachdem im Vorjahr „von Seiten der Partei ein solches Spektakel erhoben“ wurde, habe er sich nach dem Grund erkundigt. Er habe erfahren, dass Raabe Raphael schriftlich geraten habe, „von öffentlichen Konzerten abzusehen, weil öffentliches Auftreten für Sie sehr unangenehme Folgen haben würde“. Prinz Ernst meinte: Weder der Umstand, daß ich Ihnen den Saal zur Verfügung stellte, was ich von vorne herein ja gern thun würde, noch die Mitwirkung meines Sohnes würden Sie, muß ich nach dem Gehörten annehmen, vor großen Unannehmlichkeiten bewahren. Ich kann Ihnen rebus sic stantibus den Saal im Schloße nicht geben.134

Dagegen war es Raphael möglich, in Bad Liebenstein zu konzertieren. Zusammen mit seiner Frau, Prof. Schulz (Cello) und der Sängerin Gertraude Fial (Sopran) trat er am 29. August 1938 im Musikzimmer des Palais Weimar auf. Das Konzert wurde in der Zeitung angekündigt und besprochen.135 Als eigenes Werk spielte Raphael mit seiner Frau Romantische Tanzbilder, zehn vierhändige Walzer. Güntzel erfuhr erst nachträglich davon und wandte sich als Kreismusikbeauftragter am 14. Oktober 1938 an die Bad Liebenstein Aktiengesellschaft. Diese antwortete ihm: „Der Gedanke, dass der Pianist Raphael Jude oder jüdischer Mischling ist, kam uns gar nicht, weil er stets in seinen Zuschriften ‚Heil Hitler‘ schrieb. Der Vorfall wird aber für uns Anlass sein, künftig noch vorsichtiger wie bisher in ähnlichen Fällen vorzugehen.“136 134 Prinz Ernst an Raphael, 26.03.1938, Raphael-NL. 135 Stammgast vom 27.08.1938 und 30.08.1938. Bereits am 22.06.1937 ist Raphael nach eigenen Angaben in Bad Liebenstein aufgetreten, Entwurf Schreiben Raphael an RMK, 21.02.1939, Raphael-NL. 136 Bad Liebenstein Aktiengesellschaft an Güntzel, 18.10.1938, MM, SlgMuge/MRA, Br 700.

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Am 24. September 1938 erklang in der St.-Johannis-Abendmusik in Saalfeld ein Orgelwerk Raphaels (III Präludium und Fuge G-dur op. 22) – in seiner Anwesenheit. Auch dieses wurde in der örtlichen Zeitung angekündigt. Dabei wurde Raphael als „einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten“ vorgestellt. Raphael sei Kompositionslehrer am Landeskonservatorium und Kirchenmusikalischen Institut Leipzig und lebe „in der Meininger Abgeschiedenheit ganz dem Schaffen“.137 In der Zeitungskritik wurde der Kantor Hanft für die Darbietung gelobt. Wünschenswert sei, wenn das Werk bald einmal wieder zur Aufführung komme – „vor hoffentlich viel mehr Zuhörern“.138 Eugen Jochum plante für den 31. Oktober 1938 die Uraufführung von Raphaels Smetana-Suite in Hamburg. Vorab bat er Raphael um Übersendung der Abschrift eines Briefs Raabes über die Zugehörigkeit zur RMK.139 Diese benötige er für den Kunst-Dezernenten. Vor Absenden des Briefs erfuhr Jochum von einem Kritiker, dass die Zeitschrift Die Musik, Organ des Amtes für Kunstpflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP, in der aktuellen Juni-Ausgabe das „Erwähnen des Juden G. Raphael“ in einer Buchveröffentlichung über das Vierhändigspielen als „instinktlos“ bezeichnete.140 Jochum betonte aufgrund dieser Schwierigkeit die Dringlichkeit der Übersendung des Raabe-Briefs. Nach der Aufführung in Hamburg hieß es in der Zeitschrift Die Musik: In letzter Zeit ist der Komponist Günter R a p h a e l an mehreren Stellen wieder in den Konzertprogrammen aufgetaucht, so in Dortmund unter Sieben und soeben in einem Konzert des Hamburgischen Staatsorchesters unter Jochum. Günter Raphael ist H a l b j u d e und hat als solcher keinen Platz im deutschen Musikleben. Es ist bedauerlich, daß es auch angesichts eines längst geklärten Falles immer von neuem notwendig wird, darauf zu verweisen. Noch weniger verständlich ist allerdings der Eifer des Verlages Breitkopf & Härtel, der infolge einer Selbstanzeige Raphaels in den Programmblättern der Philharmonischen Konzerte in Hamburg im Herbst 1937 noch einen Auftrag an Raphael erteilt hat!141

Unauffälliger war die Aufführung einer Bühnenmusik Raphaels zu dem Stück Thron zwischen Erdteilen in Meiningen, da diese nach außen als Werk des Konzertmeisters Rudolf Bub erschien. Die Thüringer Tageszeitung bezeichnete die Musik als „schön“.142

137 Saalfelder Kreisblatt, 24.09.1938. 138 Ebd., 26.09.1938. 139 Jochum an Raphael, 23.06.1938, Raphael-NL. 140 Die Musik, Juni 1938, S. 631 f. Besprechung von Paul Egert zum Buch: Karl Ganzer und Ludwig Kusche, Vierhändig. Ein Führer für Freunde des Vierhändigspiels und des Spiels auf zwei Klavieren, München 1937. 141 Die Musik, H. 2, November 1938, S. 141. 142 Thüringer Tageszeitung, 14.01.1939. Raphael soll zudem heimlich die Bühnenmusik zum Schauspiel Das Frankenberger Würfelspiel und einem weiteren Stück für Bub geschrieben haben, vgl. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 46.

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10 Raphael und das Berufsverbot 10.1 Verhängung des Berufsverbots Mit Schreiben vom 18. Februar 1939 wurde Raphael durch den Präsidenten der RMK mitgeteilt, „dass der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Ihr weiteres Auftreten bzw. Spielen mit sofortiger Wirkung verbietet. Die Ihnen unter dem 9. März 1937 erteilte Sondergenehmigung ist somit aufgehoben.“143 Raphael sollte die – ihm allerdings nicht bekannte – Bescheinigung zurücksenden. Die Spekulation, Raabe könnte gegenüber Raphael auf eine Mitteilung der Sondergenehmigung verzichtet haben, weil er „der kleinen Geister vom Schlage Gerigks und Güntzels über-

Abb. 13: Schreiben der Reichsmusikkammer an Günter Raphael vom 18. Februar 1939, Christine Raphael Stiftung.

143 Raphael-NL.

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drüssig“144 gewesen sei, erschließt sich nicht. Das erste Gespräch zwischen Raabe und Güntzel im Hinblick auf Raphaels Konzertvorhaben fand erst am 2. Juni 1937 statt, also deutlich nach der genannten Sondergenehmigung. Raphael wandte sich an die RMK und wies darauf hin, dass er seit Wiederaufnahme in die RMK nur fünf Konzerte gegeben habe. Die Aufführung seiner Werke seien, soweit ihm bekannt, durch den Präsidenten der RMK genehmigt gewesen. Raphael führt als Orte, in denen Aufführungen größeren Stils erfolgt seien, Leipzig, Weimar, Zwickau, Dortmund, Hamburg und Dresden an. Die Erfolge, die er zum Teil mit seinen Werken errungen habe, hätten „überall jegliches Misstrauen u. jeglichen Argwohn über meine Person zerstreut.“145 Er habe „in der Stille weitergearbeitet und bin im Übrigen meiner Unterrichtstätigkeit nachgegangen.“ Er bat daher um ein persönliches Gespräch mit dem Präsidenten der RMK. Eine Antwort blieb aus. Stattdessen verlangte die Kreismusikerschaft Meiningen die unverzügliche Abgabe der Sondergenehmigung. Als dies nicht erfolgte, bat der Landesleiter für Musik die Kreismusikerschaft Meiningen mit Schreiben vom 6. April 1939 um sofortige Einziehung von Raphaels Berufsausweis.146 Raphael verweigerte auch dies und wandte sich erneut an den Präsidenten der RMK. Im Schreiben der RMK vom 18. Februar 1939 seien weder die Einziehung des Ausweises noch ein Verbot seiner pädagogischen Tätigkeit erwähnt worden.147 Er hielt zudem die Kreismusikerschaft für nicht zuständig, da der Berufsausweis die Unterschrift des Präsidenten der RMK trage. Der Kreismusikerschaftsleiter Wenzel setzte Raphael eine Frist und meinte, Raphaels unbeantwortetes Schreiben an den Präsidenten der RMK vom 24. Februar 1939 dürfte „auch fernerhin unbeantwortet bleiben“148. Er wisse nicht, ob in dem Ausweis nur der Vermerk „Fachschaft IV“ gestrichen werden solle. Raphael fragte beim RMK-Präsidenten nach, ob er ohne dessen Entscheidung verpflichtet sei, den Berufsausweis zurückzugeben. Zudem bat er um Mitteilung, ob der Kreismusikerschaftsleiter Wenzel befugt sei, ihm mitzuteilen, dass seine Eingabe an den Präsidenten auch fernerhin unbeantwortet bleiben dürfte.149 Wegen der kurzen Frist bat er um telegrafische Antwort. Aufgrund von Form und Inhalt des Schreibens kann davon ausgegangen werden, dass Rechtsanwalt Meng das Schreiben entworfen hat. Eine Antwort des RMK-Präsidenten erfolgte nicht. Raphael gab schließlich am 18. April 1939 den Berufsausweis ab.150 Auch Abendroth, an den sich Raphael bereits am 12. März 1939 gewandt hatte, hatte ihm nicht helfen können. Er war zwar Fachschaftsleiter in der RMK, war jedoch nur für rein fachliche Fragen der musikerzieherisch tätigen RMK-Mitglieder zuständig. Er teilte Raphael mit, dass er sich bei Raabe aber bei nächster sich bieten144 So Goltz, „Ottomar Güntzels Rolle bei der Arisierung des Meininger Musiklebens“, (wie Anm. 14), S. 259. 145 Raphael an RMK, 24.02.1939, Raphael-NL. 146 MM, SlgMuge/MRA, Br 700. 147 Raphael an Raabe, 14.04.1939, Raphael-NL. 148 Wenzel an Raphael, 15.04.1939, Raphael-NL. 149 Raphael an Raabe, 16.04.1939, Raphael-NL. 150 Dabei dürfte es sich um den Ausweis der RMK vom 03.11.1936 gehandelt haben, da nur dieser die Unterschrift Raabes trug.

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der Gelegenheit über den Stand erkundigen wolle.151 Aufgrund des Ausschlusses Raphaels aus der RMK widerrief der Kreisschulrat am 5. Juli 1939 dessen Erlaubnis zum Unterrichten in Musik. Für jeden Verstoß drohte er eine Zwangsgeldstrafe bis 50 RM und bei Uneinbringlichkeit zehn Tage Ersatzfreiheitsstrafe an.152 Da Raphael einer Schülerin noch am 25. März 1939 ein Zeugnis ausgestellt hatte, wurde diese zur Einvernahme vorgeladen. Der Landesleiter für Musik forderte von Wenzel einen Bericht zum Umfang der Unterrichtserteilung Pauline Raphaels und zur etwaigen Mitwirkung Günter Raphaels.153 Wohl ohne sich der Gefährlichkeit bewusst zu sein, erwähnte Bernhard Böttner im Anmeldebogen bei seiner Einschreibung am Landeskonservatorium Leipzig im März 1943, dass er von 1933 bis 1938 von Pauline Raphael und von 1938 bis 1943 von Günter Abb. 14: Walter Braunfels und Günter Raphael, Raphael unterrichtet worden sei.154 Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael. Der Ausschluss Raphaels aus der RMK war keine Einzelaktion. Aus Listen kann geschlossen werden, dass seinerzeit kulturpolitisch „unzuverlässige Arier“ und „Halbjuden“ von Ausschlüssen oder Nichtaufnahmen betroffen waren. „Halbjuden“ wurden nur „in ganz besonderen Einzelfällen“ mit persönlicher Genehmigung von Goebbels nicht ausgeschlossen.155 Günter Raphael selbst schrieb in einem Brief vom 12. März 1940 zu seinen „Rausschmiss 18.02.39“, dieser sei „im Zuge Werner Fin[c]k u. Genossen“ erfolgt und setzte fort: „Übrigens sind alle damals rausgeworfen worden (Pichler mit Verbot, Braunfels, Kaminski etc.)“.156 Die von ihm angeführten Beispiele sind jedoch nicht mit seiner Situation vergleichbar, mit Ausnahme vielleicht von Walter Braunfels, der am 5. Dezember 1938 Berufsverbot erhielt. 151 Abendroth an Raphael, 19.04.1939, Raphael-NL. 152 Kreisschulrat an Raphael, 05.07.1939, Raphael-NL. 153 Vgl. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 73. 154 Siehe: Goltz, Musikstudium in der Diktatur, (wie Anm. 14), S. 88. 155 So Gerhard Splitt, „Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer. Vorgeschichte – Planung – Durchführung“, in: Musik in der Emigration 1933–1945, Verfolgung – Vertreibung – Rückwirkung, hrsg. von Horst Weber, Stuttgart u. a. 1994, S, 10–55, hier S. 55. Siehe auch Goltz, „Ottomar Güntzels Rolle bei der Arisierung des Meininger Musiklebens“, (wie Anm. 14), S. 260. 156 Raphael an Maria Raphael, 12.03.1940, Raphael-NL.

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10.2 Bemühungen Raphaels um eine Wiederaufnahme in die Reichsmusikkammer Raphael wollte eine Wiederaufnahme in die RMK erreichen. Gegenüber seiner Mutter erwähnte er, dass bei einem Anruf seiner Frau im Propagandaministerium kurz vor Ostern aber einfach abgehängt worden sei. Im Juni 1939 habe sie Raabe in Würzburg gesprochen, der habe nur mit den Schultern gezuckt, „will von nichts wissen, zieht sich aus der Affäre, stützt die kleinen Kläffer.“157 Raphaels Mutter beabsichtigte, Heinz Drewes, Leiter der Musikabteilung im Propagandaministerium, aufzusuchen. Raphael schrieb, dass Kreisleiter Köhler ihm jetzt wohl kein Zeugnis mehr ausstellen werde. Aber die Leute in Berlin wüssten ja, „wie einwandfrei ich in jeder Beziehung bin.“ Das habe Drewes ihm versichert. Raphael hatte ihn Weihnachten 1938 gesprochen und auf dessen Veranlassung hin Briefe geschrieben, um zu erreichen, dass er seine Frau beim Klavierunterricht vertreten darf. Eine Antwort sei aber nicht erfolgt. Stattdessen sei er im Januar 1939 „wieder angepöbelt, vor der Kriminalpolizei gestellt u. verhört“ worden. Er habe erklärt, dass er Paulines Schüler nur im Krankheitsfall übernehme, womit man sich zufriedengegeben habe. Raphael weiter: „Darauf ging ich zum Kreisleiter u. bat ihn, sich die Kläffer doch mal vorzuknöpfen, was er zu tun versprach. Er ist ein schwacher Mensch u. kann nicht gerade stehen.“ Auch an Furtwängler („Furti“) habe Raphael geschrieben, der habe aber noch nichts erreicht. Bis zum Kriegsausbruch konnte Günter Raphael noch ins Ausland reisen. Im August 1939 schrieben Raphaels eine Postkarte an die befreundete Familie Beck in Meiningen. Sie berichteten, dass sie von Konstanz aus mehrere Tage die Schweiz, u. a. Zürich und Luzern, besucht und einen Händedruck vom Dirigenten Arturo Toscanini erhalten hätten.158 Dieser hielt sich in Luzern zu den Internationalen Musikalischen Festwochen auf. Raphaels Mutter erkundigte sich nochmals bei Rechtsanwalt Meng zu den Umständen des umstrittenen Schlosskonzerts von 1937. Dieser antwortete ihr, dass er Raabe damals im Theater gesprochen habe. Dieser habe nach seiner Erinnerung gesagt, dass Raphael sich Zurückhaltung auferlegen müsse. Meng weiter: „Auf den Gedanken, dass das Konzert im Schloss einen Mangel an Zurückhaltung beweise, bin ich nicht gekommen.“159 Er meinte, Prinz Ernst hätte den Raum auf keinen Fall zur Verfügung gestellt, wenn das Konzert „irgendwie bedenklich gewesen wäre“. Er habe auf dem Konzert auch den Landgerichtspräsidenten Anschütz mit Frau sowie den „Standartenführer Notar Dr. Behlert“ gesehen – „Leute, die politisch durchaus als zuverlässig gelten.“ Raphaels Mutter und seine Schwester Marlen Raphael (Tafel 3) erhofften sich Unterstützung von Güntzel. Dieser versprach in einem persönlichen Gespräch in Meiningen, nochmals in der Angelegenheit Günter Raphaels tätig zu werden. Güntzel versicherte, dass Raphael keinerlei persönliches Verschulden treffe. Maria Raphael beabsichtigte, Güntzel am 20. Dezember 1940 erneut aufzusuchen, erkrankte aber.

157 Ebd. Ebenso nachfolgende Zitate. 158 Raphaels an Becks, 06.08.1939, MM, SlgMuge/MRA, Br 697. 159 Meng an Maria Raphael, 28.06.1940, Raphael-NL.

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Günter Raphael hielt sich damals wegen seiner schweren Lungenkrankheit in St. Blasien auf. Er schrieb160 an Familie Beck, dass er Weihnachten „zu den Pastorsleuten [geflohen sei], um nur nicht Gefahr zu laufen, hier irgendwie musikalisch ausgenutzt zu werden.“ Am 1. Feiertag hatte er zwei Gottesdienste und ein Krippenspiel begleitet. Sonntags mache er immer „musikalische Feierstunden mit Bach etc.“. Am 29. Dezember habe ein kleiner Frauenchor seine neuesten Erzeugnisse gesungen: „Es war sehr stimmungsvoll u. das gute Patienten-Publikum ist immer sehr angetan.“ Für den folgenden Sonntag plante er ein Konzert mit einem Geiger und einer Oratoriensängerin. Ein gerade eingetroffener Dirigent aus Berlin, Dr. Wichmann, wolle mit ihm auf zwei Klavieren spielen. Raphael sorgte sich, dass seine Frau in Meiningen zu viel „nebenbei“ tue. Seine Mutter erkundigte sich im Januar 1941 brieflich bei Güntzel und schrieb zur Krankheit ihres Sohnes, dass die Ärzte das Leiden hauptsächlich auf Depressionen zurückführten.161 Güntzel antwortete162, dass er sich wegen Raphaels Rehabilitierung bei der RMK sofort mit der Kreismusikerschaftsleitung Meiningen in Verbindung gesetzt und den Fall gründlich überprüft habe. Die Landesleitung sei allerdings sehr verstimmt, weil damals die Angelegenheit mit der Sondergenehmigung ergebnislos verlaufen war. Zudem könne „auch der Präsident der RMK […] in dem Fall keine eigene Entscheidung mehr treffen, da der letzte Entscheid von dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda persönlich getroffen worden sei.“ Offen bleibe die Möglichkeit eines Schreibens an den Propagandaminister. Dies verspreche aber keinen Erfolg, da Rückfrage bei den nachgeordneten Dienststellen gehalten werde und „das gesamte Aktenmaterial“ nicht günstig spreche. Güntzel selbst könne auch nur seine Stellungnahme darlegen und nicht die Initiative ergreifen: Die „nackten Tatsachen liegen nun einmal so, und es hat keinen Zweck, sie in einem anderen Licht sehen zu wollen, so hart es auch sein mag.“ Zum Schluss fragte Güntzel, ob Günter Raphael schon einmal erwogen habe, etwa in der Heimat seiner Frau sich eine neue Existenz aufzubauen. Maria Raphael zeigte sich verwundert und schrieb Güntzel, dass der Inhalt seines Schreibens nicht dem entspreche, was er ihr und ihrer Tochter beim Gespräch in Meiningen gesagt habe. Damals habe er gesagt, dass Raphael „auch das Konzert im Schloss hätte ruhig geben können“.163 Güntzel erwiderte,164 er halte weiter aufrecht, dass bei der Behandlung des Falles keine persönlichen Gründe mitsprachen: „Ihr Herr Sohn teilt das Schicksal, das bei der Bereinigung der RMK von nichtarischen Elementen viele andere in derselben harten Weise betroffen hat.“ Es wäre „ein törichtes Beginnen“, als nachgeordnete Dienststelle gegen Entschlüsse der RMK oder des Ministers angehen zu wollen. Dies „könnte dem Betreffenden Kopf und Kragen kosten“. Er bezweifelte weiterhin die Erfolgsaussicht eines Gesuchs an den Minister, „da die Regelung allgemein durchgeführt worden ist und Ausnahmen wohl 160 Brief vom 30.12.1940, MM, SlgMuge/MRA, Br. 694. 161 Maria Raphael an Güntzel, 06.01.1941, MM, SlgMuge/MRA, Br. 700, 48. 162 Güntzel an Maria Raphael, 22.01.1941, Raphael-NL. 163 Maria Raphael an Güntzel, 02.02.1941, MM, SlgMuge/MRA, Br. 700, 50. 164 Güntzel an Maria Raphael, 23.02.1941, Raphael-NL.

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kaum gemacht werden.“ Sehr erstaunt zeigte sich Güntzel über den Vorwurf, seine briefliche Mitteilung habe nicht den Äußerungen im früheren Gespräch entsprochen: „Sie bezichtigen mich also der Unwahrheit, der Doppelzüngigkeit, der Unaufrichtigkeit oder wie man es sonst nennen will.“ Er nehme an, dass der Satz dem Kummer des sorgenden Mutterherzens entschlüpft sei. Güntzels Einschätzung, selbst nichts zugunsten Raphaels erreichen zu können, dürfte richtig sein. Auch Raabe, den Maria Raphael aufsuchen wollte, sah keine Möglichkeit. Er schrieb, ein Besuch habe keinen Zweck. Er bedauere die Krankheit des Sohnes, diese „kann aber nicht der Anlaß sein, daß er wieder in die Kammer aufgenommen wird.“165

10.3 Gesuch an Hitler Als letzte Möglichkeit sah Maria Raphael ein Gesuch an Hitler. Um besseres Gehör zu finden, wandte sie sich an den früheren Generalsuperintendenten der Kirchenprovinz Sachsen, Hans Schöttler. Dieser sollte seinen Einfluss bei einem Freund des Führers, einem „Herr[n] von Oe.“, geltend machen. Dabei handelte es sich ziemlich sicher um Adolf Freiherr von Oeynhausen, einen SS-Brigadeführer. Schöttler hatte zwar zunächst geäußert, dass es jetzt nicht an der Zeit sei, Günter Raphaels Angelegenheit vorzubringen. Maria Raphael wollte im März 1941 aber nicht länger abwarten. Sie erwähnte gegenüber Schöttler, dass man in Meiningen bereits versuche, „die Sache niederzuschlagen, noch ehe etwas unternommen worden ist.“166 Güntzel und dessen Kollegen hätten „durch fortwährende Quertreibereien Günter sehr geschadet.“ Als „eigentlichen Konfliktfall“ betrachtete sie das Schlosskonzert von 1937. Ihr Sohn sei seit seiner Übersiedlung nach Meiningen „Anfeindungen der dortigen Musikerkreise“ ausgesetzt gewesen. Warum sie den Zeitpunkt schon auf die Zeit ab 1934 legte, und nicht erst ab Sommer 1937, bleibt unklar. Über eine Bekannte habe sie nun erfahren, dass ihr Sohn als Komponist noch Mitglied der STAGMA (der Staatlich genehmigten Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte) und demnach der RMK sei. So würden noch Beiträge für diese eingezogen.167 Sie fuhr fort: „Ich habe das Vertrauen, dass auch im Dritten Reich Recht bleiben wird und dass nicht etwa durch die bürokratische Maschinerie ein Menschenleben unnütz vernichtet und geopfert werden soll.“ Einen Entwurf des Gesuchs, an dem sie monatelang gearbeitet habe, sandte sie an Schöttler. Mit ihrer Tochter reiste sie aus Zernsdorf bei Berlin eigens zu Schöttler in die Nähe von Frankfurt am Main. „Ein Musiker wie Günter“, äußerte Schöttler, dürfe „für die deutsche Kirche nicht verloren gehen.“168 Er meinte – wie zuvor Güntzel –, dass eine Entscheidung nur von oben erfolgen könne, nicht von den unteren Instanzen. 165 Raabe an Maria Raphael, 13.02.1941, Raphael-NL. 166 Maria Raphael an Schöttler, 22.03.1941, Raphael-NL. 167 Nach der ab 1936 gültigen Satzung der STAGMA war für eine Bezugsberechtigung die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand notwendig, vgl. Harald Heker, Karl Riesenhuber und Raik Mickler, Recht und Praxis der GEMA. Handbuch und Kommentar, Berlin 32018, S. 19, Rdnr. 49. Da Raphael nicht mehr Mitglied der RMK war, fielen die Einnahmen an den Staat. 168 Maria Raphael an Schöttler, 09.05.1941, Raphael-NL.

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Rückblickend schrieb Maria Raphael am 9. Mai 1941 an Schöttler, dass ihrem Sohn seine Musik nicht verboten werden könne. Früher oder später werde er sich einer Strafe aussetzen. Dies müsse „angesichts eines nicht vorhandenen oder doch zum mindesten sehr geringen Verschuldens“ vermieden werden. Am Ende ihres Briefes an Schöttler zitierte sie noch eine Passage aus Hitlers Parteitagsrede von 1933, die auf ihren Sohn angewendet werden könne: Die Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission. Wer von der Vorsehung ausersehen ist, die [Seele] eines Volkes der Mitwelt zu enthüllen, sie in Tönen klingen oder in Steinen sprechen zu lassen, der leidet unter der Gewalt des allmächtigen, ihn beherrschenden Zwanges, der wird seine Sprache reden, auch wenn die Mitwelt ihn nicht versteht oder verstehen will, wird lieber jede Not auf sich nehmen, als auch nur einmal dem Stern untreu zu werden, der ihn innerlich leitet.169

Das Gesuch an Hitler170 begann Maria Raphael mit: „Mein Führer! Als deutsche Mutter wende ich mich an Sie mit der Bitte um Hilfe“. Sie erwähnte, dass Göring anlässlich seiner Hochzeitsfeier im Dom einen Spruch ihres Vaters habe singen lassen. Schon ihr verstorbener Mann habe „durch seine Lebensführung bewiesen, dass er sich ganz und gar zum arischen Lebenskreis und zum Deutschtum hingezogen fühlte.“ Ihre Kinder stünden „noch als Abkömmlinge der durchaus reinen Becker’schen Ahnen und nach ihrer jeden fremden Einfluss ausschaltenden Erziehung voll und ganz auf der arischen Seite.“ Sie erwähnte die Schlosskonzerte und meinte: Wenn mein Sohn nach seiner Übersiedlung nach Meiningen, bei aller ihm angeborenen Bescheidenheit und Zurückhaltung allein durch sein Können in den dortigen Kreisen Interesse erregte, und ihm Prinz Ernst von Sachsen-Meiningen mehrmals seinen Saal im Schloss zur Verfügung stellte, so hat dieses vielleicht in seiner Lage bei den Meininger Musikerkreisen eine Verstimmung hervorgerufen, die zu Beschwerden an den Herrn Präsidenten anlässlich eines 1937 geplanten Kammermusikabends im Schloss führten.

Trotz Raabes Rat, „Zwistigkeiten in Meiningen nach Möglichkeiten zu vermeiden“, sei es ihrem Sohn „damals nicht zum Bewusstsein gekommen, mit einer Veranstaltung in privatem Rahmen einen Mangel an Zurückhaltung zu beweisen.“ Wohl um zu verdeutlichen, dass die „nichtarische“ Abstammung ihres Sohnes nicht entscheidend ist, schrieb sie, dass das Auftreten ihres Sohnes vor der Machtübernahme Zeugnis davon gebe, „dass er sich als schaffender Künstler nur stets im nationalen Sinne betätigt hat.“ Seine Werke seien „nur von arischen Persönlichkeiten des In- und Auslandes“ aufgeführt worden. Sie hätten stets Erfolg bei der „deutschen Presse“ gehabt, „wurden aber in der Systemzeit von der jüdischen Presse wegen ihrer deutschen Haltung stark angegriffen. Während dieser Zeit hatte auch sein Studium auf der Berliner Hochschule unter der Einstellung jüdischer Lehrer gelitten.“ Sie betonte nochmals: 169 Ebd. Im Brief steht fälschlich „Sache“ statt „Seele“. 170 Zit. n. Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 105 ff.

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Seine Musik ist deutsch und, frei von jeder fremden Art, gebunden an seine Heimat, in der allein er etwas leisten und sich bewähren kann. Mein Führer! Helfen Sie einer schwergeprüften Mutter, die durch die Sorge um ihren Sohn schwer leidet, und die fürchten muss, ihn und damit die Stütze und den Halt ihres Alters zu verlieren.

Das Gesuch wurde an das Propagandaministerium weitergeleitet und dort durch Erlass vom 16. November 1941 abgelehnt.171 Der Gegensatz zwischen der Argumentation Maria Raphaels zur „deutschen Musik“ ihres Sohnes und der Einstellung des Leiters des Amtes Musik, Dr. Gerigk, wird sichtbar anhand von dessen Schreiben an die Partei-Kanzlei in München vom 2. Juni 1942.172 Gerigk beklagte darin die Handhabung der Erteilung von Sondergenehmigungen an „jüdische Mischlinge“. Im Besitz einer solchen sei „immer noch eine stattliche Reihe von Mischlingen ersten und zweiten Grades“. Darunter seien auch Kulturgut Erzeugende: Damit lassen wir also zu, dass ein Halbjude (beispielsweise der Komponist Günther Raphael) oder ein Vierteljude (beispielsweise Boris Blacher oder Heinrich Kaminski) Werke schafft, die notwendig jüdischen Geist atmen, die aber den Schutz der nationalsozialistischen Kulturgesetzgebung geniessen. Wir konservieren gewissermassen für unbegrenzte Zeit einen Rest jüdischen Geistes, der unerkannt manchen Schaden anrichten wird.

Wieso Gerigk damals von einer Sondergenehmigung Raphaels ausging, ist unklar. Er bedauerte, dass die Staatsführung keine klare Scheidung vornehme und dadurch die NSPresse teilweise in Gewissenskonflikte bringe. Es müsse die Frage aufgeworfen werden, so Gerigk, „ob es im Zeichen der Liquidierung des Judentums in Europa noch angebracht ist, jüdische Mischlinge als Kulturschaffende in irgendeiner Form zuzulassen.“ – Wie aktuell die von Gerigk angeführte Liquidierung des Judentums war, zeigt sich daran, dass drei Wochen vor dem Schreiben 513 jüdische Kinder, Frauen und Männer aus Thüringen sowie weitere Hunderte u. a. aus Leipzig und Chemnitz in das Getto Bełżyce deportiert wurden. Darunter befanden sich 41 Kinder, Frauen und Männer aus Meiningen. Sie wurden Opfer des NS-Massenmordes. – Gerigk fuhr fort: „Der reproduktive Mischling stirbt in 1–2 Generationen aus, während die Erzeugnisse des kulturschaffenden Mischlings unbegrenzt weiter erhalten bleiben.“ Während Hans Hinkel die Auffassung Gerigks teile, halte Goebbels an seinem bisherigen Standpunkt fest. Unverständlich sei, dass „Halbjuden und jüdisch Versippte“ Sondergenehmigungen als Lehrer oder Erzieher erhielten, wenn diese von der Gauleitung der NSDAP als einwandfrei bezeichnet wurden. Es sei unverständlich, wie ein Halbjude als politisch einwandfrei bezeichnet werden könnte. Die Erlaubnis müsste auf die Unterrichtung nichtarischer Schüler begrenzt werden: „Gerade der Musikunterricht bietet mehr als jedes andere Gelegenheit, Zersetzungskeime einzupflanzen.“ Wenn bei Mischehen der Unterricht in der Privat171 Wenzel an Güntzel, 18.12.1941, MM, SlgMuge/MRA, Br 700, 52. 172 Bundesarchiv Berlin, NS 15/153.

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wohnung stattfindet, könne „es arischen Schülern nicht zugemutet werden, notgedrungen immer wieder mit dem jüdischen Ehepartner des Unterrichtenden in Berührung zu kommen.“ Die Schwierigkeit der Kontrolle, wenn in einer sogenannten „Mischehe“ der „arische“ Ehepartner Mitglied der RMK war und über eine Unterrichtserlaubnis verfügte, zeigte sich auch bei Raphaels. So schrieb die Gauleitung Thüringen der NSDAP am 31. Januar 1944 an die Dienststelle des Reichsleiters Rosenberg, Amt Musik, wegen der Aktualisierung des Lexikons der Juden in der Musik, dass das Propagandaministerium „gegen eine weitere Tätigkeit der Pauline Raphael keine Bedenken“ erhebe. Bedenklich sei allerdings, „daß die Vermutung der örtlichen Dienststelle der Reichsmusikkammer, der Halbjude Günther Raphael beteilige sich trotz seines Ausschlusses aus der Reichsmusikkammer am Unterricht seiner in der gleichen Wohnung lebenden Frau, nicht völlig von der Hand zu weisen ist.“173

11 Raphael und die letzten Jahre der NS-Diktatur Raphael vernahm im Sommer 1942, wiederum in St. Blasien weilend, dass seiner eingeschulten Tochter Schwierigkeiten wegen der Abstammung gemacht würden. Sein Kommentar: „Das ist das Allerneueste u.m.E. nur wieder mal in Thüringen möglich“.174 Andererseits empfand es eine ältere Lehrerin als herzlos, dass Dagmar Raphael (Tafel 4) nicht bei der „Kükenschar“, einer Art Vorstufe der „Jungmädel“, mitmachen durfte. Sie wandte sich daher an die Behörde in Weimar – ohne Wissen der Eltern. Dagmar wurde dann in die Kükenschar aufgenommen.175 Dagmar Raphael erinnert sich an eine weitere Begebenheit. Sie habe mit einer Nähschere den blonden Zopf einer Mitschülerin abgeschnitten. Die Mutter des Mädchens und die Lehrerin hätten aber glücklicherweise vernünftig reagiert.176 In St. Blasien fertigte Günter Raphael die Partitur zu seiner 6. Sinfonie (bekannt als 3. Sinfonie), deren Skizze seit Februar fertig war. „Zu einem neuen Anfang muss ich mich immer erst aufraffen“,177 schrieb er an seinen Schüler Böttner, „habe ich aber dann erst begonnen, bin ich der Arbeit rettungslos verfallen u. ausgeliefert.“ Die Sinfonie spiele „teils in der Hölle teils im Himmel“ und bewege „sich manchmal auch auf sehr irdischen Bahnen“. Im Sanatorium konnte er in geschlossenen Veranstaltungen Konzerte178 geben. An die befreundete Gerda Beck in Meiningen schrieb Raphael im August 1942, er sei wirklich gesund und rauche zuweilen wieder gute Zigarren, die ihm der Arzt Prof. Bacmeister anbiete. Er bleibe nur dort, um für den Winter Kraft zu speichern, Abstand zu den Dingen zu gewinnen und sein Erdenpensum durchzuführen.179 Alle zwei Wochen gebe er 173 Ebd. 174 Raphael an Beck, 06.08.1942, MM, SlgMuge/MRA, Br 683. 175 Brief Pauline Raphael an Glöckner, 08.09.1985 (Privatbesitz). 176 Mitteilung Dagmar Pieschacón-Raphael an den Verfasser. 177 Raphael an Böttner, 18.06.1942 (Kopie beim Verfasser). 178 Am 19.06.1942 z. B. Werke von Bach, Beethoven, Friedrich dem Großen und Raphaels Sonate ­e-moll für Flöte und Klavier. 179 Raphael an Beck, 06.08.1942, MM, SlgMuge/MRA, Br 693.

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große Programme, zuletzt einen ganzen Raphael-Abend, der die Leute teils sehr gepackt habe. Das Publikum sei spießig, „das Niveau etwas höher als K.D.F., aber mir genügt’s.“180 Unter den Patienten sei ein Bruder des Reichsleiters Bormann, „dem man auch mal einen guten Witz erzählen kann.“ Alle verhielten sich Raphael gegenüber musterhaft, einige hätten über ihn im Brockhaus gelesen. Zu Hause in Meiningen traf der zweite Flügel aus Berlin ein, sodass Raphael sich schon auf den Herbst freute, wenn er mit seiner Frau die Haydn- und MozartVariationen spielen könne. Abb. 15: Prof. Adolf Bacmeister mit dem Ehepaar Besorgt vernahmen Raphaels die zweite Raphael in St. Blasien im Jahr 1939, Privatbesitz von große Deportation aus Thüringen. Am Dagmar Pieschacón-Raphael. 19. September 1942 wurden aus Meiningen 35 größtenteils ältere Menschen jüdischer Religion oder jüdischer Abstammung deportiert. Ziel war das Getto Theresienstadt. Unter ihnen befanden sich drei Freundinnen der Familie Raphael: die 69-jährige Gutta Laub, in deren Haus früher Max Reger als Mieter von Laubs gewohnt hatte, die 75-jährige Paula Romberg und die 78-jährige Pauline Ullstein. Pauline Raphael schilderte 1985 in einem Brief an den damaligen Stadtkantor Christian Glöckner, der sich um Günter Raphaels Musik und Andenken in Meiningen verdient gemacht hat,181 sie sei mit den Juden bis zum Bahnhof mitmarschiert. Dann sei sie „angeschnauzt“ und von der Meininger Polizei verjagt worden.182 Dagmar Pieschacón-Raphael weiß, dass Pauline Ullstein eine Babysitterin von ihr war. Sie stiftete zum Gedenken an Frau Ullstein einen Stolperstein, der am 21. November 2018 in Meiningen verlegt wurde. Auch an Paula Romberg und Gutta Laub erinnern Stolpersteine. Alle drei Frauen waren vom Judentum zum Christentum konvertiert. Sie wurden Opfer des NS-Massenmords. Vielleicht hat die Pianistin Pauline Ullstein auch einmal an Hauskonzerten teilgenommen. Seit 1938 waren solche Hauskonzerte die einzige Möglichkeit für Günter Raphael, in Meiningen zu konzertieren. Einzelne Programmzettel sind erhalten geblieben. Am 27. Dezember 1942, nachmittags um vier Uhr, musizierten Raphaels in ihrer Wohnung mit sieben weiteren Musikern u. a. Werke von Johann Sebastian Bach, Frédéric Chopin und Raphael. Das Ehepaar Raphael spielte u. a. Raphaels Tanzsuite für zwei Klaviere. Für 180 Raphael an Böttner, 18.06.1942; K.D.F. = Kraft durch Freude. 181 Erwähnenswert auch: Christian Glöckner, „Die Orgelwerke Günter Raphaels, Beiträge zur Orgelmusik des 20. Jahrhunderts“, in: Der Kirchenmusiker, Ausgabe Rheinland, Mai/Juni 1988, 3/88, S. 88–94. 182 Pauline Raphael an Glöckner, 21.08.1985 (Privatbesitz).

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Abb. 16: „Musikalisches Trauerspiel“, Eintragung vom 12. Januar 1939 im Gästebuch der Familie Beck, Privatbesitz.

den 20. Juni 1943, 16.30 Uhr, wurde eine Hausmusik mit Werken von Bach und Johannes Brahms sowie Raphaels Toccata fis-Moll aus dem Jahr 1937 und die Tanzsuite E-Dur, 10 Sätze, angesetzt.183 In der Wohnung Elsa Regers in München hatten Raphaels bereits am 7. Dezember 1941 im Rahmen einer Hausmusik gespielt.184 Auch im Haus der Familie Beck wurde musiziert. Am 12. Januar 1939 – „Im Jahre des ‚Heil‘“, wie es im Gästebuch ironisch hieß – wurde dort ein „Musikalisches Trauerspiel“ aufgeführt, bei dem Raphaels als „Künstlerehepaar“ auftraten. Begeistert zeigte sich Günter Raphael von dem Kinofilm Symphonie eines Lebens (Deutschland 1943), der in vier sinfonischen Sätzen von einem Komponisten handelte. Er fand ihn fabelhaft, die Musik von Norbert Schultze (Komponist von Lili Marleen) großartig:

183 Programme im Raphael-NL. 184 Siehe: Goltz, „Günter Raphaels Leben“, (wie Anm. 14), S. 29.

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Dazu spielte ein phantastischer Schauspieler Harry Baur u. beherrschte wortlos von Anfang bis Ende die Szene. Dieses Experiment erschien mir durchaus geglückt. Leider verstand das blöde Publikum nichts davon u. der Film fiel hier natürlich gänzlich ins Wasser.185

Raphael erledigte ein immenses Arbeitspensum. An Böttner schrieb er, dass er „trotz fast 50 Wochenstunden Klavier viel arbeiten“186, d. h. komponieren könne. Abends sei er so erschöpft, dass er nur noch schlafen könne. Der Zustand ändere sich, wenn er bald wieder für ein paar Wochen im Sanatorium in St. Blasien sei. Er sei dort herzlich zum Musikmachen eingeladen. Die Weihnachtsferien hielt er für „eine günstige Gelegenheit, zu verduften“.187 Für seine am 26. September 1943 geborene Tochter Christine (Tafel 5) schrieb er ein Triptychon Maria. Die Haustaufe nahm Pfarrer Pauli188 vor. Günter Raphael war kein Kirchgänger, hatte die Kirche aber im Kopf und war bibelfest.189 Er schuf viele Werke für die Kirchenmusik.190 In St. Blasien verbrachte er den Jahreswechsel und gab im Kursaal sogar ein Konzert für das Winterhilfswerk. An Böttner (Tafel 6) berichtete er, er sei um „das Spielen der Lieder der Nation“ (u. a. Horst-Wessel-Lied) nicht herumgekommen: „Ich sagte mir aber, besser gespielt als gesungen!“191 Sein Wirken in St. Blasien ist erstaunlich, fand sich sein Name doch längst in den antisemitischen Machwerken wie dem Handbuch der Judenfrage von Fritsch192 und den Publikationen mit Listen von „jüdischen und nichtarischen“ Musikern.193 Raphael übernahm in St. Blasien zudem Orgeldienste für beide Konfessionen und spielte bei Weihnachts- und Silvesterfeiern. Zurück in Meiningen musste er lange Zeit im Landeskrankenhaus verbringen. Von dort schrieb er an Böttner Mitte 1944: „Ich schreibe viele Noten, das Befinden ist schwankend, auch hier der beste Gradmesser für die Gesundung die Musik. Sie heilt die Wunden.“194 An diesen Tagen komponierte er gerade sein 9. Streichquartett. Im September berichtete er: Gestern sind hier mittags die ersten Bomben gefallen. Haarscharf ins Ziel […] Als Insasse des Krankenhauses besteht natürlich erhöhte Gefahr. Wir wurden z. B. vorgestern allein 4 × in den Keller gefahren.195

185 Raphael an Böttner, 14.11.1943 (Kopie beim Verfasser). 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Raphaels waren mit den Pfarrern Pauli und Heyn befreundet. Pauline Raphael unterrichtete deren Kinder, vgl. u. a. Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 81. 189 Mitteilung Dagmar Raphael an den Verfasser. 190 Zur Geistlichen Chormusik siehe: Elisabeth Schmiedeke, Günter Raphaels Chormusik. Versuch einer kritischen Wertung, Kassel 1985, S. 28–169. 191 Raphael an Böttner, 20.01.1944 (Kopie beim Verfasser). 192 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 421938, S. 321. 193 Herbert Gerigk und Theophil Stengel, Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940, S. 221; Hans Brückner, Christa M. Rock, Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, 31938, S. 225. 194 Raphael an Böttner, 08.07.1944 (Kopie beim Verfasser). 195 Raphael an Böttner, 14.09.1944 (Kopie beim Verfasser).

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Der Schwiegervater seines einstigen Schülers Kurt Hessenberg, Prof. Dr. Franz Volhard196, kam zur Untersuchung Raphaels nach Meiningen und sorgte für eine Verlegung in ein Sanatorium nach Bad Nauheim. Damit endete Raphaels Meininger Zeit. Da seine Frau ihn begleitete, kümmerten sich seine Mutter und Schwester, die seit 1942 auf dem Stillhof bei Meiningen wohnten, mehrere Monate um die Kinder.

12 Raphaels Auseinandersetzung mit seinem Schicksal in der NS-Zeit 12.1 Kurzinformationen zur Familie Raphael Familie Raphael lebte zunächst in Laubach. Von 1949 bis 1953 lehrte Günter Raphael am Konservatorium in Duisburg, von 1956 bis 1958 unterrichtete er am Peter-Cornelius-Konservatorium in Mainz und war ab 1956 Dozent an der Kölner Musikhochschule, seit 1957 als Professor. Er starb am 19. Oktober 1960. Die Beisetzung erfolgte auf dem Kölner Nordfriedhof; im Juli 2005 wurde die Urne umgebettet in ein Ehrengrab auf dem Meininger Parkfriedhof, im August 2012 auf den Friedhof Onkel-TomStraße in Berlin-Zehlendorf. Seine Mutter Maria Raphael verstarb 1952 in Meiningen. Günter Raphaels Schwester Marlen Raphael hatte eine Ausbildung als Lehrerin für rhythmische Gymnastik. Sie war 1933 und 1934 mit ihrem Tanzspiel Der Struwwelpeter u. a. in Berlin aufgetreten. Für die Komposition der Musik konnte sie Kurt Hessenberg gewinnen, Urenkel des Struwwelpeter-Autors Dr. Heinrich Hoffmann und Schüler Günter Raphaels. Marlen Raphael plante, eine Schule für Kinder in Rehbrücke bei Potsdam einzurichten. Wegen ihrer „nichtarischen“ Abstammung war sie aber aus der Mitgliederliste des Verbandes Deutscher Turn-

Abb. 17: Günter und Pauline Raphael im Jahr 1946, Christine Raphael Stiftung.

Abb. 18: Günter Raphael (rechts) mit seinem prominentesten Schüler, Kurt Hessenberg, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

196 Bei Schinköth irrig mit Namen Prof. Dr. Ernst Vollhard, Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 126.

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und Gymnastiklehrer gestrichen worden und konnte auch nicht in die Theaterkammer eintreten.197 Als sie nach Meiningen zog, arbeitete sie als Bürokraft in einer Kohlenhandlung. Nach Kriegsende war sie zunächst bei der Stadtverwaltung in Meiningen tätig und seit 1950 nebenberuflich als Gymnastiklehrerin an der Pestalozzischule Meiningen. Sie verzog im April 1959 nach Köln, wo sie kurz nach ihrem Bruder starb. Pauline Raphael starb im Jahr 2002, ihre Tochter Christine Raphael im Jahr 2008.

12.2 Äußerungen Raphaels zu seinem Leben in der NS-Zeit Günter Raphael äußerte sich nach Beendigung der NS-Diktatur in Briefen und Vorträgen nur kurz über sein Schicksal in der NS-Zeit. In der Sendung Komponisten in eigener Sache von Radio Bremen vom 29. April 1953198 bezeichnete er die Leipziger Jahre von 1925 bis 1930 als „die fetten“ Jahre, denen dann „sehr magere“ folgten, von denen er aber nicht sprechen wollte. Das einzige Gute an dieser „stummen Periode“ seines Lebens sei gewesen, dass er in „diesen trostlosen Jahren“ kompositorisch einen einigermaßen eigenen Stil entwickelt habe. Er habe es sehr schwer gehabt, sich nach 1945 erneut zu behaupten: „Man hat mich nach 45 – damals war ich ja ganz in Vergessenheit geraten und aus allen Lexika und Verlags-Katalogen herausgestrichen – oft gefragt: ‚und komponieren tun Sie auch? Ich habe ja noch nichts von Ihnen gehört!‘“ In seinem Bericht Musik aus erster Hand 199 sah er sich, obwohl das, was nach 1933 eintrat, nicht Aufgabe des Berichts sei, trotzdem zu einer „Berichterstattung“ gezwungen. Als „schreckliches Erlebnis“ führte er den 17. März 1933 und die Entfernung Bruno ­Walters vom Dirigentenpult bei einer Probe mit dem Gewandhausorchester an. Er selbst sei dem „mit knapper Not“ entkommen, „denn die SA hatte um das Gewandhaus bereits einen Ring gelegt.“ Damals war die „nichtarische“ Abstammung Raphaels den Nationalsozialisten allerdings nicht bekannt, sodass unklar ist, worauf sich Raphaels Einschätzung bezieht. Positiv hob Raphael in einem Festschriftbeitrag zu Ehren Rudolf Mauersbergers im Jahr 1959 dessen Wirken hervor.200 Raphael zitierte aus einem Brief des Dresdner Kreuzchores und dessen Leiters Mauersberger vom 7. Oktober 1938, in dem es hieß: „Wir denken immer noch gern mit großer Freude an Ihre beiden herrlichen Motetten. Die eine (‚Christus, der Sohn Gottes‘) nehmen wir übers große Wasser.“ Der Kreuzchor reiste damals in die Vereinigten Staaten. Raphael hob hervor, dass Mauersberger es nicht nur gewagt hatte, eine Motette im Juni 1938 in der Kreuzvesper zu Dresden uraufzuführen, sondern diese auch ins Ausland mitnahm. Denn es sei 197 Lebenslauf Marlen Raphael mit beigefügten Zeitungskritiken, Raphael-NL. 198 Hier zit. n. Günter Raphael, In me ipsum, 1953, S. 3, Raphael-NL. 199 Dort S. 11, Raphael-NL, ohne Datum, wohl 1960. 200 Günter Raphael, „Rudolf Mauersberger zum 29. Januar 1959“, in: Kirchenmusik heute. Gedanken über Aufgaben und Probleme der Musica Sacra, hrsg. von Hans Böhm, Berlin 1959, S. 12–19, hier S. 12.

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1938 ein Wagnis, den seit 1933 verfemten Komponisten im eigenen Lande, geschweige denn im Ausland, aufzuführen. Rudolf Mauersberger gehört zu den ganz wenigen, die den Mut dazu besaßen. Nach meinem Weggang von Leipzig (1934) und meiner völligen Ausschaltung, welche auch mit einem strikten Verbot nicht nur der Aufführung von Werken, sondern der Berufsausübung schlechthin verbunden war, hat außer ihm kein anderer Chor- oder Orchester-Dirigent diesen Mut besessen.201

Dies trifft glücklicherweise nicht zu, wie u. a. die Aufführungen von Werken Raphaels durch Sieben in Dortmund (22. November 1937) und Jochum in Hamburg (31. Oktober 1938) zeigen. Zudem bestand kein Aufführungsverbot, und das Berufsverbot wurde erst im Februar 1939 erteilt. Überdies fiel eine Aufführung im Ausland weniger auf als eine solche in Konzertprogrammen großer deutscher Städte. Während Raphael das Verhalten Mauersbergers lobte, verweigerte er dem Komponisten Kurt Thomas nach dem Krieg eine von ihm202 erbetene Entlastungs-Erklärung. Eine solche gab er allerdings für den Meininger Medizinalrat Dr. Wilhelm Pilz ab und bescheinigte diesem „zwischen ‚arischen‘ und ‚nichtarischen‘ Patienten“ keinen Unterschied in der Behandlung gemacht zu haben.203 Unbestätigt ist die Behauptung Pauline Raphaels, sie und ihr Mann hätten einmal „einen jüdischen Maler“ versteckt, „der sich auf der Flucht vor den Nazis befand und nach Palästina wollte. Er wurde von einem Meininger Maler spät abends gebracht und am nächsten Morgen wieder abgeholt. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.“204

12.3 Äußerungen Raphaels zur Gefährdung durch SS und Gestapo Wiederholt äußerte Raphael sich in Briefen, wenn auch mit wenigen Worten, über Bedrohungen in der NS-Zeit. Er schrieb am 21. Februar 1946 an Mauersberger, die „teuflische Krankheit“ habe ihn „vor Schlimmeren bewahrt – vor der Verschleppung durch die SS. Davor habe ich zwei Mal gestanden.“205 Im Oktober 1946, als Raphael mit seiner Familie auf Einladung des dänischen Innenministeriums einige Monate in Dänemark verbrachte, schrieb er an Sibelius:

201 Ebd. 202 Thomas an Raphael, 30.01.1947, Raphael-NL. Raphael sollte u. a. bestätigen, dass Thomas ihm nach 1934 mehrfach geschrieben habe und dass Thomas infolge seines „zahlreichen jüdischen Verkehrs“ in Schwierigkeiten geraten sei. 203 Bescheinigung vom 28.05.1946, Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar, Personalakte Pilz, Bl. 75. Nach Angaben von Pauline Raphael soll der Direktor des Landeskrankenhauses und Leiter der chirurgischen Abteilung Pilz 1944 den Abtransport Raphaels durch die Polizei verhindert haben, vgl. Pauline Raphael an Glöckner, 29.09.1985 (Privatbesitz). 204 Pauline Raphael, „Erinnerungen an Meiningen“, in: Schinköth, Jüdische Musiker in Leipzig, (wie Anm. 17), S. 304–307, hier S. 304. Pauline Raphael hat diese Erinnerungen erst für die Publikation aus dem Jahr 1994 geschrieben. Sie enthalten viele Ungenauigkeiten. 205 Zit. n. Erkundungen zu Günter Raphael, (wie Anm. 14), S. 118.

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Es ist fast 10 Jahre her, dass meine Frau u. ich bei Ihnen und Ihrer verehrten Gattin in Järvenpää zu Gast waren. Inzwischen ist eine ganze Welt der Phantome u. des Wahn’s zusammengebrochen. Niemals aber hätte man damals geahnt, dass die Macht des Teufels zu brechen, es soviele unschuldige Opfer kosten würde! Wir sind durch sehr schwere Jahre [gegangen]. Die Aufführungen meiner Kompositionen waren von Anfange an in Deutschland verboten, mir war jegliche Ausübung des musikalischen Berufes untersagt, dass mein „arischer“ Grossvater, Albert Becker „Kirchenmusiker“ gewesen war, wurde von einer kirchenfeindlichen Regierung, u. das waren ja die „Nazis“, nur als Negativum [gebucht]. So hat meine Frau durch 10 schwere Jahre die Last des Geldverdienens allein getragen u. ihre wöchentliche Klavierstundenanzahl betrug zuletzt 48! Ich bin seit 1940 krank gewesen, u. diese Krankheit, die 1944/45 [ihren Höhepunkt erreichte], hat mich [vor] Schlimmeren, nämlich vor der Verschleppung durch die SS, bewahrt.206

Im November 1948 bemerkte Raphael gegenüber Elsa Reger: „Ich wurde 3 Mal von SS u. Gestapo zum Abtransport bestimmt, u. wir haben sehr schwere Zeiten hinter uns, besonders meine Frau.“207 In einer Aufstellung über „Betroffene der Familie Raphael! Durch Hitler“ schrieb Pauline Raphael: „6maliger Versuch der Meininger Polizei ihn [Günter Raphael] in ein K.Z. abzutransportieren misslang 1944.“208 Später führte sie an, dass die Gestapo drei Mal im Krankenhaus nach ihrem Mann gefragt habe. Sie hätten die Auskunft erhalten, dass er transportunfähig sei und sowieso sterben würde.209 Zuvor hatte Pauline Raphael berichtet, die Polizei sei im Herbst 1944 in die Helenenstraße gekommen und habe nach ihrem Mann gefragt. Er solle am nächsten Morgen um 7.00 Uhr mit Rucksack, Hammer und Beil sowie Verpflegung für zwei Tage beim Rathaus erscheinen. Da Raphael sich im Meininger Krankenhaus aufhielt, habe es der Polizist sodann auch dort versucht. Vergeblich, zu einem Arbeitseinsatz sei Raphael gesundheitlich nicht in der Lage gewesen.210 Dies weist auf die Absicht hin, dass Günter Raphael zur Arbeit herangezogen werden sollte. Der Beauftragte des Vierjahresplans, Hermann Göring, hatte im Herbst 1943 beschlossen, die „Mischlinge“ und „jüdisch Versippten“ zu Arbeitsbataillonen der Organisation Todt einzuberufen, wobei die Umsetzung erst ab März 1944 begann. Die Frauen und wer aus Gesundheitsgründen dafür nicht infrage kam, waren nach Anordnung des Reichsführers SS von Oktober 1944 „möglichst innerhalb ihres Wohnbereiches in geschlossenen Gruppen zu manuellen Arbeiten heranzuziehen.“211 Auch von Marlen Raphael gibt es eine Aussage. Im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen zum Novemberpogrom 1938 in Meiningen sagte sie 1946 als Zeugin aus: Der Polizist B. 206 Zit. n. Jackson, „Sibelius the Political“, (wie Anm. 11), S. 112. 207 Günter Raphael an Elsa Reger, 13.11.1948, Max-Reger-Institut, Karlsruhe-Durlach, Ep.Ms 3263. 208 Undatiert. Kopie übersandt von Pauline Raphael an Glöckner mit Brief vom 26.08.1984 (Privatbesitz). 209 Pauline Raphael, „Erinnerungen“, (wie Anm. 204), S. 306. 210 Pauline Raphael an Glöckner, 29.09.1985 (Privatbesitz). 211 Schreiben Kaltenbrunner an alle Gestapo-Leitstellen vom 06.10.1944, zit. n. Meyer, „Jüdische Mischlinge“, (wie Anm. 24), S. 238 f.

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erschien am 1. Januar 1945 in unserer Wohnung um im Auftrage der Gestapo meinen Bruder, der Halbjude war, der Polizei vorzuführen. B. benahm sich damals vollkommen korrekt und versprach, als ihm gesagt wurde, dass mein Bruder krankheitshalber nach Nauheim übersiedelt ist, die Sache telefonisch zu erledigen.212

Dagmar Pieschacón-Raphael erinnert sich, dass, wohl gegen 1943, zwei oder drei Männer in Ledermänteln im Wohnhaus in der Helenenstraße erschienen seien. Die Eltern seien nicht da gewesen, und das Tagesmädchen Gretel habe zu den auf der Treppe stehenden Männern gesagt, dass Herr Raphael nicht da sei, er sei im Krankenhaus.213 Solche Besuche könnten im Zusammenhang mit vorgesehenen Arbeitsmaßnahmen oder z. B. Überprüfungen gestanden haben, ob Günter Raphael Schüler unterrichtet. Anhaltspunkte dafür, dass er in ein Lager hätte verschleppt werden sollen, sind nicht vorhanden. Im Januar/Februar 1945 kam es zwar nochmals zur Deportation von drei Frauen und drei Männern aus Meiningen in das Getto Theresienstadt. Dabei handelte es sich aber nur um Personen, die nach den Rassengesetzen Juden waren oder als solche galten. Das Leben in sogenannter „Mischehe“ hatte sie im Jahr 1942 vor der Deportation bewahrt.214 Sogenannte „Halbjuden“, wie z. B. auch Marlen Raphael, wurden nicht deportiert. Als „Halbjude“ musste/durfte Raphael auch nicht zur Wehrmacht. Bei seiner Musterung am 12. Juli 1940 wurde er zwar als „garnisonsverwendungsfähig Feld“ eingeordnet. In seinem Wehrpass wurde aber auch „n.z.V.“ eingetragen, d. h. „nicht zur Verwendung“.215 Soweit Schinköth meint, möglicherweise habe es einen Mordversuch gegen Raphael gegeben216, kann dies nicht bestätigt werden. Zwar soll ein Militärarzt aus Salzungen Günter Raphael zusammen mit einem hochinfektionösen tschechischen Sträfling aus Untermaßfeld behandelt und dabei die für diesen bereits verwendete infizierte Spritze auch bei Günter Raphael eingesetzt haben. Die Schwester habe daraufhin geschrien, der Arzt habe geschwiegen.217 Günter Raphael habe Fieber bekommen und sei acht Tage später todkrank ins Krankenhaus gekommen. Anhaltspunkte dafür, dass es sich nicht um ein Versehen gehandelt hat, sondern der Arzt vorsätzlich gehandelt hat, sind aber nicht ersichtlich.218

212 Vernehmung vom 12.03.1946, Strafsache Eduard N. u. Kons. Thüringer Staatsarchiv Meiningen, Staatsanwaltschaft Meiningen beim LG Meiningen Nr. 79, Bl. 135r. 213 Dagmar Pieschacón-Raphael gegenüber dem Verfasser. 214 Die im Januar 1945 von Meiningen in das Getto Theresienstadt deportierten Juden überlebten die NS-Zeit. 215 Wehrpass, Raphael-NL. Unter Religion war „ev.“ eingetragen; der Zusatz „(J. M. I.)“ wurde wieder gestrichen und stand wohl für „Jüdischer Mischling I. Grads.“ 216 Schinköth, Musik – Das Ende aller Illusionen, (wie Anm. 7), S. 125. 217 Brief Pauline Raphael an Glöckner, 29.09.1985 (Privatbesitz). 218 Vgl. bereits Goltz, „Günter Raphaels Leben“, (wie Anm. 14), S. 44, Fn. 80.

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12.4 Äußerungen Raphaels zu Ottomar Güntzel In Meiningen erklangen Werke Raphaels während der Kulturtage 1946. Im Folgejahr trat das Ehepaar Raphael selbst wieder im Marmorsaal auf. 1949 fand eine schlecht besuchte Raphael-Matinee im Landestheater in seiner Anwesenheit statt. Raphael nahm die Matinee zum Anlass, Elsa Reger, Witwe Max Regers, per Brief 219 über Güntzels Verhalten aufzuklären, wobei die von ihm erhobenen Vorwürfe nicht alle als zutreffend erachtet werden können.220 Raphael schrieb, er habe mit Güntzel während der „Nazijahre die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht“. Dieser habe ihm (als „schwerer“ PG!) nicht nur die völlige Berufsausübung [verboten], sondern untersagte mir auch das Betreten des Theaters, verbot den Musikern u. Schauspielern, die oft zu uns in die Helenenstr. bei Nacht u. Nebel heraufkamen, mich auf der Strasse zu grüssen oder mit meiner Frau u. mir ein Wort zu wechseln. Er boykottierte, wo er konnte, in Schule u. bei den Eltern, den Klavierunterricht meiner Frau! Einmal hat er sogar, als die Rede auf mich kam, geäussert: „Dem Raphael habe ich ja das Komponieren verboten!“ – Leider hat er das nicht erreicht, aber er hat uns das Leben, besonders in den Jahren der ‚Nazi-Siege‘ (1940–44), sehr schwer gemacht. Ich habe ihn natürlich seitdem nicht mehr gesprochen.

Vor dem Hintergrund, dass Güntzel das Reger-Archiv verwaltete und in der Ausgabe des Briefwechsels Reger–Herzog Georg II. besonders gewürdigt wurde, führte Raphael aus: „M. E. gibt es keinen Unwürdigeren, keinen grösseren, falscheren Intriganten als Herrn G. u. ich muss mich immer wieder wundern, dass dieser Herr mit solchen Ehrenämtern betraut wird.“ Bereits im Januar 1946 hatte Raphael an seinen Schüler Böttner geschrieben: „Was wird eigentlich mit der Aufführung der Schottischen Var. unter Schmitz? Hapert die Auff. wirklich an dem Fehlen der einzelnen Doubletten der Streichstimmen? Ich hätte zum Kopieren dieser Stimmen ein paar fette Nazis’ (Güntzel, Mechtold) angestellt.“221 Der Musiklehrer Gerhard Mechtold war zur NS-Zeit bei der RMK im Kreis Fachschaftsleiter für das Gebiet der Musikerzieher. Pauline Raphael berichtete 1985, dass sie und ihr Mann politisch uninteressiert gewesen seien. Ihr „Elfenbein-Turm war die Musik, sonst hätten wir nicht überleben können mit Verbot, Krankheit, finanziellen Sorgen, Angst vor den Drohungen der Partei, den Schikanen der Musik-Ortsgewaltigen Herrn Ottomar Güntzel, Studienrat Mechtold“.222 Anders als Güntzels blieb das Verhalten Mechtolds in der Raphael-Literatur unbeachtet. In Meiningen wurde besonders vor etwa zehn Jahren über den 1956 zum Ehrenbürger

219 Raphael an Elsa Reger, 07.11.1949, Max-Reger-Institut, Ep.Ms. 329; PG = Parteigenosse. 220 Güntzel war nicht für das Berufsverbot verantwortlich und schwerlich für ein Theaterbetretungsverbot. Laut Hoßfeld erhielt Raphael Letzteres, nachdem das Komponieren der Bühnenmusik bekannt wurde, Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 46. 221 Raphael an Böttner, 13.01.1946 (Kopie beim Verfasser). 222 Pauline Raphael an Glöckner, 01.08.1985 (Privatbesitz).

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ernannten Güntzel debattiert.223 Nach Günter Raphael wurde am 9. November 1988 im Beisein Pauline Raphaels eine Straße in Meiningen benannt. Am einstigen Wohnhaus in der Helenenstraße erinnert eine Gedenktafel an ihn.

13 Bewertung Günter Raphael wurde in der NS-Zeit allein wegen seiner „nichtarischen“ Abstammung verfolgt, seine Musik nach und nach zum Verstummen gebracht. Er verlor seine Stellung in Leipzig, sodann den Vertrag für die Bearbeitung von Klavierauszügen und konnte nur noch selten als Pianist auftreten. Er erhielt im Jahr 1939 Berufsverbot und unterrichtete heimlich. Finanzielle Schwierigkeiten für die Familie waren die Folge. Pauline Raphael musste verstärkt unterrichten. Günter Raphael schuf zahlreiche Kompositionen, die im Laufe der NS-Zeit nicht mehr verlegt wurden. Größere Aufführungen von seinen Werken waren die Ausnahme und wurden seitens der Nationalsozialisten gebrandmarkt. Raphael bemühte sich, im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten und – was das private Unterrichten anging – darüber hinaus weiterzuarbeiten. Bis Kriegsausbruch konnte er noch reisen und insbesondere in den skandinavischen Ländern auftreten und Werke im Rundfunk spielen. Seine schwere Erkrankung an Tuberkulose beeinträchtigte ihn später zusätzlich und führte dazu, dass er sich häufig in St. Blasien oder im Krankenhaus in Meiningen aufhalten musste. In St. Blasien hatte er andererseits größere Freiräume und konnte musikalisch in Gottesdiensten und Konzerten wirken. In Meiningen verfügten Raphaels über einen Freundeskreis. Sein Glaube gab Raphael Kraft. Raphael hatte auch Musikerkollegen, die ihn nicht vergaßen. Er wurde sogar aufgefordert, etwas für die Festschrift zum 70. Geburtstag Karl Straubes im Jahr 1943 beizusteuern, was er „aus gewissen Gründen“ ablehnte.224 Raphaels Versuche, bei den NS-Stellen Einschränkungen rückgängig zu machen, führten zu fragwürdigen Äußerungen von ihm und seiner Mutter. Günter Raphael war weder Emigrant noch Widerstandskämpfer.225

223 Güntzel wurde z. B. vorgeworfen, „zu jenen Schreibtischtätern, die die Ermordung von sechs Millionen Juden möglich machten“, zu zählen. Der Stadtrat prüfte eine posthume Aberkennung der Ehrenbürgerwürde, sah diese jedoch mit dem Tod als erloschen an. Siehe dazu u. a. „Güntzel war so gut wie vergessen“, Interview mit Christoph Gann, in: Meininger Tageblatt vom 05.07.2011; „Trotz Grabinschrift kein Ehrenbürger mehr“, Meininger Tageblatt vom 13.05.2014. 224 Vgl. Brief Raphael an Böttner vom 18.06.1942 (Kopie beim Verfasser). Kurt Thomas erwähnte in seinem Beitrag „Karl Straube als Freund der jungen Komponisten“, dass unter Leitung von Straube Werke Raphaels aufgeführt wurden; Thomas in: Karl Straube zu seinem 70. Geburtstag. Gaben der Freunde, Leipzig 1943, S. 80–89, hier S. 82. Straube und Raphael hatten sich im Sommer 1942 in Straßburg getroffen. 225 Wobei Hoßfeld schreibt, man könne „ohne G. Raphael Gewalt antun zu wollen, von einer antifaschistischen Einstellung und Grundhaltung sprechen“, Hoßfeld, Günter Albert Rudolf Raphael (1903–1960), (wie Anm. 13), S. 89.

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Abb. 19: Brief Günter Raphaels an Bernhard Böttner vom 2. April 1946, Ausschnitt, Privatbesitz.

Wenn Timothy Jackson ihm allerdings vorwirft, sich in seinen Briefen nicht für andere aus Rassegründen Entlassene eingesetzt, sondern versucht zu haben, sich so gut wie möglich in das NS-System einzupassen, ist dies mehr als nur gewagt und muss zurückgewiesen werden. Es erschließt sich nicht, in welchen Briefen Raphael auf andere Entlassene hätte eingehen und welchen Erfolg dies hätte haben sollen. Raphael erreichte z. B. bei Sibelius nicht einmal, dass dieser für ihn positive Beurteilungen schrieb oder sich um Arbeitsmöglichkeiten in Finnland bemühte. Wie hätte Raphael mehr für Dritte erreichen sollen? Auch gegenüber den Behörden in Deutschland hätte ein Unterstützungsschreiben für Dritte durch den selbst verfolgten Raphael schwerlich etwas gebracht. Inwieweit Raphael Interesse für andere Entlassene zeigte, etwa für den mit ihm entlassenen Laßner, lässt sich anhand der bekannten Briefe nicht beurteilen. Daraus, dass Raphael nicht emigrierte und im NS-Deutschland als Pianist auftrat und sich bemühte, weiterhin als Musiker tätig sein zu können, folgt auch schwerlich, er habe sich so gut wie möglich in das NS-System einpassen wollen. Von ihm liegen keine anbiedernden Kompositionen vor, in denen der Nationalsozialismus oder Hitler verherrlicht werden. Wie Raphael selbst ausführte, wollte er sich nicht im deutschen Musikleben vordrängen oder „breitmachen“. Er wollte als Musiker arbeiten, wollte, dass seine Kompositionen verlegt und aufgeführt werden. Sein Verhalten im Jahr 1937 beweist, dass er sich nicht blind den Wünschen der NSOrganisationen unterordnete. Raphael beugte sich im Zusammenhang mit dem Schlosskonzert nicht den Wünschen und Aufforderungen Güntzels und Raabes. Raphael zeigte sich vielmehr unbeeindruckt und wies ihnen, unterstützt von Rechtsanwalt Meng, ihre rechtlichen Grenzen auf. Raphael ließ sich nach dem Konzert sogar zur Behauptung hinreißen, dass der starke Konzertbesuch die Gesinnung der Meininger Bürger zeige. Die Meininger Bürger sollten also durch den Besuch des Konzerts gezeigt haben, dass sie gegen die Organisation eines gesellschaftlichen Ereignisses durch einen „Nichtarier“ und dessen Auftreten keine Bedenken hatten. Diese politische Äußerung konnte Raabe nicht so stehen lassen, fand deutliche Worte und führte angeblich zu ihm gelangte gegenteilige Stimmen aus Meiningen an. Raphaels Äußerung unterstützt letztlich Güntzels Befürchtung, dass ihm die „politische Leitung auf die Bude rücken“226 könnte. Raphaels Behauptung, 226 Wie Anm. 107.

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der Konzertbesuch sei als politische Gesinnungsbekundung zu verstehen, war inhaltlich allerdings kaum tragfähig, da 1937 dem Großteil der Konzertbesucher Raphaels „nichtarische“ Abstammung wohl kaum bekannt gewesen sein kann. Im Verhältnis Güntzel–Raphael erscheint fraglich, ob eine „intellektuelle Rivalität zwischen dem nachschaffenden Lehrer aus der Provinz und dem über 20 Jahre jüngeren kreativen Konservatoriumsdozenten aus den Metropolen Berlin bzw. Leipzig“,227 eine Rolle gespielt hat, wie Goltz meint. Güntzel übte zahlreiche Ehrenämter aus, war seit 1936 Städtischer Musikbeauftragter und stand in guter Verbindung zu den Komponistenwitwen Marie von Bülow und Elsa Reger. Seinem Wirken ist es zu verdanken, dass es am 11. April 1937 zur Enthüllung eines Reger-Denkmals in Meiningen kam. Überdies war Güntzel bewusst, dass manche Schreiben Raphaels nicht aus dessen Feder, sondern aus der des Rechtsanwalts stammten. Soweit Goltz meint, Güntzel habe im Fall Raphael seine Position als Städtischer Musikbeauftragter genutzt, „um die ‚Arisierung‘ des Meininger Musiklebens und damit nicht zuletzt seine eigene Profilierung voranzutreiben“,228 ist nicht recht zu erkennen, wie er das hätte erreichen sollen. Güntzel agierte nicht öffentlich. Seine Schreiben gingen hinsichtlich des Schlosskonzerts nur an Raphael/Meng und Raabe. Gegenüber Raabe zeigte sich Güntzel eher als jemand, der nicht wusste, was er noch tun sollte, und um Rat fragte. Zu weitgehend erscheint auch die Behauptung, Güntzel sei es gewesen, „der Günter Raphaels Berufstätigkeit in Meiningen erschwerte und schließlich ganz verhinderte.“229 Zwar konnte Raphael im Jahr 1938 kein Schlosskonzert mehr geben, weil Prinz Ernst ihm den Marmorsaal nicht mehr zur Verfügung stellte. Prinz Ernst führte als Begründung aber den früheren Rat Raabes an, nicht ein Verhalten Güntzels. Die Behauptung Raphaels gegenüber Elsa Reger von November 1949, Güntzel habe ihm u. a. die völlige Berufsausübung untersagt, überhöht die Möglichkeiten eines Musikbeauftragten und sollte nicht wörtlich genommen werden. Tatsächlich sind letztlich keine Belege für ein Bemühen oder Veranlassen Güntzels (und auch Raabes) hinsichtlich des Verlusts von Raphaels Unterrichtserlaubnis oder seiner Mitgliedschaft in der RMK vorhanden. Die Erteilung des Berufsverbots im Februar 1939 war keine Einzelmaßnahme. Der Umstand, dass Raphael bis in das Jahr 1939 hinein Mitglied der RMK sein konnte, legt nahe, dass Güntzel und Raabe nach dem umstrittenen Konzert von 1937 gerade keine Maßnahmen gegen Raphaels RMK-Mitgliedschaft ergriffen haben. Dokumentiert ist lediglich, dass Güntzel als Kreismusikbeauftragter Mitte Oktober 1938 den Veranstalter eines Konzert Raphaels, das bereits stattgefunden hatte, über dessen „nichtarische“ Abstammung informierte. Dies hatte im Ergebnis keine Auswirkung, da vier Monate später das Berufsverbot erfolgte. Vor dem Hintergrund von Raphaels Äußerung über das Zeigen der Gesinnung durch einen Konzertbesuch darf der Hinweis von ­Güntzel nicht überbewertet werden. Es gibt auch keine Notwendigkeit, die Bedrohungslage zu übertreiben und Äußerungen Raphaels zu verhinderten Abtransporten durch die SS oder Gestapo unkritisch zu 227 Goltz, „Ottomar Güntzels Rolle bei der Arisierung des Meininger Musiklebens“, (wie Anm. 14), S. 256. 228 Ebd. 229 So Goltz, ebd.

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übernehmen. Für den mit einer Christin verheirateten „Halbjuden“, dessen Kinder christlich erzogen wurden, stand eine Deportation tatsächlich bis zum Ende der NS-Zeit nicht bevor. Wie sich die NS-Führung bei längerer Dauer noch entschieden hätte, ist ungewiss. Wünschenswert wäre es, wenn Raphaels Werke wieder öfter in den Konzertprogrammen auftauchen würden. Und dies nicht nur anlässlich runder Jahrestage – wie des 60. Todestags230 im Jahr 2020. Anlass von Aufführungen sollte nicht eine Art Wiedergutmachung aufgrund von Raphaels Schicksal sein. So fragte Prof. Udo Zimmermann, der zu seiner Zeit im Kreuzchor selber Werke Raphaels sang, nach einem Vortrag über Raphael in Dresden: „Warum sollte etwas Bestand haben?“ Und er antwortet selbst: „Nicht weil es verdrängt war, sondern weil es wirklich Substanz hatte.“231 Die Werke Raphaels sollten daher gespielt werden, weil sie aus sich heraus hörenswert sind.

