Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen: Eine Spurensuche. Teil 2 [1 ed.] 9783412526054, 9783412526030


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Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen: Eine Spurensuche. Teil 2 [1 ed.]
 9783412526054, 9783412526030

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Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen Eine Spurensuche Teil 2

KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft

Maria Stolarzewicz (Hg.)

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 19 Herausgegeben von

Albrecht von Massow

Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen Eine Spurensuche Teil 2 Herausgegeben von Maria Stolarzewicz

Böhlau Verlag Wien Köln

Die Publikation entstand im Rahmen des Projekts Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II, das von der Thüringer Staatskanzlei und der Deutsche Bank Stiftung gefördert wurde.

Die Herausgeberin hat sich bemüht, alle Inhaber von Bild- und Nutzungsrechten zu ermitteln. Sollten dennoch Reichte-Inhaber nicht berücksichtigt worden sein, wird gebeten, dies der Herausgeberin mitzuteilen: [email protected], oder darüber das Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena zu informieren: Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Carl-Alexander-Platz 1, 99425 Weimar. Aktuelle elektronische Adressen der Institutsleitung und des Sekretariats sind unter www.hfm-weimar.de zu ermitteln. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Foto des Stolpersteins von Gustav Lewin in der Steubenstraße 19 in Weimar, Stolperstein entworfen und verlegt von Gunter Demnig; Gustav Lewin, Larghetto aus dem Quintett Mag der Himmel, HSA | ThLMA Weimar; Portrait der Sängerin Rose Pauly, Stadtarchiv Gera, Reußisches Theater Gera, Programmbuch 1920–21. Korrektorat: Andreas Eschen, Berlin Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52605-4

Für meine Eltern

Inhalt

Maria Stolarzewicz Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Tiago de Oliveira Pinto Zum Geleit. Musik: Verboten und Verfolgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Wolfgang Benz Vor der Katastrophe. Juden und Judenfeinde in der Weimarer Republik . . . . . . . . . 17 Albrecht Dümling Hans Severus Ziegler, Ernst Nobbe und Paul Sixt. Die Weimarer Wurzeln der Ausstellung Entartete Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Jens-Christian Wagner Erkenntnis statt Bekenntnis. Plädoyer für eine zukunftsfähige Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Jascha Nemtsov Für den unbekannten Verfolgten. Der Komponist Hans Heller (1898–1969) und sein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Carolin Schäfer Wohlbehütet im Schoß der Familie? Zu Leben, Wirken und Flucht der Sondershäuser Musikerin Alma Leser-Heinrich und der Familie Leser . . . . . . . . . . . 111 Bernhard Post Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen. Unternehmergeist, Kunst und Mäzenatentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Carsten Liesenberg Vom Klang des Schabbats in der Gemeinde der Laien. Vorbeter und Kantoren als Stützen der gesungenen Liturgie. Einblicke in Lebenswege aus Thüringen . . . . . . . . 195

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Inhalt

Maria Stolarzewicz Lebenswege jüdischer Religionsbeamter aus Erfurt und Eisenach und ihre Aktivitäten im Bereich der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Inna Klause Unter fremdem Himmel. Notenmanuskripte aus der Buchenwaldsammlung des Hochschularchivs | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIVS in Weimar . 233 Christine Oeser Künstlerische Netzwerke im Konzentrationslager Buchenwald . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Albrecht von Massow Deutsch-jüdische Kulturgemeinschaft – Vergangenheit ohne Zukunft? . . . . . . . . . . 281 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Dieser Link www.vandenhoeck-ruprecht-verlage/verfolgte-musiker-2 mit dem Passwort: X4d09khgeL ermöglicht den Zugang zu digitalem Zusatzmaterial des Bandes. Die Musikanlage besteht aus vergessenen Werken verfolgter Komponisten; das Verzeichnis und die Besprechung finden sich im Beitrag von Albrecht von Massow.

Maria Stolarzewicz

Vorwort

Der folgende Band sammelt Beiträge der wissenschaftlichen Tagung, die im Rahmen des Forschungsprojektes Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spuren­ suche II am 12. und 13. November 2020 online durchgeführt wurde. Das Forschungsprojekt entstand im Auftrag der Thüringer Staatskanzlei, startete im April 2018 und lief insgesamt drei Jahre in Weimar mit Dr. Maria Stolarzewicz als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin. Die Thüringer Staatskanzlei und die Deutsche Bank Stiftung haben das Projekt gefördert. Seit 2019 war es am Lehrstuhl für Geschichte der jüdischen Musik der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar angesiedelt. Im Rahmen der Projektaktivitäten entstanden zwei Wanderausstellungen, die an mehreren Orten präsentiert wurden.1 Darüber hinaus wurden zwei wissenschaftliche Tagungen durchgeführt und ein Tagungsband im Rahmen dieser Reihe 2020 veröffentlicht.2 Der Verlauf des Projektes unterteilt sich in zwei Phasen. In der ersten Projektphase (April 2018–Juni 2019) standen Schicksale von Berufsmusikerinnen und -musikern im Mittelpunkt. Vor 1933 haben sie sich als deutsche Komponisten, Sänger, Instrumentalisten, Musiklehrer, Musikwissenschaftler oder Tänzer verstanden und durch ihre Tätigkeit einen markanten Beitrag zur deutschen Kultur geleistet. Während des Nationalsozialismus wurden sie aufgrund ihrer Abstammung ausgegrenzt, verfolgt, zum Exil gezwungen oder ermordet. Die Forschungsergebnisse dieser Phase bilden einen Überblick über die künstlerischen Tätigkeiten und Schicksale mit Thüringen verbundener Musikerinnen und Musiker. Thüringen wird in diesem Zusammenhang als Gebiet in den Grenzen des heutigen Freistaates verstanden. Deswegen werden in den Untersuchungen auch Erfurt und Nordhausen berücksichtigt, welche vor 1945 der preußischen Provinz Sachsen angehörten. In der zweiten Projektphase (Juli 2019–September 2021) umfassten die Recherchen nicht nur Berufsmusiker, sondern auch zwei weitere Gruppen: jüdische Kultusbeamte und Mitglieder der Lagerkapelle des KZ Buchenwald. Da im Arbeitskommando „Musik“ die sogenannten politischen Häftlinge, Zeugen Jehovas sowie Sinti und Roma agierten, war 1 Die erste Ausstellung war zu sehen: im Stadtmuseum Weimar (01.02.–31.03.2019), im Stadtmuseum Eisenach (18. 09.–10.11.2019) und im Foyer des Landratamts Kyffhäuserkreis in Sondershausen (08.10.–02.12.2021). Die zweite Ausstellung wurde präsentiert: im Stadtmuseum Weimar (10.09.–31.10.2021), im Stadtmuseum Kahla (27.01.–15.05.2022) und in der Wissenschaftlichen Bibliothek der Stadt Trier (03.06.–15.08.2022). 2 Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, hrsg. v. Helen Geyer u. Maria Stolarzewicz (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 16), Köln u. a. 2020.

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es möglich, weitere Opfergruppen des Nationalsozialismus wissenschaftlich zu betrachten und Einblicke in die Musikausübung im KZ Buchenwald zu gewähren. Die Recherchen zu musikalischen Aktivitäten jüdischer Kultusbeamten und ihrer Gemeinden brachten einen kleinen Beitrag zum Themenjahr Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen. Die Konzeption der im November 2020 durchgeführten Tagung richtete sich nach dem gleichen Prinzip. Es ging dabei aber nicht nur um rein biographische Darstellungen, sondern auch um das Einbetten einzelner Menschenschicksale, ausgewählter Menschengruppen oder bestimmter Kulturphänomene in einen historischen Kontext, der über lokalgeschichtliche Fragen hinausgeht, und um die Reflexion über die historische Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Dieser Band beginnt mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto, das die gesammelten Erkenntnisse in den Kontext des aktuellen Weltgeschehens stellt. Die seit Sommer 2021 veränderte Situation in Afghanistan, der seit Februar 2022 in der Ukraine tobende Krieg bedrohen das musikalische Erbe dieser Regionen und ihre Musikausübende. Dadurch bekommt die durch den Nationalsozialismus bestimmte Musikgeschichte eine unmittelbare Aktualität. Die ersten beiden Aufsätze befassen sich mit politischen und kulturpolitischen Er­­schei­ nungen jener Zeit. Prof. Dr. Wolfgang Benz analysiert Wachstum und Verbreitung des Antisemitismus in der Weimarer Republik, wodurch ein ideologischer und historischer Hintergrund für die Schicksale Thüringer Musiker geleistet wird. Die nationalsozialistische Kulturpolitik und der Weimarer Hintergrund der Ausstellung Entartete Musik wird im Beitrag von Dr. Albrecht Dümling erörtert. Eine historische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die Fragen der deutschen Erinnerungskultur, der historischen Aufarbeitung und der pädagogischen Vermittlung historischer Zusammenhänge thematisiert der Beitrag von Prof. Dr. JensChristian Wagner. Neueste Erkenntnisse über verfolgte Musiker und ihre Familien kommen in weiteren Aufsätzen des Bandes zum Vorschein. Prof. Dr. Jascha Nemtsov befasst sich mit dem aus Greiz stammenden und bis heute kaum bekannten Komponisten Hans Heller. Nemtsovs Ausführungen zeigen, wie erfolgreich die nationalsozialistische Ausgrenzung der im „Dritten Reich“ nicht erwünschten Künstler bis heute wirkt und dass die Musikgeschichte an vielen Stellen ergänzt werden sollte. Dr. Carolin Schäfer präsentiert in ihren Ausführungen die Lebensumstände der aus Sondershausen stammenden Musikerin Alma Leser-Heinrich. Zahlreiche Rezensionen ihrer Auftritte während des Studiums am Sondershäuser Konservatorium beschreiben Leser als eine talentierte und vielversprechende Sängerin und Pianistin. Über ihre weitere Karriere in Deutschland ist nichts weiter bekannt. In ihrem Exil in Neuseeland hat sie sich aber als Musiklehrerin betätigt. Dr. Bernhard Post befasst sich schon seit Jahren mit der großherzoglichen Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt und ihrem Mann, dem in Weimar wirkenden Maler Fritz Fleischer. Posts Beitrag leistet die erste wissenschaftliche Auswertung des im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrten Nachlasses der Familie Fleischer, deren Mitglieder herausragende Beiträge zur deutschen Wissenschaft und Kultur geleistet haben.

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Vorwort

Posts Darstellung bildet zugleich einen wichtigen Kontext für das tragische Schicksal von Jenny Fleischer-Alt und anderen rassisch oder politisch verfolgten Künstlern. Den jüdischen Kultusbeamten in Thüringen werden zwei Beiträge gewidmet. Dr. Carsten Liesenberg beschreibt in seinem Aufsatz Bedingungen und Umstände, unter welchen jüdische liturgische Musik in Thüringen ausgeübt wurde. Darüber hinaus sammelt er neu gewonnene biographische Informationen über die Thüringer Kantoren. Dr. Maria Stola­ r­zewicz befasst sich am Beispiel des letzten Erfurter Kantors und des letzten Eisenacher Rabbiners mit Schicksalen Thüringer Kultusbeamten und ihrem Einfluss auf das musikalische Leben ihrer Gemeinden. Viele neue Aspekte der Musik- und Kulturausübung im Konzentrationslager Buchenwald bringen zwei weitere Beiträge. Dr. Inna Klause untersucht in ihrem Aufsatz die Musikalien der Buchenwaldsammlung, welche im Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIV in Weimar aufbewahrt wird. Sie betrachtet auch kritisch die politisch bestimmte DDR-Geschichtsschreibung in Bezug auf die Musikausübung im KZ Buchenwald. Christine Oeser befasst sich in ihrem Beitrag mit handschriftlich geführten Liedsammlungen aus dem KZ Buchenwald, die zahlreiche und immer noch kaum bekannte Informationen zum selbstbestimmten musikalischen Leben im Lager beinhalten. Aufgrund der Analyse dieser Sammlungen lassen sich etwa die Namen der Häftlinge herausfinden, die im Lager künstlerisch aktiv waren. Oeser verwendet die Netzwerktheorie, um den Beitrag dieser Häftlinge für das kulturelle Leben im Lager zu erfassen. Für die Beschäftigung mit der Kulturausübung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern bildet das einen ganz neuen Ansatz. Einen abschließenden Charakter hat der Aufsatz von Prof. Dr. Albrecht von Massow, der über vergangene und zukünftige Erforschung der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte Thüringens reflektiert. Sein Beitrag bildet auch einen einführenden Kommentar zu den Tonanlagen, die diesem Band beigelegt werden. *** Im Rahmen des ganzen Projektes Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche wurden insgesamt über 120 Biographien untersucht. Unter ihnen befinden sich 80 jüdische Berufsmusiker, 42 Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald und sechs jüdische Religionsbeamte. Als besonders schwierige Aufgabe hat sich erwiesen, Schickale der Thüringer Kantoren und Rabbiner eingehend zu untersuchen. Diese Situation ergab sich erstens aus der schlechten Quellenlage, die durch die Reichspogromnacht 1938 verursacht wurde. Zweitens wurden durch die Corona-Pandemie Recherchen in Archiven vor Ort nicht möglich, was für diesen Themenbereich unentbehrlich ist. Findbücher vieler Archive sind nicht online zugänglich, darüber hinaus wurden viele Quellen noch nicht digitalisiert. Die in diesem Band gesammelten Beiträge beweisen, dass Untersuchungen zum Thema Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen noch nicht abgeschlossen und weiter möglich sind. Detaillierte Recherchen zu Biographien einzelner Persönlichkeiten des Thüringer Musiklebens, Analysen und Aufführungen von vergessenen Werken Thüringer

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Maria Stolarzewicz

Komponisten sowie eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Musikausübung und kulturellen Aktivitäten im Konzentrationslager Buchenwald bilden Desiderate der Forschung. *** An dieser Stelle gilt ein großer Dank Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, dem Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Thüringer Staatskanzlei, Beauftragtem der Landesregierung für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus, für die Idee des Projektes und die Findung der finanziellen Mittel für dessen erste und zweite Phase. Dr. Kristina Hasenpflug, der Geschäftsführerin, Frau Jennifer Endro, der Projektmanagerin, von der Deutsche Bank Stiftung und der Deutsche Bank Stiftung danke ich ganz herzlich für die großzügige Förderung des Projektes in dessen zweiter Phase sowie eine angenehme Kommunikation und unbürokratische Zusammenarbeit. Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto, dem Leiter des Institutes für Musikwissenschaft Weimar-Jena, und Prof. Dr. Jascha Nemtsov, dem Leiter des Lehrstuhls für Geschichte der jüdischen Musik, danke ich herzlich für ihre vielseitige Unterstützung bei der Durchführung des Projektes. Georg Bartnick danke ich für seine Hilfe bei den Textkorrekturen. Weimar, im Mai 2022

Maria Stolarzewicz

Tiago de Oliveira Pinto

Zum Geleit Musik: Verboten und Verfolgt

Musik gehört zum lebendigen kulturellen Erbe der Menschheit. Wo Kultur lebendig gehalten und wo Musik gesellschaftlich relevant wird, sind Musizierende am Werk. Daher sind beim Verbot von Musik immer direkt Menschen betroffen. Dies war nicht nur im Laufe der Geschichte und in den verschiedensten Regionen der Welt so; Musikverbote sind noch heute von erschreckender Aktualität. „Musik in Buchenwald“ als Brennglas für die Betrachtung nationalsozialistischer Kulturpolitik ist folglich nicht nur Aufarbeitung von Geschichte, sondern zugleich Mahnmal für Vergangenes, das jederzeit in der Gegenwart und auch künftig wieder hervorbrechen kann. Verboten und verfolgt zu sein ist als Wechselspiel von politischer Willkür und von ideologisch begründeten und rassistisch motivierten Anordnungen gegen Musik zu deuten, die nicht nur sie, die Musik, sondern vor allem Musizierende nachhaltig beeinträchtigen. Die Suggestivkraft von Musik war der usurpierenden Macht immer Grund genug, ihr zu misstrauen, was in Verbote mündete. Denn Musik kann rasch Widerstand gegen die etablierte Macht freisetzen und aufbauen, kann selbst Revolutionen befeuern. Zumindest gelingt es ihr, herrschende Machtverhältnisse unmittelbar und ernsthaft in Frage zu stellen. Ihrer Immaterialität wegen ist Musik besonders schwer zu bekämpfen. Wirklich „besiegt“ werden kann Musik nicht, weil sie es gemäß ihrer Natur vermag, leiser zu werden, ohne aber ganz zu verstummen. Tut sie dies dennoch, ist sie tot; es gibt sie dann nicht mehr. Ihren Widersachern kann diese vollkommene Stummschaltung nur gelingen, wenn Musizierende ganz vertrieben oder wenn sie ihrer Freiheit, oft auch ihres Lebens beraubt werden. Der Grund für Verbot und Verfolgung von Musik hat meist zweierlei Beweggründe: Betroffen sind Menschen, die ohnehin aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Lebenseinstellung und ihrer Kultur unerwünscht sind und mit ihrer Musik gleichgesetzt werden, ungeachtet ihres Inhaltes. Andererseits ist es genau dieser Inhalt, sowohl Text als auch spezifisch musikalische Strukturen, der als Träger intrinsischer Botschaften gefürchtet und derentwegen Musikschaffende und auch die Rezipierenden inkriminiert werden. Buchenwald war so ein Ort, wo sämtliche Kategorien verbotener Musik mit ihren Erzeugern in Haft genommen wurden. In diesem Ambiente und zu einzelnen Anlässen – bei auswärtigem Besuch im Lager, zur Repräsentation, bei Ankunft neuer Häftlinge etc. – wurde Musik von oben angeordnet, wurde ihr Erklingen den Häftlingen geradezu abgenötigt. Musizierende so zu instrumentalisieren, gehört sicherlich zum Perversesten, was sich Menschen haben einfallen lassen, um die eigene Grausamkeit zu konterkarieren. Auf der anderen Seite ist auf diesem engsten Raum zugleich das schier Unmögliche, was der menschliche Geist je zuwege gebracht hat, in Buchenwald entsprungen: Es entstand Musik, festgehalten als Kompo-

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Tiago de Oliveira Pinto

sition auf Restpapier, gespielt und gesungen in kleinen Gruppen und in Ensembles, ausgeführt von Profis, vor allem aber von Amateuren und Laien, Menschen, die wohl nicht damit gerechnet hatten, je in diese Lage zu kommen. Musik zu machen war hierbei das am wenigsten Unvorhergesehene. Es erklangen gespielte und gesungene Hoffnungsmomente, meist wohl lose Augenblicke des Vergessens und der Unterbrechung des Lageralltags. Diese besonders gestaltete Zeitspanne muss sich Musik ohnehin nehmen. Deren Zu- und Einordnung jedoch hängt immer von ihrem Kontext und vom jeweiligen Moment ihres Erklingens ab. Als ein Phänomen in der Zeit ist Musik somit immer erzählend zugange, ruft Assoziationen hervor, die nach ihrem endgültigen Verklingen in lautloser Erinnerung münden und die verflossene Zeitspanne so im Bewusstsein behalten. Als klangliche Projektion in die Zukunft verhalf Musik womöglich zu einem kleinen Hoffnungsschimmer, an den sich der Geist klammern konnte. Das macht die Fähigkeit von Musik aus, Menschen, die ihr lauschen und sie verinnerlichen, eine entrückende und doch essenzielle Seligkeit zu bescheren. Auch wenn dies vereinzelt in Buchenwald der Fall gewesen sein mag, Musik kann niemals als Überbrückung oder gar als eine Form von Wiedergutmachung verstanden werden. In dieser Hinsicht ist sie autonom, ist nur denjenigen dienlich, die sie selbstständig als Hilfe und auch als Trost begreifen wollen. Von außen kann sie dazu nicht abgeordnet werden. Doch genau solch autoritärer Umgang mit Musik ist in Buchenwald und auch in anderen Konzentrationslagern unter der Naziherrschaft geschehen. Buchenwald lehrt, dass es womöglich nur Musik vermag, Geist und Barbarei in so unmittelbare Nähe zu bringen. Indem sie geistig agiert, kann sich in einem feindseligen Umfeld zugleich die Reaktion darauf regen, wenn sich Musik für ihr Gegenteil missbrauchen lässt. Indem sie Menschen erhebt, können sich unweit davon auch Abgründe auftun. Buchenwald war so ein Ort der Extreme durch Musik. Die Dokumente, die davon erhalten sind, zeugen zugleich von der Unbeugsamkeit kreativer und geistiger Schaffenskraft. Diese Quellen wissenschaftlich aufzuarbeiten, trägt dazu bei, dass nach den verflossenen Jahrzehnten endlich ein erschütterndes Kapitel Musikgeschichte umfassend zugänglich gemacht werden kann. Bei der Aufarbeitung der Musik in Buchenwald und in anderen Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft darf nicht übersehen werden, dass es sich hier nicht um Einzelstationen von Verbot und musikalischem Überleben handelt, sondern dass ähnlich unerbittlich auch mit Musikschaffenden anderer Länder umgegangen wurde. In den Diktaturen in Lateinamerika, insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren, waren es vor allem auch Musizierende, Liedermacher, Komponisten und Interpreten, deren Tun verboten wurde. Auch hier ging es um Menschen, die aufgrund ihrer Musik Verfolgung und Gefangenschaft ertragen mussten. Einige davon haben Kerker und Folter nicht überlebt, in erster Linie in Chile. Ganz aktuell ist auch das absolute Verbot von Musik in Afghanistan unter den Taliban. Hier wird bittere Realität, was wir bei der Erforschung von Musik in Buchenwald in zeitlicher Entfernung wähnten. Verbot und Boykott von Musik macht sich auch völlig unerwartet im Jahr 2022 breit, wenn Werke russischer Komponisten des 19. und des 20. Jahrhunderts aus laufenden Musikprogrammen gestrichen werden. Selbst bestimmte Interpretinnen und Interpreten klassischer Musik werden aus den Konzerthäusern ver-

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bannt, nur weil sie eine unerwünschte Staatsbürgerschaft besitzen, die russische. Erneut ist es Musik, die mit Zuschreibungen aufgeladen wird, die ihr wenig zuvor noch fremd waren. Diesmal ist es der Krieg in der Ukraine, der die Symbolik von Kunst, die gute wie die weniger anspruchsvolle, heraufbeschwört: „Musik wird wieder verstärkt als politischer Faktor wahrgenommen.“1 Die Aktualität des Forschungsprojekts, des Symposiums und der Ausstellung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II hat uns alle, ja die ganze Welt, völlig überraschend eingeholt. Was zunächst nur mit einem gezielten Blick in die Vergangenheit begann, wurde in kürzester Zeit in die Gegenwart projiziert. Musik in Buchenwald ist also vor allem ein Fall in der Musikgeschichte, der sowohl entwürdigende Brutalität als auch übermenschliche Leistung zugleich versinnbildlicht. Daraus zu lernen ist selbst im 21. Jahrhundert noch lange keine Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger, dass, wie im vorliegenden Band, intensiv daran weiter gearbeitet wird. Denn nur die Forschung kann zur Vision beitragen, dass wenn Musik tatsächlich als ein Gradmesser für das kulturelle Erbe der Menschheit verstanden werden soll, wahre Zivilisation sich erst dann einstellt, wenn Musik ungehindert in ihrer ganzen Vielfalt erklingt, frei von Verbot und Verfolgung.