230 Zum 50. Todestag führte die Meininger Hofkapelle am 13. und 14.10.2010 Raphaels 3. Sinfonie auf. 231 Die Musik des osteuropäischen Judentums, (wie Anm. 15), S. 122.

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Tafel 1: Günter Raphael, Passbild aus Wehrpass (1940), Christine Raphael Stiftung.

Tafel 3: Maria und Marlen Raphael, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

Tafel 2: Ausweis der Reichsmusikkammer vom 3. November 1936, unterzeichnet von Peter Raabe, Christine Raphael Stiftung.

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Tafel 4: Pauline, Dagmar und Günter Raphael in der Helenenstraße in Meiningen, Privatbesitz von Dagmar Pieschacón-Raphael.

Tafel 5: Günter Raphael mit Tochter Christine, Christine Raphael Stiftung.

Tafel 6: Bernhard Böttner, Privatbesitz.

Christine Oeser

Jüdische Musiker im Konzentrationslager Buchenwald

Innerhalb der Untersuchung verfolgter Musiker1 im nationalsozialistischen Thüringen stellt die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und Gefangenschaft in Konzentrationslagern ein wesentliches Kapitel dar. In dem 1937 auf dem Ettersberg errichteten Konzentrationslager Buchenwald wurden jüdische Musiker unterschiedlichster nationaler Herkunft gefangen gehalten. Die Geschichte der jüdischen Häftlinge in Buchenwald ist bisher noch nicht vollständig aufgearbeitet, wichtige Grundlagen zu dieser Thematik finden sich jedoch in Harry Steins Studie Juden in Buchenwald 1937–1942. In der Einleitung macht Stein deutlich, vor welchem Hintergrund die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte dieser Häftlingsgruppe zu lesen ist: Erinnern, so heißt es, ist strukturiertes Vergessen. Wann, an wen und ob überhaupt erinnert wird, entscheiden Menschen nach ihren Interessen. Auch die in der DDR lange Zeit dominante Verweigerung der Erinnerung an 6 Millionen jüdische Opfer des Holocaust war nicht einfach nachlässig, sondern interessengeleitet. Sie hat das Andenken an die Toten beschädigt und in der politischen Kultur der Lebenden Defizite hinterlassen. In der Textur der Erinnerung an die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald nahm das jüdische Schicksal über Jahrzehnte einen geringen Platz ein.2

Dabei wurde jeder Fünfte3 der über 240.000 Menschen,4 die zwischen 1937 und 1945 in Buchenwald inhaftiert waren, der Kategorie „Jude“ zugeordnet. Einen ersten Überblick über die Anzahl jüdischer Musiker in Buchenwald ermöglicht die Häftlingsnummernkartei,5 die von Häftlingsschreibern in der Lagerschreibstube für den Rapportführer angelegt wurde. 1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulinum verwendet, denn die Darstellung bezieht sich vorwiegend auf das Stammlager Buchenwald, in dem größtenteils männliche Personen gefangen gehalten wurden. 2 Harry Stein, Juden in Buchenwald 1937–1942, Weimar 1992, S. 5. 3 Ebd. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Begriff „Jude“ in Bezug auf das Konzentrationslager einen Terminus darstellt, der für eine von der SS nach rassistischen Gesichtspunkten geschaffene Häftlingsgruppe Gültigkeit besaß, wobei kein Unterschied zwischen Religiosität und Herkunft gemacht wurde. 4 Harry Stein, Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999, S. 253. 5 Die Häftlingsnummernkartei befindet sich heute mit über 139.000 Karten zum Großteil im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar unter der Signatur NS 4 Bu und ist zudem in der Mahn-

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Sie verzeichnet die Inhaftierten anhand ihrer Häftlingsnummern und gibt Auskunft über Einlieferung, Haftgrund, Beruf und Verbleib. Die Aufzeichnung der Häftlingsnummern begann in Buchenwald mindestens im Oktober 1938, wahrscheinlich sogar noch früher, und wurde vermutlich bis zum 27. März 1945 geführt. Insgesamt wurden in Buchenwald über 140.000 Häftlingsnummern vergeben. Für die vorliegende Untersuchung wurde die Häftlingsnummernkartei nach verschiedenen Berufsbezeichnungen durchsucht. Neben dem allgemeinen Begriff Musiker wurden auch spezialisierende Berufsbezeichnungen wie Dirigent, Geiger, Pianist, Sänger und Komponist abgefragt. Das Ergebnis ist eine Liste von insgesamt 44 jüdischen Gefangenen, von denen 34 unter der Berufsbezeichnung Musiker erfasst wurden. Daneben finden sich zwei Kapellmeister, ein Tempelsänger, vier Sänger, zwei Klavierkünstler und ein Violinlehrer. Diese verhältnismäßig niedrige Zahl ist in erster Linie auf die Unvollständigkeit der überlieferten Häftlingsnummernkartei zurückzuführen. Unberücksichtigt blieben die ca. 1000 Nummernkarten aus dem ITS-Archiv, die separaten Verzeichnisse der weiblichen Häftlinge aus den Außenlagern sowie Laienmusiker und Musiker, die bei der Ankunft einen anderen Beruf angaben, um ihre Überlebenschancen im Lager zu erhöhen. Nicht zuletzt ist auch die Zahl der jüdischen Gefangenen unvollständig, da im Zuge der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas nicht alle Juden mit einer Nummer erfasst wurden. Demzufolge kann die Übersicht der 44 jüdischen Musiker aus Buchenwald auf der Grundlage der Häftlingsnummernkartei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Weitere Namen jüdischer Musiker lassen sich den Erinnerungsberichten Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald entnehmen. Es handelt sich bei den erwähnten Personen um Künstler, denen im Lager aufgrund ihrer musikalischen Aktivitäten besondere Bedeutung zukam. Einige hinterließen zudem autobiografische Schriften. Drei Künstler sollen im Folgenden näher betrachtet werden: Dies sind der Wiener Kabarettist, Pianist und Komponist Hermann Leopoldi (1888–1959), der niederländische Geiger Jo Juda (1909– 1985) und der US-amerikanische Sänger und Schauspieler Robert Clary (geb. 1926).6 Diese drei Personen sind in besonderer Weise geeignet, einen Einblick in das Schicksal jüdischer Musiker im Konzentrationslager Buchenwald zu geben, da sie verschiedene musikalische Berufe ausübten und sich zu unterschiedlichen Zeiten im Lager befanden.

und Gedenkstätte Buchenwald einsehbar. Weitere ca. 1000 Originalkarten befinden sich im International Tracing Service Arolsen (im Folgenden: ITS). 6 Die Memoiren von Hermann Leopoldi wurden nicht veröffentlicht, sind jedoch in seinem Nachlass in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek einsehbar. Jo Juda verarbeitete seine Lebenserfahrungen in vier Büchern. Der erste Band beschreibt seine geigenpädagogischen Erfahrungen. Der zweite Band handelt von seinen Kindheitserinnerungen in Amsterdam von 1910 bis 1930. Im dritten Band befasst sich Juda mit den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Erst der zuletzt erschienene Band setzt sich mit den Erfahrungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern auseinander: Jo Juda, Mens en viool, vioolpedagogische ervaringen en beschouwingen, Amsterdam 1964; ders., De Zon stond nog laag, Nieuwkoop 1975; ders., Voor de duisternis viel, Nieuwkoop 1978; ders., Jantje Paganini, Häftling 2613, Nieuwkoop 1979; Robert Clary, From the Holocaust to Hogan’s Heroes, Lanham 2001.

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Die nachfolgende Darstellung gliedert sich in drei historische und biografische Abschnitte. In den historischen Abschnitten wird nachvollzogen, wie sich die zunehmende Verschärfung der Judenverfolgung auf die Situation in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern im Allgemeinen und Buchenwald im Speziellen auswirkte und inwieweit es den jüdischen Häftlingen in diesem Zusammenhang möglich war, künstlerisch aktiv zu werden. In den biografischen Abschnitten wird der Lebensweg der drei genannten Musiker nachgezeichnet, wobei die Erfahrungen in Konzentrationslagern, insbesondere in Buchenwald, im Mittelpunkt stehen. Anhand der musikbezogenen Lagererlebnisse lassen sich grundlegende funktionelle Aspekte des Musiklebens im Konzentrationslager nachvollziehen. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wie sich die Hafterfahrungen auf die weitere Biografie und die künstlerische Entwicklung auswirkten.

1. Die Anfänge des Lagers 1937 bis Kriegsbeginn Spätestens nach der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze am 15. September 1935 kam ein Prozess in Gang, der Menschen jüdischer Herkunft an den Rand der Gesellschaft drängte. Nichtsdestotrotz standen die ersten Verhaftungen jüdischer Personen noch unter dem Vorzeichen politischer Verfolgung. Ausgehend von Gewalttaten gegen österreichische Juden im März 1938 setzten Massenverhaftungen und Deportationen nach Dachau ein. Im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ASR) wurden im April und Juni 1938 sogenannte „Asoziale“ verhaftet, um Arbeitskräfte für die Kriegsaufrüstung zu gewinnen. Zwar richtete sich diese Aktion nicht primär gegen die jüdische Bevölkerung, betraf diese in ihrem späteren Verlauf jedoch zunehmend. Eine erste Verhaftungswelle wurde im April 1938 durchgeführt, wobei Juden nur vereinzelt betroffen waren. Die zweite Verhaftungswelle im Juni 1938 wirkte gezielt auf die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung hin. Durch die Kriminalpolizei wurden in den Großstädten Massenverhaftungen an öffentlichen Orten wie Cafés und Lichtspieltheatern durchgeführt. Unter dem Vorwand von Vorstrafen, die zum Teil sehr lange zurücklagen oder in den Monaten zuvor inszeniert worden waren, wurden gezielt Juden gefangen genommen.7 Zunehmend arteten die Verhaftungen in antijüdische Exzesse aus. Dieser massive Terror setzte sich in Buchenwald fort und half, den psychischen Druck der Juniaktion über Wochen und Monate aufrechtzuerhalten und dadurch die Bereitschaft zur Auswanderung zu erhöhen. Innerhalb von wenigen Wochen stieg die Gesamtlagerstärke in Buchenwald rapide, über 50 Prozent der eingelieferten Personen waren Juden. Auf einen derartigen Zuwachs war das Lager nicht eingestellt, sodass über 500 Häftlinge in provisorischen Unterkünften untergebracht werden mussten. Von Anfang an wurden die Juden in separaten Lebens- und Arbeitsbereichen untergebracht. Ab August 1938 befanden sich die jüdischen Gefangenen in vier Reihen Holzbaracken am Appellplatz, im September erfolgte eine Umbelegung. Die Unterbringung in separaten Blocks verhinderte einerseits jegliche Form der Solidarität und erleichterte andererseits die Durchführung von zahlreichen Repressalien und Sonderbestimmungen, 7 Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 16.

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wie etwa das Verbot, in der Kantine einzukaufen, das Postverbot oder strenge Essensrationierung. Besonders gefürchtet waren die sogenannten „Blockkontrollen“, die für die SS Anlass zu Plünderung und Misshandlung boten. Zudem wurden Juden gezielt zu körperlicher Schwerstarbeit unter freiem Himmel eingeteilt, wie den Trägerkolonnen, dem Steinbruch oder der Gärtnerei. Zum Appell mussten die Juden in einem separaten Block antreten: Hier wurden sie zum Strafexerzieren und dem Singen des Judenliedes gezwungen,8 das 1938 in Buchenwald von einem unbekannten Häftling auf die Melodie des Liedes Wenn alles grünt und blüht auf dieser Erde geschrieben worden war. In fünf Strophen bedient der Text alle erdenklichen antisemitischen Stereotype und bezichtigt die Juden als „faule Lügner, Betrüger, Geizhälse mit hässlichen Fratzen, krummen Nasen und verkrümmten Maklerhänden“. Möglicherweise wollte sich der Textautor durch das Dichten dieses antisemitischen Textes Vorteile bei den Bewachern verschaffen; das Lied kann aber auch als Ausdruck des Judenhasses innerhalb der Lagergesellschaft gelesen werden.9 Laut Manfred Langer ließ Schutzhaftlagerführer Arthur Rödl10 das Lied zwischenzeitlich verbieten, da selbst ihm der Text „zu dumm“ erschien, doch unter den nachfolgenden Schutzhaftlagerführern Hermann Florstedt und Wolfgang Plaul11 wurde es wieder in den Kanon der genehmigten Lagerlieder aufgenommen und noch bis ca. 1943 im Lager gesungen.12 Nach dem Abendappell mussten die Juden häufig noch stundenlang auf dem Appellplatz singen und auch beim Besuch hoher Offiziere aus dem SS-Apparat wurden sie gezwungen, das verhasste Lied vorzutragen. Der Prager Arzt Dr. Paul Heller beschreibt 1948 in einem Hearing des US-Kongresses, welch „fürchterliche Grausamkeit“ und seelische Belastung das Singen dieses Liedes bedeutete.13 Dr. Gustav Herzog erinnert sich, dass „manch einer vor Schmerz über diese Verhöhnung [weinte], aber eisern wurde weitergesungen.“14 Aufgrund der besonders schweren Lebens- und Haftbedingungen waren die Todeszahlen unter den Juden in Buchenwald von Anfang an sehr hoch. Oftmals erfuhren die Angehörigen erst vom Verbleib der Gefangenen, wenn diese bereits verstorben waren. Die

 8 Bericht Dr. Paul Heller in: Stein, Konzentrationslager Buchenwald, (wie Anm. 4), S. 51; Bericht Dr. Gustav Herzog in: Thomas Hofmann, Hanno Loewy und Harry Stein, Pogromnacht und Holocaust. Frankfurt, Weimar, Buchenwald … Die schwierige Erinnerung an die Stationen der Vernichtung, Frankfurt a. M. 1994, S. 129; Bericht Manfred Langer in: David A. Hackett, Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München 1996, S. 204 f.; Bericht Stefan Heymann in: ebd., S. 169.  9 Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 67. 10 Arthur Rödl (1898–1945) war von August 1937 bis 1940 1. Schutzhaftlagerführer des Konzentrationslagers Buchenwald. 11 Hermann Florstedt (1895–unbekannt) war von Oktober 1940 bis 1942 1. Schutzhaftlagerführer des Konzentrationslagers Buchenwald. Wolfgang Plaul (1909–1945 verschollen) war seit Mai 1942 im Konzentrationslager Buchenwald tätig und zeitweise als 2. Schutzhaftlagerführer eingesetzt. 12 Bericht Manfred Langer in: Hackett, Der Buchenwald-Report, (wie Anm. 8), S. 204 f. 13 NA Washington, Film 1, zit. n. Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 66. 14 BwA 31/177: Bericht Gustav Herzog, Das Lied von Buchenwald.

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sterblichen Überreste wurden nur zugeschickt, wenn ein Grab auf einem jüdischen Friedhof nachgewiesen werden konnte. Im September 1938 stieg die Zahl der jüdischen Inhaftierten in Buchenwald weiter. Einhergehend mit der Mobilisierung der Wehrmacht zur Besetzung des Sudetenlandes im „Fall Grün“ wurden jüdische Gefangene von Dachau nach Buchenwald überstellt.15 In dieser Zeit war in Buchenwald jeder dritte Häftling Jude. Mit dem Transport aus Dachau kamen viele Intellektuelle, Ärzte, Rechtsanwälte, Politiker und Künstler nach Buchenwald; darunter der Dichter Jura Soyfer (1912–1939), der Schriftsteller und Rechtsanwalt Dr. Heinrich Steinitz (1879–1942), der Kabarettist Paul Morgan (1886–1938), der Librettist Fritz Löhner-Beda (1883–1942) und der Komponist Hermann Leopoldi (1888–1959). Im Oktober und November 1938 erreichten die Verfolgungswellen gegen die jüdische Bevölkerung ihren Höhepunkt. Ziel war es, die Juden zur Aufgabe ihres Besitzes und zur Emigration zu zwingen. Im Zuge der sogenannten Reichskristallnacht vom 9./10. November 1938 wurden 26.000 jüdische Männer systematisch verhaftet und nach Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau deportiert. Von April bis Dezember 1938 wurden insgesamt 13.687 Juden nach Buchenwald gebracht. Kurz nach den massiven Verhaftungswellen im November setzten Entlassungen ein. Voraussetzung hierfür war die Emigration der Juden. Beim Verlassen des Lagers wurden sie gezwungen, ihre Wertsachen abzugeben.16 Auch während der Gefangenschaft erpresste die SS Gelder in Form von „Strafgeldern“, „Sammlungen“ und „Spenden“. Auf diese Weise wurden in Buchenwald u. a. der Häftlingskrankenbau, das Judenrevier und eine Instrumentenanschaffung für die Lagerkapelle finanziert. Bis Mitte Dezember verließen durchschnittlich 250 Männer täglich das Lager. Insgesamt wurden 1938 noch 11.600 Juden entlassen. Am 1. Januar 1939 befanden sich nur noch 1605 Juden im Lager. Erst Mitte 1939 gingen die Entlassungen zurück und endeten Mitte 1940 fast vollständig.17

2. Hermann Leopoldi, September 1938 bis Februar 1939 in Buchenwald Einer derjenigen, denen es gelang, durch Auswanderung dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen, war der Kabarettist und Komponist Hermann Leopoldi.18 Er wurde am 15. August 1888 in Wien-Meidling unter dem Namen Hermann Kohn bzw. in der jüdischen Variante Hersch Cohn geboren. Der Vater, Klavierlehrer und Pianist, unterrichtete die beiden Söhne Hermann und Ferdinand und arbeitete unter dem Künstlernamen „Leopoldi“ als Pianist in verschiedenen Wiener Cafés und Etablissements. Auf diese Weise kam

15 Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 31–33. 16 Ebd., S. 47. 17 Ebd., S. 65. 18 Die vorliegende Darstellung zu Hermann Leopoldi stützt sich auf Georg Traska und Christoph Lind, Hermann Leopoldi. Hersch Kohn. Eine Biographie, Wien 2012.

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Hermann Leopoldi schon früh in Berührung mit der Kabarett-, Varieté- und Revueszene und trat bereits mit 16 Jahren als Pianist in Varietétheatern und Bars auf. Während des Ersten Weltkriegs wurde Leopoldi zum Kriegsdienst verpflichtet und arbeitete als Kapellmeister beim Frontvarieté. In dieser Zeit trat er nicht nur in Spitälern und Lazaretten auf, sondern im November 1915 auch im Wiener Etablissement „Ronacher“. Diesen Auftritt bezeichnete er später als seinen künstlerischen Durchbruch. Über Leopoldis Verhältnis zum Krieg ist keine Stellungnahme überliefert. Die Liedtexte dieser Zeit sind in ihrer Aussage keineswegs homogen: Zumeist verbleiben sie in einer unpolitischen Haltung, nehmen mitunter aber auch propagandistische Züge an und setzen sich teilweise sogar kritisch mit den Auswirkungen des Krieges auseinander. Das Lied O Wien, wie siehst du aus (1916) beschreibt die materiellen Entbehrungen und sozialen Phänomene infolge des Ersten Weltkrieges: Vereinsamt fühlt sich Frau und Mutter, die Männer steh’n am Kriegsschauplatz Und gibt es auch Ersatz für Butter, Es gibt doch keinen Mannersatz. Dafür ersetzt die Frau den Mann jetzt In jedem männlichen Metier, Sie leistet Dienst bei Post und Bahn jetzt Und kam gewaltig in die Höh! Sie kommt bestimmt nicht wieder nieder, Wenn einst vorbei das Kriegsgebraus.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann für Hermann Leopoldi eine Zeit der künstlerischen Neuorientierung. Zunächst trat er weiterhin als Arrangeur, Pianist und Sänger auf verschiedenen Kleinkunstbühnen auf, doch schon bald wandte er sich stärker dem Komponieren zu und experimentierte mit amerikanischer Tanzmusik und jazznahen Rhythmen. Den ersten durchschlagenden Erfolg erzielte er mit Schön sind die Mädels von Prag (1922) auf einen Text des Librettisten Fritz Löhner-Beda. In Leopoldis Liedern tauchen immer wieder jüdische Begriffe und Themen auf. Im Wiener Kulturleben des beginnenden 20. Jahrhunderts war das Jüdische kein Politikum, sondern vielmehr ein Typus, der sich vor allem in sprachlichen Ausprägungen zeigte und dessen Wurzeln ins Wiener Volkstheater des 19. Jahrhunderts zurückreichten. Der jüdische Jargon war im Wien des 19. Jahrhunderts als künstlerisches Kolorit und humoristisches Element verbreitet.19 So setzte Leopoldi gezielt Worte wie „Dalles“ oder „Chuzpe“ ein,20 die im Bürgertum der Wiener Zwischenkriegszeit gängig waren. Insbesondere in den 1920/30er Jahren mehren sich bei Leopoldi jüdisch assoziierte Themen und Charaktere. Nur selten sind diese Anspielungen jedoch so vordergründig, wie in der Soirée bei Tannenbaum (1920), welche die neureiche jüdische Gesellschaft bespöttelt. Arthur Reb19 Ebd., S. 115. 20 „Dalles“ = Geldnot, „Chuzpe“ = Unverschämtheit, Dreistigkeit.

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ners (1890–1949) Liedtext beschreibt, wie sich während einer exklusiven Abendgesellschaft der Gastgeber und seine Gäste in einer Reihe von Fauxpas übertreffen, die sich aus ihrer neu erworbenen Stellung ergeben. Die Gäste erfreuen sich nicht nur an den „MakkaroniMöbeln“ und den hundefutterbelegten Brötchen, sondern auch an dem musikalischen Beitrag der Tochter Fini, welche Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 in cis-Moll um einige exquisite Töne bereichert. Da die jüdischen Anspielungen vor allem in arrangierten Potpourris und seltener in Eigenkompositionen auftreten, vermutet Traska, dass sie weniger als individuelles Statement als vielmehr als allgemeiner Ausdruck des Kabaretts der Zeit zu lesen sind. In diesem Zusammenhang erwähnt Traska auch den Bummel durch Wien (1924):21 […] Wir haben so wie die Schweiz auch im Wappen ein Kreuz. Schaust du dir das Kreuz genauer an, ist oft ein Hackerl dran. O Hackenkreuz, o Hackenkreuz was machst du für Gezeter? [nach „O Tannenbaum“] Du weißt von Hugo Bettauer, was Österreich ohne Juden wär. O Hackenkreuz, o Hackenkreuz, Wie wild sind deine Blätter! In der Kärntnerstraße und am Stephansdom schwimmt der Eingeborne tief im fremden Strom, London, Prag, Berlin und Czernowitz Und auch Lemberg ist noch in unserem Besitz. Und wer führt dort das große Wort? Der Mister Johnny Rappaport! Dieser smarte English Boy mit dem Yankee Didle Doy. Schuhe, Kleider, alles neu, wie ein echter Chicago-Boy Er ist erst zwei Wochen da und kommt grad aus Amerika Und er fährt bald wieder hin aber über Oświęcim …

Diese wenigen Zeilen nehmen mit ihren aus retrospektiver Sicht symbolhaft aufgeladenen Anspielungen die Entwicklung der Judenverfolgung scheinbar vorweg, wie Traska erläutert. Zur Zeit der Entstehung des Liedes war es durchaus noch möglich, sich über die Nationalsozialisten als „Splittergruppe“ lustig zu machen. Das „Kreuz mit Hackerln dran“ beziehe sich auch nicht, wie man im Kontext geneigt ist zu vermuten, auf das Hakenkreuz, sondern vermutlich auf das Kruckenkreuz, welches von den Christlichsozialen bereits seit 1922 im 21 Ebd., S. 129–130.

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Großen Ehrenzeichen der Republik Österreich verwendet wurde. Eindeutiger hingegen sei der Verweis auf Hugo Bettauer, dessen 1922 erschienener Roman Stadt ohne Juden die Judenverfolgung vorausahnt. Die Figur des „Johnny Rappaport“ steht hier für den fremden Zuwanderer. Auch Chicago verweist als größte polnische Einwanderergemeinde in den USA mit einer großen jüdischen Gemeinde auf die Auswanderung. In diesem Zusammenhang ist letztlich auch die Nennung der polnischen Stadt Oświęcim zu interpretieren, die wegen ihrer Lage und Eisenbahnanbindung besondere Bedeutung für die Auswanderung erlangte. Dass die Stadt später unter dem deutschen Namen Auschwitz bekannt werden sollte, konnte Leopoldi 1924 noch nicht vorausahnen.22 Am 12. September 1921 ließ Hermann Kohn seinen Namen amtlich auf Leopoldi ändern. Inwieweit hierin eine Entfernung vom Judentum zu sehen ist, bleibt fraglich, denn Leopoldi hatte die Religion, in die er geboren wurde, niemals praktiziert und sah sich auch keineswegs veranlasst, aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien auszutreten, der er Zeit seines Lebens angehörte. Vielmehr versprach der Name Leopoldi in der Leopold-Stadt einen größeren Erfolg als Kabarettist. Ende Januar 1922 eröffneten Hermann Leopoldi, sein Bruder Ferdinand und der Conférencier Fritz Wiesenthal in der Rothgasse das Etablissement „L. W.“ (Leopoldi–Wiesenthal). Nach nur wenigen Jahren musste das Kabarett Anfang 1926 schließen. Nun tourte das Trio in wechselnder Besetzung durch Deutschland und ganz Europa. Berlin wurde in diesen Jahren zur zweiten Heimat. Als im März 1938 Österreich annektiert wurde, versuchte Leopoldi mehrfach erfolglos zu fliehen, bevor er am 26. April 1938 in seiner Wohnung in Wien als Jude verhaftet wurde. Am 24. Mai 1938 wurde er ins Polizeikommissariat in der Landstraße gebracht und am folgenden Tag in die Karajangasse überstellt. Von dort wurde er drei Tage später auf einen Transport nach Dachau geschickt. Bei seiner Ankunft in Dachau am 31. Mai 1938 wurde Leopoldi von einem Münchner Arzt erkannt, der ihm sofort seine Unterstützung anbot.23 Bald traf Leopoldi auch auf die Wiener Kollegen: Fritz Grünbaum (1880–1941), Paul Morgan und Fritz Löhner-Beda. Gemeinsam mit ihnen richtete er sogenannte „Akademien“ aus: An den Sonntagnachmittagen zogen die Wiener Künstler von Block zu Block, spielten Sketche und sangen bekannte Lieder. Zum Teil entstanden neue Lieder, Kontrafakturen oder Szenen. All dies musste jedoch im Geheimen geschehen, da die SS auf die Darbietungen der jüdischen Häftlinge willkürlich reagierte. Es wurden Wachen vor den Blocks aufgestellt, die die Künstler vor dem Herannahen der Bewacher warnen sollten. Tatsächlich wurde Leopoldi einmal bei einem Auftritt in einem „Arierblock“ entdeckt, kam aber ohne Bestrafung davon. Aus Dankbarkeit für seine Vorträge nahmen die Mitgefangenen ihn in Schutz und steckten ihm Essen zu. Gelegentlich musste Leopoldi auch vor den Bewachern musizieren, wie ein Bericht vom Weihnachtsabend 1938 belegt.24 Neben Formen selbstbestimmten Musizierens gab es demnach auch musikalische Darbietungen 22 Ebd., S. 132. 23 Leopoldi gibt als Ankunftstag in Dachau den 28.05.1938 an. Laut Schreibstubenkarte und Zugangsbuch war es jedoch der 31.05.1938. 24 Traska und Lind, Hermann Leopoldi, (wie Anm. 18), S. 185 f.

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auf Anordnung der SS. In diesem Zusammenhang sind Lautsprecherübertragungen an den Sonntagnachmittagen zu nennen, bei denen Grammofonplatten und Radiobeiträge erklangen. Hermann Leopoldi berichtet von einer Begebenheit in diesem Kontext: Einmal stürzten meine Kameraden zu mir herein und riefen: „Hermann, komm schnell, Du singst draußen!“ Ich eilte hinaus und tatsächlich hörte ich mich das Kleine Café in Hernals singen. Der Klavierhumorist Hermann Leopoldi singt dem Schutzhäftling Hermann Leopoldi einen Schlager vor! Eigentlich eine humorvolle Kuriosität.25

Derartige Übertragungen sind auch aus Buchenwald überliefert, wo Fritz Löhner-Beda eine ähnliche Situation erlebte, als über Lautsprecher Operetten Lehárs ausgestrahlt wurden, deren Librettist er war. Am 22. September 1938 wurde Hermann Leopoldi auf Transport nach Buchenwald geschickt. Aufgrund seines musikalischen Talents konnte er für sich und die anderen Gefangenen gemilderte Bedingungen erwirken: Auf der Fahrt dorthin hatte es sich zufälligerweise ergeben, dass unter den SS-Leuten ein Wiener war, der mich erkannte und seinen Kameraden erzählte, dass im Zug ein Wiener Komiker sei. Daraufhin kamen sie scharenweise zu mir und ließen sich von mir die ganze Nacht vorsingen, was ich sehr gerne tat, da ich dadurch nicht nur mich, sondern unser ganzes Abteil von den unzähligen Torturen und Drangsalierungen, die die anderen Häftlinge auszustehen hatten, rettete. Einer der SS-Männer ging sogar so weit, mir drei Zigaretten zu schenken, was jedem, der ein Konzentrationslager kennt, direkt als etwas Unfassbares erscheinen wird.26

Am 23. September 1938 kam Leopoldi in Buchenwald an. Aus dieser Zeit berichtet er von den erniedrigenden Singstunden im Auftrag des bereits erwähnten Schutzhaftlagerführers Rödl: So war eines seiner größten Steckenpferde, dass er – man stelle sich vor – die Häftlinge eines Konzentrationslagers zu seinem persönlichen Gaudium Volks- und Kinderweisen singen ließ und sich dabei großartig amüsierte. […] Wollte er, dass wir ein Lied singen, gab er durchs Mikrophon den kurzen Befehl: „Platte auflegen“, worauf wir mit knurrendem Magen und todmüde von der schweren Tagesarbeit, statt endlich abzutreten und zu unserer Menage zu kommen, das schöne Lied vom Großmütterchen27 singen mussten und noch dazu mit vierzehn Strophen.28

25 Ebd., S. 187. 26 Ebd., S. 189 f. 27 Gemeint ist das Soldatenlied Es liegt ein Dörflein mitten im Walde, mit den Versen: „Es liegt ein Dörflein mitten im Walde / übersät vom Sonnenschein / Und am letzten Hause der Halde / Sitzt ein steinalt Mütterlein.“ 28 Ebd., S. 189 f.

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Ein zentrales Ereignis in der Musikgeschichte Buchenwalds, das in zahlreichen Berichten überliefert ist, stellt die Entstehungsgeschichte des Buchenwaldliedes dar.29 Im Jahr 1938 wurde von Rödl ein Wettbewerb ausgerufen, der die Gefangenen dazu aufforderte, eine eigene Hymne für Buchenwald zu verfassen. Der Gewinner sollte mit 10 Mark belohnt werden. Viele Gefangene reichten ihre Kompositionen ein, darunter auch Leopoldi und Löhner-Beda, die sich schließlich durchsetzen. Wegen ihrer jüdischen Herkunft mussten die Autoren jedoch anonym bleiben. Das Buchenwaldlied wurde im Dezember 1938 unter Zwang eingeführt. Auf dem Appellplatz sollten 7000 Menschen das Lied zum ersten Mal gemeinsam singen. Als dies nicht sofort gelang, mussten die Gefangenen das Lied auf den Blocks einstudieren. Fortan wurde das Buchenwaldlied zu unterschiedlichsten Anlässen im Lager gesungen, z. B. während der Appelle oder beim Ein- und Ausmarsch zu den Arbeitsstätten.30 Zudem wurde das Lied in Verbindung mit Folterungen missbraucht: Während der Auspeitschung von Gefangenen musste es von der Lagerkapelle gespielt werden. „Schlechtes Singen“ diente als Anlass für weitere Bestrafungen.31 Angesichts dieser Verwendung stieß das Buchenwaldlied bei vielen Gefangenen zunächst auf Ablehnung. Hermann Leopoldi berichtet aber auch Gegenteiliges, denn der Text war bewusst so gestaltet, dass er eine Identifikationsfläche für die Inhaftierten bot: Dieser Buchenwaldmarsch gefiel dem Lagerführer [sic] außerordentlich; in seiner Beschränktheit sah er gar nicht, wie revolutionär das Lied eigentlich war. Von diesem Tag an mussten wir den Marsch früh, mittags und abends singen. Marschierten die Kolonnen zur Arbeit, so wurde schon nach wenigen Schritten das Lied angestimmt. Rödl pflegte zu der Melodie zu tanzen, während auf der einen Seite die Lagermusik spielte und auf der anderen Seite die Leute ausgepeitscht wurden … Der Marsch wurde unsere Hymne, die wir bei jeder Gelegenheit sangen, und vor allem der Refrain wurde zum Ausdruck unserer Hoffnung. Durch unsere Arbeitskolonnen wurde das Lied in die umliegenden Dörfer getragen, und es war bald im ganzen Land bekannt. Auch die alliierten Sender nahmen es auf, und Radio Straßburg sendete es in seiner Deutschlandsendung.32

Insbesondere die letzte Zeile wurde von den Gefangenen inbrünstig mitgesungen: „Denn einmal kommt der Tag, da sind wir frei!“ Otto Halle erinnert sich, dass das Singen der letz-

29 Siehe hierzu etwa: Bruno Heilig, Menschen am Kreuz, Weitra 2002, S. 212 u. 244; Bericht Stefan Heymann in: Hackett, Der Buchenwald-Report, (wie Anm. 8), S. 174 f. 30 BwA 31/177: Bericht Gustav Herzog, (wie Anm. 14); Leonhard Steinwender, Christus in Buchenwald. Weg der Gnade und des Opfers, Salzburg o. J., S. 50. 31 Josef Rudolf, Byl jsem číslem 7809 … [Ich war die Nummer 7809 …], Brünn 1945, S. 57; zit. n. Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnern und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt a. M. 21998, S. 66. 32 Stephan Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat, hrsg. von Andor Izsák unter Mitw. von Susanne Borchers (= Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, Bd. 6), Hannover 2001, S. 237.

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ten Zeile „schon eine Demonstration [war], die manchmal sogar der SS auffiel und dann eine Mahlzeit kosten konnte.“33 Ähnliches berichtet Robert Leibbrand: Wenn dann der Befehl zum Singen kam, suchten unsere Augen das Krematorium, aus dessen Schornstein die Flammen zum Himmel schlugen. Unseren ganzen Haß legten wir dann in das Lied. Aus heiseren Kehlen brüllten wir das „Frei!“ des Kehrreimes hinaus, daß es vom Wald widerhallte.34

Mit steigender Beliebtheit wurde das Buchenwaldlied Gegenstand mehrerer Neudichtungen, die den Text im Sinne der Häftlinge neu interpretierten: Und wenn nach des Tages Last und Mühen Die Kolonnen abends in das Lager ziehen Gar trotzig die Lieder erschallen. Und es kommt auch einmal unsere Zeit. Dann öffnen die Tore der Freiheit sich weit Und die Ketten, die Ketten sie fallen!35

Leopoldi trat in Buchenwald nicht nur als Komponist in Erscheinung, sondern auch als Sänger und Kabarettist. Im Winter 1938/39 fanden an jedem Sonntag Blockkonzerte mit den Wiener Kabarettisten statt. Zunächst stieß die Idee, Kabarett im KZ zu spielen, bei den Mithäftlingen laut einem Bericht von Bruno Heilig auf Unverständnis, doch dann nahm die Zahl der Zuschauer zu: „Die Kabarettnachmittage zauberten uns einen Ausschnitt aus der Freiheit vor. Man war eine oder zwei Stunden lang fast zu Hause […]“.36 Leopoldis Beiträge stellten nur selten einen Bezug zur Lagersituation her,37 Sketche anderer Künstler trugen hingegen oftmals politische Züge. Wie bereits in Dachau wurde auch in Buchenwald eine strikte Trennung von Juden und „Ariern“ in den Blocks eingehalten. Benedikt Kautsky berichtet, dass deutsche Häftlinge „trotz des strengen Verbots, Judenbaracken zu betreten, begeisterte Zuhörer waren. Ich sehe sie heute noch vor mir, wie sie zu Dutzenden bei einer unvermuteten SS-Kontrolle aus allen Fenstern sprangen“.38 Mitunter waren bei den Konzerten sogar die Bewacher zu Gast, wie u. a. Berichte von Benedikt Kautsky und Peter Wallner belegen.39

33 BwA 9/90–14: Bericht Otto Halle, Tonbandprotokoll Februar 1982. 34 Bericht Robert Leibbrand zit. in: Sonja Staar, Kunst, Widerstand und Lagerkultur. Eine Dokumentation, hrsg. von der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald (= Buchenwaldheft 27), Weimar u. a. 1987, S. 18. 35 BwA 31/177: Bericht Gustav Herzog, (wie Anm. 14). 36 Bruno Heilig, Menschen am Kreuz, Freistadt 1989, S. 123. 37 BwA: Brief Herbert Morgenstern an das Kunstarchiv, Berlin, 16.08.1987. 38 Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Wien 1961, S. 214 f. 39 Peter Wallner, „By order of the Gestapo“. A record of life in Dachau and Buchenwald concentration camps, London 1941, S. 86 f.

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Mithilfe seiner Mitgefangenen gelang es Leopoldi, in der Strumpfstopferei unterzukommen, einem überdachten Kommando, in dem er den harten Winter auf dem Ettersberg überlebte. Anfang Februar 1939 konnte Eugenie Leopoldi, die ihren Eltern in die USA nachgefolgt war, ein Affidavit40 für ihren Mann erwirken. Am 21. Februar 1939 wurde Leopoldi aus Buchenwald entlassen und kehrte nach Wien zurück. Schon bald folgte er seiner Frau in die USA nach. Seine Ankunft in New York wurde von zahlreichen Artikeln in der Presse begleitet, wobei immer wieder die Entlassung aus dem Konzentrationslager Erwähnung fand. In New York erhielt Leopoldi von vielen Seiten Unterstützung. Bereits kurz nach seiner Ankunft wurde er vom Filmkomiker Eddie Cantor (1892–1964) nach Hollywood eingeladen, um bei einem Konzert in Los Angeles aufzutreten: Ich erschrak sehr über dieses Telegramm, denn mir war sofort klar, dass ich ohne Haare und ohne ein einziges Wort Englisch zu können, nicht auftreten könne. So lehnte ich […] ab, was vielleicht die erste große Dummheit meines Lebens war, die ich gemacht hatte, und die erste einer Reihe von verpassten Gelegenheiten. Aber ich konnte doch wirklich nicht auftreten, und mich gerade nur als Schauobjekt, wie die siamesischen Zwillinge oder die schwerste Frau der Welt, dem Publikum zu zeigen, war mir doch etwas zu unangenehm.41

Für seinen künstlerischen Neuanfang wählte Leopoldi dann ein kleines Lokal mit dem heimatlichen Namen „Alt Wien“. Hier ließ er die Programme des Kabaretts „L. W.“ wiederaufleben und lernte seine neue künstlerische Partnerin Helly Möslein kennen, die später seine Ehefrau werden sollte. Als Amerikanerin mit Wiener Wurzeln war sie mit beiden Welten vertraut, in denen Leopoldi sich bewegte. In Liedern wie Die Novaks aus Prag (1941) mit einem Text von Kurt Robitschek (1890–1950) thematisierte Leopoldi die Fluchterfahrungen der Exilanten. Dieses Lied, welches die emotionale und seelische Belastung der Auswanderer mit all ihren Aus- und Einreiseschwierigkeiten beschreibt, traf den Nerv vieler Zuwanderer. In anderen Liedern setzte sich Leopoldi mit dem Krieg und der jüdischen Verfolgung auseinander, wie in dem spöttischen Lied eines deutschen Soldaten – auf der Latrine zu singen mit einem Text von Robert Gilbert (1899–1978) und Kurt R ­ obitschek, das gegen Ende des Krieges entstand.42 Spätestens seit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 entstanden auch englischsprachige Lieder. Schnell eroberte das Duo die Exilanten-Cafés New Yorks und tourte durch amerikanische Städte. Nach Kriegsende erhielt Hermann Leopoldi mehrere Einladungen nach Wien, doch erst 1947 traten Leopoldi und Möslein gemeinsam die Rückreise an. In Zeitungen und Radiosendungen wurde die Rückkehr Leopoldis stilisierend dargestellt:

40 Ein Affidavit meint in diesem Zusammenhang eine beglaubigte Bürgschaftserklärung, mit der Freunde und Bekannte aus Staaten außerhalb Deutschlands den Verfolgten die Einreise in Überseeländer ermöglichen konnten. 41 Traska und Lind, Hermann Leopoldi, (wie Anm. 18), S. 204. 42 Ebd., S. 227.

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Wie einst der liebe Augustin aus der Pestgrube, so ist Hermann Leopoldi aus der Katastrophe der letzten Jahre heil hervorgegangen. Und wie er nun wieder vor uns steht, schlagen ihm die Herzen der Wiener – seiner Wiener – entgegen, weil er das Beste verkörpert, was der Österreicher zu geben hat, weil er die wahre Wiener Gemütlichkeit herübergerettet hat und sein Optimismus noch immer so ansteckend ist wie eh und je.43

Wenngleich „die Katastrophe“ in diesem Artikel Erwähnung findet, so wird sie doch nicht benannt, sondern der Mythos eines Künstlers etabliert, der die Kriegszeit unbeschadet überstanden hat. Traska weist darauf hin, dass dieses mentale Auslöschen der dunkelsten Jahre einem tiefen Bedürfnis entsprochen haben muss, „dass Leopoldis plötzliches Erscheinen in alter Frische und mit seinem sprichwörtlichen strahlende Optimismus hervorragend zu erfüllen vermochte.“ 44 Und wie er heute da vor uns sitzt, äußerlich und innerlich der gleiche, hat er uns was Neues geschenkt, das verzeihende Vergessen und eine zur Höchstform gewachsene Kunst des Vortrages. Über den Komponisten Leopoldi urteilt nur das, was halt vom sprichwörtlich goldenen Wiener Herz übriggeblieben ist. Seines aber, Hermann Leopoldis ewig junges Herz schlägt für Wien und wird hoffentlich noch viele, viele Jahre schlagen.45

Lange Zeit wurde der Grund für Leopoldis Auswanderung nach Amerika in den österreichischen Zeitungen verschwiegen und das Wort „Jude“ strengstens gemieden. Leopoldis Neubeginn in Wien erfolgte jedoch nicht so nahtlos, wie die Zeitungen glauben machen wollen. In den ersten beiden Jahren der Rückkehr wagte das Künstlerpaar es nicht, sich fest in Wien niederzulassen, sondern lebte in Hotels. Noch jahrelang behielten sie ihre Wohnung in New York bei. Leopoldi und Möslein tourten gemeinsam durch Österreich, Deutschland und die Schweiz. Im Repertoire befanden sich zwar weiterhin Lieder aus dem Exil; Leopoldi vermied jedoch Texte, die seine Erfahrungen der Judenverfolgung betrafen oder das Wiener Publikum mit dessen Mitschuld an den Naziverbrechen konfrontierten. Vermehrt griff er auf frühere Kompositionen zurück, wie Ich bin a waschechter Meidlinger Bua, die ihn mit seiner Heimat verbanden. Eine Ausnahme bildete ein Auftritt 1949 in einem Wiener Restaurant, in dem Leopoldi auf den ehemaligen deutschen Buchenwaldgefangenen Robert Siewert traf, der folgende Situation beschreibt: Ohne mich zu verständigen, setzte sich Leopoldi an das Klavier und spielte das Buchenwald-Lied … Er stellte mich vor und knüpfte daran die Bemerkung, daß Robert Siewert einer der besten Kapos von Buchenwald war und daß er und viele andere Juden ihm das Leben verdanken …46 43 44 45 46

Wiener Kurier, 11.09.1947, zit. n. Traska und Lind, Hermann Leopoldi, (wie Anm. 18), S. 247 f. Ebd., S. 248. Volksstimme, 17.09.1947, zit. n. Traska und Lind, Hermann Leopoldi, (wie Anm. 18), S. 249. BwA 990–11: Brief Robert Siewert an Ilse Schulz, zit. n. Sonja Seidel, Kultur und Kunst im antifaschistischen Widerstandskampf im Konzentrationslager Buchenwald, hrsg. von der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald (= Buchenwaldhefte 18), Weimar u. a. 1983, S. 15.

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Diese öffentliche Äußerung Leopoldis stellt vermutlich einen Einzelfall dar – zumindest finden sich bei Traska keine vergleichbaren Berichte. Im selben Jahr schrieb Leopoldi seine Memoiren, in denen die von Auslassungen gekennzeichnete Darstellung seiner Biografie fortgeführt wird. Die Verarbeitung des Erlebten trägt sowohl in den Memoiren als auch den Liedern Leopoldis den Charakter der Ausdrucksform, in der Leopoldi zu Hause war: der Welt eines humoristischen Klaviervirtuosen. Im Jahr 1954 erhielt Hermann Leopoldi seine österreichische Staatsbürgerschaft zurück. Seine Memoiren wurden nie veröffentlicht.

3. Kriegsbeginn 1939 Hermann Leopoldi gelang es, mithilfe eines Affidavits47 aus dem Konzentrationslager Buchenwald zu entkommen. Für viele jüdische Häftlinge hingegen wurde das Lager mit Kriegsbeginn zur tödlichen Falle. Zwischen 1940 und 1942 wurden nur noch 114 jüdische Gefangene aus Buchenwald entlassen. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges kam es zu mehreren Verhaftungswellen, die sich auf verschiedene Kriegsgegner erstreckten. Nach dem Überfall auf das benachbarte Polen am 1. September 1939 wurden 8463 Menschen in Buchenwald eingeliefert, darunter 1991 Juden. Am 7. September 1939 ordnete der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich die Inhaftierung aller Juden polnischer Herkunft an. Daraufhin wurden am 10./11. September Tausende Juden polnischer Herkunft in Wien verhaftet, Anfang Oktober kamen 1035 von ihnen nach Buchenwald. Ende September wurden zudem 2200 Gefangene von Dachau nach Buchenwald verlegt und Mitte Oktober kamen weitere 2000 Polen nach Buchenwald. Aufgrund der Überfüllung des Lagers wurde in Buchenwald neben dem Appellplatz, oberhalb der jüdischen Blocks, eine „Sonderzone“ für Polen und Juden eingerichtet. Dieser Ort wurde auch „Kleines Lager“, „Kleines Polenlager“ oder „Lager II“ genannt. Hinter einem doppelten Stacheldrahtzaun wurden die Häftlinge auf einer Fläche von gerade einmal 100 × 200 m zusammengepfercht. Ein Bereich diente als Appellplatz, ein anderer als Aufenthaltsort, der sich schnell mit Exkrementen und Abfall füllte. Die Unterbringung erfolgte in einer Holzbaracke und vier Großzelten. Aufgrund der desaströsen hygienischen Verhältnisse brach Ende Oktober 1939 eine Ruhrepidemie in den Zelten aus. Ab November war das Betreten und Verlassen des Sonderlagers bei Strafe verboten. Hinzu kam tagelanger Essensentzug, der immense Auswirkungen auf die ohnehin geschwächten Gefangenen hatte. So wurde der Platz zum Ort des ersten Massensterbens von Juden und Polen in Buchenwald. Der ehemalige Buchenwaldhäftling Walter Poller (1900–1975), der vom Frühjahr 1939 bis zum Mai 1940 als Arztschreiber im Häftlingskrankenbau arbeitete, beschreibt die Situation in der Sonderzone:

47 Siehe Anm. 40.

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Als ich das Lager betrete, sind bereits etwa 400 Häftlinge gestorben, trotzdem liegen die übrigen Häftlinge in den Zelten, die sie nur zum Essenholen und Austreten verlassen dürfen, noch buchstäblich übereinander. Die Lebenden bei den Sterbenden, die Gesunden bei den Todkranken, die Greise bei den Kindern, die Ängstlichen bei den Fatalisten. Unglaublicher Pesthauch, unbeschreiblicher Schmutz, Menschen, die am lebendigen Leibe verfaulen, Irre und Wahnsinnige, in Krämpfen sich windend, im Koma … eine Apokalypse, wie sie kein Hirn auszudenken und keine Feder zu beschreiben vermag. […] Nach acht Tagen bin ich zum zweiten Male im Sonderlager. Den Mut, in die Zelte zu gehen, bringe ich nicht auf. Es ist gerade Essensausgabe. Sie vollzieht sich jetzt bedeutend ruhiger als früher. Essen bekommt nur, wer sich seine Portion selbst holt.48

Bis Ende 1939 starben 400 Wiener Juden, 100 polnische Juden und 300 Polen im Sonderlager.49 1938

1939

1940

1941

1942

Getötete Juden

408

544

692

542

609

Todesopfer insgesamt

771

1235

1772

1619

2900

Wie die Tabelle zeigt, waren in den Jahren 1938 bis 1942 besonders viele Juden unter den Todesopfern.50 Bis zum Herbst 1942 wurden fast alle Juden aus Buchenwald nach Auschwitz deportiert. Die Judenverfolgung erstreckte sich neben Polen auf weitere besetzte Gebiete Europas. In den Niederlanden erließ der dortige Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart am 22. Oktober 1940 die erste einschneidende antijüdische Verordnung, die in vielen Punkten den Nürnberger Rassengesetzen ähnelte, und leitete in den Niederlanden damit den Prozess der Kennzeichnung und Gettoisierung der Juden ein. Am 9. Februar 1941 fielen Horden des „Nationalsocialistischen Bond“ in die jüdischen Wohnviertel von Amsterdam ein, trafen dort jedoch auf bewaffneten Widerstand. Zur Vergeltung wurden in Amsterdam und Rotterdam daraufhin 400 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verbracht. Am 8. Februar 1941 trafen 389 niederländische Juden in Buchenwald ein. Diese Gruppe wurde in schwere Träger- und Baukommandos gezwungen. Um die Vernichtung zu beschleunigen, wurde Reviersperre verhängt und die Schwerkranken durch Giftspritzen getötet. Nach 80 Tagen wurden alle Überlebenden ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht. Demgegenüber erfuhr eine andere Gruppe von Niederländern eine weitaus bessere Behandlung. Als im Zuge des nach Westen geführten Blitzkrieges am 10. Mai 1940 die Niederlande von der deutschen Armee überfallen wurden, bildete Königin Wilhelmina in England eine Exilregierung. Da Niederländisch-Indien nicht besetzt war, wurden die dort befindlichen Deutschen von niederländischen Behörden interniert. Daraufhin nahm Seyß-Inquart 300 niederländische Geiseln als Druckmittel und ließ sie nach Buchenwald 48 Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 118. 49 Ebd., S. 88. 50 Ebd., S. 82.

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bringen. Zu den Verhafteten zählten Beamte, Mitglieder des Hofstaates der Königin, Politiker, Intellektuelle und Künstler. In Buchenwald wurden die niederländischen Geiseln im Gegensatz zu den anderen Gefangenen nach internationalem Recht für Kriegsgefangene behandelt. Sie wurden in zwei Steinbaracken untergebracht und vom Rest des Lagers durch einen dreifachen Stacheldrahtzaun getrennt. Dieser Ort war im Lager auch als „Goldene Ecke“ bekannt, da hier Sonderbestimmungen galten. Die Geiseln erfuhren keine Misshandlungen und ihre tägliche Arbeit beschränkte sich auf das Reinigen der Baracken. Zwar mussten sie gestreifte Häftlingskleidung tragen, durften aber ihr Haar wachsen lassen. Außerdem erhielten sie Post und Pakete vom Internationalen Roten Kreuz. Da die SS nur durch eine Pforte in den abgegrenzten Bereich gelangen konnte, ergaben sich gewisse Freiräume, um selbstbestimmten Tätigkeiten nachzugehen. Man spielte Schach und Bridge und hielt organisierte Kabarett-Abende mit antideutschen Parolen ab. Aus der Heimat ließen sich die Niederländer ein Grammofon und Platten schicken. Außerdem wurde unter Dr. Lion Cachet die sogenannte „Buchenwalder Volksuniversität“ gegründet, die aus fünf Fakultäten mit insgesamt 30 Professoren und Lektoren bestand. In den Baracken der niederländischen Geiseln wurden fortan Vorlesungen zu Geschichte, Wirtschaft, Philosophie, Literatur, Staats- und Völkerrecht sowie Völkerkunde und Strafrecht abgehalten. Nichtsdestotrotz litt auch diese Häftlingsgruppe unter Unterernährung und schlechter medizinischer Versorgung. Im Winter 1940/41 starben zwölf von ihnen an Lungenentzündung. Aufgrund dieser Todesfälle drängten die Vertreter der Schutzmacht Schweden auf die Entlassung der Kranken und Alten, doch für jeden Entlassenen wurde eine neue Geisel genommen. Erst als im Juli 1941 700 deutsche Frauen und Kinder in NiederländischIndien freigelassen wurden, überführte man im November 1941 alle niederländischen Geiseln aus Buchenwald in Haftanstalten und Konzentrationslager auf niederländischem Boden. Einer von ihnen war der Geiger Jo Juda.

4. Jo Juda, Juli 1940 bis November 1941 in Buchenwald Jo Juda wurde am 7. September 1909 in Amsterdam geboren und wuchs als ältester von drei Söhnen in einer jüdischen Musikerfamilie auf. Sein Studium absolvierte er zunächst am Metropolitan Music Lyceum. 1930 bis 1932 ging er nach Berlin, wo er bei Oskar Back und dem ungarischen Geigenpädagogen Carl Flesch eine Ausbildung erhielt. Zurück in den Niederlanden arbeitete Juda als Konzertmeister beim Bach-Orchester, dem Arnhem Concert Club und der Groningen Concert Association. Eine glänzende Karriere schien ihm vorbestimmt. Doch im Juli 1940 wurde Juda im Zuge der Geiselnahme durch SeyßInquart verhaftet. Er war einer von nur acht Juden unter den niederländischen Geiseln. Bei seiner Ankunft in Buchenwald gab er jedoch an, keiner Religion zugehörig zu sein. In Buchenwald wurde Jo Juda mit den anderen niederländischen Geiseln in der sogenannten „Goldenen Ecke“ untergebracht. Bereits in den ersten Wochen in Buchenwald versuchte er, seine musikalischen Tätigkeiten wieder aufzunehmen. Dank der Unterstützung eines Mitgefangenen konnte er für 500 Mark von einem Scharführer in Weimar eine Geige

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kaufen, die jedoch „nur zu Brennholz“ taugte.51 Daraufhin ließ er sich von einem Geigenbauer in Amsterdam ein gutes Instrument mit zwei Sätzen Ersatzsaiten schicken. Von nun an übte Juda vier bis fünf Stunden täglich.52 Als der Winter 1940 in Buchenwald hereinbrach, ergab sich die Schwierigkeit, einen warmen Überaum zu finden, durch den die Mitgefangenen nicht gestört wurden. Erst nachdem Juda eine Möglichkeit gefunden hatte, Kohlen von den Bewachern zu entwenden, konnte er vormittags im beheizten Schlafsaal üben. Von der SS-Kantine durften die niederländischen Geiseln ein Klavier übernehmen. Der Beamte und Politiker Jean Chrétien Baron Baud (1893–1976) begann intensiv an seinem Klavierspiel zu arbeiten, und schließlich traten Juda und Baud gemeinsam an den Sonntagnachmittagen auf. Jo Juda erinnert sich, dass beim ersten Sonntagnachmittagskonzert alle Musikliebhaber unserer Gemeinschaft, die zum Zuhören in den großen Raum gekommen waren, bereits beim ersten Stück ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatten. Es wurde geschluchzt, geweint, bei einigen bewegte sich nervös der Unterkiefer, andere beugten sich weit nach vorn, um ihre Emotionen zu verbergen. Mir selbst liefen die Tränen über die Wangen. Nach einer halben Stunde war die Oberseite der Geige klatschnaß, und Baud saß am Klavier mit einem Gesichtsausdruck, der … keinen Zweifel an seiner Rührung ließ. Das war das emotionsgeladenste Konzert, das ich je gegeben habe.53

Diesem Konzert folgten zahlreiche weitere Auftritte des Duos Juda/Baud. Im Repertoire befanden sich u. a. Sonaten von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Gabriel Fauré, César Franck, Claude Debussy, Darius Milhaud und sogar Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Musik im Deutschen Reich verboten war. Zahlreiche Berichte zeugen von der Beliebtheit dieser Konzerte, doch die häufigsten Erinnerungen sind in Bezug auf die Freiluftkonzerte überliefert. Mit der Absicht, auch die weniger privilegierten Gefangenen auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes an den Konzerten teilhaben zu lassen, trugen eines Abends im Sommer 1940 ein paar Niederländer das Klavier auf die Lagerstraße. Gerrit van den Bergh beschreibt, was nun folgte: Es war Abend, die Arbeit ruhte. Als die Häftlinge das Klavier sahen, blieben sie stehen. Die ersten Töne klangen auf, dann fiel Geigenspiel ein. Publikum strömte hinzu, es herrschte Totenstille. Manche hatten seit Jahren keine echte Musik gehört. […] Aber dies war Musik, echte Musik, die emporstieg und alle emporhob in bessere Sphären. Dichter und dichter wurde die Menge. SS-Leute standen schweigend dazwischen, kein Fluch kam über ihre Lippen. Auch die Wächter auf dem nahegelegenen Wachturm lauschten. Die Fenster von Block 36, in dem Polen untergebracht waren, füllten sich mit stillen Gestalten. Auch sie schwiegen und fühlten wie nie zuvor die magische Kraft der Musik.54 51 Juda, Jantje Paganini, (wie Anm. 6), S. 23. 52 Ebd., S. 26. 53 Jo Juda, Jantje Paganini, zit. n. Nachbarn, Folge 42, Niederländer und Weimar. Presse- und Kulturabteilung der Kgl. Niederländischen Botschaft, Bonn u. a. 1999, S. 136. 54 George van den Bergh, „Twee mal Buchenwald, Amsterdam 1945“, in: Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung. Dokumente und Berichte, hrsg. von der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchen-

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Jo Juda selbst erinnert sich ebenfalls an sein erstes Freiluftkonzert in Buchenwald: Wir begannen mit einer Händel-Sonate, dann der Frühling von Beethoven, gefolgt von einigen kleineren Stücken. Wie seltsam es klang, so unter freiem Himmel. Die Wände der Baracken sorgten für eine gewisse Akustik und leiteten den Klang in verschiedene Richtungen. Allmählich entstand Bewegung im Lager. Unhörbar kamen die Menschen zwischen den grauen Blocks näher. Sie liefen behutsam, auf Zehenspitzen und ruhigen Schrittes, um nicht zu stören. Aus den fernen Höhen und Tiefen des bergigen Geländes vereinten sie sich zu Gruppen, und nur wenig entfernt von uns waren es dichte Scharen, die – ohne irgendein Geräusch zu verursachen – von der Musik angelockt wurden. Rund um den Stacheldraht setzten sie sich mühevoll auf den Boden. In den Pausen der Händel-Sonate sah ich, dass die Reihen immer dichter wurden, der Strom der sich schlurfend fortbewegenden Sträflingsanzüge mit den trostlosen schmutzig-blauen vertikalen Streifen nahm ständig zu, und nach dem Ende der Frühlingssonate brach ein Aufruhr von ungebändigtem Schreien, Weinen, Brüllen und Applaus los. Es war beängstigend, dieser Sturm tierischen Lärms, der sich durch die Kehlen der Menschen seinen Weg aus den unendlichen Tiefen der erniedrigten, geketteten und gequälten Seelen heraus bahnte. Welch ein Publikum! Diese armen Teufel mit ihren ausgezehrten Leibern und den Totenkopfgesichtern. Manche waren so mager, dass sie wie lebende Skelette aussahen.55

Die Bewacher duldeten den Auftritt zunächst, doch schließlich wurde das Konzert abgebrochen und die Häftlinge dazu aufgefordert, innerhalb von fünf Minuten in ihre Blocks zurückzukehren.56 Dieser Auszug aus Judas Autobiografie verdeutlicht einmal mehr den Unterschied zwischen der privilegierten Situation der niederländischen Geiseln und den restlichen Gefangenen des Lagers. Dabei lebten die Geiseln zwischen zwei Extremen, Augenblicken des scheinbaren inneren Friedens und Momenten der panischen Angst angesichts der Unberechenbarkeit ihrer Bewacher.57 In Judas Autobiografie werden verschiedene Facetten des Musiklebens der niederländischen Geiseln aufgezeigt. Neben den öffentlichen Konzerten berichtet er auch von geschlossenen Kulturveranstaltungen anlässlich nationaler Feiertage wie des Geburtstags der Königin Wilhelmina oder zu Jahrestagen der Geiselhaft, bei denen Reden, Deklamationen und humorvolle Szenen die musikalischen Beiträge des Programms ergänzten. Juda und Baud musizierten zudem im Rahmen von Gedenkveranstaltungen für verstorbene Mitgefangene. Diese musikalischen Darbietungen wurden von einigen Häftlingen abgelehnt, da sie die Musik im Lagerkontext für unangemessen hielten. Insgesamt, so schreibt Juda, sei die Zahl der „muziekliefhebbers“ unter den niederländischen Geiseln jedoch erstaunlich hoch gewesen, was er auf ihren hohen Bildungsstand zurückführt.58 Er beschreibt d ­ arüber

wald in Zusammenarbeit mit der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora beim Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, Berlin 41983, S. 212. 55 Juda, Jantje Paganini, zit. n. Nachbarn, (wie Anm. 54), S. 136 f. 56 Juda, Jantje Paganini, (wie Anm. 6), S. 42. 57 Ebd., S. 11. 58 Ebd., S. 38.

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hinaus, dass durch die Konzerte auch Menschen an die klassische Musik herangeführt wurden, die vor der Gefangenschaft noch keinen Zugang zu ihr hatten. Aufgrund des großen Interesses, das der Musik entgegengebracht wurde, ergänzte Juda die Sonntagnachmittagskonzerte um Stückeinführungen. In jedes Konzertprogramm baute er außerdem ein Capriccio von Paganini ein, um sein technisches Niveau zu verbessern, was ihm im Lager den Spitznamen „Jantje Paganini“ einbrachte. Besondere Beliebtheit beim Publikum erlangte hingegen ein anderes Werk: Eine der beliebtesten Repertoirenummern war die Romanza Andaluza, ein kleines Genrestück von Pablo de Sarasate. Unser Sonntagnachmittagspublikum zog es anderen Werken dieser Art vor, und viele unserer Geiselgruppe, die vor dem Krieg noch nie den Konzertsaal betreten hatten, fanden über die Romanza ihren Weg zur Musik.59

Regelmäßig wurden nach den Konzerten Zugaben erbeten und immer wieder verlangte das Publikum Sarasates Romanza Andaluza (op. 22 No. 1). Am 16. November wurde Juda gemeinsam mit den anderen niederländischen Geiseln in ein Gefängnis in Haaren im Süden der Niederlande verlegt. Für Juda folgten drei Jahre in niederländischen Konzentrationslagern und Haftanstalten. In Haaren waren die Haftbedingungen weniger streng als in Buchenwald. Die Gefangenen mussten keine Sträflingskleidung tragen und durften sich in einem weitläufigen Garten frei bewegen. Juda beschreibt dies als „eine Zeit, in der wir manchmal vergaßen, Gefangene zu sein“.60 Weiterhin gaben Juda und Baud Konzerte, um die Mitgefangenen zu unterhalten. Außerdem spielte er im Lagerorchester und begleitete den Chor bei seinen Auftritten. Im Mai 1942 wurde Juda mit anderen Inhaftierten ins Lager Beekvliet in Sint-Michielsgestel gebracht und später ins dortige Internat De Ruwenberg verlegt. Schließlich folgte eine weitere Verlegung ins Lager Vught (Herzogenbusch), wo Juda im September 1944 befreit wurde. Nach der Befreiung waren Jo Juda und sein Bruder Arnold die einzigen Überlebenden der Familie. Während Arnold in die USA emigrierte, blieb Jo Juda in den Niederlanden und knüpfte an seine frühere Karriere an. Von 1963 bis 1974 war er erster Konzertmeister im Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. In den 1960er Jahren arbeitete er außerdem als Konzertmeister für das Radio Filharmonisch Orkest und das Utrechts Symfonie Orkest. Zusätzlich widmete er sich pädagogischen Tätigkeiten und unterrichtete u. a. am Sweelinck Conservatorium in Amsterdam. Von 1983 bis zu seinem Tod trat er immer häufiger auch als Dirigent in Erscheinung, u. a. in der von ihm gegründeten Orkestvereniging Musica Instrumentalis, Hilversum. Außerdem leitete er das Universitätsorchester in Maastricht seit dessen Gründung im Jahr 1978. In den späteren Jahren widmete Juda sich der Komposition und schrieb Werke für Streichorchester, Violine, Cello, Flöte und Chor. Am 20. Januar 1985 verstarb Jo Juda in Laren. Jo Juda beschreibt das Konzentrationslager aus Sicht eines Intellektuellen, der im Lager nicht als Jude, sondern als niederländische Geisel nach internationalem Kriegsrecht 59 Ebd., S. 45, übersetzt von Christine Oeser. 60 Ebd., übersetzt von Christine Oeser.

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behandelt wurde. In dem vom restlichen Lager abgegrenzten Bereich bestanden bessere Voraussetzungen für selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten. Judas Ausführungen spiegeln seine differenzierte Wahrnehmung der Situation und geben Einblicke in soziologische und psychologische Prozesse. Demnach waren nicht alle Gefangenen von den musikalischen Aktivitäten im Lager angetan und Juda musste sich zunächst auch innerhalb seiner Häftlingsgruppe behaupten, um regelmäßig üben zu können. Auch beschreibt Juda den Zusammenhang von Bildung und künstlerischem Zugang. Diese Beobachtungen setzen eine gewisse Distanz zum Erlebten voraus, die sich nicht nur anhand der späten Niederschrift, sondern auch aus der Sonderposition als niederländische Geisel erklärt. Für Juda selbst stellten das tägliche Üben und das regelmäßige Konzertieren eine wichtige Form der Selbstvergewisserung dar. Nach der Befreiung gelang es ihm, in den Niederlanden seine Karriere fortzuführen.

5. Buchenwald 1941–1945 Da die Geschichte der Juden von Buchenwald nach 1941 noch nicht vollständig aufgearbeitet ist, beschränkt sich der folgende Abschnitt auf einen chronologischen Überblick über allgemeine Entwicklungen der Judenverfolgung und grundlegende Daten in Bezug auf Buchenwald.61 Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten. Hierzu wurde auf Erfahrungen und Tötungs-Technologien der „Aktion T4“ zurückgegriffen – der systematischen Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen durch Injektionen von Phenol, Evipan oder Luft und Gas. Im Sommer 1941 setzten auch in Buchenwald Massentötungen dieser Art mit der Einlieferung von zwei Transporten der „Aktion 14 f 13“62 überwiegend kranker, zum Teil invalider Männer aus Dachau ein.63 Erstmals wurden 2008 Juden unter Lagerarzt Dr. Hans Eisele64 systematisch durch Injektionen getötet. Weitere 187 Menschen wurden am 13. und 14. Juli 1941 in die „T4“-Anstalt Sonnenstein bei Pirna geschickt und dort vergast, etwa die Hälfte der Ermordeten waren Juden. Nach einem Erlass Hitlers vom 24. August 1941 wurde die „Aktion T4“ zwar für beendet erklärt, die Sonderaktion „14 f 13“ blieb davon jedoch unberührt. Noch im November 1941 wurden Selektionen in Buchenwald durchgeführt, wobei zu den Selektierten nun 61 Die Übersicht über die Jahre 1941 bis 1945 stützt sich auf: Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 107–126. 62 Die „Aktion 14 f 13“ bezeichnet die Selektion und Tötung von kranken, alten und als „nicht mehr arbeitsfähig“ bezeichneten KZ-Häftlingen im Deutschen Reich von 1941 bis 1944. 63 Am 06.07.1941 trafen 1000 Menschen und am 12.07.1941 1008 Menschen in Buchenwald ein. Siehe auch: Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 110. 64 Hans Eisele (1912–1967), Medizinstudium an der Universität Freiburg, Eintritt in die NSDAP und die SS, Chefarzt Sigmaringen, 15.01.1940 Beitritt zur Waffen-SS, 05.04.1940 SS-Untersturmführer im medizinischen Dienst, als Arzt u. a. in Mauthausen, Natzweiler und zuletzt Dachau, von Februar bis Mitte September 1941 im KZ Buchenwald.

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ausschließlich Juden zählten, was auf eine neue Ausrichtung der Aktion „14 f 13“ verweist. Im März 1942 wurden weitere 384 jüdische Männer aus Buchenwald in die „T4-Anstalt“ Bernburg gebracht und dort durch Gas ermordet. Im Jahr 1942 zeichneten sich zwei gegensätzliche Entwicklungen ab. Seit März 1942 war die Inspektion der Konzentrationslager dem bestehenden SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) zugeordnet. Einerseits sollten die Konzentrationslager in die Kriegsproduktion einbezogen werden, sodass ausgebildete Arbeiter an Stellenwert für die SS gewannen. Bereits am 8. Dezember 1941 erfolgte eine Meldung aller „arbeits- und einsatzfähigen Juden“ an die Inspektion der Konzentrationslager. Andererseits aber rechnete die SS im April 1942 mit der vollständigen Deportation der Juden in Vernichtungslager.65 Waren diese bisher als Untergruppe anderer Haftkategorien im Lager erfasst worden, so wurde im April 1942 die Hauptkategorie „Jude“ eingeführt. Am 5. Oktober 1942 forderte SS-Obersturmbannführer Maurer, Chef des Amtes B II im SS-WVHA, alle Lagerkommandanten im Reichsgebiet auf: Der Reichsführer will, daß sämtliche im Reichsgebiet gelegenen KL judenfrei gemacht werden. Es sollen daher die sich im dortigen KL befindlichen Juden nach Auschwitz oder Lublin überstellt werden. Ich bitte, die Zahl der im dortigen KL einsitzenden Juden bis zum 9. d. M. zu melden und dabei besonders zu vermerken, wenn von diesen Häftlingen [sic] an Stellen eingesetzt sind, die ihre sofortige Überstellung nicht gestatten.66

Drei Tage später, am 8. Oktober 1942, meldete die Kommandantur des KZ Buchenwald 405 jüdische Häftlinge zum Abtransport nach Auschwitz. Ausgenommen blieb eine geringe Zahl ausgebildeter Bauarbeiter. Am 24. Oktober 1942 befanden sich nur noch 234 jüdische Häftlinge in Buchenwald. Im Herbst 1943 begann die Inhaftierung von in Deutschland und im besetzten Österreich lebenden Juden ungarischer, rumänischer, türkischer, portugiesischer, spanischer und italienischer Staatsangehörigkeit. Am 15. Dezember kamen 76 ungarische, spanische, türkische, portugiesische, rumänische und italienische Juden nach Buchenwald. Durften Juden in Buchenwald im Juni 1943 noch nicht zur Arbeit außerhalb des Lagers eingesetzt werden, so änderte sich dies gegen Ende des Jahres. Am 31. Dezember 1943 betrug die Lagerstärke in Buchenwald 37.317 Häftlinge, darunter befanden sich 350 Juden. Anfang 1944 wurde die Vernichtung der noch bestehenden jüdischen Gemeinden im besetzten Europa weiter vorangetrieben. Von Mai bis Juli 1944 wurden 400.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und zwei Drittel von ihnen ermordet. Wegen Arbeitskräftemangels kamen aber auch Zehntausende Juden ins Altreich und entgingen auf diese Weise der sofortigen Vernichtung. Bis zum 31. Juli 1944 stieg die Zahl der jüdischen Häftlinge in Buchenwald aufgrund der Transporte aus dem Osten auf 8249. Hier wurden die jüdischen Gefangenen vorübergehend im „Kleinen Lager“ untergebracht und von dort zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben in die Außenlager verbracht. Als im Spätherbst 1944 die 65 Stein, Juden in Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 122. 66 NO 3677 PS, zit. n. ebd., S. 125.

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deutsche Rüstungsproduktion unter Tage verlagert wurde, verschlechterte sich die Unterbringung. Daneben führten mangelnde Ernährung und extrem lange Arbeitszeiten zu rapide steigenden Todeszahlen. 1944 starben etwa 2000 jüdische Häftlinge in Buchenwald. Die Stärkemeldung vom 30. Dezember 1944 zählt 15.477 jüdische Männer und 11.457 jüdische Frauen in Buchenwald und seinen Außenlagern. Als sich 1945 der Zusammenbruch des NS-Regimes abzeichnete, wurden die Vernichtungslager des Ostens in Frontnähe aufgelöst und Zehntausende Juden in die Konzentrationslager im Deutschen Reich deportiert. Die Auflösung der Lager Auschwitz und Groß-Rosen führte dazu, dass Anfang 1945 die Juden mit 20.000 Gefangenen zur größten Häftlingsgruppe in Buchenwald wurden. Im Februar war das Hauptlager gänzlich überfüllt und in den Außenkommandos herrschten extrem schlechte Bedingungen. Als sich Ende März die Alliierten näherten, wurden zuerst die Außenkommandos von Buchenwald evakuiert. Am 4. April befahl SS-Lagerkommandant Pister67 die Evakuierung aller jüdischen Häftlinge des Hauptlagers Buchenwald. Sechs Tage später befanden sich 18.705 Häftlinge des Hauptlagers auf Todesmärschen, darunter mindestens 8000 Juden. Am Nachmittag des 11. April wurde das Lager von amerikanischen Truppen befreit. Von Januar bis April 1945 starben in Buchenwald mindestens 7000 Juden. Die Zahl der Opfer der Evakuierungsmärsche ist unbekannt. Unter den Überlebenden befanden sich mehr als 3000 Juden, darunter der Franzose Robert Clary.

6. Robert Clary, Februar bis April 1945 in Buchenwald Der US-amerikanische Schauspieler und Sänger Robert Clary wurde am 1. März 1926 unter dem Namen Robert Max Widerman in Paris als jüngstes von vierzehn Kindern einer jüdischen Familie geboren. Schon früh zeigte sich Clarys musikalisches und darstellerisches Talent. Er nutzte jede Gelegenheit für Bühnenauftritte, Schauspiel, Tanz und Gesang, nahm an Radiowettbewerben teil und trat als Backgroundsänger in Pariser Shows auf. Clarys Vater stammte aus Polen und war religiöser orthodoxer Jude. Er sprach mit den Kindern nur Jiddisch und pflegte die jüdischen Traditionen. Im Alter von zwölf Jahren feierte Clary seine Bar-Mizwa, doch bezeichnete er sich nie als tiefgläubig.68 Schon in seiner frühen Jugend erfuhr Clary die Einschränkungen, die mit dem Antisemitismus einhergingen. Um nicht als Jude erkannt zu werden, legte er sich darum mit zwölf Jahren erstmals einen Künstlernamen zu. Ende 1940 wurde Frankreich von den Deutschen besetzt. Ein Jahr später mussten sich alle Juden registrieren lassen und ab 1942 den Judenstern tragen. Am 23. September 1942 wurde Clary im Alter von 16 Jahren gemeinsam mit zwölf weiteren Familienangehörigen aufgrund seiner jüdischen Herkunft verhaftet und in ein Gefängnis in Paris verbracht. Von dort aus kam er nach Drancy und schließlich auf einen Transport nach Auschwitz. Auf 67 Hermann Pister (1885–1948) war von Dezember 1941 bis April 1945 Lagerkommandant von Buchenwald. 68 Clary, From the Holocaust to Hogan’s Heroes, (wie Anm. 6), S. 20.

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einem Zwischenhalt in Kosel wurde eine Selektion durchgeführt, um die „arbeitsfähigen“ Männer und Frauen von den anderen Gefangenen zu trennen. 91 Frauen und 40 Männer – darunter Clary – wurden zum Überleben bestimmt; 698 wurden direkt ins Gas geschickt, unter ihnen auch Clarys Eltern. Clary kam für neunzehn Monate ins Lager Ottmuth bei Krapkowice, wo er in einer Schuhfabrik arbeiten musste. Um sich von der monotonen Tätigkeit abzulenken, sang er während der Arbeit: The noise of all the machines was deafening, and the sawdust flew all over us like snowflakes. While I worked, I sang. I sang all day long and at the top of my voice, because nobody could hear me, to keep my mind off the fact, that I was always hungry and frightened and that I was a slave.69

Clary trat auch vor den Mitgefangenen auf. In seinem Repertoire befanden sich französische Schlager und jüdische Lieder. Später kamen im Lager entstandene Kontrafakturen auf bekannte Melodien hinzu, die Clary gemeinsam mit einem Freund dichtete. Gelegentlich wurde er bei seinen Auftritten an den Sonntagnachmittagen von einem Geiger und einem Akkordeonisten begleitet. In seiner Autobiografie schildert er eine Darbietung im Dezember 1943: We improvised a small stage out of tables in the corridor of one of the barracks. One of the inmates played a few schmaltzy numbers on the violin, others recited poetry and sang songs. I did a dance number, which I improvised, to the music of ‚In an India Market‘, barefoot and wearing a turban. I also sang some Charles Trenet songs: ‚Menilmontant‘ and ‚La Polka du Roi.‘ But the inmates favorites were ‚Bei mir bist Du schön‘, ‚Joseph, Joseph‘ and ‚Vie is Mein Schteteluh?‘70

Durch die Auftritte erlangte Clary eine gewisse Beliebtheit bei den Mitgefangenen, sodass diese ihn auf unterschiedliche Weise unterstützten. Er wurde von Transportlisten in andere Lager zurückgehalten und erhielt einmal in der Woche eine Extraportion Suppe von einem polnischen Koch. Auch die Bewacher registrierten sein Talent und erlaubten ihm, seine privaten Besitztümer zu behalten und sich das Haar wachsen zu lassen. Am 2. April 1944 wurde Clary nach Blechhammer transportiert, einem größeren Lager, das durch die SS bewacht wurde. Bei der Ankunft wurde ihm die Häftlingsnummer 5714 in den linken Arm tätowiert. Wieder wurde er zur Arbeit in einer Fabrik außerhalb des Lagers eingeteilt. Als sich Clarys gesangliches und darstellerisches Talent herumsprach, trat er an den Sonntagnachmittagen bei improvisierten Darbietungen auf den Blocks auf. Clary berichtet zudem, dass im Oktober 1944 ein „SS-Leutnant Obersturmbannführer“ die Gründung eines Theaters in einer leeren Baracke anordnete und hierfür Schauspieler, Sänger und Tänzer suchte. Clary wurde in das Ensemble aufgenommen und trat in Frauenrollen auf. Wiederum ergaben sich aus den künstlerischen Auftritten Vorteile: Clary erhielt Extraportionen Margarine, Suppe oder Brot und konnte sich zudem einen besseren Arbeits69 Ebd., S. 74. 70 Ebd., S. 79.

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platz verschaffen. In den letzten beiden Monaten in Blechhammer half er dem Stubenältesten bei der Essensverteilung. Am 21. Januar 1945 wurde Blechhammer evakuiert und 4000 Gefangene auf Gewaltmärsche bei eisigem Schnee gezwungen. Nur 2000 von ihnen kamen im Lager Groß-Rosen an und nach einem dreitägigen Aufenthalt bei geringer Verpflegung lebten nur noch 1400 von ihnen. Ohne die zusätzlichen Rationen, die Clary dank seiner Auftritte erhalten hatte und seine infolgedessen verhältnismäßig gute körperliche Verfassung hätte er diese Zeit vermutlich nicht überlebt. Am 9. Februar 1945 traf Clary in Buchenwald ein. Während der Ankunft des Gefangenentransports fand ein Bombenangriff auf die Gustloff-Werke statt, die Bomben trafen auch den Weimarer Güterbahnhof. Die Gefangenen sprangen aus den Waggons und suchten unter den Zügen Schutz, 200 von ihnen starben. In Buchenwald wurde Clary zuerst im „Kleinen Lager“ untergebracht, in dessen überfüllten Baracken sich die Ruhr ausbreitete. Mithilfe von Mitgefangenen gelang es ihm, seine Situation zu verbessern. Ein Deutscher schleuste ihn ins „Große Lager“, und der Pianist und Komponist Yves Darriet stellte den Kontakt zur Jazzkapelle her. Diese war erst in den späteren Kriegsjahren gegründet worden und setzte sich aus Musikern verschiedenster Nationalität zusammen. Es handelte sich dabei um ein halblegales Ensemble, das auf Initiative der Gefangenen hin gegründet worden war und gelegentlich auch im Rahmen offizieller Konzertveranstaltungen auftrat. Die Instrumente wurden aus der Effektenkammer71 organisiert. In der Jazzkapelle traf Clary auf den Bassisten und Journalisten Jiří Žák, der in der Schreibstube beschäftigt war. Dieser sorgte dafür, dass Clary eine Arbeit innerhalb des Lagers erhielt, um an den Proben teilnehmen zu können.72 Tagsüber wurde im „Kleinen Lager“ im Quarantänebereich geprobt,73 den die SS mied, abends musizierten die Musiker in den Baracken und einmal in der Woche fanden Konzerte statt. Weiterhin träumte Clary von einer Karriere als Sänger und legte sich in Buchenwald den Künstlernamen „Robert Clary“ zu. Als das Lager im April evakuiert wurde, setzte sich Žák abermals für Clary ein. Er versteckte Clarys Karteikarte und lancierte ihn in eine Baracke im „Kleinen Lager“. So erlebte Clary am 11. April 1945 die Befreiung durch die Alliierten im Lager. Acht Tage später, am 19. April 1945, fand ein Konzert im befreiten Buchenwald statt. Yves Darriet arrangierte einige amerikanische Jazz-Standards wie The Dipsy Doodle, Solitude, In The Mood und Bugle Call Rag für Big Band. Eine kleinere Combo spielte Honeysuckle Rose, Confession, Minor Swing und Les Yeux Noirs. Clary trat mit Ménilmontant, La Polka du Roi, Joseph, Joseph, Zafouket Na Klarinet, A Tisket, A Tasket und einem Sketch mit Mickey und Minnie Mouse

71 Der Begriff Effekten bezeichnet die persönlichen Gegenstände und Kleidung, die die Menschen bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager abzugeben hatten. Stattdessen erhielten die Häftlinge Einheitskleidung, Nummer und Winkelkennzeichen aus Stoff. Die Effekten wurden in Buchenwald seit 1939 im Kammergebäude aufbewahrt. 72 Jiří Žák, „Jazz za oznatým drátem“, in: Taneční Hudba a jazz 1963 [„Jazz hinter Stacheldraht“, in: Tanzmusik und Jazz 1963], Prag 1963, Supraphon (Übersetzung ins Deutsche), S. 30–34. 73 BwA 9/92–5: Brief Herbert Weidlich an Wolfgang Muth, 27.02.1983.

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auf. Zum Abschluss erklang der Tiger Rag. Clary erinnert sich an diesen letzten Auftritt in Buchenwald: We performed on that stage, in our striped uniforms, exhilarated by our new freedom, and gave the greatest show of our lives while hundreds of G. I.s and inmates applauded and shouted.74

Nach der Befreiung kehrte Clary als einziger Überlebender der zwölf Deportierten seiner Familie nach Frankreich zurück. Er trat als Sänger in Pariser Nachtclubs auf und traf dort auf den Manager Harry Bluestone, der eine englischsprachige Platte mit ihm aufnahm. Unerwartet verkaufte sich Put Your Shoes On, Lucy in den USA 1948 eine halbe Million Mal. Clary erhielt daraufhin ein Vertragsangebot aus den USA und ging 1949 nach Kalifornien. Der Durchbruch gelang ihm drei Jahre später mit seiner ersten Broadwayshow: New Faces of 1952. Im selben Jahr gab er mit Ten Tall Men sein Filmdebüt. 1954 nahm Clary die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Vor dem Hintergrund seiner Gefangenschaft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern erwähnenswert ist die Mitwirkung Clarys in der Comedy-Serie Hogan’s Heroes, die in dem fiktiven deutschen Kriegsgefangenenlager Stalag 13 spielt. In der Serie dient das Lager den Gefangenen als Ausgangspunkt für die Durchführung zahlreicher Sabotageakte, um die Alliierten zu unterstützen. Clary verkörperte den französischen Corporal Louis LeBeau, der als hervorragender Chefkoch Hogans Mannschaft versorgt. Zwischen einzelnen Episoden und Clarys Lagererlebnissen lassen sich Parallelen feststellen. Beispielsweise organisieren die Kriegsgefangenen in den Baracken eine Show, in der Clary als Sänger auftritt. Hogan’s Heroes war nach ersten Anlaufschwierigkeiten sehr erfolgreich. In den USA lief die Serie von 1965 bis 1971 in 168 Folgen à 25 Minuten.75 1966 wurde außerdem eine Schallplatte mit dem Titel Hogan’s Heroes Sing the Best of World War II veröffentlicht,76 auf der Robert Clary und andere Mitwirkende Lieder mit Verbindung zum Zweiten Weltkrieg singen. Aufgrund ihres satirischen Umgangs mit dem Nationalsozialismus löste die Serie aber auch ambivalente Reaktionen aus. Der amerikanische Germanist Robert R. Shandley ordnet Hogan’s Heroes in eine Reihe amerikanischer Serien der 1960er ein,77 die auf unterschiedliche Weise die Ereignisse des Vietnamkrieges verarbeiten.78 Robert Clary musste sich wegen seines Mitwirkens an der Serie immer wieder erklären:

74 Clary, From the Holocaust to Hogan’s Heroes, (wie Anm. 6), S. 103. 75 1992 wurde Hogan’s Heroes in Deutschland unter dem Titel Stacheldraht und Fersengeld auf Sat.1 ausgestrahlt, jedoch nach 24 Folgen wieder abgesetzt. Nach einer neuen Synchronisation gelangte die Serie ab 1994 unter dem neuen Titel Ein Käfig voller Helden werktags auf Kabel eins erneut zur Ausstrahlung und wurde schließlich auch in Deutschland ein Erfolg. 76 Various Artists, Hogan’s Heroes Sing The Best Of World War II, LP Sunset Records 1966, SUS-5137. 77 Vergleiche hierzu: The Man from U.N.C.L.E. (NBC, 1964–1968), Espionage (NBC, 1963–1964), I Spy (NBC, 1965–1968), Burke’s Law (ABC, 1963–1966). 78 Robert R. Shandley, Hogan’s Heroes, Detroit 2011, S. 9.

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When the show went on the air, people asked me if I had any qualms about doing a comedy series dealing with Nazis and concentration camps. I had to explain that it was about prisoners of war in a stalag, not at concentration camp, and although I did not want to diminish what soldiers went through during their internments, it was like night and day from what people endured in concentration camps. Prisoners of war were protected by the Geneva convention, received Red Cross food packages, and could write and receive letters, even though they were censored. Soldiers were not forced to work in German factories, they were not guarded by the SS but by the Wehrmacht, and they were not sent to the gaschambers. I was an actor who was asked to play the part of a French corporal prisoner of war and not a little Jew in concentration camp, and I never felt uncomfortable playing Louis LeBeau.79

Clary war nicht der einzige jüdische Schauspieler, der in Hogan’s Heroes mitwirkte. Die vier wichtigsten deutschen Rollen waren mit jüdischen Schauspielern besetzt: Werner Klemperer (Oberst Wilhelm Klink), John Banner (Feldwebel Hans Georg Schultz), Leon Askin (General Albert Burkhalter) und Howard Caine (Major Wolfgang Hochstetter). Inwieweit die Serie den Mitwirkenden bei der Verarbeitung ihrer Kriegserlebnisse half, bleibt Spekulation. Zumindest arbeitete Clary nach dem Ende der Serie ein Jahr lang nicht als Schauspieler, sondern wandte sich der Malerei zu. Gegenüber seiner Familie und Freunden schwieg Clary über die Erlebnisse in den Konzentrationslagern: […] my feelings were deeply buried. I wanted to live a normal life. I didn’t want people to feel sorry for me. I never wanted to talk about my experiences in concentration camps. I did not want to live in that past. I had put a period there. […] When people, seeing the tattooed number on my arm, would ask me, ‚You were in camps?‘ I would say, ‚Yes, I spent three years there.‘ That’s as far as I would go.80

Erst 1980 brach er das Schweigen und sprach erstmals in einer Show mit Merv Griffin öffentlich über seine Lagererfahrungen. Später berichtete Clary für das Simon Wiesenthal Center an Hochschulen und Universitäten über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern. In den letzten Jahren war er als Musiker tätig und hielt als Zeitzeuge Vorträge. Die Lebensgeschichten der hier vorgestellten Musiker stellen Einzelschicksale Überlebender dar. Hermann Leopoldi kam 1938 nach Buchenwald, als Entlassungen jüdischer Gefangener noch möglich waren. Da seine Schwiegereltern bereits frühzeitig in die USA ausgewandert waren, konnte er sich die notwendigen Ausreiseformulare beschaffen. Jo Juda gehörte einer Gruppe niederländischer Geiseln an, die in Buchenwald nach internationalem Kriegsgefangenenrecht behandelt wurden. Der Großteil jüdischer Gefangener hingegen war weitaus schlechteren Haftbedingungen ausgesetzt, die schnell zum Tod durch Hunger, Krankheit und körperliche Gewalt führten. Robert Clarys Talent, seine Mitmenschen durch seine gesanglichen und schauspielerischen Darbietungen zu begeistern, verschaffte ihm in der schwierigen Zeit kurz vor Kriegsende lebenswichtige Kontakte.

79 Clary, From the Holocaust to Hogan’s Heroes, (wie Anm. 6), S. 173. 80 Ebd., S. 42.

Jüdische Musiker im Konzentrationslager Buchenwald

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Alle drei Musiker überlebten als Juden das Konzentrationslager, weil sie Aufnahme in einen schützenden Raum oder Personenkreis fanden. Sie konnten sich im Lager ihre musikalischen und künstlerischen Talente zunutze machen, um überlebensnotwendige zusätzliche Essensrationen zu erhalten und den Schutz der Mitgefangenen zu erlangen. Nach der Befreiung gelang es ihnen, ihre musikalischen Tätigkeiten wieder aufzunehmen und an ihre Biografie anzuknüpfen. Dabei verarbeiteten die Musiker ihre Erlebnisse auf unterschiedliche Weise. Hermann Leopoldis humoristische Kompositionen spiegeln Phänomene der Zeit wider. Wie das Lied Bummel durch Wien zeigte, versteckt sich unter dem Gewand der humorvollen Leichtigkeit eine enorme Dichte an Informationen und Anspielungen. Leopoldis Rückkehr nach Wien war überschattet von der Verdrängung seiner KZ-Erfahrungen in der öffentlichen Wahrnehmung, sodass er in seinen Memoiren einen Teil seiner Lagererlebnisse schilderte. Jo Juda verfasste vier autobiografische Romane, setzte sich aber erst in der vierten Schrift mit der Zeit in verschiedenen Lagern auseinander. Seine Aufzeichnungen geben Einblick in individuelle und kollektive musikalische Tätigkeiten und vermitteln ein umfassendes Bild psychologischer und soziologischer Wirkungsweisen von Musik im Konzentrationslager. Robert Clary emigrierte nach Kalifornien und wirkte in den 1950ern in einer USComedy-Serie mit, die Parallelen zu seinen eigenen Lagererfahrungen zeigte. Erst viele Jahre später brach er das Schweigen. Es sind diese Einzelschicksale überlebender Musiker aus Buchenwald, die unser heutiges Bild des Musiklebens im Konzentrationslager Buchenwald prägen.

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Mit der Geige ins KZ Sinti- und Roma-MusikerInnen im NS-Staat

Der Zeithistoriker Konrad H. Jarausch hat jüngst in einer detailreichen Studie über das Alltagsleben vor, während und nach dem „Dritten Reich“ noch einmal den „merkwürdige[n] Wettbewerb um die Anerkennung der [NS-]Opfer“ problematisiert, auf den auch Friedhelm Boll, ebenfalls Zeithistoriker, 1999 hingewiesen hatte.1 Allerdings dürften davon Betroffene wie die deutschen und österreichischen „Zigeuner“ und „Zigeunerinnen“ weder einen Wettbewerb mit jüdischen Leidensgenossen oder politisch Verfolgten beabsichtigt noch es als merkwürdig empfunden haben, wenn sie selbst um Anerkennung kämpfen mussten, weil ihr Status als Opfer des NS-Regimes und seiner ethnischen Vernichtungspolitik noch jahrzehntelang nach dem Ende des „Dritten Reichs“ ignoriert und von Amts wegen abgestritten wurde. Es waren gerade die Verfolgten dieser Ethnie, die mit Abwehr und fortgesetzter Diskriminierung konfrontiert wurden – einer Diskriminierung, die schon Jahrzehnte vor dem „Dritten Reich“ praktiziert wurde und die Mehrheitsgesellschaft aufgrund von negativen Zuschreibungen dazu veranlasste, von dieser Volksgruppe, so deren Mitglieder nicht völlig integriert waren, zumindest Abstand zu halten. Das zeigt sich auch darin, dass in vielen frühen Studien über KZs von Sinti und Roma keine oder nur en passant die Rede ist. Aber der Mangel an Solidarität wirkte sich selbst während der KZ-Haftzeit aus, wie sich noch anhand der Berufsgruppe der MusikerInnen, die im Folgenden im Blickpunkt steht, zeigen wird. Auch die Forschung über die NS-verfolgten „Zigeuner“ setzte relativ spät ein: Sie begann in Deutschland und Österreich Mitte der 1960er Jahre.2 Dagegen ließen die ersten Studien

1 Konrad H. Jarausch, Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter, Darmstadt 2018 (amerikanische Originalausgabe Princeton 2018), S. 250, mit dem Fokus auf „die Anerkennung […] als Grundlage für Wiedergutmachung“. Friedhelm Boll, „Lebensgeschichte und Zeitzeugenschaft von Verfolgten zweier Diktaturen“, in: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge in zwei Diktaturen, hrsg. von dems. und Annette Kaminsky, Berlin 1999, S. 11–18, hier S. 12 („spezifische Konkurrenzvorstellungen zwischen Opfergruppen“). 2 Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat (= Monographien zur Zeitgeschichte. Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands [im Folgenden: DÖW]), Wien u. a. 1966. Die erste umfangreiche deutsche Studie entstand nicht im Fach Geschichte: Hans-Joachim Döring, Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat (= Kriminologische Schriftenreihe 12), Hamburg 1964; der Autor ging in seiner juristischen Dissertation noch vom stereotypen „kriminellen Zigeuner“ aus.

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über NS-verfolgte Musiker und Musikerinnen dieser Ethnie noch 50 Jahre auf sich warten,3 obwohl doch eins der in der Populär- und der Hochkultur verbreiteten „Zigeunerbilder“ 4 dasjenige des Zigans mit der Geige, also eines Musikers, war. Hier wirkte sich wohl zum Nachteil aus, was als Positivum gelten kann: dass dieses „Zigeunerbild“ heute offensichtlich nicht mehr im öffentlichen Bewusstsein ist. Allerdings sieht sich die Forschung über diese verfolgte Volksgruppe Problemen gegenüber, die prinzipiell auch für die musikhistorische Perspektive gelten und die hier einleitend aufgezeigt werden sollen. Ȥ Die Kultur der Sinti, Roma, Lalleri etc. beruhte auf mündlicher Überlieferung. Daher sind auch ihre autobiographischen Berichte in Interviews und Gesprächen mit den Problemen der Oral History behaftet: Zum einen verschiebt die mündliche biographische Erzählung als eine „biographische Konstruktion“5 Details zuweilen auf andere Weise als der schriftliche Erinnerungsbericht; sodann müssen mündliche biographische Darstellung von NS-Verfolgten von ihrer öffentlichen Erzählung als Zeitzeugen, die sich in ihrem Anspruch einer schriftlichen Autobiografie nähert, unterschieden und andere Quellen als „Gegenlesart“ hinzugenommen werden.6 (In dieser Studie werden allerdings kaum Erzählungen von Zeitzeugen einbezogen.) Ȥ Papiere in Familienbesitz aus der Zeit vor und während des „Dritten Reichs“ sind daher rar, selbst wenn Familienmitglieder die Verfolgung überlebt haben. Die Forschung muss sich demnach auf bürokratische Akten oder andere zugängliche Dokumente verlassen. Ȥ In großen Familien wurden oftmals von Generation zu Generation dieselben „deutschen“ Vornamen vergeben, so dass beispielsweise die Enkel eines Paares, die von mehreren ihrer Kinder stammen, denselben Vor- und Nachnamen haben können und daher nicht leicht auseinander zu halten sind. (Die gleichzeitig mündlich vergebenen Romanes-Vornamen tauchen in Dokumenten selten auf.) Ȥ Wenn Paare nicht offiziell verheiratet waren, sondern in der sogenannten Zigeunerehe lebten, trugen die Kinder häufig den Namen der Mutter. Das erschwert die Identifikation von zusammengehörigen Familienmitgliedern und spielt bei der NSForschung vor allem dann eine Rolle, wenn ihre Namen nur aus den Listen des

3 Die musikwissenschaftliche Literatur ist im Folgenden in den Anm. 13, 15 und 163 genannt, hinzu kommen die damit in Verbindung stehenden LexM-Artikel (Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, siehe Anm. 53) in zahlreichen Anmerkungen. (Abweichungen in Details zwischen dem hier Folgenden und den früheren Darstellungen erklären sich aus dem zunehmenden Wissensstand der Verf.) 4 Frank Reuter, Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“, Göttingen 2014. 5 Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager (= Forum Zeitgeschichte 8), Hamburg 1999, S. 13. 6 Vgl. dazu Andreas Eberhardt, „Erzählte und geschriebene Lebensgeschichte“, in: Gedenkstättenarbeit und Oral History, (wie Anm. 1), S. 129–150, bes. S. 149 f., sowie Annette Kaminsky, „Historisches Wissen und lebensgeschichtliche Verarbeitung. Vergleiche mit nationalsozialistischer Verfolgung als Bausteine lebensgeschichtlicher Verarbeitung“, in: ebd., S. 151–173, hier S. 172 f.

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„Zigeunerlagers Auschwitz“7 bekannt sind, die nach Frauen und Männern getrennt angelegt wurden. Auch wenn sich die häufig nicht eingetragenen Eingangsdaten anhand der vergebenen Nummern erschließen lassen,8 bleibt die Rekonstruktion von Familien schwierig. Ȥ Die Identifikation wird auch erschwert durch die nur nach Gehör notierten Familiennamen und Geburtsorte. Das ist teilweise den eingeschränkten Deutschkenntnissen der polnischen Häftlingsschreiber und vermutlich unterschiedlicher Aussprache geschuldet, teilweise aber auch der Tatsache, dass die Muttersprache Romanes eine mündlich tradierte Sprache war und sowohl das Wissen über den eigenen Namen als auch dessen Buchstabieren zu unterschiedlichen Ergebnissen führten konnte. Ȥ Die ausübenden Musiker gehörten in den allermeisten Fällen nicht der „Hochkultur“ an, sondern dem Unterhaltungssektor. Hinzu kommt, dass sie ihre Musik oft ambulando ausübten, also im Sommer als Wandermusiker unterwegs waren oder in Städten „ständelnd“ durch die Lokale zogen. Dementsprechend sind ihre „geographischen“ Spuren schwer zu finden und ihre (oft ohne Notenkenntnis nach dem Gehör ausgeübte) Musik schwer festzumachen. Auch sie konnte, anders als in Notenschrift überlieferte Musik von Verfolgten der „Hochkultur“, größtenteils nur durch die Praxis am Leben gehalten und indirekt über das Hören bis heute gespielter Musik erfahren werden. Ȥ Der Beruf „Musiker“ erklärt nicht, welches Instrument die jeweilige Person spielte – wenn sie nicht ohnehin mehrere Instrumente beherrschte, wie es zu erwarten und jedenfalls bei Kapellenleitern üblich war. Selbst bei späteren Musikstudenten (meist Violinisten) kann man davon ausgehen, dass sie der Vater anfangs mehrere Instrumente spielen lehrte. Ȥ Die Bezeichnung „Musikerin“ schließt nicht aus, dass die so genannte oder sich so bezeichnende Frau Sängerin war; Instrumentalistinnen scheint es, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, vergleichsweise viel weniger gegeben zu haben, während umgekehrt der Sängerberuf bei Männern dort unüblich gewesen sein mochte. Ȥ Eine ganz andere Berufsbezeichnung in Dokumenten aus dem „Dritten Reich“ bedeutet nicht, dass die Betreffenden keine Musiker waren, sondern nur, dass sie ihren Lebensunterhalt hauptsächlich oder zuletzt mit einem anderen Beruf verdient haben. Gerade bei Wandermusikern war bei der witterungsbedingten Sesshaftigkeit im Winter die Ausübung eines Handwerks oder das Betreiben eines Handels notwendig; aber ausschlaggebend war vor allem die Tatsache der Zwangsarbeit, die zur häufigen Angabe „Arbeiter“ oder „Arbeiterin“ führte. 7 Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, hrsg. vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg, 2 Bde., München 1993; im Folgenden abgekürzt zu: Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen) bzw. (Männer). 8 Anhand des von Danuta Czech erstellten Kalendariums der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek 1989, in dem die Ankunftsdaten der Transporte mit den ausgegebenen Nummern korreliert sind.

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Ȥ Die Ignoranz der Behörden nach Kriegsende über die Gründe, mit denen der NS-Staat die Sinti und Roma verfolgte, und die fortgesetzte Diffamierung der angeblich vom NS-Staat zu Recht als „Asoziale“ erkannten und daher nicht „rassisch“ diskriminierten „Zigeuner“ ebenso wie die lange ausbleibende Anerkennung als KZ-Häftlinge schürten das Misstrauen gegenüber dem sie weiterhin verfolgenden Staat und jeglicher Bürokratie, aber auch gegenüber der ignoranten Mehrheitsgesellschaft. Mit diesem anhaltenden Misstrauen wird die Forschung vonseiten der „Gadje“9 rechnen und es überwinden müssen, wenn sie auf Personen zugeht. Zwar hatte diese Bevölkerungsgruppe keinen sehr hohen Anteil an der Bevölkerung in Deutschland und Österreich (s. u.). Somit gehört sie, im Vergleich mit den jüdischen und den politisch Verfolgten, zu den marginalisierten Gruppen, wie sie im „Dritten Reich“ beispielsweise die Zeugen Jehovas oder die Behinderten waren. Wenn aber im Folgenden in groben Zügen die Phasen der Verfolgung der MusikerInnen unter den Sinti und Roma bis zur „Endlösung“ in KZs nachgezeichnet wird, so geschieht dies auch in dem Bewusstsein, dass es selbstverständlich ist, diesen NS-Verfolgten ihre Geschichte wiederzugeben und ihre Namen zu nennen – zumindest die wenigen, die sich bisher finden und zuordnen ließen.

Phasen und Maßnahmen der Verfolgung 1. Die Anfänge: Heiratsbeschränkung und Sterilisation; Gesetze vor und nach 1933; Aktion „Arbeitsscheu Reich“ Die rassische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, die bereits 1933 begann, wurde bekanntlich am 15. September 1935 in den Nürnberger Gesetzen verankert. So wurden im sogenannten Blutschutzgesetz expressis verbis Juden von den „Staatsbürger[n] deutschen oder artverwandten Blutes“10 abgegrenzt, weil sie die Reinerhaltung besagten Blutes gefährdeten. Aber diese Formulierung schloss bei genauerem Hinsehen nicht nur sie aus. Um das allen Anvisierten deutlicher zu machen, wurde nachgebessert. So versandte der Innenminister Wilhelm Frick am 3. Januar 1936 eine vertrauliche Mitteilung an alle Landesregierungen, an die preußischen Standesbeamten und Aufsichtsbehörden sowie an die Gesundheitsämter, mit der er den § 6 der Ersten Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz vom 14. November 1935 konkretisierte: Danach war nur „Deutschblütigen“ und „Mischlingen“ mit höchstens einem Viertel „artfremden Blutes“ – prinzipiell also Juden und „Zigeuner“ betreffend – die Heirat erlaubt.11 Über den „Zigeuneranteil“ urteilte   9 Romanes für Menschen, die nicht den Sinti oder Roma zugehören; Einzahl: Gadjo; fem.: Gadji/s. (Die Schreibweise differiert, sie kann auch Gadscho/Gadschi oder Gadžo/Gadži lauten.) 10 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, § 1; die gleiche Formulierung, nur ohne Nennung von Juden, findet sich im Reichsbürgergesetz, § 2.1. 11 Abgedruckt in: Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, hrsg. von Romani Rose, Heidelberg 1995, S. 25 f.

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die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ unter dem Kinderpsychiater (!) Robert Ritter, die im November 1936 in Berlin ihre Tätigkeit aufgenommen hatte und sich der Aufgabe verschrieb, alle „Zigeuner“ im NS-Staat zu erfassen und rassisch zu begutachten. Die beschränkte Heiratserlaubnis wurde Mitte 1941 aufgehoben und „Mischehen“ nun gänzlich verboten. Wenn aus bereits existierenden sogenannten „Zigeunerehen“ Familien entstanden waren, wurde ihr Fortbestehen nur unter einer unmenschlichen Bedingung toleriert: der Sterilisation. Der „Zigeunermischling ersten Grades“ Josef Reinhardt, der am Konservatorium in Stuttgart Violine studiert hatte, war seit 1931 mit einer „deutschblütigen“ Frau auf diese Weise verbunden. Sie hatten zwei Söhne und wollten ihre Ehe 1943 in München bürgerlich legalisieren lassen. Die Heirat wurde den Reinhardts nur unter der Bedingung erlaubt, dass der junge Familienvater sich vorher sterilisieren ließ. Mit dieser Regelung sollte gleichzeitig verhindert werden, dass seine Frau und die Kinder der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen, wenn die Heirat einfach verboten worden wäre. Die Sterilisation bedrohte auch bereits rechtsgültig mit einer „deutschblütigen“ Frau Verheiratete: Der Geigenbauer Fridolin K. war zwar durch die Ehe vor der lebensbedrohlichen Deportation geschützt. Aber er selbst, sein ältester, halbwüchsiger Sohn und sein Bruder wurden im Oktober 1943 zwangssterilisiert. Wilhelm Hoff dagegen, auch Musiker, lebte in Köln mit einer „Deutschblütigen“ zusammen, hatte mit ihr aber keine Kinder. Daher wurden beide zu der schriftlichen Versicherung gezwungen, dass sie den Kontakt zueinander abbrechen würden. Da sie andernfalls Gefahr liefen, wegen einer im Herbst 1941 erlassenen Regelung zum „Konkubinat“ als „Asoziale“ in ein KZ deportiert zu werden, tauchten beide unter. Nachdem Hoff im April 1942 gefasst wurde, kam er zwei Monate später ins KZ Buchenwald und 1944 oder noch Anfang 1945 ins Außenlager Langenstein-Zwieberge, das erst im April 1944 eingerichtet worden war und in dessen unterirdischem Stollensystem die Häftlinge für die Luftrüstung der Junkers-Werke ohne jeglichen Arbeitsschutz Zwangsarbeit leisten mussten. Am 6. März 1945, noch kurz vor der Räumung des Außenlagers, wurde Hoff dort ums Leben gebracht.12 Der Musiker Heinrich Braun, ebenfalls noch kinderlos und mit einer „deutschblütigen“ jungen Frau verlobt, überlebte mit Glück seine KZ-Haft. Nachdem er 1941 aus rassischen Gründen aus der Wehrmacht entlassen worden war,13 spielte er in der Kapelle seines Bruders Gerhard (s. u.) in Cafés in Charlottenburg. Der Vater seiner Verlobten, der NSDAPMitglied war, sorgte dafür, dass seine ahnungslose Tochter einer Abtreibung unterzogen wurde. Beiden wurde der weitere Umgang verboten. Aufgrund der Braun im Frühjahr 1942 drohenden Verhaftung floh das Paar zuerst nach Königsberg, dann nach Luxemburg; dort wurden sie von der Gestapo verhaftet. Während die junge Frau nach einigen 12 Vgl. zu diesem Lager Denise Wesenberg, „Langenstein-Zwieberge“, in: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bde., hrsg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, München 2005–2009, Bd. 3, S. 487–491. 13 Vgl. auch das Kapitel „Musiker in der Wehrmacht“ in: Verf., Verfolgungsgrund „Zigeuner“. Unbekannte Musiker und ihr Schicksal im „Dritten Reich“ (= Antifaschistische Literatur und Exilliteratur. Studien und Texte 25), Wien 2016, S. 64–68.

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Tagen auf Betreiben ihres Vaters freigelassen wurde, deportierte die Gestapo den Musiker im Oktober 1942 nach Sachsenhausen, wo er in mehreren Nebenlagern in Oranienburg (Heinkel-Werke, „Kommando Speer“) zur Rüstungsproduktion gezwungen wurde. Kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee am 26. April 1945 floh er aus dem Außenlager Falkensee.14 Der Sterilisation scheint er entgangen zu sein. Da die Zwangssterilisation auch auf „angepasste“, d. h. in festem Arbeitsverhältnis stehende „Zigeuner“ und ihre mindestens zwölfjährigen Söhne angewandt wurde, wird die Zahl der auf diese Weise um ihren kulturell erwünschten reichen Kindersegen Betrogenen auf 2000–2500 Sinti und Roma geschätzt; dazu zählen auch – nicht zu vergessen – die 140 Frauen und Mädchen, einige deutlich jünger als zwölf Jahre, die seit Dezember 1944 im KZ Ravensbrück grauenhaften Sterilisationsexperimenten unterzogen wurden. Betraf die Heiratsregelung nur einen kleinen Anteil der „Zigeuner“, so war auch der Anteil aller „Zigeuner“ an der deutschen Gesamtbevölkerung gering: Die Schätzungen schwanken von 30.000, inklusive derer aus der „Ostmark“ und dem Sudentengau, bis zu 20.000 bis höchstens 26.000 im „Altreich“ und ca. 11.000 in der „Ostmark“.15 Infolgedessen gab es bis 1938 im „Dritten Reich“ nur punktuelle Aktionen speziell gegen diese Bevölkerungsgruppe. Zuerst 1935 in Köln, in den folgenden Jahren auch in mindestens 22 anderen deutschen Städten wurden Areale als „Zigeunerlager“ ausgewiesen, die meist von der kommunalen Polizei kontrolliert wurden. Dorthin hatten die örtlichen Sinti­ familien umzuziehen, d. h. ihre Wohnwagen dort aufzustellen. 1938 wurde dann die erste Maßnahme getroffen, von der nicht mehr einzelne, sondern überregional eine große Zahl „Zigeuner“ betroffen war. Allerdings gab es in Bayern schon seit 1899 die „Zigeunerpolizeistelle München“, und das Land Bayern hatte 1911 auch eine länderweite Besprechung über die „Grundzüge für die Bekämpfung der Zigeunerplage“ angeregt.16 1926 wurde ebenfalls in Bayern das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ erlassen, in dem für „Zigeuner und Landfahrer“ „Arbeitszwang“ und gegebenenfalls die Festsetzung in einer „Arbeitsanstalt“ vorgesehen waren; die Länder Preußen und Hessen zogen 1927 bzw. 1929 nach.17 1936 gab die Polizei in Bayern Richtlinien zur Verhängung von Schutzhaft für „Volksschädlinge“ heraus – gemeint waren Bettler, Landstreicher, „Zigeuner“, 14 Romani Rose und Walter Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“. Das Programm der Vernichtung durch Arbeit, Göttingen 1991, S. 81–84. 15 Vgl. dazu das Kapitel „Zahlen“ in: Verf., Verfolgungsgrund „Zigeuner“, (wie Anm. 13), S. 19–22, auch in der gekürzten Fassung „Verfolgungsgrund: ‚Zigeuner‘. Nachruf auf unbekannte Musiker“, in: mrMitteilungen, H. 88–89 (Dez. 2015, März 2016), S. 1–19 bzw. 1–20, hier H. 88, S. 6–11. Zu den österreichischen Verhältnissen vgl. den Aufsatz der Verf. „Verfolgte Sinti- und Roma-MusikerInnen im NS-Staat“, in: Stand und Perspektiven der NS-Forschung in der Musik, hrsg. von Susanne Kogler und Klaus Aringer, Graz 2019 (i. Dr.). 16 Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“ (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 33), Hamburg 1996, S. 55, 107. 17 Auszugsweise abgedruckt in: „Ich wußte, es wird schlimm.“ (Hugo H.) Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933–1945, hrsg. von der Landeshauptstadt München, München 1993, S. 43 ff., bes. Art. 9.

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„Arbeitsscheue“, Müßiggänger, Prostituierte, Querulanten, Gewohnheitstrinker, Raufbolde, Verkehrssünder, Psychopathen und Geisteskranke. Von den 1306 daraufhin im Juli 1936 Festgenommenen kamen allein 736, darunter auch „Zigeuner“, ins KZ Dachau.18 Im selben Jahr veranlasste die „Zigeunerpolizeistelle München“, dass auch die Interpol in Wien eine Zentralstelle zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in Österreich errichtete.19 Die Münchner Stelle zog 1938, ihrer überregionalen Bedeutung gemäß, nach Berlin ins Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) um. Im April und Juni 1938 wurde ein Erlass des Innenministers Wilhelm Frick vom Dezember 1937 „über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ nach einer Verordnung des „Reichsführers SS“ und Chefs der gesamten Polizei, Heinrich Himmler, in die sogenannte „Aktion Arbeitsscheu Reich“ umgesetzt. Sie konnte u. a. an das Gesetz aus Bayern von 1926 anknüpfen und richtete sich im April gegen „Arbeitsscheue“, im Juni auch gegen Bettler, Landstreicher, „Zigeuner“, Prostituierte, Alkoholiker und geringfügig vorbestrafte Wiederholungstäter.20 Die „Aktion“ brachte Menschen, die keine feste Arbeit annehmen konnten oder wollten, landesweit in Vorbeugehaft. Allein ins KZ Buchenwald wurden mehr als 4000 Männer eingewiesen, darunter vermutlich mehr als 1000 Sinti und Roma.21 Für einige Sinti- und Roma-Musiker bedeutete die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ jedoch erst einmal, dass sie spätestens jetzt ihren Wandergewerbeschein verloren, für andere in fester Anstellung, dass sie nach und nach aus der Reichsmusikkammer (RMK) ausgeschlossen wurden. Eine bereits am 15. November 1933 erlassene Verordnung hatte es zwar schon damals möglich gemacht, jede missliebige Person, die „die für die Ausübung ihrer Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht“22 besaß, aus einer der Reichskulturkammern hinauszuwerfen und damit berufsunfähig zu machen. Dieser § 10 war ein Gummiparagraph, denn er konnte auf alle Unerwünschten angewandt werden, also nicht nur auf Menschen jüdischer Abstammung, politischer Gegnerschaft oder homosexueller Orientierung, sondern auch auf „Neger“ und „Zigeuner“, die professionell Musik machten. Aber der flächendeckende Ausschluss kam im Falle der „Zigeuner“musikerInnen erst nach und nach und deutlich später als bei den jüdischen MusikerInnen in Gang, und zwar vermutlich im Zusammenhang mit dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Denn seitdem wurde in diesem, nunmehr „Ostmark“ genannten, Teil „Großdeutschlands“ ganz energisch und gründlich versucht, der „Zigeunerplage“ Herr zu werden. Berlin empfing dadurch von der „Ostmark“ einige Anregungen. So enthielten denn auch die ersten Ausschlusslisten, die 18 Vgl. Stanislav Zámečník, „Dachau – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 233–274, hier S. 243, 256. 19 Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), S. 13. 20 Stefanie Schüler-Springorum, „Masseneinweisungen in Konzentrationslager: Aktion ‚Arbeitsscheu Reich‘, Novemberpogrom, Aktion ‚Gewitter‘“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 156–164, hier S. 158. Vgl. dazu auch Christine Oeser „Jüdische Musiker im Konzentrationslager Buchenwald“ in diesem Band, S. xxx. 21 Vgl. Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945. Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald, hrsg. von Volkhard Knigge, Göttingen 2016, S. 204, sowie Rose und Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“, (wie Anm. 14), S. 95. 22 Quelle: Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 797.

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Abb. 1a, b und c: Ausschlüsse aus der RMK, in: Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer (AMdRMK) 7/2 (15. Februar 1940), S. 8 ff.

expressis verbis Musiker als „Zigeuner“23 benannten – ein ungewöhnliches Prozedere, denn ausgeschlossene jüdische MusikerInnen wurden nicht als Juden deklariert –, vergleichsweise sehr viele österreichische Roma-Musiker. Auf der Ausschlussliste vom 15. Februar 1940 finden sich gleich ganze Familien namens Greis, Reinhardt, Sarközi und Seger (s. Abb. 1).

23 Gleichzeitig wurden einige Musiker auch als „Neger“ klassifiziert. Die Klassifizierungen wurden 1942 wieder aufgegeben, später ausgeschlossene Musiker nur noch namentlich genannt, so im Oktober 1944 Wadusch Böhmer, Heinrich Freiwald oder der bereits im KZ Auschwitz inhaftierte Stefan Rose, in: Die Reichskulturkammer [Nachfolgeorgan der AMdRMK] 2/10 (Okt. 1944), S. 144.

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2. 1939–1941/42: Verhaftungen in der „Ostmark“, Festsetzungserlass und erste Massendeportationen In der „Ostmark“ waren seit dem „Anschluss“ eine Reihe von Sonderregelungen in Kraft getreten. Sofort wurde beispielsweise verboten, dass Roma und Sinti ihre Kinder auf eine Volksschule schickten, und auch das Musizieren wurde untersagt, da es angeblich nur ein Vorwand für Bettelei war.24 Bei der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ wurden allein 420 Männer aus dem Burgenland in KZs eingewiesen, doch da viele berufstätig gewesen waren, bereitete 24 Selma Steinmetz, „Die Verfolgung der burgenländischen Zigeuner“, in: In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt, hrsg. von Tilman Zülch, Reinbek 1979, S. 112–133, hier S. 114.

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ihre Inhaftierung den Kommunen Probleme: Die zurückbleibenden Familien fielen der Fürsorge zur Last. Alsbald setzte daher eine flächendeckende Verfolgung dieser angeblich asozialen Elemente mit ansteckenden Krankheiten, dieser Schmuggler und Spione ein. Es handelte sich um zwei Maßnahmen: 1. Ab 1939 wurden sie in geschlossenen Lagern zusammengefasst. Solche „Anhaltelager“ befanden sich beispielsweise in Bruckhaufen und in Fischamend bei Wien; auf der Trabrennbahn, dann in Leopoldskron bei Salzburg;25 in Hopfgarten in Tirol; in mehre25 Am Stadtrand von Salzburg gab es ursprünglich keine Sintisiedlung; sie kam erst 1939 zustande, als das Bundesland Tirol die meist heimlich aus dem „Altreich“ dorthin gezogenen „Zigeuner“ umgehend ins Salzburgerland abschob; vgl. Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich

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ren „Zigeunerarbeitslagern“ in der Steiermark;26 seit November 1940 in dem als Letztes eröffneten größten „Zigeunerlager“ in Lackenbach im Gau Niederdonau, dem früheren – und heutigen – Burgenland. Aus diesen Lagern also, allein 2000 aus dem zu diesem Zeitpunkt überfüllten Lackenbach,27 wurden im November 1941 insgesamt 5007 Roma und Sinti – mehr als die Hälfte Kinder – zusammengesucht, in mehreren Eisenbahn-Transporten nach Łódź deportiert und dort in einen abgegrenzten Teil des bereits von jüdischen Leidensgenossen überfüllten Gettos gepfercht. 613 von ihnen raffte schon nach kurzer Zeit eine Typhus-Epidemie hinweg, die anderen 4393 wurden im Januar 1942 nach Chełmno transportiert und in den dort gerade entwickelten Gaswagen umgebracht – es war die erste fabrikmäßige Massenvernichtung durch die Nazis, und sie zielte nicht auf Juden, sondern auf „Zigeuner“. Keiner der mehr als 5000 Deportierten überlebte, auch nicht die Frau und die zehn Kinder des Wiener Musikers Anton Schneeberger.28 2. Im Juni 1939 gab es auch die erste Massenverhaftung ausschließlich von „Zigeunern“, und zwar Männern wie Frauen mit ihren Kindern, und ihre Deportation in KZs. Sie stammten überwiegend aus dem ehemaligen Burgenland, wo die meisten Roma-Familien seit der Ansiedlungspolitik von Maria Theresia und Joseph II. ansässig waren. Eigentlich war das Ziel, 3000 von ihnen in KZs zu deportieren – etwa 2000 Männer über 16 Jahre und maximal 1000 Frauen zwischen 15 und 50 Jahren (s. Abb. 2). Doch schließlich waren es „nur“ knapp 1000, nämlich 553 Männer und Jungen und 440 Frauen mit ihren Kindern; mehr als 700 kamen aus dem Gau Steiermark, dem das Südburgenland angegliedert worden war.29 (Was mit ihnen geschah, wird im nächsten Abschnitt thematisiert.) Ende September 1939, also schon bald nach dem Überfall auf Polen, wurde in ganz „Großdeutschland“ der sogenannte Festsetzungserlass eingeführt, die nächste der flächendeckenden Maßnahmen, mit denen die noch nicht verhafteten und deportierten Sinti und Roma im NS-Staat überzogen und verfolgt wurden. Der Erlass untersagte ihnen die Entfernung vom Wohnort; bei Zuwiderhandlung drohte das KZ. Gerade den reisenden

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(= Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte 2), Wien u. a. 1983, S. 29. Diese Lager hatten unterschiedliche Bezeichnungen, es waren jedoch in allen Fällen Zwangslager; vgl. dazu Wolfgang Benz, „NS-Zwangslager und das KZ-System“, in: Nationalsozialistische Zwangslager. Strukturen und Regionen. Täter und Opfer, hrsg. von dems., Barbara Distel und Angelika Königseder, Dachau 2011, S. 13–19. Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht und Ursula Mindler, Unsichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, S. 90. Vgl. zu diesen Lagern auch unten im Text und Gerhard Baumgartner, „Dezentrale nationalsozialistische ‚Zigeunerlager‘ 1938–1945 auf dem Gebiet des heutigen Österreich“, Projektentwurf im Arbeitsschwerpunkt „Roma und Sinti“, http:// www.doew.at, letzter Zugriff: 15.01.2019; Gerhard Baumgartner und Florian Freund, „Der Holocaust an den österreichischen Roma und Sinti“, in: Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Zimmermann (= Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 3), Stuttgart 2007, S. 203–225, hier S. 214. Nach Steinmetz war mit 2335 Häftlingen im November 1941 der Höchststand erreicht, in: dies., „Die Verfolgung der burgenländischen Zigeuner“, (wie Anm. 24), S. 116, 118. Vgl. die Angabe in seinem Lebenslauf von 1946 (DÖW SchneebergerA, Sign. 20.100/10.504). Zu Anton Schneeberger s. auch u.; einige Informationen zu ihm gaben mir dankenswerterweise Ursula Schwarz (DÖW) und Nicole Ristow (Hamburg). Halbrainer, Lamprecht und Mindler, Unsichtbar, (wie Anm. 26), S. 93, 89.

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Abb. 2: Schreiben des RKPA (Berlin) vom 5. Juni 1939 an die Kriminalpolizeileitstelle Wien, Abschrift bei Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner, Wien u. a. 1966, Dokument III, Anhang, S. 5.

Gewerben, also auch den WandermusikerInnen, wurden damit ihre Arbeitsmöglichkeiten genommen. Damit sollte den Sinti und Roma im „Großdeutschen Reich“ aber auch die Flucht ins Exil, die zumindest den Wandergewerbetreibenden normalerweise leichtgefallen wäre, unmöglich gemacht werden. Das scheint auch weitestgehend gelungen zu sein. Manchmal heißt es zwar in den Ausschlusslisten der AMdRMK: „zuletzt wohnhaft gewesen …“, was anzeigt, dass keine gegenwärtig gültige Adresse von ihnen bekannt war, obwohl selbst Wandermusiker im Winter an einem festen Wohnort lebten (und dies war nicht nur bei Sinti und Roma der Fall). Daher ist zu vermuten, dass die betreffende Person untergetaucht oder geflohen war. Aber erschwerend für die Flucht aus „Großdeutschland“ ins Exil war die traditionelle Familienstruktur der Sinti und Roma: In ihrem sehr starken

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Familienverband ließen die Jungen die Alten nicht freiwillig im Stich, und die Alten wollten dort sein, wo die Jungen lebten. Immerhin siedelten sich zwischen 1933 und 1938 an der Wiener Peripherie eine Reihe von Sinti-Familien an, die dem Leben in Nazideutschland das Exil in Österreich vorzogen, und noch 1939 flohen wohl einige Familien nach Tirol; dort wollte man sie aber nicht haben und schob sie lieber bei Nacht und Nebel über die Gaugrenze nach Salzburg ab. In Villach in Kärnten wohnten mehrere Sinti-Musikerfamilien – im Winter, denn im Sommer reisten sie durch Europa –, von denen einige Mitglieder sich vor der Inhaftierung in Zwangsarbeitslagern über die nahe Grenze nach Italien retten konnten.30 1940 verschärfte sich die Lage für die Sinti im „Altreich“, als am 10. Mai 1940 der Überfall auf die Benelux-Länder und Frankreich begann.31 Das Oberkommando der Wehrmacht hatte Himmler schon Monate vor dem Überfall auf die westeuropäischen Länder nahegelegt, „Zigeunern“ den Aufenthalt in benachbarten Grenzgebieten zu verbieten,32 denn sie waren vor allem wegen ihrer Mobilität der Spionage verdächtig – ein Vorwurf, der bereits um 1500 aufgekommen war – und müssten daher als „militärische Risikofaktoren“ betrachtet werden.33 Im Mai 1940 fanden in den westlichen Regionen des „Dritten Reichs“, in Hamburg, in Düren/Köln/Hannover und im Raum Frankfurt am Main/Karlsruhe/Stuttgart gleichzeitig Aktionen statt, die euphemistisch „Umsiedlungen“ genannt wurden. Sie richteten sich gegen Sinti, die nicht als sozial gut integriert galten und fest angestellt waren oder eine kriegswichtige Arbeit verrichteten, und betrafen etwa 2800 Menschen, egal ob Männer, Frauen oder Kinder (s. Abb. 3). Alle wurden zu einem Sammelpunkt beordert – im Hamburger Hafen, auf der Kölner Messe – bzw. auf die Feste Hohenasperg transportiert, um von da aus weit nach Osten ins „Generalgouvernement“ verfrachtet zu werden, wo ihnen angeblich Land zugeteilt und sie auf Bauernhöfen angesiedelt werden würden. Das hing scheinbar mit Hitlers Siedlungspolitik zusammen: In dem überfallenen und besiegten Polen sollten „Volksdeutsche“ angesiedelt werden, um dem deutschen Volk mehr „Lebensraum“ zu verschaffen. Dieser Plan bezog sich allerdings nur auf die annektierten Gebiete Polens, die neuen sogenannten Reichsgaue „Wartheland“ und „Danzig-Westpreußen“. Ins „Generalgouvernement“ dagegen wurden alle ethnisch unerwünschten Bevölkerungsteile „umgesiedelt“ und ihnen bei Strafe der Einweisung in KZs die Rückkehr in die Heimat verboten. Daher war das Versprechen von Bauernhöfen im „Generalgouvernement“ für die deutschen Sinti reine Augenwischerei. Stattdessen wurden die Familien dort entweder auf offener Strecke ausgesetzt und ohne 30 Vgl. Rosa Winter, „Wie es so war unser Leben“, in: Uns hat es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl, Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen, hrsg. von Ludwig Laher (= Edition Geschichte der Heimat), Grünbach 2004, 22005, S. 23–52, hier S. 30. 31 Michael Zimmermann, „Deportation ins ‚Generalgouvernement‘. Zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Hamburg“, in: Viviane Wünsche, Uwe Lohalm und Michael Zimmermann, Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Roma und Sinti, Hamburg 2002, S. 61–80, hier S. 65. 32 Ebd. 33 Udo Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, hrsg. von Adam Strauß, Frankfurt a. M. 2001, S. 180 f.

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Abb. 3a und b: Schnellbrief Heydrich (Vertretung für Himmler) vom 27. April 1940, gedruckt in: „Ich wußte, es wird schlimm.“ (Hugo H.) Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933–1945, hrsg. von der Landeshauptstadt München, München 1993, S. 66 f.

Papiere sich selbst überlassen, in verschiedenen Städten auf Lager verteilt oder auch nur in Scheunen eingewiesen.34 Aus ihnen allen, auch Kindern, Frauen und alten Leuten, wurden Zwangsarbeiterkolonnen zum Bau von Straßen, Bunkern, Schützengräben und KZs zusammengestellt. Von der Familie des Kapellenleiters Josef Kling aus Karlsruhe ist bekannt, dass sie sich auf eigene Faust Richtung Heimat durchschlagen wollte und es ohne Geld und Papiere nur mit Schwierigkeiten schaffte. Allerdings wurde sie bald in Karlsruhe ergriffen und die Männer ins KZ Dachau, die Frauen ins KZ Ravensbrück deportiert.35 34 Michail Krausnick, Abfahrt Karlsruhe. Die Deportation in den Völkermord, Karlsruhe 1990, S. 14. 35 Michail Krausnick, Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma, Gerlingen 1995, S. 15–56.

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Abb. 3b

Sinti- und Roma-MusikerInnen in KZs Noch bevor im Zuge des Novemberpogroms 1938 die großen Massenverhaftungen von Juden und ihre Einweisung in KZs einsetzten, kamen bereits mit den ersten Transporten Sinti-„Schutzhäftlinge“ dorthin, vor allem, wie erwähnt, im April und Juni 1938 infolge der „Aktion Arbeitsscheu Reich“. In Vertretung Himmlers ordnete Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, an, dass in jedem der 15 Kripobezirke mindestens 200 arbeitsfähige, aber „arbeitsscheue“ Männer, seien es „Zigeuner“, Bettler, Landfahrer, Alkoholiker oder solche, die sich weigerten, eine feste Arbeit anzunehmen oder Zwangsarbeit zu leisten, erfasst werden sollten. Die Zahl der Festgenommenen war viel höher, sie wird auf ca. 2000 schon im April und ca. 10.000 im Juni geschätzt; sie kamen in die KZs Buchen-

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wald, Sachsenhausen und Dachau.36 Unter ihnen waren viele Hundert Sinti und Roma aus Baden, Bayern, Berlin, Berleburg, Bonn, Bremen, aus dem Burgenland in der „Ostmark“, aus Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Magdeburg, Oldenburg, aus der Pfalz – Gräfenhausen, Stein, Eußerthal –, Quedlinburg und Stettin.37 Nach Sachsenhausen wurden allein 248 (von etwa 6000 „asozialen“ Häftlingen) deportiert und wie alle dort als Arbeitskräfte für die SS-eigenen Betriebe, z. B. zur Steinbearbeitung oder in Stahlund Walzwerken, ausgebeutet.38 Bis zu den Massenverhaftungen von 1943 (s. u.) sollen nach und nach mehr als 2000 Sinti und Roma als „Asoziale“ nach Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen deportiert worden sein.39 Im Folgenden werden drei große KZs und ihre „Zigeuner“-Insassen, mit dem Fokus speziell auf die MusikerInnen unter ihnen, exemplarisch dargestellt.

Buchenwald-Häftlinge Seit der Eröffnung dieses KZs im Juli 1937 handelte es sich bei den aus Thüringen, Sachsen, Hessen, Oberschlesien, zeitweise auch aus West- und Nordwestdeutschland sowie aus Nordbayern eingelieferten Insassen um politische Gegner, Kriminelle und „Bibelforscher“ (Zeugen Jehovas).40 Bei der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ wurden im April 1938 ca. 1500– 2000, im Juni noch einmal ca. 2500–3000 Männer ins KZ Buchenwald deportiert und mit dem schwarzen Winkel der „Asozialen“ gekennzeichnet. Sie machten zu diesem Zeitpunkt einen Großteil der Lagerinsassen aus; zum Vergleich: Damals gab es dort nur ca. 1600 politische Häftlinge.41 (Das änderte sich nach dem Novemberpogrom.) Wie erwähnt, waren darunter vermutlich mehr als 1000 Sinti und Roma.42 36 Schüler-Springorum, „Masseneinweisungen in Konzentrationslager“, (wie Anm. 20), S. 158; Barbara Distel, „Kriminelle und ‚Asoziale‘ als Häftlingskategorien“, in: Nationalsozialistische Zwangslager, (wie Anm. 18), S. 194–204, hier S. 198. 37 Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 115. 38 Vgl. Hermann Kaienburg, „Sachsenhausen – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 17–72, hier S. 30 f.; Karola Fings und Frank Sparing, Rassismus – Lager – Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln (= Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 13), Köln 2005, S. 94; Guenter Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München u. a. 2001, S. 81; ähnlich bereits Ulrich König, Sinti und Roma unter dem Nationalsozialismus. Verfolgung und Widerstand, Bochum 1989, S. 56 f. Zur Zahl 6000 schon Georg Wolff, Kalendarium der Geschichte des KZ Sachsenhausen – Strafverfolgung, Oranienburg 1987, S. 13. 39 Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 370. Zu den Zahlen vgl. auch Schüler-Springorum, „Masseneinweisungen in Konzentrationslager“, (wie Anm. 20), S. 158 f. Insgesamt wurden bei der Aktion auch ca. 2500 Juden verhaftet. 40 Buchenwald, (wie Anm. 21), S. 19. 41 Harry Stein, „Buchenwald – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 301–356, hier S. 313 f. 42 Vgl. Buchenwald, (wie Anm. 21), S. 204, sowie Rose und Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“, (wie Anm. 14), S. 95.

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Abb. 4: Roma und Sinti im KZ Buchenwald, Herbst 1939, United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Robert A. Schmuhl.

Im Winter 1938/39 brach im Sonderlager der polnischen Häftlinge Typhus aus und verbreitete sich dann in der ganzen Anlage. „Einen besonders hohen Anteil an den im Lager Verstorbenen hatten die […] Zigeuner“, erinnerte sich einer der Mithäftlinge 1946, ein anderer, dass sich „besonders die Zigeuner [darin aus]zeichneten“, dass sie aus Hunger ungenießbare Essensabfälle aus Mülltonnen herausholten.43 Hinzu kamen Misshandlungen wie öffentliche Auspeitschung in Gruppen; infolgedessen waren am 9. Februar 1939 – die erste ermittelte Zahl von Sinti und Roma in Buchenwald – nur noch 111 von ihnen am Leben.44 Ein halbes Jahr später, nach Kriegsbeginn, gab es „Nachschub“ in Gestalt von mehr als 200 der 553 Männer und Jungen, die im Juni 1939 in der „Ostmark“ festgesetzt worden waren (s. o.). Diese 553 Sinti und Roma waren zuerst nach Dachau verschleppt worden, aber nach Kriegsbeginn wurde dieses KZ für die Ausbildung der SS-„Totenkopf“Frontdivision benötigt und musste bis Februar 1940 weitgehend geräumt werden. Daher wurden Ende September 1939 alle Häftlinge, darunter die Sinti und Roma (s. Abb. 4), teils nach Mauthausen (1600)45 oder Flossenbürg (981), teils – insgesamt 2138 Häftlinge – nach Buchenwald deportiert.46 43 Konzentrationslager Buchenwald, Bd. 1: Bericht des internationalen Lagerkomitees, Weimar 1949, S. 32, sowie Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich 1946, S. 145. 44 Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 118. Von späterem Totpeitschen berichtete auch Robert Schneeberger, vgl. dazu Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), S. 38. 45 Wie viele „Zigeuner“ am 29.09.1939 aus Dachau hinzukamen bzw. an diesem Tag insgesamt in Mauthausen gezählt waren, ist statistisch nicht erfasst worden. Die Aufstellung der SS nennt nur „571 deutsche und österreichische Asoziale“ aus Dachau, insgesamt wurden 1087 „asoziale“ Häftlinge gezählt, „vielfach Burgenländer-Zigeuner“; vgl. Hans Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, Wien 21980, S. 120. 46 Zámečník, „Dachau – Stammlager“, (wie Anm. 18), S. 248. Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 118, nennt dagegen die Schätzung eines Blockältesten in Buchenwald von ca. 700 Roma im Herbst 1939, darunter ca. 25 Jungen und 120–140 Jugendliche. Erst ab Juni 1944 kamen wieder

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Im Winter 1939/40 starben dort ca. 200 Sinti und Roma,47 da sie in Außenkommandos eingesetzt wurden und Erfrierungen an Armen und Beinen erlitten. Wenn sie die Einlieferung in den Krankenbau erlebten und willige Ärzte sie dort nicht gleich mit Evipan „abspritzten“, wurden ihnen die erfrorenen Gliedmaßen amputiert. Wenn sie nicht ausrücken konnten, weil die Kälte zu groß war, hatte sich die SS als besondere Strafmaßnahme für die „Zigeuner“ die Schikane ausgedacht, dass sie minutenlang den Kopf in den Schnee stecken mussten. Um ihre Peiniger abzulenken und wohlwollend zu stimmen, entwarfen sie ein Unterhaltungsprogramm für die SS, das Lieder, Instrumentalmusik, Tanz und das Lesen aus der Hand umfasste, wie einer der Beteiligten Jahrzehnte später berichtete.48 Die meisten der überlebenden Roma und Sinti aus der „Ostmark“ wurden ab 1940 bis Juni 1941 nach Mauthausen abgeschoben,49 das seit August 1938 für den Bedarf des ehemaligen Österreich zuständig war. Danach blieben nur wenige (124) in Buchenwald zurück, und selbst wenn noch einzelne Häftlinge hinzukamen, lebten im Januar 1944 dort nur noch 64;50 einige der mehr als 60 Umgekommenen waren Opfer medizinischer Experimente geworden. So auch der Musiker Otto Schmidt, geboren 1918 in Luckenwalde. Er kam aus dem „Zigeunerlager Holzweg“ in Magdeburg und war einer der Hunderte von Sinti, die im Juni 1938 bei der zweiten Verhaftungswelle der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ nach Buchenwald deportiert worden waren, um dort angeblich das reguläre Arbeiten zu „erlernen“. Am 20. November 1942 starb er als Opfer eines Experiments mit Fleckfieber; möglicherweise wurde er vom Lagerarzt Waldemar Hoven mit Phenol getötet (im NS-Jargon: „abgespritzt“).51 (Seine Tochter, die er nie kennenlernte, kam 1943 als Vierjährige mit ihrer Mutter Erna Lauenburger nach Auschwitz; erst starb die Kleine, dann wurde ihre darüber wahnsinnig gewordene Mutter von Josef Mengele mit einer Giftspritze „erlöst“.52) Aus Schmidts Todesart muss man schließen, dass er nicht als KZ-Musiker gebraucht wurde.

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Sinti und Roma nach Dachau: zuerst 40 Männer aus Buchenwald, die für Experimente mit Meerwasser missbraucht wurden, dann vermutlich im September 1944 Hunderte aus dem evakuierten, für Menschenversuche berüchtigten KZ Natzweiler (allein 200 von dort kamen in das Außenlager München-Riem), zuletzt Mitte November noch 156 Roma aus Budapest; schon Ende November wurden 242 von ihnen als „Abgänge“ registriert; vgl. dazu Robert Steegmann, „Natzweiler – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 6, S. 23–47. So die Schätzungen in: Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945, hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald, Göttingen 1990, S. 74. Andere Schätzungen gehen von einer Sterberate von mehr als 50 Prozent aus, vgl. Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 121 f. Ebd., unter Berufung auf ein Gespräch mit dem Sinto Herbert Birkenfelder (1986). KZ Buchenwald 1937–1945, (wie Anm. 47), S. 74. Siehe auch unten im Abschnitt „Mauthausen“. Errechnet aus den bei Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 119 angegebenen Zahlen. Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald, erstellt von Harry Stein, Göttingen 1999, S. 75 f. Diese Informationen erhielt Reimar Gilsenbach von einer Sinteza, die es wiederum von einem Auschwitzüberlebenden erfuhr, und veröffentlichte sie in seinem Bericht „Unkus letzter Tanz“, in: Alex Wedding [= Grete Weiskopf ], Aus vier Jahrzehnten. Erinnerungen, Aufsätze und Fragmente, Berlin 1974, S. 292–304, bes. S. 303 f. Der Titel bezieht sich auf das mehrfach wieder aufgelegte Kinderbuch der Autorin: Ede und Unku, Berlin 1931, das von den Kindern Otto Schmidt und Erna Lauenburger handelt.

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Wie viele der inhaftierten Sinti und Roma Musiker waren, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Aber einige sind, wie auch Otto Schmidt, namentlich bekannt geworden. So beispielsweise die fünf Brüder der in Wien lebenden Sinti-Musikerfamilie Schneeberger, vermutlich mit Namen Anton, Georg, Robert, Adolf und Jakob.53 Ende Juni 1939 kamen sie und ihre Söhne ins Anhaltelager Bruckhaufen bei Wien und von dort über das niederösterreichische Anhaltelager in Fischamend ins KZ Dachau in einen der beiden „Zigeunerblöcke“. Nach drei Monaten, kurz nach Kriegsbeginn, wurden auch sie ins KZ Buchenwald deportiert, ebenso wie weitere Musiker: beispielsweise Johann Waitz und Josef Fojn, die ebenfalls aus Wien stammten und an derselben Adresse wohnten, wie Stefan Berger, aus dem burgenländischen Kleinmutschen gebürtig, oder wie die Brüder Ferdinand und Viktor Fröhlich, die im steirischen Bruck an der Leitha gewohnt hatten. „Gleich bei der Ankunft hat es Tote gegeben, weil die SS mit Motorrädern in die ankommenden Haufen von Polaken [sic], Juden und Zigeunern hineingefahren ist. Einmal mußten die Juden halbnackt auf die Bäume klettern, und wir Zigeuner mußten die Bäume fällen.“54 So erinnerte sich Robert Schneeberger etwa 25 Jahre nach den Geschehnissen. Die fünf Schneebergers und ihre jungen Söhne mussten Zwangsarbeit leisten: Der 17-jährige Neffe Robert Schneebergers, wohl ein Sohn eines seiner älteren Brüder Anton oder Georg,55 „mußte so lange exerzieren, bis er tot hingefallen ist“. Sein eigener Sohn56 kam Anfang 1941 ins Krankenrevier und wurde dort „abgespritzt“. War auch er infolge der Arbeiten in der Kälte krank geworden? Oder war er zwar vom Blockältesten, wie manche Kinder, für leichtere Handwerkerarbeiten oder den Stubendienst eingeteilt worden, hatte sich aber mit der epidemischen Augenkrankheit infiziert, die Ende 1940 eine Gruppe von burgenländischen Roma befiel?57 Sie wurden nämlich daraufhin systematisch durch 53 Vgl. die Artikel über sie (und die weiter unten genannten Johann Waitz, Ferdinand und Viktor Fröhlich sowie Josef Fojn und Stefan Berger) von Nicole Ristow, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und Sophie Fetthauer, Hamburg: Universität Hamburg, 2017 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_ lexmperson_00007089 (im Folgenden: LexM 2017), letzter Zugriff: 27.12.2018). Sie sind, wie die Recherchen von Frank Reuter, damals am Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, ergaben, nicht mit den fünf Brüdern Schneeberger identisch, die als Streichquintett auftraten und in „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen“. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, hrsg. von Romani Rose, Heidelberg 1999, S. 87 abgebildet sind. 54 Robert Schneeberger, in: Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), S. 38 f., hier S. 38. 55 Anton und Georg Schneeberger waren 1900 bzw. 1904 geboren. Bei der Angabe des Geburtsjahres 1906 in Anton Schneebergers Lebenslauf (s. o., Anm. 28) handelt es sich um einen Schreibfehler, denn er wurde 1917 einberufen. 56 Robert Schneeberger gibt in seinem Bericht über seine NS-Verfolgung weder den Namen seines Sohnes noch dessen Krankheit an (in: Steinmetz, Österreichs Zigeuner, [wie Anm. 2], S. 38). Nachgewiesen ist der 1932 geborene Matthias (vgl. Nicole Ristow, Art. „Robert Schneeberger“, in: LexM 2017, [wie Anm. 53]); wenn Robert Schneeberger nicht noch einen älteren Sohn hatte, der in Buchenwald getötet wurde, würde dies bedeuten, dass die jüngsten damals mit ihren Vätern nach Buchenwald deportierten Sinti und Roma nicht, wie bisher angenommen, 12 bis 14 Jahre alt, sondern deutlich jünger waren. 57 Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 121.

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Injektionen „abgespritzt“, wie später im Jahr 1940 auch die Tbc-Kranken. Auch der Rom Emmerich Sarköszi kam im Frühjahr 1940 kurz vor seinem 30. Geburtstag ums Leben; er war gerade vorher, Anfang 1940, aus der RMK ausgeschlossen worden.58 Robert Schneeberger wurde zunächst bei Transport- und Entwässerungsarbeiten, dann in der Häftlingsschusterei eingesetzt. Seinen Brüdern erging es ähnlich: Zu den schwersten Arbeitskommandos, dem Steinetragen aus dem Steinbruch und Entwässerungsarbeiten, wurden alle Roma und Sinti eingeteilt; manche mussten noch andere Tätigkeiten verrichten. Ihr Leben wäre leichter gewesen, wären sie zum Musizieren in der Häftlingskapelle – Lagerkapellen gab es in sehr vielen KZs, so ab 1941 auch in Dachau, wo sich daraus ein Orchester, eine Jazzband und ein Kammerorchester entwickelten59 – herangezogen worden. Denn „Zigeunerkapellen“ waren bei der SS in den KZs sehr beliebt, und in der bereits 1938 im KZ Buchenwald eingerichteten ersten Kapelle spielten sechs bis acht „Zigeuner“ die In­ strumente, die sie ins Lager mitgebracht hatten: Geigen und Gitarren. Außerdem waren ein tschechischer Klarinettist und drei Zeugen Jehovas dabei;60 ob sie die Akkordeons spielten, an die sich Eugen Kogon erinnerte?61 Die Musiker, anfangs nur zehn bis zwölf, begleiteten den Ein- und Ausmarsch und die Auspeitschung von Häftlingen;62 einer der Geiger erfreute – vermutlich freiwillig und nicht auf Geheiß der SS – die Häftlinge zu Neujahr 1939 durch Pusztaklänge, Wiener- und Heimatlieder. Später kamen eine Posaune, dann eine Trommel und eine Trompete zu der kleinen Kapelle hinzu.63 Mehr Glück als die Schneebergers hatte Johann Waitz, denn er wurde im November 1940 tatsächlich dem Arbeitskommando 46 „Musik“ zugeteilt.64 Wenn er Glück hatte, konnte er dort spielen, bis er im Sommer 1941 ins KZ Mauthausen überstellt wurde; es hing auch davon ab, welche(s) Instrument(e) er spielte. Denn im Februar 1941, als das KZ Buchenwald immer größer wurde, änderte sich auch die Zusammensetzung der Kapelle. Streicher hatten keine Aussicht mehr, aufgenommen zu werden, da der SS das Klangprodukt der Saiteninstrumente allmählich zu dünn wurde. Sie bestellte eine ganze Reihe vor allem von Blechblasinstrumenten sowie Schlagzeug, deren Rechnung die jüdischen Häftlinge zu bezahlen hatten. So wurde die Kapelle durch Bläser auf 18 Musiker erweitert. Aus Milan Kunas Beschreibung lässt sich schließen, dass die „Zigeunerweisen“ nun von Märschen, Volkslieder58 Peter Raabe 1940: „Ausschlüsse aus der Reichsmusikkammer“, in: AMdRMK 7/2 (15.02.1940), S. 9. 59 Vgl. Zámečník, „Dachau – Stammlager“, (wie Anm. 18), S. 261. Der Musiker Richard Eckstein, geb. 1918 in Mannheim und im Oktober 1942 als „Arbeitsscheuer“ ins KZ Dachau eingeliefert, bekam im Juni 1943 von seinem Bruder seine Geige ins KZ geschickt, sodass er mit zwei Sinti, die Akkordeon bzw. Gitarre spielten, vor ebenfalls inhaftierten Priestern musizieren konnte. Später im Jahr spielte er in der Zigeunerkapelle im Außenlager Friedrichshafen; vgl. Walter Wuttke, Familie Eckstein. Lebensschicksale einer Musiker-Sinti-Familie, Weißenhorn 2018, S. 48–53, bes. S. 51. 60 Vgl. Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt a. M. 1993, S. 48. 61 Vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1979 (Erstausgabe 1945, um das erste Kapitel erweitert 1948), S. 152 f. 62 Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, (wie Anm. 38), S. 290. 63 Kogon, Der SS-Staat, (wie Anm. 61), S. 153. 64 Nicole Ristow, Art. „Johann Waitz“, in: LexM 2017, (wie Anm. 53).