1 Albrecht Dümling, „Wie gefährlich ist russische Musik?“, NMZ, Jg. 71, 2022, H. 4.

Wolfgang Benz

Vor der Katastrophe Juden und Judenfeinde in der Weimarer Republik

1. Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Zur Weimarer Republik gehört in der kollektiven Erinnerung außer der Assoziation wirtschaftlichen und sozialen Elends, bürgerkriegsartiger politischer Radikalisierung, drückender Reparationslasten und nationaler Demütigung auch die im Bild der „goldenen zwanziger Jahre“ subsumierte kulturelle Blüte: der Aufbruch in die Moderne mit dem Bauhaus, einer Revolution in der Musik, expressionistischer und abstrakter Malerei, avantgardistischer Tanzkunst und einer Theaterszene, die mit den Namen von Max Reinhardt, Victor Barnowsky, den Brüdern Rotter ebenfalls längst Legende geworden ist. Viele deutsche Juden verbanden die neue Zeit der Republik und Demokratie mit der Hoffnung auf gleichberechtigte Entfaltung in einer – so die Illusion – endlich offenen Gesellschaft.1 In der Wissenschaft und im öffentlichen Leben, in der Kultur und den Künsten schien sich die Hoffnung tatsächlich zu erfüllen. Dafür stehen exemplarisch die Namen des Nobelpreisträgers Albert Einstein oder des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud. Berühmt waren die jüdischen Komponisten Kurt Weill, Paul Dessau, Hanns Eisler oder Arnold Schönberg, die Dirigenten Leo Blech, Otto Klemperer, Bruno Walter, die Virtuosen Carl Flesch, Fritz Kreisler, Siegfried Ochs, die Sängerinnen und Sänger Gitta Alpar, Ottilie Metzger-­Lattermann, Rose Walter, Richard Tauber, Hans Erb. Als Publizisten und Schriftsteller wirkten die Juden Theodor Wolff, Maximilian Harden, Kurt Tucholsky, Georg Bernhard, Egon Erwin Kisch und viele mehr. Das waren Prominente, die am Ende der Weimarer Republik ins Exil gingen. Unzählige andere, die weniger berühmt oder gar nicht bekannt waren, die deshalb außerhalb ihres kleinen Wirkungskreises auch nicht als Flüchtende willkommen waren, gingen in den Ghettos, Vernichtungslagern oder Erschießungsgruben des Holocaust zugrunde oder fristeten, wenn sie noch rechtzeitig entkommen konnten, als Flüchtlinge ein kärgliches Dasein. Die Republik von Weimar war trotzdem eine letzte Blütezeit des deutschen Judentums und gleichzeitig waren die Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 und dem Zusammenbruch des ersten deutschen Demokratieversuchs 1933 die Zeit eines Niedergangs, der in die jüdische Katastrophe mündete.

1 Vgl.: Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. Jews in the Weimarer Republic, hrsg. v. Wolfgang Benz, Arnold Paucker, Peter Pulzer (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Insti­ tuts 57), Tübingen 1998.

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Wolfgang Benz

Wenn von Juden in der Weimarer Republik die Rede ist, bedeutet das nicht, dass alle, die als Juden aufgrund ihrer Herkunft wahrgenommen werden, sich selbst als Juden – im Sinne der Religiosität oder der Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde – verstanden. Kurt Tucholsky ist ein prominentes Beispiel: Judenfeinde sahen ihn als exponierten jüdischen Autoren, er selbst stand dem Judentum kritisch gegenüber.2 Der Rassenwahn, der 1933 Staatsdoktrin werden sollte, scherte sich ja nicht um die Taufe oder um das säkulare bis agnostische Selbstverständnis derjenigen, die er verfolgte. Die im Kaiserreich spät errungene Emanzipation der Juden, d. h. ihre rechtliche Gleichstellung als deutsche Staatsbürger, schien sich mit der Errichtung des demokratischen Systems in der Republik ab 1919 zu vollenden. Tatsächlich wurde sie vom Antisemitismus, den Rechtsextreme und Bürgerliche gemeinsam artikulierten, paralysiert. Der zur Macht gekommene Führer der NSDAP vollendete ab dem Frühjahr 1933, was in den 14 Jahren der Weimarer Republik vorbereitet wurde. Für das Scheitern der jüdischen Emanzipation am deutschen Antisemitismus steht als Person und symbolische Figur Bernhard Weiß, der von März 1927 bis Juli 1932 stellvertretender Polizeipräsident in Berlin war. Er verkörperte den Prototyp des exponierten Beamten jüdischer Herkunft, der zur Zielscheibe antiemanzipatorischer Demagogie wurde, dem die Loyalität zu Staat und Kultur abgesprochen wurde und dessen Bekenntnis zu Verfassung und Rechtstaatlichkeit nur Hohn, Hass und Verachtung seiner nationalsozialistischen Feinde hervorrief. Er ist von Goebbels als „Isidor“ verunglimpft worden, als Demokrat und deutscher Patriot die Inkarnation des mutigen preußischen Juden gewesen, der mit zu geringer Unterstützung die Republik gegen ihre Feinde zu verteidigen suchte.3 Eine andere jüdische politische Biographie, die des Parlamentariers Oskar Cohn, der vor dem Ersten Weltkrieg Stadtverordneter in Berlin und 1918 für die USPD Unterstaatssekretär im Reichsjustizamt war, der im Reichstag und im preußischen Landtag saß, zeigt ein ähnliches Profil, dazu gehörten auch die Schwierigkeiten, die ein jüdischer Sozialdemokrat nicht nur mit politischen Gegnern, sondern auch in der eigenen Partei haben konnte. Dass sich Cohn zum Zionismus bekannte, unterschied ihn auch von der Mehrheit der assimilierten deutschen Juden. Gegenüber dem assimilierten Judentum bildeten im jüdischen Deutschland der Weimarer Republik die Zionisten nur eine kleine Minderheit. In den jiddischen Periodica, die vor 1933 in Deutschland erschienen sind,4 haben sich vor allem Zionisten artikuliert. Ihr Publikum bildeten in erster Linie diejenigen Juden, die in der Bevölkerungsstatistik des Deutschen Reiches als „nicht im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit“ ausgewiesen waren. Ostjuden also, Zuwanderer aus Galizien und anderen Gegenden Ostmitteleuropas, wie sie in den 1920er Jahren im heute zunehmend verklärten Berliner Scheunenviertel lebten. Sie machten bis zu 20 Prozent der in Deutschland lebenden Juden aus und fühlten 2 Vgl.: Tucholsky und das Judentum, hrsg. v. Michael Hepp, Oldenburg 1996. 3 Vgl.: Joachim Rott, Bernhard Weiß 1880 Berlin  – 1951 London. Polizeivizepräsident in Berlin  – Preußischer Jude – kämpferischer Demokrat, Berlin 2008. 4 Vgl.: Marion Neiss, Presse im Transit. Jiddische Zeitungen und Zeitschriften in Berlin von 1919 bis 1925, Berlin 2002.

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sich mehrheitlich nicht als Einwanderer, sondern als Transitreisende im Wartesaal für die USA oder mit dem Ziel Palästina. Nach der Volkszählung vom 16. Juni 1933 lebten in Deutschland 499.682 Juden. Über die Zahl der Menschen jüdischer Herkunft, die sich nicht oder nicht mehr zur jüdischen Religion bekannten und über die Zahl der sogenannten Mischlinge – ein Terminus, der 1935 existenzielle Bedeutung erhielt – gibt keine Statistik Auskunft. Diese Personengruppen wurden in die nationalsozialistische Verfolgung einbezogen (ob sich die ihr Zugehörigen als Juden fühlten oder nicht, spielte ja keine Rolle für die Verfolger) und sie galten in der Wahrnehmung der Mehrheit als jüdisch. Die Volkszählung von 1925 hatte noch 564.379 Einwohner jüdischen Glaubens im Deutschen Reich ergeben. Das waren deutlich mehr als 1933. Der Schwund in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik betrug 11,5 Prozent. Ein Teil dieses Bevölkerungsverlustes war durch die Fluchtwelle im ersten Halbjahr 1933 verursacht. Aber es gab auch einen längerfristigen demographischen Trend, der innerhalb der Judenheit diskutiert und beklagt worden ist. So lesen wir in der Zeitschrift für Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik im Mai 1931: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung Deutschlands muß nachdenklich stimmen. Ein erheblicher, seit Jahren kontinuierlich zunehmender Sterbeüberschuß als Folge andauernden Geburtenrückgangs, ständige Vermehrung der Spätehen, allmähliches Aussterben kleiner und mittlerer jüdischer Gemeinden infolge der Abwanderung der jungen Generation in die großen Städte: das sind Erscheinungen, welche schließlich den Bestand der deutschen Judenheit gefährden müssen.5

Die Bevölkerungsstatistik zeigt auch eine Konzentrationsbewegung der Juden von Süden nach Norden, insbesondere die Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Preußen. Die großen Städten Berlin, Frankfurt am Main und Breslau hatten in dieser Reihenfolge den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil. Berlin zählte 1925 172.700 jüdische Einwohner (das war gegenüber 1910 eine Steigerung von fast 20 Prozent), in Frankfurt lebten 1925 29.385 Juden gegenüber 26.228 im Jahre 1910 und in Breslau betrug die Zahl im Jahre 1925 23.240, 1910 waren es 20.210 gewesen.6 Diese und einige weitere Daten deuten den äußeren Rahmen jüdischer Existenz in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik an. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die jüdische Bevölkerung Mitte der 1920er Jahre um 5,5 Prozent oder fast 30.000 Menschen größer war als vor dem Ersten Weltkrieg. Das kann man als Zeichen dafür deuten, welche Hoffnungen Juden auf Deutschland gesetzt hatten.

5 Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, 2, 1931, S. 183. 6 Vgl.: Heinrich Silbergleit, Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, Bd. 1, Berlin 1930.

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2. Die Traumatisierung der konservativen Eliten nach dem Ersten Weltkrieg Das als Katastrophe empfundene Ende des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch der alten Ordnung des Wilhelminismus, das Ende der Monarchien in Deutschland verstörten nicht nur die alten Eliten. Auch die bisherige Opposition – Linksliberalismus, Katho­ lisches Zentrum und Sozialdemokratie – waren angesichts der revolutionären Ereignisse vom November 1918, die Anfang 1919 mancherorts in Bürgerkrieg übergingen, ratlos. Die Situation bot den Nährboden für eine neuartige Judenfeindschaft, deren Saat, im Kaiserreich von Fanatikern ausgebracht, jetzt aufging. Antisemitismus hieß das Zauberwort, das 1879 geprägt worden war, das „wissenschaftlich“ erklären sollte, warum „die Juden“ Feinde seien. Antisemitismus sollte beweisen, dass Juden aufgrund ihrer „Rasse“ kein Platz in der deutschen Gesellschaft gebühre. Antisemitismus als Rassendoktrin war gefährlicher als der seit Jahrhunderten praktizierte Antijudaismus, der sich auf die Religion der Minderheit bezog. Der „Makel“ des Judeseins ließ sich (wenigstens theoretisch, denn die Vorbehalte verschwanden dadurch nicht) durch die Taufe überwinden. Davon hatten manche Gebrauch gemacht, sie hatten das Judentum verlassen und damit die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Aufstieg geschaffen. Die volle Anerkennung als gleichwertige und gleichberechtigte Bürger blieb ihnen trotzdem versagt, obwohl sie ihren deutschen Patriotismus als Freiwillige im Weltkrieg unter Beweis stellten und sich auch sonst als loyale Staatsbürger von keinem „Arier“ übertreffen ließen. Der ausgrenzende Kampfbegriff „Arier“ wurde gegen die Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von der völkischen Bewegung benutzt. Chauvinismus und Deutschtümelei kulminierten im Kaiserreich im Drang, Deutschland als Weltmacht zu sehen. Diese Illusion zerstörte der Weltkrieg. Im nationalen und emotionalen Unglück wurden Schuldige gesucht. Man fand sie in den Juden. Die Rechten, die sich parteipolitisch gegen Republik und Demokratie neu orientierten, fanden im Judenhass das einigende Band und die scheinbar alles erklärende Formel für den verlorenen Krieg, die Revolution, das Friedensdiktat der Alliierten, die Arbeitslosigkeit, die Inflation und jede weitere politische oder soziale Unannehmlichkeit. Judenfeindschaft charakterisierte die öffentliche Stimmung und bildete den Hintergrund des politischen Lebens in der Weimarer Republik. Medial und publizistisch, in Parlamenten und auf der Straße konnte jeder und jede seiner oder ihrer Abneigung gegen Juden Luft machen und dafür mit Beifall oder wenigstens Zustimmung belohnt werden. Die „landfremden Juden“ (später war von der „Jüdischen Internationalen“ oder dem „Weltjudentum“ die Rede) wurden in ursächliche Verbindung mit dem seit 1917 Furcht erregenden Bolschewismus gebracht. Die Legende, Juden seien die Erfinder der kommunistischen Ideologie und hätten diese in der russischen Revolution gewaltsam durchgesetzt, verbreitete sich rasch.7 7 Das Konstrukt erfährt immer wieder neue Nahrung, z. B. Sonja Margolina, Das Ende der Lügen. Ruß­­land und die Juden im 20. Jahrhundert, Berlin 1992; Johannes Rogalla von Bieberstein, Jüdischer Bolschewismus: Mythos und Realität, Dresden 2002, dagegen: Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen

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Judenfeindschaft war zentraler Gegenstand der Propaganda rechtsradikaler Organisationen, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Boden schossen und ebenso unermüdlich wie wirkungsvoll „die Juden“ zu Schuldigen an allem politischen und wirtschaftlichen Ungemach erklärten.8 Der chauvinistische „Alldeutsche Verband“ der Vorkriegszeit setzte seine antisemitische Agitation erfolgreich im „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ fort. Er war die erste rechtsradikale Massenorganisation der Weimarer Republik mit 530 Ortsgruppen in 19 Gauen. Am Ende des Gründungsjahres 1919 hatte der Bund 30.000 Mitglieder, ein Jahr später waren es 110.000 und im Juli 1922, als er verboten wurde, 180.000. Dazu kamen unzählige Sympathisanten. Die Deutschnationale Volkspartei war nicht nur konservativ und reaktionär, sondern auch aggressiv judenfeindlich. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund ebnete der NSDAP Adolf Hitlers die Wege und die Deutschnationale Volkspartei half ihm 1933 an die Macht. Einigkeit stiftete nicht zuletzt der Antisemitismus, der die großbürgerlichen Konservativen Hugenbergs und die proletarischen Nationalsozialisten Hitlers verband.

3. Keimzelle Bayern In Bayern, wo auf die Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Februar 1919 die kurzlebige Räteherrschaft folgte, war das Bürgertum besonders aufnahmebereit für schlichte Welterklärungen, die plausibel machten, wer die unerfreulichen neuen Zustände angeblich zu verantworten hatte. Die Furcht vor Bolschewisten und Juden dauerte über die blutige Niederschlagung der Räterepublik hinaus.9 Und, genauso schlimm: Bayern wurde zum Refugium von Reaktionären, Rechtsradikalen und Demagogen. Adolf Hitler war der Gefährlichste als Anführer einer Bewegung gegen Liberalismus, Demokratie und Sozialismus. Der in Bayern hochangesehene liberale Politiker und Autor Müller-Meiningen drückte aus, was allgemeine Überzeugung war: „Die starke Beteiligung des Judentums an der Revolution läßt sich nicht leugnen; sie ist auch nach der historischen Entwicklung und der literarischen und rhetorischen Gewandtheit des Judentums ganz natürlich. Ebenso selbstverständlich, daß sie einen außerordentlich starken antisemitischen Zug ins deutsche Volk brachte. Fast sämtliche Münchner ‚Größen‘ waren Juden“. Den Namen der Münchner jüdischen Revolutionäre fügte Müller-Meiningen jüdische Protagonisten in Russland, Ungarn

Revolution, Berlin 2009; Daniel Gerson, „Der Jude als Bolschewist. Die Wiederbelebung eines Stereotyps“, in: Antisemitismus in Deutschland, hrsg. v. Wolfgang Benz, München 1995, S. 157–180; Wolfgang Benz, „Die Oktoberrevolution als Projektionsfläche von Verschwörungstheorien“, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2017, S. 169–184. 8 Vgl.: Wolfram Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Anti­ semitismus der Nationalsozialisten 1919–1945, Berlin 2003. 9 Vgl.: Michael Brenner, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019.

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und Berlin hinzu, damit das Klischee Jude = Bolschewist bedienend, mit der Bekräftigung, sie seien „durchweg die Führer des äußersten Radikalismus“.10 Müller-Meiningen unterschied deutlich zwischen einheimischen, d. h. guten, und fremden, d. h. bösen Juden. Was nach aufgeklärtem bürgerlichem Liberalismus klang, transportierte doch die üblichen Ressentiments der Ausgrenzung und blieb dem Irrtum verhaftet, die Juden seien selbst schuld am Antisemitismus. Ein damals noch unbekannter Soldat kam im November 1918 nach München, war aber von den revolutionären Zuständen so angewidert, dass er nach Traunstein floh und erst im März 1919 wieder zurückkehrte. Er vertrat mit Überzeugung den zeitüblichen Antisemitismus. Er, es war Adolf Hitler, glaubte, das Ziel der Revolution sofort erkannt zu haben. In Mein Kampf lesen wir: Die Lage war unhaltbar und drängte zwangsläufig zu einer weiteren Fortsetzung der Revolution. Der Tod Eisners beschleunigte nur die Entwicklung und führte endlich zur Rätediktatur, besser ausgedrückt: zu einer vorübergehenden Judenherrschaft, wie sie ursprünglich den Urhebern der ganzen Revolution als Ziel vor Augen schwebte.11

Hitlers Mentor, der völkische Publizist Dietrich Eckart, veröffentlichte in seiner Zeitschrift Auf gut deutsch 1920 ein Traktat mit dem Titel „Das ist der Jude!“. Er argumentierte mit antijudaistischen Stereotypen wie dem Gottesmordvorwurf und mit Talmudhetze, um jüdischen Charakter und jüdisches Wesen zu brandmarken. Obwohl Eckart den Gegensatz von Juden und „Ariern“ betonte, begründete er die Ablehnung der Juden nicht rassistisch, sondern subtiler auf kultureller und religiöser Ebene. Die Topoi vom auserwählten Volk, vom Rachegott, vom missverstandenen Gebot „Auge um Auge“ wurden zum Beweis der Gefährlichkeit und des Dominanzstrebens der Juden angeführt und mit Zitaten aus der Literatur „bewiesen“. Die im wesentlichen kulturrassistische Denunziation des jüdischen Volkes als minderwertig, falsch, verlogen folgte der Absicht, die „dämonische Wesensart der Juden“ als Wirkung ihrer Religion zu beweisen. Auch diese Schrift entstand unter dem Eindruck des verlorenen Ersten Weltkriegs und der traumatisierenden Erfahrung der Revolution und der Münchner Räterepublik, die den Zeitgenossen als jüdische Machenschaften galten.12

10 Ernst Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin 1924, S. 206. 11 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1925, zit. 248–251, Aufl. München 1937, S. 226. 12 Vgl.: Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimen­sio­ nen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998.

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4. Judenhass als gesellschaftliche Norm: Antisemitismus in den Medien Vorreiter der Hetze gegen Juden als Fremde, gegen die Revolution und die Zeitläufte war nach dem Ersten Weltkrieg ein oberbayerisches Provinzblatt. Der Miesbacher Anzeiger bediente das unter bayerischen Kleinbürgern und Bürgern weitverbreitete Trauma der Novemberrevolution 1918 und der Wirren der Münchner Räterepublik 1919 durch die Beschwörung bajuwarischer Eigenart unter Verurteilung fremder Einflüsse – dafür standen Kommunismus und Sozialismus, das Judentum und preußische Dominanz. Agiert wurde das Unbehagen durch Schuldzuweisungen an die Berliner Reichsregierung wegen ihrer republikanischen, demokratischen und zentralistischen Positionen. Prominenter, wenngleich anonymer Autor der krachledernen Gazette war der Schriftsteller Ludwig Thoma.13 Von Juli 1920 bis August 1921 veröffentlichte der Miesbacher Anzeiger 149 anonyme Artikel Thomas (und einige wenige weitere, die der Autor mit seinem Namen zeichnete), in denen er grobschlächtig und beleidigend seine im Ersten Weltkrieg vom liberalen Zeitkritiker zum reaktionären Chauvinisten gewandelte Gesinnung verkündete. Schmähkritik gegen republikanische, demokratische Politiker wie Erzberger, Geßler oder Rathenau und die Sozialdemokratie in toto bildete in Verbindung mit antisemitischen Stereotypen das Repertoire. Die Nationalfarben der Weimarer Republik wurden von Thoma im Miesbacher Anzeiger als „Schabbes-Flagge“ denunziert. Er unterstellte eine „systematische Hetze der jüdischen Presse“, und Ostjuden wurden generell in pejorativen Zusammenhang (Unsauberkeit, Schachermentalität usw.) gebracht. Berlin, hieß es in der Steigerung von antipreußischem Affekt und Judenhass, sei eine „Mischung von galizischem Judennest und New Yorker Verbrecherviertel“. In ruppiger Polemik, ohne Scheu vor Obszönitäten, griff Thoma Demokraten und Republikaner und vor allem jüdische Intellektuelle und Politiker an und beschwor als Gegenwelt bayerisches Wesen und die „gute alte Zeit“. Der Dichter empfahl gewalttätiges Brauchtum als Heilmittel gegen die ungeliebten neuen Zustände. So brüstete sich Thoma in einem Artikel „Anti-arisch“ im April 1921 mit einer Satire gegen den ermordeten Ministerpräsidenten „der Hinrichtung des Eisner“, in einem anderen beschimpfte er den Berliner Zeitungsverleger Rudolf Mosse mit den Worten, er und seinesgleichen seien „aus den galizischen Judenvierteln, wo man stinkenden Mist in Wohnlöchern züchtet“, eingewandert. Jüdische Intellektuelle und Politiker wie Maximilian Harden, Siegfried Jacobsohn, Karl Kraus, Erich Mühsam, Bela Kun hätten „das Feuer des Rassenhasses“ angefacht, sie seien die Brandstifter.14 Die Identität des Verfassers der Hasstiraden gegen Juden war ein offenes Geheimnis. Die Auflage wurde durch die verbalen Exzesse Thomas erheblich gesteigert. Das Blatt wurde jetzt auch überregional wahrgenommen, gekauft und zitiert.

13 Ludwig Thoma, Sämtliche Beiträge aus dem „Miesbacher Anzeiger“ 1920/21, kritisch ediert und kommentiert v. Wilhelm Volkert, München 1989. 14 Artikel „Antisemitisches“, Miesbacher Anzeiger (17.07.1920), in: Thoma, Sämtliche Beiträge, (wie Anm. 13), S. 17–19.

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Ludwig Thoma wütete gegen die Revolution und deren vermutete Verursacher und Nutznießer. Er blickte im Zorn zurück auf die Revolution, „als der Saujud in München mit seinen maskierten Matrosen regierte“, und meinte damit Kurt Eisner, der im November 1918 die Republik in Bayern ausgerufen hatte und als erster Ministerpräsident amtierte.15 „Galizien“ und „galizisch“ war auch für Thoma das Synonym für „Juden“ und „jüdisch“. Der einst feinsinnige Schriftsteller delektierte sich und seine Leser am Horrorszenario einer jüdischen Lebenswelt, die jetzt in München und Bayern die Vorherrschaft habe. In der vulgären Sprache, die zwanzig Jahre später im nationalsozialistischen Hetzfilm Der ewige Jude geführt wurde16, schrieb Ludwig Thoma: Wie damals unsere braven Soldaten durch Polen und Galizien marschierten, sahen sie zum ersten Male die furchtbaren Zustände eines unter jüdischer Herrschaft stehenden Landes und Volkes. Kein Obstbaum blüht in Tälern, die Paradiese hätten sein können; sah man von Weitem ein Dorf und dachte schon an eine gewisse Wohnlichkeit, so war man entsetzt, sobald man diese Brutstätten der Pest und der Cholera betrat. Haus für Haus bewohnt von grätzigen Juden; stand eine Türe offen, dann strömte ein Verwesungsgeruch heraus, der alles Lebende ansteckte. Dicke, faule Jüdinnen, die ihre Hintern zu Fettpolstern züchten, krochen aus den Türen; der Mann stand im Talar, den er bekanntlich auch nachts nicht auszieht, auf der Straße. In dieser Hölle gibt es kein Wasser, keine Seife.17

Warum man gegen die gutmütigen, anständigen Russen Krieg geführt habe, „statt mit ihnen die Pest auszurotten“, fragte Thoma seine Leser, denen er suggerierte, die „galizische Judenheit“ habe, Ratten gleich, (auch dieses Bild erscheint zwanzig Jahre später im berüchtigten NS-Propagandafilm Der ewige Jude) sich längst in Berlin eingenistet und dort Immobilien, Presse, Theater, Handel, Kunst und Gewerbe und seit 1918 die Regierung übernommen. Vom vermeintlich jüdisch beherrschten Berlin sah Ludwig Thoma sein geliebtes Bayern bedroht. Des Dichters Ekel war an Schroffheit nicht zu überbieten: Nach dem Krieg, der dem bayrischen Waffenruhm in der ganzen Welt Anerkennung verschaffte, kam die Sauerei von 1918. Das schmierige Gesindel, das in Berlin obenauf kam, die Hyänen der Revolution, die sich an der Leiche unseres heldischen Vaterlandes gütlich taten, dieses traurige Saupack aus Tarnopol und Jaroslau, möchte gegen Bayern den überlegenen Ton der Herren oder gar Herrscher anschlagen.