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Potpourris und einer Operettenouvertüre abgelöst wurden.65 Der im Februar 1942 neu installierte tschechische Kapellenleiter Vlastimil Louda, ein politischer Häftling, sorgte dafür, dass die Musiker durch andere ersetzt wurden, auf deren Gesinnung er sich verlassen konnte. Sein Ziel war es, die Zahl der „politischen“ Funktionshäftlinge zu erhöhen, und „Zigeuner“ zählten nicht dazu. Auch die Aufstockung des Orchesters auf zunächst 32, zuletzt 38 Musiker66 kam seiner Absicht entgegen, war aber wohl vor allem durch die Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vom August Abb. 5: Uniform der Musikkapelle in Buchenwald 1942 begründet, dass in jedem Hauptlager (schwarze Jacke, rote Hose, goldene Tressen), mit ein Orchester etabliert werden sollte. freundlicher Genehmigung der Sammlungsabteilung Gedenkstätte Theresienstadt (Památník Terezín). Die Musiker in Buchenwald waren seitdem hauptsächlich Tschechen, daneben spielten auch einige Polen, Russen und Deutsche mit. Das Repertoire erweiterte sich vor allem um tschechische Lieder und Märsche.67 Die Musiker, die bis zur Auflösung des KZs in der Kapelle überlebten, mussten Uniformen tragen. Eugen Kogon, Lagerschreiber in Buchenwald, erinnerte sich 1945, dass es die der ehemaligen königlich-jugoslawischen Garde waren, die die Wehrmacht 1941 in Belgrad erbeutet hatte; so auch die Beschriftung des Fotos im Katalog von 2016 (s. Abb. 5).68 (Später fanden sich im KZ Buchenwald noch ein Streichorchester und ein Symphonieorchester und kleinere Ensembles zusammen. Ein erstes Streichquartett hatte sich bereits 1939/40 heimlich konstituiert,69 und 1944/45 bildete der französischen Geiger Maurice Hewitt mit drei tschechischen Musikern ein weiteres.70 65 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 53. Nach Kogons Erinnerung ordnete der KZ-Lagerführer, SS-Hauptsturmführer Florstedt, bereits 1940 an, dass eine Blaskapelle gebildet werden müsse; vgl. Kogon, Der SS-Staat, (wie Anm. 61), S. 153. 66 Vgl. KZ Buchenwald 1937–1945. Begleitband, (wie Anm. 51), S. 93. Kuna gibt die Zahl 32 an, nennt aber 37 Namen von Musikern (Musik an der Grenze des Lebens, [wie Anm. 60], S. 52). 67 Kuna, ebd., S. 42, 49–52. 68 Kogon, Der SS-Staat, (wie Anm. 61), S. 153. Buchenwald, (wie Anm. 21), S. 81. Auch Jorge Semprún erinnerte sich 1984 an eine Uniform mit roten Hosen und betresster Jacke: Was für ein schöner Sonntag!, Frankfurt a. M. 1984, S. 111, zit. n. Guido Fackler, „Musik als Komponente des Lageralltags“, Online-Publikation vom 12.08.2007 (http://www.aspm-samples.de/Samples6/fackler. pdf, letzter Zugriff: 27.12.2018), S. 4. 69 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 55, 251. 70 Hewitt hatte bis 1930 im Capet-Quartett gespielt und 1941 das Orchestre de Chambre Hewitt gegründet. 1943 war er wegen seiner Tätigkeit in der Résistance aufgeflogen und 1944 in einer der

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Ein Musikkorps gab es auf dem Ettersberg auch, das sich allerdings aus Mitgliedern des 3. SS-Totenkopfverbandes zusammensetzte. Sie traten gern in Weimar auf. Schon am 8. Januar 1938 veranstalteten sie einen großen bunten Abend in der Stadt, dem auch Bürger beiwohnen konnten, und setzten diesen Usus zugunsten des Winterhilfswerks fort. Daneben gaben sie auch Platzkonzerte in Weimar. Auf dem Ettersberg dagegen spielten sie im August 1939 bei einem Sommerfest den Besuchern aus Weimar zum Tanz auf.71 Und 1941 profitierte das SS-Musikkorps auch von den Anschaffungen von Blechblas­instrumenten für die Lagerkapelle.) Was die Kapelle in einigen der 27 von August 1943 bis Ende 1944 selbst organisierten Konzerte und Veranstaltungen in der Kinohalle, denen sowohl Häftlinge als auch die SS zuhörten, präsentierte, ist ebenfalls bei Kuna nachzulesen.72 Aus der Beschreibung des ersten Konzerts geht hervor, dass am Schluss Unterhaltungsmusik von einer Jazzband gespielt wurde: „Das war nicht mehr das Spiel einer Zigeunergruppe, sondern die Leistung eines wirklichen Musikensembles, in dem es sogar eine Baßgeige gab“.73 Diese Combo hatte sich gerade erst gebildet und nannte sich „Rhythmus“. Neun tschechische Musiker bildeten den Kern, der sich bis zur Befreiung des KZs kaum veränderte. Weder unter ihnen noch unter den hinzukommenden Jazzern anderer Nationen scheint ein Sinto oder Rom gewesen zu sein, aber gerade der Bassist Jiří Žák gab später an, dass er die „Baßgeige schlecht, auf Zigeunerart“ gespielt habe.74 Spezielle „Zigeunerkapellen“ wurden erst wieder im Sommer 1944 in Buchenwald eingerichtet. Das hing mit den Transporten aus dem „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau vom 15. April bis zum 2. August 1944 zusammen: Während am 15. April 884 Männer, darunter 178 Jungen von neun bis 14 Jahren, nach Buchenwald verlegt wurden (unter ihnen waren auch der deutsche Sinto-Musiker Heinrich Steinbach, geb. 1898 in Raunheim nahe Frankfurt am Main und im Februar 1943 aus der RMK ausgeschlossen, sowie der Rom Karl Pfeiffer, ein 1904 im burgenländischen Kemeten geborener Musiker und Friseur),75 Aktionen „Meerschaum“, wie die SS ihre Menschenjagden in Frankreich mit anschließender Deportation ins KZ nannte, in Buchenwald eingeliefert worden. Vgl. den Artikel „Maurice Hewitt“, in: KZ Buchenwald 1937–1945. Begleitband, (wie Anm. 51), S. 299. 71 Steffen Grimm, Die SS-Totenkopfverbände im Konzentrationslager Buchenwald, Hamburg 2011, S. 72; Hans-Christian Harten, Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, S. 284. 72 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 56–62. Vgl. dazu auch die in Barbara Milewskis Artikel „Józef Kropiński“, in: LexM 2012, (wie Anm. 53), letzter Zugriff: 27.12.2018, genannte Literatur. 73 Vlastimil Louda, Musikanten za dráty. Hrst buchenwaldských szpominek [Als Musikant hinter Stacheldraht. Erinnerungen an Buchenwald], Ms. S. 58 ff., zit. n. Kuna, ebd., S. 58. 74 Jiří Žák, „Jazz za ostnatým drátem“ [„Jazz hinter Stacheldraht“], in: Taneční hudba a jazz 1963 [Tanzmusik und Jazz 1963], Prag 1963, S. 31, zit. n. Kuna, ebd., S. 270. 75 Vgl. zu den drei Transporten Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), Einträge vom 15.04. (S. 756; in Buchenwald kamen 883 an), 24.05. (S. 783) und 02.08.1944 (S. 837 f.). Vgl. die Kurzartikel „Heinrich Steinbach“, und „Karl Pfeiffer“, in: LexM 2016 bzw. 2015, (wie Anm. 53), letzter Zugriff: 20.12.2018.

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Abb. 6: Übersicht Buchenwald Außenlager, in: Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald, erstellt von Harry Stein, Göttingen 1999, S. 177.

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wurden am 2. August weitere 918 Männer76 – darunter der Geigenbauer-Lehrling Franz Wirbel aus Königsberg und der 1913 in Unterlauterbach geborene Musiker Johann Reinhardt – und mit ihnen zusammen auch 490 Frauen nach Buchenwald verfrachtet, weil man ihre Arbeitskraft dringend brauchte. (Am 15. April waren 473 Frauen und Mädchen und am 24. Mai noch einmal 144 junge Frauen nach Ravensbrück überstellt worden. Auch in andere KZs gingen noch Transporte: Am 24. Mai wurden 82 Sinti und Roma nach Flossenbürg geschickt, am Tag zuvor waren bereits mehr als 1500 „Zigeuner“ jeden Alters und Geschlechts aus dem Lager B IIe ins Stammlager Auschwitz verlegt worden, um sie von dort in andere KZs im Reichsgebiet zu überweisen. Offenbar kamen ca. 1000 von ihnen nach Flossenbürg, die Männer ins Hauptlager, die Frauen in eins der FrauenAußenlager.)77 Diese 4264 Menschen entgingen der Zerstörung des „Zigeunerlagers“ Birkenau in der folgenden Nacht des 2./3. August 1944, in der die im Lager verbliebenen 2898 Sinti und Roma im Gas ermordet wurden. Damit entgingen sie allerdings nur dieser Vernichtungsaktion. Denn durch die Überstellung in andere KZs wie Buchenwald und seine Außenlager (s. Abb. 6) drohten sie dort zugrunde gerichtet zu werden.

Exkurs: Sintezas und Romnija in den Außenlagern von Buchenwald

Nach ihrer Ankunft im KZ Buchenwald verteilten die SS-Leute die Frauen auf die zahlreichen Frauen-Außenlager wie Altenburg oder Taucha, in die im August und September auch Häftlinge aus anderen KZs überstellt wurden. Bereits am 19. Juli 1944 waren mindestens 750 Sintezas und Romnija aus sechs Ländern aus dem KZ Ravensbrück ins – von diesem noch bis Ende August 1944 verwaltete, dann organisatorisch dem KZ Buchenwald zugeordnete – Außenlager Schlieben verlegt worden, dessen einzige Belegschaft sie bis Ende Juli bildeten, als ca. 250 meist französische politische Gefangene hinzukamen. Anfangs stellte die SS ausschließlich „Zigeunerinnen“ zum Verfüllen von flüssigem Sprengstoff in Panzerfäuste und Granaten für den Rüstungskonzern Hugo-Schneider-AG (HASAG) ab und setzte sie ohne Schutzkleidung Verbrennungen und giftigen Gasen aus. Ab Mitte 76 Vgl. den Abdruck einer „Arbeitsstatistik“ des Standortarztes der Waffen-SS Weimar vom 05.08.1944 an den Lagerkommandanten des KZs Buchenwald, wo die Eingelieferten nach Geburtsjahrgängen gelistet sind; 105 der insgesamt 918 Menschen waren neun- bis 14-jährige Jungen, weitere 393 waren 15–24 Jahre alt; vgl. „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen“, (wie Anm. 53), S. 261.Wieso im Katalog Konzentrationslager Buchenwald. Post Weimar / Thür. Katalog zu der Ausstellung aus der Deutschen Demokratischen Republik im Martin-Gropius-Bau Berlin (West), April–Juni 1990, hrsg. von der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, Berlin 1990, S. 102, in der (abgeschriebenen) Tabelle der Zugänge aus anderen KZs zwischen Herbst 1943 und Herbst 1944 unter dem Ankunftsdatum 03.08.1944 nur 510 „Zigeuner“ vermerkt sind, ist unklar. 77 Vgl. die Eintragungen unter diesen Daten bei Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4). Es gibt keinen weiteren Hinweis auf den Abtransport dieser 1500 Menschen; Jacek Lachendro, Archivar der Gedenkstätte Oświęcim/Auschwitz, geht davon aus, dass sie ebenfalls Anfang August in andere KZs deportiert wurden (ders., „The Orchestras in KL Auschwitz“, in: Auschwitz Studies 27 [2014], S. 7–132, hier S. 109). Vgl. dazu auch Jörg Skriebeleit, „Flossenbürg – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 4, 2006, S. 17–66, hier S. 47.

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August wurden 936 Sintezas und Romnija aus dem Lager Schlieben – 57 blieben dort zurück, eine starb Ende August an der giftigen Arbeit78 – (und 143 Gadjis) ins FrauenAußenlager Altenburg deportiert; sie waren Belgierinnen, Deutsche, Jugoslawinnen, Französinnen, Polinnen und Tschechinnen. 500 von ihnen wurden am 7. September nach Taucha weitergeleitet, das infolgedessen das Buchenwald-Außenlager mit den meisten Romnija und Sintezas war; 288 blieben in Altenburg zurück.79 Gerade sie wurden dort, wie schon in Schlieben und Altenburg, vor allem zur extrem gesundheitsschädlichen Arbeit mit Chemikalien für Sprengstoff oder Munition eingesetzt. 16 von ihnen müssen, wie sich aus den überlieferten Zahlen ergibt, schon innerhalb der ersten fünf Wochen dort umgekommen sein; von den 168 arbeitsunfähigen Frauen, die am 11. Oktober 1944 nach Auschwitz (und die Überlebenden von dort vor der Evakuierung des KZs wieder nach Ravensbrück) verfrachtet wurden, waren 149 „Zigeunerinnen“,80 wie auch 67 der 150 im Frühjahr 1945, vor der Auflösung dieses Außenlagers, nach Bergen-Belsen überstellten kranken oder arbeitsunfähigen Frauen. Insgesamt waren 44 Prozent der in Taucha an Typhus, Diphterie, Tbc und Erfrierungen Erkrankten Sintezas oder Romnija. (Bis Anfang Oktober waren mit drei Transporten weitere 1000 Frauen – Jüdinnen und „Arierinnen“ – aus Ravensbrück und Auschwitz eingetroffen, im Februar 1945 noch einmal 100 weibliche Häftlinge aus dem Stammwerk Leipzig der HASAG als Ersatz für die mehr als 70 inzwischen Schwerkranken und Arbeitsunfähigen, die nach Ravensbrück zurückgeschickt wurden.) Die aus Auschwitz-Birkenau überstellten Männer wurden von der SS in die Außenlager Dora – wo die meisten Gefangenen im Winter 1943/44 die Ausbauarbeiten der Stollen im Kohnstein nicht überlebt hatten und daher dringend „Nachschub“ für die Montage der A4-Raketen benötigt wurde – sowie Ellrich-Juliushütte und vor allem Harzungen gezwungen.81 Harzungen war ein erst im April 1944 gegründetes Baulager, das seit Herbst 1944 unter der neuen Leitung eines Luftwaffen-Hauptmanns82 stand und in dem die Häftlinge seitdem nur in AchtStunden-Schichten arbeiten mussten und unter verbesserten Bedingungen lebten. Dort waren übrigens im Herbst 1944 mit ca. 11 Prozent der gesamten Belegschaft von 4000 Häftlingen relativ die meisten Sinti und Roma des ganzen KZ-Komplexes Mittelbau-Dora inhaftiert. (Krass war der Unterschied zum Baulager Ellrich-Juliushütte bzw. Mittelbau II: Dort waren 78 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen Irmgard Seidel, „Schlieben (Frauen)“, „Altenburg (Frauen)“ und „Taucha (Frauen)“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 560–563, 363– 365 bzw. 582–585; vgl. auch Seidels Aufsätze zu den Frauen-Außenlagern Abteroda, Aschersleben, Leipzig-Schönefeld, Magdeburg und Meuselwitz, in: ebd., ab S. 357. 79 Seidel, „Altenburg (Frauen)“, ebd., S. 363. 80 Seidel, „Taucha (Frauen)“, (wie Anm. 78), S. 583; die Angabe ist differenzierter als bei Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 910. 81 Die drei Außenlager wurden im Herbst 1944 aus der Verwaltung des KZs Buchenwald ausgegliedert und als Mittelbau I, II und III bezeichnet. 82 Seit Juli 1944, als der Bedarf an Wachmannschaften nicht mehr aus eigenen Reserven gedeckt werden konnte, wurden 2735 Angehörige der Luftwaffe zum „Wachsturmbann“ Buchenwald versetzt (d. h. in die SS eingegliedert) und zur Bewachung der Außenlager eingesetzt; vgl. Stein, „Buchenwald – Stammlager“, (wie Anm. 40), S. 311.

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unter SS-Lagerführern die Lebens- und Arbeitsbedingungen katastrophal, die Häftlinge mussten 13 Stunden arbeiten, viele starben einfach an Erschöpfung durch Schlafentzug.)

Exkurs: Lagerstatistik

Eine Lagerstatistik von 2003 gibt an, dass am 15. Dezember 1944 von den insgesamt 63.837 Buchenwald-Häftlingen 1687 Sinti und Roma waren, davon 1012 Reichsdeutsche. Im Frühjahr 1944 waren unter den Insassen nur noch 64 Roma gewesen (s. o.); dazu kamen im April und August in den Männerlagern die 1801 aus Birkenau überstellten Sinti und Roma. Von ihnen wurden Anfang Oktober 1944 zusammen mit 388 weiteren Häftlingen (darunter auch jüdische Kinder) 800 „Zigeuner“ nach Auschwitz zurück deportiert und am 10. Oktober ins Gas getrieben. Unter diesen 800 waren alle Kinder und Jugendlichen, die die SS gefunden und mit vorgehaltenen MPs zusammengetrieben hatte,83 so dass am 5. Dezember nur noch 54 „einsitzende jugendliche Häftlinge“ dieser Ethnie in der Arbeitsstatistik des KZs Buchenwald erfasst wurden.84 Die Statistik der Nationalitäten im KZ Mittelbau-Dora, die für den 1. November 1944 erhoben wurde, ergab 1185 „Zigeuner“, die bis auf 44 alle in den drei genannten Außenlagern von Mittelbau-Dora (Dora, Harzungen und Ellrich-Juliushütte) eingesetzt waren. Aus dem Vergleich mit der Zahl vom 15. Dezember geht hervor, dass etwa 500 Sinti und Roma nicht in diesen Außenlagern von Mittelbau-Dora, sondern in Buchenwald oder in anderen Außenlagern eingesetzt wurden. Die Statistik vom 1. April 1945 enthält die Zahl von 1299 Sinti und Roma; möglicherweise gab es eine Umverteilung innerhalb der drei großen Außenlager, denn die meisten waren nun Ellrich-Juliushütte zugeordnet; dazu kamen noch etwa 150 in anderen Mittelbau-Außenlagern.85 Bei einem Zahlenvergleich der seit September 1943 bis April 1945 im Gesamtkomplex KZ Mittelbau-Dora umgekommenen Sinti und Roma mit den nach Staatsangehörigkeit gelisteten Häftlingen ergibt sich, dass die Relation von prozentualem Anteil an Häftlingen und an Todesfällen bei den Sinti und Roma erstaunlicherweise deutlich besser war als bei

83 Vgl. die Beschreibung bei Kogon, Der SS-Staat, (wie Anm. 61), S. 288 f. 84 Statistik in: Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, hrsg. von Romani Rose, Heidelberg 2003, S. 192 f. Zur Deportation vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 895 und 903. Die Angabe, dass es sich bei den 200 Personen, die am 26.09.1944 aus Buchenwald eingeliefert wurden (vgl. ebd., S. 887), um „Zigeuner“ und fast ausschließlich um Kinder und Jugendliche gehandelt habe (u. a. KZ Buchenwald 1937–1945. Begleitband, [wie Anm. 51], S. 219), könnte auf einer Verwechslung beruhen. Zur Arbeitsstatistik vgl. das Dokument II in: Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), S. 50. 85 Vgl. die beiden Tabellen, die „nach Auswertung von Originaldokumenten des KL Mi. durch die Polnische Kommission zur Ermittlung von Kriegsverbrechen“ zusammengestellt wurden und abgedruckt sind in: Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945. Begleitband zur Ständigen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, hrsg. von Jens-Christian Wagner, Göttingen 2007, S. 68, sowie Rose und Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“, (wie Anm. 14), S. 185, Anm. 42.

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allen anderen (nur 0,8 Prozent von 8383 Toten).86 Diese 67 Todesopfer dürften nur zum Teil auf die bereits erwähnten medizinischen Experimente ab 1942 zurückgehen. Dass die relativ geringe Zahl allen anderen Erkenntnissen über die besonders grausame Behandlung der Sinti und Roma zu widersprechen scheint, wird vor allem mit der vorangehenden KZEtappe der Betroffenen zu erklären sein: Die systematischen Massendeportationen der Sinti und Roma fanden erst seit Anfang 1943 und bis in den Juli 1944 hinein statt, aber sie gingen nicht nach Buchenwald, sondern ins KZ Auschwitz-Birkenau.87 Daher hatten diese Verfolgten bei der Verlegung von dort nach Buchenwald, zu der ohnehin nur die Kräftigsten ausgesucht wurden, unter Umständen erst eine relativ kurze KZ-Zeit hinter sich. Vielleicht hing die Installierung einer „Zigeunerkapelle“, ein leichtes Kommando, in Harzungen – eine zweite wurde in Dora installiert – mit den besseren Lebensbedingungen dort zusammen. Möglicherweise war der 1924 in dem kleinen Ort Lusading in der Tschechoslowakei geborene, 1938 im tschechischen Leitmeritz und nach dem Krieg in Wiener Neudorf 88 wohnhafte, staatenlose89 „reisende Musiker“ Ferdinand Schneeberger Mitglied der Kapelle in Harzungen. Jedenfalls führte ihn sein KZ-Leidensweg ab 9. April 1943 über Birkenau (Z 6024) und Auschwitz (12. April 1943) auch vermutlich 1944 nach Buchenwald und von dort in dieses Außenlager; da er später angab, am 7. Mai 1945 befreit worden zu sein, dürfte er zu den letzten 100 Häftlingen gehört haben, die auf einem dreiwöchigen Marsch ins tschechische Rabenstein gelangten und dort von der Roten Armee befreit wurden. Der drei Jahre jüngere, an denselben Orten gemeldete und ebenfalls „reisende Musiker“ Johann Schneeberger, wohl sein Bruder, wurde zwar als 15-Jähriger zur selben Zeit auch nach Birkenau (Z 6026) und Auschwitz und wohl 1944 nach Buchenwald deportiert,90 aber dann noch, vermutlich wie 20.000 andere Häftlinge Anfang April 1945 auf Todesmärschen, nach Flossenbürg gezwungen. Da er erst den 14. Mai als Ende seiner KZ-Haftzeit angab, war er vermutlich nicht unter den Insassen, die Mitte April von dort weiter auf den Todesmarsch Richtung Süden getrieben wurden. Vielmehr war er wohl einer der todkrank in Flossenbürg zurückgelassenen und am 23. April von der US-Armee 86 Vgl. die Tabelle bei: Jens-Christian Wagner, „Mittelbau-Dora – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 223–289, hier S. 264. 87 Noch am 21.07.1944 wurden 22 Frauen – und vermutlich auch eine Anzahl Männer – aus Litauen eingeliefert, vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 826. 88 Dort wurde im August 1943 ein Außenlager von Mauthausen eingerichtet, um die Flugmotorenwerke Ostmark mit Arbeitern zu versorgen; vgl. Bertrand Perz, „Wiener Neudorf“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 4, S. 461–465, hier S. 461. 89 Durch die 1942 erstellte Verordnung zum Reichsbürgergesetz wurden die meisten „Zigeuner“ staatenlos; vgl. Karola Fings und Frank Sparing, Nur wenige kamen zurück. Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma NRW Rom e. V., Köln, Köln 1990, S. 7. 90 Nur die Verlegung beider Schneebergers nach Auschwitz drei Tage nach ihrer Ankunft in Birkenau am 09.04.1943 ist im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer) vermerkt. Mit ihnen kamen auch der 1926 geborene Karl (Z 6025) und der 1933 geborene Hermann Schneeberger (Z 6027), vermutlich Brüder der beiden. Der Jüngste, der neunjährige Hermann, ist als „Gest.?.?.43“ vermerkt (S. 178). Als Geburtsort von Ferdinand Schneeberger ist dort Klosterteppel (Klášter Teplá [Stift Tepl]?) vermerkt.

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im KZ befreiten Häftlinge, denn diese konnten erst nach Stabilisierung ihres Zustandes aus dem Lager umgesiedelt werden, und diese zog sich bis Ende Mai hin. Nach dem Krieg meldeten sich die beiden Musiker Ferdinand und Johann Schneeberger beim KZ-Verband in der Wiener Alserstraße mit einer eidesstattlichen Erklärung über ihre Haftzeit.91

Häftlinge in Mauthausen Als 1944 die „Zigeunerkapellen“ in den Buchenwald-Außenlagern Dora und Harzungen eingerichtet wurden, waren die Wiener Schneeberger-Brüder – ebenso wie es schon über Johann Waitz berichtet wurde – längst nicht mehr im KZ Buchenwald oder einem seiner Nebenlager. Drei der Brüder, nämlich Adolf, Robert und Jakob Schneeberger, wurden ebenso wie Johann Waitz und 87 weitere „Zigeuner“ im Juli 1941 nach Mauthausen deportiert und vermutlich alle vier bereits im Oktober 1941 mit 76 weiteren Häftlingen von Mauthausen ins Lager Lackenbach verlegt.92 Das dürfte ihnen allen zunächst das Leben gerettet haben, denn als Musiker wurden sie in Mauthausen offenbar nicht eingesetzt, und außer ihnen hatten nur die, die in der Verwaltung oder anderen leichten Kommandos eingesetzt wurden, Überlebenschancen. Der älteste der Brüder, Anton Schneeberger, wurde nicht nach Mauthausen deportiert, sondern wurde im Juli 1941 als einer von 124 Sinti und Roma in Buchenwald zurückgehalten.93 Er wurde ein Jahr später ins Polizeigefängnis nach Wien überführt, das als Zwischenstation diente. Ebenfalls am 31. Juli 1942 kamen die Musiker Viktor und Ferdinand Fröhlich aus Buchenwald vorübergehend ins Polizeigefängnis Wien. Sie wurden schon im August oder September ins Lager Lackenbach eingewiesen und mussten dort bis 1945 Zwangsarbeit leisten. Josef Fojn wurde zur selben Zeit, möglicherweise direkt von Buchenwald, an dieses größte „Anhaltelager“ abgegeben. Auch Anton Schneeberger kam schließlich nach Lackenbach, aber erst nach einem Intermezzo in Wien.

91 Johann Schneeberger: KZ-Verbandsakten DÖW 20.100/10508, Ferdinand Schneeberger: KZ-Verbandsakten DÖW 20.100/10506; vgl. auch Skriebeleit, „Flossenbürg – Stammlager“, (wie Anm. 77), S. 53–57. 92 Die Zahl der nach Lackenbach überstellten Menschen differiert: 80 seien aus Mauthausen deportiert worden, aber 79 laut Tagebuch des Lagers Lackenbach angekommen; vgl. dazu Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, (wie Anm. 25), S. 87, Anm. 1, u. Anhang VII, S. 20. In den Papieren von Adolf, Jakob und Robert Schneeberger (DÖW 20.100/10.503,/10.507 und/10.510) ist für die Ankunft in Lackenbach der 20. oder 21.10. oder nur dieser Monat angegeben. 93 Vgl. die Liste des Transports vom 03.07.1941 bei Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), S. 60, und Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 119. Was es mit dem etwas abweichenden Datum (30.06.) eines Transports und der abweichenden Zahl von „60 österreichische[n] Zigeunern[n] und 4 andere[n] Häftlinge[n] aus KL Buchenwald“ bei Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), S. 121, auf sich hat, konnte nicht geklärt werden.

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Exkurs: Ein Musiker als „Zigeunerhäuptling“

Anton Schneebergers Name taucht in einem Erlass des RSHA vom 13. Oktober 1942, gerichtet an die Inspektoren der Sicherheitspolizei und des SD, auf: „Betrifft Zigeunerhäuptlinge“.94 Heinrich Himmler, Chef des RSHA und damit der ganzen deutschen Polizei, hatte im Frühjahr 1942 seine Einstellung gegenüber „Zigeunern“ aus dem Reichsgebiet geändert: „Keine Vernichtung d.[eutscher] Zigeuner“ hielt er nach einem Telefongespräch mit Reinhard Heydrich am 20. April 1942 fest. Er traf sich mehrmals mit dem Kurator des SS-Amtes „Ahnenerbe“, Walther Wüst, der „Zigeunern“ schon 1939 „unverfälschtes arisches Denk- und Vorstellungsgut“ in ihren Erzählungen attestiert hatte, und gab dem „Ahnenerbe“ Mitte September den Auftrag, Sprache und Sitten der „Zigeuner“ zu erforschen. Zu diesem Zweck, so ordnete er an, solle dieses SS-Amt mit „den noch in Deutschland lebenden Zigeunern [in] eine nähere und sehr positive Verbindung“ treten. In den Wochen bis zum 13. Oktober formierte sich Widerstand gegen Himmlers Plan. Zunächst musste der „Rassenhygieniker“ Ritter seine Vorstellungen von „Zigeunern“ anpassen: Seit 1935 hatte er immer wieder geschwankt, ob die „stammesechten“ „Zigeuner“ überhaupt reinrassige Arier waren.95 Nun stellte er (so seine Erinnerung 1945)96 eine Liste „uns bekannter leidlich begabter, älterer Zigeuner“ zusammen, die auf dem Erlass namentlich genannt wurden; dass sie „reinrassige“ Sinti sein mussten, verstand sich von selbst. Er tat dies auf Bitten des Chefs des RKPA – das als Amt V dem RSHA angehörte – Arthur Nebe, der mit Himmlers Vorhaben gar nicht einverstanden war und es zu unterlaufen suchte.97 Denn dadurch wurden die bisher von der Kripo angewandten Mittel der Verfolgung der „Asozialen“, insbesondere der Festsetzungserlass von 1939, und ihrer völligen Entfernung aus dem Reichsgebiet unwirksam: Diese „Zigeuner“ würden nicht mehr völlig unter polizeilicher Kontrolle stehen. Dennoch musste dem Willen des Chefs vordergründig entsprochen und der Erlass das RSHA am 13. Oktober geschrieben und bekannt gemacht werden. Er besagte, dass es den „reinrassigen Sinte-Zigeunern“ und Lalleri möglich sein solle, nach ihren Sitten und 94 Abschrift des Schreibens des RSHA vom 13.10.1942 mit der Anlage des RKPA über die „Eröff­ nungsverhandlung“ sowie des Schnellbriefs des RSHA vom 29.01.1943 zum „Auschwitz-Erlass“ gedruckt bei: Döring, Die Zigeuner im n.s. Staat, (wie Anm. 2), S. 212–218; Teilabdruck des RSHASchreibens auch bei Steinmetz, Österreichs Zigeuner, (wie Anm. 2), Dokument IV, S. 52 f. Der im Folgenden zusammengefasste historische Kontext basiert auf Michael Zimmermann, „Die Entscheidung für ein Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau“, in: Zwischen Erziehung und Vernichtung, (wie Anm. 26), S. 392–424 (Zitate der entsprechenden Dokumente auf S. 394, 395, 397). 95 Vgl. dazu Martin Luchterhandt, „Robert Ritter und sein Institut“, in: Zwischen Erziehung und Vernichtung, (wie Anm. 26), S. 321–328, hier S. 326 f. 96 Zit. bei Zimmermann, „Die Entscheidung“, (wie Anm. 94), S. 403. Ritters Mitarbeiterin Eva Justin erinnerte sich nach dem Krieg an etwas andere Kriterien: „einen älteren, verständigen und verhandlungsfähigen Zigeuner“, zit. bei Karola Fings, „Die ‚gutachterlichen Äußerungen‘ der Rassenhygienischen Forschungsstelle und ihr Einfluss auf die nationalsozialistische Zigeunerpolitik“, in: Zwischen Erziehung und Vernichtung, (wie Anm. 26), S. 425–459, hier S. 444. 97 Dafür sprach schon die Eingrenzung von Himmlers „in Deutschland lebenden Zigeunern“ auf die „reinrassigen Sinte“ und Lalleri; vgl. dazu Zimmermann, „Die Entscheidung“, (wie Anm. 94), S. 397–400.

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Gebräuchen zu leben und zu arbeiten. Sogenannte „gute Mischlinge“ sollten dieser Gruppe zugeordnet werden, ebenso Heimkinder, indem man sie – noch 1944 – einzelnen SintiFamilien zuführte, die willig waren, sie in ihre Sippe aufzunehmen. Um solche Sinti zu finden und dem RKPA zu melden, waren im ganzen Reich, aufgeteilt in acht großräumige Gebiete von Königsberg bis Wien,98 acht namentlich genannte „Zigeunerobmänner (Sprecher)“ und ein neunter für die Lalleri im ganzen Reich ausgewählt worden; sie waren die von Ritter vorgeschlagenen (s. o.), „leidlich begabten“ Sinti. (Ob diese Auswahl allein auf Ritter zurückzuführen ist, wird durch das Verfahren in Köln fraglich [s. u.].) Diese neun sollten „aus eigenem Wissen“ (d. h. ohne Akteneinsicht) Listen von als „reinrassig“ geltenden Sinti, Lalleri und „guten Mischlingen“ zusammenstellen – Ritter hatte bis November 1942 von den knapp 19.000 im „Altreich“ Untersuchten 1079 als „Vollzigeuner“ und 1017 als „Lalleri“ kategorisiert99 – und durften dazu auch mit einem besonderen Ausweis, der ihnen ausgehändigt worden war, in ihrem Gebiet herumreisen. Gegenwärtig mussten sie dafür Sorge tragen, dass die Ausgewählten ihren Arbeitsplatz und Aufenthaltsort nicht verließen, in Zukunft hatten sie die „einwandfreie Lebensführung“ der Ausgewählten zu gewährleisten. Diese und andere Aufgaben der „Zigeunerhäuptlinge“ waren in dem Formular „Eröffnungsverhandlung“, das sie unterschreiben mussten, schriftlich genau festgelegt worden, und bei „böswilliger Übertretung“ der auferlegten Aufgaben wurden sie selbst zur Rechenschaft gezogen: Gedroht wurde mit möglichen „polizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen“, im Klartext: Deportation in ein KZ. Auch für die Aufnahme eines „guten Mischlings“ in eine „reinrassige“ Sippe gab es ein Formular. Die Auswahl der „Reinrassigen“ stand und fiel im Zweifelsfall nicht allein mit den Einschätzungen der „Zigeunerhäuptlinge“ von Himmlers bzw. Ritters Gnaden, denn erstens gingen die Listen ohnehin an das RKPA und zweitens wurden sie bei sich ergebenden Schwierigkeiten in der Beurteilung des „einwandfreien“ Verhaltens der Ausgewählten an die Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens – eine Dienststelle des RKPA – weitergereicht. Diese setzte sich mit der jeweils zuständigen Kriminalpolizeileitstelle, diese wiederum mit der örtlichen Kripo in Verbindung. Damit war die Entscheidung in strittigen Fällen den Beamten vor Ort, den „Zigeunerbeauftragten“, übertragen, die häufig ihre Macht furchtbar missbrauchten. Noch am 3. Dezember 1943 kam deutlicher Protest gegen Himmlers Erlass: Martin Bormann, Leiter der NSDAP-Parteikanzlei, wurde von Nebe informiert und opponierte gegen diese „Sonderbehandlung“, die weder bei der Bevölkerung noch bei den niedrigen Parteichargen auf Verständnis stoßen und beim Führer keine Zustimmung finden werde. Drei Tage später traf Himmler mit Hitler und Bormann zusammen und konnte die Bedenken mit Hinweis auf die Forschungen des „Ahnenerbes“ über die „rassisch wertvollen Elemente“

98 Ebenso wie die anderen Bezirke umfasste Wien, der einzige für die „Ostmark“ angegebene Bezirk, nicht nur die Stadt selbst; Sinti lebten auch in anderen Regionen der „Ostmark“, so z. B. in Kärnten. 99 Martin Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der ‚Zigeuner‘, Lübeck 2000, S. 236.

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unter den „Zigeunern“ zerstreuen, zumal es nur um eine relativ kleine Gruppe ging.100 So nahm Himmler diese Ausnahmeregelung für „reinrassige[n] Sinte-Zigeuner“ im Dezember 1942 auch in seinen „Auschwitz-Erlass“ (s. u.) und in den ihn erläuternden Schnellbrief des RSHA vom 29. Januar 1943 auf.101 Der „Auschwitz-Erlass“ war aber die Kehrseite der von Himmler gewünschten Ausnahmeregelung für die „Reinrassigen“. Denn das RKPA hatte dem „Reichsführer SS“ im November in einem Maßnahmenkatalog für die Umsetzung des „Zigeunerhäuptlinge“-Erlasses vorgeschlagen, die „Zigeunermischlinge“, d. h. alle anderen, in ein Lager zu deportieren. Damit wurde die Polizeiführung das Sicherheitsproblem „Zigeuner“ los, denn im September war ein Abkommen geschlossen worden, das die „Asozialen“ vom Strafvollzug an die SS auslieferte: zur „Vernichtung durch Arbeit“ in den KZs.102 Wäre es nach Himmlers Plan verlaufen, hätte die Auswahl den als „reinrassig“ gemeldeten Sinti und Lalleri und den in ihre Sippen aufgenommenen „guten Mischlingen“ Vorteile gebracht, selbst wenn auch sie dafür abgeschoben werden sollten: Denn das RKPA schlug Himmler im November in einem erarbeiteten Maßnahmenkatalog vor, dass sie ihrer traditionellen Lebensweise in einem zu schaffenden Reservat im „Generalgouvernement“ oder in der Region Ödenburg/Sopron in Ungarn nachgehen sollten.103 Nichts davon war realistisch, das Leben mit Wohnwagen und Pferden war zu dieser Kriegszeit gar nicht mehr möglich, und auch der Brauch eines jährlichen großen Zigeunertreffens konnte nicht mehr ausgeübt werden. Welche Folgen hatte der Erlass überhaupt? Anfang Januar 1943 hatten nur fünf der neun „Zigeunerhäuptlinge“ ihre Listen – teilweise noch nicht für alle Gebiete – eingereicht; sie ließen aber zu wünschen übrig: Es waren nach Ansicht des RSHA zu viele „Zigeunermischlinge“ in die Sippen aufgenommen worden.104 Am 11. Januar hieß es in einem Schnellbrief des RSHA an die Kripoleitstellen, die Listen sollten von den Kripostellen geprüft und die „Zigeunerhäuptlinge“, die keine abgegeben hatten, sollten angehört und dann die Auswahl zumindest der „guten Mischlinge“ von der jeweiligen Kripostelle selbst getroffen werden. Damit wurde die AusnahmeVerordnung zumindest stark verwässert – denn selbstverständlich wurden daraufhin solche Mischlinge ausgeschlossen, die eine Vorstrafe hatten, und sei sie noch so geringfügig –, 100 Zum Protestschreiben Bormanns vgl. den Auszug in: Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979, Göttingen 1980, S. 148 f. Dazu sowie zum Erlass auch: Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, (wie Anm. 38), S. 231–238. Ebenso Zimmermann, „Die Entscheidung“, (wie Anm. 94), S. 406 ff. 101 Ausgenommen werden konnten z. B. auch Personen, die aus verschiedenen Gründen dem NS-Staat nützlich oder sozial angepasst waren; die Ausnahmen wurden im Schnellbrief vom 29.01.1943 unter II aufgezählt, vgl. die Abschrift bei Döring, Die Zigeuner im n.s. Staat, (wie Anm. 2), S. 215 f. Über diese Ausnahmen hatte allein die Polizei zu entscheiden. 102 Zimmermann, „Die Entscheidung“, (wie Anm. 94), S. 407. 103 Ebd., S. 407 f. bzw. Reimar Gilsenbach, O Django, sing deinen Zorn. Sinti und Roma unter den Deutschen, Berlin 1993, S. 155, der die Erinnerungen des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß zitiert. 104 Fings, „Die ‚gutachterlichen Äußerungen‘ der Rassenhygienischen Forschungsstelle“, (wie Anm. 96), S. 445 f.

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zumal Zeitdruck herrschte: Denn den Kripoleitstellen war offensichtlich zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass die Massendeportationen von Sinti und Roma bald beginnen würden. Doch die Anweisungen von Himmlers Erlass wurden z. T. noch bis 1944 weiter verfolgt. Wie erging es den neun „Sprechern“? Ihnen wurde auch ein Vorteil eingeräumt, und zwar sofort, wie auf dem Erlass vom 13. Oktober zu lesen war: Sie sollten umgehend „ihr arteigenes Gewerbe wiederaufnehmen können. Ihre Anträge auf Aushändigung eines Wandergewerbescheines, Zulassung zur Reichsmusikkammer usw. sind zu unterstützen.“ Das war auch deswegen geboten, weil die Tätigkeit als „Sprecher“ nicht bezahlt wurde und jeder sich ansonsten „von seinen Rassengenossen unterstützen lassen“ müsse. Die Kripoleitstelle Köln befürwortete erst am 25. Januar 1943, dass Jakob Reinhardt wegen seiner umfangreichen Tätigkeit als „Sprecher“ in den Bezirken Köln/Düsseldorf/Frankfurt am Main nicht mehr einer festen Beschäftigung in Köln nachgehen könne – vermutlich war er vorher zur Zwangsarbeit verpflichtet worden – und ihm ein Wandergewerbeschein ausgestellt werden solle. Dieses späte Datum für die im Erlass sofort zugesicherte berufliche Bewegungsfreiheit hing mit Problemen bei der Installierung eines „Sprechers“ in Köln zusammen: Der 54-jährige Jakob Reinhardt war zwar offensichtlich bereits im Oktober als „Sprecher“ des Bezirks Köln/Düsseldorf/Frankfurt am Main vorgesehen, aber man wählte dann doch lieber den 70-jährigen Johann Lehmann. Anschließend meldeten sich in Köln von sich aus noch zwei Sinti als Kandidaten für die Aufgabe.105 Lehmanns Liste erwies sich als unbrauchbar (s. u.), daher ersetzte man ihn um die Jahreswende durch Jakob Reinhardt, der mit seiner Familie noch im Dezember „rassisch“ begutachtet worden war. Reinhardt traf sich Ende Januar mit einem anderen „Sprecher“ und reiste Anfang F ­ ebruar 1943 zu einer Sitzung der „Zigeunerhäuptlinge“ mit Mitarbeitern des RKPA und der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ nach Berlin. Er war in Begleitung eines des Lesens und Schreibens kundigen „Zigeunermischlings“ (K.), der ihn hinfort unterstützen sollte und dafür im Mai in die Sippe der „reinrassigen“ Sinti aufgenommen wurde. Ab Februar und bis Dezember 1943 reisten sie in zahlreiche Städte ihres großen Bezirks. Im Mai traf Jakob Reinhardt den für Stuttgart zuständigen „Sprecher“ Konrad Reinhardt, und Anfang Juni reiste er wieder zum RKPA nach Berlin.106 Das Ergebnis seiner Arbeit und ihrer Kontrolle durch die Polizei war, dass im Bezirk der Kriminalpolizeileitstelle Köln außer seiner Familie und der seines Mitarbeiters K. nur noch drei weitere Familien „reinrassige“ Sinti waren bzw. in die Sippe aufgenommen wurden; hinzu kam noch im April 1944 ein Trierer Sinto. Aus den anderen Städten des Bezirks Köln (Aachen, Bonn, Koblenz) gibt es keine weiteren Vermerke. Aber auch Personen aus dem Umfeld des ersten Kölner „Zigeunerobmanns“ blieben unbehelligt, dazu einige von Ritter noch als „reinrassig“ klassifizierte Sinti und Verwandte der tatsächlich in die Sippe Aufgenommenen. Doch insgesamt blieben, so die Schätzung, im „Altreich“ nur 200–300 Menschen aufgrund der Arbeit der „Sprecher“ von der Deportation nach Auschwitz verschont.107

105 Ebd., S. 445, Anm. 128. 106 Ebd., S. 446 f. 107 Ebd., S. 445 f., 449.

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An dem 70-jährigen Heinrich Steinbach, zuständig für Berlin und Breslau, und am „Sprecher“ aller Lalleri, Gregor Lehmann, wird deutlich, was der Erlass auch mit sich brachte. Steinbach lehnte ab, eine Liste zu erstellen, Lehmann gab seine Liste Anfang Januar in Berlin ab. In den 37 erhaltenen Akten der Berliner Kripoleitstelle sind viele Vermerke zu seinen Vorschlägen enthalten, von „Nichtzigeuner“ über „sind in die LalleriSippe aufgenommen“ und „muß schon bleiben“ bis zu „ab“ – und dieses „ab“ bedeutete die Deportation.108 Was die positive Einstufung also rettete, war nicht das Leben nach alter Sitte, sondern das Leben überhaupt: Die Aufgenommenen wurden nicht deportiert. Im Falle der Sinti und Lalleri in Berlin, d. h. der im überfüllten „Zigeunerlager“ Marzahn Wohnenden, blieben allein Steinbachs und Lehmanns Familien von der Deportation nach Auschwitz im März 1943 ausgenommen.109 Und als Lehmann im Dezember 1943 den Verlobten einer Tochter, einen entfernt Verwandten, in seine Sippe aufnehmen wollte, stimmte die Berliner Kripostelle zu, ebenso wie im Falle des Sinto-Lebensgefährten einer zweiten Tochter; diese beiden durften als Angehörige der Lalleri-Sippe sogar 1944 noch heiraten.110 Steinbachs und Lehmanns Schicksale nach dem Krieg unterschieden sich stark: Gregor Lehmann wurde von Betroffenen bei den russischen Besatzern angezeigt, „weil er mit den Nazi-Polizisten, die alle Zigeuner nach Auschwitz gebracht haben, unter einer Decke gesteckt hat“, und in den GULAG deportiert, während Steinbachs Ruf bei seinen Leuten unbeschädigt blieb.111 Ein weiterer Vorwurf traf Konrad Reinhardt, den „Sprecher“ des Gebiets Stuttgart, sowie den zunächst für Köln/Düsseldorf/Frankfurt am Main zuständigen Johann Lehmann: Beide wurden beschuldigt, Geld erpresst zu haben gegen den Vorzug, in ihre Listen aufgenommen zu werden. Lehmann wurde durch Jakob Reinhardt ersetzt und seine Liste für ungültig erklärt; die Anschuldigung gegen Konrad Reinhardt wurde erst nach Kriegsende erhoben und blieb möglicherweise folgenlos.112 Der Vorwurf gegen beide könnte mit der Vorgabe des Erlasses zusammenhängen, dass die „Sprecher“ für ihre Tätigkeit nicht bezahlt werden sollten und sich von ihren „Rassegenossen unterstützen lassen“ müssten; bis nach dem Krieg wurden Gerüchte über ihre Korruption verbreitet.113 Der neunte auf der Erlass-Liste namentlich genannte „Zigeunerhäuptling“ war der Musiker Anton Schneeberger, der älteste der fünf Schneeberger-Brüder, der bis zum Sommer 1942 im KZ Buchenwald inhaftiert war und dann nach Wien ins Polizeigefängnis überstellt wurde. Wenn Ritter ihn wie die anderen kannte, so hatte er ihn anscheinend schon vermessen und als „Vollzigeuner beziehungsweise stammechten Zigeuner“ klassifiziert.114 Dies war wohl ausschlaggebend für die Wahl; dass er ein ehemaliger Häftling 108 Vgl. zu den Akten Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, (wie Anm. 99), S. 242 ff. 109 Gilsenbach, Django, (wie Anm. 103), S. 151 f. 110 Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, (wie Anm. 99), S. 244; Gilsenbach, Django, (wie Anm. 103), S. 154 u. 163. 111 Gilsenbach, Django, (wie Anm. 103), S. 158 (Zitat einer Schwiegertochter Lehmanns). 112 Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, (wie Anm. 38), S. 235. 113 Fings, „Die ‚gutachterlichen Äußerungen‘ der Rassenhygienischen Forschungsstelle“, (wie Anm. 96), S. 446. 114 Die anderen Kategorien waren: ZM+ („Zigeuner-Mischling mit vorwiegend zigeunerischem Blutsanteil“), ZM („Zigeuner-Mischling mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“), ZM−

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der KZs Dachau und Buchenwald war, spielte offenbar keine Rolle. Und die Anweisung, „polizeilicherseits“ bei wegen „Eigentums-, Roheits- und ähnlichen Delikten vorbestraften Zigeunermischlinge[n] und ihren nächsten Familienangehörigen“ einen „strenge[n] Maßstab“ anzuwenden, d. h., sie von der Ausnahmeregelung auszuschließen,115 wurde auf „reinrassige“ Sinti nicht angewandt; Schneebergers kurzes Vorstrafenregister enthielt aber auch nur Bagatelldelikte, die höchste Strafe hatte er als 22-Jähriger erhalten, weil er vermutlich keinen Wandergewerbeschein vorzuweisen hatte116 – dieses Vergehen wurde gerade bei „Zigeunern“ besonders hart geahndet. Anton Schneeberger war für den Bezirk der Kriminalpolizeileitstelle Wien verantwortlich, die für die ganze „Ostmark“ zuständig war. Über seine Tätigkeit im Einzelnen ist jedoch bisher kaum etwas bekannt. Aus den Untersuchungen über Jakob Reinhardt lässt sich schließen, dass auch er sich mit einem Ausweis relativ frei bewegen konnte, um seine Aufgabe zu erfüllen, und wahrscheinlich suchte er nicht nur seine Leute am Stadtrand von Wien auf, sondern reiste (mit Erlaubnisscheinen von der Polizei) durch die „Ostmark“ z. B. bis nach Kärnten, um „reinrassige“ Sinti und „gute Mischlinge“ zu finden. Hatte er für sich selbst einen Wandergewerbeschein beantragt? (Eine Zulassung zur Reichsmusikkammer lässt sich nicht finden.) Es ist jedenfalls anzunehmen, dass auch er ab Herbst 1942 seinem Gewerbe wieder nachgehen konnte. Wo und wie mag er in diesen Monaten musiziert haben? Als „Sprecher“ gehörte er jedoch zu denen, die Anfang Januar keine Liste einreichten,117 so dass die Kripo die Auswahl treffen musste. Da sich Schneebergers Situation in einem wichtigen Punkt gravierend von der seiner Kollegen im „Altreich“ unterschied, fragt sich, wie er überhaupt „Zigeunermischlinge“ in seine Sippe hätte aufnehmen können? Er hatte ja keine Familie mehr: Seine Frau und die zehn Kinder waren um die Jahreswende 1941/42 in Łódź oder Chełmno ermordet worden, seine Brüder schufteten im Zwangsarbeitslager Lackenbach, deren Lebensgefährtinnen ebenfalls. (Vielleicht konnte er seine Eltern Maria Schneeberger und Josef Fojn und seine beiden Enkelkinder vor einer drohenden Deportation bewahren.) Und auch wenn Anton Schneeberger vermutlich bei den Sitzungen im Februar und Juni 1943 in Berlin noch als „Sprecher“ dabei war, blieb er dennoch zuletzt nicht unbehelligt: Er wurde auch ins Lager Lackenbach überstellt und wurde dort als Ordner eingesetzt, wie er in seiner eidesstattlichen Erklärung nach dem Krieg angab. Bedeutete dies, dass einige der ausgewählten Sinti oder „guten“ Mischlinge aus seinem Bereich kein Wohlverhalten gezeigt hatten und er dafür haften musste, gemäß der von ihm unterschriebenen „Eröffnungsverhandlung“? Oder hatte er zu wenig mit der Kripo kooperiert?

(„Zigeuner-Mischling mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“) und zuletzt NZ („Nicht-Zigeuner, das heißt die Person ist oder gilt als deutschblütig“), vgl. Fings, ebd., S. 438. 115 Schnellbrief vom 11.01.1943, zit. bei Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, (wie Anm. 99), S. 242. 116 Vgl. das Führungszeugnis vom 04.10.1946 in seinen DÖW-Akten (Sign. 20.100/10.504). Dort befindet sich auch die weiter unten erwähnte eidesstattliche Erklärung. 117 Döring, Die Zigeuner im n.s. Staat, (wie Anm. 2), S. 148. Ob überhaupt Akten über fragliche „Zigeunermischlinge“ in seinem Bereich erhalten sind, ist fraglich.

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Die Episode als „Zigeunerhäuptling“ fand in Anton Schneebergers Lebenslauf von 1946 keine Erwähnung; dies wundert nicht, ist er doch viel zu kurz – eine knappe handgeschriebene Seite –, um über die dürren Fakten der KZ-Haft, der Ermordung seiner Familie und seiner Befreiung aus dem Lager Lackenbach hinauszugehen. Auch von einem biographischen Interview mit ihm ist nichts bekannt. Dennoch sei eine Überlegung zu seinem späteren Umgang mit dieser Funktion (und mit der der „Sprecher“ überhaupt) angestellt. Im Unterschied zu dem KZ-Häftling, der zur Hilfe bei Hinrichtungen abkommandiert und als „Henker von Sachsenhausen“ bezeichnet und verachtet wurde,118 im Unterschied auch zu den „Judenräten“, die zur Entscheidung darüber gezwungen wurden, wen sie den Nazis zur Deportation auslieferten, konnten die „Sprecher“ ihre Aufgabe wenigstens anfangs positiv sehen: Es ging anscheinend darum, die Ausgewählten von Zwangsarbeit loszueisen und ihnen zu besseren Arbeits- und infolgedessen auch besseren Lebensbedingungen zu verhelfen. Dass sie im Spätherbst 1942 über den Plan des ethnischen Reservats für diese Leute informiert waren, ist unwahrscheinlich, dass sie von der bevorstehenden Massendeportation der anderen, nicht von ihnen ausgewählten „Zigeuner“ wussten, ist auszuschließen. Aber seit Ende Februar 1943 rollten die Deportationszüge nach Birkenau. Jakob Reinhardt betrieb noch im ganzen Jahr 1943 seine Suche, und im April forderte die Kripo Darmstadt von ihm eine Entscheidung über zwei Mischlingsfamilien, die man im negativen Fall „abschieben“ wolle.119 Wie wurde er damit fertig? Anton Schneeberger hatte selbst Bekanntschaft mit zwei KZs gemacht, und es lässt sich vorstellen, dass er keine Liste erstellte, weil er der Polizei des NS-Staates nicht zuarbeiten wollte, ebenso wie der alte Heinrich Steinbach in Berlin. Dennoch – die Polizei war angehalten, seine Stellungnahme einzuholen, und auch wenn er sich dem verweigert hätte, so profitierte er selbst doch von seiner Installierung als „Zigeunerhäuptling“. Wie hat er sich später an diese Funktion erinnert, wie davon vielleicht berichtet – mit unbewusster Veränderung der Geschehnisse oder mit Aussparungen, zwei Umgangsweisen mit ihrem Schicksal, wie sie in der Analyse von mündlichen Berichten Holocaust-Überlebender herausgearbeitet wurden?120 Allein die ungewollte Zusammenarbeit mit NS-Organen im Auftrag des SS-Führers muss schwer belastend gewesen sein, wenn auch eine (mögliche) Rettung der Seinen und seiner selbst vor dem dritten KZ wohl kaum als Bürde in seiner Waagschale lag: Zu schwer wogen dagegen seine Verfolgung und die Ermordung seiner Familie. Anders selbst im Falle des honorigen Steinbach in Berlin-Marzahn: Noch Jahrzehnte nach den Ereignissen verweigerten seine Angehörigen eine Antwort auf Reimar Gilsenbachs Frage, wie sie sich erklärten, dass sie vom KZ verschont geblieben waren.121 Konnte Schneeberger bei der Bewältigung seiner Last die Musik helfen?

118 Annette Leo, „Paul Sakowski, der ‚Henker von Sachsenhausen‘“, in: Gedenkstättenarbeit und Oral History, (wie Anm. 1), S. 113–126. 119 Fings, „Die ‚gutachterlichen Äußerungen‘ der Rassenhygienischen Forschungsstelle“, (wie Anm. 96), S. 447. 120 Vgl. dazu Gedenkstättenarbeit und Oral History, (wie Anm. 1). 121 Gilsenbach, Django, (wie Anm. 103), S. 158.

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In Lackenbach – der Zeitpunkt seiner Einlieferung ist (noch) unbekannt – traf Anton Schneeberger seine Brüder Adolf, Robert und Jakob wieder, die dort ebenso wie Josef Fojn und Ferdinand Fröhlich mit ihren ebenfalls in Lackenbach inhaftierten Lebensgefährtinnen eine Art Familienleben aufbauen oder weiterführen konnten. Anton Schneeberger gründete nach Kriegsende mit Maria Steger eine neue Familie, zu der 1948 schon zwei kleine eigene und die beiden verwaisten Kinder seiner Tochter Cäcilia gehörten, für die er sorgte.122 Der Bruder Georg war nicht mehr am Leben; ihn hatte die SS als einen von 300 Häftlingen, darunter 143 Polen und viele Roma aus dem Burgenland, bereits am 15. April 1940 von Buchenwald nach Mauthausen überstellt. Am 5. August 1942 kam er dort um. „Vom Sommer 1939 bis Herbst 1943 bedeutete die Einweisung […] ein vorsätzliches Todesurteil“, so der ehemalige Häftlingsschreiber Hans Maršálek.123 Das KZ Mauthausen, im August 1938 eröffnet, war berüchtigt für die sogenannte Todesstiege am Steinbruch „Wiener Graben“, und schon 1939 waren alle „Zigeuner“, darunter zahlreiche Roma aus dem Burgenland, im Steinbruch eingesetzt worden, falls sie nicht mehr im Lageraufbau benötigt wurden.124 An der Treppe kamen viele Häftlinge zu Tode; entweder wurden sie dort von den Wachmannschaften in den Abgrund befördert, wenn sie zu langsam waren – die SS verhöhnte die Hinuntergestoßenen als „Fallschirmspringer“125 –, oder „auf der Flucht erschossen“, sie stürzten mit ihrer Last hinunter oder sprangen in den Tod, um ihrem Elend ein Ende zu machen. Da Georg Schneeberger nach mehr als zwei Jahren in diesem KZ körperlich am Ende gewesen sein muss, ist es wahrscheinlich, dass er entweder am 5. August „selektiert“ wurde126 oder einige Wochen vorher krank ins „Sonderrevier“ eingeliefert worden und am 14. Juli unter den insgesamt 200 „schonungsbedürftigen“, aber dennoch für den Sanitätslageraufbau eingesetzten Kranken war, die lange eiskalt abgebraust wurden. Fünfzehn bis aufs Skelett abgemagerte Männer überlebten diese Tortur – vorerst, denn am 25. Juli wurden sie in den Krankenblock 19 eingewiesen, um dort zu sterben.127 122 Vgl. das Schreiben des Anwalts Alfred Taubes vom 08.02.1948 an den Landesverband der Politisch Verfolgten, Wien, mit dem er Anton und Adolf Schneeberger endlich einen Mitgliedsausweis verschaffen wollte. (Die Angaben der Brüder über ihre KZ-Haft in allen im DÖW erhaltenen Dokumenten aus der Nachkriegszeit dehnen die Haftzeit bis zum 01.04.1945 aus. Sie wurden in der eidesstattlichen Erklärung Anton Schneebergs für den KZ-Verband von anderer Hand korrigiert und das Ende der Haftzeit in Buchenwald mit dem 31.08.1942 angegeben; auf der Rückseite wird auf einen „Ordner Lackenbach“ verwiesen, während beim entsprechenden Dokument seines Bruders Mauthausen als drittes KZ, ohne Datum, und danach Lackenbach angeführt sind.) Alle Dokumente in: DÖW Sign. 20.100/10.504 (Anton S.) bzw. 20.100/10.503 (Adolf S.). 123 Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), S. 40. 124 Ebd., S. 101. In dieses KZ waren bis Mai 1939 bereits einige „Zigeuner“ angeblich aus Gründen der Vorbeugung deportiert worden (ebd., S. 119). 125 Vgl. den Kommentar zu der Zeichnung Fragment z pracy nięzniów w kamieniełomach w Mauthausen [Ein Moment im Arbeitsalltag im Steinbruch Mauthausen] des Häftlings Ludwik Smrokowski, in: Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945. Katalog zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2013, S. 156. 126 Vgl. Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, Mauthausen 42006, S. 303. 127 Vgl. Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945, (wie Anm. 125), S. 173 f., 227. Nicht alle Terrormaßnahmen wurden dokumentiert, daher sind die Listen unvollständig (ebd., S. 217).

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Abb. 7: Überstellungsliste von 28 „Zigeunern“ nach Knittelfeld, gedruckt in: Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Wien u. a. 1983, Anhang S. 56.

Ob Franz Bamberger,128 gebürtig 1897 in Bruck an der Leitha, in Mauthausen als Musiker eingesetzt wurde und deshalb überleben konnte, ist ebenfalls unbekannt. Bekannt ist aber, dass auch er 1939 nach Dachau und Buchenwald deportiert und erst über den Umweg des KZs Neuengamme (Ende Januar 1941) im August 1941 nach Mauthausen überstellt wurde. Ähnlich verhielt es sich bei Stefan Berger: Seine KZ-„Laufbahn“ begann ebenso und zur selben Zeit mit den Stationen Dachau und Buchenwald; er wurde schon im Oktober 1940 ins KZ Neuengamme und im Juni 1941 ins KZ Mauthausen verlegt. Geza BergerHorvath (wohl ein Verwandter) wurde im Dezember 1940 von Buchenwald nach Neuengamme überstellt. Während, wie erwähnt, am 8. Oktober 1941 vermutlich Waitz und 128 Vgl. hierzu und weiter unten: Nicole Ristow, Art. „Franz Bamberger“ und „Geza Berger-Horvath“, in: LexM 2017, (wie Anm. 53), letzter Zugriff: 20.12.2018.

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die drei Schneebergers mit 76 weiteren „Zigeunern“ von Mauthausen über Wien zurück nach Lackenbach verlegt wurden, kamen am nächsten Tag Bamberger, Berger, BergerHorvath und 25 Leidensgenossen mit einem anderen Transport ins steirische Knittelfeld (s. Abb. 7),129 um im nahegelegenen Arbeitslager Kobenz zu schuften.130 In Kobenz war im Oktober 1940 von der steirischen Landesregierung ein Arbeitslager für Roma errichtet worden, ebenso wie in fünf weiteren Orten; hauptsächlich ging es dort um Arbeit im Straßenbau und in Steinbrüchen. Kleinere Arbeitslager für nichtsesshafte „Zigeuner“ wurden in der Steiermark anscheinend bereits 1938 eingerichtet, noch vor dem auch dort im Herbst 1939 greifenden Festsetzungserlass. (Im Spätsommer 1940 gab es dann eine entsprechende Verordnung zur Einrichtung größerer Zwangsarbeitslager für „Zigeuner“ in allen Bundesländern der „Ostmark“.) Ende 1940 waren in Kobenz 170 Häftlinge registriert,131 im Sommer 1941 waren es noch 124; hinzu kamen dann im Herbst die 28 Neuzugänge, die möglicherweise als „Barackenälteste“ gebraucht wurden. Berger und Bamberger wurden vermutlich 1942 zurück nach Mauthausen verlegt, Berger-Horvath blieb möglicherweise bis zur Auflösung des Lagers im Januar 1943 in Kobenz.132 Berger wurde dort bis Oktober 1942 geführt, um – nach einer unbekannten Zwischenstation – im April 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau zu landen und von dort ein Jahr später mit dem Transport vom 15. April 1944 nach Buchenwald und am 12. Mai ins Außenlager MittelbauDora verlegt zu werden.133 Dass er Anfang Februar 1945 nach Bergen-Belsen kam, scheint kein Einzelfall gewesen zu sein, auch wenn die meisten Sinti und Roma wohl erst seit den Räumungstransporten ab 8. April dorthin verschleppt wurden und der im März eintreffende (Massen-)Transport vom Buchenwald-Außenlager Tauba nur Sterbende gebracht hatte – wie erwähnt, waren 67 der 150 schwerstkranken Frauen „Zigeunerinnen“.134 In BergenBelsen wurde Berger zwei Monate später befreit. Bamberger dagegen musste in Mauthausen bis zur Befreiung am 7. Mai 1945 aushalten. Er wird in einem „leichten“ Kommando untergekommen sein, andernfalls hätte er nicht so 129 Maršálek war irrtümlich von 108 nach Lackenbach überstellten „Zigeunern“ ausgegangen, vgl. Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), S. 244; Thurner war noch nicht bekannt, warum 28 der 108 nach Knittelfeld transportiert wurden (Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, [wie Anm. 25], S. 87, Anm. 1). 130 Das ist zwar nur für Berger-Horvath bereits nachgewiesen (vgl. Ristow, „Berger-Horvath“, [wie Anm. 128]), dürfte aber für die beiden anderen ebenfalls zugetroffen haben. 131 Vgl. Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, (wie Anm. 25), S. 86. Vgl. dazu das Schreiben der Landeshauptmannschaft an die Landräte und Oberbürgermeister der Stadt der Volkserhebung (Graz) vom 05.12.1940 und das des Landrats des Kreises Judenburg an den Reichsstatthalter in der Steiermark vom 31.12.1940, zit. bei Baumgartner, „Dezentrale nationalsozialistische ‚Zigeunerlager‘ 1938–1945“, (wie Anm. 26), S. 10–12. 132 Für die freundlichen Informationen über die Funktion der 28 Häftlinge und die Auflösung der Lager danke ich Sabine Schweitzer (DÖW) (E-Mail an die Verf. vom 02.04.2019). 133 Vgl. die in „Den Rauch hatten wir ständig vor Augen“, (wie Anm. 53), S. 260 abgedruckte Liste der „Neuzugänge“ in Dora aus dem Hauptlager Buchenwald. 134 Vgl. Wagner, „Mittelbau-Dora – Stammlager“, (wie Anm. 86), S. 261; Thomas Rahe, „BergenBelsen – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 187–217, hier S. 206–209; Seidel, „Taucha (Frauen)“, (wie Anm. 78), S. 582–584.

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lange überleben können.135 Er war einer von 177 Männern sowie 23 Jungen und Jugendlichen dieser Ethnie, die Ende Februar unter mehr als 78.000 Häftlingen in diesem KZ und seinen Außenlagern registriert waren, und einer von 165 „Zigeunern“, die noch am 3. Mai 1945 im Stammlager und den Außenlagern von der SS gezählt wurden und damit einen Bruchteil der mehr als 81.000 die Befreiung erwartenden Häftlinge ausmachten.136 (Unter den 1981 weiblichen Häftlingen, die am 7. März nach fünftägiger Fahrt aus Ravensbrück überstellt wurden, waren 447 „Zigeunerinnen“, viele mit Kleinkindern. Die wurden mit ihren Müttern registriert, so dass drei Tage später nur 1799 Nummern vergeben wurden; ihre Babys dagegen wurden sofort nach der Ankunft von der SS totgeschlagen. Es lässt sich keiner Statistik entnehmen, was mit diesen Frauen geschah, so dass Ende März nur mehr 79 „Zigeunerinnen“ im KZ gezählt wurden.137 Ob sie wegen der Überfüllung von Mauthausen in die Nebenlager weitergetrieben wurden138 oder, weil es kein entsprechend großes Frauenlager gab und sie arbeitsunfähig waren, alsbald umgebracht wurden, ist unbekannt.) Über Musiker, die in den Ensembles im KZ-Doppellager Mauthausen-Gusen spielten, und vor allem über die Tschechen unter ihnen ist dank Milan Kunas Forschungen einiges bekannt. Aber bis ins Jahr 1942 hinein gab es im Lager keine „offizielle“ Musik für die Häftlinge, nicht einmal gesungen wurde in den Blocks, wie sich ein tschechischer Häftling später erinnerte.139 Im Hauptlager Mauthausen gab es dann mehrere Ensembles, und in Gusen existierte ein polnischer Chor und eine Lagerkapelle, geleitet von einem deutschen Zeugen Jehovas, mit überwiegend polnischen Musikern, für die zwei polnische und ein belgischer Komponist Stücke verfassten.140 Auch das Außenlager Ebensee am Traunsee – dort wurden zwei Stollenanlagen für die Raketenversuchsanstalt Peenemünde gebaut, dann aber für eine Raffinerie genutzt – hatte eine Kapelle. Nach der Anordnung 135 Der Sinto Josef Maier aus Magdeburg überlebte die sechsjährige Gefangenschaft dort als Steinmetz und Bauarbeiter in Gusen, beim Ausbauen von Kellern und Stollen im Außenlager Schlier, beim Kraftwerks- und Straßenbau in Weyer und Großraming, seit 1944 in Ebensee beim Stollenbau für das geplante Raketenwerk; vgl. Rose und Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“, (wie Anm. 14), S. 148, 151. 136 Zum Stand vom 03.05.1945 vgl. die Einträge im Notizbuch der SS, in: Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945, (wie Anm. 125), S. 240. Zum früheren Stand vgl. Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 118; Florian Freund und Bertrand Perz, „Mauthausen – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 4, S. 293–346, vgl. die Tabelle S. 316. Der Höchststand war am 07.03.1945 erreicht mit 84.472 männlichen und 1034 weiblichen Häftlingen, vgl. Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), Tabelle S. 134; zu den Zahlen der „ZigeunerInnen“ ebd., S. 138, 116. 137 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 42006, (wie Anm. 126), S. 168 f. 138 Freund und Perz, „Mauthausen – Stammlager“, (wie Anm. 136), S. 324. 139 So Václav Berdych 1959, zit. n. Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 74 und 359, Anm. 2. Zur Einschränkung siehe unten im Text. 140 Diese und die folgenden Informationen bei Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), S. 310; er beruft sich auf Jerzy Osuchowski, Gusen, Przedsionek Piekla [Gusen, das Vorzimmer der Hölle], hrsg. vom polnischen Ministerium der nationalen Verteidigung, Warschau 1961, S. 134 ff., und nennt auch die Namen der vier Musiker in Gusen und die der Orchesterleiter in Mauthausen.

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im August 1942, dass in jedem KZ ein Orchester zu gründen sei (s. o.), existierte ab Oktober in Mauthausen ein größeres Orchester, geleitet von einem Deutschen; daraus taten sich gelegentlich vier Streicher zusammen, um Quartett zu spielen. Im Sommer 1944 wurde das Orchester durch 20 Warschauer Philharmoniker aufgestockt. Zur selben Zeit wurde noch eine kleinere, von einem Tschechen dirigierte Kapelle gegründet. Alle Orchester spielten neben Märschen und Schlagern auch klassische Musik. Es gibt jedoch nur wenige Hinweise auf Sinti- oder Roma-Musiker. Vermutlich seit den ersten Transporten, die auch Sinti und Roma ins KZ Mauthausen brachten, existierte dort (bis September 1942, s. u.) eine kleine „Zigeunerkapelle“, ebenso wie in Buchenwald und anderen KZs. In Mauthausen soll ein virtuoser Geiger aus Budapest der Mittelpunkt des kleinen Ensembles gewesen sein, das anfangs nur aus sieben bis acht Musikern bestand, die ihre Instrumente ins Lager mitgebracht hatten. Ihre Namen sind nicht bekannt. Sie wurden zur Unterhaltung herangezogen, wenn die Kapos Feiern veranstalteten oder sich im Lagerbordell vergnügten. Auf zwei Fotos vom 30. Juli 1942 sind sie in anderer Funktion zu sehen:141 als Begleitung eines geflohenen und wieder ergriffenen Häftlings auf dem Weg zu seiner Hinrichtung – eine weitere Aufgabe der Lagerkapellen. Dabei sollen sie Alle Vöglein sind schon da gespielt haben,142 sicherlich auf Anordnung der SS, der es gefiel, geflohenen Häftlingen Plakate umzuhängen mit Sprüchen, die sie verhöhnten; einer davon war die Volksliedzeile „Kam ein Vogel geflogen!“143 Bei einer anderen Hinrichtung von Geflohenen in Mauthausen musste beziehungsvoll Komm zurück, ich warte auf dich, der von Rudi Schuricke 1939 getextete und gesungene und besonders im Krieg populär gewordene italienische Schlager „Tornerai“ von Nino Rastelli/Dino Olivieri (1936), gespielt werden. (Auch die SS in Flossenbürg liebte Rudi Schuricke und verordnete als Begleitmusik zu Hinrichtungen Hoch droben auf dem Berg – von Schuricke getextet, mit Musik von Franz Grothe, 1941 eingesungen vom Schuricke-Terzett – und den sehr beliebten Marsch Alte Kameraden, der inzwischen als Marschlied mit entsprechendem Text verbreitet war. Im KZ MittelbauDora, wo es 1944 außergewöhnlich viele Fluchtversuche gab, bekamen die aufgegriffenen Flüchtlinge Tafeln mit der Aufschrift „Ich bin wieder da.“ umgehängt, und die Kapelle musste einen Marsch spielen.144) Im Winter 1941/42 legte sich eine Abteilung des SS-Wachpersonals in Mauthausen zur Abendunterhaltung eine kleine Band aus sechs Musikern zu. Sie spielten Gitarre, Trompete, Saxophon, Schlagzeug, Bass und Klavier. Die Gitarre übernahm der 18-jährige Ber-

141 Vgl. Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 42 f. Allerdings sind auf den Fotos mehr als acht, nämlich vermutlich zehn oder elf Musiker zu sehen. Sabine Stein, Leiterin des Archivs der Gedenkstätte Buchenwald, informierte mich darüber, dass die SS gelegentlich „offizielle“ Fotos machte; auch das Foto von Abb. 4 gehört in diese Kategorie. 142 So Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 32 (ohne Quellenangabe). Zu den drei weiteren genannten Musikstücken siehe ebd., S. 33. 143 Maršálek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 21980, (wie Anm. 45), S. 250. 144 Erinnerungen eines tschechischen Häftlings von 1966, abgedruckt in Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945, (wie Anm. 85), S. 96. In Dora und Harzungen wird es eine der „Zigeunerkapellen“ gewesen sein (siehe oben im Text).

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liner Geigenstudent Oskar Siebert,145 Sohn eines Sinto und einer russischen Jüdin, die von den Nazis umstandslos der Ethnie ihres Mannes zugerechnet wurde, so dass es nicht wundert, dass auch der Sohn von der berüchtigten „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ in der Rassenhierarchie als „überwiegend Zigeuner“ = „Zigeunermischling (+)“ eingestuft wurde. Das abendliche Musizieren brachte die sechs Instrumentalisten aus der unmittelbaren Gefahrenzone: Sie wurden zum Küchendienst eingeteilt, da das Wachpersonal einsah, dass man mit Händen, die durch die Arbeit im Steinbruch schwer lädiert wurden, nicht musizieren konnte. Außerdem bedeutete der Küchendienst, dass sie Zugang zu besserer oder zu mehr Verpflegung hatten als den ca. 1450 Kalorien, die „normale“ Häftlinge zugeteilt bekamen.146 Einmal wurde die Band sogar für zwei Tage nach Theresienstadt verfrachtet, um dort bei dem Besuch zweier Vertreter des Roten Kreuzes, die von einem Legationsrat des Auswärtigen Amts herumgeführt wurden, vor dem Rathaus und beim Essen Unterhaltungsmusik zu spielen. Siebert, der nach dem Krieg in Berlin eine Jazzcombo gründete, war aber nicht an der kleinen Jazzkapelle beteiligt, die in Mauthausen im Sommer 1944 vermutlich von Musikern des ebenfalls gerade gegründeten kleinen Orchesters gebildet wurde; zu der Zeit war Siebert nämlich seit einem halben Jahr zur Arbeit für die Organisation Todt abgestellt und kam erst im November 1944 wieder ins KZ Mauthausen zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Jazzkapelle sich vermutlich bereits wieder aufgelöst, weil die Musiker nicht, wie die SS es verlangte, im Lagerbordell aufspielen wollten. Dieser Aufgabe mussten also weiterhin „zwei Zigeuner mit Violine und Harmonika“ nachkommen.147 Die kleine „Zigeunerkapelle“ aber, die in den ersten Jahren die musikalische Unterhaltung bestritten hatte, wurde im Herbst 1942 ausgebootet. Zuerst wurde „die Aufgabe der Zigeunerkapelle“ von einigen tschechischen Musikern übernommen, und im Herbst 1942 wurden sie nach der Einrichtung des „größeren Orchesters nicht mehr gebraucht. Von niemandem mehr geschützt, wurden sie zur Vernichtung bestimmt und abtransportiert; wahrscheinlich nach Auschwitz gebracht, wo sie in den Gaskammern starben.“148 So Milan Kuna, sich auf einen ehemaligen tschechischen Gefangenen berufend. Schon mit seinem Zitat des tschechischen Häftlings, der bis 1942 keine Musik in Mauthausen hörte, wird deutlich, dass das Spiel der „Zigeuner“ nicht der Rede wert war, und dem Zitat des zweiten Musikers lässt sich entnehmen, dass Roma- und Sinti-Musiker keine Solidarität zu erwarten hatten, nicht einmal im KZ von Leidensgenossen. Die Präsidentin des Europäischen Parlaments Simone Veil, eine der (jüdischen) Überlebenden des KZs Bergen-Belsen, formulierte es dort bei der Gedenkkundgebung 1979 so: „Ich glaube, wir haben nicht immer genügend Solidarität gefühlt, diese Solidarität des gemeinsamen Unglücks. Jeder 145 Vgl. Oskar Siebert, „Ich spielte um mein Leben“. Von der illegalen Musikkapelle in Mauthausen zum Berliner Tanzorchester, o. O. 2008, S. 35–60, sowie Winfried Radeke, „Ein jüdischer Zigeuner in Berlin – Erinnerungen an Oskar Siebert“, in: mr-Mitteilungen, H. 70 (Jan. 2010), S. 16–22. 146 Zur Verpflegung vgl. Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 42006, (wie Anm. 126), S. 53–62, bes. S. 54–56. 147 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 60), S. 273. 148 Ebd., S. 77 (Zitat aus einem unveröffentlichten Bericht von Bohumil Bardoň) und S. 82 (nach dem unveröffentlichten Bericht von 1988 des belgischen Geigers Viktor van Riet).