Thoma glorifizierte seinen Zorn als bajuwarischen Patriotismus und artikulierte damit wüste Fremdenfeindschaft und bösartigen Antisemitismus:

15 „Auch eine Abwehr“, Miesbacher Anzeiger (16.02.1921), in: Thoma, Sämtliche Beiträge, (wie Anm. 13), S. 145–148, zit. S. 146. 16 Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010. 17 „Berliner Weh“, Miesbacher Anzeiger (07.04.1921), in: Thoma, Sämtliche Beiträge, (wie Anm. 13), S. 216–218.

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Diese geborenen Kleiderhändler, die als maskierte Preußen eine besoffene Fastnachtsgaudi aufführen, wollen das Volk, dessen Helden in Flandern, vor Verdun, an der Somme, in den Karpaten, in Rumänien, in Serbien, in Italien unsterblichen Ruhm erwarben, als Deutsche zweiter Klasse behandeln. Warum? Weil wir bei der Mischpoche unbeliebt sind, seit wir außer dem Itzig von der Promenadenstraße noch etliche vom Stamme Levi abgeschossen haben […] Wir vermelden der getragenen Kleiderbranche an der Spree, daß wir jederzeit bereit sind, frechen Galiziern das Fell zu verhauen. Wir kommen sofort; Postkarte genügt.18

Mit vielen Zeitgenossen verstand Thoma den Bolschewismus als eine das christliche Abend­­land bedrohende jüdische Machenschaft. In der öffentlichen Erinnerung floss die Novemberrevolution zusammen mit der Zeit der Diskussion über Parlamentarismus oder Rätesystem, der Eisners Ermordung folgenden Radikalisierung in der ersten, sozialistischen und der zweiten, kommunistischen Räteherrschaft im Frühjahr 1919. Die Monate November 1918 bis April 1919 wurden unter der Parole „Rotmord über München“ als Schreckenszeit konnotiert. Die Schuldigen standen ein für alle Mal fest: Juden und Kommunisten. Was in Bayern besonders derb an die Öffentlichkeit trat, war aber keineswegs eine regionale Erscheinung. Judenfeindschaft war als politisches Argument, als öffentliches Bekenntnis, als persönliche Überzeugung verbreitet und wurde überall und bei jeder Gelegenheit artikuliert. Erheblichen Anteil daran hatte der Pressekonzern des Geheimrats Alfred Hugenberg, der nach Ämtern im Staatsdienst und Tätigkeiten in der Lobby der Schwerindustrie von 1909 bis 1918 Chef der Firma Krupp gewesen war und sich im völkisch-­nationalistischen „Alldeutschen Verband“, dann in der ultrarechten „Deutschen Vaterlands­partei“ engagiert hatte. Schließlich stand er von 1928 bis 1933 an der Spitze der Deutschnationalen Volkspartei. Hugenberg hatte im Ersten Weltkrieg ein Zeitungsimperium gegründet, mit dem er das demokratisch-parlamentarische System der Weimarer Republik bekämpfte und im Schulterschluss mit Adolf Hitler zerstörte. Als Pressezar gebot er über den Berliner ScherlVerlag mit Tageszeitungen und Unterhaltungszeitschriften wie der Gartenlaube, ein weiterer Hugenberg-Verlag verfügte über 14 Tageszeitungen, dazu gehörten ein Anzeigenbüro, die Presseagentur Telegraphen-Union sowie die Universum Film AG (Ufa). Mit Materndiensten versorgte Hugenberg Provinzzeitungen mit fertigen Artikeln. Zu den Annexionszielen im Ersten Weltkrieg und der völkisch-chauvinistischen Tendenz der Deutschnationalen Volkspartei ab 1918 gehörte auch die Judenfeindschaft, die im politischen Programm des Hugenbergkonzerns wesentlichen Platz einnahm. Die nationalsozialistischen Zeitungen, allen voran der Völkische Beobachter, hetzten gegen Juden und „Novemberverbrecher“, der parteieigene Eher Verlag in München versorgte Hitlers Gefolgschaft seit 1920 mit antisemitischer Literatur. Das bekannteste und unanständigste Medium nationalsozialistischer Judenhetze war das von Julius Streicher seit 1923 herausgegebene Blatt Der Stürmer. In eintöniger Bosheit wurden Juden und „Juden18 „Unsere Gewaltherren“, Miesbacher Anzeiger (19.02.1921), in: Thoma, Sämtliche Beiträge, (wie Anm. 13), S. 153–154. In der Münchner Promenadenstraße war am 21. Februar 1919 Kurt Eisner auf dem Weg zum Bayerischen Landtag ermordet worden.

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knechte“ individuell und kollektiv denunziert. Mit differenzierten Argumenten gab sich der gelernte Volksschullehrer nicht ab. Streicher kam es auf großflächige Anprangerung, auf Enthüllung und Stigmatisierung an. Dass das Kollektiv „der Juden“ nur Schlimmes im Schilde führe, war stillschweigende Voraussetzung, die im Stürmer bis 1945 beliebig illustriert wurde.

5. Verschwörungsphantasien Zur Judenfeindschaft gehören verschwörungstheoretische Elemente, die ihr Wesen bestim­ men: Im religiös motivierten Antijudaismus sind es die Ritualmordlegenden, der Gottesmordvorwurf, Blutbeschuldigungen, angeblicher Hostienfrevel, die Vermutung geheimer jüdischer Praktiken, die Unterstellung des Kampfes um Vorherrschaft. Im Antisemitismus, der als Rassenideologie im 19. Jahrhundert entstand und im 20. Jahrhundert in den Holocaust mündete, kam die Unterstellung jüdischen Weltmachtstrebens hinzu, unterfüttert mit dem Vorwurf, den Bolschewismus in die Welt gebracht und gleichzeitig den Kapitalismus erfunden zu haben. Der Mythos, dass Juden eine geheime Macht darstellten und ausübten, die Angst vor der jüdischen Weltherrschaft, an deren Durchsetzung „die Juden“ arbeiten würden, tritt idealtypisch in den Protokollen der Weisen von Zion in Erscheinung.19 Die Ideologen des Nationalsozialismus sahen das Konstrukt als Referenztext und beriefen sich auf diese „Quelle“, wobei sie die Entlarvung des Falsifikats als „Beweis“ für die Authentizität ihrer Beschreibung jüdischer Machenschaften feierten. Der Begriff „Weltjudentum“, der ebenso wie „Internationales Judentum“ oder „Goldene Internationale“ und in der Schlichtform als „Alljuda“ in der nationalsozialistischen Propaganda zum Standard antisemitischer Agitation gehörte, war die zentrale Chiffre für Verschwörungsphantasien. Kurz vor 1900 entstanden, wurde das Pamphlet Protokolle der Weisen von Zion rasch zum wichtigsten Referenzdokument einer „jüdischen Weltverschwörung“. In Deutschland hatte die Schrift erheblichen Einfluss auf die Ideologie des Nationalsozialismus. Adolf Hitler berief sich in Mein Kampf ausdrücklich auf den Text: Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehaßten Protokollen der Weisen von Zion gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die Frankfurter Zeitung in die Welt ­hinaus: der beste Beweis dafür, daß sie echt sind. Was viele Juden unbewußt tun mögen, ist hier bewußt dargelegt. Darauf aber kommt es an. Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, daß sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlußzielen darlegen.20

19 Vgl.: Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwö­ rung, München 42019. 20 Hitler, Mein Kampf, (wie Anm. 11), S. 337.

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Hitlers Gefolgsmann Alfred Rosenberg legte mit seinem Buch Der Mythus des 20. Jahr­ hunderts, das 1930 erstmals erschien, den Grundstein zu seinem Ruf als wichtigster Propagandist antisemitischer Verschwörungsphantasien in der Weimarer Republik. Rosenberg trat auch als Herausgeber der Protokolle der Weisen von Zion in Erscheinung, er beschwor eine jüdische „Weltgefahr“, die er in seinen rassistischen und antibolschewistischen Schriften zu beweisen suchte. Rosenberg mischte religiöse und rassistische Vorbehalte zum verschwörungstheoretischen Konstrukt. Es leitete sich her „vom jüdischen Mythus, der vom Gott Jahwe den Gerechten zugesagten Weltherrschaft“. Die von Judenfeinden auch heutzutage immer noch vorgetragene Zurückweisung des Anspruchs der Auserwähltheit – gegründet auf die heiligen Schriften des Judentums, Talmud und Schulchan Aruch – war laut Rosenberg Ende des 19. Jahrhunderts fortgeschrieben in der „gegenrassigen Idee“ und vollendet in der zionistischen Bewegung: „Zu gleicher Zeit geht eine seelische und politische Verbindung zur Idee des roten Bolschewismus hinüber“.21 Rosenberg, Antisemit und völkischer Neuheide, bekämpfte mit den Juden gleichzeitig auch Freimaurer und das Christentum.

6. Gewalt gegen Juden Gewalt gegen Juden als Kollektiv ereignete sich, angestiftet von Demagogen, scheinbar auch spontan, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bei verschiedenen Gelegenheiten. Eine Form war Gruppengewalt durch Zusammenrottung judenfeindlichen Pöbels. Im März 1921 veranstalteten organisierte Judenfeinde aus Österreich, Ungarn und Deutschland in Wien einen „Antisemitentag“, der als Kongress mit Vorträgen von Fanatikern und Aktivisten begann, denen öffentliche Reden vor dem Rathaus folgten, die in einem Umzug mit Musik durch die Innenstadt mündeten. Die Organisatoren verloren bald die Kontrolle über den Zug, der in Krawall und Aufruhr überging. Der Pöbel randalierte gegen die Polizei, stürmte Straßenbahnwagen mit dem Ruf „Juden hinaus“, zerschlug die Fenster von Kaffeehäusern, jagte Passanten, prügelte Personen, die man für Juden hielt. Der Spuk dauerte, bis die Polizei den Zug zerstreut hatte, etwa zweieinhalb Stunden. 25 Personen wurden wegen polizeiwidrigen Verhaltens und öffentlicher Gewalttätigkeit verhaftet. Auch in Berlin fand ein Pogrom statt. Am 5. und 6. November 1923 war das Scheunenviertel, ein armseliger Stadtteil in der Mitte der Reichshauptstadt, in dem jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa lebten, Schauplatz gewalttätiger Judenfeindschaft. Am Vormittag des 5. November warteten Tausende Erwerbslose vor dem Arbeitsamt vergeblich auf Unterstützung. Das Gerücht, „die Juden“ seien schuld am Ausfall der Zahlungen, war Anlass eines Demonstrationszugs, der sich, angestachelt von antisemitischen Demagogen, in Richtung Scheunenviertel bewegte. Randalierer plünderten und zerstörten jüdische Geschäfte oder was sie dafür hielten, misshandelten Menschen, die durch ihre Kleidung leicht als „Ostjuden“ zu identifizieren waren. 21 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20.  Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestalten  – Kämpfe unserer Zeit, München 31941, zuerst 1930, S. 463.

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Als am Abend der Pogrom auf andere Stadtteile auszugreifen drohte, wurde der Polizeieinsatz verstärkt. Nach zwei Tagen des Aufruhrs waren zahlreiche Verletzte und ein Toter zu beklagen. Vertreter der antisemitischen völkischen Bewegung erklärten die Tumulte als verständliche „Ausbrüche des Volkszorns“, die katholische Kirche verurteilte dagegen den Hass auf „unsere israelitischen Mitbürger“, und die SPD nannte den Pogrom eine „Schmach für das deutsche Volk“.22 Krawall gegen Juden war eine Spezialität der Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik. Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, inszenierte persönlich den Radau, bei dem im September 1931 das Café Reimann am Kurfürstendamm demoliert wurde: Jüdische Gäste, die nach dem Gottesdienst in der nahegelegenen FasanenstraßeSynagoge das Neujahrsfest Rosch ha-Schana feierten, wurden beleidigt und misshandelt. Anführer der Krawalle war der SA-Führer Graf Helldorf, der es nach dem Machterhalt Hitlers zum Polizeipräsidenten von Berlin brachte.

7. Politischer Mord mit antisemitischem Motiv Die terroristische Form des Antisemitismus bildeten gezielte Mordanschläge gegen Politiker, beginnend mit dem Mord an Rosa Luxemburg als Mitbegründerin der KPD und polnischer Jüdin im Januar 1919. Es folgte das Attentat eines Grafen Arco in München gegen den Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919. Der USPD-Politiker Eisner hatte im November 1918 das Ende der Monarchie proklamiert, er wurde seither als Jude geschmäht und als angeblicher Bolschewist verunglimpft. Leo Jogiches, linker Politiker, der an der Spitze des Spartakusbundes stand, wurde im März 1919 in Berlin im Gefängnis Moabit ermordet. Der sozialistische Publizist Gustav Landauer, der als Volksbeauftragter in der Münchner Räterepublik mitwirkte, wurde im Mai 1919 von den „Befreiern“ Münchens totgeschlagen. Im August 1921 war der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger als „Erfüllungspolitiker“ das Opfer eines Mordanschlags, außerdem hielten ihn auch viele für einen Juden. Er war als „Vaterlandsverräter“ und „Novemberverbrecher“ denunziert und stigmatisiert. Ein Anschlag, bei dem das Opfer lebensgefährlich verletzt wurde, richtete sich gegen den einflussreichen jüdischen Publizisten Maximilian Harden im Juli 1922. Das größte Aufsehen erregte die antisemitische Gewalttat gegen Walther Rathenau. Er war Außenminister, als er am 24. Juni 1922 auf dem Weg ins Amt von Rechtsextremisten der „Organisation Consul“ erschossen wurde. Rathenau stand als Industrieller an der Spitze des Elektrokonzerns AEG, außerdem war er Intellektueller, der Bücher schrieb, und linksliberaler Politiker, der als Demokrat entschieden auf dem Boden der Republik stand. Er war glühender deutscher Patriot. Für die Rechte war Rathenau der meistgehasste deutsche Politiker, dem Drohverse gewidmet waren wie „Der Rathenau der Walther, erreicht kein hohes Alter“ oder, noch gehässiger und gemeiner, aber deshalb weitverbreitet: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau“. Er war 55 Jahre alt und mit dem 22 Zit nach: Yiddish in Weimar Berlin. At the Crossroads of Diaspora Politics and Culture, hrsg. v. Gennady Estraikh, u. Mikhail Krutikov, Oxford 2010.

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Vertrag von Rapallo auf dem Höhepunkt seines Erfolges als Politiker, als ihn die Kugel seiner Mörder traf. Rathenau war die Symbolfigur für die Hoffnungen der deutschen Juden auf gesellschaftliche Anerkennung gewesen. Der Hochschullehrer und politische Publizist Emil Julius Gumbel war wie wenige Juden in der Weimarer Republik Objekt öffentlicher antisemitischer Diffamierung durch Konservative und Rechtsextreme. Sein politisches Engagement als Pazifist bot die Handhabe. Als Chronist der Fememorde, der rechtsextremen Terror öffentlich machte, war er verhasst. Gumbel war im Ersten Weltkrieg Freiwilliger gewesen, er hatte sich nach dem Studium der Mathematik und Nationalökonomie habilitiert, gewann auf dem Gebiet der Statistik rasch internationales Renommee, blieb aber als Jude und radikaler Demokrat an der Universität Heidelberg diskriminiert. Der Professorentitel wurde ihm dort trotz seiner wissenschaftlichen Leistungen erst spät, widerwillig und ohne Bezüge gewährt. Dafür beschäftigten sich zweimal akademische Untersuchungsausschüsse mit seiner politischen Haltung. Den Höhepunkt erreichte der Skandal im Mai 1932 nach zahllosen nationalistischen Krawallen in Heidelberg und rechtsextremistischen Diffamierungen des mittlerweile prominenten Pazifisten, für den auch Albert Einstein Partei ergriff. Die Universität reagierte auf den Druck der Rechten und entließ den unbequemen Hochschullehrer im August 1932. Gumbel ging, noch vor Hitlers Machtantritt, ins Exil nach Frankreich und dann in die USA. Die Nationalsozialisten sahen ihn in ihrer Propaganda immer als Inkarnation des jüdischen Hochschullehrers. Sein Name stand 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste der Reichsregierung.23 Noch schlimmer erging es einem anderen jüdischen Wissenschaftler, dem Philosophen Theodor Lessing, der in Hannover als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule lehrte, vor allem jedoch als zeitkritischer Publizist bekannt war. Wegen seiner Stellungnahme gegen die Kandidatur Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen. Seine sozialistische Gesinnung, sein Eintreten für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen machten den Zeitkritiker und Kulturpessimisten, der sich auch mit „jüdischem Selbsthass“ auseinandersetzte, bei den Rechten verhasst. Er floh vor den Anpöbelungen der Rechten nach Marienbad in der Tschechoslowakei, wo er Ende August 1933 seinen Mördern, zwei sudetendeutschen Nationalsozialisten, zum Opfer fiel.24 Schon vor ihm waren im April 1933 aus Judenhass Menschen zu Tode gekommen, die aus dem Deutschen Reich ins vermeintlich sichere Ausland geflohen waren: die jüdischen Brüder Fritz und Alfred Rotter, Theaterunternehmer in Berlin, auf deren Bühnen die Operettenstars der „goldenen“ zwanziger Jahre auftraten. Die Rotterbühnen waren

23 Vgl.: Wolfgang Benz, „Emil Julius Gumbel. Die Karriere eines deutschen Pazifisten“, in: 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen, hrsg. v. Ulrich Walberer, Frankfurt a. M. 1983, S. 160–198, hier S. 186; Christian Jansen, Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991. 24 Vgl.: „Sinngebung des Sinnlosen“ – Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872– 1933), hrsg. v. Elke-Vera Kotowski, Hildesheim 2006; Rainer Marwedel, Theodor Lessing 1872– 1933. Eine Biographie, Darmstadt, Neuwied 1987.

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der größte Theaterkonzern Europas.25 Am Ende der Weimarer Republik waren die Brüder geschäftlich am Ende. Silvester 1932 wurden sie in den Konkurs getrieben. Sie flüchteten ins Exil nach Liechtenstein. Nationalsozialisten versuchten, sie mit Gewalt nach Deutschland zu verschleppen, dabei kamen Alfred Rotter und seine Frau am 5. April 1933 ums Leben. Fritz Rotter rettete sich nach Frankreich, wo er 1939 aus ungeklärten Gründen im Gefängnis starb.26

8. Abwehr und Resignation Gegen die Judenfeindschaft engagierte sich seit 1880 der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“.27 Dem Kampf gegen die antisemitische Agitation diente die Zeitschrift des Vereins Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, die 1925 umbenannt wurde in Abwehr-Blätter, außerdem publizierte der Verein Broschüren und Flugblätter. Durch Aufklärung sollten antisemitische Stereotype wie der Ritualmordvorwurf, jüdisches Drückebergertum, Kriegsgewinne, Weltherrschaftsstreben, entkräftet werden. Im Abwehr – ABC waren Argumente gegen antisemitische Diffamierungen zusammengestellt, im Antisemitenspiegel wurden Talmudhetze, Angriffe auf Religion und Sittlichkeit der Juden widerlegt. Zu den Aktivitäten des Vereins gehörte auch das Streben, Kenntnis über jüdische Sitten, jüdische Religion und Kultur zu verbreiten. Dahinter stand die irrige Annahme, wer das Judentum kenne, werde es nicht als fremd empfinden und bekämpfen. Prominente Mitglieder des Abwehrvereins waren Theodor Mommsen, Heinrich Mann, die Politiker Otto Landsberg und Hugo Preuß. Georg Gothein hatte von 1909 bis 1933 den Vorsitz, ihm folgte noch für wenige Wochen der Zentrumspolitiker Heinrich Krone. Das Wirken des Abwehrvereins war von der Absicht getragen, jüdischen Mitbürgern bei der Wahrung ihrer verfassungsmäßigen Rechte beizustehen. Die Absicht wurde allerdings in patriotischer Zurückhaltung verwirklicht, das heißt, es wurde viel Eifer darauf verwendet, den Verdacht zu zerstreuen, man nehme Partei für die Juden als Juden. Allezeit wurde die vaterländische Gesinnung betont und Kompromisse waren im Abwehrverein beliebter als streitbares Agieren. Der Glaube an Anstand und Vernunft bzw. die Hoffnung, dass mit entsprechendem Appellieren auch Antisemiten erreicht und beeindruckt werden könnten, charakterisierte die Moral der honorigen Leute im Abwehrverein. Zwar setzten sie sich mit der NSDAP vor Wahlen auseinander, aber als die Hitlerpartei an die Macht gekommen und Antisemitismus Staatsdoktrin geworden war, befand sich der Abwehrverein im Konflikt zwischen Regierungstreue und dem Vereinszweck.

25 Vgl.: Bjoern Weigel, Vom deutschen zum „arischen“ Theater. Die Verdrängung jüdischer Theaterunter­ nehmer in Berlin in der NS-Zeit, Berlin 2017. 26 Vgl.: Peter Kamber, Alfred und Fritz Rotter. Ein Leben zwischen Theaterglanz und Tod im Eil, Leipzig 2020. 27 Vgl.: Auguste Zeiß-Horbach, Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestan­ tismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Leipzig 2008.

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Im Frühjahr 1933 war der Verein am Ende: Georg Gothein, 76-jährig, ehrfurcht­ gebietend und eindrucksvoll als langjähriger linksliberaler Reichstagsabgeordneter und Minister im Kabinett Scheidemann, legte den Vorsitz nieder. Er hatte vor den Märzwahlen noch deutlich Stellung bezogen und in einem Artikel die propagierte Entrechtung der Juden angeprangert. Ende März 1933 beschloss der Vorstand des Abwehrvereins, die Tätigkeit für vier Wochen ruhen zu lassen, da er sich weder zur Fortsetzung der Abwehrarbeit noch zur Auflösung entschließen konnte. Mit der Einstellung der Abwehrblätter verzichtete der Verein vorauseilend vor Maßnahmen der Regierung auf Artikulationsmöglichkeiten. Derselben Logik des Stillhaltens, Abwartens und Anpassens entsprach die Presseerklärung, mit der der Verein sich energisch gegen die Nachrichten in der ausländischen Presse über Verfolgung und Bedrohung von Juden in Deutschland verwahrte. Die nationalsozialistische Propaganda nannte die Meldungen Greuelhetze und nahm sie zum Anlass, den Judenboykott des 1. April 1933 zu inszenieren. Ende Juni 1933 trat auch Heinrich Krone vom Amt des Vorsitzenden zurück, er hatte zuvor für die Auflösung des Abwehrvereins plädiert, da er nichts mehr ausrichten könne. Am 7. Juli fand die letzte Mitgliederversammlung statt, die das Ende des Vereins beschloss. Den Mitgliedern ging ein Abschiedsschreiben des Restvorstands zu, das den Satz enthält, der die allezeit ambivalente Haltung des Vereins charakterisiert: Nun aber glauben wir, das Opfer der Selbstauflösung bringen zu müssen, um für uns als Organisation wie für unsere Mitglieder auch den Anschein zu vermeiden, als wollten wir den Anstrengungen der Regierung auf einheitliche Zusammenfassung und planmäßige Befreiung und Hebung unseres Vaterlandes behindernd im Wege stehen.28

Ebenso kennzeichnend ist die Passage in der Abschiedserklärung, die auch als sanfte Verwahrung gegen das NS-Regime gewertet werden kann, auf jeden Fall aber als optimistische Bekundung von Naivität zu interpretieren ist: Wird nun auch unser Verein als Organisation zu bestehen aufhören, so glauben wir doch daran, daß die Ideale, die unserer Arbeit letztliche Triebkraft waren, ewig Bestand haben werden: Die Wahrheit, Gerechtigkeit und die religiös oder sozial verwurzelte Menschlichkeit. Auch die neue Führung Deutschlands bekennt sich zu diesen Maximen und wird sie auf Dauer auch in der Behandlung der Judenfrage zur Geltung bringen.29

Mit größerem Engagement, vielleicht auch mit besserem Mandat, engagierte sich der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gegen den Antisemitismus. Ende März 1893 war der C. V. in Berlin gegründet worden. Wahlerfolge der in Parteien organisierten Judenfeinde, die Zunahme antisemitischer Agitation, eine Aufsehen erregende Ritualmordbeschuldigung in Xanten hatten genug Anlass geboten. Die Gegenwehr jüdi28 Vgl.: Barbara Suchy, „The Verein zur Abwehr des Antisemitismus II“, in: Year Book Leo Baeck Insti­ tute 30, 1985, S. 101–102. 29 Ebd., S. 177.