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weiß, daß wir in den Lagern – und das ist wahrscheinlich ein Sieg der Nazis – getrennt unser Schicksal gelebt und oft auch getrennt gelitten haben.“149

Männer und Frauen im „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau Die Inhaftierung von „Zigeunern“ im KZ Birkenau (Auschwitz II) stellt die letzte Etappe der Massenverfolgung der Sinti und Roma dar. Am 16. Dezember 1942 verkündete Himmler den „Auschwitz-Erlass“ und zielte damit – mit den im Exkurs beschriebenen Ausnahmen – auf die Vernichtung der „Zigeuner“ aus rassischen Gründen, den Porajmos. Er betraf alle in „Großdeutschland“ lebenden „Rom-Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ und „balkanischen Zigeuner“; im März 1943 wurde der Erlass auch auf die besetzten Gebiete ausgedehnt. Himmlers Ziel war, alle „Zigeuner“ und „Zigeunerinnen“, derer man noch habhaft werden konnte, nach Auschwitz zu deportieren. Sie waren nicht die ersten Männer und Frauen dieser Ethnie, die nach Auschwitz deportiert wurden. Schon im Frühjahr 1942 war eine größere Anzahl von Sintezas und Romnija aus Ravensbrück ins neue Frauenlager B Ia überstellt worden (siehe den Exkurs unten), und im weiteren Verlauf des Jahres gab es bei einzelnen Transporten auch immer einige „Zigeuner“ aus dem besetzten Polen, dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ und aus „Großdeutschland“. Am 3. und 7. Dezember 1942 kamen zwei kleinere Transporte ausschließlich mit Roma an.150 Zur Unterbringung der Tausende vom „Auschwitz-Erlass“ Erfassten musste in Birkenau jedoch erst noch in aller Eile ein „Zigeunerlager“, ein Familienlager,151 eingerichtet werden. Als der erste Transport schon Ende Februar 1943 ankam, war das Lager B IIe noch gar nicht fertiggestellt (s. Abb. 8). In den 17 Monaten bis Ende Juli 1944 wurden dort mehr als 20.000 Roma und Sinti inhaftiert; die weitaus meisten von ihnen stammten aus „Großdeutschland“. Sie wurden in den beiden erhaltenen und im Druck vorliegenden Hauptbüchern des Zigeunerlagers – das eine die Frauen, das andere die Männer betreffend152 – von polnischen Häftlingsschreibern registriert. 149 Simone Veil, „Meine Anwesenheit bezeugt meine Solidarität gegenüber den Zigeunern.“, in: Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen, (wie Anm. 100), S. 49–59, hier S. 51. Darüber, wie schwer es im KZ auch politischen Häftlingen fiel, Solidarität zu üben, berichtete Heinrich Christian Meier, So war es. Das Leben im KZ Neuengamme, Hamburg 1946, S. 107–118. 150 Vgl. Maria Martyniak, „The Deportation of Roma to Auschwitz before the Founding of the Zigeunerlager in the Light of the Extant Documents“, in: Roma in Auschwitz (= Voices of Memory 7), Oświęcim 2011, S. 7–12, hier S. 9 f. Martyniak beruft sich für den 07.12. auf ein erhaltenes Telegramm (S. 9 und Fn. 13), während bei Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 353 f., der zweite Transport nicht spezifiziert ist; sie vermerkt nur zwei geflohene männliche Roma-Häftlinge und vermutet, dass die Frauen des Transports Jüdinnen waren (S. 354). 151 Es gab auch einige Häftlinge im (ab Juli 1943 in Nachfolge von B Ib eingerichteten) Männerlager B IId und (evtl. mit Neugeborenen) im Frauenlager B Ia; vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 760 (25.04.1944). 152 Wie Anm. 7.

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Abb. 8: Plan KL Auschwitz II (Birkenau), u. a. in: Donald Kenrick und Grattan Puxon, Sinti und Roma, die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat, Göttingen 1981, S. 108.

Am 28. März wurde unter der Nummer Z 5418 der 27-jährige Berliner Musiker und Kapellenleiter Gerhard Braun ins Hauptbuch (Männer) eingetragen. Es ist wohl auszuschließen, dass er in Birkenau in der kleinen Kapelle des „Zigeunerlagers“ unterkam. Zwar spielte er neben Saxophon und Bass, wie ein Foto mit seiner Kapelle im Kurzwellensender Berlin vermuten lässt, noch mindestens zwei weitere Instrumente: Akkordeon und Schlagzeug. Aber dass er im kleinen „Zigeunerlager“-Ensemble, das in der Anfangszeit nur über fünf Geigen und ein Akkordeon verfügt haben soll – Instrumente, die die Musiker selbst ins Lager mitgebracht hatten –, eben das Akkordeon gespielt haben könnte, ist auszuschließen. Denn eine Augenzeugin, die jüdische Lagerärztin Lucie Adelsberger, erlebte am 23. Mai 1943 in B IIe eine Sonntagsvorstellung mit Musik, bei der fünf Geiger spielten und ein Akkordeonist, der ein Holzbein hatte.153 (Später kamen Gitarren und ein Hackbrett hinzu, möglicherweise auch Zither, Harfe und Cello.) Die Musik der kleinen Kapelle war auch bei der SS sehr beliebt; der SS-Rottenführer Pery Broad rühmte sich sogar, die Kapelle gegründet zu haben.154 Sie spielte nicht nur an Sonntagen für die Häftlinge auf dem Platz bei den Waschbaracken, sondern auch vor dem Krankenblock und in der Mitte des 153 Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht, Berlin 1956, S. 54. 154 Aussage der Dolmetscherin in der Politischen Abteilung Dounia Wasserstrom im Auschwitz-Prozess, in: Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 515.

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„Zigeunerlagers“, wenn einer der Mithäftlinge gestorben war. In den Blocks sollen auch kleinere Gruppen Musik für ihre Leidensgenossen gemacht haben.155 Wie die Einträge hinter Brauns Namen im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer) und in den Sterbebüchern von Auschwitz belegen,156 wurde der 27-jährige Musiker und Kapellenleiter schon am 22. Oktober 1943 umgebracht. Ob er zu den etwa 7000 Sinti und Roma gehörte, die im ersten halben Jahr nach der Einlieferung an den schlechten Lagerbedingungen und den dadurch verursachten Krankheiten (Bauch- und Flecktyphus, Skorbut, Ruhr, Krätze, Furunkulose) zugrunde gingen, oder ob er einer der nahezu 3000 war, die unter dem Vorwand der Typhusbekämpfung ins Gas geschickt wurden,157 ist unbekannt. Mehr Glück hatten sein Bruder Heinrich, über dessen Schicksal bereits berichtet wurde, und zwei seiner Ensemble-Kollegen, die auf mehreren von Brauns Kapelle überlieferten Fotos, z. B. dem vom Café Uhlandeck in Berlin, gut zu sehen sind (s. Abb. 9). Es handelte sich um den mit Braun (am Bass) gleichaltrigen Gitarristen Josef Schopper und den etwas älteren Geiger Oskar Adler (ganz rechts), die im April 1943 eingeliefert wurden und die KZ-Haft in Birkenau und Auschwitz überlebt haben.158 Sie waren anscheinend nur eine 155 Lachendro, „The Orchestras in KL Auschwitz“, (wie Anm. 77), S. 110 f., mit Verweis auf mehrere Zeitzeugen-Berichte. 156 Die Auschwitz-Gedenkbücher geben den Geburtsmonat unterschiedlich an: 15.12.1915 in: Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer), (wie Anm. 7), S. 160 bzw. 15.02.1915 in: Sterbebücher von Auschwitz, hrsg. vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, 3 Bde., München 1995, Bd. 2, S. 128. Warum er dort bereits im regulären Namensverzeichnis, aber nicht im Annex des 3. Bandes mit den Todesfällen aus dem „Zigeunerlager“ angeführt ist – wie auch einige andere Musiker-Leidensgenossen seiner ethnischen Gruppe (wie Braun in Bd. 2: Albert und Franz Baranyai, Kreszentia Bernhard/ Bernhardt, Karl Eckstein, Karl/Karl Albert Frank, Adalbert Horvath, Georg Küfer, Johann Lehmann; in Bd. 3: Franz Reinhardt, Andreas Sarközi/Sarkösi, vermutlich Martin Seger/Seeger, Therese Anna/ Theresia Weindlich, Anna Weinlich, alle vor dem Annex mit den Sterbefällen im „Zigeunerlager“) –, ist unklar. Er wurde am 28.03.1943 in einem Transport von 160 Männern und Jungen und 192 Frauen und Mädchen in Birkenau eingeliefert, vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 452. 157 Lachendro, „The Orchestras in KL Auschwitz“, (wie Anm. 77), S. 109. Insgesamt wurden mehr als 19.300 der ca. 22.600 Inhaftierten umgebracht (über 5600 im Gas, die anderen durch Hunger, Krankheit, Seuchen); 60 Prozent von allen „Zigeuner“-Häftlingen stammten aus „Großdeutschland“, ca. 21 Prozent aus Böhmen und Mähren, 6 Prozent aus Polen. Aus den anderen Ländern wurden „Zigeuner“ nicht systematisch deportiert, weil keine flächendeckenden „rassenhygienischen“ Erkenntnisse vorlagen. Vgl. dazu Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 374 f. 158 Die Namen sind der Bildlegende auf S. 258 in Der nationalsozialistische Völkermord. Katalog Auschwitz, (wie Anm. 84), entnommen. Es handelte sich um den im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer), (wie Anm. 3), S. 175, unter der Nr. Z 5950 verzeichneten Josef Schopper, der am 13.01.1915 im preußischen (später polnischen) Graudenz an der Weichsel geboren und am 03.04.1943 mit einem „Zigeuner“-Transport von deutschen und österreichischen Männern und Jungen und zwölf Frauen und Mädchen ins Lager kam (vgl. Czech, Kalendarium, [wie Anm. 4], S. 458 f.) und zwischen Auschwitz I und Birkenau wechselte. Denn die weiteren Eintragungen bei seinem Namen im Hauptbuch lauten: (Spalte Bemerkungstext:) „Birk.; Rückverl.“ (Bemerkungsdatum:) „19.5.43; 4.7.43“. Bei seinem Kollegen handelt es sich vermutlich um den im Hauptbuch auf S. 102 mit der Nr. Z 3467 versehenen Oskar Adler, am 17.05.1911 in Refül (?) geboren, der am 15.03.1943 angekommen war und am 29.04.1943 auch ins Stammlager Auschwitz I verlegt wurde.

Mit der Geige ins KZ

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Abb. 9: Gerhard Brauns Kapelle im Café Uhlandeck: links mit der Geige vermutlich Heinrich Braun, mit freundlicher Genehmigung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg.

kurze Zeit im „Zigeunerlager“, weil sie im Stammlager gebraucht wurden – aber nicht als Orchestermusiker, sondern um dort in einem der schweren Kommandos zu arbeiten. Josef Schopper lebte später in Fürth, er nahm am 27. Oktober 1979 an der Gedenkkundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen teil und informierte die Presse über Einzelheiten aus den Lagern.159 Im Orchester des Stammlagers Auschwitz spielte nur ein Rom. Es wird der „Zigeuner“ Jakub Segar, ein vorzüglicher Geiger aus Breslau, gewesen sein. Als er am 8. Mai 1942 in einem Sammeltransport mit 35 anderen Häftlingen eingeliefert wurde,160 wurde ihm die Nummer 34901 eintätowiert. Dann musste er die übliche Aufnahmeprozedur – alle Kleidung ablegen – durchstehen, die gerade für ein Mitglied seiner Ethnie eine Entwürdigung ohnegleichen bedeutete. „Als er sich auszog, weinte er und flehte, man möge ihm seine Geige lassen; er wollte sich um nichts auf der Welt von ihr trennen. Dann gab er eine ungewöhnliche Demonstration seiner Fähigkeiten: Ganz nackt, spielte er wie in Trance und entlockte seiner Geige schluchzende Töne.“ Das genügte, um ihn sofort ins Männerorchester aufzunehmen, obwohl er keine Noten lesen konnte; aber er spielte alles einmal Gehörte fehlerlos nach.161 Auch in Birkenau wurden Häftlinge, Männer und Frauen, zu schweren Arbeiten abkommandiert. Gerade in den ersten Monaten des „Zigeunerlagers“ ging es um Bauarbeiten mit Schleppen schwerer Steine, um Grabungsarbeiten für die Kanalisation und 159 So die Fotos und Legenden in: Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen, (wie Anm. 100), S. 82, 132. 160 Vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 208. 161 Vgl. das Zitat und die Ausführungen bei Martyniak, „The Deportation of Roma to Auschwitz“, (wie Anm. 150), S. 10, Fn. 19. Auch Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil 2), Hamburg 1996, S. 56, schreibt von einem Zigeuner, der 1944 im Orchester war; ob es sich noch um Segar handelte, der 1942 eingeliefert, aber später ins Nebenlager Monowitz verlegt wurde und ins dortige Orchester kam, ist ungewiss. Vgl. auch Lachendro, „The Orchestras in KL Auschwitz“, (wie Anm. 77), S. 20 („one Roma“).

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Wasserleitungen und ums Holzfällen, aber auch um kriegswichtige Fabrikarbeit im Nebenlager Monowitz. Aber die meisten „Zigeuner“ wurden nicht zur Zwangsarbeit herangezogen. Das ersparte wenigstens den Männern, die davon verschont blieben und Musiker waren, den Ruin ihrer Hände. Musiker war auch der im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer) am 16. April 1943 unter der Nummer Z 6704 als „Arbeiter“ registrierte, 1903 im österreichischen Neumarkt an der Raab geborene Georg Greis. Er war im Februar 1940 in der ersten Rubrik „Ausschlüsse“ in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer, in der dezidiert „Zigeuner“ genannt wurden, versehentlich gar nicht als solcher deklariert worden (s. o., Abb. 1). Dass er als Arbeiter eingetragen wurde, ist ein Hinweis darauf, dass er vor der Deportation vermutlich zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war. Ein Jahr später, am 13. Juni 1944, wurde er „bis auf Widerruf“ in die Strafkompanie eingewiesen, ebenso wie sein MusikerKollege Ferdinand Sarközi und 18 weitere Roma. Was sich die 20 Männer hatten zuschulden kommen lassen, ist nicht vermerkt. 19 wurden nach zehn Tagen wieder ins „Zigeunerlager“ entlassen, darunter Sarközi, während Georg Greis in der Strafkompanie umgekommen oder umgebracht worden ist.162 Unter den Sintezas und Romnija, die in Auschwitz-Birkenau registriert wurden, gab es auch Frauen, die ihren Beruf mit Musikerin bzw. Sängerin angaben.163 Die ersten „Zigeunerinnen“ waren jedoch bereits ein Jahr früher, im März 1942, nach Birkenau deportiert worden; sie kamen aus dem KZ Ravensbrück.

Exkurs: KZ Ravensbrück

In dieses KZ waren Ende Juni 1939 die bereits erwähnten 440 Frauen und Kinder164 dieser Ethnie aus der „Ostmark“ verschleppt worden, während die 553 Männer nach Dachau kamen. Auch Franziska, die älteste Tochter des schon genannten Musikers Franz Bamberger, war unter ihnen – ob sie wie ihr Vater Musikerin war, ist unbekannt –, auch sie überstand, wie ihr Vater, sechs Jahre im KZ. Damit gehörte sie zu einer kleinen Anzahl von Romnija, die dort nicht zu Tode gequält wurden. Es fing schon bei der Ankunft an: Alle mussten zwei Tage und eine Nacht im Freien verbringen und wurden währenddessen vom Wachpersonal in übelster Weise malträtiert, bevor sie der üblichen Aufnahmeprozedur unterworfen wurden. Sie wurden anfangs zu den schwersten Kommandos eingeteilt, auch die Kinder. Die Kinder waren aber der Grund, warum die Romnija von den Gadje-Frauen mehr Hilfe erhielten, als sie ihren Männern in den Männerlagern zuteilwurde. (Dass die 162 Vgl. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 798. 163 Vgl. zu den Musikerinnen in Birkenau: Verf., „Spuren unbekannter deutscher und österreichischer Musikerinnen. Auf der Suche nach NS-verfolgten Zigeunerinnen und ihrer Geschichte“, in: Kulturelles Handeln – Montage – Musik & Gender – Musikvermittlung – Biographik (= Fs. Beatrix Borchard, zuerst publiziert online am 01.07.2016), https://mugi.hfmt-hamburg.de/Beatrix_ Borchard/index.html%3Fp=110.html, letzter Zugriff: 09.12.2019. 164 Insgesamt wurden von 1939 bis 1945 162 Sinti- und Roma-Kinder ins KZ Ravensburg verschleppt; vgl. dazu Annette Leo, „Ravensbrück – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 4, S. 473–520, hier S. 504.

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Mit der Geige ins KZ

Kinder 1944 von einer jungen „politischen“ Gadji aus dem Sonderblock als „sehr, sehr schmutzig, alle sehr, sehr verwahrlost und alle entsetzlich verdorben“ beschrieben wurden, ist ein Einzelfall.165) Vermutlich konnte Franziska Bamberger auf Dauer in einer Werkstatt unterkommen, denn das dürfte die einzige Möglichkeit gewesen sein, dass überhaupt einige wenige der jüngeren Romnija das KZ Ravensbrück überstanden. Vielleicht gab ihr auch Überlebenswillen, dass sie im Sommer 1942 dort ihren Lebensgefährten, den Musiker Simon Entner, wiedersah. Auch er war wie seine bereits genannten Kollegen aus der „Ostmark“ im Juni 1939 in Wien verhaftet, nach Dachau deportiert und Ende September ins KZ Buchenwald verlegt worden. Er musste dort bis zum April 1942 ausharren und wurde dann für vier Monate ins KZ Ravensbrück überstellt, bevor er über das KZ Dachau ins Lager Lackenbach kam. Dort musste er bis Kriegsende Zwangsarbeit leisten. Das Paar lebte nach dem Krieg in Wien und bekam einen Sohn.166 In Ravensbrück wurden die Romnija und Sintezas wie auch die um den Jahreswechsel 1939/40 eingelieferten deutschen „Zigeunerinnen“167 und die später noch dorthin deportierten Leidensgenossinnen aus dem ehemaligen Österreich und den besetzten Ländern, ebenso wie die Jüdinnen, zu den schwersten Arbeiten gezwungen und hatten die geringsten Überlebenschancen.168 * Am 26. März 1942 wurden 999 deutsche „asoziale“, kriminelle und einige politische weibliche Häftlinge von Ravensbrück ins gerade eingerichtete Frauenlager überstellt. Auch Sintezas und Romnija gehörten dazu; einige von ihnen wurden zu medizinischen Experimenten selektiert. Unter den noch ungleich härteren Bedingungen als in Ravensburg starben von den insgesamt 15.000 bis August 1942 ins Frauenlager eingewiesenen Häftlingen innerhalb von vier Monaten 5000.169 Vermutlich verlegte man die überlebenden Romnija und Sintezas nach Errichtung des „Zigeunerlagers“ im Frühjahr 1943 dorthin. (Ob unter ihnen Musikerinnen waren, lässt sich nicht sagen.) Die noch Arbeitsfähigen unter ihnen wurden, wie bereits berichtet, vor der Auflösung des „Zigeunerlagers“ in Birkenau in drei Transporten von April bis August 1944 wieder zurück nach Ravensburg bzw. nach Buchenwald deportiert. Mindestens eine Musikerin kam aber beispielsweise am 19. März 1943 mit einem Transport aus der Tschechoslowakei ins „Zigeunerlager“: Dora Christ. Noch früher, bereits am 8. März 165 Isa Vermehren, Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: eine Frau berichtet, Reinbek 1979, S. 119 (zuerst veröffentlicht 1946). 166 Nicole Ristow, Art. „Simon Entner“, in: LexM 2017, (wie Anm. 53). 167 Es könnten etwa 160 gewesen sein, gemäß der Schätzung der Blockältesten über die Gesamtzahl von mehr als 600 inhaftierten Sintezas und Romnija im Jahr 1940; vgl. Zimmermann, Rassenutopie, (wie Anm. 16), S. 119. 168 Vgl. Leo, „Ravensbrück – Stammlager“, (wie Anm. 164), S. 479. 169 Franziska Jahn, „Auschwitz (Frauenabteilung)“, in: Der Ort des Terrors, (wie Anm. 12), Bd. 4, S. 523–528, hier S. 526 f. In Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), ist der Transport von „Asozialen“ unter dem Datum des 26.03.1942 verzeichnet (S. 189), ohne dass „Zigeunerinnen“ genannt sind.

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1943, war die 1925 geborene deutsche Geigerin Martha Eckstein aus der Vöhringer Musikerfamilie Eckstein mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Auschwitz deportiert worden; sie überlebte Birkenau und danach auch noch die KZs Ravensbrück und Flossenbürg.170 (Ihr Vater, der Musiker Richard Eckstein, dagegen war schon am 11. Oktober 1942 im KZ Sachsenhausen ermordet worden. Er hatte bis zum Sommer 1942 per Sondergenehmigung noch mit seiner vierköpfigen Kapelle auftreten können, möglicherweise weil er schon von Ritter als „reinrassiger Sinte“ (s. o.) eingestuft worden war. Erst aufgrund des „volksschädliche[n] Verhaltens“ einiger Mitglieder der Kapelle – sie hatten bei ihren Auftritten junge Frauen angesprochen, umgekehrt hatte sich ihnen gegenüber ein Teil der Zuhörerinnen, deren Männer an der Front waren, „derartig aufdrängend“ verhalten, dass es auf die „ehrlichen Frauen verletzend wirkte“ – waren alle Musiker als „Asoziale“ verhaftet und Richard Eckstein im August 1942 nach Dachau und drei Wochen später von da nach Sachsenhausen deportiert worden.171) Doch gibt es neben den zwölf Frauen, die als Sängerin/Musikerin registriert wurden, wie bei den Männern auch solche, die mit einer anderen Berufsbezeichnung ins Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen) eingetragen waren: Wenigstens vier weitere Musikerinnen konnten bisher identifiziert werden, die als Arbeiterinnen galten, offenbar weil sie Zwangsarbeit geleistet hatten, oder die gar keine Berufsbezeichnung erhielten: Ȥ Elisabeth Küfer war im Mai 1940 aus der RMK ausgeschlossen worden.172 Sie war eine von nur drei „Zigeunerin“ genannten Musikerinnen auf den Ausschlusslisten der Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer; die zweite war – wohl ihre Mutter – Friederike Küfer (mit ihnen wurde auch Georg Küfer, vermutlich ihr jüngerer Bruder bzw. Sohn, angeführt), die dritte war die bereits im April ausgeschlossene, erst 17-jährige Frieda Seger aus der Steiermark.173 Anhand der Nummer, die Elisabeth Küfer im Hauptbuch (Frauen) erhielt, lässt sich rekonstruieren, dass die 25-Jährige am 16. März 1943 mit einem großen „Zigeuner“-Transport ins gerade errichtete „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau eingeliefert wurde.174 Sie gilt als verschollen, denn ob sie dort mehr als ein Jahr überleben konnte, im April, Mai oder August 1944 nach Ravensbrück deportiert wurde und damit eine geringe Chance hatte, das „Dritte Reich“ zu überstehen, ist (noch) unbekannt. 170 Am 01.09.1944 wurden die Außenlager des KZs Ravensbrück mit 10.000 weiblichen Häftlingen an das KZ Flossenbürg übergeben, vgl. Skriebeleit, „Flossenbürg – Stammlager“, (wie Anm. 77), S. 46 f. 171 Vgl. dazu Wuttke, Familie Eckstein, (wie Anm. 59), S. 23–27 (Zitate aus dem Schreiben des Bürgermeisters von Bad Langensalza an die Kriminalpolizeileitstelle München vom 03.06.1942 auf S. 25). Richard Ecksteins Bruder Markus Eckstein wurde im KZ Lublin ermordet, sein Neffe Richard Eckstein und der gleichaltrige Franz Kaufmann überlebten die KZ-Haft (ebd., S. 56–61, 48–53, 65–68). 172 Vgl. „Ausschlüsse aus der Reichsmusikkammer“, in: AMdRMK 7/5 (15.05.1940), S. 22. 173 „Ausschlüsse aus der Reichsmusikkammer“, in: AMdRMK 7/4 (15.04.1940), S. 20. Vgl. dazu die drei Artikel von Tobias Behnke, in: LexM 2017, (wie Anm. 53). 174 Sie ist unter der Nummer Z 4015 im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen), (wie Anm. 7), verzeichnet. Czech, Kalendarium, (wie Anm. 4), S. 443.

Mit der Geige ins KZ

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Ȥ Die 20-jährige Rosit(t)a Eckstein, die ältere Schwester der Geigerin Martha, war Tänzerin und Musikerin. Sie hatte vermutlich bereits durch Himmlers „Aktion Arbeitsscheu Reich“ im Sommer 1938 ihre Arbeitsmöglichkeiten verloren und war daraufhin zur Zwangsarbeit u. a. in einer Heeresmunitionsfabrik verpflichtet worden.175 Sie überlebte die KZs Auschwitz und Ravensbrück und mehrere von dessen Außenlagern. Ȥ Paula Held aus Villach in Kärnten, geboren in Oberkirchbach, einem kleinen Ort zwischen Tulln und Wien, war gerade 18 Jahre, als sie Ende April 1943 vom Lager Lackenbach ins „Zigeunerlager“ Birkenau deportiert wurde. Ȥ Erst im April 1944 eingeliefert wurde die 21-jährige Philomena Köhler, geboren im schwäbischen Biberach. Sie war als Kind und Jugendliche mit der Theatergesellschaft und Kapelle ihrer Sintifamilie Haag als Sängerin und Folkloretänzerin in renommierten Varietés des In- und Auslands aufgetreten, bis der Festsetzungserlass den Tourneen 1939 ein Ende machte.176 Sie hatte 1938 von der Mittelschule abgehen und in einer Munitionsfabrik arbeiten müssen. Von Auschwitz-Birkenau kam sie vermutlich mit einem der beiden Transporte mit Frauen vom 15. April bzw. 24. Mai über das KZ Ravensbrück im Juli in das Außenlager Schlieben.177 Nach mehreren Überstellungen wurde sie zuletzt vermutlich im Oktober/November 1944 nach Sachsenhausen in das Außenlager Wittenberg deportiert,178 wo sie eine der 50 bis 80 Rominja und Sintezas unter etwa 500 Frauen war, die Sklavenarbeit im Rüstungsbetrieb der Arado Flugzeugwerke leisten mussten.179 Nach Kriegsende trat sie noch als Sängerin mit ihrem Bruder, einem Jazzgeiger, und weiteren Sinti-Musikern vor US-amerikanischen Besatzungstruppen auf, konnte aber später nicht mehr singen und wechselte den Beruf: Sie wurde Schriftstellerin und wirkte als Zeitzeugin. Rosita Eckstein, Paula Held und die etwas ältere Dora Christ waren, als sie deportiert wurden, trotz ihrer Jugend bereits Mütter. Rosita Ecksteins einjähriger Sohn Peter überlebte die Deportation ins KZ nur um zwei Monate.180 Paula Helds Baby Johann war am 30. Okto175 Wuttke, Familie Eckstein, (wie Anm. 59), S. 53 f. 176 Vgl. den Eintrag unter Nr. Z 10550 im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen), (wie Anm. 7), S. 681 und Tobias Behnke, Art. „Philomena Franz“ [geb. Köhler], in: LexM 2017, (wie Anm. 53). Marianne C. Zwicker, Journeys into Memory: Romani Identity and the Holocaust in Autobiographical Writing by German and Austrian Romanies, Ph. D. University of Edinburgh 2009, Chapter 2: „‚Orte erschaffen‘: The Claiming of Space in Writing by Philomena Franz“ (S. 28–62, hier S. 29) beruft sich auf Franz’ Memoiren (Zwischen Liebe und Haß, Freiburg i. Br. 1985, 21986, 31987, erweiterte Ausgabe – mit dem Untertitel ein Zigeunerleben – Rösrath 2001), wo die Einlieferung irrtümlich um ein Jahr auf 1943 vordatiert ist (ebd., 1985, S. 51) und auch weitere Stationen nicht in einer verlässlichen Chronologie erscheinen. 177 Ein Transport Anfang August aus Buchenwald ist bisher nicht bekannt; dagegen kamen am 19. und 31.07.1944 zwei Transporte aus Ravensbrück in Schlieben an; vgl. Seidel, „Schlieben (Frauen)“, (wie Anm. 78), S. 560. 178 Vgl. Wolff, Kalendarium der Geschichte des KZ Sachsenhausen, (wie Anm. 38), S. 35. 179 Rose und Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“, (wie Anm. 14), S. 52. 180 Vgl. den Eintrag Nr. Z 3194 im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Männer), (wie Anm. 7), S. 94: Peter Eckstein wurde am 27.12.1941 in Vöhringen (der Eintrag lautet: Töhr…en?) geboren, am

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ber 1941 mit seiner Mutter ins Zwangsarbeitslager Lackenbach eingewiesen worden, aber sie kam ohne ihren Sohn am 30. April 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau an. Dora Christ wurde zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter Rosemarie eingeliefert;181 die Kleine starb nach fünf Monaten. Im April 1944 wurde ihre verwaiste Mutter nach Ravensbrück überstellt; seitdem gilt sie als verschollen. Vermutlich konnte sie nicht in einer der Werkstätten unterkommen, die einigen wenigen der jüngeren Romnija die Möglichkeit boten, das KZ Ravensbrück mit Glück zu überstehen. Und vermutlich half diesen wenigen Frauen auch die ihnen gemeinsame Musik.

Epilog: Musik zum Ende in Ravensbrück und Bergen-Belsen In der letzten Phase der Auflösung des NS-Systems wurde in manchen KZs viel Musik gemacht. Einige Sinti- und Roma-Häftlinge von Bergen-Belsen hatten Musikinstrumente; und sie spielten offenbar nicht nur „missbrauchte Musik“ auf Befehl der SS: [Sie] spielten den ganzen Tag Tanzmusik, während zweitausend Männer Leichen nach den Massengräbern schleppten. Es hatte immer Geigen und Gitarren im Lager gegeben, und ein paar Zigeuner hatten abends oft ein wenig Musik gemacht. In den letzten Tagen aber gab es plötzlich eine vollständige Kapelle. Die SS ermunterte sie, indem sie Zigaretten gab; und so spielte sie im Freien vom Morgen bis zum Abend, und die Leichen schleiften über die Steine, und die SS-Männer hieben mit Stöcken und Peitschen auf die stolpernden Gefangenen ein – zu Melodien von Lehár und Johann Strauß. Die Zigeuner spielten sogar bei Nacht. [… Sie] wanderten von Baracke zu Baracke, spielten ein paar Stücke, sammelten kleine Geschenke und gingen weiter. Sie besuchten unsere Baracke um 11 Uhr, dann wieder um zwei und schließlich noch einmal um fünf. Einige Insassen waren dagegen, nannten es Irrsinn und Dummheit, während andere froh waren, etwas Unterhaltung zu haben.182

14.03.1943 ins KZ Auschwitz eingeliefert, mit dem jüngeren Bruder seiner Mutter, deren Großvater samt fünf von dessen Söhnen registriert und dort am 20.?.1943 umgebracht (nach Wuttke, Familie Eckstein, [wie Anm. 59], S. 54, starb er im Mai). 181 Beide sind im Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen), (wie Anm. 3), S. 339/40 registriert unter Nr. Z 5266 (Christ/Dora/geb. 25.3.1919/Fulda/Musikerin/Transp./15.4.1944 [nach Ravensbrück]) und Z 5267 (Christ/Rosemarie/geb. 27.1.1940/Dingolfing/gest./23.8.1943). 182 So in Jaroslav Pirouteks unveröffentlichtem Tagebuch (tschech.) in der Gedenkstätte Terezín, zit. n. Thomas Rahe, „Sinti und Roma im Konzentrationslager Bergen-Belsen“, in: Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus, hrsg. von Hans-Dieter Schmid (= Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 14), Bremen 2012, S. 108–126, hier S. 118; [Rudolf Küstermeier,] „Wie wir in Belsen lebten. Ein Rückblick von Rudolf Küstermeier“, in: Derrick Sington, Die Tore öffnen sich, Hamburg 1948, S. 87–124, hier S. 120, zit. bei Rahe, ebd., S. 117 f. Es soll sogar einen Überfall französischer politischer Häftlinge auf eine der Kapellen gegeben haben, um mit deren Instrumenten selbst zu musizieren (Yves Béon, Planet Dora. Als Gefangener im Schatten der V2-Rakete, Gerlingen 1999, S. 247 ff., zit. bei Rahe, ebd., S. 118).

Mit der Geige ins KZ

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In diesem KZ wurde aber vor allem viel gesungen, gerade in den Frauenbaracken. Auch das gemeinsame Singen und Tanzen im KZ Ravensbrück, an das sich Philomena Franz (geborene Köhler) später erinnerte, bot nicht nur Ablenkung und Unterhaltung. Eine der mit ihr dort inhaftierten Gadjis beschrieb später, wie die Musik aus dem Zigeunerblock klang: „Der Wind trägt eine Melodie durchs Lager, fremd, schwermütig, plötzlich feurig, stark rhythmisch […]. Das kommt aus dem Zigeunerblock. Die singen und tanzen andauernd, singen sich nachts in den Schlaf, haben schon oft genug Prügel dafür einstecken müssen.“183 Die Sintezas und Romnija unter sich in ihrem Block machten ihre „eigene“ Musik, das Singen diente dem Zusammenhalt und der Versicherung der eigenen Identität.184 Zudem hatte ihr Gesang die Kraft zur plötzlichen Verwandlung („schwermütig, plötzlich feurig“), und dadurch mobilisierten die Frauen offenbar ihre letzten Reserven. Ähnliches erfuhr die französische Gadji und ehemalige Musikerin aus dem Frauenorchester von Auschwitz, Fania Fénelon, wie sie vor mehr als 40 Jahren beschrieb: Als der Typhus sie trotz der Befreiung des KZs Bergen-Belsen schon fast besiegt hatte, erweckte sie buchstäblich in letzter Sekunde ihre erlöschenden Lebensgeister wieder durchs Singen der Marseillaise.185

183 Bericht von Berta Teege, in: Christa Wagner, Geboren am See der Tränen, Berlin 1988, S. 154, zit. n. Barbara Danckwortt, „Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Ravensbrück“, in: Verfolgung der Sinti und Roma im NS, (wie Anm. 182), S. 81–98, hier S. 87. 184 Rahe, „Sinti und Roma im KZ Bergen-Belsen“, (wie Anm. 182), S. 198. 185 Fania Fénelon, Das Mädchenorchester in Auschwitz, München 1981, S. 9 f., (französische Erstausgabe Paris 1976).

Frank Harders-Wuthenow

Verarbeitung oder Sublimierung Holocaust-Reflexion in Opern von Mieczysław Weinberg, André Tchaikowsky, Szymon Laks und Tadeusz Zygfryd Kassern

Prolog Der Holocaust, das zeigt die Praxis, scheint nur sehr bedingt ein Thema für die Opernbühne zu sein. Die Gründe sind offensichtlich. Zu groß ist das Unbehagen, das sich einstellt, wenn diesem inkommensurablen Akt der Barbarei, an dem die Kategorien der Ethik scheitern, mit ästhetischen Mitteln begegnet werden soll. Claude Lanzmann (1925–2018) sprach im Hinblick auf die Darstellung des Holocaust im Unterhaltungsgenre Film und im konkreten Bezug auf Steven Spielbergs Schindlers Liste vom „ontologischen Konflikt über das, was das Kino und die Shoah miteinander machen können. Oder nicht miteinander machen können. Oder nicht miteinander machen dürfen.“1 Die Oper, die aufgrund ihrer musikalischen Anteile nie nur dokumentarisch sein kann, setzt sich in noch weit größerem Masse als der Film dem Vorwurf der manipulativen Fiktionalisierung aus. Allerdings findet durch die unvermeidliche Ästhetisierung des Grauens nicht automatisch dessen Relativierung oder Verharmlosung statt. Die seltene Behandlung des Themas im Musiktheater korreliert mit der grundsätzlichen Zurückhaltung von Komponisten gegenüber Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Dazu kommt die nicht unbegründete Furcht der Intendanten vor dem leeren Zuschauerraum. Bis vor wenigen Jahren jedenfalls war die Auseinandersetzung des Musiktheaters mit dem Holocaust auf Werke parabelhaften Charakters zweier tschechisch-jüdischer Komponisten beschränkt, auf Viktor Ullmanns (1898–1944) Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung (1943/44) und Hans Krásas (1899–1944) Kinderoper Brundibár (1938/42). Beide Komponisten, die zur Elite des europäischen Musiklebens vor 1933 gehörten, waren in Theresienstadt interniert und wurden im November 1943 in Auschwitz umgebracht. Beide Werke thematisieren den Holocaust nicht direkt, sind aber durch ihre Thematik und als Zeugnisse des künstlerischen und geistigen Widerstandes gegen die Nazi-Barbarei eng mit ihm verbunden. Obwohl sie aus ihrem Entstehungskontext nicht zu lösen sind und bei Aufführungen auch immer in einen Gedenk-Rahmen gestellt werden, gehören sie inzwischen, nicht zuletzt aufgrund ihrer hohen künstlerischen Qualität, zum Kanon des Musiktheaters des 20. Jahrhunderts. Das aus französischen Opernund Operettenentlehnungen zusammengestellte Pasticcio Le Verfügbar aux Enfers von Germaine Tillion (1907–2008), das erst 2007 zum 100. Geburtstag dieser Überlebenden des Konzentrationslagers Ravensbrück am Théâtre du Châtelet in Paris erstmals öffentlich 1 Siehe: https://www.zeit.de/2013/46/regisseur-claude-lanzmann, letzter Zugriff: 18.04.2019.

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aufgeführt wurde, gehört als nichtautonomes Werk des Musiktheaters nur bedingt in den Kontext dieser Betrachtungen. Und auch die wenigen Versuche, dem Thema Auschwitz mit Mitteln des zeitgenössischen Musiktheaters näherzukommen, bestätigen eher die eingangs aufgestellte These. Stefan Heuckes (geb. 1959) 2006 in Krefeld uraufgeführte dokumentarische Oper Das Frauenorchester von Auschwitz, die auf Fania Fénélons (1922–1983) 1976 erschienenem gleichnamigen Überlebensbericht beruht, blieb ohne Nachspiel. Marc-André Dalbavies (geb. 1961) Oper Leben? Oder Theater? von 2014, ein Auftrag der Salzburger Festspiele, eine Adaption der Autobiografie der französischen Malerin und Schriftstellerin Charlotte Salomon (1917–1943), erlebte zumindest ihre deutsche Erstaufführung im Januar 2017 am Theater Bielefeld. Erkki-Sven Tüürs (geb. 1959) im Auftrag der Oper Dortmund komponierte Oper über den Schweden Raoul Wallenberg, der 1944 über hunderttausend ungarischen Juden das Leben rettete, brachte es nach ihrer Uraufführung 2001 bisher zu einer einzigen Folgeproduktion 2015 in Karlsruhe.

Vorhang Simon (Szymon) Laks, polnischer Komponist jüdischer Abstammung, seit 1926 in Paris ansässig, wird am 14. Mai 1941 von den Vichy-Behörden inhaftiert und im Lager Beaunela-­­Rolande in der Nähe von Orléans interniert. Am 17. Juli 1942 erfolgt nach 14 Monaten Zwangsarbeit die Deportation nach Auschwitz-Birkenau, wo er die Häftlingsnummer 49.543 erhält. Über eine denkwürdige Episode auf dieser unfreiwilligen Reise quer durch Europa berichtet er auf den ersten Seiten seines Buches über sein Überleben und die Rolle der Musik in Auschwitz Gry oświęcimskie (Auschwitzer Spiele, in der deutschen Ausgabe Musik in Auschwitz): Es gelingt mir, mich in einem Moment durch diese aus zusammengepferchten Menschenleibern bestehende Mauer zu einem vergitterten Fenster zu drängen – dem einzigen im ganzen Waggon –, um ein wenig frische Luft zu atmen. Der Zug beginnt eben zu bremsen und hält dann vor einem Gebäude, das an einen Bahnhof erinnert. Die relative Nähe zu dem Gebäude macht es mir möglich, einen Schriftzug zu lesen – einen Ortsnamen … Viele Jahre zuvor stand ich in Wien vor dem Haus, in dem Beethoven gestorben war. Ich blieb lange Zeit stehen und studierte die Tafel, die dem interessierten Passanten mitteilte, dass in diesem Hause am 26. März 1827 der Komponist Ludwig van Beethoven gestorben sei, mehrere Male Wort für Wort. Damals überkam mich eine nie gekannte Rührung, und in mir regte sich, als ich das Haus verließ, der Wunsch, auch einmal in Leipzig jenes Haus zu sehen, in dem das Leben von Johann Sebastian Bach geendet hatte. Und nun wird mein Wunsch auf eigenartige und gewisser Maßen umgekehrte Weise erfüllt: Der Ort, an dessen Bahnhof der Zug hält, heißt Eisenach. Und in eben diesem Eisenach war am 21. März 1685 Johann Sebastian Bach geboren worden. Dies ist seit meiner Deportation das erste Zusammentreffen mit der Musik.2

2 Simon Laks, Musik in Auschwitz, Berlin 2018, S. 28.

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Eisenach, eine kleine Stadt in Thüringen, Auschwitz, eine kleine Stadt in Schlesien: Schockartig wird im Aufeinanderprallen dieser beiden Ortsnamen die Inkommensurabilität von kultureller Höchstleistung und schrecklichstem Verbrechen deutlich, zu denen deutscher Geist sich aufzuschwingen und deutscher Ungeist sich zu erniedrigen in der Lage waren. In diesem Raum zwischen Bach und Barbarei entwickelt sich die Handlung von Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin. In diesen Raum stellt Simon Laks die Frage, wie Menschen, die die Musik Bachs und Beethovens lieben, wie die SS-Schergen in Birkenau, in der Lage sind, Menschen mit eigenen Händen zu Tode zu quälen. Sie wird in André Tchaikowskys3 Oper The Merchant of Venice ex negativo reflektiert, der die berühmtesten Verse Shakespeares über die Musik nicht vertont, weil Auschwitz gezeigt hat, dass ihnen nicht zu trauen ist: „The man that hath no music in himself, Nor is not moved with concord of sweet sounds, Is fit for treasons, stratagems and spoils, The motions of his spirit are dull as night, And his affections dark as Erebus: Let no such man be trusted: – mark the music.“4 Ich möchte im Folgenden vier polnische Komponisten jüdischer Abstammung vorstellen, die den Holocaust überlebten und in deren künstlerischem Gesamtwerk die Verarbeitung des Holocaust eine zentrale Rolle spielt. Mehr als das: Obwohl ihre Biografien nach dem Zweiten Weltkrieg höchst unterschiedlich verliefen, kulminierte das Schaffen dieser vier in Werken für das Musiktheater, die – in höchst unterschiedlicher Weise – die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zum Ausgangpunkt haben. Diese vier polnischen Komponisten gehören zweifellos zu den originellsten ihrer Generation, und es ist bezeichnend, dass sie mit der Ausnahme von Weinberg – der seinen Weg ins internationale Musikleben allerdings auch eher als sowjetischer denn als polnischer Komponist gemacht hat – erst seit Kurzem und auch nur zaghaft zur Kenntnis genommen werden. Im Falle von Kassern steht eine Wiederentdeckung noch vollends aus. Es ist bezeichnend vor allem, dass – mit der Ausnahme von Laks’ Oper Die unerwartete Schwalbe, die 1975 vom polnischen Fernsehen im Studio produziert wurde – keiner der Komponisten die Uraufführung seines opus summum erlebte und dass – wieder mit Ausnahme von Weinbergs Passagierin – die hier vorgestellten Werke bis heute in Deutschland auf keiner Bühne zu sehen waren. Kasserns Oper Der Gesalbte wartet seit ihrer Vollendung 1951 in New York auf ihre Uraufführung.

1. Akt – Mieczysław Weinberg: Пассажирка – Die Passagierin 1968, im Alter von 49 Jahren, vollendete Mieczysław Weinberg (8. Dezember 1919–26. Fe­ bruar 1996) seine erste Oper Пассажирка (poln. Pasażerka, Die Passagierin), die er selbst als sein Hauptwerk bezeichnete. 38 Jahre sollten vergehen bis zu ihrer ersten öffentlichen Aufführung im Konzert 2006 in Moskau, weitere vier bis zu ihrer szenischen Uraufführung in Bregenz 2010. Der krankhafte Antisemitismus Stalins, der in die kulturpolitischen Dok3 André Tchaikowsky behielt die französisierte Variante seines polnischen Namens Andrzej auch im Exil in England bei. Im Folgenden wird auch Laks’ Vorname in der von ihm gebrauchten französischen Version verwendet. 4 William Shakespeare, The Merchant of Venice, Stuttgart 1975, S. 156 f.

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trinen im sozialistischen Ostblock einfloss, verunmöglichte wohl auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Auschwitz auf der Opernbühne in der Sowjetunion, und das bis in Weinbergs späte Jahre, als er längst die höheren Weihen des Staatskünstlers genoss. Weinbergs Biograf David Fanning führt als weiteren möglichen Grund für das Verbot der geplanten Uraufführung am Bolschoi-Theater durch das Kultusministerium die Probleme der sowjetischen Obrigkeit mit der Erinnerung an den Holocaust an, „gegenüber der ihr das kolossale Ausmaß der russischen Verluste während des Krieges zu kurz zu kommen schien.“5 Eine andere Hypothese spricht von der natürlich nicht unbegründeten Befürchtung der Behörden, dass Parallelen gezogen werden könnten zwischen den Nazi-Konzentrationslagern und den Abb. 1: Mieczysław Weinberg, sowjetischen Gulags. Foto: Olga Rakhalskaya, Archiv Weinberg, 1919 in Warschau geboren, wuchs im Milieu Tommy Persson. jüdischer Theatertruppen auf, in denen sein Vater als Geiger und Komponist tätig war. Bereits als Zwölfjähriger begann er mit dem Klavierstudium am Warschauer Konservatorium. Als die Deutschen Ende September 1939 in Warschau einmarschierten, floh er zunächst nach Minsk, wo er am Konservatorium in der Kompositionsklasse des Rimski-Korsakow-Schülers Wassili Solotarjow (1872–1964) studierte, 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dann weiter nach Taschkent. Dort fand er sich inmitten einer Kolonie von Moskauer Intellektuellen und Künstlern wieder, die in die usbekische Hauptstadt evakuiert worden waren. Unter ihnen befand sich auch der sowjetische Staatsschauspieler Solomon Michailowitsch Michoels (1890–1948), dessen Tochter Natalja Weinberg 1942 heiratete. In Taschkent komponierte Weinberg 1942 seine 1. Symphonie, die er der Roten Armee widmete. Weinberg, dessen Eltern und Schwester den Holocaust nicht überlebten, war der Sowjetunion zeitlebens dankbar für seine Rettung, auch in Zeiten des schlimmsten stalinistischen Terrors. Eine Kopie der Sinfonie gelangte zu Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), der so beeindruckt war, dass er Weinberg nach Moskau holte und alles tat, um dem gerade 24-jährigen polnischen Flüchtling den Weg ins sowjetische Musikleben zu ebnen. Mit Schostakowitsch verband Weinberg bis zu dessen Tod 1975 eine enge Freundschaft. Schostakowitsch war es auch, der Weinberg mit dem Stoff zur Passagierin bekannt machen sollte. Im Januar 1948 ließ Stalin Weinbergs Schwiegervater Solomon Michoels ermorden. 1942 noch hatte Stalin Michoels zum Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees wählen lassen. Als eine der ersten Maßnahmen im Rahmen der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne wurde das Komitee nach Michoels Ermordung aufgelöst. Um einen Vorwand für weitere Verhaftungen und Liquidierungen zu haben, ließ Stalin im Januar 1953 ein angeblich von langer Hand geplantes Komplott zu seiner Ermordung durch jüdische Ärzte aufdecken. In dieser sogenannten „Ärzte-Affäre“ musste nun Solomons Cousin Miron 5 Nach: David Fanning, Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit, Hofheim 2010, S. 134.

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Abb. 2: Mieczysław Weinberg, Foto: Olga Rakhalskaya, Archiv Tommy Persson.

Wowsi (1897–1960) als Sündenbock herhalten, der bis eine Woche vor seiner Verhaftung die Stelle des Cheftherapeuten der Roten Armee innehatte. Weinberg wurde als Mitglied der Familie in Sippenhaft genommen und landete mit Miron Wowsi und den anderen angeklagten Ärzten in der Lubjanka, dem Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes. Es gilt als relativ sicher, dass er sein Überleben dem Tod Stalins im März 1953 verdankte, denn wenige Monate später wurde er aus der Haft entlassen.6 Weinberg lebte also zwischen seinem 20. und 35. Lebensjahr in einem Umfeld quasi permanenten antisemitischen Terrors, durch den er seine Familie in Polen und Mitglieder der Familie seiner ersten Frau in der Sowjetunion verlor. Diesem Terror, der sich gegen seine ethnische Herkunft richtete, gesellen sich ab der zweiten Hälfte der 40er Jahre während der Zeit der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne und der Etablierung der Doktrin des sozialistischen Realismus die Attacken der stalinistischen Kunstrichter gegen seine Musik hinzu. Nur vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung eines Werkes wie Die Passagierin zu begreifen und die menschliche, vielleicht sogar übermenschliche Größe, deren es zu seiner Realisierung bedurfte. Die Passagierin ist die erste Oper, in der die Hölle von Auschwitz auf der Bühne dargestellt wird. Die Auschwitz-Überlebende Zofia Posmysz (geb. 1923), auf deren gleichnamigem, 1962 in Polen erschienenem Buch die Oper beruht, hatte gegen dessen Verwandlung in ein Libretto keine Einwände erhoben. Es stand nicht im Widerspruch zu ihrem Auftrag, Zeugnis abzulegen, das Erlebte zukünftigen Generationen zu vermitteln, um zu verhindern, dass sich Ähnliches wiederholt. So war ihre erste Reaktion auch eher Verblüffung denn Ablehnung, als Alexander Medwedew (1927–2010) sie in Warschau um Erlaubnis bat, ihren Roman für Weinbergs Opernprojekt zu verwenden. Und von Weinberg selbst gibt es zahlreiche Aussagen darüber, dass die künstlerische Verarbeitung der Gräuel des 20. Jahrhunderts immer das wichtigste Movens seines Schaffens war. Was Die Passagierin zu einem der bedeutendsten Werke des Musiktheaters des 20. Jahrhunderts macht, ist zum einen ihre Authentizität. Das Gefühl der Anmaßung, das uns bei 6 Zu Weinbergs Biografie siehe vor allem: ebd.

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dem Gedanken an Opernsänger in der Rolle von KZ-Häftlingen kommen könnte, entsteht in keinem Augenblick, allein weil wir wissen, dass die, die die Geschichte für uns erzählen, nicht nur dazu berufen sind, sondern weil uns ein ungeschriebener Pakt mit ihnen verbindet. Weil wir Teil eines Vorgangs sind, der vermutlich überhaupt nur mit den Mitteln des Musiktheaters herzustellen ist, in dem durch die Freisetzung eines übergroßen Maßes an Empathie eine kollektiv erfahrene Erschütterung erzeugt wird, die vermutlich dem sehr nahe kommt, was die Griechen als Katharsis bezeichneten. Die Bedeutung der Passagierin besteht vor allem aber auch darin, dass es den Autoren gelungen ist, den dokumentarischen Aspekt des Stoffes vollkommen zu transzendieren, ihn dergestalt aufzuarbeiten, dass wir vom Grauen des real Geschehenen hingelenkt werden zu den überzeitlichen Fragen, die sich aus Auschwitz stellen, wie die nach Schuld, Sühne, Würde, Vertrauen, Liebe und Freiheit, was der Passagierin eine geradezu Dostojewski’sche Wucht verleiht und sie hinsichtlich ihrer Wirkung in die Nachbarschaft von Alban Bergs Wozzeck, Benjamin Brittens Peter Grimes oder Bernd Alois Zimmermanns Soldaten rückt. Ein erster, wesentlicher Distanzierungseffekt wird dadurch erzielt, dass die Episode in Auschwitz, um die sich die Oper dreht, nicht aus der Perspektive der Opfer erzählt wird, sondern aus der Perspektive einer Mittäterin, der Aufseherin Lisa. Diese befindet sich im Jahre 1960 mit ihrem Mann Walter an Bord eines Ozeandampfers, der sie nach Südamerika bringen wird. Walter ist auf dem Weg, einen diplomatischen Posten in Brasilien anzutreten. Während der Überfahrt sieht Lisa an Deck eine Frau, in der sie eine ehemalige Insassin des Konzentrationslagers Birkenau zu erkennen glaubt, wo Lisa als Aufseherin diente. Sie gesteht Walter ihre NS-Vergangenheit. Walter macht ihr heftigste Vorwürfe, weil er mit der Entdeckung von Lisas Vorgeschichte das Ende seiner Karriere befürchtet. Noch bevor wir über die tatsächliche Identität der Mitreisenden aufgeklärt werden, erfahren wir in Rückblenden, was sich in Auschwitz ereignet hat. Dort versucht Lisa, die polnische Jüdin Marta zur Vertrauensperson zu machen, weil sie weiß, dass sie über sie größeren Einfluss auf die Gefangenen im Block haben könnte. Doch Marta lässt sich nicht instrumentalisieren. Lisa ermöglicht Marta heimliche Treffen mit ihrem Geliebten, dem Geiger Tadeusz, der ebenfalls in Auschwitz gefangen gehalten wird. Auch diese Vergünstigungen können Marta nicht korrumpieren. Lisa rächt sich an Marta, indem sie sie in den Todesblock schickt. Tadeusz verteidigt seine Würde, indem er einer Aufforderung des Lagerkommandanten nicht nachkommt, dessen Lieblingswalzer zu spielen, sondern vor versammelter SS-Riege die d-Moll-Chaconne von Bach intoniert. Zofia Posmysz baut ihre Erzählung geschickt auf einer Spiegelkonstellation auf, in der sich die Situationen der beiden Paare gegenseitig reflektieren. Diese findet ihre Entsprechung in einer zeitlichen Achse – Gegenwart/Vergangenheit –, um die der Handlungsverlauf rotiert, und einer ethisch-philosophischen. Der Lüge, auf der die Beziehung des deutschen Paares beruht, steht die Wahrheit der Liebe zwischen Marta und Tadeusz gegenüber; der aus schuldhaften Verstrickungen resultierenden Unfreiheit, in der die Deutschen gefangen sind, die sich von aller Verantwortung freisprechen, die Freiheit der Gefangenen, die ihre Würde im Angesicht des Todes nicht preisgeben. Der Liebe von Tadeusz und Marta steht der hundertund tausendfache Hass der gequälten Kreaturen gegenüber, die Lisa als Bürde ihres Lebens mit sich trägt. Die psychologische Dimension der Erzählung wird in der Bregenzer Urauf-

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Abb. 3: Mieczysław ­Weinberg, Die Passagierin, Bregenz 2010, Foto: Karl Forster.

führungsinszenierung von David Pountney (geb. 1947) genial ins Bild gesetzt. Auschwitz, auf der unteren Bühnenhälfte, steht für das Verdrängte, das in der Gestalt Martas aus der Vergangenheit nach oben ins Bewusstsein will, in die Gegenwart der Schiffsreisenden. Das Schiff wird so zur Metapher für die Flucht vor der Vergangenheit, der man doch nicht entkommen kann, weil sie auf der Lebensreise immer mitfährt. Die beiden Zeit- und Handlungsebenen wechseln sich im Verlauf der Oper kontinuierlich ab, bis sie am Ende eins werden. Trat Lisa entweder in der oberen oder in der unteren Ebene auf, führt Marta sie am Ende wie eine Erinnye direkt aus der Gegenwart in die Hölle ihrer Erinnerung hinab. Genial setzt Weinberg diese chiastische Grundanlage des Werkes in seiner Partitur um. Als die Kapelle beim abendlichen Tanz an Bord auf Bitten der ominösen Mitreisenden ebenden Walzer intoniert, den Tadeusz sich weigerte vor dem Kommandanten zu spielen, wird Lisa klar, dass es sich bei der Unbekannten um Marta handeln muss. Die grotesk verzerrten Klänge dieses Walzers präludieren ihrem Abstieg in die Unterwelt, wo Tadeusz auf dem Höhepunkt der Oper den deutschen Barbaren Bachs d-Moll-Chaconne vorspielt – eine Idee übrigens, die Weinberg und Medwedew in das Libretto eingebracht haben – und sich mit diesem Affront sein eigenes Todesurteil ausstellt.7

7

Siehe dazu auch: Michał Bristiger, „Auschwitz erinnern, Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin“, in: Osteuropa, 60. Jg., 7/2010, S. 159–171.

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2. Akt – Tadeusz Zygfryd Kassern: The Anointed – Der Gesalbte Tadeusz Zygfryd Kassern (19. März 1904–2. Mai 1957) gehörte neben Andrzej Panufnik (1914–1991) und Roman Palester (1907–1989) zu den führenden Persönlichkeiten des polnischen Musiklebens unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Alle drei sagten sich vom kommunistischen Polen los und gingen Ende der 1940er respektive Anfang der 1950er Jahre ins Exil. Während Panufnik, der in England an seine polnische Dirigentenkarriere anknüpfen konnte, bald auch als Komponist internationale Anerkennung erfuhr, bedeutete für Palester und Kassern das Exil in Deutschland respektive den USA das künstlerische Aus. Ihre Namen sind heute selbst in Polen nur noch wenigen Experten bekannt. Kassern8 machte eine brillante Doppelkarriere als Musiker und Jurist in Posen, wo er in der Staatsanwaltschaft tätig war. Ab September 1939 arbeitete er zunächst mit falschen Papieren in einer Buchhandlung in Krakau, dann tauchte er in Warschau unter. Den Gettoaufstand erlebte er als Augenzeuge, wie Władysław Szpilman (1911–2000), in einem Versteck auf der arischen Seite, jenseits der Gettomauer. Im Dezember 1945 ging Kassern als Kulturattaché des polnischen Konsulats nach New York. 1947 wurde er zum Konsul ernannt, im selben Jahr übernahm er die Stelle des polnischen Gesandten für kulturelle Angelegenheiten bei der UNO. Große Anerkennung gewann er durch seine Hilfsaktionen für polnische Musiker und seinen unermüdlichen Einsatz für die Verbreitung der polnischen Musik in den USA. Witold Lutosławski (1913–1944) apostrophierte ihn liebevoll als „Erzengel Gabriel der polnischen Musiker“.9 Im November 1948 wurde Kassern aus New York nach Warschau ins Kultusministerium zitiert. Nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche sollte er auf Parteilinie gebracht werden, als Belohnung gab es die Stelle des Generalkonsuls in London und Geld für die Komposition einer Oper, ein Projekt, das seit der Warschauer Leidenszeit in Kassern reifte. Doch das Ministerium lehnte das Sujet ab. Kassern erklärte die Umstände in einem Brief vom 22. Oktober 1950 an den österreichischen, ebenfalls in den USA exilierten Dirigenten Julius Rudel (1921–2014):10 Ich schlug ihnen eine Oper mit dem Titel Der Gesalbte vor, zum Gedenken der Opfer des GhettoAufstands. Aber ich wurde streng zurechtgewiesen, und man verbot mir, diese Oper zu komponieren, denn die kommunistische Regierung sah darin die Begünstigung jüdisch-nationalistischer Tendenzen, und dagegen gingen sie strikt vor.11

Kassern kehrte im Dezember 1948 nach New York zurück, legte sofort seine politischen Ämter nieder und gab die polnische Staatsbürgerschaft auf. Seine Republikflucht hatte die   8 Zu Kasserns Biografie siehe vor allem: Violetta Kostka, „An Artist as the Conscience of Humanity. Life in Emigration and the Artistic Output of Tadeusz Zygfryd Kassern“, in: Musicology Today, 8/2011, S. 134–162.   9 Ebd., S. 134. 10 In dessen Funktion als Headmaster des Third Street Music School Settlement in New York. 11 Nach: Kostka, „Life in Emigration“, (wie Anm. 8), S. 137 f. (Übers. FHW).

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Abb. 4: Tadeusz Zygfryd Kassern, Kasserns Diplomatenpass, Polnisches Komponistenarchiv in der Warschauer Universitätsbibliothek.

vollständige Ächtung in Polen zur Folge. Kompositionsaufträge wurden zurückgezogen, die Veröffentlichung seiner Werke eingestellt, Aufführungen seiner Musik untersagt. 1951 erfolgte der Ausschluss aus dem Polnischen Komponistenverband. In den ersten fünf Jahren seines USamerikanischen Exils durchlebte er zudem die demütigenden, kafkaesken Auswirkungen des Kalten Krieges, die ihn bis zum Freitodversuch trieben – es war die Hochphase der McCarthy-Ära. Mehrere Ersuchen um die Anerkennung des Einwanderungsstatus als notwendige Vorstufe zur Einbürgerung wurden von höchster Stelle abgelehnt. Den amerikanischen Einwanderungsbehörden war selbst ein antikommunistischer politischer Flüchtling suspekt. Kassern lehrte in diesen Jahren u. a. als Dozent an der New School for Social Research und an der Dalcroze School of Music und wurde für musikalische Einrichtungen und Bearbeitungen von der New York City Opera engagiert. Eine Aufführung des „Adagios“ aus seinem während des Krieges entstandenen Konzert für Streichorchester durch die New Yorker Philharmoniker im Januar 1954 war die einzige prominente Aufführung eines Werkes von ihm in den USA nach seiner Exilierung. Am 2. Mai 1957 erlag er in New York einem Krebsleiden. Kasserns Hauptwerk, seine einzige vollendete Oper The Anointed (Der Gesalbte), entstand zwischen 1949 und 1951 dank eines Stipendiums der Koussevitzky Music Foundation. Zugrunde liegt ihr ein Schauspiel des polnischen Schriftstellers, Philosophen und Übersetzers Jerzy Żuławski (1874–1915), Koniec Mesjasza (Das Ende des Messias) von 1911. In diesem Stück beschäftigt sich Żuławski mit den Problemen von Führerschaft, Märtyrertum und Erlösung, die er später in den philosophischen Science-Fiction-Romanen seiner

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Mond-Trilogie weiterentwickelte, seines bekanntesten und einflussreichsten Werks. Żuławski schrieb ein Libretto für Ludomir Różyckis (1883–1953) Oper Eros und Psyche, die 1917 in Breslau uraufgeführt wurde und in der Saison 2017/18 an der Warschauer Nationaloper eine erfolgreiche Wiederbelebung erfuhr.12 Dieses Libretto interessierte auch Kassern, der 1954 mit der Komposition von Eros und Psyche begann, die Oper aber nicht vollenden konnte.13 Was an Żuławskis Schauspiel fasziniert, möchte an der Umarbeitung in ein Opernlibretto durch einen Holocaust-Überlebenden zunächst befremden, wird aber verständlich durch die Widmung des Werkes: dem Gedenken der Opfer des Warschauer Gettoaufstands. Denn es ist die Geschichte des Scheiterns der Befreiung des jüdischen Volkes aus dem Joch islamischer Unterdrückung während des Osmanischen Reiches in der Türkei im 17. Jahrhundert, in der sich das Scheitern des Aufstandes gegen die Nazi-Diktatur spiegelt. Erzählt werden Episoden aus dem Leben des 1626 in Smyrna geborenen jüdischen Gelehrten Schabbtai oder Sabbatai Zwi, Begründer des nach ihm benannten Sabbatianismus, der sich nach einem Erweckungserlebnis 1648 tatsächlich für einen Propheten hielt. 1665 rief er sich zum ­Messias aus und wurde anschließend unter zahlreichen Juden Europas und des Nahen Ostens zeitweilig auch als solcher anerkannt und begrüßt. In Konflikt mit offiziellen Repräsentanten des Judentums und auf Konfrontationskurs mit den islamischen Machthabern, wurden er und seine Gefolgschaft Anfang 1666 in Konstantinopel festgenommen. Der Aufforderung, seine Unsterblichkeit zu beweisen, indem er sich den Pfeilen eines Janitscharen-Kommandos stellt, wich er aus und konvertierte gemeinsam mit seiner Frau zum Islam. In der Oper unterliegt der von Gott erwählte Zwi dem Menschen Zwi im Konflikt zwischen Geist und Fleisch, er „scheitert“ am Lieben und Geliebt-Werden, an der Unfähigkeit, das Menschlich-Allzumenschliche durch Askese und Selbstgeißelung zu überwinden. Ein weiteres Mal vollzieht sich das Drama der Juden in der getäuschten Hoffnung auf einen Erlöser.

3. Akt André Tchaikowsky: The Merchant of Venice – Der Kaufmann von Venedig André Tchaikowsky (1. November 1935–26. Juni 1982) wurde als Robert Andrzej Krauthammer in Warschau geboren. Genau zwei Monate vor seinem vierten Geburtstag überfielen die Deutschen Polen, und Andrzej landete mit seiner Großmutter Celina, seiner Mutter Felicja und deren zweitem Mann im Warschauer Getto. Celina, eine außerordentlich couragierte Frau, verließ das Getto, nahm eine falsche Identität an und besorgte arische Papiere für ihre Tochter und ihren Enkel. Andrzejs Mutter blieb jedoch im Getto bei ihrem Mann. Sie starb in Treblinka. Andrzej hingegen überlebte den Krieg in zahlreichen Verstecken, die Celina organisierte. Der in Polen nicht ungewöhnliche Namen Czajkowski wurde ihm nicht nur zur Tarnung verpasst, sondern weil Celina ihm eine Musikerkarriere vorbestimmte. Andrzej wurde eine katholische Identität eingeimpft, man färbte ihm die Haare, um im Falle einer Razzia seine jüdische Identität zu camouflieren. Wer in Warschau während der Besatzungs12 Siehe u. a. Volker Tarnows Besprechung in der Zeitschrift Opernwelt 12/2017, S. 22. 13 Siehe: Kostka, „Life in Emigration“, (wie Anm. 8), S. 137 f., 152.

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zeit einen Juden versteckte, brachte nicht nur sich, sondern seine gesamte Familie in Lebensgefahr. Der exzentrische Charakter Tchaikowskys, das tiefe Bedürfnis, geliebt zu werden, bei zwanghafter Wiederholung seiner Urkränkung, indem er den Menschen, die für seine Karriere wichtig waren, systematisch vor den Kopf stieß, ist nur aus der Traumatisierung während dieser Jahre des Überlebens in Verstecken zu erklären.14 André Tchaikowskys außergewöhnliches musikalisches Talent entwickelte sich nach dem Krieg in kürzester Zeit. Zunächst bekam er Unterricht am Konservatorium in Łódź. 1948 wurde er als 13-Jähriger am Pariser Conservatoire in der Klavierklasse des legendären Lazare Lévy (1882–1964) aufgenommen. Nur ein Jahr später schloss Abb. 5: André Tchaikowsky um 1964, André Tchaikowsky Archive. er das Studium mit Goldmedaillen ab. Das polnische Kultusministerium lockte den Wunderknaben mit einem Stipendium nach Polen zurück, wo er als Pianist wie als Komponist gleichermaßen gefördert wurde. Die Jugendorganisation des Komponistenverbandes hatte ihn bereits 1950 aufgenommen, zu einer ordentlichen Mitgliedschaft kam es nicht mehr. 1956 verließ er das Land für immer, ging zunächst zu Stefan Askenase (1896–1985) nach Brüssel, dann zu Nadia Boulanger (1887–1979) nach Paris, um sich den letzten Schliff als Pianist und Komponist zu holen. 1960 ließ sich in England nieder. In den ersten Jahren seiner Karriere wurde er vor allem von Artur Rubinstein gefördert, der ihm seine erste USA-Tournee ermöglichte. Obwohl ihm bald alle Konzertsäle der Welt offenstanden, sah er im Komponieren seine eigentliche Bestimmung. Er hinterließ – aufgrund seines frühen Todes – ein überschaubares Œuvre hochkarätiger Werke, stilistisch am ehesten der Bergund Schönberg-Nachfolge zuzuordnen, Werke für Klavier solo, zwei Klavierkonzerte, Lieder, Kammermusik und seine zwischen 1968 und 1982 entstandene Oper. Es wirkt befremdlich, dass sich ein Komponist jüdischer Abstammung, der den Krieg auf so traumatisierende Weise überlebte wie Tchaikowsky, ausgerechnet Shakespeares immer wieder antisemitisch gedeuteten The Merchant of Venice (Der Kaufmann von Venedig) als Stoff für eine Oper wählte, die ihn fast 15 Jahre seines kurzen Lebens beschäftigte. Für eine Verarbeitung seines eigenen Schicksals wie des Schicksals der Juden während des Zweiten Weltkriegs dient der Stoff, möchte man denken, kaum.

14 Siehe vor allem: André Tchaikowsky. Die tägliche Mühe, ein Mensch zu sein, Biografie und Tagebücher des jüdisch-polnischen Komponisten, erzählt und herausgegeben von Anastasia Belina-Johnson, aus dem Englischen von Wolfram Boder, Hofheim 2013.

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Die Dinge liegen tatsächlich kompliziert. Tchaikowskys Haltung zu Shylock ist ambivalent, bei dessen erstem Auftritt findet er sogar karikatureske Töne für ihn, näselndes Fagott und orientalisierende Melismen. Aber die Zeichnung seines Charakters geht schnell über in eine tiefe psychologische Durchdringung seiner Persönlichkeitsstruktur, die durch anhaltende Demütigung geprägt wurde. Die Figur, mit der sich Tchaikowsky eher zu identifizieren scheint, ist Antonio, der durch und durch antisemitische Gegenspieler ­Shylocks. Ist dieser als Jude ein Außenseiter in der Gesellschaft der herrschenden Christen, so ist Antonio als Christ nicht weniger Außenseiter durch seine Homosexualität, was Tchaikowsky durch die Besetzung mit einem Countertenor dominant herausstreicht. Dies hätte, wenn die Oper zu ihrer Zeit uraufgeführt worden wäre, möglicherweise noch einen Skandal ausgelöst, denn Homosexualität wurde in England erst im Jahr 1980 entkriminalisiert. Tchaikowsky fand in der antagonistischen Figurenkonstellation Shylock–Antonio also Projektionsflächen für sein zweifaches Anderssein und seine zweifache narzisstische Kränkung als Jude und Homosexueller. Ich möchte auf eine kurze Szene in der Oper hinweisen, in der nicht gesungen wird, die aber aufgrund ihrer Choreografie von größtem Erkenntniswert ist für das Verständnis der psychologischen Deutung des Stoffes durch Tchaikowsky und seinen Librettisten John O’Brien (1960–1994), der sich bei der Einrichtung des Librettos darauf beschränkte, Shakespeare zu kürzen, wobei Kürzungen natürlich manipulativen Charakter haben können. Die Szene spielt auf dem Platz vor Shylocks Haus. Jessica, Shylocks Tochter, ist gerade mit ihrem Geliebten, dem Christen Lorenzo, durchgebrannt und hat dabei einen Teil von Shylocks Vermögen mitgehen lassen. Antonio kommt vom Notar, wo ihm Shylock für den ominösen Schuldschein einen Wechsel ausgestellt hat über die Summe, die der von Antonio geliebte Bassanio für seine Brautwerbung braucht. Er übergibt Bassanio diesen Wechsel, durch den Bassanio ihm für immer verloren gehen wird. Bassanio, der Antonio Freundschaft entgegenbringt, aber keine Liebe, verabschiedet sich. In diesem Augenblick kommt Shylock zurück und erkennt, dass seine Tochter mit einem Christen getürmt ist und ihn bestohlen hat. Antonio bleibt bis zum Ende der Szene mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne.15 Keine dieser Begegnungen gibt es bei Shakespeare. Ihre Darstellung aber macht schlagartig deutlich, dass Antonio und Shylock über das Motiv des Pfandes auf eine substanziellere Weise miteinander verbunden sind, als das bei der rapiden Szenenfolge und dem ständigen Ineinander von dramatischen, lyrischen und burlesken Ebenen in Shakespeares Schauspiel ersichtlich wird. Wir erkennen in dieser wortlosen Szene, dass Antonio mit dem Verlust Bassanios ein lebenswichtiges Stück seiner selbst verloren geht, was seine Todesbereitschaft in der Gerichtsverhandlung erklärt; wir erkennen vor allem, dass Shylock mit seiner Tochter ein Stück von seinem eigenen Fleisch und Blut genommen wurde – er wird das später in der Oper auch wörtlich so benennen – und dass erst durch diesen tiefen Schnitt in sein Herz die Idee in ihm aufkeimen kann, dass das auf dem Schuldschein nur symbolisch gemeinte, wertlose Pfund Menschenfleisch sich tatsächlich in ein Instrument der Rache verwandeln lässt. 15 Keith Warner (geb. 1956) spitzte in seiner Uraufführungsinszenierung 2013 bei den Bregenzer Festspielen diese „Choreografie“ noch weiter zu, indem er Antonios und Shylocks Blicke sich kreuzen lässt, bevor Antonio von der Bühne geht.

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Abb. 6: André Tchaikowsky, Der Kaufmann von Venedig, Bregenz 2013, Foto: Karl Forster.

Tchaikowsky und O’Brien legen in ihrer Fassung des Shakespeare’schen Stückes die Scheinheiligkeit der christlichen Gesellschaft bloß, die vom Juden einfordert, Gnade vor Recht walten zu lassen, es aber selber keinesfalls tut, wenn ihr nicht ein Vorteil daraus erwächst. Die Brutalität Shylocks, mit der er das Stück Fleisch vom Leibe Antonios verlangt, ist das Resultat der Brutalität und Willkür, mit der er und seinesgleichen seit Jahrhunderten von der christlichen Gesellschaft behandelt wurden. In England gab es zwar seit Edwards I. Verdikt von 1290, in dem ihnen die Bürgerrechte entzogen wurden, offiziell keine Juden mehr. Ein antisemitisches Stück zu schreiben macht in einem Land, in dem Juden im öffentlichen Raum seit drei Jahrhunderten nicht in Escheinung getreten sind, also wenig Sinn. Allerdings hatte Christopher Marlowe wenige Jahre vor Shakespeares Kaufmann großen Erfolg mit seinem kolportagehaften Schauspiel Der Jude von Malta, das in seiner negativen Schilderung des reichen Juden mit dem bezeichnenden Namen Barabas weit über das hinausgeht, was Shakespeare seinem Shylock an Charaktereigenschaften angedeihen ließ. Wenn man den Kaufmann im Hinblick auf dieses Vorgängerstück liest, dann wird klar, dass der Psychologe Shakespeare eine ganz andere Zielsetzung hat: Es geht ihm um die Offenlegung der Relativität von Rechts- und Moralbegriffen und wie aus deren Schieflage Prozesse ausgelöst werden, die mit einer fatalen Eigendynamik und der Präzision eines Uhrwerks in Konflikte führen, für die es keinen Ausweg mehr gibt. Außer durch einen Coup de Théâtre natürlich, den Shakespeare dann auch, und durch und durch kolportagehaft, im 3. Akt landet. Nicht Portia, die eigentliche Heldin, um die sich ein zweites Stück im Stück entwickelt, oder Bassanio bekommen in Tchaikowskys Oper die schönste Musik, sondern Jessica, die

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abtrünnige Tochter Shylocks, und Lorenzo, ihr Geliebter. Und in dieser Musik finden wir auch den ursprünglichen Zugang des Komponisten zu Shakespeares Werk. Denn der Dialog der beiden zu Beginn des 5. Aktes, in Belmont, der bei Tchaikowsky zur ersten Szene des Epilogs wird, wurde von ihm bereits komponiert, bevor noch der Plan zur vollständigen Vertonung des Stückes entstand. Es ist der Hymnus über die Harmonie der Sphären und die orphische Kraft der Musik, der in den berühmten Worten endet, die Tchaikowsky ausgerechnet nicht vertont, wir zitierten sie eingangs, über den Menschen, der keine Musik in sich hat, von dem wir uns in Acht nehmen sollen, denn er „taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken“. Erlösung gibt es also in André Tchaikowskys Kaufmann von Venedig nicht, nicht für den tödlich gekränkten Juden Shylock, aber auch nicht für seinen Gegenspieler Antonio. Es kann sie nicht geben in der durch und durch materialistischen, patriarchalen Gesellschaft der venezianischen Kaufleute, Spekulanten und Banker. Sie blitzt auf als Option in der matristischen Gegenwelt von Belmont, diesem arkadischen Reich der Schönheit, der Liebe und der weiblichen Intelligenz. Letztendlich aber wird sie uns nur zuteil im Tod und in der Musik, in der wir irdischen Geschöpfe zumindest augenblickshaft teilhaben an einer göttlichen Harmonie jenseits der menschlichen Irrungen und Wirrungen.