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scher Studenten gegen den an den deutschen Universitäten grassierenden Antisemitismus seit 1880 hatte Initialfunktion, und ein Dach, unter dem sich die Mehrheit der deutschen Juden repräsentiert sah, war vielen längst Bedürfnis. Die Juden, die im Centralverein ihre Heimat fanden, waren religiös liberal, hoch assimiliert, sie fühlten sich als Deutsche und waren bürgerlich.30 Der Centralverein war der Ort von Identitätsdebatten, aus denen jüdisches Selbstverständnis erwuchs, das sich vom „Randjudentum“ zum „Trutzjudentum“ entwickelte. Zu den Strategien des Centralvereins gehörte der Kampf gegen antisemitische Kandidaten bei Parlamentswahlen, die Selbstdarstellung nach den beiden Glaubenssätzen „Deutschtum“ und „Judentum“ und die Abwehr antisemitischer Unterstellungen. Auch die Schwächen des CV waren unübersehbar: Vom Feinde provoziert, suchte man wieder und wieder zu beweisen, wie echt das jüdische nationale Empfinden für Deutschland war, daß man außer der religiösen Sonderart so deutsch wie alle anderen war. Dies hat einer erfolgreichen Abwehrstrategie geschadet.31

Die Ideologie des Centralvereins stand auf zwei Säulen, der Abwehr des Antisemitismus, agiert durch Apologetik und der Hebung jüdischen Selbstbewusstseins, betrieben durch die „Innere Mission“, die sich zunächst der Konditionierung jüdischen Lebens durch Anpassung an soziale Erfordernisse der Mehrheitsgesellschaft widmete, dann aber auch der Preisgabe des Jüdischen durch Assimilation entgegenwirkte. Die Abwehr von Antisemitismus erfolgte unter dem traditionellen Postulat der „Apolo­ getik“, das heißt die Verteidigung der jüdischen Position durch Propaganda, die Vorwürfe entkräften, Stereotype auflösen und Vorurteile beseitigen sollte. Rationale Argumente waren die Mittel, die eingesetzt wurden gegen die international verbreiteten Klischees und Ressentiments der Antisemiten. Die Publizistik des Centralvereins erreichte ein breites Publikum, nur wirkte sie – das liegt in der Natur der Sache – nicht auf die Urheber und Vermittler der judenfeindlichen Agitation, sondern stärkte allenfalls die Position derer, die nicht vom Antisemitismus emotional infiziert waren.32 Als Waffe gegen die Judenfeindschaft wurden z. B. Klebemarken eingesetzt, die mit Parolen wie „Das grösste Uebel ist der Judenhass“ oder „Judenhass erwächst aus Neid, Dummheit, Unfähigkeit“ Aufklärung verbreiten sollten. Ob das Weltbild eines Antisemiten durch den Lehrsatz „Das gesunde Volksempfinden ist ein Todesurteil des Judenhasses“ ins Wanken geriet, steht freilich dahin. Auch über die Wirkung jener Sentenz kann nur gerätselt werden, die kündete „Judenhass aus Eigennutz“ sei „Schurkerei“, Judenhass „aus Überzeugung“ aber „Dummheit“. Auch die fromme Botschaft „Menschenliebe lehrte Jesus der 30 Vgl.: Arnold Paucker, „Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893–1933“, in: Antisemitis­ mus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, hrsg. v. Herbert A. Strauss u. Norbert Kampe, Frankfurt u. a. 1985, S. 143–163. 31 Ebd., S. 151. 32 Zur Geschichte und Wirkung des Centralvereins vgl.: Avraham Barkai, „Wehr Dich!“. Der Central­ verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938, München 2002.

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auch ein Jude war“ hatte wohl wenig Überzeugungskraft. Ob die Wirkung solcher Propaganda gegen den Antisemitismus auch nur annähernd in einem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten der Herstellung und der Verteilung der entsprechenden Medien stand, muss bezweifelt werden. Unter dem Titel Anti- Anti- Blätter zur Abwehr – Tatsachen zur Judenfrage publizierte der Centralverein eine Handreichung zur Widerlegung judenfeindlicher Stereotypen. Unter Stichworten wie Bolschewismus, Mädchenhandel, Ostjuden, Rassenfrage, Ritualmord, Schächtfrage, Semi-Gotha, Weise von Zion war dort Material gegen gängige Topoi zu finden. In Einzelschriften wie Der Knabenmord in Xanten oder Der Mord von Konitz und der Blutaberglaube des Mittelalters wandten sich Autoren des Centralvereins gegen aktuelle Ritualmordvorwürfe, die von den Gerichten nicht verfolgt wurden.33 Das Rückgrat der Publizistik des Centralvereins bildeten die C. V.-Zeitung, die ab 1922 wöchentlich erschien und die Monatsschrift Im deutschen Reich (1895–1922) ablöste. Die apologetischen Schriften erschienen im vereinseigenen, 1919 gegründeten Philo-Verlag.34 Die apologetische Methode richtete sich an die Vernunft und den guten Willen eines Publikums, das als ansprechbar und überzeugungsfähig angenommen wurde. Wenn diese Schicht im Wilhelminischen Reich vorhanden war, so gab es sie nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr und die auf Rationalität gegründete Apologetik fand fruchtbaren Boden bei hochgradig emotional Getriebenen, die Gründe für ihre nationale Frustration, für Verlustängste und zerstörte Illusionen suchten und als Verursacher „die Juden“ fixierten. Mindestens punktuell erfolgreicher als das Bemühen, durch Aufklärung über die Realität jüdischen Lebens den Antisemitismus wenigstens in Schranken zu weisen, war der Kampf, den Anwälte im Auftrag des Centralvereins vor Gericht an vielen Fronten fochten. Nach dem Vorbild anderer Interessenvertretungen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden waren, etablierte der Centralverein eine Rechtsschutzkommission, die etwa 100 strafrechtlich relevante Fälle von Antisemitismus jährlich bearbeitete.35 Die Anwälte des Centralvereins traten in Aktion, wenn, wie bei Ritualmordbeschuldigungen und ähnlicher Agitation, etwa der Propaganda des Borkumer Pastors Münchmeyer für den Bäderantisemitismus, Kollektivbeleidigung vorlag. In diesen Fällen wurde „der Kampf ohne Rücksicht auf den Erfolg geführt“ […],weil Ehre und Selbsterhaltung den Kampf aufzwingen und große ideale Güter in Frage stehen“.36 Viele Prozesse, bei denen CV-Anwälte gegen Antisemiten und Antisemitismus kämpften, wurden verloren. Trotzdem ist die Rechtsschutzarbeit des Centralvereins nicht vergeblich gewesen, denn sie stellte Öffentlichkeit gegen die Manifestation der Judenfeindschaft her. 33 Blutlügen. Märchen und Tatsachen, Berlin 1929; vgl.: Johannes T. Groß, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914), Berlin 2002, S. 203 ff. 34 Vgl.: Reiner Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus. Die Publizistik der deutschen Juden am Beispiel der „C. V.-Zeitung“, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau­ bens, 1924–1933, Phil. Diss. FU Berlin 1969. 35 Vgl.: Inbal Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechts­ schutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893–1933), Berlin 2008. 36 Eugen Fuchs, „Rechtsschutz und Rechtsfrieden. Bericht der Rechtsschutzkommission 16.04.1894“, zit. nach: Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte, (wie Anm. 35), S. 29 f.

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Weniger spektakulär als die Strafjustiz ist der Bereich des Zivilrechts. Hier ging es im Wesentlichen um Fälle von Wirtschaftsboykott, die nicht das Kollektiv „der Juden“, sondern stets Einzelne betraften. Der Centralverein nahm vor allem publizistisch Stellung und versuchte, sich zu positionieren.37 Juristisch war das Zivilrecht ein schwieriger Boden. Die Gesinnung der Beteiligten spielte eine erhebliche Rolle; das ist den Urteilen leicht zu entnehmen. Die Klage von sieben jüdischen Geschäftsleuten vor dem Landgericht Coburg im Jahr 1931 richtete sich gegen Boykottaufrufe der lokalen NSDAP-Zeitung, in denen die gängigen antisemitischen Stereotype (Unehrlichkeit, Gaunerei, Drückebergerei im Ersten Weltkrieg) benutzt wurden. Diese Diffamierungen machte sich das Gericht in der NSDAPHochburg Coburg in der Argumentation ausdrücklich zu eigen: In der Urteilsbegründung hieß es, die NSDAP habe „die kulturelle, politische und wirtschaftliche Befreiung Deutschlands zum Ziele“, deshalb könne sie „auf dem Weg zu diesem Ziele nicht an der Rassenfrage vorbeigehen“. Mithin dürfe es „als unbedenklich unterstellt werden, daß über die Art der Führung des deutschen Freiheitskampfes unter den verschiedenen politischen Parteien verschiedene Auffassungen herrschen“.38 Insgesamt endeten die meisten zivilgerichtlichen Verfahren mit Entscheidungen zugunsten der jüdischen Antragsteller, wenn auch in einigen Fällen (wie in Coburg) nicht gleich in erster Instanz. 1932 änderte sich mit der politischen Situation auch die Rechtsprechung. Zahlreiche Gerichte hatten zwar bis dahin Boykottaufrufe als sittenwidrig bezeichnet und in der rechtswissenschaftlichen Literatur galt antisemitischer Boykott (mit guten Argumenten) als sittenwidrig. Gleichzeitig war aber die NSDAP gewalttätiger und rabiater als je zuvor in ihren Boykottaufrufen, sodass viele jüdische Betroffene dem Centralverein nicht zur Verfügung stehen wollten, weil sie in Gestalt der Rache der Nazis Ärgeres befürchteten. Die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins war ein Reflex auf die Situation der Juden. In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik änderte der Centralverein die Strategie und ging vom Konzept argumentativer Abwehr des Antisemitismus zur Massenpropaganda gegen den Nationalsozialismus über. Hier erwarb sich der Centralverein als Pionier wohl seine größten Meriten, zusammen mit seinem Bündnispartner, dem wesentlich von der Sozialdemokratie getragenen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, verteidigte die Organisation der Juden Demokratie und Rechtsstaat der Weimarer Republik. Der Aufstieg der NSDAP zur stärksten Partei und Hitlers Bündnis mit den Konservativen machte Judenfeindschaft zur Doktrin der Mehrheit, gegen die das Instrumentarium der Abwehr nichts mehr ausrichten konnte. Dass dem antisemitischen Getöse der Nationalsozialisten vor deren Machterhalt entsprechende Taten folgen sollten, glaubte in den Tagen des „nationalen Aufbruchs“ 1933 indes niemand so recht. Nicht einmal die Zionisten, deren Sprachrohr die Jüdische Rundschau war und die gegenüber der Zukunft skeptischer waren als die im Centralverein organisierten „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“, die

37 Vgl.: Cord Brügmann, Flucht in den Zivilprozess. Antisemitischer Wirtschaftsboykott vor den Zivil­ gerichten der Weimarer Republik, Berlin 2009. 38 Ebd., S. 95 f.

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dem Traum einer deutschjüdischen Symbiose anhingen, deren nationale Hoffnungen und Sehnsüchte sich nicht von denen nichtjüdischer deutscher Bürger unterschieden. Trotz aller Skepsis – und darin waren sich die wenigen Zionisten und die vielen Anhänger der deutschjüdischen Assimilation einig – gaben sich die jüdischen Kommentatoren auch in den der Machtübernahme der NSDAP folgenden Wochen, und viele noch länger, überzeugt, dass zwischen dem Volkstribun Hitler in Stiefeln und Braunhemd mit seiner SA, die „Juda verrecke“ brüllte und das Lied vom Judenblut sang, das vom Messer spritzen müsse, wenn es noch mal so gut gehen solle, und dem Reichskanzler Hitler im Gehrock, flankiert von deutschnationalen und anderen hochkonservativen Notabeln, ein grundlegender Unterschied bestehe. Was der Parteiführer Hitler propagiert habe, könne der Kanzler Hitler nicht realisieren, ja nicht einmal wollen. Im Übrigen glaubte die Mehrheit der deutschen Juden an die Kraft der Normen im untergehenden Rechtsstaat, an die Verankerung der Gleichberechtigung in der Reichsverfassung, die nicht durch das Programm der NSDAP einfach ersetzt werden könne. Dass genau dieses geschehen würde, widersprach aller Vernunft und schien daher außerhalb des Möglichen.

Albrecht Dümling

Hans Severus Ziegler, Ernst Nobbe und Paul Sixt Die Weimarer Wurzeln der Ausstellung Entartete Musik

Ernst Praetorius betrieb ab 1924 als Generalmusikdirektor am Deutschen Nationaltheater Weimar eine ausgewogene Repertoirepolitik. Ohne vertraute Traditionen zu vernachlässigen, gab er dem Musikpublikum auch Einblicke in aktuelle Entwicklungen. So war Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf, die im Februar 1927 in Leipzig höchst erfolgreich uraufgeführt worden war, ab Oktober dieses Jahres an acht Abenden in Weimar zu erleben. Intendant Franz Ulbrich hatte das Werk inszeniert, Praetorius dirigierte. Krenek hatte in seiner Oper dem mitteleuropäischen Komponisten Max, der isoliert von der Welt zeitlose Werke schafft, den dunkelhäutigen Musiker Jonny entgegengestellt, einen US-Amerikaner, der mit eingängigen Melodien und Jazzrhythmen viel größere Publikumserfolge erntet. Obwohl Jonny eigentlich Jazzgeiger ist, hatte ihn der Verlag, die Wiener Universal-Edition, auf dem Titelblatt der Noten als Saxophonisten dargestellt.1

Abb. 1: Ernst Krenek, Jonny spielt auf, Klavier­ auszug, Universal-Edition Wien 1926, gemeinfrei.

1

Vgl.: Albrecht Dümling, „Geige oder Saxophon? Der Jazzmusiker Jonny als Symbol für ‚Entartung‘“, in: Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat. Dokumentation und Kommentar, hrsg. v. Albrecht Dümling, Regensburg 52015, S. 11–25.

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Abb. 2: Ankündigung der Oper Jonny spielt auf von Ernst Krenek am 30. Oktober 1927 im Deutschen Nationaltheater Weimar, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1898, Bl. 59.

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Die Jonny-Figur wurde damals von schwarz geschminkten Sängern verkörpert – denn Afroamerikaner gab es auf europäischen Opernbühnen noch nicht. Dennoch hatten sich deutschnationale Besucher empört, dass ein „Schwarzer“ als Hauptfigur einer Oper eine weiße Frau erobert. Besonders lautstarken Widerstand gab es im Januar 1928 in Wien, wo eine „Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei Großdeutschlands“ zum Protest gegen die „freche jüdisch-negerische Besudelung“ der Staatsoper aufrief.2 In Weimar prangerte die Zeitung Der Nationalsozialist im April 1928, vier Monate nach dem Ende des Aufführungszyklus, das „Geschäftemachen“ mit diesem „Machwerk“ an; die großen Traditionen des Nationaltheaters würden dadurch entweiht. Verfasst hatte den Artikel Hans Severus Ziegler, der Herausgeber dieser Partei-Zeitung, der den Dirigenten grundsätzlich angriff. Ernst Praetorius sei mit einer Jüdin verheiratet und fördere vor allem Juden; man müsse ihn deshalb aus dem Nationaltheater vertreiben.3

Abb. 3: Dr. Hans Severus Ziegler, Foto: Hermann Eckner, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

Der 1893 in Eisenach geborene promovierte Germanist und Zeitungsredakteur Hans Severus Ziegler hatte 1920 in Jena bei einer Weihnachtsfeier des Bauhauses schockierende Beobachtungen gemacht: „Ungewaschene und ungekämmte Jünglinge und Jungfrauen verjazzten im Saal des Jenaer Stadttheaters auf einem Klavier sämtliche deutschen Weihnachtslieder.“4 1922 zog Ziegler nach Weimar, wo sein Mentor, der völkisch-antisemitische 2 Vgl.: Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart u. a. 1994, S. 298–300. 3 Vgl.: Nina Okrassa, Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Köln u. a. 2004, S. 140. 4 Hans Severus Ziegler, Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt, Göttingen 31965, S. 107.

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Schriftsteller Adolf Bartels (1862–1945), lebte.5 Ziegler betreute hier als Redakteur dessen Zeitschrift Deutsches Schrifttum und fand Anschluss an nationalsozialistische Ideen. Zu einer Art Erweckungserlebnis wurde für ihn 1925 die Begegnung mit Adolf Hitler, den er durch Weimar führte; dabei entdeckten beide Männer ihre gemeinsame Liebe zu Richard Wagner.6 Ein Jahr später gehörte Ziegler zu den Organisatoren des 2. Reichsparteitags der NSDAP in Weimar. Er war auch verantwortlich für eine Theaterdenkschrift der Landesleitung der Partei, die er dem Generalintendanten des Deutschen Nationaltheaters überreichte. Darin forderte er diesen auf, den Spielplan vor Überfremdung zu bewahren, jüdische Elemente zurückzudrängen und auf Experimente mit „törichten atonalen Musikwerken“ zu verzichten.7 In der Zeitung Der Nationalsozialist setzte Ziegler diese Polemik fort, ebenso in der von ihm gegründeten Weimarer Ortsgruppe des „Kampfbundes für deutsche Kultur“. Ziel dieser Organisation war es, „das deutsche Volk über die Zusammenhänge zwischen Rasse, Kunst und Wissenschaft, sittlichen und willenhaften Werten aufzuklären“.8 Im Januar 1930 kam es in Thüringen zu einer Koalitionsregierung unter Beteiligung der NSDAP. Wilhelm Frick, ein Vertrauter Adolf Hitlers, wurde Innenminister; er berief Ziegler zum Fachreferenten für Kunst und Theater im Volksbildungsministerium. Dieser formulierte für das Amtsblatt des Ministeriums einen Erlass mit der Überschrift „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“.9 Dort hieß es: „Seit Jahren machen sich fast auf allen kulturellen Gebieten fremdrassige Einflüsse geltend, die die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet sind.“ Ziegler überging die Judenfrage und konzentrierte sich auf den Jazz. Seine Auseinandersetzung mit der Krenek-Oper dürfte den Ausschlag gegeben haben, wenn er über die fremdrassigen Einflüsse schrieb: Einen breiten Raum nehmen dabei die Erzeugnisse ein, die, wie Jazzband- und Schlagzeug-Musik, Negertänze, Negergesänge, Negerstücke, eine Verherrlichung des Negertums darstellen und dem deutschen Kulturempfinden ins Gesicht schlagen. Diese Zersetzungserscheinungen nach Möglichkeit zu unterbinden, liegt im Interesse der Erhaltung und Erstarkung des deutschen Volkstums.10

Gestützt auf diesen Erlass wurden die Dreigroschenoper und Bühnenwerke von Leoš Janáček verboten.11 Für „Säuberungen“ im Bereich der bildenden Kunst sorgte gleichzeitig der Architekt Paul Schultze-Naumburg, der als neuer Direktor der Weimarer Hochschule für

  5 Adolf Bartels wurde 1937 zum Ehrenbürger Weimars ernannt.   6 Vgl.: Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 126.   7 Theaterdenkschrift der NSDAP-Landesleitung und Landtagsfraktion Thüringen an Generalintendant Dr. Franz Ulbrich vom 10.06.1926, zitiert nach: Okrassa, Peter Raabe, (wie Anm. 3), S. 138.   8 Ebd., S. 141.   9 „Mittlerweile entwarf ich einen Erlaß gegen die ‚Negerkultur‘ und die ‚Verjazzung‘ deutscher Musikwerke und einen Erlaß zur Bekämpfung von ‚Schmutz und Schund‘.“ Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 211. 10 Erlass des Thüringischen Volksbildungsministeriums „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“, in: Jürgen John, Quellen zur Geschichte Thüringens, Bd. 3: 1918–1945, Erfurt 1996, S. 140 f. 11 Vgl.: Okrassa, Peter Raabe, (wie Anm. 3), S. 143.

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bildende Kunst einen „Bildersturm“ organisierte.12 Schultze-Naumburg hatte schon 1928 in seinem Buch Kunst und Rasse expressionistische Malerei mit Fotografien körperlich und geistig Behinderter verglichen. Dank ihres gerade in Thüringen gewachsenen Einflusses gewann die Hitler-Partei ab 1930 auch unter den Mitarbeitern des Weimarer Nationaltheaters neue Mitglieder; so traten im Oktober 1930 der Kapellmeister Paul Sixt13 und vermutlich sein Dirigentenkollege Ernst Nobbe dieser Partei bei. Gestützt auf solche Parteigenossen verlangte Ziegler im Dezember vom zuständigen Ministerialrat die Abberufung von Praetorius. Diesem sei ein wesentlicher Bestandteil nordisch-deutscher Kunst, nämlich alles Religiös-Mystische, fremd. Stattdessen böte Praetorius ständig neue Jazz-Überraschungen mit „reichlich viel Negermusik“.14 In diesem Schreiben forderte Ziegler für das Nationaltheater Weimar „als ausgesprochen nationale Bühne des Reiches“ eine „betont deutsch eingestellt(e)“ Leitung. Als Praetorius-Nachfolger schlug er den 1. Kapellmeister Ernst Nobbe vor. Nobbe, 1894 in Elberfeld geboren, hatte in Leipzig im Fach Musikwissenschaft promoviert und dann eine Kapellmeisterlaufbahn eingeschlagen. 1927 war er als 2. Kapellmeister und Operndramaturg ans Nationaltheater Weimar gekommen. Im gleichen Jahr hatte der damals gerade erst 19-jährige Paul Sixt hier eine Korrepetitorstelle erhalten. Ihn nannte Ziegler einen „äußerst befähigten und intensiven Musiker“, der weitere Förderung verdiene. In dem erwähnten Brief vom Dezember 1930 empfahl er Nobbe und Sixt dem zuständigen Ministerialrat. Mit ihnen, so Ziegler, sei die gewünschte Neuorganisation des Weimarer Theaters durchführbar, brauche man doch „zuverlässig deutsche Persönlichkeiten, die den elementaren Zusammenhang von Kunst und Rasse endlich begreifen“.15 Obwohl Frick und sein Theaterreferent nach einem Misstrauensvotum gegen die NSDAP schon im April 1931 ihre staatlichen Ämter verloren, hielt Ziegler an seinen Theaterideen fest. Formuliert hatte er sie auch in einer Broschüre Kulturpolitische Richtlinien des 3. Reichs, die 1930 im Münchner Franz-Eher-Verlag erschien. Zusammen mit Wilhelm Frick, Paul Schultze-Naumburg, Richard Walther Darré und Hans F. K. Günther gehörte Ziegler zu einem 1929 gegründeten „Saalecker Kreis“ nationalsozialistischer Rassenideologen. Diese Gruppierung löste sich 1933 auf, als nach der Machtübergabe an Adolf Hitler Frick Reichsinnenminister wurde, Darré Reichsbauernführer und Günther Professor für Rassenkunde an der Universität Berlin (ab 1935). Hans Severus Ziegler wurde unter dem NS-Regime Gaukulturwart, erster Dramaturg und künstlerischer Leiter des Schauspiels am National12 Ziegler gab an, den Architekten zum Umzug nach Weimar bewegt zu haben. Vgl.: Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 208. 13 Vgl.: Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945. CD-ROM, Version 1.1-2/2005, S. 7095. 14 Ziegler am 21.12.1930 an einen Ministerialrat, Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LaTh-HStA Weimar), Thüringisches Ministerium für Volksbildung 1277, Bl. 232– 235. Zitiert nach: Sonja Neumann, „Zieglers ‚Kulturpolitik‘ am ‚Deutschen Nationaltheater Weimar‘ – Zwei Beispiele“, in: „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz: ein Projekt der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar zum Kulturhauptstadtjahr 1999, hrsg. v. Hanns-Werner Heister, Saarbrücken 2001, S. 401–409, hier S. 403. 15 Ebd., S. 404.