4. Akt Simon Laks, L’Hirondelle inattendue – Die unerwartete Schwalbe Simon Laks (1. November 1901–11. Dezember 1983) kam als Spross einer assimilierten jüdischen Familie in Warschau zur Welt.16 Nach einem Kompositions- und Dirigierstudium an der Warschauer Musikhochschule schloss er sich 1926 in Paris der „Association des jeunes musiciens polonais“ an, einer Künstlervereinigung, die im selben Jahr von Piotr Perkowski (1901–1990), einem Schüler Karol Szymanowskis (1882–1937) gegründet worden war. Diese hatte ihren Sitz in der neuen Salle Pleyel. Sie zählte zu ihren besten Zeiten etwa 150 aktive Mitglieder – Komponisten, Dirigenten, Interpreten, Sänger, Musikjournalisten und Musikwissenschaftler. Zu ihren Aufgaben gehörte die Organisation von Konzerten und Vorträgen, Hilfestellung bei der Integration neu angekommener polnischer Musiker, vor allem aber auch die kontinuierliche Berichterstattung nach Warschau über die Ereignisse in der damaligen Hauptstadt der Musik. Es gibt keinen Zweifel daran, dass nahezu alles, was für die Entwicklung der polnischen Musik in dieser Zeit entscheidend war, sich nicht in Warschau, sondern in Paris ereignete. Dementsprechend stellt diese Periode ein wichtiges Kapitel auch der französischen Musikgeschichte dar, das bis heute keine wissenschaftliche Erarbeitung erfahren hat. Als einer der führenden Köpfe in der Organisation der Association traf Laks auf die bedeutendsten Musiker der Epoche, nicht nur auf die polnischen Stars wie Ignacy Jan Paderewski (1860–1941), Artur Rubinstein (1887–1982), Paweł Kochański (1887–1934) und Szymanowski, dem er seine Suite polonaise widmete, sondern auch auf die Protagonisten der Groupe des Six, der École de Paris, Maurice Ravel (1875–1937), Igor Strawinsky 16 Zu Leben und Werk von Simon Laks siehe vor allem André Laks, „Mein Vater Simon Laks und sein Buch Musik in Auschwitz“ und Frank Harders-Wuthenow, „Der Komponist Simon Laks“, beide in: Laks, Musik in Auschwitz, (wie Anm. 2), S. 131 resp. S. 147.

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(1882–1971) und die einflussreiche Nadia Boulanger. Für Maurice Maréchal (1892– 1964), den damals berühmtesten französischen Cellisten, komponierte Laks 1932 seine Cellosonate, die jener mit dem legendären Ravel-Spezialisten Vlado Perlemuter (1904–2002) uraufführte – in ihrer vollendeten Mischung aus rhythmischer, Jazzbeeinflusster Prägnanz und melodisch-harmonischer Eleganz ein Schlüsselstück des weltläufigen Neoklassizismus, wie er für die 1930er Jahre in Paris charakteristisch war. Für das Quatuor Roth, das französische Abb. 7: Simon Laks in Beynes, um 1965, Archiv Pendant zum Wiener Kolisch-Quartett, das André Laks. sich auf die Interpretation zeitgenössischer Musik spezialisiert hatte, entstand sein heute verschollenes 2. Streichquartett. Keine Weltkarriere, aber eine mit dem Potenzial dazu, von der man nicht weiß, wie sie sich ohne die Katastrophe von Auschwitz entwickelt hätte. Eine Karriere, die ihre Zerstörung über mehrere Etappen hinweg erlebte: zunächst sich verschärfende Arbeits- und Lebensbedingungen in einem zunehmend fremdenfeindlichen und antisemitischen Klima in Frankreich nach 1933; Festnahme durch das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime; Konzentrationsund Arbeitslager; dann, am 17. Juli 1942, Deportation nach Auschwitz-Birkenau, wo er als Mitglied und später Leiter der Männerkapelle der Vernichtung entging. Laks reflektierte das in Auschwitz Erlebte literarisch erstmals in seinem Buch Musique d’un autre monde von 1948. Er reflektierte es aber auch musikalisch, etwa im 3. Streichquartett, sur des motifs populaires polonais (auf polnische Volksliedmelodien), sofort nach seiner Rückkehr nach Paris 1945 komponiert, oder in den Huit chants populaires juifs (Acht jüdischen Volksliedern) von 1947, in denen er die unzerstörbare Essenz einer zerstörten Kultur musikalisch zu bergen versucht. In diesen Werken nähert sich Laks in gewisser Weise schon dem Thema seiner einzigen Oper L’Hirondelle inattendue (Die unerwartete Schwalbe): dem der Unsterblichkeit der Musik. Im Paris der Nachkriegszeit war Laks kein „Vollzeitmusiker“ mehr. Er arbeitete für die Firma seines Bruders Léo, der den Krieg mit falschen Papieren in der „zone libre“ überlebt hatte, und wurde Experte für die Untertitelung von Filmen. In den 1950er Jahren entstanden nur wenige Werke, darunter das Poème für Violine und Orchester, ein Lied ohne Worte, ein Gesang auf das leidende Polen, eine Hommage sicherlich aber auch an seine Mutter Sarah und seine jüngeren Geschwister Anne und David, die in Treblinka den Tod fanden. Seine Uraufführung erlebte es erst 2006, fast ein Vierteljahrhundert nach Laks’ Tod 1983. In den 1960er Jahren kam es dann zu einem regelrechten Schwanengesang, ausgelöst durch neue künstlerische Kontakte. Dazu gehörte vor allem die Freundschaft mit der polnischen Sopranistin Halina Szymulska (1921–1994), die seine Muse wurde und die ihn zu mehreren Zyklen großartiger Lieder auf Texte der besten polnischen Lyrik inspirierte. 1968 beendete Laks seine kompositorische Tätigkeit. Die erneute existenzielle Bedrohung des jüdischen Volkes während des Sechstagekrieges 1967, der in Polen wiedererstarkende, von

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der kommunistischen Regierung angeheizte Antisemitismus ließen ihn an der Sinnhaftigkeit künstlerischen Schaffens zweifeln. Laks tauschte das Notenblatt gegen die Schreibmaschine und veröffentlichte bis zu seinem Tod 1983 eine Reihe ungewöhnlicher Bücher, in denen er sich auf sehr geistreiche und polemische Weise mit den unterschiedlichsten Formen der Heuchelei und des Opportunismus in Kunst und Politik seiner Zeit auseinandersetzte. Laks Hauptwerk, die Oper L’Hirondelle inattendue, entstand 1965. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem bereits erwähnten „Liederherbst“ der 1960er Jahre. Das Lied Le Portrait de l’oiseau qui n’existe pas auf ein surrealistisches Gedicht des französischen Schriftstellers Claude Aveline17 kann als Initialzündung gesehen werden, denn auch in der Oper handelt es sich um einen Vogel, den es nicht gibt. Die Oper basiert auf einer Episode aus Avelines mehrteiligem Hörspiel Le Bestiaire inattendue, das 1952 vom französischen Rundfunk produziert und mit dem renommierten „Prix Italia“ ausgezeichnet wurde. Aveline, während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der französischen Resistance, war eine schillernde, einflussreiche Figur der literarischen Nachkriegsszene. In seinem Bestiaire inattendue erzählt er die Geschichten legendärer Tiere wie die von Jonas’ Wal, dem Adler des Prometheus oder dem Esel der Krippengeschichte. Das geschieht allerdings aus der Perspektive der Tiere, die die Legenden, die die Menschen über sie in Umlauf brachten, als pure Mystifikationen entlarven. Den erzählerischen Rahmen bildet das Feuilleton eines Gesellschaftsreporters, der seine Reportagen aus dem Paradies der berühmten Tiere im Auftrag eines Wochenmagazins durchführt. Die Oper lässt die Geschichte mit der Notlandung seiner Rakete beginnen. Die Taube der Arche Noah begrüßt ihn und seinen Piloten und macht die beiden mit den Bewohnern des Paradieses bekannt: der Schlange des Paradieses, dem Bären von Bern, Schuberts Forelle, dem Hund von Baskerville, Jonas’ Wal, der aufgrund seiner Größe allerdings nicht auf die Bühne passt, usw. Die Überraschung ist groß, als plötzlich eine junge Frau an der Pforte des Paradieses in Erscheinung tritt, in schlechtester körperlicher Verfassung und nur notdürftig bekleidet, die nichts anderes herausbringt als: „Man nennt mich Schwalbe der Vorstadt. Ich bin nur ein armes Freudenmädchen, geboren an einem Tag im Frühling als Kind einer einfachen Arbeiterin. Wie die anderen wäre ich vielleicht auf die rechte Bahn gekommen, wenn mich mein Vater unter seine Fittiche genommen hätte, statt mich zu verlassen.“18 Was für ein nichtfranzösisches Publikum der Erklärung bedarf, hat für ein französisches unmittelbare Evidenz. Denn bei der Schwalbe der Vorstadt19 handelt es sich um ein berühmtes französisches Chanson von 1912, das ein französisches Opernpublikum hätte mitsingen können, wenn es in Frankreich denn zu einer Aufführung der Oper gekommen wäre. Das Chanson handelt von einer jungen Prostituierten, die nach einer Messerstecherei ins Krankenhaus gebracht wird. Dort erkennt sie der Arzt, der sie vergeblich zu retten versucht, an einem Amulett als seine eigene Tochter, das Kind eines amourösen Abenteuers mit einer sitzen gelassenen Arbeiterin. Wo das Chanson endet, mit dem Tod des Mädchens und dem Entschwe17 Eugen Avtsine (19.07.1901, Paris – 04.11.1992, Paris) war Kind einer russisch-jüdischen Auswandererfamilie. 18 Simon Laks und André Lemarchand, L’Hirondelle inattendue, Berlin (Boosey & Hawkes/Bote & Bock) 2009 (Übers. FHW), S. 55 f. 19 L’Hirondelle du Faubourg, Chanson von Louis Bénech und Ernest Dumont, Erstveröffentlichung 1912.

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Abb. 8: Simon Laks, L’Hirondelle inattendue, Montpellier 2015, Foto: Marc Ginot.

ben ihrer Seele in den Himmel, beginnt die Oper. Die Vorstadtschwalbe im Paradies ist ein Spiel mit semantischer Mehrdeutigkeit, das den Tieren einiges zu schaffen macht, denn sie können die allegorische Ebene natürlich nicht begreifen. Das ganze Qui pro quo dreht sich zunächst da­rum herauszufinden, ob diese vermeintliche Schwalbe überhaupt eine ist. Dazu wird ein Komitee gebildet, welches das Mädchen ins Kreuzverhör nimmt. Sie bringt aber immer nur dieselben beiden Sätze heraus: „Man nennt mich Schwalbe der Vorstadt …“ etc. Die Situation verkompliziert sich, als Petrus die Ankunft eines weiteren Fräuleins verkündet, das laut Beschreibung mit dem bei den Tieren identisch zu sein scheint. In dem Augenblick haben sich die Tiere die Melodie des Chansons zu eigen gemacht, und die doppelte Vorstadtschwalbe löst sich in Luft auf. Endlich kann der Reporter das ontologische Rätsel lösen: „Diese vorgebliche Schwalbe ist keine Schwalbe, ist kein Fräulein, kein Tier oder Vogel, sondern etwas viel Schöneres, Unsterbliches, Ewiges: Es ist ein Lied!“20 Auf den Einwand, dass ein Lied doch gar nicht existiere, erwidert er: „Ein Lied existiert sehr wohl, da es doch von aller Welt gesungen wird … Ja, das Lied ist überall, während wir, Tiere und Menschen, nur da sind, wo wir sind.“21 In der Verwandlung des Hörspiels in ein Libretto tritt ein Aspekt zutage, auf den es Aveline sicher nicht angelegt hatte und der ihm möglicherweise sogar entgangen war, der aber für Laks und seinen Librettisten Henri Lemarchand (1911–1991) größte Bedeutung 20 Laks und Lemarchand, L’Hirondelle inattendue, (wie Anm. 18), S. 90. 21 Ebd., S. 96 f.

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hatte. Denn erst in einem musikalischen Kontext wird das Chanson auch als musikalischer Fremdkörper erfahrbar. Das Tribunal, das über die Schwalbe tagt, wird somit auch zu einem musikalischen Tribunal. Damit kann die Verachtung der „großen Tiere“ gegenüber der Schwalbe zur Metapher werden für die Verachtung, die die zeitgenössische Musik der Melodie, zumal der populären, entgegenbringt. Um im Bild zu bleiben: Indem die berühmten Tiere als Repräsentanten der seriösen Musik das Chanson unter ihresgleichen (singend) aufnehmen, wird die Kluft zwischen E und U überwunden, die in der Geschichte der abendländischen Musik nie so groß war wie zum Zeitpunkt der Komposition der Oper. Die Melodie, die der Journalist zu seinem Hymnus auf die Unsterblichkeit des Liedes anstimmt, ist allerdings eine Kontrafaktur. Laks entlehnte sie bei sich selbst. Es handelt sich um seine Vertonung des Gedichtes Prośba o piosenkę (Bitte um ein Lied) von Julian Tuwim (1894–1953):22 Wenn ich, oh Herr, das Wort besäße, dein vortreffliches Geschenk, mach, dass mir das Herz schlägt mit dem Zorn von Ozeanen, dass ich wie die alten Dichter einfach und edel bin, mit dem Sturm des Blutes einschlage auf die Mächtigen und die Tyrannen. Inspiriere mich nicht zu Hymnen, denn Hymnen brauchen nicht die, die in der schmerzvollen Brust unter einem schmutzigen Hemd hungrige Herzen tragen, nach einem Stück Brot schreien, und dem Orchester hinterherlaufen, das den Königen den Zapfenstreich spielt. Gib den Worten meines Zorns lieber den Glanz von scharfem Stahl, Bravour und Phantasie, treffenden und leichten Reim, damit die, auf die ich feuere, direkt in den Kopf getroffen werden von einer Kugel aus einem Sechs-Schuss-Lied!

Spätestens hier wird klar, wie hintergründig dieses an der Oberfläche so heiter daherkommende Werk tatsächlich angelegt ist. Tuwim, auch er jüdischer Abstammung, konnte nach Hitlers Überfall auf Polen aus Warschau fliehen und überlebte Weltkrieg und Shoah im amerikanischen Exil. Die Überschreibung seiner Bitte um „ein sechsschüssiges Lied“ gegen die Tyrannen, wie es wörtlich übersetzt heißt, durch eine Apologie der Melodie, die in ihrer Immaterialität alle Grenzen überwindet und Unsterblichkeit erlangt, ist auf mehrfache Weise deutbar. Wie bei einem Palimpsest mag Tuwims „überschriebener“ Text als eine in das Werk eingeschmuggelte Botschaft zu lesen sein. Oder aber es handelt sich um einen Kommentar des Komponisten, der erkannte, dass mit den Waffen der Poesie die Mächtigen nicht zu schlagen sind, aber die Poesie wohl die Mächtigen überdauern wird. Dass Laks das Gericht, welches die „großen Tiere“ über die Schwalbe halten, durchaus auf seine eigene Situation bezog, dass es bei diesem Prozess um seinen eigenen ging, erhellt ein weiteres Selbstzitat in der Oper. An der Stelle, wo der Journalist das erste Mal die Tiere über 22 In der Übersetzung von Antje Ritter-Jasińska.

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Abb. 9: Simon Laks, L’Hirondelle inattendue (Boosey & Hawkes, Berlin 2009), Augenmusik in den Bläserstimmen des Anfangs von Laks’ Oper. Die Bewegung zeichnet den Flügelschlag einer Schwalbe nach, sie lässt sich aber auch als Victory-Zeichen interpretieren. Laks’ Oper ist voll mit Zitaten und Anspielungen aus der Literatur- und Musikgeschichte, die das Werk in einen großen kulturgeschichtlichen Zusammenhang stellen.

die wahre Identität der „Vorstadtschwalbe“ aufklären will, fällt ihm die Taube ins Wort und gemahnt ihn an das Protokoll: „Mein Herr, Sie haben die große Ehre, einer Zeremonie von unzweifelhafter Seltenheit beiwohnen zu dürfen. Also bitte ich Sie […]: kein Wort, keine Bewegung!“23 Bei dem Lied, dessen Mittelteil Laks in diesem Moment zitiert, handelt es sich wieder um die Vertonung eines Gedichtes von Tuwim. Darin geht es um eine Korrektur – Erratum ist der Titel des Gedichtes –, die im Buch des Lebens vorgenommen werden soll. Es hat sich ein düsterer Fehler in mein Leben eingeschlichen. Daher die dunklen Stellen und die Verworrenheit des Textes.24

Im 40. Jahr von oben – gemeint ist das 40. Lebensjahr – bittet das lyrische Ich den Schöpfer oder das Schicksal, solle „Verzweiflung“ durch „Liebe“ ersetzt werden. Verblüffend ist nicht nur die Parallelität zwischen Tuwims Text und dem Bruch in Laks’ eigenem Leben – 1941, im Jahr seiner Deportation, ist er genau 40 Jahre alt –, sondern vor allem deren Engführung mit dem Tribunal in der Oper, das ja einer Gerichtsverhandlung gleicht. In beiden Situationen geht es um – Selektion. Und um das Überleben der Musik. Die multiple Fremdheitserfahrung, die als Trauma auf Laks’ Künstlerexistenz lastete, löst er in seiner Oper in Form einer außerordentlich geistreichen Allegorie auf. 23 Laks und Lemarchand, L’Hirondelle inattendue, (wie Anm. 18), S. 52. 24 Zit. in der Übersetzung von Antje Ritter-Jaśinska.

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Epilog Die vier hier vorgestellten Opern könnten in der Art und Weise, wie ihre Autoren mit der traumatisierenden Erfahrung des Holocaust umgehen, unterschiedlicher nicht sein. An ihnen lassen sich idealtypisch verschiedene Stufen der Sublimierung der Holocaust-Erfahrung beschreiben. In Weinbergs Oper finden wir die konkrete Darstellung von Auschwitz als einer Art „Negativ der Welt“, wie Laks es beschrieb, in dem alle menschlichen Werte auf den Kopf gestellt wurden, woraus aber allgemeingültige Erkenntnisse über die condition humaine destilliert werden, sodass die Oper zu einem Lehrstück werden kann über den komplexen Zusammenhang von Schuld, Sühne, Würde und Freiheit. Kassern umgeht die direkte Anknüpfung an die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 bzw., in Bezug auf Polen, zwischen 1939 und 1945, indem er einen weiter zurückliegenden historischen Stoff wählt, in dem die Tragik der Fremdbestimmung des jüdischen Volkes in der Diaspora reflektiert wird. Seine Oper ist den Opfern des Gettoaufstandes 1943 in Warschau gewidmet, greift also den Aspekt des Scheiterns der Auflehnung gegen die Vernichtung heraus. André Tchaikowsky bezieht sich auf einen historisch noch weiter entfernten Stoff, der zudem nicht auf realen Gegebenheiten basiert, sondern mit seinem märchenhaften Symbolismus zur psychoanalytischen Deutung anregt. Sigmund Freud beschäftigt sich mit dem Kaufmann von Venedig in seinem Text über die Bedeutung der Kästchenwahl.25 Auf diesen Text nimmt Keith Warner Bezug in seiner Uraufführungsinszenierung des Kaufmanns von Venedig in Bregenz, er entwickelt die Geschichte aus der Situation einer Freud’schen Traumanalyse heraus. Laks Oper wiederum ist derartig weit entfernt vom konkreten Thema, dass wir, kennten wir nicht die Lebensumstände des Komponisten und würde uns die Analyse nicht den Schlüssel zu dem doppelten Sinn ihrer Geschichte liefern, einen Zusammenhang mit Auschwitz sogar für abwegig hielten. Was drei der Werke miteinander verbindet, ist die sehr spezifische Rolle, die der Musik in ihnen zukommt. Weinbergs Oper ist polystilistisch angelegt. Weinbergs eigene Sprache ist scharf dissonant und im nichtorthodoxen Sinne dodekafonisch, allerdings arbeitet die Oper über weite Strecken mit Entlehnungen und angewandter Musik – Lieder, Märsche, Gesellschaftstänze –, sodass man auf der musikalischen Ebene von einem multiperspektivischen Ansatz sprechen könnte. Eine der anrührendsten Szenen des Werkes ist das Lied der russischen Gefangenen Katja. In Tchaikowskys Oper wiederum steht die Musik für den einzigen „Ort“ in dem „alles rein“ ist, um ein Wort von Straussens Ariadne zu paraphrasieren, und bei Laks schließlich wird die Melodie selbst zur Hauptrolle der Oper, die Melodie, der nicht nur ein Überleben möglich ist, sondern sogar die Unsterblichkeit. Alle vier Opern stellen überzeugende Ansätze dar, wie mit der nahezu unlösbaren Aufgabe der Auseinandersetzung mit Auschwitz auf der Opernbühne umgegangen werden kann, und es wäre auch den Werken von Kassern, Tchaikowsky und Laks zu wünschen, dass sie ihre Wirkung auch auf deutschen Bühnen entfalten können.

25 Sigmund Freud, „Das Motiv der Kästchenwahl (1913)“, in: ders., Studienausgabe, Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt a. M. 2007, S. 181–193.

Matthias Pasdzierny

Emigranten im Schaufenster? Rückkehr aus dem Exil und der Wiederaufbau des ostdeutschen Musiklebens nach 1945 – am Beispiel des Arbeiterliedarchivs und mit einem Seitenblick auf die Situation in Thüringen

Schon frühzeitig wurde in der deutschsprachigen Exil- und vor allem auch der Remigrationsforschung auf den unterschiedlichen Umgang mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern in Ost- und in Westdeutschland aufmerksam gemacht.1 Lange Zeit galt dort die Ansicht, im Gegensatz etwa zur jungen Bundesrepublik seien in der DDR Remigranten grundsätzlich willkommen geheißen oder gar durch eine Vielzahl von Rückrufen überhaupt erst zur Rückkehr bewegt worden. In der Folge sei etwa „der Anteil an Remigranten an der politischen Machtausübung hoch“ gewesen sowie auch „die Mehrheit der Intellektuellen zunächst in die DDR zurückgekehrt“ und habe dort nahezu flächendeckend wichtige Positionen im Kulturleben eingenommen. In der Bundesrepublik hingegen habe es kaum Remigrantinnen und Remigranten gegeben, ihr Einfluss beim gesellschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau sei entsprechend gering gewesen.2 Dieses Bild galt längere Zeit auch für den Bereich der Musikkultur,3 wurde aber durch umfangreiche Forschungsprojekte zuletzt weitgehend

1 Grundlegende Darstellungen zu Remigrantinnen und Remigranten sowie ihrer Rolle in der DDR finden sich in: Michael F. Scholz, „Sowjetische Besatzungszone und DDR“, in: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Patrick von zur Mühlen, Gerhard Paul und Lutz Winkler, Darmstadt 1998, Sp. 1180–1188; Andreas Schätzke, Rückkehr aus dem Exil. Bildende Künstler und Architekten in der SBZ und frühen DDR, Berlin 1999; Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001; Kornélia Papp, Remigranten in der SBZ/DDR und in Ungarn nach 1945. Ein Vergleich, Göttingen 2009; Gerhard Bauer, „Heim in ein Bauplanquadrat? Die Stellung einstiger Exilierter in der SBZ/ DDR“, in: Verfolgt und umstritten! Remigrierte Künstler im Nachkriegsdeutschland, hrsg. von Michael Grisko und Henrike Walter, Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 137–156. 2 Scholz: „Sowjetische Besatzungszone und DDR“, (wie Anm. 1), Sp. 1181, Horst Weber und Manuela Schwartz, „Einleitung“, in: Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker. 1933–1950, Bd. I, Kalifornien, hrsg. von dens., München 2003, S. XV–XXXI, hier S. XV. Vgl. etwa auch Maren Köster, „Musik-Remigration nach 1945. Konturen eines neuen Forschungsfelds“, in: „Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort.“ Remigration und Musikkultur, hrsg. von ders. und Dörte Schmidt, München 2005, S. 18–30, hier S. 20 f., sowie dies., Musik-Zeit-Geschehen. Zu den Musikverhältnissen in der SBZ/DDR 1945 bis 1952, Saarbrücken 2002, S. 103–118. 3 Vgl. etwa die bloße Existenz und Betitelung des Beitrags „Remigranten in der DDR“ im Kongressbericht Musik in der Emigration von 1994, dem ein entsprechendes Pendant zu Westdeutschland und der Bundesrepublik fehlt (Frank Schneider, „Remigranten in der DDR“, in: Musik in der Emigration

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relativiert und differenziert.4 Einerseits konnte dabei auch für die Bundesrepublik eine große, im Vergleich zur DDR sogar weit größere Anzahl von aus dem Exil zurückgekehrten Musikschaffenden recherchiert werden, die zudem, wenn auch oft im Hintergrund und nicht selten im „Tandem“ mit teilweise stark NS-belasteten Dagebliebenen, beim Wiederaufbau des Musiklebens mitunter wichtige Funktionen erfüllten und zentrale Positionen einnahmen.5 Andererseits finden sich bei allen Unterschieden auch zahlreiche Parallelen im Umgang mit der Rückkehr-Thematik in Ost und West, bzw. es lassen sich ähnliche Handlungsmuster beschreiben, die lediglich unterschiedlich begründet wurden. Hier soll es im Folgenden darum gehen, vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse zunächst einmal einen Einblick zu geben, wie Exilforschung in Ost und West selbst als Teil der jeweiligen, über die Zeit ja auch diversen Wandlungen und Entwicklungen unterworfenen, Vergangenheits- und Wiedergutmachungsdiskurse innerhalb der beiden Staaten zu verstehen war (und ist). Im Anschluss daran wird diskutiert, welche Rolle Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus dem NS-Exil beim Wiederaufbau der Musikkultur Ostdeutschlands und der DDR tatsächlich spielten, welche Unterschiede und Parallelen dabei etwa zu Westdeutschland und der Bundesrepublik Deutschland zu beobachten sind und wie diese Entwicklungen im Verhältnis zur Systemkonkurrenz und zum sogenannten Cultural Cold War standen. Als Fallbeispiel für die angesprochenen Punkte dient die Rückkehr Inge Lammels sowie ihre Funktion als Gründerin und Leiterin des an der Akademie der Künste in OstBerlin neu eingerichteten Arbeiterliedarchivs der DDR. Abschließend gilt ein Seitenblick der Remigration von Musikschaffenden nach Thüringen, verbunden mit der Frage, ob sich für die Rückkehr in die DDR, die ja stark auf Ost-Berlin als politisches und kulturelles Zentrum ausgerichtet war, möglicherweise ein Metropole-Provinz-Gefälle beschreiben lässt oder ob sich gerade im Abseits der großen, auch politischen Öffentlichkeit Nischen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer finden konnten. Vorab sind die in diesem Beitrag zentral verwendeten Begriffe zu klären: Als Remigration wird hier in der Regel lediglich die dauerhafte Rückkehr NS-Verfolgter aus dem Emigrationsland (in Einzelfällen auch aus langjähriger KZ- oder Gefängnishaft), das tatsächliche Wiederansiedeln verstanden, auch wenn gerade im Bereich der Musikkultur zahlreiche Ausprägungen kurz- und mittelfristiger Rückkehr zu finden sind, etwa in Form von Tour-

1933–1954. Verfolgung – Vertreibung – Rückwirkung. Symposium Essen, 10–13. Juni 1992, hrsg. von Horst Weber, Stuttgart u. a. 1994, S. 249–259). 4 Zentral zählen hierzu die Forschungen im Kontext des zwischen 2009 und 2014 unter Leitung von Dörte Schmidt an der Forschungsstelle „Exil und Nachkriegskultur“ der Universität der Künste Berlin angesiedelten DFG-Projekts „Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit. Die Rückkehr von Personen, Werken und Ideen“. Der Verfasser konnte in diesem Kontext seine Dissertation zur Remigration nach Westdeutschland und in die Bundesrepublik fertigstellen und als Publikation vorlegen, aus der auch die folgenden Angaben zur dortigen Remigrationsgeschichte entnommen sind: Matthias Pasdzierny, Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945, München 2014. 5 Vgl. hierzu den Abschnitt „Auf dem Tandem“ sowie das Kurzbiografienverzeichnis in ebd., S. 444– 544, 659–855.

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neen, Gastengagements, Dozenturen usw.6 Um bereits jetzt eine erste Arbeitsthese zu formulieren, so scheinen in Ostdeutschland und der DDR schon aufgrund der zunehmend erschwerten finanziellen und Reisebedingungen solche Formen der kurz- und mittelfristigen Rückkehr – sicher mit Ausnahme der unmittelbaren Nachkriegszeit in Ost-Berlin – eine im Vergleich zum Westen eher geringere Rolle gespielt zu haben. Dies müssten allerdings weitere Detailstudien klären, gerade solche institutionengeschichtlicher Art, etwa zur Künstler-Agentur der DDR sowie zur Konzert- und Gastspieldirektion, den einzigen derartigen Einrichtungen in diesem Land, in deren Aufbau und Organisation teilweise Rückkehrer in leitender Position involviert waren.7 Der in der DDR durchaus verbreitete (und auch ideologisch gefärbte) Begriff Kultur- bzw. Musikschaffende wird hier lediglich als Sammelbegriff verwendet, um die Berufslandschaft der Musikkultur in ihrer gesamten Breite zu erfassen, also etwa auch Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Bereichen der Musikwissenschaft und Musikkritik, der Musikverlage und Konzertagenturen oder der auf Musik fokussierten Kulturpolitik.8

(Musikwissenschaftliche) Exilforschung und/als Vergangenheitspolitik in der DDR Eine eingehende historiografische Untersuchung zur Fachgeschichte der musikwissenschaftlichen Exilforschung im deutschsprachigen Raum liegt bislang nicht vor, einige Tendenzen lassen sich aber dennoch beschreiben.9 Sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR stand die Erforschung von NS-Exil und Rückkehr unter dem Einfluss breit geführter vergangenheitspolitischer Debatten, mehr noch, sie bildete stets selbst einen zentralen Bestandteil dieses Diskurses.10 Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf den Umfang, aber   6 Vgl. hierzu ebd., S. 18 f. Für Westdeutschland wurden in diesem Band zahlreiche Fälle kurzzeitiger Rückkehr ebenfalls erfasst und ausgewertet.  7 Etwa der aus sowjetischen Exil und Deportation zurückgekehrte Helmut Damerius als erster Direktor der Künstler-Agentur der DDR (siehe: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/werwar-wer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=526, letzter Zugriff: 26.05.2019). Weiterhin wäre der Shanghai-Rückkehrer Alfred Dreifuß zu nennen, der zeitweise für die Konzert- und Gastspieldirektion arbeitete. Siehe den Beitrag zu ihm von Sophie Fetthauer in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und (ab 2014) Sophie Fetthauer, Hamburg seit 2005 (im Folgenden: LexM), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00005276, letzter Zugriff: 26.05.2019. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der genannten Einrichtungen steht noch völlig aus. Bislang liegen lediglich journalistische Darstellungen und Zeitzeugenbeiträge vor, etwa: Hermann Falk, Zu Gast in der Welt – Die Welt zu Gast. Die Künstleragentur der DDR. Fakten und Anekdoten zum internationalen Künstleraustausch, Berlin 2015.   8 Siehe zur Verwendung dieser Terminologie in der DDR den Eintrag „-schaffende“ in: Birgit Wolf, Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch, Berlin 2000, S. 195.   9 Vgl. für eine vorläufige Zusammenschau Pasdzierny, Wiederaufnahme, (wie Anm. 4), S. 6–15. 10 Einen sehr detaillierten, chronologisch angeordneten Überblick zu diesem Thema (freilich mit deutlicher Schlagseite in Richtung westdeutscher und bundesrepublikanischer Geschichte) bietet das Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des National-

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auch auf Machart, Methodik und Ergebnisse dieser Forschung. Während in der Bundesrepublik eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem NS-Exil und dessen Folgen insgesamt spät einsetzte und gerade auch in der Musikwissenschaft ab Beginn der 1980er Jahre im Kontext der zu diesem Zeitpunkt massiv erstarkenden Erinnerungskultur zu verstehen ist – mit einem Schwerpunkt etwa auf der biografisch orientierten Recherche nach geeigneten Identifikationsfiguren und, im Anschluss an die Literaturwissenschaft, mit der Suche nach einer Exilmusik im emphatischen Sinne –, bildete Exilforschung in der DDR von Anfang an einen Teil der staatlichen Selbstlegitimation. Daraus folgten zwar relativ frühzeitig Finanzierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten für umfangreiche Forschungs- und Publikationsvorhaben,11 gleichzeitig engte sich das Forschungsgebiet vor diesem Hintergrund weitgehend auf die identitätsstiftende Diskussion und Dokumentation des antifaschistisch-politischen Exils ein, was sehr große Opfergruppen des NS, etwa die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgten Personen, aus der ostdeutschen Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur für lange Zeit weitgehend ausschloss und zudem eine neutrale Darstellung etwa des Exils in der Sowjetunion unmöglich machte.12 Ähnlich stellt sich die Situation für die Entschädigungs- und Wiedergutmachungspolitik von Bundesrepublik und DDR dar, wo sich zwar gleichfalls strukturelle Parallelen, aber auch zahlreiche Unterschiede finden lassen und wo Vergangenheitspolitik, Erinnerungskultur und damit öffentliche Wahrnehmung und wissenschaftliche Bearbeitung unmittelbar aufeinander einwirkten. In der DDR erfolgte, neben umfangreichen Reparationszahlungen an die UdSSR, eine blockweise Einreihung von sogenannten Verfolgten des Nazi-Regimes (VdN) in zwei Kategorien, „Kämpfer gegen den“ und „Opfer des Faschismus“, die jeweils pauschal gewisse soziale Vergünstigungen erhielten. Insbesondere die Erstgenannten, zu denen auch zahlreiche (R)Emigrantinnen und (R)Emigranten zählten, dienten darüber hinaus als öffentlich inszenierte Leitfiguren der DDR, wobei es die Aufgabe auch und gerade

sozialismus nach 1945, hrsg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz, Bielefeld 2007. Speziell zur Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik der DDR siehe Jürgen Danyel, „Der vergangenheitspolitische Diskurs in der SBZ/DDR 1945–1989“, in: Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945, hrsg. von Christoph Cornelissen, Roman Holec und Jirí Pesek, Essen 2005, S. 173–196. 11 Etwa die 40-köpfige, von dem Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei ab Mitte der 1970er Jahre geleitete und an der Akademie der Wissenschaften bzw. der Akademie der Künste der DDR angesiedelte Forschergruppe zum antifaschistischen Exil, deren Publikationen im Reclam-Verlag erschienen und sich bis Ende der 1980er zu einer achtbändigen Reihe summierten. Vgl. hierzu Klaus Körner, „Gegen Krieg und Faschismus. Der Frankfurter Röderberg-Verlag und Reclam Leipzig“, in: An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991, hrsg. von Ingrid Sonntag, Berlin 2016, S. 142–156, hier S. 153 f. Für die Musikwissenschaft wäre hier zu nennen Jürgen Schebera, Hanns Eisler im USA-Exil, Berlin 1978. 12 Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung von Birgit Müller, „Erinnerungskultur in der DDR“, Artikel auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, 26.08.2008, https://www.bpb.de/ geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39817/erinnerungskultur-ddr?p=all, letzter Zugriff: 04.06.2019.

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der Exilforschung war, diese Form von Öffentlichkeit überhaupt erst herzustellen.13 In der Bundesrepublik Deutschland, die letztlich als Nachfolgestaat zumindest teilweise die moralische und rechtliche Verantwortung für die Geschehnisse und Verbrechen des NSRegimes übernahm, standen auf außenpolitischer Ebene die Verhandlungen mit der Jewish Claims Conference über nationale Wiedergutmachungszahlungen etwa an den Staat Israel im Zentrum sowie vor allem eine auf dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit basierende individuelle Entschädigung von NS-Verfolgten.14 Diese umfasste sehr viel größere (wenn auch für lange Zeit längst nicht alle) Opfergruppen und zielte in der Hauptsache auf finanzielle Entschädigung der jeweils entstandenen Verfolgungsschäden ab. Freilich spielten sich solcherlei Formen von Wiedergutmachung im nahezu vollständig abgeschotteten Raum einer eigens aufgerichteten behördlichen Infrastruktur ab. Unter anderem diese als skandalös empfundene Leerstelle des Verfahrens rief, neben anderen Härten und Problemen der westdeutschen Wiedergutmachungspraxis, ab Mitte der 1980er Jahre die erinnerungskulturell aufgeladene (musikwissenschaftliche) Exilforschung auf den Plan, die in ihrem Bemühen um die Würdigung und das Sichtbarmachen der (künstlerischen) Lebensleistungen der Verfolgten danach trachtete, der früheren monetären nun auch eine ideelle Wiedergutmachung an die Seite zu stellen. Die hier beschriebenen Entwicklungen hatten dabei nicht nur Folgen für die an der Forschung zu Exil und Rückkehr beteiligten Personen und Institutionen, sie wirkten auch unmittelbar auf die Realität der Rückkehr ein. So hat in der DDR die erwähnte Führungsriege aus zurückgekehrten Emigrantinnen und Emigranten an den Maximen der dortigen Vergangenheits- und Wiedergutmachungspolitik sowie der Erinnerungskultur maßgeblich mitgewirkt, sie selbst wurden gleichsam zu deren personifizierten Aushängeschildern. Auf der anderen Seite führte die Fokussierung auf die politische Verfolgung dazu, dass nur wenige ausschließlich aus „rassischen“ und nicht aus politischen Gründen verfolgte Emigrantinnen und Emigranten zurückkehrten bzw. diese biografischen Hintergründe weitgehend verschwiegen wurden.15 In die Bundesrepublik kamen im Vergleich dazu sehr viel mehr Personen aus dieser Verfolgtengruppe zurück, zumal auch in höherem Alter und zu einem relativ späten Zeitpunkt (die sogenannten „returners for retirement“), u. a. um in den Genuss bestimmter Wiedergutmachungszahlungen zu kommen (etwa Soforthilfe für Rück-

13 Siehe hierzu Ralf Kessler und Hartmut Rüdiger Peter, „Antifaschisten in der SBZ. Zwischen elitärem Selbstverständnis und politischer Instrumentalisierung“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995) 4, S. 611–633, sowie insgesamt zum Thema Wiedergutmachung in der DDR: Constantin Goschler, „Wiedergutmachung in der DDR (1945–1989). Antifaschismus und Sozialpolitik“, in: ders., Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2 2008, S. 361–411. 14 Vgl. ebd., S. 121–359 sowie die Beiträge in Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, hrsg. von José Brunner, Norbert Frei und Constantin Goschler (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 8), Göttingen 2009. 15 Vgl. insgesamt zu dieser Thematik die Beiträge in: Zwischen Politik und Kultur – Juden in der DDR, hrsg. von Moshe Zuckermann, Göttingen 22003.

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wanderer oder auch Entschädigungsrenten).16 Zudem ergab sich daraus eine vollkommen andere Archivlandschaft, mit umfangreichen Einzelfallakten zur Wiedergutmachung in der Bundesrepublik, die oft auch eine detailgenau Rekonstruktion von Exil- und Rückkehrvorgängen einzelner eher unbekannter Musikschaffender ermöglichen, und sehr viel schmaleren, standardisieren VdN-Akten in der DDR, was dort eine Erforschung von Exil und Rückkehr der „kleinen Leute“ erheblich erschwert.17 Die Ereignisse der politischen Wende 1989 und die folgende „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten zogen auch eine Zusammenführung, Internationalisierung und Universalisierung der erinnerungskulturellen und vergangenheitspolitischen Diskurse nach sich. Freilich harren die diese Zusammenführung begleitenden Aushandlungs-, Übernahmeund Überstülpprozesse bis heute einer ebenso kritischen wie systematischen Reflexion, zumal sich mittlerweile Erinnerungs- und Gedächtniskulturen etwa von NS- und DDRZeit in auffälliger, mitunter fast skurriler Weise zu überlagern beginnen. So befindet sich die nach wie vor nach Hanns Eisler benannte Ost-Berliner Hochschule für Musik mit einem ihrer Hauptgebäude heute genau vis-à-vis vom wiederaufgebauten Berliner Stadtschloss, wo künftig anstelle des abgerissenen Palasts der Republik und in direkter Nachbarschaft zur als zentraler Erinnerungsort der deutschen „Wiedervereinigung“ geplanten „Einheitswippe“ im Humboldt Forum u. a. postkoloniale Formen von Geschichtsschreibung und Gedächtnisarbeit erfahrbar gemacht werden sollen.

Remigrierte Musikschaffende und das kulturelle Leben in der DDR Zu Recht wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass in Ostdeutschland und der DDR auch in den verschiedenen künstlerischen Bereichen oftmals eine einflussreiche Riege von Prominenten und Funktionären den Ton angab, die sich ganz überwiegend aus Remigranten, in wenigen Fällen auch Remigrantinnen, zusammensetzte.18 Dieser Befund gilt auch für die Musikkultur.19 So gehörten mit Hanns Eisler und Paul Dessau zwei der 16 Vgl. für diese Gruppe im Bereich der Musikschaffenden in der Bundesrepublik Pasdzierny, Wiederaufnahme, (wie Anm. 4), S. 339–347 und 649. 17 Siehe insgesamt zu Entschädigungs- und VdN-Akten als Quellen der Musikgeschichtsschreibung Matthias Pasdzierny, „‚Ein sonderbares Gefühl […] eine abgebrochene Karriere in DM ausgedrückt zu sehen‘. Entschädigungs- und VdN-Akten als musikgeschichtliche Quellen“, in: Archive zur Musikkultur nach 1945. Verzeichnis und Texte, hrsg. von Antje Kalcher und Dietmar Schenk (= Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), München 2016, S. 196–204. Wolfgang Benz prägte den Begriff „Exil der kleinen Leute“ im Kontext der Erforschung der Alltagsgeschichte des Exils von Verfolgten, die gerade nicht zu intellektuellen, künstlerischen oder sonstigen Eliten gehört hatten. Siehe die Beiträge in: Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration, hrsg. von dems., München 1991. 18 Siehe etwa für die Literatur Bauer: „Heim in ein Bauplanquadrat“, (wie Anm. 1), S. 143–155. 19 Folgende Publikationen sind zu nennen, die einen ersten Überblick zum Thema Rückkehr aus dem NS-Exil und das Musikleben der DDR geben: Frank Schneider, „Remigranten in der DDR“, (wie Anm. 3); Brigitte Kruse, „Emigration – Rückkehr – Neuanfang. Vorleistungen des Exils für den musikkulturellen Neuanfang in der DDR“, in: Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, hrsg.

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wichtigsten, auch international bekannten Komponisten der DDR zu dieser Gruppe, darüber hinaus wurde etwa die Musikwissenschaft mit Ernst Hermann Meyer, Nathan Notowicz, Georg Knepler und Inge Lammel ganz entscheidend von Rückkehrern und Rückkehrerinnen geprägt.20 Hinzu kommen, allerdings schon erheblich weniger, zurückgekehrte ausübende Musikerinnen und Musiker, etwa der Schauspieler und Sänger Ernst Busch, der die NS-Zeit im Exil und in Gefängnishaft überlebt hatte, aber auch Dirigenten wie Kurt Sanderling,21 Hermann Scherchen (als einer der wenigen temporären Rückkehrer, der allerdings seinen Wohnsitz in der Schweiz behalten und später hauptsächlich in Westdeutschland arbeiten sollte22), Erich Kleiber (dessen spektakuläre Rückholung als Generalmusikdirektor an die Berliner Staatsoper jedoch noch vor dem eigentlichen Beginn scheiterte23) und, gewissermaßen als ein Sonderfall, der Dirigent und Schönberg-Schüler Joseph ­Trauneck, auf den noch zurückzukommen sein wird. Insgesamt fällt bei diesem Personaltableau vor allem auf, dass in der DDR institutionelle Führungs- und Funktionärspositionen des Musiklebens sehr oft von Remigranten besetzt wurden, etwa Georg Knepler als Leiter der Deutschen Hochschule für Musik in Ost-Berlin, Hanns Eisler als Leiter der dortigen Kompositionsklasse, Paul Dessau als Mitglied und zeitweise Vizepräsident der Akademie der Künste der DDR, Ernst Hermann Meyer mit einer ganzen Reihe von Führungspositionen im Bereich der institutionell und auf Verbandsebene organisierten Musikpolitik, aber auch Erwin Johannes Bach als Leiter der zunächst Interalliierten, später Internationalen Musikbibliothek in Berlin (Ost)24 oder die im Folgenden von Brunhilde Sonntag, Hans-Werner Boresch und Detlef Gojowy, Köln 1999, S. 251–266; Maren Köster, „‚Ich habe gedacht, hier wird jeder gebraucht.‘ Remigrantinnen in der SBZ/DDR“, in: Echolos. Klangwelten verfolgter Musikerinnen in der NS-Zeit. 12. Tagung der AG „Frauen im Exil“ in der „Gesellschaft für Exilforschung“, 1.–3. November 2002, hrsg. von Anna-Christine Rhode-Jüchtern und Maria Kublitz-Kramer, Bielefeld 2004, S. 273–292; dies., Musik-Zeit-Geschehen, (wie Anm. 2), S. 103–118, sowie der Abschnitt „Remigration“ in: Matthias Tischer, Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln u. a. 2009, S. 29–34. 20 Peggy Klemke, „Die Rolle von DDR-Musikwissenschaftlern in den fünfziger Jahren bei der Propagierung des sozialen Realismus“, in: Form Follows Function – Zwischen Musik, Form und Funktion. Beiträge zum 18. internationalen studentischen Symposium des DVSM (Dachverband der Studierenden der Musikwissenschaft) in Hamburg 2003, hrsg. von Till Knipper u. a., Hamburg 2005, S. 261–281, vor allem S. 261–266. Zu Ernst Hermann Meyer als Komponist siehe jüngst Golan Gur, „Classicism and Anti-Fascist-Heritage: Realism and Myth in Ernst Hermann Meyer’s Mansfelder Oratorium (1950)“, in: Classical Music in the German Democratic Republic. Production and Reception, hrsg. von Kyle Frackman und Larson Powell, New York 2015, S. 34–57. 21 Siehe Jörg Rothkamm, Art. „Kurt Sanderling“, in: LexM, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00002180, letzter Zugriff: 27.05.2019. 22 Vgl. Sophie Fetthauer, Art. „Hermann Scherchen“, in: LexM, https://www.lexm.uni-hamburg.de/ object/lexm_lexmperson_00001158, letzter Zugriff: 27.05.2019. 23 Vgl. Matthias Pasdzierny, Art. „Erich Kleiber“, in: LexM, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00001840, letzter Zugriff: 29.05.2019, zu seiner gescheiterten Rückkehr ins geteilte Berlin: Misha Aster, Staatsoper. Die bewegte Geschichte der Berliner Lindenoper im 20. Jahrhundert, München 2017, S. 304–317. 24 Siehe zu Bach Aljonna Möckel und Nicole Ristow, Art. „Erwin Johannes Bach“, in: LexM, https:// www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002698, letzter Zugriff: 28.05.2019.

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ausführlicher vorgestellte Inge Lammel als Leiterin des Arbeiterliedarchivs an der Akademie der Künste der DDR. Hinzu kommt, dass etwa die Nationalhymne der DDR mit Johannes R. Becher und Hanns Eisler von zwei remigrierten Künstlern geschaffen, zahlreiche hochrangige Staats-Preise der DDR an aus dem Exil zurückgekehrte Musikschaffende verliehen25 und die Ost-Berliner Deutsche Hochschule für Musik 1964 in Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ umbenannt, mithin also die Rolle von Exil-Rückkehrern insgesamt mit hohem symbolischem und öffentlichem Wert aufgeladen wurde. Kann die DDR also, einmal mehr im Vergleich mit der Bundesrepublik, auch mit Blick auf die Musikkultur als Remigrantenstaat bezeichnet werden? In gewisser Weise ist eine solche Behauptung durchaus zutreffend, doch bei genauerer Hinsicht zeigt sich, dass auch hier die Dinge durchaus nicht so einfach liegen, wie es ein solches, offenbar eindeutiges und gewissermaßen als Erfolgsgeschichte lesbares Narrativ suggeriert. Problematisch erscheint daran zunächst einmal innerhalb der DDR die Relativierung, wenn nicht gar Nivellierung der im Einzelnen ja sehr unterschiedlichen und nicht immer und gleichsam einem Automatismus gehorchend erfolgreichen Biografien der Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Hier muss im Einzelnen jeweils unterschieden werden, etwa nach Herkunfts- und Exilländern (Hanns Eisler oder etwa auch Erich Kleiber waren gebürtige Österreicher, einen sehr großen Unterschied machte, ob jemand in der Sowjetunion im Exil gewesen war oder in der sogenannten „Westemigration“), nach dem Grund des Exils (politische und/oder „rassische“ Verfolgung), aber auch nach der sich zu unterschiedlichen Zeiten durchaus wandelnden Situation von zurückgekehrten Musikschaffenden in der DDR.26 Zudem scheint in der Breite der Musikkultur der Einfluss und vor allem auch die Zahl zurückgekehrter Musikschaffender wesentlich geringer gewesen zu sein, als es die Prominenz und jeweilige herausgehobene Position der genannten Fälle vermuten lässt. Sieht man von dem geschilderten Kreis von Rückkehrerinnen und Rückkehrern in Leitungspositionen ab, der sich mit Erweiterungen auf eine Größe von etwa 20 bis 30 Personen belaufen dürfte, so finden sich darüber hinaus nach vorläufigen Schätzungen insgesamt nur sehr wenige remigrierte Musikschaffende in der DDR.27 Entsprechend könnte man als Fazit dieses kurzen Überblicks festhalten, dass das Musikleben Ostdeutschlands und der DDR durchaus maßgeblich von Exil-Rückkehrern aufgebaut wurde. Hier gelang es darüber hinaus, im Gegensatz zu Westdeutschland und der Bundesrepublik, wo die vergeblichen Bemühungen um eine Rückholung Paul Hindemiths symbolisch für das allgemeine Scheitern von Prominenten-Rückrufen stehen,28 auch 25 Vgl. etwa die zahlreichen, teilweise höchstrangigen Preise (etwa der Nationalpreis 1. Klasse) für Ernst Hermann Meyer, Hanns Eisler und Paul Dessau. Siehe hierzu die jeweiligen Personeneinträge im LexM. 26 Vgl. generell hierzu Scholz, „Sowjetische Besatzungszone und DDR“, (wie Anm. 1), Sp. 1181 f. 27 Dies ist das Ergebnis von Untersuchungen für Ost-Berlin und Leipzig, die im Rahmen des oben genannten Forschungsprojekts „Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit“ (s. Anm. 4) unternommen wurden. Eine tatsächliche Erhebung in der Breite, etwa auf der Grundlage von VdN-Akten, steht allerdings noch aus. 28 Vgl. hierzu Matthias Pasdzierny, „‚Unter den Emigranten der „Dagebliebenste?‘ Paul Hindemith als Projektionsfigur der westdeutschen Nachkriegsgeschichte“, in: Hindemith-Jahrbuch/Annales Hindemith 47 (2018), S. 9–33.

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einige namhafte Vertreter des Musik-Exils anzusiedeln, mit Hanns Eisler an erster Stelle. Und dennoch fällt auf, dass der relevante Personenkreis insgesamt sehr klein und, mit sehr wenigen Ausnahmen wie eben Eisler oder auch Paul Dessau, die beide bald die Grenzen ihrer Möglichkeiten in der DDR kennen lernen sollten,29 vor allem auf die kulturpolitische Funktionärsebene sowie die akademische Musikwissenschaft beschränkt blieb. Auf die künstlerische Praxis des Musiklebens der DDR hatten Rückkehrerinnen und Rückkehrer mithin allem Anschein nach nur sehr geringen Einfluss.

Biografische, institutionelle, kulturelle und (vergangenheits)politische Dimensionen von Rückkehr in die ostdeutsche Musikkultur: Inge Lammel und der Aufbau des Arbeiterliedarchivs der DDR Am Beispiel der Lebens- und Wirkungsgeschichte von Inge Lammel sowie des von ihr maßgeblich geprägten Aufbaus des Arbeiterliedarchivs zu einer der Vorzeigeinstitutionen der DDR-Musikkultur lassen sich viele der bisher eher allgemein gehaltenen Beobachtungen konkret nachvollziehen. Zu Lammels Biografie liegen bereits einige Publikationen vor, eine im Kontext von Zeit- und Kulturgeschichte der ostdeutschen Nachkriegszeit sicher sehr aufschlussreiche detaillierte Institutionengeschichte des Arbeiterliedarchivs existiert bislang nicht.30 Lammel, die in und um Berlin in einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie aufgewachsen war, entschied sich, in Absprache mit ihren Eltern, im Gefolge der Reichspogromnacht 1938 zur Flucht aus Deutschland, die ihr im Alter von 15 Jahren mithilfe eines Kindertransports nach Großbritannien im Sommer 1939 gelang. Gemeinsam mit ihrer Schwester – die Eltern waren in Deutschland geblieben und wurden später im Vernichtungslager Auschwitz ermordet – baute sie sich u. a. im London der Kriegsjahre in den Folgejahren eine bescheidene Existenz mit Tätigkeiten als Kindergärtnerin und Fabrikarbeiterin auf. Entscheidend für ihre politischen Überzeugungen, ihre kommende Karriere wie auch für ihre Rückkehr nach Berlin war das Umfeld des Freien Deutschen Kultur29 Vgl. zu Dessau Tischer, Komponieren für und wider den Staat, (wie Anm. 19), zu Eisler etwa die enstprechenden Beiträge in: Hartmut Krones (Hrsg.), Hanns Eisler – ein Komponist ohne Heimat, Wien u. a. 2012. 30 Zu Lammel siehe: Jutta Raab Hansen, Art. „Inge Lammel“, in: LexM, https://www.lexm.uni-hamburg. de/object/lexm_lexmperson_00005366, letzter Zugriff: 28.05.2019 sowie Köster „Remigrantinnen in der SBZ/DDR“, (wie Anm. 18), S. 278–281. Die folgenden biografischen Angaben sind weitgehend diesen Publikationen entnommen, ergänzt durch ein Zeitzeugeninterview, das Cordula HeymannWentzel, seinerzeit Mitarbeiterin des DFG-Projekts „Kontinuitäten und Brüche“ (s. Anm. 4) am 14.06.2012 in Berlin mit Inge Lammel geführt hat. Die Geschichte des Arbeiterliedarchivs, dessen institutioneller Nachlass sich heute im Archiv der Berliner Akademie der Künste befindet, wurde bislang hauptsächlich in von Lammel und anderen Beteiligten selbst verfassten Darstellungen aus Anlass von verschiedenen Jubiläen beschrieben. Diese sind daher in erster Linie als Quellentexte aufzufassen. Zu nennen wären: 30 Jahre Arbeiterliedarchiv. Eine Dokumentation, hrsg. von der Akademie der Künste der DDR, Berlin 1984, Inge Lammel, „25 Jahre Arbeiterliedarchiv“, in: Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik: Mitteilungen 17 (1979), S. 6–8; dies., „10 Jahre Arbeiterliedarchiv“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 6 (1964), S. 255–266.

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bunds (FDKB), dem sie sich in England anschloss und wo sie mit Ernst Hermann Meyer in Kontakt kam. Dieser, ebenfalls aus einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie, aber schon vor seinem Exil ausdrücklich kommunistisch politisiert, war ebenfalls nach Großbritannien geflüchtet und betätigte sich dort, u. a. im FDKB, politisch und künstlerisch zur gleichen Zeit, etwa als Chorleiter des „Antifaschistischen Chores“.31 In den gemeinsamen Jahren im englischen Exil entwickelte sich eine Art Mentorenverhältnis zwischen Meyer und der neun Jahre jüngeren Lammel, das bis in die Zeit der späten DDR hinein tragfähig bleiben sollte. Lammel entschloss sich schließlich gemeinsam mit einigen Freunden aus dem Umfeld des FDKB sehr früh nach Kriegsende zur Rückkehr nach Berlin, die letztlich 1947 gelang. Meyer hatte bereits 1946 Großbritannien verlassen, ließ sich nach einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz allerdings erst 1948 endgültig in Ost-Berlin nieder, wo er in kürzester Zeit Karriere als Musikwissenschaftler und Funktionär des kulturellen Lebens der DDR machen konnte. Bereits im englischen Exil hatte Meyer Inge Lammel ein Musikwissenschaftsstudium nahegebracht, das sie unmittelbar nach dessen dortigem Dienstantritt 1948 an der im Kontext des beginnenden Kalten Kriegs als sozialistisches Leitinstitut wiederaufgebauten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (ab 1949 Humboldt-Universität) aufnahm.32 Wie viele der Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die sich im Exil in der politisch-antifaschistischen Arbeit engagiert hatten – in Großbritannien etwa im Umfeld des FDKB –, stellte Lammel im über mehrere Jahrzehnte zurückschauenden Interview die Situation im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland als einen (vergangenheits)politischen Hauptantrieb zur Remigration dar, die auf diese Weise den Charakter einer sinnstiftenden Mission annahm. Diese Art von Gruppenidentität, die auch eine für Ostdeutschland durchaus typische gruppenweise Rückkehr nach sich zog, überwog bei ihr und anderen die persönlichen und biografischen Widerstände, nicht zuletzt die Erinnerung an die grausame Ermordung engster Familienangehöriger, die beim Entschluss zur Rückkehr zu überwinden waren: Eigentlich eine politische Aufgabe war das. Wir hatten einen Freundeskreis, und wir waren uns einig, wir würden nicht in England bleiben, wir würden [als] wichtig gebraucht in Deutschland nach dieser Nazizeit. Wir wollten mithelfen, ein demokratisches antifaschistisches Deutschland aufzubauen. Das ist natürlich ein großes Vorhaben, aber klein-klein an seinem Arbeitsplatz kann man sowas versuchen. Man kann sich nicht abfinden damit, dass der Faschismus sich festgesetzt hat bei vielen Leuten, da muss man was tun.33 31 Siehe ausführlich zu Meyers gesamter Biografie wie zu seinen Tätigkeiten in Großbritannien: Gerd Rienäcker und Peter Petersen, Art. „Ernst Hermann Meyer“, in: LexM, Hamburg 2017, https:// www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002634, letzter Zugriff: 04.06.2019. Den Namen des Chors nennt Inge Lammel im Interview mit Cordula Heymann-Wentzel, (wie Anm. 30). 32 Zur DDR-Geschichte dieser Universität siehe Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010, hrsg. von Konrad H. Jarausch, Matthias Middell und Annette Vogt (= Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, 3), Berlin 2012. 33 Interview mit Inge Lammel, Berlin 14.06.2012, (wie Anm. 30). Das vollständige Interview wird demnächst im Kontext einer Publikation des zugehörigen DFG-Projekts (vgl. Anm. 4) veröffentlicht.

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Sicher dürfte auch die berufliche Perspektive bei der Entscheidung zur Rückkehr eine Rolle gespielt haben. Anstelle von Fabrikarbeit und einem gerade auch unter GenderAspekten sehr engen beruflichen Korridor im Exilland öffnete sich, die entsprechenden politischen Überzeugungen vorausgesetzt, in der jungen DDR ein breiter Horizont an Möglichkeiten. Dies galt auch für Inge Lammel, deren bei Meyer verfasste Staatsexamensarbeit zur Geschichte des Arbeiterlieds zum Entree-Billett für die akademische und berufliche Laufbahn geriet.34 Unmittelbar aus dem Studium heraus wurde sie damit beauftragt, den maßgeblich von Meyer und dem Linguisten und Volkskundler Wolfgang Steinitz – ebenfalls ein Rückkehrer, der in der Sowjetunion und in Schweden im Exil gewesen war35 – initiierten Aufbau eines Arbeiterliedarchivs zu leiten.36 Nach Abb. 1: Inge Lammel ca. 1958, zunächst räumlich und personell unsicherer Anfangszeit Privatbesitz Eva Hackenberg, mit gelang eine rasche Konsolidierung des Archivs, das schließfreundlicher Genehmigung von lich im Sommer 1956 als erstes musikwissenschaftliches Eva Hackenberg. Forschungsprojekt überhaupt mit mehreren festen Mitarbeitern und unter Inge Lammels Leitung der Akademie der Künste der DDR angeschlossen wurde.37 Dort sollten das Archiv und sein Team über viele Jahre Bestand haben und eine rege Sammlungs-, Publikations- und, so gut dies von der DDR aus möglich war, internationale Konferenz- und Reisetätigkeit38 entfalten, ehe es 1991 – Lammel selbst war da schon seit gut fünf Jahren im Ruhestand – „abgewickelt“ wurde und damit den Transformationsprozessen der „Wiedervereinigung“ zum Opfer fiel.39 34 Die Arbeit wurde in einer Zusammenfassung publiziert als „Das Lied der deutschen Arbeiterbewegung. Von seinen Anfängen bis nach 1890“, in: Musik und Gesellschaft 4 (1954), S. 310–316, 353–357. Eine Eingangsbemerkung wies dabei ausdrücklich auf den Entstehungskontext hin. 35 Zu Steinitz’ Biografie und seiner Rolle bei der (Re-)Etablierung der Volkskunde in der DDR siehe Teresa Brinkel, Volkskundliche Wissensproduktion in der DDR. Zur Geschichte eines Faches und seiner Abwicklung, Zürich u. a. 2012, S. 52–75. 36 Zum institutionellen und strukturellen Aufbau des Archivs, an dem etwa auch die SED maßgeblich beteiligt war, siehe Lammel, „10 Jahre Arbeiterliedarchiv“, (wie Anm. 30), insb. S. 257 f. 37 Ebd. Dort wird auch die Besetzung des wissenschaftlichen Beirats beschrieben, dem mit dem Bibliothekar und Germanisten Bruno Kaiser ein weiterer Exil-Rückkehrer angehörte. 38 Im Interview gab Lammel dazu an: „Ja, ich durfte reisen, immer so fünf Tage. Das habe ich meistens benutzt für Archivzwecke, da habe ich Archive aufgesucht, Material. Wir hatten viele Verbindungen zu Musikwissenschaftlern im Ausland, Sowjetunion. Internationale Tagungen haben wir dann selber auch durchgeführt. Teilnehmer aus Italien, aus Finnland, aus der Sowjetunion damals. […] Wir haben unsere Fühler ausgestreckt in alle Welt.“ Interview mit Heymann-Wentzel, (wie Anm. 30). 39 Zur seinerzeitigen Kritik an der 1991 erfolgten Kündigung der beiden verbliebenen Mitarbeiter und der damit verbundenen faktischen Auflösung des Projekts siehe Eckhard Roelcke, „Die Athleten. ‚Musik und Politik‘ – ein Kongreß in Wien“, in: Die Zeit, 08.01.1991, abrufbar unter: https://www. zeit.de/1991/07/die-athleten/komplettansicht, letzter Zugriff: 09.06.2019.

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Für die Bedeutung der Rückkehr von NS-Emigranten nach Ostdeutschland und in die DDR steht die Geschichte des Arbeiterliedarchivs – von ihrem Anfang bis zum jähen Ende in der Post-Wendezeit – geradezu paradigmatisch. Einerseits zeigt es die generelle Offenheit, die dort gegenüber Rückkehrern und Rückkehrerinnen herrschte bzw. die durch die Netzwerke oft gruppenweise zurückkehrender, politisch aktiver Exilanten mit hergestellt wurde und die dafür sorgte, dass jene bis in Leitungspositionen des Musiklebens aufrücken konnten, darunter, wie am Beispiel von Inge Lammel zu sehen, durchaus auch Frauen. Voraussetzung dafür war allerdings die entsprechende politische Überzeugung. Andererseits werden an diesem Beispiel die in DDR und Bundesrepublik in auffälliger Weise errichteten Parallelstrukturen der Nachkriegszeit deutlich, denn das Arbeiterliedarchiv und allgemein die Erforschung der Geschichte des Arbeiterlieds können durchaus als Pendant (und Gegenentwurf ) zur westdeutschen Volksliedforschung verstanden werden, die im Deutschen Volksliedarchiv auch einen entsprechenden institutionellen Niederschlag gefunden hat. Dieses ist zwar schon 1914 in privater Initiative gegründet, aber erst 1953 in Freiburg in öffentliche Trägerschaft überführt worden.40 So wie generell trotz allem Missbrauch durch das NS-Regime (etwa in der Hitlerjugend) das Volkslied in der Musikpädagogik der Nachkriegszeit und darüber hinaus bis Ende der 1960er Jahre vor allem in der Bundesrepublik eine herausragende Rolle spielte, galt Ähnliches für das Arbeiterlied in der DDR. Zugleich steht beides synonym für die je spezifische Verquickung von Vergangenheitspolitik und Musikkultur: In der Bundesrepublik dominierte das stillschweigende Integrieren gerade auch stark belasteter Bereiche des Musiklebens (hier der Jugendmusikbewegung und ihrer Ideale), nicht selten mithilfe von und im Tandem mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern, deren Biografien dabei freilich der Öffentlichkeit verborgen blieben.41 In der DDR wurde das Arbeiterlied als ähnlich identitätsstiftendes Kernrepertoire für eine sozialistische deutsche Gesellschaft aufgebaut, entsprechende Priorität wurde dessen Erforschung eingeräumt.42 Der Aufbau und die inhaltliche Ausrichtung der dazu nötigen institutionellen Strukturen lagen dabei ganz offensichtlich und für jedermann erkennbar in der Hand von Remigrantinnen und Remigranten. In der Folge entstand vor dem Hintergrund dieser Ost-West-Doppelstruktur einerseits zwar ein gewisser professioneller Kontakt zwischen dem Freiburger Volksliedarchiv und dem Arbeiterlied-

40 Vgl. die geschichtliche Selbstdarstellung der heute zum Zentrum für Populäre Kultur und Musik umformierten Institution sowie Hinweise auf weiterführende Literatur unter: http://www.zpkm. uni-freiburg.de/wir_ueber_uns/Geschichte, letzter Zugriff: 08.06.2019. 41 Für die Folgeorganisationen der Jugendmusikbewegung in der Bundesrepublik wäre etwa Lore Auerbach als einflussreiche Remigrantin zu nennen, die auch die Zusammenarbeit mit deren stark NSbelasteten Protagonisten wie etwa Wolfgang Stumme nicht scheute. Vgl. hierzu Pasdzierny, Wiederaufnahme, (wie Anm. 4), S. 512–544. 42 Zugleich wurde allerdings das Gebiet der Volkskunde weiterhin beforscht, wenn auch unter den Auspizien sozialistischer Wissenspolitik. Vgl. hierzu Brinkel, Volkskundliche Wissensproduktion in der DDR, (wie Anm. 35).

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archiv,43 gleichwohl dienten die Institutionen auch als Folie für die Systemkonkurrenz des kulturellen Kalten Kriegs.44 Letztlich lassen sich die aus dem Beispiel des Arbeiterliedarchivs abgeleiteten allgemeinen Beobachtungen auch auf eine konkrete Ebene der Vergangenheitspolitik ausdehnen. Rasch – und auf die eigenen Erfahrungen Lammels aus ihrer Exilzeit zurückweisend45 – setzte im Archiv (wie insgesamt in der DDR) die Sammlung von antifaschistischen und vor allem auch KZ-Liedern ein, was gerade im Vergleich mit der Bundesrepublik auch sehr frühe Formen musikalischer und musikwissenschaftlicher Erinnerungskultur mit sich brachte. So publizierte Inge Lammel bereits 1966 einen Artikel „Zur ethischen Funktion von KZ-­Liedern“ (nur wenig später sollten Studierende an westdeutschen Musikhochschulen „Stoppt Volkslied“-Flugblätter verteilen, um auf die NS-Belastung des Volkslied-Repertoires hinzuweisen46). Darin entwarf sie als eine der Ersten eine Systematik dieser Lieder, fokussierte sich dabei aber ausdrücklich nur auf ein ganz bestimmtes Repertoire, jenes des dezidiert politischen, antifaschistischen Lieds.47 So fließen in diesem Forschungsbereich, wie offenbar ja sehr oft auf dem Gebiet der Exilforschung, einmal mehr biografischer Hintergrund, wissenschaftliches Handeln und Vergangenheitspolitik unmittelbar ineinander.

Weimar and beyond – Rückkehr von NS-Verfolgten nach Thüringen Die Frage nach Formen der musikwissenschaftlichen und musikkulturellen Erinnerungskultur der DDR und deren Konnex zur Remigration leitet über zum letzten kurzen Seitenblick dieses Beitrags: der Rückkehr von Musikschaffenden in das Gebiet des heutigen Bundeslands Thüringen. Dabei fällt der Blick gleichsam naturgemäß auf Weimar, steht es doch, als Stadt Goethes und Schillers oder auch Franz Liszts und schließlich als Namens43 Vgl. zum Kontakt insbesondere zwischen Wolfgang Steinitz und dem Deutschen Volksliedarchiv Philip V. Bohlman (leider ohne nähere Belege), „600 Jahre DDR-Musikgeschichte am Beispiel deutscher Volkslieder demokratischen Charakters“, in: Musikwissenschaft und Kalter Krieg: das Beispiel DDR, hrsg. von Nina Noeske und Matthias Tischer, Köln u. a. 2010, S. 79–96, hier S. 92. 44 Vgl. etwa die vor allem die die „museale Behandlung des Arbeiterlieds in der DDR“ hart kritisierende Rezension der von Inge Lammel 1973 herausgegebenen Bibliographie der deutschen Arbeiterliederbücher 1833–1945 durch Dietrich Kayser im vom Deutschen Volksliedarchiv herausgegebenen Jahrbuch für Volksliedforschung (Jg. 19, 1974, S. 176). 45 Inge Lammel berichtet, dass „antifaschistische“ KZ-Lieder, sie nennt explizit das Moorsoldaten-Lied und das Dachau-Lied, bereits im englischen Exil zum Repertoire des Emigranten-Chores vom FDKB gehörten. Interview Inge Lammel mit Heymann-Wentzel, (wie Anm. 30). 46 Vgl. hierzu Dörte Schmidt, „Zwischen allgemeiner Volksbildung, Kunstlehre und autonomer Wissenschaft. Die Fächer Musikgeschichte und Musiktheorie als Indikatoren für den Selbstentwurf der Musikhochschule als akademische Institution“, in: Zwischen bürgerlicher Kultur und Akademie. Zur Professionalisierung der Musikausbildung in Stuttgart seit 1857, hrsg. von ders. und Joachim Kremer, Schliengen 2007, S. 361–408, hier S. 392. 47 Zu einer Kritik an dieser Einengung siehe Guido Fackler, „Lied und Gesang im KZ“, in: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture, hrsg. von Nils Grosch und Max Matter (= Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg, 46), Münster u. a. 2001, S. 141–198, hier S. 166.

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patronin der sogenannten Weimarer Republik, der zwar gescheiterten, aber doch ersten Demokratie auf deutschem Boden, mit all ihren Geistes- und Kulturgrößen, zunächst einmal für das „andere“, das „gute Deutschland“, an das sich auch und gerade in der Exilzeit viele emigrierte NS-Verfolgte gehalten hatten. Und zugleich ist Weimar, zumindest aus heutiger, erinnerungskultureller Sicht, nur noch im Doppel mit Buchenwald zu denken, als tragisches Menetekel deutscher Geschichte, worauf seit 1945 bis heute immer wieder von namhaften Kommentaren und Kommentatorinnen hingewiesen wird.48 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde Weimar immer wieder das Ziel zurückkehrender Emigranten, wenn auch in der Regel nur für kurze Besuche. Einen ganz besonderen Ansturm erlebte die Stadt im auch zum Cold-War-Ereignis hochstilisierten Goethe-Jahr 1949, wo die Rückkehr und die Ansprache Thomas Manns sicher zu den Höhepunkten der Feierlichkeiten gezählt werden konnten.49 Auch Hanns Eisler, der sich zum Zeitpunkt der Anfrage nach seiner Rückkehr aus den USA noch in Wien aufhielt, wurde in die Jubiläumsfeierlichkeiten involviert. Er erhielt von Ottmar Gerster, dem Vorsitzenden des Thüringer Musikausschusses für das Goethejahr, einen entsprechenden Kompositionsauftrag, aus dem seine am 26. August 1949 im Deutschen Nationaltheater in Weimar zur Eröffnung der GoetheFesttage uraufgeführte Rhapsodie für Orchester mit Sopran-Solo hervorging. Ihr lagen einige Zeilen aus dem dritten Akt von Goethes Faust II zugrunde, Eisler selbst bezeichnete die Komposition später als „Gelegenheitsarbeit“ mit „gewissen Feinheiten“.50 Zugleich kristallisierte sich in Weimar die Erinnerungskultur der DDR in besonderer Weise, ähnlich wie im Fall von Inge Lammels KZ-Liedersammlungen für das Arbeiterliedarchiv fanden hier zu einem sehr frühen Zeitpunkt Aktivitäten in diesem Themenbereich statt, insbesondere im Kontext der vom Institut für Volksmusikforschung kuratierten Ausstellung Dem Morgenrot entgegen! Die Ausstellung war aus Anlass der Einweihung des Buchenwald-Mahnmals 1958 gezeigt worden,51 die in diesem Kontext entstandene

48 Mit am bekanntesten dürfte Richard Alewyns Diktum „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“ sein, das er im Kontext einer Vorlesungsreihe an der Universität Köln im Goethe-Jahr 1949 prägte. Richard Alewyn, „Goethe als Alibi?“, in: Hamburgische Akademische Rundschau 3 (1948/49), S. 685–687, hier S. 687. 49 Zu Manns Weimar-Reise von 1949 siehe Helmut Böttiger, „‚Die ganze Zeit Kaviar, der zu hartkörnig‘. Thomas Mann, der Deutsche als Emigrant“, in: ders. unter Mitarbeit von Lutz Dittrich, Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Ausstellung, Göttingen 2009, S. 218–241. 50 Vgl. hierzu den Brief Eislers an Gerster vom 31.05.1948 sowie seinen Brief an Winfried Zillig, Berlin, 30.06.1951, beide abgedruckt und kommentiert in: Hanns Eisler, Briefe 1944–1951, hrsg. von Maren Köster und Jürgen Schebera (= Hanns Eisler Gesamtausgabe IX, 4.2), Wiesbaden u. a. 2013, S. 139 f., 203 f., 384 f. 51 Vgl. insgesamt zu diesem Thema Christine Lost, „Die ‚Weimarer Klassik‘ in Pädagogisierungsprozessen der DDR-Gesellschaft – Teile eines ‚abgerundeten Welt- und Geschichtsbildes‘ und ‚Leitbild deutscher Erziehungsarbeit‘“, in: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, hrsg. von Lothar Ehrlich und Gunther Mai, Köln u. a. 2000, S. 233–250, hier S. 244–248.

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Materialsammlung ist eine der ersten ihrer Art und befindet sich heute im Thüringischen Landesarchiv, das in der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar untergebracht ist.52 Abgesehen von diesem als Sonderfall zu bezeichnenden Weimar-Effekt allerdings scheint es in Thüringen generell nur wenige Fälle der Rückkehr von NS-verfolgten Musikschaffenden gegeben zu haben. Ob hierbei ein Metropol-Provinz-Gefälle zum Tragen kam, müssten weitere Untersuchungen zeigen. Ein dauerhaft Remigranten anziehendes Zentrum wie Leipzig, das in diesem Kontext ausdrücklich als Alternative zu Berlin und seiner politischen Hauptstadtfunktion galt und zumindest zeitweise prominente Rückkehrer wie Ernst Bloch oder Hans Mayer vorweisen konnte, dürfte es in Thüringen wohl eher nicht gegeben haben.53 Eine der ganz wenigen Ausnahmen, die hier am Schluss zumindest noch erwähnt werden soll, ist die Rückkehr des Dirigenten Joseph Trauneck.54 1898 in Olmütz als Josef Trávníček geboren, hatte er noch als Kind in Wien die Bekanntschaft mit Hanns und Gerhart Eisler gemacht. Zwischen 1917 und 1922 war er Schüler in den Kompositionskursen Arnold Schönbergs und engagierte sich in dessen „Verein für musikalische Privataufführungen“ maßgeblich auch als Interpret. Ab 1922 schloss sich eine durchaus erfolgreiche Zeit als Operndirigent an, die ihn schließlich 1928 ins thüringische Rudolstadt führte, wo er zum städtischen Musikdirektor aufstieg. Dort begann allerdings auch der frühzeitiger Abstieg Traunecks, denn wegen seiner jüdischen Herkunft sah er sich dort schon vor 1933 Anfeindungen ausgesetzt. Bereits 1934 entschloss sich Trauneck daher zur Flucht aus Deutschland und emigrierte nach Südafrika, wo er sich bis 1955 aufhielt und in Johannesburg als Dirigent durchaus Fuß fassen konnte. Dennoch schien Thüringen eine Art Sehnsuchtsort, seine Zeit in Rudolstadt eine biografische Projektionsfläche darzustellen. Zwar scheiterte Abb. 2: Joseph Trauneck, Fotograf ein früher Rückkehrversuch im Rahmen eines für 1948 in unbekannt, mit herzlichem Dank Rudolstadt geplanten Gastdirigats, doch im Zuge der immer an Arnold Schönberg Center, stärker werdenden Politik der Apartheid in Südafrika ent- Wien. 52 Siehe https://www.hfm-weimar.de/studierende/meine-hochschule/hochschularchiv-thueringischeslandesmusikarchiv.html, letzter Zugriff: 10.06.2019. 53 Zu Leipzigs Sonderrolle in dieser Hinsicht siehe Matthias Middell, „‚Moderner Geistestyp‘ statt ‚mit exakten Forschungsmethoden vertrauter Gelehrter‘. Leipzig als ein Zentrum der akademischen Remigration nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Denken ist Überschreiten – Ernst Bloch in Leipzig. Begleitband zur Ausstellung. Kustodie der Universität Leipzig, hrsg. von Rudolf Hiller von Gaertringen, Leipzig 2004, S. 49–86. 54 Zu Trauneck siehe die detail- und materialreiche, hervorragend recherchierte biografische Darstellung des South African Music Archive Project, abrufbar unter http://samap.ukzn.ac.za/Trauneck/, letzter Zugriff: 09.06.2019 sowie Pamela Tancsik, „Tracing Joseph Trauneck: the wanderings of a persecuted man“, in: Fontes artis musicae: journal of the International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centres 56 (2009), S. 115–137. Die hier vorgestellten biografischen Informationen zu Trauneck sind diesen Publikationen entnommen.

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schied sich Trauneck, der sich in diversen Projekten auch in Johannesburger Townships engagiert hatte, zur Übersiedlung in die DDR, wo er durch Vermittlung seines Jugendfreunds Hanns Eisler 1956 zunächst beim Kulturorchester Schleiz unterkam, ehe er ein Jahr später als zweiter Kapellmeister am Opernhaus Erfurt Anstellung fand. Weitere Stationen innerhalb Thüringens folgten, etwa als Dirigent bei den Kulturorchestern in Sonneberg und Bad Salzungen, jedoch zeugen die jeweils nur kurzfristigen Engagements davon, dass Trauneck in der DDR mehr gelitten als tatsächlich akzeptiert wurde.55 In seinen Briefen an Eduard Steuermann, den berühmten Pianisten der Schönberg-Schule, mit dem Trauneck stets Kontakt gehalten hatte, schilderte er diesem seine zwiespältigen Empfindungen über sein Leben in der DDR und insbesondere in Thüringen, die offenbar quer standen zu seinen Erinnerungen und ursprünglichen Hoffnungen: Admittedly it is a different country altogether from what I remember, an amazing country offering a most fascinating task for the artist, a most gratifying task. But at the same time, the grim memories – Buchenwald is just next door – lies [sic] over every place and people feel it as much as I do, sometimes it becomes unbearable. Again am I reminded of Schubert’s Der Wegweiser …56

Mitte der 1960er Jahre schließlich schienen Trauneck die Lebensverhältnisse in der DDR nicht mehr tragbar. Erneut entschied er sich zur Emigration und siedelte nach Wien über, womit die Biografie Traunecks zum Ende dieses Beitrags eines der wenigen ganz offensichtlichen Beispiele dafür liefert, dass auch in der DDR die Rückkehr von NS-verfolgten Musikschaffenden scheitern konnte.

55 Vgl. hierzu auch die Schilderungen Peter Gülkes, der über Traunecks späte Jahre in der DDR als Zeitzeuge Auskunft geben kann (Peter Gülke: „… und ein Gescheiterter: Joseph Trauneck“ in: ders., Dirigenten, Hildesheim 2017, S. 173–178). 56 Brief Joseph Trauneck an Eduard Steuermann, Erfurt, 28.12.1957, zit. n. http://samap.ukzn.ac.za/ Trauneck/8-second-emigration-and-work-east-germany, letzter Zugriff: 09.06.2019.

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Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche

Von der Judenausgrenzung zur Judenvernichtung. Eckdaten1 Rechtliches und Administratives zu rassistischer Ausgrenzung im NS-Deutschland 30. Januar 1933: Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler zielte die NSPolitik auf eine schnelle Ausgrenzung jüdischer Bürger aus allen Lebensbereichen ab. Parallel zur rassistischen NS-Propaganda erlangten von staatlicher Seite antijüdische Gesetze und Verordnungen juristische Gültigkeit. 7. April 1933: „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Es ermöglichte die Entlassung aller Beamten, die nicht „arischer“ Abstammung waren oder als politisch unliebsam galten. Der hier enthaltene „Arierparagraf“ wurde schnell auf andere Berufsgruppen mit „öffentlichen Aufgaben“ übertragen; etwa Notare, Lehrer, Wissenschaftler und Künstler. 15. September 1935: „Nürnberger Gesetze“. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot u. a. Eheschließungen sowie außereheliche sexuelle Kontakte zwischen „Juden“ und „Ariern“ (im NS-Jargon). Das „Reichsbürgergesetz“ schränkte die Rechte deutscher Bürger „jüdischer“ Herkunft ein. Sie verloren ihre politischen Rechte und wurden aus allen öffentlichen Positionen ausgeschlossen. Durch mehrere Verordnungen zum „Reichsbürgergesetz“ erhielten Enteignungen des Besitzes jüdischer Mitbürger eine rechtliche Grundlage. 9. und 10. November 1938: Novemberpogrome („Reichskristallnacht“), in deren Verlauf mehr als 1400 Synagogen und Betstuben in Deutschland und Österreich zerstört oder beschädigt wurden, ebenso Tausende Wohnungen sowie Geschäfte von jüdischen Eigen1 Ausgewählte Sekundärliteratur: Irina Kaminiarz, „Entartete Musik und Weimar“, in: Das dritte Weimar, hrsg. von Lothar Ehrlich u. a., Köln u. a. 1999, S. 267–292; Bernhard Post, „Die nationalsozialistische Machtübernahme in Weimar“, in: Bernhard Post, Irina Lucke-Kaminiarz und Harry Stein, Kulturverlust. Die Vertreibung und Ermordung jüdischer Musiker des DNT Weimar, Ausstellung im Deutschen Nationaltheater Weimar, Katalog, Erfurt 2002, S. 17–21; Anette Seemann, Der „Geist von Weimar“ im Nationalsozialismus, Erfurt 2015; Wolfgang Benz, Der Holocaust, München 92018; LeMO – Lebendiges Museum Online, https://www.dhm.de/lemo/projekt, letzter Zugriff: 30.12.2018. Vgl. auch: Bernhard Post, „Weimar – ‚Das kulturelle Herz Deutschlands‘ und die Schicksale von Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé“, in diesem Band, S. xxx; Irina Lucke-Kaminiarz, „Der Fall Dr. Ernst Praetorius. Seine Hintergründe und Wirkungen“, in diesem Band S. xxx.

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tümern. Geschätzt wird, dass 400 Juden in jener Nacht und weitere 400 an den Folgetagen bei den Exzessen ermordet wurden. 20. Januar 1942: „Wannseekonferenz“ – Organisation der Deportation der gesamten „jüdischen“ Bevölkerung Europas zur systematischen Vernichtung.

Antisemitismus und Judenfeindschaft als „kulturelles Anliegen“ Antisemitismus war schon vor 1933 in zahlreichen Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen salonfähig. Das Land Thüringen, wo die NSDAP 1930 erstmals an einer Landesregierung des Reichs beteiligt wurde („Baum-Frick-Regierung“), nahm dabei eine traurige Vorreiterrolle ein. Unter diesen Vorzeichen erfolgte die Berufung von „Kulturrassisten“ wie Paul Schultze-Naumburg als Leiter der Weimarer Kunsthochschule oder des „Rassenkundlers“ Hans F. K. Günther auf eine Professur an die Thüringische Landesuniversität Jena (heute Friedrich-Schiller-Universität Jena); seiner Antrittsvorlesung wohnte Hitler bei. 10. Mai 1933: Öffentliche Bücherverbrennungen in den meisten größeren Städten des Deutschen Reichs, die auf Initiative von NS-Akademiker- und NS-Studentenverbänden als „Aktion wider den undeutschen Geist“ stattfanden und bei denen Schriften jüdischer, marxistischer, pazifistischer und anderer oppositioneller Autorinnen und Autoren verbrannt wurden. 22. September 1933: Gründung der Reichskulturkammer (RMK). Ihr Leiter war der Propagandaminister Joseph Goebbels. Sie bestand aus sieben Einzelabteilungen. Die Reichsmusikkammer war eine von ihnen. Ihre Aufgabe war die zentrale Organisation und Überwachung des Musiklebens. Darüber hinaus sollte sie die deutsche Musik von jüdischen, fremden und „zu modernen“ Einflüssen reinigen. Die „entartete Musik“ von Mendelssohn Bartholdy, Kurt Weill, Arnold Schönberg, Anton Webern, Paul Hindemith und vielen anderen musste aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Die Mitgliedschaft in der RMK war obligatorisch, um den Musikerberuf ausüben zu dürfen. Ein fehlender Ausweis der RMK bedeutete Berufs- oder Aufführungsverbot (bei den Komponisten). Um Mitglied der RMK zu werden, brauchte man einen ausreichenden „Ariernachweis“. Der erste Präsident der Reichsmusikammer war Richard Strauss (1864–1949), ab 1935 übernahm diese Funktion der Dirigent und Liszt-Forscher Dr. Peter Raabe (1872–1945). Ihr Vizepräsident war zunächst der international bekannte Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886–1954), ab 1934 der Komponist Paul Graener (1872–1944).

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Altenburg Nie sprach sie allerdings über ihre schwere Zeit in Theresienstadt.2

Josefine Amalie Franziska Back-Freund, 06.04.1886, Wien – 10.02.1964, Altenburg3 Josefa Freund stammte aus der österreichischen Musikerfamilie Freund-Eibenschütz. So war Ilona Eibenschütz,4 eine Tante mütterlicherseits, Schülerin von Clara Schumann und selbst eine bekannte Klaviervirtuosin. Josefa Freunds Eltern verkehrten mit den musikalischen Größen ihrer Zeit. Johann Strauss (Sohn), Arthur Nikisch, Eduard Hanslick, Franz Lehár und Emmerich Kálmán lernte sie persönlich kennen. Johannes Brahms, der mindestens einmal in der Woche in ihrem Elternhaus erschien und Josefa gern singen hörte, betrachtete sie als „guten Spielkameraden“.5 Ihr Gesangslehrer am Wiener Konservatorium war Filip Forstén (1852–1932). Mit dessen Lebensgefährtin, Abb. 1: Josefa Back um 1914, der berühmten Opernsängerin Pauline Lucca (1841–1908), Sammlung Christian Repkewitz, studierte sie mehrere Partien ein, u. a. die Rolle der Zer- Altenburg, Thüringen. lina in Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni. Pauline Lucca soll Josefa einen Rat gegeben haben, den diese später immer befolgte: „Du gehst mir nie mit leerem Magen auf die Bühne. Iss erst was Ordentliches in der Garderobe – ein Beefsteak mit Ei oder sonst etwas Kräftiges.“6

2

Joachim Graupner, „Josefa Back-Freund“, in: Altenburger Geschichts- und Hauskalender 1993, S. 56–59, hier S. 59. 3 Siegfried Wolf (wiss. Betreuung), Juden in Thüringen 1933–1945, biographische Daten, hrsg. vom Europäischen Kulturzentrum in Thüringen, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, 2 Bde., Erfurt 2002, hier Bd. 1, S. 20; Ingolf Strassmann, Die Juden in Altenburg – Stadt und Land, Altenburg 2004, S. 35; Christian Repkewitz, Verblasste Spuren II. Lebens und Leidenswege jüdischer Einwohner des Altenburger Landes von 1869 bis 1945, Altenburg 2016, S. 54 ff.; ders., Heute vor 70 Jahren: Beliebte Künstlerin Josefa Back deportiert, in: https://www. christian-repkewitz.de/index.php/de/, letzter Zugriff: 13.12.2018. 4 José Eibenschütz (1872–1952) war ein Vetter von Josepha Back-Freund. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte er in Thüringen (Sülzhayn und Nordhausen), vgl.: Hans Rudolf Jung, Art. „José Eibenschütz“, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und (ab 2014) Sophie Fetthauer, Hamburg seit 2005 (im Folgenden: LexM), https://www. lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001796, letzter Zugriff: 03.12.2018. 5 Josefa Back Freund, „Wiener Musikalische Größen“, in: Jahrbuch der Vereinigung der Theaterfreunde für Altenburg und Umkreis e. V. 1925, S. 44–57, hier S. 54. 6 Ebd., S. 57.

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Abb. 2: Ankündigung von Giacomo Puccinis La Bohème am 27. April 1913 am Herzoglichen Hoftheater Altenburg mit Josefa Freund als Musetta, LATh-StA Altenburg, Theaterzettel Nr. 121, S. 179.

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Ende April 1907 kam Josefa Freund zum ersten Mal nach Altenburg.7 Der Grund ihrer Reise war eine Bühnenprobe zu Gaetano Donizettis Regimentstochter. Ihr Gesang gefiel dem Intendanten des Herzoglichen Hoftheaters, Franz Freiherr von Kageneck, so gut, dass er sie auf der Stelle engagierte. Schnell wurde die Wienerin in der kleinen Residenzstadt zu einer beliebten und verehrten Künstlerin. In der Rolle der Hanna Glawari in Lehárs Lustiger Witwe war sie so erfolgreich, dass sie seitdem vor allem in Operetten sang und spielte. Sie trat aber auch in Operninszenierungen auf, etwa als Musetta in Giacomo Puccinis Oper La Bohème. Ihre Bühnenkarriere endete offiziell mit ihrer Heirat im Jahre 1913. Trotzdem blieb sie dem Theater eng verbunden und beteiligte sich auch weiterhin intensiv am gesellschaftlichen Leben in der Stadt. Josefa Back-Freund war Mitbegründerin und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Theaterfreunde für Altenburg und Umkreis e. V., wirkte als Gesangspädagogin und war vielfach in privaten Konzerten zu hören. 1933 wurde ihr das Unterrichten verboten. Aus dem von ihr einst mitbegründeten Verein der Theaterfreunde trat sie aus, nachdem sie in einer Versammlung rassistisch geschmäht worden war. 1941 starb ihr nichtjüdischer Ehemann. Am 12. Januar 1944 wurde die nunmehr schutzlose Künstlerin nach Theresienstadt deportiert. Josefa Back-Freund überlebte das KZ Theresienstadt und eine Typhuserkrankung nach der Befreiung. Im Juni 1945 kehrte sie nach Altenburg zurück. Später war sie wieder als Gesangspädagogin tätig. In den Jahren 1951–1955 unterrichtete sie etwa 20 Schüler. Dr. Gerhard Julius Bucky, 11.03.1908, Altenburg – 17.07.2002, San Diego (USA)8 Nach dem Abschluss der Oberrealschule in Altenburg sammelte Gerhard Bucky praktische Erfahrungen an den Bühnen in Rostock, Altenburg und Stettin als Regieassistent und Spielleiter. In der Spielzeit 1929/30 wirkte er am Landestheater Altenburg. Hier inszenierte er Das Glöckchen des Eremiten von Louis-Aimé Maillart (1929), Die Regimentstochter von Gaetano Donizetti (1930) und andere Opern. Seine Regiekonzepte gewannen die Anerkennung Abb. 3: Gerhard Bucky um 1928, Sammlung Christian Repkewitz, Altenburg, Thüringen.

7 Vgl.: Josefa Back Freund, „Meine persönlichen Erinnerungen an den Hoftheaterintendanten Freiherrn von Kageneck“, in: Jahrbuch der Vereinigung der Theaterfreunde für Altenburg und Umkreis e. V. 1931, S. 39–46. 8 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 67. Zur Familie Buckys in Altenburg vgl.: Strassmann, Die Juden in Altenburg, (wie Anm. 3), S. 80–83; Christian Repkewitz, Cohn – Bucky – Levy: Rastlos vorwärts!/Cohn – Bucky – Levy: Tirelessly onwards!, Altenburg 2017, zu Gerhard Bucky: S. 16, 33, 35 f., 54 f.

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Abb. 4: Ankündigung von Gaetano Donizettis La fille du régiment (Die Regimentstochter) am 18. März 1930 am Landestheater Altenburg unter der Spielleitung von Gerhard Bucky, LATh-StA Altenburg Theaterzettel, Nr. 144, S. 242.

der Vorgesetzten. Der Altenburger Oberspielleiter Hanns Friederici schrieb in einem Gutachten über Bucky: Herr Bucky besitzt ein ausgesprochenes Regietalent. Ich sah Inszenierungen von ihm, die sowohl hervorragend in dem aus der Musik entwickelten Darstellungsstile, wie im Bühnenbild waren. Ich kann Herrn Bucky jedem Bühnenleiter als ein modern eingestelltes, aufstrebendes Talent bestens empfehlen.9

Bucky war nicht nur auf dem Theater tätig. Er studierte auch Musikwissenschaft in Rostock, Berlin und Zürich, wo er in den Jahren 1933–1935 im Exil lebte. Den Doktortitel erlangte er 1934 an der Universität Zürich für die Arbeit Die Rezeption der Schweizerischen Musikfeste (1808–1867) in der Öffentlichkeit. 1935 musste er die Schweiz verlassen, und über Paris gelangte er Anfang 1941 nach New York. Da er dort als Erwerbsmöglichkeit die Betreuung von Vorschulkindern in Aussicht hatte, schloss er an der Columbia-Universität ein Pädagogikstudium ab. Gemeinsam mit seiner Frau betrieb er daraufhin einen Kindergarten. Als Ruheständler leitete er ein Laienorchester und einen Laienchor, er widmete sich außerdem musikwissenschaftlichen Studien. 9 Zit. n. ebd., S. 33.

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Felix Freilich, 28.02.1920, Altenburg – 25.10.2002, Cleveland (USA)10 Felix Freilichs erster Geigenlehrer war der jüdische Händler Simon Mendel Berlinski. Unterricht in den Grundlagen der Harmonielehre erteilte ihm unentgeltlich der Leiter des Schulorchesters, Studienrat Arno Schubart. Im November 1931 trat Freilich während einer Schulfeier zum ersten Mal öffentlich auf. Ein weiteres Solokonzert am 14. Februar 1934 in der Altenburger Brüderkirche konnte wegen seiner jüdischen Abstammung nicht mehr stattfinden. Freilich bildete sich dann in Leipzig und Prag weiter. 1939 flüchtete er nach Palästina, wo er u. a. beim Jerusalem Radio Orchestra als Assistenz-Kapellmeister und als zweiter Geiger im Jerusalem String Quartet tätig war. 1953 ging er in die USA und trat zunächst mit dem Atlanta Symphony Orchestra und dem Houston Symphony Orchestra auf. 1955 fand er eine feste Anstellung beim Cleveland Sym- Abb. 5: Felix Freilich, Leo Baeck phony Orchestra, dem er 45 Jahre bis zu seiner Pensionie- Institute New York | Berlin. rung 2000 angehörte. Am Pfingstmontag, 20. Mai 2002, holte Felix Freilich in der Brüderkirche in Altenburg das Konzert nach, das 68 Jahre vorher, am 14. Februar 1934, nicht hatte stattfinden können. Das Herzstück des Abends bildete die Uraufführung der eigens von Günther ­Witschurke (1937–2017) für diesen Anlass geschaffenen Komposition Reminiscence (Damals durfte seine Violine nicht erklingen) op. 145 für Violine solo, Blechbläser, Synthesizer und Schlagwerke. Einige Monate nach diesem Ereignis starb Freilich in Cleveland. Heinz Ludwig Grünwald, 01.04.1921, Altenburg – 19.12.1995, Israel11 Grünwald konnte seine musikalischen Talente erst in Israel entwickeln, wohin seine Familie 1934 emigrierte. Später gehörte er unter dem Namen Yehuda Galor dem Israelischen Philharmonischen Orchester an.

10 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 131; Strassmann, Die Juden in Altenburg, (wie Anm. 3), S. 44 f.; Repkewitz, Verblasste Spuren II, (wie Anm. 3), S. 111 f.; Leo Baeck Institute, Felix Freilich, http://musik.lbi.org/stories/felix-freilich, letzter Zugriff: 13.12.2018. 11 Strassmann, Die Juden in Altenburg, (wie Anm. 3), S. 42; Repkewitz, Verblasste Spuren II, (wie Anm. 3), S. 260 ff.

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Leopold Kornmehl (Künstlername Leo Cormer), 20.06.1910, Altenburg – 11.05.1992, Heiden (Schweiz)12 1932 nahm Leopold Kornmehl ein Dirigierstudium am Leipziger Konservatorium auf. Seine Ausbildung konnte er jedoch wegen der nationalsozialistischen Rassengesetze nicht zum Abschluss bringen. Seit dem 1. Juni 1935 lebte er in der Schweiz und wirkte dort als Kapellmeister. Unter dem Künstlernamen Leo Cormer trat er auch als Orchester- und Kaffeehauspianist auf. Berek Salomonowicz (Künstlername Bernhard Salno), 01.11.1890, Będzin (Polen) –  28.02.1962, Buenos Aires13 Salno lernte Gesang am Stern’schen Konservatorium in Berlin. Nach dem Studium war er an den Theatern in Lübeck (1916), Erfurt, Cottbus und Görlitz (1920) tätig. In Altenburg wirkte der Bassbuffo und Regisseur von 1922 bis 1925 und etablierte sich schnell als angesehener Künstler. Zur Feier des 60. Geburtstags von Richard Strauss etwa trat er am 11. Juni 1924 als Baron Ochs im Rosenkavalier auf, was der Altenburger Theaterchronist Karl Gabler in seiner Kritik wie folgt beurteilte: Mit unverwürflicher Laune spielte Bernhard Salno den dicken Baron Ochs. Köstlich war es, wie er seine Teilnahme im ersten Aufzuge immer zwischen Fürstin und vermeintlicher Kammerzofe zu teilen wußte, prächtig gespielt die vornehmtuerische Aufgeblasenheit, gepaart mit Feigheit, die wegen einer leichten Abb. 6: Bernhard Salno um 1923, Schramme um das Leben wimmert. Und als gar im letzten Bilde LATh-StA Altenburg, Landesdie „Erscheinungen“ alle auf ihn einstürmen und er seiner Angst theater Altenburg, Nr. 101. kein Ende weiß, da war er unbezahlbar komisch. Dabei steht ihm gerade für diese Rolle die klangvolle Tiefe mit Erfolg zu Gebote, vor allem aber gewinnt seine Darstellung ungemein durch sehr sorgfältige Wortprägung. Er wird als Spielleiter bei uns bleiben.14

Auch seine Arbeit als Opernregisseur kommentierte Karl Gabler in der Altenburger Presse. Die Spielleitung in Verdis Troubadour (1923) führte Salno „mit gutem Geschmack und der 12 Ebd., S. 183 f. 13 Personalakte von Bernhard Salomonowitz, Landestheater Altenburg Nr. 101, LATh-StA Altenburg; Repkewitz, Verblasste Spuren II, (wie Anm. 3), S. 260 f. 14 Karl Gablers Rezension über Salnos Auftritt im Rosenkavalier zur Feier des 60. Geburtstags von Richard Strauss, in: Nachlass Gabler 21/2, LATh-StA Altenburg. Die Rezension ist wahrscheinlich in der Altenburger Zeitung für Stadt und Land erschienen.

Ausstellung Verfolgte Musiker

Abb. 7: Ankündigung von Richard Strauss’ Der Rosenkavalier am 11. Juni 1924 am Landestheater Altenburg mit Bernhard Salno als Baron Ochs, LATh-StA Altenburg, Theaterzettel, Nr. 134, S. 324.

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Abb. 8: Ankündigung von Giuseppe Verdis Il Trovatore (Der Troubadour) am 11. November 1923 am Landestheater Altenburg unter Spielleitung von Bernhard Salno, LATh-StA Altenburg Theaterzettel, Nr. 134, S. 83.

nötigen Umsicht“.15 Seine Inszenierung der gleichen Oper ein Jahr später „bediente sich mit gutem Erfolg der Stilbühne und bot damit teilweise recht hübsche Bilder, so z. B. den Kreuzgang des Klosters im 2. Aufzuge.“16 Obwohl Salnos Tätigkeit am Altenburger Theater erfolgreich war, hielt er seine Einkünfte für viel zu gering, um seine Familie zu unterhalten. Deswegen bat er in einem Brief vom 11. April 1924 den Generalintendanten des Landestheaters Altenburg, Max BergEhlert, um eine Aufhebung seines Vertrags mit dem Theater:

15 Karl Gablers Rezension des Troubadours unter der Spielleitung von Bernhard Salno im Jahre 1923, in: ebd. 16 Karl Gablers Rezension des Troubadours unter der Spielleitung von Bernhard Salno im Jahre 1924, in: ebd.

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Auf unsere gestrige Unterredung und nach reiflicher Überlegung möchte ich nochmals herzlich bitten, meinen bereits abgeschlossenen Vertrag zu lösen. Bestimmend ist für mich in erster Linie meine bedrängte wirtschaftliche Lage. Sie selbst wissen es nur zu gut, dass ich mit meinen heutigen Bezügen meine Familie nicht ernähren kann, auch mit einer kleinen Aufbesserung wäre mir nicht viel gedient.17

Salnos Bitte wurde jedoch abgelehnt. Der Sänger durfte Altenburg erst 1925 verlassen. Im gleichen Jahr fand er eine Beschäftigung am Stadttheater in Rostock, wo er bis 1930 blieb. Später wurde sein Engagement wegen seiner Nationalität – er war Pole – nicht verlängert. Da Salnos weitere Suche nach einer festen Einstellung erfolglos blieb, ging er 1933 mit der Theatergruppe der jüdischen Gemeinde Berlin auf eine Tournee, die durch viele Länder inner- und außerhalb Europas führte. Im September 1937 emigrierte er nach Argentinien.

Apolda Dr. Adolf Aber, 28.01.1893, Apolda – 21.05.1960, London18 Adolf Aber studierte in Berlin Musik und Philosophie. Seit 1913 war er Assistent am Musikhistorischen Seminar und promovierte 1919. Seine Doktorarbeit Die Pflege der Musik unter den Wettinern und wettinischen Ernestinern von den Anfängen bis zur Auflösung der Weimarer Hofkapelle 1662, die 1921 erschien, betreute Hermann Kretzschmar (1848–1924). 1918–1933 war Aber als Musikkritiker für die Leipziger Neuesten Nachrichten und für die Allgemeine Musikzeitung tätig. Darüber hinaus publizierte er eine Reihe musikhistorischer Arbeiten, wie etwa ein Handbuch der Musikliteratur in systematisch-chronologischer Anordnung (1922, 1967), Instrumente und ihre Sprache (1924), Die Musik im Schauspiel. Geschichtliches und Ästhetisches (1926). Seit 1927 war er Mitinhaber des Musikverlags Friedrich Hofmeister (Edition Germer) in Leipzig. Nach 1933 floh er nach London, wo er ab 1936 als Direktor des angesehenen Verlags Novello & Co tätig war. Hier machte er sich besonders um die Verbreitung deutscher Musik in Großbritannien verdient. So verlegte er Werke älterer, neuerer und zeitgenössischer deutscher Komponisten und übernahm, um ihre Verbreitung in Großbritannien zu fördern, Teile der Kataloge deutscher Verlage in das Verlagsrepertoire. Ferner galt er in allen Fragen, die die deutsche Musik betrafen, als Ansprechpartner für Dirigenten und Pädagogen. 1958, zum 65. Geburtstag, erhielt Aber für seinen Einsatz für die deutsche Musik das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 1992 ehrte die Stadt Apolda sein Andenken mit der Umbenennung der Philipp-Müller-Straße in Adolf-Aber-Straße. 17 Personalakte von Bernhard Salomonowitz, (wie Anm. 13). 18 Ulrich Tadday, Art. „Adolf Aber“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 1, Kassel u. a. 1994, Sp. 40 f.; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 1; Sophie Fetthauer, Musikverlage im „Dritten Reich“ und im Exil (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 10), Hamburg 2007, S. 311, 335–338, 452; dies., Art. „Adolf Aber“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00003275, letzter Zugriff: 03.12.2018.

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Klara Kahn, geb. Herrmann, 24.07.1910, Frankfurt am Main – ?19 Kahn war in den Jahren 1935/36 als Klavierlehrerin in Apolda tätig. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

Arnstadt/Eisenach Hilde (Hilda) Aronson, geb. Lind, verh. Kaufmann, 18.12.1899, Arnstadt – New York?20 Hilda Lind war zunächst Mitglied des Eisenacher Synagogenchors, dann wirkte sie als Opernsängerin in Berlin. Am 18. März 1943 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Dort gestaltete sie gemeinsam mit dem Dirigenten Rafael Schächter (1905–1945) und anderen Künstlern das musikalische Leben des Konzentrationslagers. In Schächters berühmter Einstudierung von Verdis Requiem etwa war sie als Solistin zu hören. In einer Besprechung dieses Ereignisses bezeichnete Viktor Ullmann (1898–1944) ihre Stimme als „warm und samtig“. 21 Aronson überlebte Theresienstadt, und nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus. 1957 übergab sie der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel ein Gedenkblatt für ihren ersten Mann Willy Aronson (1893–1943) (s. Art. „Willy Aronson“ im Abschnitt über MusikerInnen, die mit Nordhausen verbunden waren).

Erfurt Editha Cohn (Künstlername Edith Lucian), 04.09.1897, Chemnitz – 04.09.1942, Auschwitz-Birkenau22 Edith Lucian wurde bei Joachim Dietz-Laursonn in Arnstadt im Ausdruckstanz ausgebildet. 1921 gründete sie in Erfurt eine private „Schule für Körperdurchbildung, Bewegungskunst und künstlerischen Tanz“, die 1930 in „Schule für Gymnastik und Tanz“ umbenannt 19 Adreßbuch der Stadt Apolda mit dem Ortsteil Nauendorf der Städte Bad Sulza und Eckartsberga und 37 ländlichen Ortschaften, gedruckt und herausgegeben vom Adreßbuch-Verlag Apolda Neueste Apoldaer Nachrichten, Apolda 1935/36, S. 58. 20 Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt a. M. 1993, S. 183, 187, 191 f., 201 f., 243, 320; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 14; Reinhold Brunner, Von der Judengasse zur Karlstraße. Jüdisches Leben in Eisenach, Weimar u. a. 2003, S. 125 f. 21 Viktor Ullmann, 26 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, hrsg. von Ingo Schultz, Neumünster 22011, S. 92. 22 Juden in Thüringen 1933–1945, (wie Anm. 3), S. 75; Akte betr. Editha Cohns Schule: 1-2/29322927, Akten des Magistrats, Stadtarchiv Erfurt; Jutta Hoschek, Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945. Biographische Dokumentation, Erfurt 2013, S. 77 ff.

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Abb. 9: Edith Lucian, Anzeige im Buch Deutschlands Städteleben, Berlin 1927, o. S., StadtA Erfurt.

Abb. 10: Anzeige von Edith Lucian im Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt, 1930, Nr. 394, StadtA Erfurt.

wurde. Das Kursangebot für Jugendliche und Erwachsene umfasste Einzelunterricht, Einstudierungen, Bühnenausbildung und modernen Gesellschaftstanz. Begabte mittellose Schüler erhielten kostenlosen Unterricht. Lucian trat auch selbst als Tänzerin auf, so im Stadttheater in den Aufführungen von Ralph Benatzkys Im weißen Rößl. Tanzprogramme für verschiedene Stadtfeste und anlässlich der Eröffnung einer Volksküche stammten ebenfalls von ihr. Ihre Schwester Margaretha Cohn (Künstlername Grete Lucian, 09.04.1893, Magdeburg – 1942, ­Auschwitz)23 war ebenfalls Tänzerin. Für die Darbietungen Ediths entwarf sie die Kostüme. Am 29. August 1933 emigrierten die Schwestern nach Frankreich. Im Sommer 1942 wurden sie verhaftet und am 10. August vom Sammellager Drancy aus in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Der Transport traf nach zwei Tagen in Auschwitz ein.

23 Ebd., S. 80 f.; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 78.

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Abb. 11: Ankündigung von Ralph Benatzkys Im weißen Rößl am 17. Februar 1932 am Stadttheater Erfurt mit Edith Lucian als Tänzerin, StadtA Erfurt, Theaterzettelsammlung.

Johanna Engel, 13.04.1889, Erfurt – 17.12.1941, Berlin (Freitod)24 Die aus Erfurt stammende Künstlerin wirkte bis 1933 in Berlin als Berufspianistin, Liedbegleiterin und Klavierlehrerin. Als sie diese Tätigkeiten nach 1933 nicht mehr ausüben durfte, engagierte sie sich im Berliner Jüdischen Kulturbund. Als die Deportationen im Herbst 1941 begannen, nahm sie sich das Leben. Paula (Pepi) Fisch, geb. Scharf-Katz, 13.06.1912, Drohobytsch (heute Ukraine)– 07.1942, Deportation ins Vernichtungslager Bełżec25 1928 studierte sie am Erfurter Konservatorium Klavier. Es ist bekannt, dass sie am 14. Dezember 1928 in einem Konzert im Konservatorium auftrat. Laut Heiratsurkunde von 1938 war sie zu jener Zeit „ohne Beruf“.

24 Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf, Art. „Johanna Engel“, https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/4451, letzter Zugriff: 13.12.2018. 25 Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 22), S. 123 f.

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Irene Goldschmidt, verh. Weinberg, 12.05.1909, Erfurt – ?, New York26 Irene Goldschmidt absolvierte das Musikseminar des Erfurter Konservatoriums. Das Wochenblatt für den jüdischen Synagogenbezirk Erfurt (1931, Nr. 344) berichtete über die erfolgreich abgelegte „Privatmusiklehrerin-Prüfung“ des Fräuleins Irene Goldschmidt. Kurz darauf zeigte die nun „staatlich geprüfte MusikAbb. 12: Anzeige von Irene Goldschmidt lehrerin“ in derselben Zeitung an, dass sie Anfängern im Wochenblatt für den Synagogenbezirk und Fortgeschrittenen Unterricht am Klavier erteile. Erfurt, 1931, Nr. 356, StadtA Erfurt. Goldschmidt engagierte sich als Vorsitzende der „Ortsgruppe Erfurt“ im „Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands“. Im August 1938 gelang es ihr, nach England zu emigrieren, wo sie sich in Manchester niederließ. Später ging sie in die USA. Der letzte bekannte Wohnsitz ist New York. Irene Goldschmidts Adoptivmutter Klara Goldschmidt (geb. Freimark, 15.04.1884, Homburg am Main – 10.05.1942, Getto Bełżyce)27 lebte als Musiklehrerin und Kauffrau in Erfurt. Hedy Gura, geb. Braun, 21.01.1894, München – 18.03.1967, Hamburg28 Hedy Gura studierte in München Gesang und fand von 1925 bis 1929 ihre erste Anstellung in Würzburg. In der Saison 1929–1931 war sie am Reußischen Theater in Gera engagiert, danach (1931–1933) am Stadttheater in Erfurt. Spätestens hier entwickelte sie sich zu einer herausragenden Solistin. Die Thüringer Allgemeine Zeitung beschrieb am 2. Februar 1932 ihren Auftritt in Verdis Troubadour: Ihre besondere Note gab dieser Aufführung die Gestaltung der Azucena durch Hedy Gura, die mehr den lähmenden Schmerz der Mutter als die skrupellose Rachgier der Zigeunerin zeichnete. Diese psychologische Anlage vertiefte den menschlichen Gehalt des ganzen Werkes und hielt die Tragik des Geschehens mehr in der Schwebe. Zugleich wurde die Musik aller klischeehaften „Dämonie“ entkleidet und in ihre führende Rolle wieder eingesetzt.29

Ihre Gestaltung der Carmen rühmte die Mitteldeutsche Zeitung Erfurt vom 24. Dezember 1932:

26 Ebd., S. 163; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 168. 27 Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 22), S. 162 ff. 28 Sophie Fetthauer, Art. „Hedy Gura“, in: LexM, (wie Anm. 4), und dort weitere Literaturhinweise, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00000938, letzter Zugriff: 03.12.2018. 29 Stadtarchiv Erfurt, Sammlung der Theaterkritiken.

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Abb. 13: Ankündigung von Georges Bizets Carmen am 25. Oktober 1929 am Reußischen Theater in Gera mit Hedy Gura als Carmen, StadtA Gera, Tageszettel 29–30.

Hedy Gura bringt in der Titelrolle eine packende, ganz große Leistung. Ihre Stimme erhebt sich in den dramatischen Höhepunkten zu reichem Glanz, sie hat aber auch ein ausdrucksvolles Parlando. Keine Silbe geht hier verloren.30

Im Jahre 1933 wurde Gura an das Hamburgische Stadttheater engagiert, wo sie bis 1954 in insgesamt mehr als 3000 Vorstellungen auftrat. Obwohl Gura nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als „Halbjüdin“ galt, wurde ihr Engagement Jahr für Jahr verlängert und 1937 durch eine Sondergenehmigung 30 Ebd.

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Abb. 14: Ankündigung von Ermanno Wolf-Ferraris Le donne curiose (Die neugierigen Frauen) mit Hedy Gura als Beatrice am 15. Januar 1932 am Stadttheater in Erfurt, StadtA Erfurt, Theaterzettelsammlung.

der Reichskulturkammer bestätigt. Einer der Gründe, die ihre berufliche Existenz und ihr Überleben ermöglichten, wird darin zu suchen sein, dass ihr Sohn Mitglied der SS war. Karl Israelski (22.10.1905, Erfurt – 06.03.1943, Deportation vom Sammellager Drancy aus in das Vernichtungslager Majdanek)31 wirkte als Pianist in Erfurt, Berlin und Essen. Erna Kochmann (geb. Mandus, 18.11.1899, Erfurt – 04.08.1943, Auschwitz)32 war als Klavier- und Gesangslehrerin in Berlin tätig. 31 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 250, Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 22), S. 223 f. 32 Nach: Liste der Stolpersteine in Berlin-Lichtenrade, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Berlin-Lichtenrade#cite_note-26, letzter Zugriff: 03.11.2018.

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Paula Lehner (geb. Unger, 19.06.1875, Stuttgart-Cannstatt – Erfurt?)33 arbeitete als Klavierlehrerin in Erfurt. Im Jahre 1944 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte das KZ, ihr ferneres Schicksal ist unbekannt. Eileen Marchand (geb. Ritter, 23.09.1912, London – ?)34 arbeitete als Tänzerin in Erfurt und wanderte am 12. Februar 1938 nach Palästina aus. Baruch Mitropolski (Künstlername wahrscheinlich Bernhard Mitro), 06.09.1897, Warschau – ?35 Der Opernsänger lebte vom 19. August 1924 bis zum 17. Juli 1933 in Erfurt. In den städtischen Adressbüchern ist der Opernsänger Baruch Mitropolski aufgeführt, auf mehreren Erfurter Theaterzetteln aus den Jahren 1927 und 1932 nennt er sich Bernhard Mitro.36 Auf der Bühne war er vor allem in Neben- oder stummen Rollen zu erleben, wie etwa als Erster Gefangener in Beethovens Fidelio oder als Verkäufer in Puccinis La Bohème.

Abb. 15: Ankündigung von Giacomo Puccinis La Bohème am 20. Juni 1927 am Stadttheater Erfurt mit Bernhard Mitro als Verkäufer, StadtA Erfurt, Theaterzettelsammlung.

33 34 35 36

Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 329. Ebd., Bd. 2, o. S. Ebd., o. S. Stadtarchiv Erfurt, Theaterzettelsammlung.

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Emanuel Hugo Georg Morgenroth (02.12.1902, Erfurt – Sterbedatum unbekannt)37 war als Unterhaltungsmusiker, Pianist und Akkordeonist tätig. Anni Steiger-Betzak, geb. Bettsack bzw. Betzak, 06.03.1897, Erfurt – ?38 Anni Steiger wirkte bis 1933 als Geigenlehrerin, später als Konzertmeisterin im Orchester des jüdischen Kulturbundes in Frankfurt am Main und als Solistin in zahlreichen Konzerten der Vereinigung. Nach der Auflösung der Organisation 1941 emigrierte sie nach Amerika.39 Moritz Tuttnauer (24.07.1900, Nürnberg – 13.02.1943, Auschwitz)40 war Musiker und wohnte vom 5. Juni 1936 bis zum 9. Dezember 1942 in Erfurt. Dr. med. Arthur Wolff, 28.02.1885, Dobrodzień (heute Polen) – 23.12.1945, Shanghai41 Der Komponist, Pianist, Organist, Dirigent und Arzt war in der Saison 1911/12 am Großherzoglichen Hoftheater in Weimar als Solorepetitor-Volontär tätig. Danach hatte er bis 1914 am Erfurter Stadttheater die Position des Kapellmeisters und Korrepetitors inne, die er auf Empfehlung Peter Raabes bekam. Während des Ersten Weltkrieges war er im Wehrdienst. Später betätigte er sich an verschiedenen Orten als Arzt und Musiker. Nach einer kurzen Inhaftierung im KZ Sachsenhausen im Jahre 1938 war er gezwungen, NS-Deutschland zu verlassen. Er emigrierte nach Shanghai.

37 Art. „Emanuel Hugo Georg Morgenroth“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg. de/object/lexm_lexmperson_00004231, letzter Zugriff: 03.12.2018. 38 Art. „Anni Steiger-Betzak“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00004253, letzter Zugriff: 03.12.2018. 39 Stephan Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS. Staat (= Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, Bd. 6), Hannover 2001, S. 178. 40 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 2, (wie Anm. 3), o. S.; Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 22), S. 464. 41 Sophie Fetthauer, Art. „Arthur Wolff“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/ object/lexm_lexmperson_00002505, letzter Zugriff: 03.12.2018.

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Abb. 16: Ankündigung von Paul Linckes Grigri am 30. Dezember 1930 am Stadttheater Erfurt unter musikalischer Leitung von Arthur Wolff, StadtA Erfurt Theaterzettelsammlung.

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Lisbeth Wolfheim, geb. Meyersberg, 15.05.1892, Erfurt – 11.12.1972, Israel42 Lisbeth Wolfheim besuchte in ihrer Heimatstadt ein Lehrerinnenseminar. Am 12. März 1915 heiratete sie den jüdischen Arzt Dr. Richard Wolfheim und arbeitete seitdem in dessen Praxis als Röntgenassistentin. 1932 wurde sie zum Mitglied der Repräsentationsversammlung der Jüdischen Gemeinde Erfurt gewählt. Sie arbeitete sowohl im Kulturausschuss ihrer Gemeinde mit als auch im Büro der Arbeitsgruppe Thüringen der „Jewish Agency for Israel“, einer Organisation, die 1929 auf dem 16. Zionistenkongress ins Leben gerufen worden war und sich mit den Fragen der jüdischen Eiwanderung nach Palästina beschäftigte. Am 27. Januar 1933 berichtete das Wochenblatt für den jüdischen Synagogenbezirk Erfurt über eine Veranstaltung der „Jewish Agency“ vom 21. Januar 1933. Es war eine Theateraufführung unter dem Titel Sprechchor. Als literarische Vorlage diente die Dichtung Ahasver von Bernhard Bernson (Weimar 1926). Es wurden altjüdische Gesänge sowie musikalische und schauspielerische Präsentationen jüdischen Inhalts geboten.43 Leo Ziegler (eigentlich Leopold Ziegelroth), 18.04.1872, Ostrowo (heute Polen) – 03.03.1957, Berlin44 Ziegler studierte seit etwa 1896/97 Gesang an der Musikakademie in Frankfurt am Main, Dr. Hoch’s Konservatorium, und war vom Januar bis April 1907 in Erfurt am Stadttheater als Tenor engagiert. Er trat in vielen Opern und Operetten auf, wurde aber hauptsächlich in Nebenrollen eingesetzt: in Wagners Tannhäuser (Heinrich der Schreiber), im Lohengrin (Brabantischer Edler), in Mozarts Zauberflöte (der Mohr Monostatos), Verdis Aida (ein Bote), Adrien Boieldieus Weißer Dame (Eugen Scribe), Lehárs Lustiger Witwe (Raoul de Saint-Brioche) und weiteren Werken. Seit 1910 leitete Ziegler gemeinsam mit seiner späteren Frau Margarete Ziegler-Bouché eine Gesangsschule und hielt Vorträge über Gesangstechnik. Im August 1935 wurde auch ihm die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer und damit die Möglichkeit der Ausübung eines künstlerischen Berufs entzogen. Zwei Jahre später traf seine Frau dasselbe Schicksal, weil sie durch ihre Ehe als „jüdisch versippt“ galt. Nach dem Krieg wurde Ziegler als „Opfer des Faschismus“ anerkannt.

42 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 2, (wie Anm. 3), o. S. 43 Wochenblatt für den jüdischen Synagogenbezirk Erfurt, 27.01.1933, Stadtarchiv Erfurt. 44 Sophie Fetthauer, Art. „Leo Ziegler“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/ object/lexm_lexmperson_00002523, letzter Zugriff: 03.12.2018; Stadtarchiv Erfurt, Theaterzettelsammlung.

Ausstellung Verfolgte Musiker

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Abb. 17: Ankündigung von Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg am 12. Januar 1907 am Stadttheater in Erfurt mit Leo Ziegler als Heinrich der Schreiber, StadtA Erfurt, Theaterzettelsammlung.

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Gera Hermann (Chaskiel) Barasch, 12.05.1896, Warta (Polen) – 07.06.1940, KZ Sachsenhausen45 Hermann Barasch betätigte sich hauptberuflich als Friseur. Nebenbei spielte er Geige als Mitglied eines Quartetts und begleitete Vorführungen von Stummfilmen. Während der „Reichskristallnacht“ wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. 1940 erneut verhaftet, kam er in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Infolge der schweren Zwangsarbeit, vermutlich im Klinkerwerk, starb er nach drei Monaten Haft. Desző Ernster, 23.11.1898, Fünfkirchen/Pécs (heute Ungarn) – 15.02.1981, Zürich46 Der Basssänger hatte in seiner langen Karriere (1923–1966) Engagements an vielen Opernhäusern in Deutschland und im Ausland, er sang zudem bei den Bayreuther Festspielen (1931). Zwischen 1946 und 1963 wirkte er in über 170 Vorstellungen an der Metropolitan Opera in New York. Die Verfolgung erreichte ihn 1944, und er wurde in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Im gleichen Jahr wurde er aber dank Bemühungen aus dem Ausland entlassen und konnte in die Schweiz fliehen. Im Stadtarchiv Gera wurden keine Akten gefunden, die seine Tätigkeit am Reußischen Landestheater Theater dokumentieren. Es ist aber bekannt, dass er auch dort wirkte. Paula Fischmann (geb. Schipper, 03.05.1891, Rzeszów [Polen] – 10.05.1942, Deportation in das Getto Bełżyce)47 war am Reußischen Landestheater aufgetreten.

45 Werner Simsohn, Juden in Gera II, Konstanz 1998, 21 f. 46 Sophie Fetthauer, Art.: „Desző Ernster“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg. de/object/lexm_lexmperson_00000894, letzter Zugriff: 03.12.2018. 47 Simsohn, Juden in Gera II, (wie Anm. 45), S. 56.

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Ausstellung Verfolgte Musiker

Wilhelm Alexander Freund, 24.07.1892, Koblenz – 07.07.1964, Sizilien48

Abb. 18: Wilhelm Alexander Freund, StadtA Gera, Programmbuch 1920–21.

Der Sohn des in der Weimarer Republik zum Staatssekretär aufgestiegenen Juristen Friedrich Theodor Werner Walther Freund studierte an dem renommierten Konservatorium Klindworth-Scharwenka in Berlin Komposition, Klavier, Gesang und Dirigieren. Parallel dazu besuchte er an der Berliner Universität musikwissenschaftliche Seminare. Von 1912 bis 1932 arbeitete er, unterbrochen durch den Kriegsdienst, als Dirigent an verschiedenen deutschen Operntheatern. In Gera war er von 1919 bis 1921 zuerst als zweiter, dann als erster Kapellmeister tätig. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er zwar als „Halbjude“ nicht aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen, er bekam aber keine Anstellung mehr als Kapellmeister. So betätigte er sich als Liedbegleiter und als Gesangspädagoge. 1948 oder 1951 ging Wilhelm Freund nach Schweden, wo er 1956 die Staatsbürgerschaft annahm. Bereits1952 war er Lehrer an der Opernklasse der Stockholmer Musikhochschule geworden. Anfang 1964 erhielt er eine Anstellung an der Königlichen Oper.

Lilly Rosa Amalie Jankelowitz (Künstlername Lilly Jank), 07.05.1907, Gera – 11.10.1944, Ravensbrück49 Ich bin die Tochter des im Kriege gefallenen Arztes Adolf Jankelowitz aus Gera; studierte seit 1924 an der Staatl. Musikschule Weimar, insbesondere in der Gesangsmeisterklasse, die z. Zt. von Frau Priska Aich, der 1. Lyr. Sängerin des Deutschen Nationaltheaters, geleitet wird. Auf Grund besonders guter musikalischer Fähigkeiten wurde ich während meiner Studienzeit durch ein Stipendium des thür. Staates gefördert.50

So beschrieb sich Lilly Jankelowitz 1928 in ihrem Bewerbungsschreiben an die Theaterakademie in Karlsruhe. Sie bekam die Zulassung zum Studium, absolvierte es erfolgreich und wurde 1930 am dortigen Badischen Landestheater angestellt. Die Zeitungen dokumen48 Sophie Fetthauer, Art.: „Wilhelm Alexander Freund“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm. uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003447, letzter Zugriff: 03.12.2018. 49 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 257; Werner Simsohn, Juden in Gera III, Konstanz 2000, S. 105 f.; Cornelie Hornung, „Lilly Jankelowitz“, in: Gedenkbuch für die Karlsruher Juden, September 2009, http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php?PID=12&name=3726, letzter Zugriff: 13.12.2018. 50 Simsohn, Juden in Gera III, (wie Anm. 49), S. 106 und 121 f.

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tieren die Erfolge der vielversprechenden jungen Künstlerin. So urteilte die Karlsruher Zeitung vom 5. Juni 1932 über ihr Auftreten in der Operette Das Dreimäderlhaus nach Franz Schubert: „Weit mehr als die Rolle eigentlich verlangt, gab Lilly Jank als Grisi, und selbst, wo sie greifbar übertrieb, war ihrer höhnisch-tröpfelnden Satire schlagkräftigste Wirkung sicher.“51 Am Badischen Landestheater war Lilly Jank bis zum 31. August 1933 tätig. Dann wurde ihr Vertrag unter Berufung auf das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ nicht mehr verlängert. Ab Anfang 1934 wohnte sie in Straßburg, wo sie kurzzeitig bei dem jüdischen Arzt Dr. Viktor Wahl, der im Jahre 1936 ihr Ehemann werden sollte, eine Anstellung Abb. 19: Lily Jankelowitz, Archiv als Sprechstundenhilfe fand. Ihren Plan, nach Palästina des Badischen Staatstheaters Karlsruhe. auszuwandern, konnte sie nicht verwirklichen. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flohen die Eheleute nach Vichy. Kurz nach der Landung der Alliierten in der Normandie wurden sie festgenommen und vom Gefängnis in Moulins nach Deutschland deportiert. Viktor Wahl starb wahrscheinlich in Ohrdruf, einer Außenstelle des KZs Buchenwald. Lilly Wahl und ihre Schwiegermutter wurden in Ravensbrück ermordet, wohin sie von Bergen-­Belsen aus deportiert worden waren. Ihr Sohn und ihre Mutter überlebten die Nazizeit. Rose Pauly, 15.03.1894, Eperjes (Österreich-Ungarn) – 14.12.1975, Kfar Schmarjahu bei Tel Aviv52 Rose Pauly studierte bei der bekannten Wagner-Interpretin Rosa Papier-Paumgartner (1859–1932) in Wien Gesang, debütierte in der Spielzeit 1917/18 am Hamburger Stadttheater, wechselte an die Wiener Staatsoper und war 1919–1921 am Reußischen Landestheater in Gera tätig. Als Künstlerin mit einem breit gefächerten Repertoire feierte sie auf den wichtigen Opernbühnen in Deutschland und auf zahlreichen ausländischen Bühnen Erfolge. Besonders gefiel sie in hochdramatischen Sopranpartien, wie etwa in der Titelpartie von Strauss’ Salome und als Amelia in Verdis Ein Maskenball. 1933 verließ Rose Pauly, die bereits Jahre vorher antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen war,53 Deutschland und trat bis zum „Anschluss“ Österreichs in Graz, Wien und 51 Nach: Hornung, „Lilly Jankelowitz“, (wie Anm. 46). 52 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 2, (wie Anm. 3), o. Pag.; Sophie Fetthauer, Art.: „Rose Pauly“, in: LexM, (wie Anm. 4) und dort weitere Literaturhinweise, https://www.lexm.uni-hamburg.de/ object/lexm_lexmperson_00001004, letzter Zugriff: 03.12.2018. 53 Im Angriff vom 16.12.1930 soll Pauly als „wohl die greulichste jüd. Sängerin Berlins“ bezeichnet werden, nach: Barbara von den Lühe, Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina, Frankfurt a. M. 1999, S. 295, Fn. 4.

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305 Salzburg auf. Gastspielreisen führten sie bis nach Mailand, Rom, Neapel, London, Odessa, Leningrad, Moskau, Buenos Aires, San Francisco und Chicago. Eine erfolgreiche konzertante Aufführung von Strauss’ Elektra mit dem New York Philharmonic Orchestra ebnete ihr den Weg zu einem Engagement an der Metropolitan Opera, wo sie zwei Jahre lang vor allem in Wagners und Strauss’ Bühnenwerken auftrat. 1942 musste Rose Pauly nach einem schweren Sturz ihre Bühnenkarriere beenden. Um 1945 übersiedelte sie mit ihrem Mann nach Palästina, wo sie als Gesangspädagogin aktiv war.

Abb. 20: Rose Pauly um 1920, StadtA Gera, Programmbuch 1920/21.

Abb. 21: Ankündigung von Bedřich Smetanas Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) am 9. November 1920 am Reußischen Theater Gera mit Rose Pauly als Marie, StadtA Gera, Reußisches Theater Gera, Theaterzettel 1920/21.

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Maria Stolarzewicz So was kann doch gar nicht möglich sein! Warum? Was haben wir ihnen getan? Wir waren anständige Staatsbürger!54

Florence Singewald, geb. Lewinsky, 04.07.1896, Berlin – 18.03.1992, Erfurt55

Abb. 22: Florence Singewald um 1950, StadtA Gera.

Florence Singewald stammte aus einer wohlhabenden, kultivierten Berliner Familie. Gesang studierte sie am Stern’schen Konservatorium, darüber hinaus nahm sie privaten Gesangs- und Tanzunterricht. Bereits während der Studienzeit trat sie an der Krolloper in kleineren Rollen auf. Ihre erste Anstellung erhielt sie mit 18 Jahren am Thalia-Theater Berlin. Weitere Engagements führten sie über Kleve, Amberg und Bad Wildbach/Schwarzwald an das Neue Operetten-Theater in Gera. Hier war sie sehr erfolgreich, wovon die erhalten gebliebenen Kritiken zeugen. Mit der Schließung des Theaters im Jahre 1922 endete ihre Karriere. Ein weiterer Grund für die Beendigung der Bühnenlaufbahn war die Verheiratung mit dem nichtjüdischen Kaufmann Carl Singewald. Bereits am 5. September 1931 war dem Ehepaar in aller Deutlichkeit die Gefahr bewusst geworden, die von der nationalsozialistischen Ideologie ausging. Sie erlebten Adolf Hitlers Rede auf dem Geraer Markt mit. Ab 1933 hätten Singewalds Deutschland gern verlassen. Eine Auswanderung etwa in die Schweiz überstieg jedoch ihre finanziellen Möglichkeiten. 1937 übersiedelten sie nach Erfurt, in der Hoffnung, dass ihnen die Anonymität in der größeren Stadt Schutz bieten würde. Zu Ende des Jahres 1943 wurde Florence Singewald von der Gestapo verhaftet. Anfang 1944 stand sie vor dem Tor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. In ihren Erinnerungen beschrieb sie die ersten Eindrücke vom Lager so:

Abb. 23: Florence Singewald am Neuen Operetten-Theater in Gera, StadtA Gera.

54 Florence Singewald, „Erinnerungen“, in: Wolfgang Herzberg, Überleben heisst Erinnern. Lebensgeschichten deutscher Juden, Berlin u. a. 1990, S. 7–76, hier 33 f. 55 Simsohn, Juden in Gera II, (wie Anm. 45), S. 171–173; Susann Heenen-Wolff, Im Land der Täter. Gespräche mit überlebenden Juden, Frankfurt a. M. 1994, S. 148–164 (Gespräch mit F. Singewald). Stadtarchiv Gera, Nachlass Werner Simsohn III F 06/Sim2–0173, Sim2–0894.

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Abb. 24: Eine Rezension über den Auftritt von Florence Singewald, StadtA Gera, Nachlass Simsohn, Sim2–173-Singe.

Als ich durch das Tor des Lagers ging, das mit einem elektrischen Todesdraht umzäunt war, habe ich diese furchtbar ausgemergelten Gestalten gesehen, die uns entgegenkamen, und der Himmel stürzte für mich ein. Ich habe gedacht: Wie lange werden wir hier noch atmen?!56

In Auschwitz wurde Florence Singewald beim Ziegelklopfen, Ziegelsteintransport und Transport von Fäkalien eingesetzt. Zweimal stand sie vor Dr. Mengele. Bei der zweiten Selektion ging es darum, ob sie noch zur Arbeit in einer Munitionsfabrik tauge: Wir wurden an diesem Tag ausgesondert, mußten noch einmal in nacktem Zustand an Doktor Mengele und einem Beiarzt vorbeigehen. Wir wurden gedreht, von hinten nach vorn, von vorn nach hin-

56 Singewald, „Erinnerungen“, (wie Anm. 54), S. 49.

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Abb. 25: Ein Brief von Singewald an den Historiker Werner Simsohn, StadtA Gera, Nachlass Simsohn, Sim2–894a.

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ten, ob die Konstitution noch ausreichen würde, die Wehrmacht mit Munition zu versorgen. Ich habe in meinen Ängsten nicht gewußt, was rechts oder links bedeutet!57

Ihre „Konstitution“ wurde als ausreichend befunden und sie nach Salzwedel in ein Außenlager des KZs Neuengamme geschickt. Dort arbeitete sie bis zur Befreiung durch die amerikanische Armee in einem Zweigwerk der Magdeburger Polte-Werke. Nach dem Krieg kehrte Florence Singewald nach Erfurt zurück, wo sie sich u. a. in der jüdischen Gemeinde engagierte. Dora Wilamowska, 15.01.1910, Stettin/Szczecin (heute Polen) – wahrscheinlich November 1943, Auschwitz-Birkenau58 1914 kam sie mit ihrer Familie nach Gera. Am Leipziger Konservatorium studierte sie Gesang und Klavier. Um 1930 zog sie nach Berlin. Im Herbst 1936 debütierte Wilamowska als Amelia in Verdis Maskenball an der Oper des Jüdischen Kulturbundes in Berlin. Anerkannt als eine außerordentlich begabte Koloratursopranistin war sie Mitglied des Bundes bis zu dessen Auflösung im September 1941. Über ihre Santuzza in der Oper ­Cavalleria rusticana von Ruggero Leoncavallo schrieb Ludwig Misch im Jüdischen Nachrichtenblatt vom 7. Juni 1940: Aber der Hauptfaktor des Erfolgs heißt diesmal trotzt alledem Doris Wilamowska. […] Jetzt ist Doris Wilamowska am Ziel ihrer unablässigen technischen Arbeit angelangt; jetzt beherrscht sie ihr herrliches Organ so vollkommen, daß sie mit den besten ihres Faches in Wettbewerb treten kann; es war ein seltener Genuß, diese in Stimmklang uns Ausdruck prachtvolle Santuzza zu hören.59

Am 10. September 1943 wurde Wilamowska nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Im November des gleichen Jahres starb sie wahrscheinlich an Typhus im KZ-Krankenhaus. Abb. 26: Dora Wilamowska, StadtAGera, Nachlass Simsohn, Sim2–1042.

57 Ebd., S. 53. 58 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 2, (wie Anm. 3), o. Pag.; Jay Wilamowsky, „Dora Wilamowska“, in: Stolpersteine in Berlin, übers. und erg. von Helmut Lölhöffel, o. J. https://www.stolpersteineberlin.de/de/biografie/6859, letzter Zugriff: 13.12.2018. 59 Nach: Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben, (wie Anm. 39), S. 164.

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Ilmenau Else Marie Fischer, 22.01.1869, Breslau – 26.02.1959, Ilmenau60 Else Marie Fischer kam nach Ilmenau von Leipzig (2. Januar 1940) und wirkte dort als Klavierlehrerin. Am 20. September 1942 wurde sie mit dem gleichen Transport wie Eduard Rosé (s. Art. über E. Rosé im Abschnitt über MusikerInnen, die mit Weimar verbunden waren) nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte dort die Gefangenschaft und kam am 30. Juni 1945 nach Ilmenau zurück.

Jena Günter Auerbach, 1903, Breslau – 1937? verschollen in der Sowjetunion61 Günter Auerbach, ein jüngerer Bruder von Cornelia Schröder-Auerbach (s. Art. über sie), war ein sehr begabter Geiger und Schüler von Alexander Schaichet (s. Art. über ihn). Er entschied sich aber gegen eine Musikerkarriere und wirkte als Wirtschaftsjournalist. Bereits 1932 emigrierte er wegen zunehmendem Antisemitismus nach Moskau, wo er für eine deutschsprachige Zeitung, die Deutsche Zentralzeitung, arbeiten konnte. Wenige Jahre später wurde er zum Opfer des stalinistischen Massenterrors (1936–1938). Fritz Hermann Bartholomes, 07.06.1898,  Wenigenjena – 05.02.1962, Jena62 1920–1923 studierte Fritz Hermann Bartholomes an der Staatlichen Musikhochschule in Weimar. Nach einer finanziell bedingten Unterbrechung schloss er das Studium 1930 mit dem Diplom als Musiklehrer ab und übte in Jena diesen Beruf aus. Am 16. Februar 1942 erhielt er wegen seiner jüdischen Abstammung – er galt als „Halbjude“ – Berufsverbot. Im April 1944 wurde er nach Frankreich (Giverny) Abb. 27: Fritz Hermann Bartholomes, LATh-StA ­Rudolstadt, ­Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7838.

60 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1., (wie Anm. 3), S. 119; Stadtarchiv Ilmenau: Sterbebuch Ilmenau 67/1959, Antrag auf Fürsorge Else Fischer 1945–1948, Signatur 101821, Anträge für Reisepässe 1932–1945, Signatur 200516. 61 Jüdische Lebenswege in Jena. Erinnerungen, Fragmente, Spuren, hrsg. vom Stadtarchiv Jena (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, Bd. 18), Jena 2015, S. 140 f. 62 Ebd., S. 144 f.

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gebracht, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Nach dem Krieg lebte er in Jena und wirkte abermals als Musiklehrer. Ulrich Dannemann, 1923, Jena – 2004, Mönchengladbach63 Seine musikalischen Talente konnte der Geiger Ulrich Dannemann erst in Brasilien vollständig entwickeln, wohin er mit seinem Vater 1935 auswanderte. Dort lernte er bei dem aus Berlin stammenden Geiger und Dirigenten Max Modern. Später war er Mitglied verschiedener brasilianischer Orchester und Kammermusikvereinigungen. 1973 kehrte er nach Deutschland zurück. Rahel Feuerstein, 15.07.1871, Lemberg – 25.04.1943, Theresienstadt64 Die Klavierlehrerin kam 1900 nach Jena. Seit 1933 leitete sie die Anstalt „Heim für berufstätige Frauen“, wo auch ihre Freundin und Klavierlehrerin Anna Herschkowitsch (s. u.) eine Zeit lang lebte. 1939 zog sie nach Berlin. Von dort aus wurde sie am 4. Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert. Anna (Anaeta) Herschkowitsch, 14.02.1877, Odessa – 1973, Dallas (USA)65 Herschkowitsch betätigte sich als Geigenlehrerin u. a. am Jenaer Konservatorium. 1940 verließ sie Deutschland mithilfe des „Hilfsvereins der Juden in Deutschland“ und emigrierte in die USA. Dort lebte sie zunächst in New York, dann bei ihrem Sohn Wolfgang in Dallas. Elisabeth Josephy, 31.05.1900, Kaiserswaldau/Piastów (Polen) – 06.1943 (Freitod)66 1905 kam Josephy mit ihrer Familie nach Jena wo sie später als Musiklehrerin arbeitete. Im Juni 1943 nahm sie sich das Leben. Es ist nicht bekannt, ob dies vor oder während der Deportation nach Theresienstadt geschah.

63 Juden in Jena. Eine Spurensuche, hrsg. von Brigitta Kirsche u. a., Jena 1998, S. 87 f.; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 84; Jüdische Lebenswege in Jena, (wie Anm. 61), S. 210 f. 64 Juden in Jena, (wie Anm. 63), S. 100; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 227; Jüdische Lebenswege in Jena, (wie Anm. 61), S. 238. 65 Juden in Jena, (wie Anm. 63), S. 161; Jüdische Lebenswege in Jena, (wie Anm. 61), S. 293 f. 66 Ebd., S. 316 ff.

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Theodor Meyer-Steineg, 09.05.1873, Bückeburg – 10.05.1936, Ospedaletti (Italien)67 Als promovierter Mediziner (1896), promovierter Jurist (1905) und Musiker kam Theodor Meyer-Steineg nach Jena. 1907 habilitierte er sich dort an der Medizinischen Fakultät mit der Arbeit Geschichte des römischen Ärztestandes. 1911 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und bekam 1924 einen unbezahlten Lehrauftrag für die Geschichte der Medizin. Er arbeitete teilweise auch auf eigene Kosten mit der Medizinhistorischen Sammlung des UniversitätsAbb. 28: Theodor Meyer-Steineg mit seiner Frau klinikums zusammen. Zusätzlich zu seinen Toni um 1910, Städtische Museen Jena. nicht honorierten Tätigkeiten an der Universität betrieb er eine private Augenklinik. In seinem kompositorischen Œuvre finden sich mehrere Lieder und zwei musiktheatralische Werke. Das Singspiel Die Wunderkur nach Molière wurde 1930 am Residenztheater in Dresden uraufgeführt. Die Operette Die Spionin hatte ihre Premiere 1932 am Zentraltheater in Magdeburg. Beide Partituren gelten als verschollen. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde er zum 28. April 1933 beurlaubt, der Lehrauftrag wurde ihm entzogen. Später verbrachte er viel Zeit in Italien, wo er 1936 an einem akuten Herzversagen starb. Rosemarie Oberdörffer, geb. Herschkowitsch, 13.06.1900, Jena – 27.02.1996, Austin (USA)68 Rosemarie Oberdörffer war die Tochter der Klavierlehrerin Anna Herschkowitsch (s. Art. über sie) und eine Schülerin von Joachim Stutschewsky (s. Art. über ihn). 1925 heiratete sie den nichtjüdischen Musikwissenschaftler, Musiker und Komponisten Fritz Oberdörffer (1895–1979). Ein Jahr später zog die Familie nach Berlin, wo Oberdörffer als Cellolehrerin tätig war. 1935/36 wurde sie als Jüdin aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Bis 1939 wirkte sie dann im Orchester des Jüdischen Kulturbundes. 1944 wurde sie mit ihrem Mann und der Tochter Marianne in ein Zwangsarbeitslager eingewiesen. Dort wurden sie bis zum Ende des Krieges festgehalten. Nach dem Krieg kam die Familie wieder nach Berlin. 1949 emigrierten sie in die USA. Fritz Oberdörffer erhielt an der University

67 Hans Huchzermeyer, Art. „Theodor Meyer-Steineg“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm. uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00007091, letzter Zugriff: 03.12.2018. 68 Sophie Fetthauer, Art. „Rose-Marie Oberdoerffer“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002105, letzter Zugriff: 03.12.2018.

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of Texas in Austin eine ordentliche Professur im Bereich Musik/Musikwissenschaft. Über Rosemarie Oberdörffers Aktivitäten in den USA ist nichts bekannt. Alexander Schaichet, 23.06.1887, Nikolajew (heute Ukraine) – 19.08.1964, Zürich69 Der Geiger lernte 1906–1911 am Leipziger Konservatorium. Das Studium schloss er mit Auszeichnung ab. 1911 kam er nach Jena, wo er am Eickemeyer’schen Konservatorium eine Konzertausbildungsklasse übernahm. Er wurde auch zum ersten Konzertmeister der akademischen Konzerte und Vizedirigenten des seit 1910 von Fritz Stein geleiteten Collegium Musicum. Gemeinsam mit Fritz Kramer (Viola) und Johannes Bransky (Violine) gründete er das Jenaische Streichquartett, in dem auch später sein Freund Joachim Stutschewsky (Cello) spielte (s. Art. über ihn). Das Ensemble genoss einen sehr guten Ruf. Erfolge erzielte Schaichet auch mit dem von Max Reger gegründeten Meininger Trio. Im Sommer 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, gingen Schaichet und Stutschewsky in die Schweiz, um in Kurorchestern ihre finanzielle Lage zu verbessern. Nach Deutschland kam keiner von ihnen zurück. Schaichet blieb bis zum Ende seines Lebens in der Schweiz. Dort etablierte er sich schnell als Musiker und Musiklehrer. Dr. Cornelia Schröder-Auerbach, 24.08.1900, Breslau – 21.10.1997, Berlin70

Abb. 29: Cornelia Schröder-Auerbach, Dargun, November 1947, Sammlung Nele Hertling.

Cornelia Schröder-Auerbach stammte aus einer bedeutenden Familie. Ihr Großvater, Leopold Auerbach (1828–1897), war ein angesehener Arzt und Professor der Medizin an der Universität Breslau. Ihr Vater, Max Auerbach (1872– 1965), war Pianist, ihr Onkel Felix Auerbach (1856–1933) war Professor für Physik an der Universität Jena und ein Mäzen der Jenaer Kunstszene. Kurz nach ihrer Ankunft in Jena fing sie an, das Klavierspiel zu lernen. Die ersten Unterrichtsstunden erteilten ihr die jüdischen Lehrerinnen Rahel Feuerstein und Anaeta Herschkowitch (s. Art. über sie). Nach einem von ihr selbst initiierten Vorspiel wurde Auerbach 1915 eine Schülerin Max Regers. Die musikalische Atmosphäre in Jena beschrieb Cornelia Schröder-Auerbach in ihren Erinnerungen folgendermaßen:

69 Jüdische Lebenswege in Jena (wie Anm. 61), S. 434 ff. 70 Nele Hertling, Art. „Cornelia Schröder-Auerbach“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001629, letzter Zugriff: 03.12.2018; Jüdische Lebenswege in Jena (wie Anm. 61), S. 137 ff.

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Obwohl es in Jena kein Theater […] gab, war es doch eine Kunst- und Musikstadt. Die Konzerte im großen oder kleinen Volkshaussaal oder in dem wunderschönen Rosensaal am Fürstengraben fanden immer ein verständiges Publikum. Belebt wurde die Musikszene, als etwa 1910 oder 1911 zwei junge russische Musiker in die Stadt kamen, die vor Pogromen aus Rußland geflüchtet waren. […] Es ergab sich so, daß Frau Herschkowitsch, meine Klavierlehrerin, sich des Cellisten Joachim Stutschewsky annahm; ihre Tochter [Rosemarie Herschkowich] war seine erste Schülerin. Der Geiger Alexander Schaichet wurde von meiner Mutter betreut. Bei ihm fing mein kleiner Bruder Günter zu lernen an. Es fanden sich bald mehr Schüler, wodurch in weiteren Kreisen das Interesse an Konzerten und auch an häuslichem Musizieren sehr gefördert wurde.71

1920 begann sie das Studium in den Fächern Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Breslau, München und Freiburg im Breisgau. Das Studium finanzierte sie durch die Erteilung von Klavierunterricht und das Verfassen von Konzertkritiken. In Breslau und München war sie die einzige weibliche Studentin am musikwissenschaftlichen Seminar. In Freiburg und in Deutschland war sie überhaupt die erste Frau, die das musikwissenschaftliche Studium mit einer Dissertation abschloss. Ihre Arbeit Die deutsche Clavichordkunst des 18. Jahrhunderts (Kassel 1930, 1953, 1959) gilt als Pionierleistung. Unter dem Einfluss ihres Doktorvaters Willibald Gurlitt (1889–1963) begann sie sich für ältere Musik, deren Quellen und Aufführungspraxis zu interessieren. Daraufhin Abb. 30: Cornelia Schröder-Auergründete sie mit dem Komponisten und Bratschisten Hanbach, ohne Datum, Sammlung Nele Hertling. ning Schröder (1896–1987) und dem Instrumentenbauer Peter Harlan (1898–1966) das Musikensemble „HarlanTrio“, das als Erstes in der Geschichte Alte Musik auf historischen Instrumenten spielte. Seit 1928 wohnte sie mit Hanning Schröder, den sie 1929 heiratete, in Berlin. Hier fand sie eine feste Anstellung als Musikkritikerin beim Berliner Börsenkurier und gab Blockflötenunterricht. 1935 erhielten sie und ihr Mann von der Reichsmusikkammer Berufsverbot. Ab 1943 wurde die Lage in Berlin wegen der zunehmenden Bombenangriffe immer gefährlicher. Deswegen suchte Auerbach für ihre Tochter Nele (geb. 1934) ein Versteck. Ein solches fand sich im mecklenburgischen Dargun, wo Auerbach den Organisten- und Kantorendienst 1944 übernahm. Von der Pfarrersfamilie Rienau wurden sie und ihre Tochter bis zum Ende des Krieges beschützt. Schröder-Auerbach blieb als Organistin und Chorleiterin noch bis 1952 in Dargun. Danach wirkte sie als in verschiedenen Institutionen als Wissenschaftlerin und Musikerin.

71 Cornelia Schröder-Auerbach, „Eine Jugend in Jena“, in: Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena-Weimar, hrsg. von Jürgen John und Volker Wahl, Weimar 1995, S. 1–20, hier S. 12.