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theater Weimar sowie Staatskommissar für alle thüringischen Landestheater. In dieser Funktion konnte er endlich die Entlassung von Ernst Praetorius durchsetzen.16 Zu dessen Nachfolger bestimmte er Ernst Nobbe. Diesem vertraute er nicht nur die Position des Generalmusikdirektors an, sondern auch gleichzeitig die des Generalintendanten17, denn Franz Ulbrich, der bisherige Intendant, war nach Berlin berufen worden. Nobbe und Ziegler, die nun am Nationaltheater Weimar eng zusammenarbeiteten, verfochten gemeinsame Ideen. In einer 1931/32 verfassten Denkschrift hatte Nobbe den jüdischen Einfluss auf die deutschen Theater beklagt. Er schrieb damals: „Den Spielplan beherrschen in Oper und Schauspiel Werke jüdisch-marxistischer Prägung. Sie werden durch jüdisch-marxistische Leiter, Verleger und Presse in den Vordergrund gerückt.“ Vom Volk als unecht erkannte atonale Musik habe das Publikum vergrault. Dagegen forderte Nobbe, eine jedem Deutschen zugängliche Volksbühne solle bedeutende deutsche Werke der letzten beiden Jahrhunderte präsentieren. „Diese Meisterwerke, einzigartig in der Welt, wären imstande, ein großes Zeitalter idealistischer dramatischer Bühnenkunst und Musik heraufzuführen, in dem die ganze Nation geistig leben würde.“18 Als Ziegler im Herbst 1933 seine Broschüre Das Theater des deutschen Volkes. Ein Beitrag zur Volkserziehung und Propa­ ganda herausbrachte, erwähnte er Nobbes Denkschrift. Auch Hitler und Goebbels hätten sie „als richtunggebend anerkannt“.19 Besonders ging er auf den Bühnenfestspielgedanken Richard Wagners ein und auf die Forderung seines Lehrers Adolf Bartels, Weimar zu einem „Bayreuth des Schauspiels“ zu entwickeln.20 Wie Wagner sein Bühnenweihfestspiel Parsi­ fal für Bayreuth reservieren wollte, so könne man die Aufführung von Goethes Faust, „des tiefsten deutschen Mysteriums“, der Weimarer Bühne vorbehalten.21 Dazu müsste in Weimar ein gigantisches „Volkstheater der deutschen Nation“ errichtet werden.

16 Vgl. dazu auch: Irina Lucke-Kaminiarz, „Der Fall Dr. Ernst Praetorius. Seine Hintergründe und Wir­­ kun­gen“, in: Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, hrsg. v. Helen Geyer u. Maria Stolarzewicz, (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 16), Köln u. a. 2020, S. 81–108. 17 Vgl.: Nobbes Dienstvertrag vom 31.03.1933, LaTh-HStA Weimar, Personalakte Hans Severus Zieg­­ ler, Thüringisches Ministerium für Volksbildung 34848 (im Folgenden: Personalakte H. S. Ziegler), Bl. 2.  18 Ernst Nobbe, „Aus einer Denkschrift zur ‚Sanierung des Deutschen Theaters‘“, in: Ernst Nobbe, Die thematische Entwicklung der Sonatenform im Sinne der Hegel’schen Philosophie betrachtet (= Musik und Nation, Schriftenreihe des musikwissenschaftlichen Seminars der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hrsg. v. Univ.-Dozent Dr. Otto zur Nedden, Bd. 2), Würzburg 1941, S. 92–96, hier S. 93. 19 Hans Severus Ziegler, Das Theater des deutschen Volkes. Ein Beitrag zur Volkserziehung und Propaganda, Leipzig 1933, S. 31. 20 Vgl.: Albrecht Dümling, „Weimar als ‚Bayreuth des Schauspiels‘. Theater und völkische Erziehung bei Hans Severus Ziegler“, in: Kunst, Ästhetisches, Ästhetizismus. Die Ambivalenz der Moderne, Bd. II, hrsg. v. Hanns-Werner Heister, Berlin 2007, S. 111–120. Vgl. auch: Justus H. Ulbricht, „‚Weimar ist unser Olympia geistiger Kraft‘. ‚Ilm-Athens‘ Festspielkultur – eine Annäherung“, in: „Entartete Musik“ 1938, (wie Anm. 14), S. 536–556. 21 Ziegler, Das Theater des deutschen Volkes, (wie Anm. 19), S. 16.

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Abb. 4: Dr. Ernst Nobbe, Jahresschau des DNT Weimar, 1933/34, S. 8, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar.

Verfemt nach dem Röhm-Putsch Solche hochfliegenden Pläne konnten aus mehreren Gründen jedoch nicht realisiert werden. Ernst Nobbe, der neue Generalintendant und Generalmusikdirektor des Nationaltheaters, erkrankte bereits im April 1934 an Gelenkrheumatismus und musste beurlaubt werden. Ziegler übernahm kommissarisch das Amt des Generalintendanten. Zwei Monate später kam es nach dem sogenannten Röhm-Putsch im Juni 1934 zur gewaltsamen Ausschaltung der SA-Führung, wobei der Vorwurf der Homosexualität eine wesentliche Rolle spielte. Dies schwächte die Position Zieglers, denn auch ihm wurden jetzt homosexuelle Neigungen vorgeworfen. Obwohl der Volksbildungsminister Fritz Wächtler sich am 3. Juli in einer öffentlichen Verlautbarung diesen Gerüchten entgegenstellte, ließen sie nicht nach. Ziegler beantragte daraufhin Urlaub wegen einer angeblichen Angina.22 Sein Theater stürzte in eine schwere Krise. Ernst Nobbe trat zum 1. Januar 1935 wieder den Dienst an,23 jedoch Ziegler stand weiter in der Kritik. Am 13. Januar klagte er in einem Brief an den homosexuellen Schriftsteller Erich Ebermayer, er werde gehasst, verfolgt und gemein verleumdet. Er werde deshalb zu Hitler gehen und von ihm eine klare Entscheidung fordern. „Ich bin der einzige Pg. in der Bewegung, der die Möglichkeit hat, so zu sprechen,

22 Hans Severus Ziegler am 31.08.1934 an Ministerpräsident Willy Marschler, LaTh-HStA Weimar, Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 7. 23 Entsprechend einer ärztlichen Bescheinigung vom 30.06.1934 hätte Nobbe eigentlich schon zum Spielzeitbeginn wieder zum Dienst antreten sollen, Meldung Ernst Nobbe am 03.01.1935 an den Thüringischen Minister für Volksbildung, LaTh-HStA Weimar, Personalakte Ernst Nobbe.

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von der Warte, von der aus das Thema behandelt sein will.“24 Ende Januar 1935 ließ sich Ziegler von allen Ämtern beurlauben. Es folgte eine amtliche Untersuchung seines Falles durch den Weimarer Oberstaatsanwalt Dr. Heinrich Seesemann mit der Vernehmung von Zeugen. Im März wurde das Verfahren eingestellt. In einer Verlautbarung hieß es: „Das Ergebnis der umfangreichen Ermittlungen lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass irgendwelche nach dem Strafgesetz strafbare Handlungen Dr. Zieglers zweifelsfrei nicht vorliegen.“25 Hans Severus Ziegler nahm seine Arbeit als Schauspieldirektor am Nationaltheater wieder auf. Die Gerüchte über seine Homosexualität ließen aber nicht nach, wie er seinem Freund Ebermayer im Juni offenbarte: „Ich mache noch immer unendlich Schweres durch.“26 Von den Gerüchten gegen Ziegler hatte auch Frankfurts Oberbürgermeister und Staatsrat Friedrich Krebs erfahren. Ihm war von einer desolaten Situation am Nationaltheater Weimar berichtet worden. Die dortigen Vorstellungen seien wegen eines Publikumsboykotts fast leer, was daran liege, wie Krebs in sein Tagebuch notierte, dass „in der Leitung Herr Dr. Ziegler sitze, der zugegebenermaßen homosexuelle Neigungen habe. Entsprechende Anschläge seien am Theater selbst angeschlagen gewesen“.27 Ganz haltlos waren die genannten Vorwürfe offenbar nicht, denn Minister Goebbels hielt es für angebracht, Zieglers Freundeskreis am Weimarer Nationaltheater aufzulösen. Zu diesem Kreis gehörte auch der Musikwissenschaftler Otto zur Nedden, den Ziegler 1934 zum Chefdramaturgen für Schauspiel und Oper berufen hatte. Nedden war zuvor Landesleiter des württembergischen „Kampfbundes für deutsche Kultur“ gewesen, hatte aber wegen des Verdachts auf § 175 seine Tübinger Universitätsstelle sowie die Position als Regierungsrat am Stuttgarter Kultusministerium verloren.28 1935 wurde seine Parteimitgliedschaft für zwei Jahre ausgesetzt, bevor er die Leitung des musikwissenschaftlichen Instituts in Jena erhielt. Vermutlich gehörte auch Eugen Bodart, der 2. Kapellmeister am Weimarer Theater, zum Ziegler-Kreis. Er wurde in jenem Jahr ans Kölner Opernhaus versetzt, wo er auch danach noch in den Verdacht „homosexueller Neigungen“29 geriet. Gegen den 1. Kapellmeister Paul Sixt wurden dagegen keine Vorwürfe laut, weshalb er bleiben

24 Alexander Zinn, „Aus dem Volkskörper entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus, Frank­ furt a. M. 2018, S. 352. 25 Zeitungsausschnitt, LaTh-HStA Weimar, Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 9. 26 Erich Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland: Persönliches und politisches Tagebuch, Wien 1959, S. 535. Zitiert nach: Zinn, Aus dem Volkskörper, (wie Anm. 24), S. 355. 27 Magistratsakten, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Nachlass OB Friedrich Krebs, Sig­ na­tur: S 1/50: 1–3: Tagebuch, Eintragung vom 01.01.1935. 28 Heinrich Besseler am 15.05.1936 an Regierungsrat Dr. Gerhard Hinz im Reichserziehungsministe­ rium (Akte Otto zur Nedden im Berlin Document Center). 1940 sprach Dr. Herbert Gerigk in einem Gutachten von Gerüchten, „die auf homosexuelle Neigungen zur Neddens schließen lassen“. Zitiert nach: Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, (wie Anm. 13), S. 5156. Nach einem Gutachten des Regierungsrates Dr. Martin Miederer vom 23.01.1945 hätten die Untersuchungen wegen § 175 seinerzeit zu keinen Ergebnissen geführt (Akte Nedden im Berlin Document Center). 29 Vgl.: Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, (wie Anm. 13), S. 566.

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Hans Severus Ziegler, Ernst Nobbe und Paul Sixt

durfte. Nachdem seine Gage schon im Vorjahr erhöht worden war,30 wurde er im Mai 1935 zum Staatskapellmeister ernannt. Außerdem erhielt Sixt eine Sonderzulage von 100 RM aus Reichsmitteln.31 Hans Severus Ziegler war zutiefst enttäuscht, dass die erhoffte Aussprache mit Hitler nicht zustande kam. Er fasste in diesem Jahr sogar den Entschluss, Weimar zu verlassen. Am 19. Oktober fragte er Hitler in einem Brief, ob man ihn nicht auf den vakanten Posten des Dresdner Generalintendanten versetzen könne.32 Eine Antwort auf dieses Schreiben erhielt er nur indirekt über den thüringischen Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel.33 Auf Hitlers Wunsch blieb Ziegler daraufhin in Weimar, wo er sich nun noch stärker als zuvor als fanatischer Nationalsozialist betätigte.

Die Weimarer Tonkünstlerversammlung

Abb. 5: Programmbuch zur 67. Tonkünstler­ versammlung 1936 in Weimar, Archiv Albrecht Dümling, Berlin.

30 Am 25.05.1934 wurde ein neuer Dienstvertrag genehmigt; ab 1. Sept. betrug seine Brutto-Monatsgage 516 RM, LaTh-HStA  Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters (DNT), Personalakte Paul Sixt 223, Bl. 40. 31 Vgl.: Mitteilung an Paul Sixt vom 06.05.1935, LaTh-HStA Weimar, Generalintendanz DNT, Personalakte Paul Sixt 223, Bl. 44. 32 Vgl.: Joseph Wulf, Theater und Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1989, S. 137. 33 Vgl.: Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 13.

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Die 67. Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (ADMV), die im Juni 1936 in Weimar stattfinden sollte, gab Ziegler die erwünschte Gelegenheit, seine kulturpolitische Wachsamkeit unter Beweis zu stellen. Gemeinsam mit Fritz Sauckel und Ernst Nobbe gehörte er dem Ehrenausschuss der Veranstaltung an und war deshalb an den Vorbereitungen beteiligt. Zusammen mit Nobbe und Otto zur Nedden, die im Arbeitsausschuss saßen, führte Ziegler einen Kampf gegen angeblich „kulturbolschewistische“ Werke aus dem Programm. Auf seine besondere Kritik stieß die Oper Dr. Johannes Faust von Hermann Reutter. Dieser Komponist, zugleich Mitglied des Musikausschusses beim ADMV, war einst ebenfalls in den Verdacht homosexueller Neigungen geraten.34 Nobbe hatte den Ersatz seiner Faust-Oper durch ein anderes Bühnenwerk vorgeschlagen, konnte sich jedoch gegen den Reichsmusikkammerpräsidenten Peter Raabe, den Vorsitzenden auch des ADMV, nicht durchsetzen. Dennoch ergriff Ziegler am 13. Juni beim Ersten Orchesterkonzert der Tonkünstlerversammlung das Wort mit einer Warnung vor Kulturbolschewismus.35 Ein Artikel „Atonalität und Kunstbolschewismus in der Musik“ war am gleichen Tag in der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung „Deutschland“ erschienen.36 Ernst Nobbe hatte dort geschrieben, die atonale Musik entspreche der Auflösung der staatlichen Ordnung im Revolutionsjahr 1918 und werde in erster Linie durch jüdische Komponisten repräsentiert. Dies griff Ziegler in seinem spontanen Grußwort auf, bevor gemäß dem offiziellen Programm die Ansprache des ADMV-Vorsitzenden Peter Raabe folgte. Ohne auf Ziegler einzugehen, forderte er eine sachliche und faire Kritik an den aufgeführten Werken; eine gesunde Entwicklung der Kunst sei allerdings ohne Kühnheit und ohne Experiment nicht möglich.37 Raabe kannte Weimar gut, hatte er hier doch von 1907 bis 1920 die Hofkapelle geleitet. 1931 hatte er Ernst Praetorius erfolgreich gegen Zieglers Entlassungsforderung verteidigt.38 Wie damals wollte Raabe auch jetzt bei der Programmauswahl nur künstlerische Kriterien gelten lassen. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er sogar Hitler nach Weimar einlud. Schließlich wurde in diesem Jahr 1936 das 75-jährige Bestehen des 1861 von Franz Liszt in Weimar gegründeten Musikvereins gefeiert. Hitler sagte ab, worauf sich Reichsminister Goebbels zur Teilnahme entschloss. Ziegler holte ihn am Flughafen Erfurt ab und berichtete dem Minister unterwegs, es werde auf der Tonkünstlerversammlung „fast nur atonale Musik“ geboten. Goebbels war entsetzt. Er brach die Fahrt ab und kehrte umgehend nach

34 Vgl.: Abrecht Dümling, Anpassungsdruck und Selbstbehauptung. Der Schott-Verlag im „Dritten Reich“, Regensburg 2020, S. 51. 35 Otto Reuter, Ansprache des Staatsrats Dr. Ziegler vor dem Beginn des 1. Orchesterkonzerts, in: All­ gemeine Thüringische Landeszeitung „Deutschland“, 15.06.1936. Zitiert nach: Okrassa, Peter Raabe, (wie Anm. 3), S. 287. 36 Vgl.: Ernst Nobbe, „Atonalität und Kunstbolschewismus in der Musik“, in: Nobbe, Die thematische Entwicklung der Sonatenform, (wie Anm. 18), S. 89–91. 37 Vgl.: Rede zur Eröffnung der 67. Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins, in: Zeitschrift für Musik, 103 (1936), S. 812–816. 38 Vgl.: Okrassa, Peter Raabe, (wie Anm. 3), S. 145 f.

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Berlin zurück. In sein Tagebuch notierte er: „Raabe hat da schwer daneben gehauen. […] Jetzt werde ich aber dazwischen fahren. Und Remedur schaffen.“39 Die beim Tonkünstlerfest aufgeführten neuen Werke unter anderem von Cesar Bresgen, Hugo Distler, Wolfgang Fortner, Harald Genzmer, Hermann Reutter und Heinz Tiessen gehörten stilistisch zur musikalischen Moderne, jedoch nicht zur Atonalität. Obwohl Joseph Goebbels nach seiner Rückkehr erfuhr, dass die in Weimar gespielte Musik keineswegs so atonal war, wie Ziegler es dargestellt hatte, verwirklichte er die angedrohte „Remedur“. Er beschloss die Auflösung des traditionsreichen Allgemeinen Deutschen Musikvereins. Außerdem begann er mit der Einrichtung einer Musikabteilung in seinem eigenen Ministerium; zu deren Leiter bestimmte er Zieglers Protegé Heinz Drewes.

Ziegler – Nobbe – Sixt – Nedden 1936–37 Ernst Nobbe dirigierte bei der Weimarer Tonkünstlerversammlung zwei Orchesterkonzerte, außerdem die Faust-Oper von Hermann Reutter. Ludwig Strecker, dem Inhaber des Schott-Verlags, gefiel diese Produktion sogar besser als die Frankfurter Uraufführung.40 Nur eine Woche nach dem Ende der Tonkünstlerversammlung schrieb Reichsstatthalter Fritz Sauckel an Nobbe einen persönlichen Brief, in dem er ihm mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand einen ganzjährigen Urlaub empfahl. „Ich halte es für meine Pflicht, in dieser Sache rechtzeitig Schritte in Ihrem Interesse zu unternehmen und Ihnen endlich die Chance einer wirklichen Wiederherstellung besonders auch der angegriffenen Gelenke zu gewähren.“41 Es sei mit Goebbels abgesprochen, dass Nobbe während dieser Zeit weiter seine Bezüge erhalte. Sauckel veranlasste ein medizinisches Gutachten, das bei dem Patienten eine deutliche Besserung feststellte; laut dieser ärztlichen Diagnose waren bei ihm nur noch Reste des Gelenkrheumatismus erkennbar.42 Dennoch nahm Nobbe das Angebot des Reichsstatthalters an und dankte ihm für seine „tief bewegende Hochherzigkeit und Güte“.43 Ausgerechnet mit Reutters Faust-Oper beendete er seine Weimarer Dirigentenlaufbahn. Die ganzjährige Beurlaubung rief auch außerhalb Weimars Verwunderung hervor. So warnte der persönliche Referent des Reichsinnenministers den thüringischen Reichsstatthalter, durch die Beurlaubung des Generalintendanten entstehe der Eindruck seiner Kaltstellung.44 Tatsächlich war die Rückkehr Nobbes auf 39 Tagebucheintragung vom 16.06.1936, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. v. Elke Fröhlich, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, T. I, Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 3/n, März 1936– Februar 1937, München 2001, S. 108. 40 Vgl.: Dümling, Anpassungsdruck und Selbstbehauptung, (wie Anm. 34), S. 43. 41 Reichsstatthalter Sauckel am 22.06.1936 an Ernst Nobbe, LaTh-HStA  Weimar,  Reichstatthalter 398, Bl. 6. 42 Vgl.: Prof. Dr. med. Wolfgang H. Veil am 25.06.1936 an Reichsstatthalter Sauckel, LaTh-HStA Weimar, Reichstatthalter 398, Bl. 11–12. 43 Ernst Nobbe am 06.07.1936 an Sauckel, LaTh-HStA Weimar, Reichstatthalter 398, Bl. 17. 44 Vgl.: Ministerialrat Dr. Metzner am 20.08.1936 an Sauckel, LaTh-HStA Weimar, Reichstatthalter 398, unfoliiert.

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Abb. 6: Ankündigung der Oper Dr. Johannes Faust von Hermann Reutter am 9. Juni 1936 im Deutschen Nationaltheater Weimar, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1906, Bl. 301.

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Abb. 7: Ankündigung der Morgenfeier zum 70. Geburtstag von Adolf Bartels am 16. November 1932 im Deutschen Nationaltheater Weimar, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1903, Bl. 71.

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seine ­Weimarer Stelle nicht ­vorgesehen.45 Auch Goebbels reagierte misstrauisch. Noch im Februar 1937 notierte er in sein Tagebuch: „Saukel [sic] will Nobbe wegloben, mit nicht ganz lauteren Mitteln.“46 Hans Severus Ziegler, der Nobbe bereits früher kommissarisch vertreten hatte, übernahm nun dauerhaft die Position des Generalintendanten. Stellvertretender Generalmusikdirektor wurde Paul Sixt, der sich schon als Operndirigent bewährt hatte. Karrierefördernd war für ihn wohl auch gewesen, dass er früh mit Ziegler zusammengearbeitet hatte, so 1932 bei einer Feier für dessen kulturpolitischen Ziehvater Adolf Bartels.47 Höheren Orts gerne gesehen war außerdem sein Hervortreten als Komponist. Sixt schuf ein Hymnisches Vor­ spiel für großes Orchester, Fanfaren und Orgel, das er dem Reichsstatthalter Sauckel widmete. Am 4. Juli 1936 dirigierte er die Uraufführung dieses Orchesterwerks zur 10-jährigen

Abb. 8: Ankündigung der Historischen Tagung anläßlich der 10jährigen Wieder­ kehr des ersten Reichsparteitages Weimar am 04. Juli 1936, im Deutschen Nationaltheater Weimar, LaTh-HStA Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1906, Bl. 332.

45 Am 08.08.1936 hatte der thüringische Minister für Volksbildung dem Propagandaministerium mitgeteilt, dass Nobbe nach Ablauf seines Urlaubs „die Geschäfte des Generalintendanten nicht wieder zu übernehmen wünscht, um sich ganz seinem musikalischen Schaffen zu widmen“, LaTh-HStA Wei­­mar, Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 19. 46 Tagebucheintragung vom 24.02.1937, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, (wie Anm. 39), S. 390. 47 Bei einer Veranstaltung am 1. Dezember 1935 im Deutschen Nationaltheater brachte Sixt zusam­ men mit dem Opernsänger Rudolf Lustig eigene Bartels-Vertonungen zum Vortrag.

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Abb. 9: Ankündigung der Großen Kundgebung im Deutschen Nationaltheater im Rahmen der Nordischen Theatertage in Weimar am 04. Februar 1937, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1907, Bl. 173.

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Abb. 10: Ankündigung der Feierstunde der Alten Garde des Gaues Thüringen am 20. April 1938 im Deutschen Nationaltheater Weimar, LaTh-HStA Weimar, Bestand: Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1908, Bl. 249.

Wiederkehr des Weimarer Reichsparteitags. In dieser kulturpolitisch bedeutsamen Veranstaltung folgten auf den musikalischen Auftakt Reden hochrangiger Nazi-Führer: nach Sauckel und Rudolf Hess, dem Stellvertreter des „Führers“, sprach Adolf Hitler.48 Auch bei einer Kundgebung im Februar 1937 dirigierte Sixt nach Ansprachen von Ziegler und Sauckel wieder sein Vorspiel (hier als „Festliche Hymne“ bezeichnet).49 Der ehrgeizige Dirigent brachte sein Hymnisches Vorspiel noch bei anderen politischen Anlässen zur Aufführung, etwa im Mai 1937 beim Reichsführerlager der Hitlerjugend, im Januar 1938 bei der Lesung eines SA-Führers aus eigenen Werken oder im April 1938 zum Geburtstag des „Führers“. Der Reichsstatthalter und Gauleiter Fritz Sauckel fand Gefallen an dem jungen Musiker, der sich so bereitwillig in den Dienst des Staates stellte. Am 30. August 1937 bat er Reichsminister Goebbels in einem Fernschreiben, den bisherigen Staatskapellmeister Paul Sixt zum Generalmusikdirektor am Deutschen Nationaltheater in Weimar ernennen zu dürfen. Sixt sei bereits seit 1929 (!) Parteigenosse und habe „auf Grund seiner geradlinigen, 48 Vgl.: Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, (wie Anm. 13), S. 7095. In den ausführlichen Presseberichten hieß es, Sixt habe sein Orchesterwerk eigens für diesen Anlass komponiert. Vgl.: Volks­ gemeinschaft. Heidelberger Beobachter, 05.07.1936, S. 1. 1937 dirigierte Sixt auch das Konzert zur 10-Jahresfeier des Gauleiters, vgl.: Zeitschrift für Musik 1936/37, S. 1304. 49 Vgl.: Die Musik, 2. HJ, 1937, April 1937, S. 523.

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nationalsozialistischen und künstlerischen Haltung und als wertvolle Nachwuchskraft“ jede Förderung verdient.50 Im Oktober wurde daraufhin gemeldet, Ernst Nobbe sei als Generalintendant nach Altenburg berufen worden und Paul Sixt werde in Weimar dessen Nachfolger als Generalmusikdirektor und Operndirektor.51 Seine Anpassungsbereitschaft an das Regime verbunden mit den notwendigen künstlerischen Fähigkeiten hatten Sixt zur Blitzkarriere verholfen. Betrugen seine Jahresgagen vor 1933 noch 2100 RM (1930) und 3300 RM (1932), so wurden ihm 1934 bereits über 6000 RM gezahlt. Als Generalmusikdirektor erhielt er ab 1937 das Doppelte, nämlich 12.000 RM, wobei jährliche Steigerungen vorgesehen waren.52

Die Ausstellung Entartete Musik Als Generalintendant des Weimarer Nationaltheaters wollte Hans Severus Ziegler seine kulturpolitischen Ziele verwirklichen, nicht zuletzt die Verwendung von Kunst zur völkischen Erziehung des Publikums. Das Theater Weimar sollte darin für das ganze Deutsche Reich eine Vorbildfunktion haben.53 In seiner 1933 veröffentlichten Schrift Das Theater des deutschen Volkes. Ein Beitrag zur Volkserziehung und Propaganda hatte Ziegler den WeimarGedanken besonders hervorgehoben.54 Dazu gehörte die Orientierung an Johann Wolfgang von Goethe, den er als „Erzieher zu Volkstum, Führertum und Nation“ begriff.55 Es galt also, den Dichter in diesem Sinne zu propagieren und gegen Kritik zu verteidigen. Als im Juni 1936 die Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar stattfand, forderte Ziegler dort ein „Gesetz zum Schutz der Großen der Nation“.56 Goethes Faust sah er, ebenso wie Wagners Parsifal, als ein Beispiel für das Erhabene und religionsartig Kultische der Kunst, zu dem der Nationalsozialismus zurückkehren wollte. „Das Theater war Kultstätte und soll es, wenn auch in anderer Form wie das alte, wieder werden.“57 Neben dem Theater gehörte auch die Musik zum Zuständigkeitsbereich des Generalintendanten. Sie war für Ziegler sogar „einer der heiligsten Bezirke unseres ganzen inneren Daseins als völkische Menschen“.58 Deshalb setzte er seinen Kampf gegen die sogenannte „Negermusik“ und gegen die Atonalität fort. Die Ausstellung Entartete Kunst, die im 50 Fernschreiben Reichsstatthalter Sauckel vom 30.08.1937 an Reichsminister Goebbels, LaTh-HStA Weimar, Reichstatthalter 395, Bl. 119. Reichsstatthalter Sauckel hatte im Juni 1937 das ehemalige Fürstenhaus, die heutige Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, als Dienstsitz bezogen. 51 Vgl.: Zeitschrift für Musik, Okt. 1937, S. 1166. 52 Vgl.: Dienstvertrag 1937, LaTh-HStA Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters 223, Personalakte Paul Sixt, Bl. 138. 53 Ziegler berief sich dabei auch auf Otto Erlers Aufsatz „Weimars kulturelle Sendung im neuen Reich“. Vgl.: Ziegler, Das Theater des deutschen Volkes, (wie Anm. 19), S. 18. 54 Vgl.: ebd., S. 4. 55 Dümling, „Weimar als ‚Bayreuth des Schauspiels‘“, (wie Anm. 20), S. 111. 56 Vgl.: Josef Wulf, Kultur im Dritten Reich. Literatur und Dichtung, Frankfurt a. M. 1989, S. 387. 57 Ziegler, Das Theater des deutschen Volkes, (wie Anm. 19), S. 8. 58 Hans Severus Ziegler, „Entartete Musik“, in: Das verdächtige Saxophon, (wie Anm. 1), S. 166.

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Juli 1937 in München gezeigt wurde, regte ihn zu einer ähnlichen Schau für das Gebiet der Musik an. Die Kunstausstellung bildete in der bayerischen Hauptstadt den negativen Gegenpol zur Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung. Diese zeigte im tempelartigen neuen Haus der Kunst solche Bildwerke und Skulpturen des Dritten Reiches, die als vorbildlich gelten sollten. Ziegler dürfte erfahren haben, dass für das kommende Jahr 1938 eine ähnlich für ganz Deutschland repräsentative Musikveranstaltung vorbereitet wurde. Sogenannte Reichsmusiktage sollten, wie es Goebbels am 21. September 1937 in sein Tagebuch notierte, „statt der Tonkünstlerfeste das Volk an die Musik heranführen“.59 Verantwortlich für diese mehrtägige Großveranstaltung war Heinz Drewes, dem Ziegler einst die Position als Generalmusikdirektor und Generalintendant in Altenburg verschafft hatte. Jetzt war Drewes als Leiter der Abteilung Musik im Goebbels-Ministerium zum Gegenspieler des Reichsmusikkammerpräsidenten Peter Raabe geworden. Zieglers Attacke auf die Weimarer Tonkünstlerversammlung hatte zur Auflösung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins geführt, jedoch die Programmauswahl nicht ändern können. Seine Auseinandersetzung mit der musikalischen Moderne hatte er aber weitergeführt. So hatte Ziegler im November 1936 Goebbels vor atonalen Tendenzen in der Hitler-Jugend gewarnt. Einen Monat später hatte der Minister nach einem Gespräch mit dem Kammerpräsidenten in sein Tagebuch notiert: „Raabe muß die Musik näher ans Volk bringen. Und sich ganz von der Atonalität trennen.“60 Ohne Auftrag, ganz auf eigene Initiative begann Ziegler im Herbst 1937 mit der Vorbereitung zur Ausstellung Entartete Musik. Ganz in seinem Sinne bekämpfte unterdessen in Berlin auch Heinz Drewes die Atonalität. So informierte er im Oktober 1937 seinen Dienstherrn, Peter Raabe bringe schon wieder atonale Musik zur Aufführung. Offenbar bezeichnete sie Drewes bei dieser Gelegenheit als „entartet“. Goebbels jedenfalls notierte, er habe die „Proben von entarteter Musik“ gehört, „die Drewes gegen Raabe vorlegt“. Den Minister konnte Drewes damit allerdings nicht überzeugen. „Das ist zwar keine geniale, aber auch keine entartete Musik. Fortner etc. Drewes geht da in seinem Kampf gegen Raabe zu weit.“61 Da Hans Severus Ziegler offenbar ebenso wie Heinz Drewes nur eine ungenaue Vorstellung davon hatte, was eigentlich „entartete Musik“ sei, holte er sich bei der Vorbereitung der Ausstellung fachliche Unterstützung bei Paul Sixt. Seinem treu ergebenen Generalmusikdirektor übertrug er die schwierige Auswahl von Komponisten und Werken, die als „entartet“ gelten sollten. Im Rückblick bezeichnete Ziegler Sixt als einen „äußerst fleißigen und intensiven Musiker mit einem phänomenalen Gedächtnis, hochintelligent wie so viele Schwaben, geistig vital wie nur wenige Musiker“.62 Abgesehen von seiner Tätigkeit als Pianist und Dirigent bei kulturpolitischen Veranstaltungen war Paul Sixt zuvor nie mit politi59 Tagebucheintragung vom 12.09.1937, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. v. Elke Fröhlich, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte T. I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 4, März-November 1937, München 2000, S. 321. 60 Tagebucheintragung vom 10.12.1936, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, (wie Anm. 39), S. 285. 61 Tagebucheintragung vom 22.10.1937, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, (wie Anm. 59), S. 370. 62 Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 235.

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schen Äußerungen hervorgetreten. Offenbar aus Opportunismus hatte er sich der NSDAP angeschlossen. Nun erhielt er die überaus problematische Aufgabe der Komponisten-­ Selektion, wobei sein Chef ihn auf Nobbes Aufsatz „Atonalität und Kunstbolschewismus in der Musik“ hinwies. Später bestätigte Ziegler, Sixt habe ihn im Sinne von Ernst Nobbe beraten. In Frage kamen so mehrere Komponisten, deren Werke auf den Tonkünstlerfesten des Allgemeinen Deutschen Musikvereins vorgestellt worden waren. Sixt habe dabei aber „eher bremsend und warnend als über das Ziel hinausschießend zu wirken und zu helfen“ versucht.63 Es ist deshalb zweifelhaft, ob die Einbeziehung von Paul Hindemith und Igor Strawinsky in die Ausstellung auf Sixt zurückgeht. Ziegler dürfte ihn auch auf Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf hingewiesen haben, gegen die er schon 1928 protestiert hatte. Nicht zuletzt dürfte Ziegler die antisemitische Grundrichtung der Ausstellung betrieben haben. Schon im Oktober erfuhr Alfred Rosenberg, der „Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, von der Vorbereitung der Ausstellung und bat Ziegler um genauere Informationen.64 Welche Angaben Rosenberg erhalten hat, ist nicht bekannt. Man weiß nur, dass er daraufhin das „Institut für Deutsche Kultur- und Wirtschaftspropaganda“ eingeschaltet hat.65 Ziegler legte jedoch Wert darauf, die inhaltliche Konzeption der Ausstellung allein zusammen mit Sixt entwickelt zu haben.66 Die Einrichtung einer Musikabteilung im Propaganda-Ministerium hatte die Befugnisse der Reichsmusikkammer erheblich eingeschränkt.67 Damit hatten sich Heinz Drewes und indirekt auch Ziegler gegenüber Peter Raabe durchgesetzt. Dieser konnte auch durch einen scharfen Protest bei Goebbels68 nicht verhindern, dass die Ausstellung Entartete Musik 1938 im Rahmen der Düsseldorfer Reichsmusiktage gezeigt wurde. In der Halle 7 des Kunstpalastes hielt der in Uniform auftretende Hans Severus Ziegler am Dienstag, dem 24. Mai, eine Ansprache mit dem Titel Entartete Musik. Eine Abrechnung. Mit dem Untertitel seiner umfangreichen Eröffnungsrede bezog er sich auf Hitlers Buch Mein Kampf, aus dem er gleich zu Beginn zitierte. Außerdem berief sich Ziegler auf Adolf Bartels und dessen Auseinandersetzung mit jüdischen Schriftstellern und nicht zuletzt auf Richard Wagners 63 Ebd., S. 238. 64 Vgl.: Amt des Reichsleiters Rosenberg an Hans Severus Ziegler, 25.10.1937, BA Koblenz NS 15/162a. Im November 1937 berichtete ein erster Pressebericht über die Ausstellungsvorbereitungen, vgl.: Eugen Skasa-Weiss, „Geistiges Ungeziefer – aufgespießt. Plan einer Ausstellung in Thüringen“, in: Der Führer (Karlsruhe), 01.01.1937, ebenso im Münsterschen Anzeiger vom 20.11.1937. 65 Vgl.: Fred K. Prieberg, „Gründe und Hintergründe einer Ausstellung“, in: Das verdächtige Saxophon, (wie Anm. 1), S. 185–193, hier S. 189. 66 Ziegler am 18.01.1965 an Fred K. Prieberg, in: Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, (wie Anm. 13), S. 7977. 67 Vgl.: Albrecht Dümling, „Der trügerische Schein der Autonomie. Anspruch und Realität der Reichsmusikkammer“, in: Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten, hrsg. v. Wolfgang Benz, Peter Eckel, Andreas Nachama, Berlin 2015, S. 369–379, hier S. 378. 68 Albrecht Dümling, „Ein wahrer Hexensabbat. Die Ausstellung ‚Entartete Musik‘ im Widerstreit“, in: Übertönte Geschichten. Musikkultur in Weimar, hrsg. v. Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk, (= Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2011), Göttingen 2011, S. 198–205, hier S. 202 f.

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Schrift Das Judentum in der Musik. Sich selbst präsentierte er als verantwortungsbewussten Volkserzieher, der sich Sorgen mache um den mangelnden Rasseninstinkt der Deutschen. Als warnendes Beispiel verwies er auf die Oper Jonny spielt auf: Ein Volk, das dem „Jonny“, der ihm schon lange aufspielte, nahezu hysterisch zujubelt, mindestens aber instinktlos zuschaut, ist seelisch und geistig so krank geworden und innerlich so wirr und unsauber, daß es für die unendliche und immer wieder erschütternde Reinheit und Schlichtheit und Gemütstiefe der ersten Takte der „Freischütz“-Ouvertüre gar nichts mehr übrig haben kann.69

Der angeblichen Sensationslust des nach Sinnlichkeit gierenden Publikums stellte Ziegler damit die Reinheit, Schlichtheit und Gemütstiefe des Meisterwerks entgegen. Kreneks Jonny-Figur war der Gegenpol zum Idealbild der deutschen Musik. Deshalb zierte ein dunkelhäutiger Saxophonist als Inbegriff von „Entartung“ das Titelblatt der Ausstellungsbroschüre. Ernst Krenek war österreichischer Katholik. Da Ziegler aber überzeugt war, dass der enorme Erfolg seiner Oper Manipulationen jüdischer Verleger und Kritiker zu verdanken war, ersetzte er die Nelke im Knopfloch des Musikers durch einen Davidstern. Auch die Jazz-Begeisterung während der Weimarer Republik führte er auf jüdische Einflüsse zurück. Eine Abteilung der Ausstellung war deshalb überschrieben „Jüdisches Theater von einst im Jazz-Rythmus [sic]“.

Abb. 11: Titelblatt zur Ausstellungsbroschüre Entartete Musik, Düsseldorf 1938, Archiv Albrecht Dümling, Berlin.

69 Ziegler, „Entartete Musik“, (wie Anm. 58), S. 169. Dem Buch Dümlings, Das verdächtige Saxophon, (wie Anm. 1), liegt eine CD mit dem Originalton von Zieglers Ansprache bei.

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Einen großen Teil von Zieglers Eröffnungsrede nahm die Auseinandersetzung mit der Atonalität ein, wobei er ausführlich aus dem 1936 veröffentlichten Aufsatz Ernst Nobbes zitierte.70 Während er in seiner Rede in diesem Zusammenhang nur Arnold Schönberg erwähnte, wurde in der Ausstellung auf einer Tafel auch Paul Hindemith als „Theoretiker der Atonalität“ bezeichnet. Jedoch weder die dort angeführte Harmonielehre Schönbergs noch Hindemiths Unterweisung im Tonsatz sind Lehrbücher der Atonalität. Sollten wirklich Paul Sixt diese groben Fehler unterlaufen sein? Ohne Zweifel allein auf das Konto Zieglers dürfte der markige Kommentartext zurückgehen, der beide Komponisten als „gefährlichste Zerstörer unseres volks- und rassemäßigen Instinkts“ sowie als „wurzellose Scharlatane“ anprangerte. Auch Hermann Reutter war in der Ausstellung ursprünglich diffamiert worden; der Komponist konnte jedoch beim Düsseldorfer Bürgermeister die Entfernung der betreffenden Vitrine durchsetzen.71 Mit Ziegler war sein Chefdramaturg Otto zur Nedden angereist. Er stellte in Begleitvorträgen zur Ausstellung der musikalischen „Entartung“ bei Igor Strawinsky die „nordische“ Musik von Jean Sibelius als positives Beispiel entgegen.72 Vermutlich befand sich auch Paul Sixt damals in Düsseldorf, wiederholte das Städtische Orchester dort doch am 27. Mai sein bewährtes Hymnisches Vorspiel.

Zur Wirkung der Ausstellung Hans Severus Ziegler hatte gehofft, durch die Ausstellung Entartete Musik wieder allgemeine Anerkennung als guter und wachsamer Nationalsozialist zu erhalten. Aber Zustimmung kam nur von Anhängern Alfred Rosenbergs.73 Stattdessen hatte Peter Raabe schon Anfang Mai bei Goebbels scharf gegen diese Anmaßung eines musikalischen Laien protestiert. Das führte dazu, dass der Minister die Presse anwies, nur knapp über die Propagandaschau zu berichten; außerdem ließ er sie vorzeitig schließen. Noch mehr dürfte es Ziegler getroffen haben, dass ihn Frankfurts Oberbürgermeister Fritz Krebs am 28. Mai in einer Tagung des Amtes für Konzertwesen vor Gemeindeleitern, Dezernenten und Städtischen Musikbeauftragten als „minderwertig“ bezeichnet hatte – ein verhüllter Hinweis auf den gegen ihn erhobenen Verdacht der Homosexualität.74 Dass Ziegler daraufhin erkrankte und er

70 Vgl.: Albrecht Dümling, „‚Gefährlichste Zerstörer unseres rassemäßigen Instinkts‘. NS-Polemik gegen Atonalität“, in: Neue Zeitschrift für Musik, 1995, Heft 1, S. 20–29. 71 Vgl.: Albrecht Riethmüller, „Komposition im Deutschen Reich um 1936“, in: Archiv für Musik­ wissenschaft 38, 1981, S. 271. Auch Joseph Goebbels hatte Reutter am 12.01.1938 in seinem Tagebuch als „Atonalisten“ bezeichnet. 72 Vgl.: Albrecht Dümling, „Unter Berufung auf Goethe, Wagner und Hitler. Hans Severus Ziegler und die ideologischen Wurzeln der Ausstellung ‚Entartete Musik‘“, in: Heister, „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz, (wie Anm. 14), S. 503 f. 73 Vgl.: Walter Trienes, „Entartete Musik. Die zersetzende Wirkung des Judentums“, in: Westdeutscher Beobachter (Köln), 26.05.1938. 74 Vgl.: Dümling, „Ein wahrer Hexensabbat“, (wie Anm. 68), S. 202 ff.

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sich im Juli in ein Pflegeheim einliefern ließ,75 dürfte auch auf diese Angriffe zurückzuführen sein. Schwer traf ihn wenige Monate später der Tod seines Freundes und Kollegen Ernst Nobbe. Bei der Trauerfeier am 10. November 1938 hob Ziegler in Altenburg den gemeinsamen Widerstand gegen die „entartete Musik“ hervor. Mehrfach wiederholte er in seiner Ansprache den Begriff des Kampfes: Seit 10 Jahren kennen wir uns, wir fanden uns wissend und erkennend in der Nähe des Führers und wurden Kämpfer für sein Gedankengut. […] In den vielen Kampfjahren der Bewegung warst Du mir ein verständnisvoller Freund. Deine leidenschaftliche Kämpfernatur ließ auf musikpolitischem Gebiet dieses Gedankengut zur Tat werden. Dein Kampf galt der deutschen Musik. Deinen Kampf führtest Du gegen die Entartung der Musik.76

Im Frühjahr 1939 wurde die Ausstellung Entartete Musik auch am Wohnort ihrer Urheber in Weimar gezeigt. Als Veranstaltung der Reichspropagandaleitung der NSDAP war sie, gekoppelt mit der Schau Entartete Kunst, vom 23. März bis 24. April im Landesmuseum zu sehen. Das Nationaltheater wies durch den Abdruck eines Ziegler-Texts im Programmheft 28 der Spielzeit 1938/39 auf das Ereignis hin. Außerdem brachte es am Eröffnungstag in einer Bearbeitung Otto zur Neddens das Schauspiel Der Jude von Malta von Christopher Marlowe und verstärkte damit die antisemitische Stoßrichtung beider Ausstellungen.

Abb. 12: Hans Severus Ziegler, „Entartete Musik“, in: Programmheft Deutsches National­ theater Weimar, H. 28 der Spielzeit 1938/39, Archiv Albrecht Dümling, Berlin.

75 Vgl.: Ziegler am 25.07.1938 an das Büro des Ministerpräsidenten in Thüringen, ­LaTh-HStA Wei­ mar, Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 25. 76 Hans Severus Ziegler, „Trauerrede“, in: Altenburger Landeszeitung vom 11.11.1938; Archiv des Landestheaters Altenburg, Personalakte Ernst Nobbe. Vgl. auch: Otto Reuter, „Generalintendant Dr. Ernst Nobbe gestorben“, in: Weimarische Landeszeitung „Deutschland“, 09.11.1938 sowie der Nachruf im Völkischen Beobachter (Nord) vom 10.11.1938, zitiert bei Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, (wie Anm. 13), S. 5268.

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Abb. 13: Ankündigung des Schauspiels Der Jude von Malta von Christopher Marlowe am 23. März 1939 im Deutschen Nationaltheater Weimar, für die deutsche Bühne neu gestaltet von Otto C. A. zur Nedden, LaTh-HStA Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Nr. 1909, Bl. 221.