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Joachim Stutschewsky, 07.02.1891, Romny (Ukraine) – 14.11.1982, Tel Aviv72 Joachim Stutschewsky stammte aus einer Klezmer-Familie. Das Cellospiel lernte er am Leipziger Konservatorium bei Julius Klengel (1909–1912). Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris kam er 1913 nach Jena. Hier arbeitete er als Musiklehrer und wirkte im Jenaischen Streichquartett (s. o.). Das musikalische Leben der Stadt beschrieb er in seiner Autobiografie folgendermaßen: Jena, groß genug, um geistige und soziale Differenzierungen hervorzubringen, hatte einige Zentralpunkte: Universität und Zeiss, Geist und Arbeit, das benachbarte, mit klassischer Tradition vollgesaugte Weimar und daheim … ein reges, ausgeprägtes Musikleben. Musik war hier ein wichtiger Teil des Lebens, bedeutend mehr, als bloße Zerstreuung: Akademische Konzertkommission, Orchesterverein, Chöre, das „Jenaische Streichquartett“. Die Veranstaltungen dieser Gesellschaften wurden ergänzt und bereichert durch Konzerte auswärtiger Solisten, bekannter Kammermusikvereinigungen. Das große Publikum, musikalisch interessiert, folgte, musikempfänglich, jedoch nicht ohne kritische Einstellung, dem Dargebotenen, traf ihre Auswahl.73

Abb. 31: Jenaisches Streichquartett: Joachim Bransky, Joachim Stutschewsky, Alexander Schaichet, Fritz Kramer; Archiv jüdischer Musik am Lehrstuhl für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar.

Im Sommer 1914 ging er in die Schweiz, zog 1924 nach Wien und floh 1938 nach Palästina, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Stutschewsky betätigte sich nicht nur als Cellist und Cellolehrer, sondern auch als Komponist, Autor, Organisator und Forscher. Er war der wichtigste Theoretiker und Vermittler 72 Jascha Nemtsov, Art. „Joachim Stutschewsky“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 16, Kassel u. a. 2006, Sp. 239 f.; ders., Ein Leben ohne Kompromisse. Joachim Stutschewski, in: ders.: Doppelt vetrieben. Deutsch-jüdische Komponisten aus dem östlichen Europa in Paläsitina/Israel (= Jüdische Musik. Studien und Quellen zur jüdischen Musikkultur, Bd. 11), Wiesbaden 2013, S. 151–256; ders., Art. „Joachim Stutschewsky“ und dort weitere Literaturhinweise, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001591, letzter Zugriff: 03.12.2018. 73 Joachim Stutschewsky, Der Lebenspfad eines jüdischen Musikers. Ein Leben ohne Kompromisse (1944–76), S. 201. Unveröffentlichtes Typoskript, Archiv jüdischer Musik am Lehrstuhl für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Stutschewskys Autobiografie erschien in hebräischer Übersetzung 1977 in Tel Aviv.

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der Neuen Jüdischen Schule. Darüber hinaus verfasste er Bücher und zahlreiche Artikel über osteuropäisch-jüdische Musiktradition, jüdische Folklore74 sowie moderne jüdische und israelische Musik. Er veranstaltete auch Konzerte und Lesungen. In seinen Schriften reflektierte er seine Lehrtätigkeit und Neuerungen in der Spieltechnik. Diese didaktischen Werke für Violoncello wurden weltweit bekannt.

Meiningen Sie sind nun einmal Halbjude und es ist im Dritten Reich nicht erwünscht, daß von einem solchen ‚gesellschaftliche Ereignisse‘ organisiert werden. Peter Raabe75

Günter Albert Rudolf Raphael, 30.04.1903, Berlin – 19.10.1960, Herford76 Günter Raphael stammte aus einer Musikerfamilie. Seine Mutter Maria (1878–1952), eine Tochter des Komponisten und jüdischen Kirchenmusikers Albert Becker (1834–1899), war Geigerin, sein Vater Georg Raphael (1865–1904) war ein Schüler Beckers. Von 1922 bis 1925 studierte Raphael Komposition und Dirigieren an der Berliner Musikhochschule. Zudem nahm er Kompositionsunterricht bei Arnold Mendelssohn in Darmstadt. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten lehrte er Musiktheorie und Komposition am Leipziger Konservatorium. Im Herbst 1934 zog er nach Meiningen um. Da Raphael seit 1933 als „Halbjude“ galt, wurde er in seinen öffentlichen Aktivitäten eingeschränkt, wogegen er sich zu verteidigen versuchte. Diese Situation lässt sich am Beispiel eines Konzertes gut darstellen, das für den 22. Juni 1937 im Marmorsaal des Meinin74 Seine Arbeit über die Geschichte der Klezmermusik in der deutschen Sprache (sie erschien zuerst in einer hebräischen Übersetzung, 1959 Tel Aviv) wurde vor Kurzem veröffentlicht: Joachim Stutschewsky, Jüdische Spielleute („Klezmorim“), hrsg. von Joachim M. Klein (= Jüdische Musik. Studien und Quellen zur jüdischen Musikkultur, Bd. 16), Wiesbaden 2019. 75 Zit. n. Brief von Peter Raabe an Günter Raphael vom 04.08.1937, Christine Raphael Stiftung, Raphael-Nachlass. 76 Vgl: Gabriele Roterberg-Becker, „Günter Raphael zum 100. Geburtstag, Vortrag auf dem nationalen ESTA Kongreß am 18.10.2003 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar“, http:// www.guenter-raphael.de/pdf/vortrag_roterberg.pdf, letzter Zugriff: 13.12.2018; Christoph Gann, „Günter Raphaels Meininger Jahre. Zum 50. Todestag eines großen Komponisten“, in: Meininger Heimatklänge, Folgen 93/1 und 93/2 vom 13./19.10.2010; ders., Musik. Sie heilt die Wunden. Günter Raphael – Schicksal eines verfemten Musikers in der NS-Zeit, Ausstellungstexte, Manuskript; Thomas Schinköth, Musik – das Ende aller Illusionen? Günter Raphael im NS-Staat (= Verdrängte Musik. NS-Verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 13), Hamburg 22010; Thomas Schinköth, Art. „Günter Raphael“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_ lexmperson_00002642, letzter Zugriff: 03.12.2018; https://www.guenter-raphael.de, letzter Zugriff: 03.12.2018. Vgl. auch Christoph Gann, „Nicht mal EMIGRANT war er! Pfui, Teufel! Und dann nur Halb- u. nicht mal gesessen. Der Komponist Günter Raphael in der NS-Zeit“, in diesem Band, S. xxx.

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ger Schlosses geplant war. Es rief eine heftige schriftliche Auseinandersetzung zwischen Raphael, dem Städtischen Beauftragten Meiningens Ottomar Güntzel und dem Präsidenten der Reichsmusikkammer Peter Raabe hervor. Raabe und Güntzel wollten das Zustandekommen des Konzerts verhindern. Güntzel erlaubte dessen Durchführung als eine private Veranstaltung, und dies bedeutete: ohne Anzeigen, ohne Besuch von Kritikern und ohne Veröffentlichungen von Besprechungen sowie ohne Verdienst. Raphael wollte diese Bedingungen nicht annehmen und beriet sich mit einem befreundeten Anwalt und Notar, Dr. Karl Meng. Meng empfahl ihm einen gesetzlich begründeten Widerstand. Raphael besaß die Mitgliedskarte Abb. 32: Günter Raphael, Maxder Reichsmusikkammer, die ihm die öffentliche Ausübung Reger-Archiv-Meiningen, B 596. seines Berufes ermöglichte. Die Behörden durften also das Konzert nicht verbieten. Außerdem bedeutete „privat“ nach Meng nicht unbedingt „ohne Eintritt“. Schließlich fand das Konzert als eine „private“ Veranstaltung mit Eintrittskarten statt und wurde sehr gut besucht. Dies war jedoch der letzte öffentliche Auftritt Raphaels in Meiningen, wo er fast bis zum Ende des Krieges lebte. 1938 ermöglichte Prinz Ernst keine weitere musikalische Veranstaltung Raphaels in seinem Schloss. Bevor Raphael am 18. Februar 1939 ein endgültiges Berufsverbot bekam, gelang es ihm, am 29. August 1938 in Bad Liebenstein ein Konzert durchzuführen. Dem Veranstalter dort war Raphaels jüdische Abstammung nicht bekannt. Später blieben Raphael nur noch die Hauskonzerte und das Unterrichten im Verborgenen.

Nordhausen

Abb. 33: Theater Nordhausen, StadtA Nordhausen, B 5 T.01–51.

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Über jüdische Musiker in Nordhausen sind nur wenige Zeugnisse erhalten, da das Stadtarchiv und das Theaterarchiv bei den verheerenden alliierten Luftangriffen kurz vor dem Kriegsende große Verluste erlitten haben. Eine Dame aus Israel berichtete dem Nordhäuser Historiker Martin Schröter von einem Konzert am 25. April 1936 im Haus von Anna Eisner, Wilhelm-Nebelung-Straße 10, bei dem Werke von Moritz Moszkowski, Felix Mendelssohn Bartholdy, Peter Cornelius und Ludwig van Beethoven erklangen. Es spielten und sangen Frau Dr. Loewenthal, Elsbeth Warburg, Hortensie Wolff, Ursula Eisner und Willy Aronson.77 Ob das Konzert gut besucht war und ob es dem Publikum gefiel, ist nicht überliefert. Mithilfe der Bestände des Nordhäuser Stadtmuseums lassen sich aber wenigstens die Biografien von drei Beteiligten – Hortensie Wolff, Elsbeth Warburg und Willy Aronson – teilweise rekonstruieren. Dank den Forschungen von Martin Schröter und Reinhard Gündel konnten Einblicke in die Lebensläufe anderer mit Nordhausen verbundener Musikerinnen und Musiker ermöglicht werden. Willy Max Aronson, 23.09.1893, Königsberg – 02.03.1943, Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz78 Über Willy Aronsons musikalische Ausbildung ist nichts bekannt. Er lebte zwischen 1934 und 1937 in Nordhausen, wahrscheinlich bei seiner Mutter, und gehörte dem Freundeskreis um Anna Eisner an, die das oben erwähnte Konzert organisiert hatte. 1938 zog er nach Berlin um und wirkte bis 1941 im Jüdischen Kulturbund als Chormitglied und Solist. Ludwig Misch beschrieb im Jüdischen Nachrichtenblatt vom 15. November 1940 Aronsons Auftritt als Silvio in Leoncavallos Oper Der Bajazzo folgendermaßen: Willy Aronson […] besitzt einen wunderschönen, edlen Bariton … Mit wachsender technischer Vervollkommnung wird er zweifellos auch im Ausdruck voller werden, als er zur Zeit trotz seiner ausgesprochenen Musikalität noch ist.79

Gerhard Brauer, 02.01.1905, Wernigerode – 1986, Amsterdam80 Seit 1911 lebte Gerhard Brauer in Nordhausen; er besuchte das dortige Realgymnasium. Da Brauer über das absolute Gehör verfügte, holte ihn der Nervenarzt Dr. Kurt Isemann (1886–1964) an sein Sanatorium, wo Brauer als Musikheilpädagoge tätig war. 77 Manfred Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden. 1933 bis 1945, Nordhausen 22013, S. 51 ff. 78 Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 14; Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden (wie Anm. 77), S. 52; Stadtarchiv Nordhausen, Sammlung Gündel StadtA NDH, Best. 1.4. und Sammlung Schröter: StadtA NDH, Best. 9.8.4. S. auch den Art. über Hilde Aronson im Abschnitt „Arnstadt/Eisenach“. 79 Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben, (wie Anm. 39), S. 167. 80 Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden, (wie Anm. 77), S. 190; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 61; Sammlung Gündel (wie Anm. 77).

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Einen Tag vor der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 soll er eine Warnung erhalten haben. Es gelang ihm, aus Deutschland in die Niederlande zu fliehen. Hier rettete ihn nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht ein Arzt, indem er ihn im Keller seines Hauses versteckte. Nach dem Krieg war Brauer als Kunsthändler in Amsterdam tätig. Gertrud Dalberg, 1890 – ?81 Gertrud Dalberg kam aus Hildesheim nach Nordhausen und war am Theater als Operettensängerin engagiert. Die Nordhäuser Volkszeitung erwähnt sie von 1931 bis 1932, beispielsweise in der Aufführung von Lehárs Land des Lächelns am 10. Januar 1931. Am 1. Oktober 1931 verkörperte sie in der Neuinszenierung des Intendanten Heinz Huber in Johann Strauss’ Operette Die Fledermaus den Prinzen Orlofsky. Über ihr ferneres Schicksal ist nichts bekannt. Edith Goldschmidt, geb. Pinthus, 07.12.1908, Nordhausen – 02.02.1985, Israel82 Edith Goldschmidt war die Schwester des Musikwissenschaftlers Gerhard Pinthus (1907– 1955). 1939 emigrierten sie gemeinsam nach Palästina. In Jerusalem war Edith Pinthus eine anerkannte Sängerin (Alt). Zuletzt wirkte sie als Gesangspädagogin. Dr. Gerhard Pinthus, 29.03.1907, Nordhausen – 24.03.1955, Givat Brenner (Israel)83 Gerhard Pinthus besuchte die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, wurde an der Folkwangschule in Essen zum Musiklehrer ausgebildet und promovierte 1930 bei Willibald Gurlitt (1889–1963) in Freiburg im Breisgau. 1932 erschien in Straßburg seine Dissertation Das Konzertleben in Deutschland. Ein Abriss seiner Entwicklung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Nach dem Machtantritt der Nazis verbrachte Pinthus als Kommunist und Jude 62 Monate in den KZs Dachau,84 Buchenwald, Sachsenhausen und Mauthausen. Namhafte 81 Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden, (wie Anm. 77), S. 191; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1, (wie Anm. 3), S. 83; Sammlung Gündel (wie Anm. 78). 82 Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden, (wie Anm. 77), S. 210; Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 2, (wie Anm. 3), o. S.; Sammlung Gündel/Schröter, (wie Anm. 78). 83 Peter Gradenwitz, „Der deutsch-jüdische Beitrag zur Entwicklung des Musiklebens in Israel“, in: Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, hrsg. von Habakuk Traber und Elmar Weingarten, Berlin 1987, S. 79–97; Eckhard John, „Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik. Die Freiburger Musikwissenschaft im NS-Staat“, in: Georg Günther und Reiner Nägler, Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 1998, S. 57–84; Fetthauer, Musikverlage im „Dritten Reich“, (wie Anm. 18), S. 492. 84 Pinthus soll der Komponist des ersten Dachau-Liedes gewesen sein, vgl. Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich und Stefanie Schüler-Springorum, Denkmalsfigur. Biographische Annäherung an Hans Litten 1903–1938, Göttingen 2008, S. 290.

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Persönlichkeiten wie etwa der englische Komponist und Hochschullehrer Ralph Vaughan Williams (1872–1958) setzten sich für seine Freilassung ein. Im August 1939 emigrierte er nach Palästina. Dort wurde er Mitglied des südlich von Tel Aviv gelegenen Kibbuz Givat Brenner, wo er sich als Lastwagenfahrer betätigte. Pinthus war musikalischer Berater und Herausgeber bei der Gewerkschaftsorganisation Histadruth (Labour Federation). Er gründete auch in Givat Brenner einen Chor und unterstütze junge musikalische Talente. Lili Schlesinger (Künstlername Lili Ellreich, 19.06.1893, Nordhausen – ?)85 wirkte als Pianistin und Klavierlehrerin in Berlin. Marta Schwenk (Künstlername Marta Amati, 18.07.1903, Veldes – ?)86 war als Kapellmeisterin, Violinvirtuosin und Musikpädagogin in Nordhausen tätig. Nach dem Krieg soll sie als Lehrerin in Izmir gewirkt haben.87 Elsbeth Warburg, 09.06.1887, Nordhausen – 10.05.1942, Deportation in das Getto Bełżyce88 In einem Brief an den Nordhäuser Erforscher der jüdischen Stadtgeschichte Reinhard Gündel vom 10. Juni 2000 schreibt Herbert Warburg, ein Vetter Elsbeth Warburgs: Was die Familie Warburg anbetrifft, hatten sie ein Textilgeschäft mit einer Filiale in Frankfurt am Main. Durch die Inflation wurde die Firma fast bankrott. […] Verschiedenen Familienmitgliedern ging es dann, besonders nach 1933 nicht so gut. […] Die Kusinen Else und Henny konnten in ihren Berufen dann kaum etwas verdienen. Sie wohnten mit ihrer Mutter, sowie Joseph und Berta Warburg in der Töpferstraße und alle lebten seit 1933 mehr oder weniger vom Mieteinkommen der Geschäfte im Erdgeschoss.89

Elsbeth Warburg, bis 1933 eine anerkannte Pianistin und Klavierlehrerin, galt als vielseitig gebildet; ihre Wohnung war ein Treffpunkt musikalisch und literarisch Interessierter. Ab 1933 zog sie sich immer mehr zurück und brach alle Kontakte zu nichtjüdischen Bekannten ab. Auf der Straße soll sie den Kopf abgewendet haben, wenn sie ein „Arier“ oder eine „Arierin“ grüßte.

85 Theo Stengel, Herbert Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940, Sp. 243. 86 Ebd., Sp. 254. 87 Vgl.: http://www.levantineheritage.com/testi79.htm, letzter Zugriff: 10.10.2018. 88 Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden, (wie Anm. 77), S. 52 f. u. 221. 89 Ebd., S. 52; Sammlung Gündel, StadA NDH, Best.9.8.4./10, (wie Anm. 78).

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Hortensie Hertha Gertrud Wolff (27.05.1898, Berlin – 02.03.1943, Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau)90 wirkte als Opernsängerin in Hamburg und am Theater Nordhausen. Ihr letzter Wohnsitz befand sich dort in der Rautenstraße 36.

Rudolstadt 1936 wurde ich fristlos entlassen, weil ich ein Halbjude bin.91

Paul Joseph Lindner, 25.01.1894, Würzburg – 05.03.1975, Rudolstadt92 Joseph Lindner stammte aus einer Musikerfamilie. Sein Bruder Rudolf und sein Vater Joseph waren Hornisten, darüber hinaus unterrichtete sein Vater am Königlichen Konservatorium in Würzburg. Lindner studierte am gleichen Konservatorium Posaune. 1914–1918 diente er als Krankenträger an der Front. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wandte er sich wieder der Musik zu. 1920–1921 war er am Stadttheater in Würzburg engagiert, 1921–1926 spielte er in der Landeskapelle in Meiningen. Im Jahr 1926 kam er nach Rudolstadt, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. Im Oktober desselben Jahres fand er eine Anstellung als Posaunist mit dem Nebeninstrument Cello bei der Landeskapelle. Sein Arbeitsvertrag wurde von Jahr zu Jahr verlängert. Im November 1929 trat er in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein, der er bis in Abb. 34: Joseph Lindner, Personalden März 1933 angehörte. akte Lindner, Josef, Posaunist, Am 16. Mai 1936 legte Lindner den Diensteid ab, der III/591, StadtA Rudolstadt für alle im öffentlichen Dienst Tätigen obligatorisch war: (im Folgenden: PA Lindner). „Ich gelobe, ich werde dem Führer des deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein und meine Dienstobliegenheiten gewissenhaft und uneigennützig erfüllen.“ Dieses Gelöbnis – es ist in seiner Personalakte überliefert – schützte ihn ebenso wenig wie ein Arbeitszeugnis, das ihm bescheinigte, seinen Dienst „zur vollsten Zufriedenheit des Kapell90 Schröter, Das Schicksal der Nordhäuser Juden, (wie Anm. 77), S. 52 f.; Sammlung Gündel/Schröter, (wie Anm. 78). 91 Stadtarchiv und Historische Bibliothek Rudolstadt: Personalakte Lindner, Josef, Posaunist III/591. 92 Vgl. Art. „Joseph Linder“ in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_ lexmperson_00006123, letzter Zugriff: 03.12.2018; Christoph Henzel, Art. „Rudolf Lindner“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00004120, letzter Zugriff: 03.12.2018.

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Abb. 35: Arbeitszeugnis von Joseph Lindner, PA Lindner.

meisters“93 zu erfüllen. Lindner wurde, nachdem ihm „aus rassischen Gründen“ die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer entzogen worden war, zum 1. Dezember 1936 entlassen. Am 8. Dezember 1937 bekam er jedoch von der Reichsmusikkammer „die jeder Zeit widerrufliche Sondergenehmigung“,94 seine Tätigkeit bei der Landeskapelle weiterhin auszuüben. Vom 26. September 1940 bis zur Schließung des Rudolstädter Theaters am 15. September 1944 war er als Posaunist und 2. Cellist angestellt. 93 Josef Linders Arbeitszeugnis, in: Personalakte Lindner, (wie Anm. 90). 94 Sondergenehmigung für Josef Linder, in: ebd.

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Abb. 36: Die Sondergenehmigung für Lindner vom Präsidenten der Reichsmusikkammer, PA Lindner.

Von April bis Oktober 1944 wurde Lindner zu Hilfsarbeiten in dem Rüstungsbetrieb Torpedo Arsenal/Mitte Rudolstadt herangezogen. Am 16. Oktober 1944 verschleppte ihn die Gestapo Weimar in ein Zwangsarbeitslager. Dort verrichtete er „in Tag- und Nachtschicht schwerste körperliche Arbeiten“.95 Am 15. April 1945 wurde er von amerikanischen Truppen befreit. Am 1. September 1946 trat Lindner wieder in die Rudolstädter Kapelle ein, musste jedoch 1950 wegen seines schlechten Gesundheitszustandes kündigen. 95 Linders handgeschriebener Lebenslauf, in: ebd.

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Abb. 37: Handgeschriebener Lebenslauf von Joseph Lindner, PA Lindner.

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Joseph Maria Gustav Trauneck, geb. Trávníček, 16.02.1898, Olmütz (heute Tsche­ chien) – 14.02.1975, Wien96 Die musikalische Ausbildung fing Trauneck bei Arnold Schönberg (1874–1951) an. Zunächst nahm er an dessen „Seminar für Komposition“ in der Schwarzwaldschule in Wien teil (1917), dann besuchte er Schönbergs Seminar für Komposition (1918–1922) in dessen privatem Haus in Mödling bei Wien. Er war zudem Gründungsmitglied des von Schönberg 1918 ins Leben gerufenen Vereins für musikalische Privataufführungen in Wien. Er wurde aber nicht Komponist, sondern Dirigent. 1922 begann er seine Karriere am Deutschen Landestheater in Prag. Später war er an vielen Theatern in Deutschland engagiert. In der Saison 1928/29 wurde er erster Kapellmeister am Landestheater in Rudolstadt, 1929 stieg er zum Städtischen Musikdirektor auf. Da er eine jüdische Frau hatte und selbst jüdischer Abstammung war (seine Mutter war Tochter eines Rabbiners, vor ihrer Heirat konvertierte sie aber zum Katholizismus), wurde sein Vertag wegen antisemitischer Tendenzen in Rudolstadt 1932 nicht mehr verlängert. Ende 1933 emigrierte Trauneck nach Südafrika, Johannesburg, wo er bis 1955 lebte. Er wirkte dort als Dirigent und setzte sich für die Verbreitung symphonischer Musik ein. 1934 gründete er in Johannesburg die Johannesburg Symphony Society und das Johannesburg Symphony Orchestra, in denen professionelle Musiker und Amateure spielten. Später gründete er weitere Orchester außerhalb von Johannesburg und arbeitete mit vielen anderen Orchestern zusammen. Einen Höhepunkt seiner Dirigententätigkeit in Südamerika sollte die Aufführung von Schönbergs Kammersymphonie op. 9 mit Studenten der Witwatersrand-Universität (Johannesburg) im August 1952 bilden. Nachdem Nationale Partei Südafrikas die dortigen Wahlen (1948) gewonnen hatte und Apartheidpolitik betrieb, entschied sich Trauneck, nach Deutschland, in die DDR, zurückzukommen. Er verließ Südafrika 1955 endgültig. Erst 1956 gelang es ihm aber, ein Visum für die DDR zu bekommen. Dort versuchte er, als Dirigent Fuß zu fassen. Er wirkte in verschiedenen Orten Thüringens, wie etwa Schleiz, Erfurt, Sonneberg, Bad Salzungen. Er bekam aber keine feste Einstellung und infolge einer schweren Erkrankung (1963) konnte er nicht mehr dirigieren. Im Sommer 1963 kam er in seine Heimatstadt, Wien, zurück. Dort war er in der österreichischen Sektion der „Internationalen Gesellschaft für Neue Musik“ tätig. Er wurde auch zum Mitbegründer der „Internationalen Schönberg-Gesellschaft“ (1972 ins Leben gerufen) und engagierte sich für die Rettung von Schönbergs Haus in Mödling.

96 Nicole Ristow, Art. „Joseph Trauneck“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg. de/object/lexm_lexmperson_00002680, letzter Zugriff: 03.12.2018; vgl. auch Matthias Pasdzierny, „Emigranten im Schaufenster? Rückkehr aus dem Exil und der Wiederaufbau des ostdeutschen Musiklebens nach 1945 – am Beispiel des Arbeiterliedarchivs und mit einem Seitenblick auf die Situation in Thüringen“, in diesem Band, S. xxx.

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Sondershausen Auguste Wilhelmine Martha Blech-Frank, 08.10.1871, Sondershausen – 21.07.1962, Berlin97 Martha Frank studierte am Fürstlichen Konservatorium in Sondershausen (1888–1892) Gesang und im Nebenfach Klavier. Nach dem Studium war die Koloratursopranistin am Hoftheater in Sondershausen bis 1894 tätig. Später hatte sie Engagements am Stadttheater in Aachen (1894–1896), am Hoftheater in Darmstadt (1896–1899) und am Deutschen Theater Prag (1899–1906), wo sie ihre Bühnenlaufbahn beendete. In Prag heiratete sie 1899 den berühmten Dirigenten und Komponisten Leo Blech (1871–1958), dessen Musik sie bereits in Aachen kennengelernt hatte, wo sie in der Uraufführung seiner Oper Cherubina (1894) die Titelrolle gesungen hatte. In Prag trat sie in der Premiere von Blechs Oper Alpenkönig und Menschenfeind 1903 auf. Nach dem Weggang aus Prag 1906 lebte sie mit ihrem Mann in Berlin, wo er an der Hofoper, später Staatsoper, seine größten Erfolge als Dirigent feierte. Obwohl er nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen ab 1933 als „Volljude“ galt, durfte er noch bis Ende 1937 an der Bühne der Staatsoper Unter den Linden wirken. Aus „Altersgründen“ entlassen,

Abb. 38: Martha Blech im Schülerbuch des Konservatoriums, Schlossmuseum Sondershausen.

97 Karl-Joseph Kutsch und Leo Riemens, Art. „Marta Blech-Frank“, in: Großes Sängerlexikon, Bd. 2, Bern u. a., 31997, S. 1195.

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verzog Blech mit seiner Frau nach Riga. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion gelang es ihnen, rechtzeitig nach Stockholm zu fliehen. Nach dem Krieg kehrte das Künstlerpaar nach Berlin zurück. Adolf Brenner (14.08.1905, Wien – 01.07.1996, Melbourne)98 war ab Oktober 1928 bis September 1931 Chormeister und Kapellmeister an den Theatern von Gotha-Sondershausen und Arnstadt. Friedrich Lichtenstein (26.12.1888, Chełmża, heute Polen – 21.05.1967, Nakuru [Kenia])99 war ein Sänger (Tenor) und 1911–1914 als Kantor in Erfurt tätig, 1914–1918 trat er am Hoftheater in Sondershausen auf. Meta Redelmeier, 17.10.1882, Sondershausen – 04.01.1976, Tel Aviv100

Abb. 39: Meta Redelmeier, Sammlung Ruthy Friedmann.

Von 1898 bis 1903 studierte die Tochter eines Kaufmanns Violine und Klavier am Fürstlichen Konservatorium in Sondershausen, 1904–1905 am Königlichen Musik-Institut in Berlin. Ihr erster Lehrer war der 1901 zum Hofkonzertmeister ernannte 1. Konzertmeister des Loh-Orchesters Carl Corbach (1867–1947). In Berlin nahm sie Unterricht bei zwei Schülern des berühmten Violinisten, Dirigenten und Komponisten Joseph Joachim (1831–1901), bei Karl Halir (1859–1909), der 1884–1894 als Kapellmeister an der Weimarer Hofkapelle gewirkt hatte, und bei Karl Klingler (1879–1971). Nach dem Studium war sie zunächst als Lehrerin an den Konservatorien in Stralsund und Tilsit (heute Sowetsk in Russland) tätig. Im Jahre 1914 kehrte sie jedoch nach Sondershausen zurück und musizierte sowohl im LohOrchester als auch im Quartett von Carl Corbach. Am 6. Februar 1930 erhielt sie die Erlaubnis, gewerbsmäßig

 98 Albrecht Dümling, Art. „Adolf Brenner“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg. de/object/lexm_lexmperson_00005177, letzter Zugriff: 03.12.2018.  99 Sophie Fetthauer, Art. „Friedrich Lichtenstein“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00004452, letzter Zugriff: 03.12.2018. 100 Bettina Bärnighausen, „Meta Redemeier“, in: Stolpersteine in Sondershausen. 10. Oktober 2014, hrsg. von ders., Sondershausen 2014; Vgl. auch: Dieter Schwarz, „Zur Geschichte des Konservatoriums“, in: Karla Neschke, Helmut Köhler, Residenzstadt Sondershausen. Beiträge zur Musikgeschichte, Sondershausen 2004, S. 173–182.

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Unterricht zu erteilen und 1932 die staatliche Anerkennung als Privatlehrerin im Fach Violine. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderte sich ihre Situation gravierend: Nach dem 1. April 1933 ging mein Einkommen stark zurück, da manche christlichen Eltern ihre Kinder nicht mehr zu einer jüdischen Lehrerin zu schicken sich trauten. Nachdem der Präsident der Reichmusikkammer mir am 22. August 1935 endgültig den Musikunterricht verboten hatte, hatte ich keinerlei Berufseinkommen mehr. […] Nach dem Verlust meiner Existenz im Jahre 1935 wartete ich noch einige Jahre in Sondershausen ab, in der Hoffnung auf eine Änderung der Verhältnisse.101

Nachdem im März 1938 ihre Mutter gestorben und ihr Abb. 40: Carl Corbach, SchlossBruder Max nach der Pogromnacht des 9. November für museum Sondershausen. mehr als zwei Wochen im KZ Buchenwald interniert worden war, verließ sie – gemeinsam mit der Familie ihres Bruders – am 29. Dezember 1938 Sondershausen. Am 10. Januar 1939 trafen sie in Haifa ein. Meta Redelmeier zog nach Tel Aviv und teilte sich dort mit ihrer jüngeren Schwester Hedwig Hirschfeld eine Wohnung. Die Lebensumstände waren außerordentlich schwer: „Als ich in Palästina ankam, war ich bereits 57 Jahre alt, kannte nicht hebräisch, es gab

Abb. 41: Meta Redelmeier mit ihrem Neffen Theo in Israel, Sammlung Ruthy Friedmann.

101 Meta Redelmeiers Entschädigungsakte, Niedersächisches Landesarchiv Hannover, Nds. 110 W, Acc 8/90, Nr. 313/24.

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kein Interesse für Musikunterricht – ich konnte meinen Beruf als Musiklehrerin nicht ausüben“.102 Im Jahr 1944 erkrankte sie schwer an Malaria und war seitdem nicht mehr zu regelmäßiger Berufstätigkeit fähig. Helene Sexauer (geb. Goldschmidt, verw. Nowak, 04.12.1869, Sondershausen –  19.04.1950?)103 studierte von 1887 bis 1890 am Konservatorium ihrer Heimatstadt Gesang und Klavier. Nach dem Studium war sie als Gesangslehrerin in Freiburg im Breisgau tätig. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Benno Ziegler (16.12.1891, München – 21.01.1965, München)104 war wahrscheinlich bis Pfingsten 1931 im Sondershäuser Verband Deutscher Sängerverbindungen als Musikwart tätig. Im Schülerbuch des Konservatoriums finden sich noch zwei Schülerinnen aus Sondershausen mit jüdischer Abstammung: Alma Leser (16. Dezember 1892) studierte 1909–1912

Abb. 42: Alma Leser im Schülerbuch des Kon­servatoriums (Ausschnitt), Schlossmuseum Sondershausen.

Abb. 43: Ella Podolansky im Schülerbuch des Konservatoriums (Ausschnitt), Schlossmuseum Sondershausen.

102 Ebd. 103 Stengel und Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik, (wie Anm. 84), Sp. 256; Schülerbuch des Konservatoriums Sondershausen im Schlossmuseum Sondershausen. 104 Nico Schneidereit, u. a., Art. „Benno Ziegler“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00007080, letzter Zugriff: 03.12.2018.

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Abb. 44: Konservatorium Sondershausen, Schlossmuseum Sondershausen.

Klavier und Gesang. Ella/Lea Podolanski (1. Januar 1911) studierte 1926–1927 Klavier. Das fernere Schicksal beider Musikerinnen ist unbekannt.105

Weimar Hans Erich Bassermann, 29.09.1888, Frankfurt am Main – 12.02.1978, Cincinnati (USA)106 Hans Bassermann stammte aus einer Musikerfamilie. Fritz Bassermann (1859–1926) war Violinist und Professor für Violine am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main. Seine Mutter, Florence Bassermann, geb. Rothschild, war eine Schülerin von Clara Schumann (1819–1896), Pianistin und Lehrerin am gleichen Konservatorium. Auch sie zählt zu den Opfern des Nationalsozialismus. Die Pianistin konvertierte zwar 1889 zum Protestantismus, sie galt aber im NS-Deutschland als Jüdin. Am 6. Februar 1942 nahm sie sich das Leben. Der Grund dafür war höchstwahrscheinlich die bevorstehende Deportation. 105 Schülerbuch des Konservatoriums Sondershausen im Schlossmuseum Sondershausen. Vgl. auch Juden in Schwarzburg: Festschrift zu Ehren Prof. Philipp Heidenheims (1814–1906), Rabbiner in Sondershausen, anlässlich seines 100. Todestages, 2 Bde., hrsg. von Bettina Bärnighausen, Dresden 2006. 106 Hans Bassermanns Personalakte, in: LATh-HStA Weimar, Ministerium für Volksbildung, Nr. 1055; Barbara von der Lühe, Die Musik war unsere Rettung. Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder der Palestine Orchestra (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Institutes, Bd. 58), Tübingen 1998, S. 178 ff.; Sonja Neumann, „Säuberungsaktionen an der Staatlichen Musikhochschule Weimar. Der Fall Bassermann“ in: „Entartete Musik“ 1938. Weimar und die Ambivalenz, Bd. 1, hrsg. von Hans-Werner Heister, Saarbrücken 1999, S. 416–420; Kaminiarz, „Entartete Musik und Weimar“, (wie Anm. 1); Irina Lucke-Kaminiarz, „Hans Bassermann (1888–1967). Violinenvirtuose und Musikpädagoge“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 22–27.

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Bassermann war ein angesehener Violinenvirtuose. Er konzertierte mit dem Leipziger Gewandhausorchester, 1910–1911 war er Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters. Seit 1912 betätigte er sich als Pädagoge an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin. Während des Ersten Weltkriegs war er zunächst als Beamter in einem Kriegslazarett in Frankreich tätig, später wurde er im Kriegsministerium eingesetzt. Nach dem Krieg musste er aus ökonomischen Gründen seine Anstellungsorte häufig wechseln. 1920–1923 leitete er am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin Meisterklassen, 1923 war er am Leipziger Konservatorium tätig, 1924–1928 wirkte er an der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin, 1928 wurde er, als Nachfolger von Henri Martineau, wieder an das Leipziger Abb. 45: Hans Bassermann, SB Konservatorium berufen. UB Frankfurt am Main. An die Staatliche Hochschule für Musik in Weimar kam er 1930.107 Hier leitete er die Klasse für Violine, Kammermusik und Bratsche, außerdem trat er als Solist und Mitglied des Weimarischen Trios auf, dessen Mitglieder der Pianist und Leiter der Weimarer Musikhochschule Bruno HinzeReinhold (1877–1964) und der Cellist der Weimarer Staatskapelle Walter Schulz (1893– 1968) waren. Anfang Oktober 1933 wurde er wegen jüdischer Abstammung gekündigt. Er hielt sich aber für einen deutschen Künstler ohne jegliche Beziehung zum jüdischen Glauben und versuchte seine Position in Weimar zu retten, indem er den Behörden ein Dokument vorlegte, in dem mehrere Autoritäten seine „betont deutsche Einstellung“ bescheinigten.108 Trotz allem verlor er die Professur in Weimar. In einem Brief an das Thüringische Volksbildungsministerium vom 27. Dezember 1933 beschrieb er seine Situation folgendermaßen: Abgebaute Juden pflegen entweder im internationalen Judentum eine Stütze oder im Auslande eine Betätigungsmöglichkeit zu finden. Da ich jedoch – seit 25 Jahren nur deutscher Sache dienend – weder Beziehungen zum Judentum noch zum Ausland habe, so bedeutet die Anwendung des Arierparagraphen auf mich und meine Mutter endgültigen Untergang.109 107 Die heutige Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar hatte in ihrer Geschichte verschiedene Entwicklungsstufen und Namen. 1872–1876 hieß sie Großherzogliche Orchester- und Musikschule in Weimar, 1876–1902 Großherzogliche Orchester-, Musik- und Opernschule in Weimar, 1902–1919 Großherzogliche Musikschule zu Weimar, 1919–1930 Staatliche Musikschule zu Weimar, 1930– 1956 Staatliche Hochschule für Musik zu Weimar, seit 1956 heißt sie Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, vgl. Wolfram Huschke, Zukunft Musik. Eine Geschichte der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Köln u. a. 2006. 108 Neumann, „Säuberungsaktionen an der Staatlichen Musikhochschule Weimar“, wie (Anm. 106), S. 417–420. 109 Lucke-Kaminiarz, „Hans Bassermann“, (wie Anm. 106), S. 27.

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Da ihm die künstlerische Tätigkeit in NS-Deutschland verboten wurde, wirkte er seit 1934 im Kulturbund Deutscher Juden Rhein-Main. Mit seinen Kollegen gründete er auch ein Quartett, das Bassermann-Quartett genannt wurde. 1936 ging er in die Schweiz. Seine Entscheidung war nicht nur durch die sehr bescheidenen Einkünfte bedingt, die ihm die Tätigkeit im Bund einbrachte. In einem Brief an die Reichsrundfunkgesellschaft vom 13. Juni 1936 schrieb er, er sollte aufgrund seiner „protestantischen Konfession“ und seines „Halbariertums“ in den Kulturbünden der Städte Berlin und Breslau nicht auftreten dürfen.110 Bassermann emigrierte dann über Palästina in die USA, wo er ab 1952 eine Professur für Violine in Lakeland/Florida innehatte.

Entschuldigen Sie, aber wir Menschen fühlen uns so minderwertig, es ist entsetzlich.111

Emil Fischer, 22.07.1880, Amsterdam – 28.05.1943, Sobibór112 An das Deutsche Nationaltheater kam Emil Fischer im Mai 1920 aus Altenburg. Dort war er als Bassbuffo ein hochgeschätzter Vorgänger von Bernhard Salno (s. dazu Art. über Salno im Abschnitt über MusikerInnen, die mit Altenburg verbunden waren). Seinen Auftritt in der Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius beschrieb der Altenburger Kritiker und Theaterhistoriker Karl Gabler folgendermaßen: Die Titelrolle ist der beste Prüfstein der heiteren Gesangskunst, es gehört dazu tatsächlich, wie es in dem hochtrabenden Eigenlob dieses Barbiers heißt: „ein athletisches, tief theoretisches Gesamtgenie“, das will sagen: ein Meister der Darstellungskunst, dem auch die Gabe wirkungsvollen Kunstgesanges in reichem Maße verliehen ist. Emil Fischer ist ein solcher Künstler.113 Abb. 46: Emil Fischer, Publikation: Krulturverlust, hrsg. u. a. Bernhard Post, Erfurt 2002, S. 28.

Fischer wollte zwar sein Repertoire um ernstere Rollen erweitern, am Deutschen Nationaltheater Weimar trat er

110 Zit. n. von der Lühe, Die Musik war unsere Rettung, (wie Anm. 106), S. 178. 111 Emil Fischer zu einer Bekannten, nach: Harry Stein, „Emil Fischer (1880–1942). Violinenvirtuose und Bassist“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 28–33, hier S. 31. 112 Emil Fischers Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 369; Stein, „Emil Fischer“, (wie Anm. 111); Steffi von dem Fange, „Emil Fischer. Zwischen Zivilcourage und Verzweiflung. Hellerweg 26, Weimar“, in: Stolpersteingeschichten Weimar. „Erinnerung gibt Leben zurück“, hrsg. von Ulrich Völkel, Weimar 2016, S. 64–72. 113 LATh-StA Altenburg, Nachlass Karl Gabler.

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aber vor allem in Bassbuffo-Partien auf, wie etwa als Baron Ochs auf Lerchenau im Rosenkavalier. Diese Rolle sang er auch am 24. April 1925, als Richard Strauss seine Komödie für Musik am Deutschen Nationaltheater in Weimar persönlich dirigierte. Seit Mitte der 20er Jahre wurde er mit politischen und antisemitischen Vorurteilen konfrontiert. Im Juli 1926 erstattete er eine Anzeige gegen Nationalsozialisten, die bei ihrem Aufmarsch in Weimar antisemitische Lieder gesungen hatten. Diese Anzeige dokumentiert die politisch stark veränderte Atmosphäre in der Stadt:

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Abb. 47: Stolperstein von Emil Fischer, Hellerweg 26, Weimar.

Ich bin am Sonnabend den 3ten während der Mittagsstunde und auch noch nachmittags in drei Fällen durch antisemitische Zurufe von mir begegnenden Nationalsozialisten in feldmarchmäßiger Ausrüstung beleidigt worden. Eine Entgegnung meinerseits wäre in Hinblick auf die zahlenmäßige Überlegenheit der in Haufen bewaffnet umherziehenden Nationalsozialisten – ein Wahnsinn gewesen. Am Sonntag den 4ten erlebte ich am Karlsplatz den Vorbeimarsch des Zuges. Man sang: 1) „Wir scheißen auf die Freiheit in der Judenrepublik usw.“ […] Diese Lieder sangen Menschen, welche die politische Atmosphäre reinigen wollen. […] Ich halte das Auftreten dieser sogenannten Nationalen Sozialisten für schmachvoll und empfinde ihr Benehmen am vergangenen Sonntag als eine unerhörte Provokation […] Es war eine zweifellos beabsichtigte Schmähung der vaterländischen Empfindungen jener Staatsbürger, die durch körperliche und geistige Arbeit ehrlich an der Beruhigung und Gesundung unserer Verhältnisse mitarbeiten.114

Emil Fischer war eines der letzten aktiven Mitglieder des „Weimarer Israelitischen Religionsvereins“, galt zudem als Vertrauensmann des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, trat bei Feiern und Gottesdiensten in der Erfurter Synagoge auf. Außerdem agierte er als Vorsitzender des Angestelltenrates im Deutschen Nationaltheater und war mit den Kreisen der SPD verbunden. Anfang Januar 1933 wurde der Vertrag mit Emil Fischer nicht mehr verlängert. Das Wochenblatt für den jüdischen Synagogenbezirk Erfurt vom 27. Januar 1933 informierte seine Leser: Unter den Opfern des Hakenkreuzregimes befinden sich verschiedene Künstler des Weimarer Nationaltheaters, denen Ende August gekündigt worden ist, auch der Opernsänger Emil Fischer, der unsern Leser als aufrechter Mensch, bewußter Jude und hervorragender Musiker bekannt ist. – Das Verhalten der augenblicklichen Machthaber fordert bei allen rechtlich denkenden Menschen einen Sturm der Entrüstung heraus, hoffentlich wird dieser dazu beitragen, die unglaublichen Maßnahmen rückgängig zu machen.115 114 Zit. n. Stein, „Emil Fischer“, (wie Anm. 111), S. 29. 115 Stadtarchiv Erfurt.

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1938 musste Fischer mit seiner Familie das Haus im Hellerweg 26 verlassen. Ende 1938 emigrierten sie nach Amsterdam-Amstelveen. Anfang 1943 brachte die Gestapo die Familie Fischer in das Durchgangslager Westerbork, am 25. Mai wurde sie in das Vernichtungslager Sobibór deportiert, am 28. Mai in den Gaskammern ermordet. Jenny Fleischer-Alt, 03.08.1865, Pressburg (heute Bratislava) – 07.04.1942, Weimar (Freitod)116

Abb. 48: Jenny Fleischer-Alt LATh-HStA Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

Jenny Fleischer-Alt lernte Gesang bei Viktor Rokitansky in Wien und Francesco Lamperti in Mailand. Sie debütierte 1881 an der Krolloper in Berlin. Später trat sie in Würzburg, Prag und Wiesbaden auf. In der Spielzeit 1885/86 kam die Koloratursopranistin nach Weimar, und schnell wurde sie zum Star der Weimarer Bühne. In Anerkennung ihrer Kunst ernannte sie Großherzog Karl Alexander 1890 zur „Großherzoglichen Kammersängerin“. Ihre glänzende Kariere beendete die Künstlerin vorzeitig. Der Grund dafür war 1890 die Heirat mit dem Maler Prof. Friedrich Fleischer. Sie zog sich aber vom öffentlichen Leben nicht ganz zurück. So konzertierte sie etwa für die herzogliche Familie und hatte Gastauftritte auf der Weimarer Opernbühne. Von 1919 bis 1927 wirkte sie als Gesangspädagogin an der Staatlichen Musikschule Weimar. Ihre Beschäftigung kündigte sie, als ihr bei der Umstrukturierung der Staatlichen Musikschule in die Hochschule die Leitung der Hochschulklasse für Gesang verweigert wurde.117 Nach dem Tod ihres Mannes 1937 wurde sie ein Opfer antisemitischer Maßnahmen des NS-Regimes. Ab Septem-

116 Jenny Alt, Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 256; Bernhard Post, „Jenny Fleischer-Alt (1868–1942) Kammersängerin und Musikpädagogin“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 34–39; Henriette Rosenkranz, „Unrecht über den Tod hinaus – das Schicksal der Sängerin Jenny Fleischer-Alt aus Weimar“, in: „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon“. Schicksale 1933–1945, hrsg. von Monika Gibas, Erfurt 2 2010, S. 67–74; Bernhard Post, „Jenny Fleischer-Alt – Eine Künstlerin zwischen Wagner-Verehrung und rassischer Verfolgung“, in: Festschrift. 25 Jahre Wagner-Verband 1990–2015, 125 Jahre RichardWagner-Zweigverein Weimar 1890–1899, hrsg. vom Richard-Wagner-Verband, Leipzig 2016, S. 84–95; Steffi von dem Fange, „Jenny Fleischer-Alt, Ilka und Edith Gál. Eine glockenhelle Stimme wird zum Schweigen gebracht. Belvederer Allee 6, Weimar, in: Stolpersteingeschichten Weimar, (wie Anm. 112), S. 36–45. Vgl. auch Bernhard Post, „Weimar – ‚Das kulturelle Herz Deutschlands‘“, (wie Anm. 1). 117 Zu den Namensänderungen der Musikschule in Weimar s. Anm. 107.

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ber 1939 konnte sie auf ihr Vermögen nicht mehr frei zugreifen. Die Finanzbehörden entschieden, welche Summe ihr monatlich von ihrem Konto zustand, und diese wurde mit der Zeit immer geringer. Seit 1940 wurde ihre Villa in der Belvederer Allee 6 als „Ghettohaus“ genutzt. Alleinstehende, ältere jüdische Bürger wurden durch die Gestapo in ihr Haus eingewiesen, darunter auch Eduard Rosé (S. Art. über ihn). Nach dem Tod ihrer älteren Schwester, Ilka Gál, in Trauer, in Sorgen und Angst vor einer bevorstehenden Deportation nahm sich Jenny Fleischer-Alt am 7. April 1942 das Leben. Dr. Ernst Latzko, 01.04.1885, Wien – 1957, Wien118 Latzko war promovierter Jurist, Pianist, Dirigent, Musikschriftsteller und Schüler von Hugo Riemann. Bevor er nach Weimar kam, wirkte er 1907–1913 als angesehener Chorleiter, Korrepetitor und Pianist an der Semperoper in Dresden. In Weimar bekleidete er dann bis 1927 das Amt des zweiten Kapellmeisters der Staatskapelle. Latzko muss Kontakte mit Bauhaus-Künstlern gehabt haben. Wassily Kandinsky und Paul Klee waren 1925 Trauzeugen bei seiner Eheschließung mit der Sopranistin Mali Trummer (1901–1991), die seit 1921 am Deutschen Nationaltheater tätig war.119 1927 verließ das Ehepaar Weimar infolge antisemitischer Intrigen am Theater. Sie zogen nach Leipzig, wo Latzko Chef der „Mitteldeutschen Rundfunk AG“ wurde, Konzerte gab und musikwissenschaftliche Artikel publizierte. Abb. 49: Ernst Latzko, Almanach Auch Mali Trummer blieb beruflich aktiv. Am 9. März 1930 des DNT Weimar 1925, S. 37. etwa sang sie die Partie der Jenny in der Uraufführung der Foto: Hüttich-Oemler, LAThOper von Kurt Weill Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen am Neuen Theater in Leipzig. Nationaltheaters und der Staats1933 wurde Latztko entlassen und ging mit seiner Frau kapelle Weimar. nach Prag. Im Februar 1945 wurde er nach Theresienstadt deportiert. Nach dem Krieg war er als Jurist in der österreichischen Botschaft in Prag tätig. Außerdem gab er Musikunterricht und betätigte sich als Liedbegleiter. 1957 kam er in seine Geburtsstadt Wien zurück.

118 Personalakte Dr. Ernst Latzko im LATh-StA Weimar; Christiane Weber, „Ernst Latzko und Mali Trummer – Kapellmeister und Sängerin (Mozartstraße 15) “, in: dies., Villen in Weimar IV, Weimar 2002, S. 32–39. 119 Vgl. auch: Mali Trummers Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 739.

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Maria Stolarzewicz Deutschsein im Sinne Richard Wagners war für mich eine Selbstverständlichkeit.120

Gustav Lewin, 14.04.1869, Berlin – 17.10.1938, Weimar121 Gustav Levin studierte ab 1885 an der Berliner Musikhochschule, ab 1889 war er als Kapellmeister in Münster, Stade, Güstrow, Regensburg und an anderen Orten tätig. Nach Weimar holte ihn Carl Müllerhartung (1834–1908), der Gründer der Großherzoglichen Orchesterschule in Weimar. Bereits seit dem 1. April 1901 unterrichtete Lewin auf vertraglicher Basis Klavier. Seit 1906 war er als hauptamtliche Lehrkraft für Klavier, Partitur- und Blattspiel tätig und leitete das Opernorchester der Studierenden. Lewin gehörte zu den wichtigsten und hochgeschätzten Lehrern der Musikschule.122 1920 wurde er in den Beamtenstatus erhoben, 1922 zum Musikdirektor ernannt. Lewin betätigte sich auch als Komponist. Seine zahlreichen Lieder und Kammerkompositionen wurden von mehreren Verlagen publiziert und erfreuten sich einer so Abb. 50: Gustav Lewin, HSA | großen Popularität, dass sie trotz des Aufführungsverbotes ThLMA Weimar. noch bis 1936 erklangen. Die Kündigung im Jahre 1933 und antisemitische Angriffe belasteten ihn und seine Gesundheit stark. Er starb in seiner Wohnung in Weimar durch Nahrungsverweigerung. Bruno Hinze-Reinhold beschrieb das Ende von Gustav Lewin folgend: Nach seinem Ausscheiden soll es dem armen Kerl durch die Naziwelle sehr schlecht gegangen sein. Aus seiner Stellung war er längst schon herausgeworfen worden, und schließlich weigerten sich auch die entmenschten Kaufleute, ihm Heizungsmaterial zu liefern. So ist er denn elendiglich eingegangen, verhungert und erfroren.123

120 Gustav Lewin an den Volksbildungsminister am 17.07.1933, nach: Erika Müller und Harry Stein, Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998, S. 77. 121 Nachlass Gustav Lewin (NGL), HSA| ThLMA Weimar; Gustav Lewins Personalakte, in: LAThHStA Weimar, Ministerium für Volksbildung, Nr. 18641; Irina Lucke Kaminiarz, „Gustav Lewin (1869–1938) Musikdirektor und Komponist“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 41 f.; Steffi von dem Fange, „Gustav Lewin, Deutschsein war für mich eine Selbstverständlichkeit. Stubenstraße 19, Weimar“, in: Stolpersteingeschichten Weimar, (wie Anm. 112), S. 82–88. 122 Zu den Namensänderungen der Musikschule in Weimar s. Anm. 107. 123 Nach: Lucke Kaminiarz, „Gustav Lewin“, (wie Anm. 121), S. 42.

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Abb. 51: Publizierte Lieder von Gustav Lewin, HSA| ThLMA Weimar.

Abb. 52: Stolperstein von Gustav Lewin, Steubenstraße 19, Weimar.

Dr. Ernst Praetorius, 20.09.1880, Berlin – 27.03.1946, Ankara124 Der promovierte Musikwissenschaftler und vielseitige Musiker kam 1924 nach Weimar. Er bekleidete den Posten des Generalmusikdirektors am Deutschen Nationaltheater und war zugleich Lehrer für Dirigieren und Leiter des Orchesters der Staatlichen Musikschule (ab 1930 Staatliche Musikhochschule).125 Mit ihm ist einer der gewandtesten und erfahrensten Dirigenten und Orchesterkennen dahingegangen, im Ablesen und Abspielen der schwierigsten Partituren war er kaum zu übertreffen. Fast jedes Instru­ ment vermochte er selbst zu spielen.126

124 Ernst Praetorius’ Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Ministerium für Volksbildung, Nr. 23638 u. 23638; Sonja Neumann, „Zieglers Kulturpolitik am Deutschen Nationaltheater Weimar. Zwei Beispiele, in: „Entartete Musik“, (wie Anm. 106), S. 401–409; Burcu Dogramaci, Art. „Ernst Praetorius“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002782, letzter Zugriff: 03.12.2018; Irina Lucke-Kaminiarz, „Ernst Praetorius (1880–1946). Generalmusikdirektor“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 44–49. Vgl. auch Irina Lucke-Kaminiarz, „Der Fall Dr. Ernst Praetorius“, (wie Anm. 1). 125 Zu den Namensänderungen der Musikschule in Weimar s. Fußnote 107. 126 Kaminiarz, „Ernst Praetorius“, (wie Anm. 124), S. 49.

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Abb. 53: Ernst Praetorius, LAT-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

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Vor allem in den 20er Jahren setzte er sich energisch für moderne Musik ein. Unter seiner Leitung erklangen Werke von Arnold Schönberg, Paul Hindemith und anderen, die einige Jahre später als „entartet“ verfemt wurden. Praetorius engagierte sich auch bei Veranstaltungen eher konservativen Charakters, wie etwa den Osterfestspielen am Deutschen Nationaltheater und den „Deutschen Festspielen“ des „Bayreuther Bundes der Deutschen Jugend“ im Sommer 1926. Praetorius’ Engagement für moderne Musik irritierte die NSDAP-Kreise in Weimar. 1928 entfachten sie gegen ihn und seine jüdische Frau eine Pressekampagne. Im Dezember 1930 wurde sein Arbeitsvertrag nicht verlängert. Praetorius ist es jedoch auf dem Gerichtsweg gelungen, wieder in sein Amt eingesetzt zu werden. Anfang Januar 1933 wurde er endgültig entlassen. 1935 kam Praetorius dank der Hilfe Paul Hindemiths nach Ankara, wo er bald zum Generalmusikdirektor ernannt wurde.

Julius Prüwer, 20.02.1874, Wien – 08.07.1943, New York127 Julius Prüwer war musikalisch sehr begabt, und bereits mit zwölf Jahren wurde er Schüler am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo er neben dem Hauptfach Klavier auch Komposition, Harmonie und Kontrapunkt lernte. Später strebte er aber keine Karriere als Pianist, sondern als Dirigent an. Schon in der Saison 1892/93 sammelte er am Stadttheater in Bielitz seine ersten Erfahrungen in diesem Beruf. 1895–1923 wirkte er in Breslau, wo er sich für moderne Oper stark einsetzte. Außerdem leitete er 1898 die russische Erstaufführung von Wagners Tristan und Isolde in St. Petersburg. 1902, 1904 und 1906 assistierte er Hans Richter bei Bayreuther Festspielen. 1909 publizierte er einen musikalischen Führer zur Strauss’ Salome. 1923–1924 wirkte er als Generalmusikdirektor der Staatskapelle Weimar. In der Stadt blieb er nur eine Saison, weil er seit Anfang seiner Tätigkeit zum Opfer antisemitischer Aktionen wurde. Seine Situation schildert er in einem Brief vom 9. Juni 1924 dem Generalintendanten Dr. Ulbrich wie folgt:

127 Julius Prüwers Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 212; Carsten Schmidt, Art. „Julius Prüwer, in: MGG2, Personenteil, Bd. 13, Kassel u. a. 2005, Sp. 1010 f.; Antje Kalcher, Art. „Julius Prüwer“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/ lexm_lexmperson_00002153, letzter Zugriff: 03.12.2018; Lucke-Kaminiarz, „Der Fall Dr. Ernst Praetorius“ (wie Anm. 1).

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Man hat mich hier in einem Blatt wegen meiner Abstammung fast wöchentlich beschimpft und beleidigt. Leute, deren Gesichtskreis über Weimar nicht hinausragt, wagen es, mir, der in Berlin und Wien usf. von Presse und Publikum seit Jahren einstimmig anerkannt wird, Belehrungen über Tempi, Programme usw. zu geben.128

Abb. 54: Julius Prüwer um 1940 UdK Berlin, UA.

Danach war er an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin tätig. Er leitete die Kapellmeisterklasse, das Hochschulorchester und Orchester der Opernschule. Im Sommer 1925 wurde er zum ständigen Dirigenten des Berliner Philharmonischen Orchesters. Nach 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen und musste nach anderen Verdienstmöglichkeiten suchen. 1936 übernahm er die Leitung des Symphonieorchesters des Jüdischen Kulturbundes in Frankfurt am Main. Ab April 1937 bildete er die Kapellmeister an der Jüdischen Privaten Musikschule Hollaender in Berlin. Ende 1939 emigrierte er in die USA, wo er als Dirigent, Pianist und Lehrer wirkte.

Ich bin Künstler und kümmere mich um ­sonstige Sachen nicht.129

Der Lebensweg von Eduard Rosé wird in Stichpunkten dargestellt. Auf diese Weise lässt sich die Grausamkeit des Untergangs eines prominenten „jüdischen“ Künstlers in NS-Deutschland mit ganzer Deutlichkeit veranschaulichen.

Abb. 55: Eduard Rosé, LATh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

128 Nach: Wolfram Huschke, … von jener Glut beseelt. Geschichte der Staatskapelle Weimar, mit Essays von Detlef Altenburg und Nina Noeske, Jena 2002, S. 175. 129 Eine Aussage Eduard Rosés, nach: Bernhard Post, „Eduard Rosé (1859–1943) 1. Cellist und Musikpädagoge“, in: Post u. a., Kulturverlust, (wie Anm. 1), S. 50–58, hier S. 53.

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Eduard Rosé, geb. Rosenblum, 29.03.1859, Jassy (Rumänien) – 24.01.1943, Theresienstadt130 Ȥ 1876–1879 Studium am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Bekanntschaft mit Gustav Mahler, der dort 1875–1878 studierte. Ȥ 1882 Annahme des Bühnennamens Rosé. Ȥ 1882 Gründung des Rosé-Quartetts, das u. a. Werke von Johannes Brahms, Hans Pfitzner, Arnold Schönberg und Max Reger uraufführte. Ȥ Oktober 1884–September 1887 erster Solocellist an der Königlichen Hofoper in Budapest. Ȥ 1887–1891 Konzertreisen durch Europa. Ȥ 1891 Verpflichtung durch Arthur Nikisch beim Bostoner Symphonie-Orchester. Ȥ 1891 Übertritt zum Protestantismus. Ȥ 1898 Heirat mit Emma Mahler, einer Schwester Gustav Mahlers. Ȥ September 1900 erster Cellist am Orchester des Großherzoglichen Theaters in Weimar. Empfohlen durch Gustav Mahler. Ȥ Bis 1924 Lehrer für Violoncello und Klavier an der Staatlichen Musikschule in Weimar (später Staatliche Musikhochschule).131 Die Berufung zum Professor der CelloKlasse wird ihm verweigert. Ȥ 1926 Ruhestand. Ȥ 8. Juni 1933 Tod von Emma Rosé. Ȥ 1939 wird ihm das Rundfunkgerät eingezogen. Ȥ Aufgrund der Baupläne des „Gauforums“ muss er in Weimar seine Wohnung Am Viadukt 8 verlassen und in eine kleine Dachwohnung in der Marienstraße 16 umziehen. Ȥ September 1941 Verordnung über das Tragen des Judensterns. Ȥ 17. September 1941 Rosés Brief an den Polizeipräsidenten von Weimar, in dem er bittet, keinen Judenstern tragen zu müssen. Ȥ Rosés Haus wird durchsucht, er wird in der Gestapo-Leitstelle im Weimarer Marstall verhört und für eine Woche in Untersuchungshaft genommen. Er wird auch in die sogenannte Tageszelle gesteckt, die kleiner als eine Telefonzelle ist und in der man mit Überheizung, ständigem Licht und lauter Marschmusik die Häftlinge quält. Ȥ Während weiterer Hausdurchsuchung wird eine Lebensmittelkarte gefunden, auf der der Stempel „J“ beseitigt worden ist (J = Jude).

130 Eduard Rosés Personalakte in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 192; Ingo Schulz, Art. „Eduard Rosé“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 14, Kassel u. a. 2005, Sp. 392; Bernhard Post, „Eduard Rosé. Ein Musikerschicksal im Spannungsfeld zwischen europäischer Kultur und deutscher Provinz“, in: Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jg. 96/97, 2001/2002, S. 417–443; Peter Petersen, Art. „Eduard Rosé“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002646, letzter Zugriff: 03.12.2018; Steffi von dem Fange, „Eduard Rosé. Aufrecht gehen. Marienstraße 16, Weimar“, in: Stolpersteingeschichten Weimar, (wie Anm. 109), S. 72–81. Vgl. auch Beitrag von Post, „Weimar – ‚Das kulturelle Herz Deutschlands‘“, (wie Anm. 1). 131 Zu den Namensänderungen der Musikschule in Weimar s. Anm. 107.

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Ȥ 5. Dezember 1941 wird gegen Rosé eine Anklage wegen Urkundenfälschung vor dem Schöffengericht in Weimar erhoben. Den Prozess verliert er, muss 70 Mark bezahlen und die Verfahrenskosten übernehmen. Ȥ Dezember 1941 muss Rosé in die Villa von Jenny Fleischer-Alt umziehen, die seit 1940 als „Ghettohaus“ genutzt wird. Ȥ 7. April 1942 Freitod von Jenny Fleischer-Alt. Ȥ Rosé muss in das „Ghettohaus“ Am Brühl 6 umziehen. Ȥ 20. September 1942 wird Rosé nach Theresienstadt deportiert.

Abb. 56: Das Orchester des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar um 1905. Als Dirigent Rudolf Krzyrzanowski. Der I. Cellist ist Eduard Rosé, LATh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

Abb. 57: Stolperstein von Eduard Rosé, Marienstraße 16, Weimar.

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Wolfgang Rosé, 10.04.1902, Weimar – 06.09.1977, Bad Tatzmannsdorf (Österreich)132 Zunächst lernte Wolfgang Rosé, ein Sohn von Eduard Rosé, Klavier bei Bruno Hinze-Reinhold in Weimar, der das Talent seines Schülers sehr hoch schätzte. In seinen Erinnerungen beschrieb er Rosé folgendermaßen:

Abb. 58: Wolfgang Rosé, Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien.

Mein bester Schüler der ersten Weimarer Jahre ist fraglos Wolfgang Rosé gewesen. […] Als halbwüchsiger Schulbub ist er mir anvertraut worden, und als ein ausgesprochenes Spieltalent und „Podiumspferd“ hat der Junge sehr bald durch außerordentliche Leistungen Aufsehen erregt. Ich förderte ihn wie und wo ich nur konnte und habe in jenen schwierigen Zeiten für ihn durch eine Sammlung das Geld für einen guten Flügel aufgebracht. Ich begleitete ihn einmal in das damals belgisch besetzte Aachen, wo er unter Peter Raabe das c-moll-Klavierkonzert von Beethoven spielte, und habe ihn auf meine Kosten in mehreren Städten Werbe-Klavierabende veranstalten lassen. […] Er ist nach Amerika ausgewandert und hat dort, wie mir bestätigt wurde, als Pianist glänzende Erfolge aufzuweisen.133

Nach dem Studium in Weimar kam Rosé nach Berlin und lernte bei Walter Gieseking und Artur Schnabel weiter. Seit 1933 wirkte er im Jüdischen Kulturbund und trat u. a. in Hamburg und Berlin auf. An der 1936 in Berlin gegründeten Jüdischen Privaten Musikschule Hollaender unterrichtete er vier Jahre Klavier. 1941 floh er in die USA, wo er Klavierunterricht gab und berühmte Solisten, wie etwa die Geiger Mischa Elman und Julian Olevsky, sowie den Star-Bassisten Alexander Kipnis begleitete. Sowohl in Deutschland als auch in den USA war er als Pianist hoch geschätzt. Wolfgang und sein älterer Bruder, Ernst Rosé, wollten, dass ihr Vater Eduard Rosé nach Amerika emigriert. Sie kamen 29. März 1939 nach Weimar, um dessen 80. Geburtstag zu feiern und die Modalitäten der Übersiedlung nach Amerika zu besprechen. Sie wollten ihn in die USA holen, sobald sie dort Fuß fassten. Ernst Rosé kam bereits 1939 nach New York, Wolfgang gelang aber erst 1941 dorthin, als einer der letzten jüdischen Emigranten, denen die Flucht in die USA gelang. Eine spätere Auswanderung Eduard Rosés kam nicht mehr zustande.

132 Peter Petersen, Art. „Wolfgang Rosé“, in: LexM, (wie Anm. 4), https://www.lexm.uni-hamburg.de/ object/lexm_lexmperson_00002647, letzter Zugriff: 03.12.2018. 133 Bruno Hinze-Reinhold, Lebenserinnerungen, ausgewählt und hrsg. von Michael Berg, Weimar 1997, S. 69 f.

Ausstellung Verfolgte Musiker

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Gerda Wolf(f )sohn, verh. Hensoldt, 03.03.1904, Berlin – ?134 Die Altistin lernte seit 1925 am Deutschen Nationaltheater Weimar Gesang. Der Generalintendant des Theaters, Dr. Ulbrich, war von ihren Talenten und künstlerischen Fähigkeiten fest überzeugt. In einem Brief an ihren Vater vom 28. Juni 1926 schrieb er, dass „Fräulein Gerda Wolfsohn über stimmliche und darstellerische Qualitäten verfügt, die eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn einigermaßen wahrscheinlich machen, darüber besteht bei ihren Lehrern und uns volle Übereinstimmung“.135 1928 bekam sie am Deutschen Nationaltheater eine feste Anstellung als Solistin. Diese wurde aber Ende Dezember 1930 mit einer Kündigung zum August 1931 beendet. Da aber die Sängerin beim Publikum sehr beliebt war, wandte sich eine Gruppe von 346 Personen an den Generalintendanten des Weimarer Theaters mit einer Petition, die Sängerin weiter zu beschäftigen. Wolfsohns Sympathisanten waren erfolgreich, und sie bekam ein Engagement als zweite Altistin für eine weitere Saison. Ende August 1932 schied sie aufgrund ihrer Heirat endgültig aus dem Ensemble aus. Nach 1937 verließ sie Weimar, um eine Beschäftigung im Ausland wahrzunehmen. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

134 Gerda Wolfsohns Personalakte, in: LATh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Nr. 799; Müller und Stein, Jüdische Familien in Weimar, (wie Anm. 120), S. 57 f. 135 Ebd., S. 57.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer (Heidelberg) studierte Germanistik und katholische Theologie an der Universität München. Seine Habilitation erfolgte 1979 zum Themenfeld der Weimarer Klassik. 1982 wurde er als Professor für Theaterwissenschaft an die Universität München berufen. Seit 1988 war er Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Gastprofessuren an zahlreichen Universitäten in Europa und vor allem in den USA kamen hinzu. Im Rahmen der Stiftungsdozentur „Heidelberger Vorträge zur Kulturtheorie“ lehrt er weiterhin an der Universität Heidelberg. Sein Arbeitsfeld ist vor allem die deutsche Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert und das Musiktheater, mit Monografien zu Goethe, Schiller, Mozart, Wagner, Nietzsche und Thomas Mann. Christoph Gann (Meiningen) studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und Mainz; er schloss sein Studium mit dem Zweiten Staatsexamen in Koblenz ab. Von 2004 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Hans-Joachim Jentsch und Herbert Landau. Christoph Gann ist seitdem Richter am Landgericht Meiningen. Seit seiner Studienzeit forscht er über das Leben von Raoul Wallenberg. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit der Geschichte der Meininger Juden, über welche er mehrere Ausstellungen kuratierte. 2010/11 etwa bereitete er die Ausstellung Musik. Sie heilt die Wunden vor, die dem in der NS-Zeit verfemten Komponisten Günter Raphael gewidmet ist. Konstanze Gerling-Zedler (Thüringer Staatskanzlei, Erfurt) studierte Romanistik und Anglistik in Leipzig, Bilbao (Spanien) und Tübingen. Nach dem Magisterabschluss arbeitete sie freiberuflich als Sprachendozentin und für verschiedene Kulturprojekte, u. a. für die Deutsch-Italienische Gesellschaft in Thüringen. Seit dem Jahr 2000 ist sie als Redenschreiberin im Dienst des Freistaats Thüringen tätig. Frank Harders-Wuthenow (Berlin) studierte in Mainz und Hamburg Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik sowie an der Musikhochschule Hamburg Komposition/Theorie. Zwischen 1990 und 1996 Musikdramaturg am Theater Bielefeld. Seit 1997 Mitarbeiter des Musikverlags Boosey & Hawkes/Bote & Bock Berlin und Produzent des Berliner Labels eda records. Zahlreiche Rundfunk- und CD-Produktionen, Noteneditionen, Publikationen, Ausstellungen, Festival- und Konzertdramaturgien im Bereich „Verfemte Musik/Musik und Exil“, inzwischen mit einem Schwerpunkt auf der polnischen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff (Thüringer Staatskanzlei, Erfurt) wurde 1976 in Ost-Berlin geboren. Er studierte und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin, wurde 2010 Honorarprofessor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin sowie 2013 Fellow der School of Law, Politics and Sociology der University of Sussex. An der Universität Erfurt lehrt er Gesundheits- und Kulturpolitik. Von 1995–2006 gehörte er dem Abgeordnetenhaus von Berlin als Mitglied an und war nach einer Tätigkeit in der Linksfraktion im Deutschen Bundestag Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz im Senat von Berlin. Zwischen 2012 und 2014 leitete er als Rektor die staatlich anerkannte Business-School BEST-Sabel Berlin und war CEO des Beratungsunternehmens MehrWertConsult. Seit Dezember 2014 ist er Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Chef der Staatskanzlei des Freistaates Thüringen. Er publiziert regelmäßig zu politischen Themen und bloggt bei der Wochenzeitung „Freitag“. Dr. Irina Lucke-Kaminiarz (Weimar) ist promovierte Musikwissenschaftlerin. 1994 gründete sie und leitete bis 2011 das Thüringische Landesmusikarchiv an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im 19. und 20. Jahrhundert. Sie schlagen sich u. a. in Publikationen zum Allgemeinen Deutschen Musikverein, Hoffmann von Fallersleben, Richard Strauss und Hermann Abendroth nieder. Prof. Dr. Claudia Maurer Zenck (Hamburg) studierte von 1967 bis 1970 an der Musikhochschule in Freiburg i. Br. Klavier sowie Musikwissenschaft, Romanistik und Germanistik von 1967 bis 1971 an der Universität Freiburg und von 1971 bis 1974 an der Technischen Universität Berlin. Nach der Promotion dort (1974, Carl Dahlhaus) habilitierte sie sich im Jahre 2000 an der Universität Innsbruck. Von 1976 bis 1979 war Maurer Zenck wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Schwerpunkt Exilforschung. Von 1988 bis 2001 hatte sie die Lehrkanzel für historische und kritische Musiktheorie an der Hochschule (Universität) für Musik und darstellende Kunst in Graz inne. Anschließend folgte sie dem Ruf auf eine Professur für historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Zu den Forschungsschwerpunkten Maurer Zencks gehören die Musik des 18. (Mozarts Opern, Hamburger Stadttheater) und 20. Jahrhunderts, das Schaffen Ernst Kreneks, die musikwissenschaftliche Exilforschung sowie Musik im „Dritten Reich“. Christine Oeser M. A. (Osnabrück) studierte Musikwissenschaften und Humanities in Dresden und Osnabrück. Bereits in ihrer Bachelorarbeit befasste sie sich mit den funktionellen Aspekten des Musiklebens in Konzentrationslagern. Ein Liederbuch des polnischen Gefangenen Kazimierz Tymiński machte sie zum Gegenstand ihrer Masterarbeit. Im Anschluss begann sie ihre Promotion unter der Betreuung von Prof. Dr. Stefan Hanheide zum Thema „Liederbücher aus dem Konzentrationslager Buchenwald als Dokumente des selbstbestimmten kulturellen Lebens im Lager“. Dr. Matthias Pasdzierny (Berlin) studierte Schulmusik, Musikwissenschaft und Germanistik in Stuttgart, Berlin und Krakau. Seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste (UdK) Berlin, 2009–2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des

Autorinnen und Autoren

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DFG-Projekts „Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit“ an der UdK. 2013 Promotion an der UdK (Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945). Seit 2016 Arbeitsstellenleiter der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto (Weimar-Jena/São Paulo), Promotion 1990 an der Freien Universität Berlin in Musikwissenschaft und Kulturanthropologie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Institut für Traditionelle Musik, Berlin, von 1990–1996. Bis 2002 war Tiago de Oliveira Pinto in der Kulturabteilung des brasilianischen Außenministeriums u. a. als Direktor des Brasilianischen Kulturinstituts in Deutschland tätig. 2001–2006 hatte er eine Professur am Institut für Sozial-Anthropologie der Universidade de São Paulo (USP) inne, wo er weiterhin der Postgraduierten Kommission dieser Universität angehört. 2006–2008 lehrte der Musikwissenschaftler an der Universität Hamburg. Zahlreiche Feldforschungen in verschiedene Regionen der Welt sind in den Publikationen von Prof. Pinto dokumentiert. Seit den 1990er Jahren wirkt er auch als Kurator von Kulturund Kunstausstellungen und hat zahlreiche Musikproduktionen und Klanginstallationen konzipiert. Seit 2009 ist Prof. de Oliveira Pinto Inhaber des Lehrstuhls für Transcultural Music Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, seit 2016 Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Transkulturelle Musikforschung an der gleichen Institution und seit 2017 Direktor des Institutes für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Dr. Bernhard Post (Weimar) studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Dem schloss sich ein Promotionsstudium an. Nach dem Archivreferendariat im Landeshauptarchiv Koblenz und der Archivschule Marburg war er von 1987 bis 1993 als Referent am Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden tätig, bevor er als Leiter der Abteilung für neuere Bestände im September 1993 an das Thüringische Hauptstaatsarchiv nach Weimar wechselte. Von 2002 bis 2008 leitete er die Zentralabteilung des Weimarer Archivs. Ab 2008 war er Direktor des Hauptstaatsarchivs Weimar und ab 2016 bis 2018 Leiter des neugegründeten Landesarchivs Thüringen. Dr. Maria Stolarzewicz (Weimar-Jena) studierte an der Universität Warschau, der Humboldt Universität zu Berlin und Freien Universität Berlin Musikwissenschaft und Germanistik. Sie promovierte über das Operntheater Christoph Martin Wielands (Karol Sauerland, Helen Geyer). Zu ihren wissenschaftlichen Interessen gehören die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, polnisch-deutsche Kulturkontakte und die Geschichte des Holocaust. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft WeimarJena an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und arbeitet am Projekt „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II“.