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Hans Severus Ziegler fühlte sich jedoch immer noch angeschlagen. Noch vor der Schließung der Ausstellungen im Landesmuseum beantragte er bei Ministerpräsident Willy Marschler einen Vorschuss und kündigte für den Sommer „nach der gesundheitlichen Katastrophe des letzten Jahres“ eine Erholungsreise an.77 Obwohl Ziegler anwesend war, als im Mai auch in Wien beide Propaganda-Ausstellungen gezeigt wurden78 und obwohl im Juli eine zweite Auflage der Broschüre Entartete Musik herauskam,79 war seine Position am Nationaltheater offenbar immer noch gefährdet. Am 21. August bat er den Ministerpräsidenten in einem handschriftlichen Brief, abgesandt von seiner Privatadresse, „im Hinblick auf meine erhöhte Erholungsbedürftigkeit und nach der letztjährigen schweren Krankheit u. der sehr anstrengenden Spielzeit“ um einen Nachurlaub bis Mitte September.80 Der Antrag wurde genehmigt und Paul Sixt mit der Vertretung beauftragt. An oberster Stelle in Berlin wurde aber weiter über den „Fall Ziegler“ beraten. Da die schon lange erbetene persönliche Unterredung mit Hitler noch nicht stattgefunden hatte, schrieb Ziegler erneut einen Brief an den Reichskanzler. Reichsstatthalter Sauckel trug dies dem Leiter der Parteikanzlei vor, worauf dieser am 24. September Hitler darauf ansprach. Am nächsten Tag erhielt Sauckel die telefonische Nachricht, „daß Reichsleiter Bormann am 24.9.39 Gelegenheit gehabt hätte, dem Führer persönlich über den Fall Dr. Ziegler Vortrag zu halten. […] Außerdem hat Bormann dem Führer einen Brief von Ziegler vorgelegt. Der Führer hat daraufhin entschieden, daß Ziegler seinen Dienst als Intendant wieder antreten kann.“81 Dieses Dokument bleibt rätselhaft. Hatte Ziegler die gesundheitlichen Gründe für seine Beurlaubung nur vorgeschoben? War er in Wahrheit aus anderen Gründen aus seinem Amt entfernt worden? Hatte die Kritik an der Ausstellung Entartete Musik dazu geführt, dass der gegen ihn erhobene Vorwurf der Homosexualität erneut auf die Tagesordnung kam? Bekannt ist, dass gerade in Weimar die Oberstaatsanwaltschaft die Untersuchungen zum § 175 besonders gründlich durchführte.82 Ziegler berichtete später, er sei 1937 mit Adolf Hitler zu einer ausführlichen Unterredung zusammengetroffen.83 Falls dies zutrifft, kann aber bei dieser Gelegenheit das ihn bedrängende Thema nicht angesprochen worden sein. Vermittelt durch Reichsstatthalter Fritz Sauckel gab es schließlich, wie erwähnt, im Septem77 Hans Severus Ziegler am 14.04.1939 an Ministerpräsident Willy Marschler, LaTh-HStA Weimar, Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 39. 78 Vgl.: Albrecht Dümling, „‚Entartete Musik‘. Zur Rezeption der Ausstellungen in Düsseldorf, Weimar und Wien 1938–1939“, in: Beiträge ’90. Österreichische Gesellschaft für Musik. Österreichische Musiker im Exil – Kolloquium 1988, Kassel 1990, S. 85–93, hier S. 90. 79 Diese Auflage wurde durch ein Vorwort des Alfred Rosenberg nahestehenden Musikkritikers Friedrich W. Herzog eingeleitet. 80 Hans Severus Ziegler am 21.08.1939 an Ministerpräsident Willy Marschler, LaTh-HStA Weimar Personalakte H. S. Ziegler, Bl. 33. 81 Niederschrift über ein Telefongespräch mit Dr. Hansen vom Verbindungsstab des Stellvertreters des Führers am 25.09.1939 mittags, LaTh-HStA Weimar, Personalakte H. S. Ziegler, ohne Blattnummer. 82 Vgl.: Zinn, Aus dem Volkskörper, (wie Anm. 24), S. 359 ff. Erst ab 1939 ließ die Ermittlertätigkeit nach (S. 401). 83 Vgl.: Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 110 ff.

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ber 1939 doch noch eine Entscheidung von oberster Stelle. Zieglers Brief an Hitler konnte bisher nicht gefunden werden. Deshalb wissen wir nicht, wieweit die von ihm initiierte Ausstellung Entartete Musik Ziegler bei seiner Bemühung um Rehabilitation geholfen oder geschadet hat.84 In seinem 1963 veröffentlichten Hitler-Buch verschwieg er den Vorwurf der Homosexualität ganz. Er erwähnte nur den Ärger, den die Ausstellung ihm eingebracht hatte,85 bekannte sich aber weiter zu ihr. Sie sei sogar aktueller denn je.

84 Paul Sixt setzte dagegen seine Karriere ungehindert fort. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit am Nationaltheater wurde er 1939 zum Direktor der Musikhochschule Weimar berufen. Vgl.: Wolfram Huschke, Zukunft Musik. Eine Geschichte der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar, Köln u. a. 2006, S. 274–302. 85 Vgl.: Ziegler, Hitler, (wie Anm. 4), S. 211 ff.

Jens-Christian Wagner

Erkenntnis statt Bekenntnis Plädoyer für eine zukunftsfähige Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Thüringen Wohl kaum ein historisches Thema hat die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten mehr beschäftigt als die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten. Deutschland ist nicht nur das Land der Täter:innen, sondern auch das der Tatorte. An vielen dieser historischen Orte befinden sich heute Gedenkstätten, insbesondere an den Standorten der ehemaligen Konzentrationslager. Hinzu kommen Dokumentationsstätten an Täter-Orten, etwa an der Villa der Wannsee-Konferenz in Berlin, dem Obersalzberg oder bei der ehemaligen Firma Topf & Söhne in Erfurt, und Orten nationalsozialistischer Selbstinszenierung wie am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder der Kraft-durch-Freude-Urlaubsstadt Prora auf Rügen. Die Gestaltung und Wahrnehmung dieser historischen Orte ist ein Seismograph erinnerungskultureller Entwicklungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Um die heutige und zukünftige Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihrem Erbe verstehen zu können, sei deshalb ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung seit 1945 gegeben.1

Das Verschwinden der Lager nach 1945 Noch heute herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck vor, die nationalsozialistischen Verbrechen seien im Verborgenen begangen worden – versteckt irgendwo hinter dichten Wäldern oder im diffusen „Osten“. Dieses Bild suggeriert gleichsam eine Tat ohne Täter:innen, zumindest ohne Zuschauer:innen. Der historische Befund sieht jedoch völlig anders aus: Ganz Deutschland und die besetzten Nachbarstaaten waren in der weiten Kriegshälfte infolge der Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie von einem dichten Netz von KZ-Hauptund Außenlagern überzogen. Hinzu kamen Tausende von Lagern anderer Kategorien – Kriegsgefangenenlager mit ihren Arbeitskommandos, „Jugendschutzlager“, Lager für zivile ausländische Arbeitskräfte, „Arbeitserziehungslager“, Zwangsarbeitslager für Juden sowie für Sinti und Roma, Justizhaftlager, Kinderheime für ausländische Neugeborene etc., außerdem andere Stätten von NS-Verbrechen, wie etwa Gefängnisse, Euthanasieanstalten und

1 Der vorliegende Text basiert auf folgendem Aufsatz: Jens-Christian Wagner, „NS-Gesellschaftsverbrechen in der Gedenkstättenarbeit“, in: Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschafts­ geschichte, hrsg. v. Detlef Schmiechen-Ackermann, Marlis Buchholz, Bianca Roitsch, Christiane Schröder, Paderborn 2018, S. 421–437.

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Gestapozentralen.2 Nicht nur topographisch waren die Lager und Taten eingebunden in ihr Umfeld, sondern auch gesellschaftlich. Tatsächlich handelte es sich nicht nur um System-, sondern auch um Gesellschaftsverbrechen. Mit den Lagern und Tatorten waren auch die Verbrechen an den Insassen für die deutsche Bevölkerung sichtbar. Es kann für viele also ein gar nicht so überraschender Anblick gewesen sein, der sich ihnen bot, als die Alliierten ihnen im April und Mai 1945 die Leichenberge in den befreiten Lagern oder exhumierte Massengräber vorführten – wie etwa beim Marsch der 1000 Weimarer Bürger:innen, die am 16. April 1945 von den amerikanischen Besatzungstruppen gezwungen wurden, das befreite KZ Buchenwald zu besichtigen, oder wie im Fall zahlreicher Bürger:innen von Nordhausen, die von den US-Militärs herangezogen wurden, die Leichen von Häftlingen aus dem befreiten KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne auf dem nahegelegenen Ehrenfriedhof zu bestatten.3

Abb. 1: Eine deutsche Mutter und ihre Kinder werden von amerikanischen Soldaten bei Warstein (Westfalen) gezwungen, sich die Opfer eines Massakers anzusehen, das die SS wenige Tage zuvor begangen hat, 3. Mai 1945, National Archives Washington.

2 Eine Übersicht bietet: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9, hrsg. v. Wolfgang Benz u. Barbara Distel, München 2009. 3 Zu Buchenwald vgl.: Volkhard Knigge, „Opfer, Tat, Aufstieg. Vom Konzentrationslager Buchenwald zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR“, in: Versteinertes Gedenken. Das Buchenwalder Mahnmal von 1958, Bd. 1, hrsg. v. Volkhard Knigge, Jürgen Maria Pietsch, Thomas A. Seidel, S. 5–95, hier S. 9–13; zu Nordhausen vgl.: Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ MittelbauDora, aktualisierte Neuauflage, Göttingen 2015, S. 522–525.

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Die etwas naive Sühne- und Konfrontationspädagogik der Alliierten in den ersten Wochen nach der Befreiung der Lager nach dem Motto: „Seht her, was ihr angestellt habt!“ war denn auch, wenngleich sie durchaus differenzierte und überwiegend nicht der Kollektivschuldthese folgte,4 alles andere als erfolgreich. Die Zwangsbesichtigungen der Lager verstärkten den Prozess der Umdeutung, die eine Tätergesellschaft in eine besiegte und von Strafangst und Schuldabwehr geprägte Gesellschaft mit ausgesprochenem Opferbewusstsein verwandelte.5 Der Verweis auf die von alliierten Bombern zerstörten deutschen Städte, die Vertreibung aus den Ostgebieten und die Kriegsopfer in den meisten Familien verstärkten den Prozess der Selbstviktimisierung, der bereits während des Krieges um sich griff und seit den 1950er Jahren in mehreren Wellen den öffentlichen Diskurs in Deutschland prägte: Aus der propagierten „Volksgemeinschaft“ war die selbstimaginierte Opfergemeinschaft geworden.

Abb. 2: Gedenkveranstaltung der überlebenden Häftlinge des KZ Buchenwald vor einem improvisierten hölzernen Mahnmal, 19. April 1945, Foto: Donald R. Ornitz, National Archives, Washington.

4 Vgl.: Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 152 ff. 5 Zur Schuldabwehr vgl.: Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grund­ lagen kollektiven Verhaltens, München 1967, S. 35 ff; zur Abwehrhaltung gegenüber alliierten Fotos und Filmen aus den befreiten Konzentrationslagern vgl.: Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 82 ff.

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Vor diesem Hintergrund verschwanden die Überreste der Lager nach 1945 sehr schnell, sofern sie nicht als Internierungslager der Alliierten, als DP-Camps oder auch als Notaufnahmelager für Vertriebene nachgenutzt wurden. Von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft gab es lange Zeit kaum Ansätze, die Lagerstandorte als Erinnerungsorte zu erhalten. Das Gedenken wurde den „Fremden“ überlassen, also den Besatzungsmächten und vor allem den Überlebenden, die an den historischen Orten um ihre toten Angehörigen oder Mithäftlinge trauerten. Fast alle frühen Gedenkzeichen wurden von den Überlebenden selbst errichtet, in Buchenwald bereits am 19. April 1945, als die Überlebenden sich vor einem improvisiert errichteten hölzernen Obelisken auf dem Appellplatz des befreiten Lagers versammelten, um mit einer Gedenkveranstaltung die mehr als 50.000 Mithäftlinge zu ehren, die Buchenwald nicht überlebt hatten.6

Abb. 3 a und b: Gedenkstein für 23 Opfer eines Todesmarsches aus dem KZ Mittelbau-Dora in Münchehof bei Seesen (Harz), 2019, Foto: Jens-Christian Wagner.

Ein wegen seines Hinweises auf das zerbrochene Deutschland und den besiegten Nationalsozialismus besonders eindrückliches Gedenkzeichen setzten Überlebende eines Todesmarsches aus dem KZ Mittelbau-Dora im September 1945 in Münchehof bei Seesen am nordwestlichen Harzrand. Es handelt sich um ein Grabmal für 23 Mithäftlinge, die den Räumungstransport nicht überlebt hatten und auf dem Gemeindefriedhof von Münchehof bestattet worden waren. Auf der Suche nach Material für einen Gedenkstein diente den Überlebenden, die sich in einem „Komitee der KZ-Kameraden“ zusammengeschlossen hatten, ein Granitfindling, den die Stadtverwaltung von Seesen 1938 aus Anlass des „Anschlusses“ von Österreich in der Stadt hatte aufstellen lassen. „Als Symbol für den zerschlagenen Nazismus“, wie der Vorsitzende des Komitees, Josef Soski, später schrieb, teilten die KZ-Überlebenden den massiven Stein mit der Inschrift „Großdeutschland“ 6 Vgl.: Knigge, „Opfer, Tat, Aufstieg“, (wie Anm. 3), S. 6 ff.

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und einer entsprechenden Landkarte in zwei Hälften. Eine der beiden Hälften stellten sie anschließend als Grabstein so auf dem Friedhof von Münchehof auf, dass auf der Rückseite ein Teil der Inschrift („tschland“) und der durchtrennten Landkarte samt der Jahreszahl 1938 aus dem Boden ragten. Auf der Vorderseite ließen sie in deutscher und eng­lischer Sprache eine Inschrift zu Ehren der auf dem Friedhof bestatteten KZ-Häftlinge und die Bezeichnung der Stifter einmeißeln: „Comitee der KZ Kameraden“.7 Im niedersächsischen Münchehof wie an vielen anderen Orten blieben die Überlebenden als Trauernde allein. Von offizieller westdeutscher Seite wurden die ehemaligen Konzentrationslager in den 1950er bis in die 1980er Jahre entweder wie Bergen-Belsen zu historisch entleerten Park- und Friedhofsanlagen umgestaltet oder derart überbaut, dass an ihre Vergangenheit kaum noch etwas erinnerte. An manchen Orten nutzten deutsche Behörden die ehemaligen Lagergelände gar zum Bau von Gefängnissen, etwa im ehemaligen KZ Neuengamme oder in den Emsland-Lagern Versen und Groß-Hesepe sowie kurzfristig auch in Sandbostel. In der DDR hatten die Gedenkstätten hingegen eine herausgehobene politische Bedeutung für den SED-Staat, der den propagierten Antifaschismus zu seinem Gründungsmythos erhob. Trotzdem oder gerade deshalb spielten die authentischen historischen Orte auch hier nur eine untergeordnete Rolle. Die differenzierte Darstellung der Lagergeschichte lag nicht im Interesse der DDR-Geschichtsbildner, die das Ausmaß der NS-Verbrechen lange weitgehend auf die Repression kommunistischer Häftlinge reduzierten und den heldenhaften antifaschistischen Widerstand rühmten. Beispielhaft für diese Erzählung ist der mittels sieben großformatigen steinernen Stelen dargestellte Weg vom Sterben und Kämpfen zum Sieg am 1958 eingeweihten Mahnmal in Buchenwald.8 Bauliche Relikte oder gar ganze Bereiche der ehemaligen Lager, die nicht in diese Erzählung passten, wurden kurzerhand geschliffen oder wucherten zu – man denke nur an die Überreste des Kleinen Lagers in Buchenwald, in dem 1944/45 viele jüdische KZ-Insassen elend zugrunde gegangen waren. „Minimierung der Relikte zur Maximierung historischpolitischer Sinngebung“ – so könnte man mit den Worten von Jörn Rüsen den Umgang mit den historischen Relikten der Lager bezeichnen.9 Präsentiert wurde in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR ein Geschichtsbild, das die deutsche Bevölkerung als Opfer der Diktatur einer Clique von Monopolherren und NS-Funktionären darstellte, die nach dem Krieg natürlich alle in den Westen verschwunden waren. Die Blutspur führt nach Bonn hieß bezeichnenderweise die erste, 1966 eingerichtete Dauerausstellung in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora.10 Dagegen ließ sich die Mitmachbereitschaft und die breite Mittäterschaft der deutschen Bevölkerung mit einem solchen Geschichtsbild trefflich ausklammern und noch besser propagandistisch im deutsch-deutschen Interessenkonflikt verwerten.   7 Vgl.: Jens-Christian Wagner, „Das Schland-Mal von Münchehof“, in: 70 Tage Gewalt, Mord, Befrei­ ung. Das Kriegsende in Niedersachsen, hrsg. v. Jens-Christian Wagner, Göttingen 2015, S. 180 f.   8 Vgl.: Knigge, „Opfer, Tat, Aufstieg“, (wie Anm. 3), S. 76 ff.   9 Zit. nach: Volkhard Knigge, „Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager“, in: Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, hrsg. v. Sigrid Weigel u. Birgit R. Erdle, Zürich 1996, S. 193–234, hier S. 207. 10 Vgl.: Wagner, Produktion des Todes, (wie Anm. 3), S. 529.

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Während sich in der DDR bis 1989 in dieser Hinsicht nicht viel änderte, vollzog sich in der Bundesrepublik ab den 1970er Jahren ein tiefgreifender Wandel. Dem politischen Aufbegehren und pädagogischen Aufbruch der „68er-Generation“ folgend entdeckten Geschichts- und Erinnerungsinitiativen scheinbar vergessene Lager neu und machten sie – nicht selten mit aufklärerischem Impetus und gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft und kommunaler oder staatlicher Behörden – zum Gegenstand politischer Bildungsarbeit. Seit 1985 etwa schlossen sich engagierte Bürgerinnen und Bürger in der AG Bergen-Belsen zusammen und nahmen sich des von Wald überwucherten ehemaligen Lagergeländes an. Jugend-Workcamps legten unter ihrer Leitung erstmals bauliche Relikte frei. Bald entwickelten sich daraus an verschiedenen Orten „arbeitende“ Gedenkstätten, die ihre Existenz kritisch-bürgerschaftlichem Engagement zu verdanken hatten und deren Mitarbeiter:innen ehrenamtlich oder in prekären Arbeitsverhältnissen tätig waren. Eine staatliche Förderung gab es nur selten. In der Gedenkstätte Bergen-Belsen etwa, neben Dachau der größten und wichtigsten der alten Bundesrepublik, war bis 1987 nur eine Person beschäftigt – der Hausmeister und Gärtner. Erst danach wurden erstmals wissenschaftliche und pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt.11 Die Gedenkstätte Buchenwald zählte in den 1980er Jahren hingegen weit über 100 Beschäftigte.

Gedenkstätten nach dem Ende der DDR Der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten brachten nicht nur den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR tiefgreifende Veränderungen, sondern war auch für die Gedenkstättenlandschaft in Westdeutschland folgenreich. Zunächst einmal bedeutete die Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der großen ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR (Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück) einen Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik des Bundes, indem dieser seine Zuständigkeit für Gedenkstätten bundesweiter Bedeutung de facto anerkannte. Zugleich forcierte die Beteiligung des Bundes die Neukonzeption der ehemaligen DDRGedenkstätten, die – getragen von einem „Boom“ in der Forschung zum Holocaust und zum nationalsozialistischen Lagersystem in den 1990er Jahren – neue Ausstellungen erhielten und landschaftsplanerisch mit dem Ziel umgestaltet wurden, die konkreten historischen Orte gegenüber der symbolhaften Monumentalisierung vor 1989 wieder sichtbarer werden zu lassen. Die Neukonzeption der Gedenkstätten verlief dabei alles andere als reibungslos. Die heftigen Auseinandersetzungen etwa um die Gedenkstätte Buchenwald, die um die Schwierigkeit des angemessenen Umgangs mit der Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 von 1945 bis 1950 verstärkt wurden,12 zeigen, welche Wirkung festsitzende Geschichtsbilder im politischen Diskurs haben können.

11 Vgl.: Bergen-Belsen, Geschichte der Gedenkstätte, hrsg. v. Gedenkstätte Bergen-Belsen, Celle 2011, S. 120 ff. 12 Vgl.: Hasko Zimmer, Der Buchenwald-Konflikt. Der Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999.

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Abb. 4: Fahnen der stalinistisch ausgerichteten MLPD und DDR-Symbole am 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald im Innenhof des ehemaligen Krematoriums, 15. April 2015, Foto: Jens-Christian Wagner.

Das Ende der DDR war jedoch noch in ganz anderer Hinsicht bedeutsam für die KZGedenkstätten: Eigentlich nur mit dem in der DDR begangenen Unrecht befasst, legte die Bundestags-Enquêtekommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur“ Ende der 1990er Jahre einen Abschlussbericht vor, der eine Empfehlung für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes beinhaltete – und zwar sowohl für Stätten des DDR-Unrechts als auch für die historischen Orte der NS-Verbrechen. 1998 kam die neue rot-grüne Bundesregierung dieser Empfehlung nach und verabschiedete erstmals eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die bis heute mehrfach fortgeschrieben wurde. Damit erkannte die Bundesregierung den Erhalt und den Ausbau der Gedenkstätten sowie das Ziel der Bewahrung der NS-Verbrechen im kollektiven Gedächtnis als bundesstaatliche Aufgabe explizit an. Im Rahmen der Projektförderung und bei großen KZGedenkstätten auch institutionell beteiligt sich der Bund seither komplementär an der Finanzierung kommunal oder von den Ländern geförderter Gedenkstätten, die überregionale Bedeutung haben und/oder exemplarisch für bestimmte NS-Verbrechen stehen. Nach der Neukonzeption der ehemaligen DDR-Gedenkstätten förderte der Bund ab 2000 auch die nachholende Entwicklung der Gedenkstätten in Westdeutschland, allen voran Neuengamme, Bergen-­Belsen, Flossenbürg und Dachau. Sie erhielten teils neue Museumsgebäude mit – oft mehreren – neuen Dauerausstellungen, und die Lagergelände wurden mit dem Ziel neu gestaltet, historische Relikte sicht- und lesbar zu machen. Neben dem Bund beteiligten sich ab den 1990er Jahren auch die Länder und die Kommunen am Auf- und Ausbau von Gedenkstätten. Durch die Bandbreite der öffentlich geförderten und teils auch ehrenamtlich aufgestellten Gedenkstätten ist in Deutschland

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seither ein dichtes Netz von fast 300 Gedenkstätten und Dokumentationsorten entstanden, die jeweils exemplarisch für bestimmte Verbrechenskomplexe bzw. Funktionsweisen der NS-Diktatur stehen. Noch Ende der 1990er Jahre schien ein derart dichtes Gedenkstättennetz undenkbar. Das hat sich grundlegend geändert. Mit der Modernisierung und Neukonzeption ging zudem ein Professionalisierungsschub einher; Gedenkstätten verstehen sich heute nicht nur als Orte der Trauer und des Gedenkens, sondern zunehmend auch als moderne zeithistorische Museen und wissenschaftliche Einrichtungen. Eine Erfolgsgeschichte also? Im Ausland, etwa in Japan, sieht man voller Bewunderung auf die deutschen „Erinnerungsweltmeister“, und auch in Deutschland begegnet man vielfach wachsendem Bewältigungsstolz. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – macht sich bei kritischen Beobachter:innen, teils auch innerhalb der Gedenkstätten, zunehmend ein Unbehagen an der aktuellen Erinnerungskultur breit. Dieses speist sich aus der Kritik an ritualisierten, pathoshaften Beschwörungs- und Entlastungsformeln im politischen und gesellschaftlichen Diskurs13 sowie teils auch aus Defiziten der Gedenkstättendidaktik.

Erinnerungskultur als Entlastungsritual Das Unbehagen an der aktuellen Erinnerungskultur fängt schon mit dem Begriff des Erinnerns an. Erinnern können wir uns in des Wortes eigentlicher Bedeutung doch nur an etwas, was wir selbst erlebt haben. An was sollen sich aber 16-jährige Schüler:innen erinnern, wenn sie eine NS-Gedenkstätte besuchen? Auf sie wirkt der Appell, sich an etwas „erinnern“ zu sollen, was aus Altersgründen selbst ihre Großeltern nicht mehr selbst erlebt haben, als eine Überforderung, die zusätzlich auch noch moralisch aufgeladen ist. Zugleich schwingt beim Begriff des „Erinnerns“ etwas Affirmatives mit, als gäbe es nur die eine Geschichte und die eine Lehre, die wir daraus ziehen. Geschichte geht aber nicht in Erinnerung auf. Geschichte ist komplexer als Erinnerung. Wer dieser Komplexität gerecht werden will, wer wissenschaftlich differenziert auf Geschichte blickt, der erinnert nicht, sondern er setzt sich kritisch mit der Geschichte auseinander – nach allen Regeln der Quellenkritik. Dass die Quellenkritik in der public history nicht immer ganz oben auf dem methodischen Forderungskatalog steht, zeigt sich in kaum einem anderen Feld deutlicher als beim Hype um den „Zeitzeugen“.14 Was anfangs emanzipatorisch gemeint war – in Abgrenzung 13 Vgl. etwa: Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2020; Max Czollek, „Versöhnungstheater. Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur“, in: Bun­ des­zentrale für Politische Bildung, Online-Dossier jüdisches Leben in Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart, 11.05.2021, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/juedischesleben/332617/ver­ soehnungs­theater-anmerkungen-zur-deutschen-erinnerungskultur, letzter Zugriff: 26.06.2022. 14 Vgl.: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, hrsg. v. Martin Sabrow u. Norbert Frei, Göttingen 2012, ferner: Jens-Christian Wagner, „Zeitzeugen ausgestellt. Die Nutzung von Interviews in Museen und KZ-Gedenkstätten“, in: Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, hrsg. v. Nicolas Apostolopoulos u. Cord Pagenstecher, Berlin 2013, S. 59–67.

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von der Herrschaftsgeschichtsschreibung sollte den Namenlosen eine Stimme gegeben werden –, wird seit Jahren zusammen mit den materiellen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus, etwa den steinernen Zeugnissen in den Gedenkstätten, zunehmend sakralisiert und nur selten hinterfragt.15 Quellenkritik, so scheint es, ist etwas für die Wissenschaft, nicht aber für den Topos der „Erinnerung“, ein Begriff, der sowohl im Sinne politischmoralischer Mahnung als auch als individuelles Gedächtnis verstanden werden kann. Die „normative Rhetorik der Erinnerung“ (Volkhard Knigge)16 mündet so in Beliebigkeit und Urteilslosigkeit – und im bloßen Trauern, ohne nach den Hintergründen zu fragen. Geschichtsbewusstsein wird ersetzt durch historisch entkerne Pietät – ein Gedenkkonzept, das niemandem wehtut und keine Fragen stellt sowie erstarrt ist in Entlastungsritualen. Letztere werden besonders beim Blick auf die Opfer deutlich. Auch wenn das „Opfer“ auf Schulhöfen zum Schimpfwort geworden ist: Gesellschaftlich ist es hoch angesehen und hat ein breites Empathie- und Identifikationspotenzial. Es ist eben einfacher, mit und um Opfer zu trauern oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren (eigentlich eine Anmaßung!) als Fragen nach den Hintergründen der Tat zu stellen, und dazu zählen insbesondere Fragen nach den Täter:innen, Mittäter:innen und Zuschauer:innen. Überhaupt macht der Opferdiskurs aus Menschen Objekte und verstellt den Blick auf Verfolgte als Akteure. Es scheint fast so, als wären uns die vermeintlich willenlosen Opfer lieber als diejenigen, die Eigensinn zeigten, die Widerstand leisteten, die vielleicht auch sperrig sind, weil sie nicht in eine Schublade passen. Sicherlich: Im Mittelpunkt des Gedenkens stehen ohne Zweifel die Opfer. Doch zeitgemäße Gedenkstättenarbeit muss sehr viel stärker auch nach den Täter:innen, Mittäter:innen und Profiteuren fragen und damit nach der Funktionsweise der von den Nazis propagierten „Volksgemeinschaft“ und dem Wechselverhältnis zwischen der Ausgrenzung der „Gemeinschaftsfremden“ und Integrationsangeboten an die „Volksgenossen“. Doch gerade diese Fragen werden viel zu wenig gestellt, wie überhaupt in der öffentlichen Präsentation der Verbrechen und ihrer Opfer häufig die Kontexte wie auch die Ursachen und Folgen ausgeblendet werden. Zur Entkontextualisierung des historischen Geschehens gehört das unterschiedslose Beweinen der Toten des 20. Jahrhunderts, die Nivellierung von Gewalterfahrungen ganz unterschiedlicher Art. Sicherlich war das 20. Jahrhundert von unermesslichem Leid geprägt, dennoch müssen aber Ursachen und Folgen auseinandergehalten sowie historische Kontexte unterschieden werden. In unserer Memorialkultur geschieht das viel zu selten. Geradezu klassisch sind Gedenkzeichen, die ganz allgemein der Opfer der Gewalt des 20. Jahrhunderts gewidmet sind und darunter ohne Unterschied NS-Verfolgte, deutsche Kriegstote einschließlich deutscher Soldaten, deutsche Flüchtlinge und Vertriebene sowie die Opfer der deutschen Teilung und Verfolgte durch die SED-Diktatur aufführen.

15 Vgl.: Martin Sabrow, „Abschied von der Aufklärung? Über das Erlösungsversprechen unserer Erinnerungskultur“, in: Merkur 71 (813), 2017, S. 5–16, hier S. 9. 16 Volkhard Knigge, „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen. Unannehmbare Geschichte begreifen“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66, 2016, H. 3–4, S. 3–9, hier S. 3.

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Beispielhaft sei auf eine Grabstätte für 26 KZ-Häftlinge auf dem Friedhof von Artern in Nordostthüringen verwiesen: Seit 2014 weist ein Gedenkstein mit der Inschrift „Gedenkt aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ auf das Sammelgrab hin, obwohl es sich hier eindeutig ausschließlich um KZ-Häftlinge handelt. Auf einem zweiten Stein wird behauptet, die Häftlinge seien Opfer eines alliierten Luftangriffes am 9. Februar 1945 geworden. Tatsächlich hatte es an dem Tag bei Artern einen Luftangriff auf einen Transportzug aus dem KZ Buchenwald gegeben; die eigentlich für das KZ-Außenlager Langenstein-Zwieberge vorgesehenen Häftlinge waren dann in ein bereits existierendes KZ-Außenlager in Artern gebracht worden. Die genannten 26 Häftlinge sind vermutlich dort ums Leben gekommen.17 Hier handelt es sich also nicht nur um Entkontextualisierung der NS-Verbrechen, sondern um ihre geschichtsrevisionistische Relativierung.18 Ein zweites Beispiel für nivellierendes Gedenken ist eine Gedenkstunde zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz im Thüringer Landtag am 27. Januar 2005. Hauptredner war Ernst Cramer, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt. In seiner Rede gedachte er nicht nur der Opfer des Nationalsozialismus (er selbst war 1938 als junger Jude einige Wochen Häftling im KZ Buchenwald gewesen), sondern nahtlos auch der Opfer des Kommunismus und schließlich sogar der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean wenige Wochen zuvor. Von Cramer selbst sicherlich nicht beabsichtigt, erschienen die Toten des 20. (und frühen 21. Jahrhunderts) hier wie die Opfer von Naturkatastrophen.

Abb. 5: Grabstätte für 26 KZ-Häftlinge auf dem Friedhof von Artern, 2021, Foto: Anett Dremel, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

17 Vgl.: Jens-Christian Wagner, „Artern (aka Adorf, Rebstock neu)“, in: Encyclopedia of Camps and Ghet­­tos 1944–1945, Vol. 1, Part B, hrsg. v. Geoffrey P. Megargee, Bloomington 2009, S. 975 f. 18 Auf Betreiben des Bürgermeisters von Artern, Torsten Blümel, soll die Grabstätte in den kommenden Jahren in Zusammenarbeit mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora umgestaltet werden.

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Mit dem historisch entleerten „Erinnern“, mit dem unterschiedslosen Beweinen der Opfer des 20. Jahrhunderts, ist in den vergangenen gut 20 Jahren eine Art Wohlfühl-Erinnerungskultur entstanden: Mit einem Schauern blicken viele Deutsche auf die Vergangenheit, trauern und identifizieren sich mit den Opfern und freuen sich, dass heute alles vorbei ist: Erinnerungskultur als Entlastungsritual, bisweilen auch als „Versöhnungstheater“ (Max Czollek)19 einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich nach nationaler Normalität sehnt.

Politische Bedeutungslosigkeit? Auch wegen dieser Entlastungsrituale konnte in den vergangenen Jahren eine Situation entstehen, die auf den ersten Blick paradox erscheint: Trotz des umfangreichen Ausbaus der Gedenkstättenarbeit in den vergangenen 20 Jahren feiern Rechtsextreme und Rechtspopulist:innen einen Wahlerfolg nach dem anderen. Haben die Gedenkstätten, hat unsere Erinnerungskultur also vollständig versagt? Die Antwort ist ambivalent: Nein, die Gedenkstätten haben nicht versagt, weil sie für die derzeitige Situation selbstverständlich nicht allein verantwortlich sind. Erstens sind Gedenkstätten nur ein Teil unserer Erinnerungskultur, deren Defizite zu bemängeln sind. Die Wohlfühl-Erinnerungskultur samt ihren Entlastungsritualen ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, insbesondere im politischen und publizistischen Diskurs. Zweitens sollte die unmittelbare Wirkung der Gedenkstättenarbeit nicht überschätzt werden: Gedenkstätten sind keine demokratischen Läuterungsanstalten. Niemand wird durch einen Gedenkstättenbesuch zum besseren Menschen, weil er nun gegen das „Böse“ geimpft ist. Und drittens machen die Angriffe von rechts auf die Gedenkstätten (etwa die Forderung von Björn Höcke nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ oder Alexander Gaulands Behauptung, die NS-Zeit sei in der deutschen Geschichte nur ein „Vogelschiss“) deutlich, dass die Erinnerungskultur so ganz falsch nicht sein kann: Dass die Gegner:innen einer aufgeklärten und offenen Haltung gegenüber der Migration und gegenüber Europa sich auch gegen die Erinnerungskultur und damit auch gegen die Gedenkstätten wenden, ist nämlich nur folgerichtig. Eben wegen des Bezugs auf die nationalsozialistischen Verbrechen ist Deutschland heute (noch), wie sich auch bei den letzten Europawahlen im Mai 2019 gezeigt hat, eines der am meisten weltoffenen, proeuropäischen und liberalen Länder Europas. Wer daran etwas ändern möchte, und das wollen die Rechtspopulist:innen und Rechtsextremen, der muss die Axt anlegen an die Erinnerungskultur und an die historischpolitische Bildungsarbeit in den Gedenkstätten. Auf der anderen Seite könnte man sagen: Ja, die Gedenkstätten haben versagt, weil sie zumindest teilweise Inhalte und Methoden vertreten haben und nach wie vor vertreten, die keinerlei oder nur sehr geringe Auswirkungen auf gesellschaftliche Diskurse haben. Einmischung in aktuelle politische Debatten sei nicht ihre Aufgabe, hörte man noch vor nicht langer Zeit aus manchen Gedenkstätten. Tatsächlich aber dürfen sie in aktuellen Debatten nicht nur Position beziehen, sondern müssen es – insbesondere gegen jeden Versuch, 19 Czollek, Versöhnungstheater, (wie Anm. 13).

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die NS-Verbrechen zu relativieren oder gar zu leugnen, aber auch gegen aktuelle Hetze gegen Minderheiten. Allerdings sollten wir uns vor falschen historischen Analogien hüten, und wir sollten es vermeiden, was zunehmend en vogue ist, nämlich den Gedenkstätten eine sehr allgemeine Form der Menschenrechtserziehung aufzustülpen und damit sinnloses Leiden und heillose Geschichte in eine religiöse, politische oder metaphysische Sinnstiftung einzulesen, nach der wir aus der dunklen Vergangenheit in die leuchtende Zukunft gehen, wenn wir nur die richtigen „Lehren“ aus der Vergangenheit beherzigen. Die von den Nationalsozialisten Verfolgten hatten jedoch ganz eigene, individuelle soziale und politische Vorstellungen, und keiner von ihnen ist gestorben, um das Grundgesetz der Bundesrepublik zu schützen. Letztlich ist es damit im schlimmsten Fall eine Instrumentalisierung der Opfer und Kennzeichen eines eben nicht reflexiven, sondern affirmativen Geschichtsverständnisses, wenn unsere heutigen Vorstellungen von Menschenrechten und politischer Moral, so gut gemeint und fundiert diese auch seien, als Lehre aus den Verbrechen der Nationalsozialisten verkauft werden.

Zukunftsgerichtete Gedenkstättenarbeit in Thüringen Gedenkstätten sollen, wenn sie historisch-politische Bildungsarbeit im Sinne einer aufge­ klärten, kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte ernst nehmen, keine Heilslehren verkünden. Wenn sie das Pferd hingegen andersherum aufzäumen und (geschichtsdidaktisch würde man von einem induktiven Verfahren sprechen) aus der konkreten Geschichte der jeweiligen Orte heraus die Frage aufwerfen, wie die NS-Gesellschaft funktionierte und welche Motivation Täter:innen und Mittäter:innen antrieb, und das alles wissenschaftlich fundiert und quellengestützt, dann werden die Gedenkstättenbesucher:innen sich selbst ein Urteil bilden. Und das ist um ein Vielfaches nachhaltiger und demokratischer, als ihnen die Menschenrechtserziehung aufzuzwingen. Ein auf Reflexion und Stärkung historischer Urteilskraft setzendes Konzept historischpolitischer Bildung in den Gedenkstätten braucht intensive und zielgruppenorientierte Formate. Im Mittelpunkt steht das „forschende“ oder „entdeckende“ Lernen aus den historischen Quellen heraus, die didaktisch aufbereitet in kleinen Gruppen analysiert werden. Sehr gut funktioniert das beispielsweise in der Aus- und Fortbildung von Polizist:innen in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie im Gedenkort Topf & Söhne in Erfurt: Intensiv setzen sich die Beamt:innen anhand ausgewählter Quellen mit der Frage auseinander, welche Rolle die Polizei im Nationalsozialismus spielte. Im Mittelpunkt steht der Blick auf die Akteure, also nicht nur auf die Polizei als Institution oder System, sondern auch auf individuelle Polizisten und ihre Entscheidungsspielräume.20

20 Vgl.: Julia Tremann u. Holger Obbarius, „Spezifische Bildungsangebote für Berufsgruppen: Historisch-­ politisch-ethische Bildungsarbeit mit (angehenden) Polizist:innen“, in: Reflexionen. Jahres­magazin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jg. 1 (2021), S. 24–26.

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Intensive und zielgruppenorientierte Bildungsformate brauchen vor allem viel Zeit. In einer zweistündigen Frontalführung durch eine Gedenkstätte sind Begegnung, Diskurs und Reflexion kaum möglich. Bundesweit setzen die Gedenkstätten deshalb zunehmend auf Tages- oder sogar Mehrtagesprogramme, die eine intensive Auseinandersetzung mit den Orten und ihrer Geschichte ermöglichen sollen. Qualität geht vor Quantität, heißt es deshalb in vielen Gedenkstätten. Damit ist der Kern einer zukunftsgerichteten Erinnerungskultur benannt: Nicht Affirmation oder Appellation, sondern Reflexion sollte im Mittelpunkt des heutigen Umgangs mit der NS-Geschichte stehen. Anders formuliert: Nicht Bekenntnis, sondern Erkenntnis ist das Ziel. Es geht um selbstbestimmte Reflexion der Vergangenheit und darum, historisches Urteilsvermögen zu stärken. Für die Arbeit in den Schulen und Gedenkstätten bedeutet das, dass nicht einfache Antworten gegeben werden und auch keine simple Heilsgeschichte präsentiert wird, nach dem Motto: Aus dem Bösen wird das Gute, und heute sind wir am glücklichen Ende der Geschichte angekommen. Nein, es geht darum, Fragen aufzuwerfen: Wer hat etwas getan, warum hat er es getan, welche Folgen hatte das für die Opfer, wer waren die Opfer, in welchem Kontext geschahen die Verbrechen? Gerade, wenn man sich vor Augen hält, dass die Verbrechen inmitten der Gesellschaft, in aller Öffentlichkeit begangen wurden, dann ruft das weitere Fragen hervor: Was hatten Weimar mit Buchenwald oder Nordhausen mit Mittelbau-Dora zu tun? Warum machten die meisten Deutschen bis zum Ende des Krieges mit, profitierten selbstmobilisierend von „Arisierungen“ und Zwangsarbeit? Warum stießen die Lager in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auf breite Akzeptanz, wurde die Gesellschaft zum Teil des Lagerzauns? Was motivierte Industrielle und Kleinunternehmer, auf Zwangsarbeit zu setzen? Was bewog Anwohner:innen der Lager und Ghettos, deren Insassen feindselig zu begegnen oder bestenfalls wegzusehen, statt zu versuchen, ihnen zu helfen? Und schließlich die zentrale Frage: Wie konnte es dazu kommen? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, reicht es nicht, nur auf Buchenwald und Mittelbau-Dora zu schauen. Überhaupt sollten wir nicht den Fehler machen, die NS-Verbrechen immer von ihrem Ende her, von den Leichenbergen in den befreiten Lagern, zu betrachten. Vielmehr ist es nötig, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche sozialen, ökonomischen und ideologischen Wurzeln der NS-Terror hat, und das lenkt den Blick unmittelbar auch auf den Aufschwung völkischen und antidemokratischen Denkens insbesondere auch im Weimar der 1920er und frühen 1930er Jahre. Zum integralen Blick auf den NS-Terror in Thüringen gehört ferner, die großen Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora nicht isoliert, sondern als Teile eines umfassenden Netzwerkes des Terrors wahrzunehmen. Dazu gehören nicht nur die vielen Außenlager und Arbeitskommandos in allen Teilen des Landes, sondern auch andere Stätten der Verfolgung und des Mordes: die zahlreichen Lager für ausländische zivile Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangenenlager, „Judenhäuser“ in den Städten, Gestapozentralen, Lager für Sinti und Roma oder auch Stätten des Krankenmordes (etwa in Stadtroda oder in Pfafferode bei Mühlhausen). Und es gehören Täterorte wie der Gedenkort Topf & Söhne dazu oder auch Stätten nationalsozialistischer Selbstinszenierung wie das „Gauforum“ in Weimar. An vielen der genannten Stätten verweist bis heute kaum etwas auf ihre Rolle im NS-Staat. Vollkommen unterrepräsentiert im öffentlichen Bewusstsein sind die f­ rühen Konzentrations-

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lager in Thüringen. Eine Gedenktafel in Nohra, die an das erste Konzentrationslager im Deutschen Reich überhaupt erinnerte (es bestand von März bis Mai 1933 auf dem Gelände des Flugplatzes Nohra), wurde 1990 entfernt. Und vor dem mittlerweile halb verfallenen Hauptgebäude des KZ Bad Sulza, das von 1933 bis 1937 bestand und erst mit der Einrichtung des KZ Buchenwald aufgelöst wurde, erinnert nur ein verblasster Gedenkstein aus den 1950er Jahren an das frühere zentrale Konzentrationslager für Thüringen.

Abb. 6: Hauptgebäude des ehemaligen KZ Bad Sulza, Juli 2021, Foto: Jens-Christian Wagner.

Vielfach wird also die Auseinandersetzung mit den vor Ort, häufig im wahrsten Sinne des Wortes vor der eigenen Haustür begangenen NS-Verbrechen mit dem auf vermeintlich isolierte große Lager wie Buchenwald und Mittelbau-Dora zentralisierten Blick externalisiert. Auch das fördert Entlastungsdiskurse. Erforderlich ist also, den Blick auf die NS-Verbrechen topographisch und thematisch auf ihre ganze Bandbreite zu erweitern. Und es ist nötig, danach zu fragen, welche Rolle die deutsche Gesellschaft für den NS-Terror spielte. Dazu gehört insbesondere die Frage nach der Motivation für das Mitmachen im Nationalsozialismus. Sie fördert eine Gemengelage unterschiedlicher struktureller, ideologischer, sozialer, psychologischer und habitueller Faktoren zutage, etwa die ideologische Affinität (insbesondere zu antisemitischen und rassistischen Einstellungsmustern), materielle Verbesserungen, Verheißungen der Ungleichheit, das emotionale Angebot, dazuzugehören (definiert über diejenigen, die nicht zur propagierten „Volksgemeinschaft“ gehörten), Zukunftsverheißungen, Gruppendruck, Repression, Ängste, autoritäres Denken und, nicht zu unterschätzen, durch (mediale) Sicherheits- und Kriminalisierungsdiskurse aufgeladene Ausgrenzungspraktiken.21 Hierbei zeigt sich, dass viele dieser Faktoren gar nicht spezifisch nationalsozialistisch determiniert sind, sondern mehr oder weniger auch heute noch zumindest latent ihre Wir21 Vgl.: Wagner, Produktion des Todes, (wie Anm. 3), S. 519 ff.

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kung entfalten. Gerade die Auseinandersetzung mit der Mitmachbereitschaft im Nationalsozialismus bietet deshalb große handlungsorientierte didaktische Potenziale mit Aktualitätsbezug – und das nicht anhand mühsam herbeigezogener aktueller Geschehnisse, die mit den Gedenkstätten eigentlich nichts zu tun haben (jedenfalls nicht auf den ersten Blick), sondern am konkreten historischen Beispiel. Und noch ein Thema kommt hier hinzu: widerständiges oder eigensinniges Verhalten. Gerade in der Frage, wer denn n i c h t mitgemacht hat oder sich sogar aktiv widersetzte, liegt ein handlungsorientierendes pädagogisches Potenzial. Das setzt voraus, dass der Akteursbegriff gestärkt wird. Auch dies ist zentraler Bestandteil eines kritischen Geschichtsbewusstseins. Angesichts der auch heute noch oder wieder wirksamen Faktoren, die viele Deutsche den Nationalsozialisten zujubeln ließen, sind die Gedenkstätten wie die gesamte Gesellschaft gefordert, Position zu beziehen und damit auch in aktuelle politische Debatten einzugreifen, indem sie Parallelen, aber auch Unterschiede differenziert und wissenschaftlich fundiert herausarbeiten. Ziel muss es sein, selbstkritisch die eigene politische, ethische und soziale Haltung im heutigen Leben zu hinterfragen. Damit ist der immer wieder geforderte Aktualitätsbezug hergestellt, ohne durch eine sehr allgemeine und affirmative Form der Menschenrechts- und Demokratieerzählung die NS-Verbrechen bzw. ihre Opfer schlimmstenfalls zu instrumentalisieren. Eine solche aktive, kritische, gegenwartsbezogene und handlungsorientierte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist mühsamer als das unterschiedslose Beweinen der Toten des 20. Jahrhunderts oder der Konsum hohler Pathosformeln. Aber sie lohnt sich.

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Für den unbekannten Verfolgten Der Komponist Hans Heller (1898–1969) und sein Werk

Seit Ende der 1980er Jahre wird die sogenannte „verfemte Musik“ – deren Verbreitung im 20. Jahrhundert durch Auswirkungen des Nationalsozialismus verhindert wurde – wissenschaftlich erforscht und künstlerisch aufgearbeitet. In den vergangenen Jahren wurden ungeahnte musikalische Schätze gehoben: zahlreiche bis dahin vergessene oder gänzlich unbekannte Kompositionen, deren Wiederaufführungen und zum Teil sogar Uraufführungen das deutsche und internationale Musikleben enorm bereicherten. Die Fülle der Veranstaltungen, CD-Einspie­ lungen und Publikationen zu diesem Thema kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es neben der bemerkenswerten Wiederentdeckung von Komponisten wie Viktor Ullmann, Hans Krasa, Abb. 1: Hans Heller (1960er Jahre), Erwin Schulhoff oder Mieczysław Weinberg, deren Familienarchiv von Wolfgang Eichwede. Schaffen inzwischen zum festen Bestandteil des internationalen Repertoires geworden ist, noch andere herausragende verfolgte Komponisten gibt, die bisher aber kaum beachtet wurden. Außerdem ist die Tendenz erkennbar, dass die wiederentdeckten Werke häufig zu besonderen Anlässen, wie etwa bei Gedenkveranstaltungen aufgeführt werden und dadurch ihren Weg ins allgemeine Repertoire verfehlen. Diese Werke sollten jedoch nicht in erster Linie als „Betroffenheitsmusik“, sondern vor allem als bedeutende Bereicherung des Musiklebens wahrgenommen werden. Ein Beispiel dafür, dass die Aufarbeitung von Auswirkungen totalitärer Systeme auf die Musikentwicklung im 20. Jahrhundert bei Weitem noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, ist die Wiederentdeckung des aus Thüringen stammenden deutsch-jüdischen Komponisten Hans Heller. Die einzige bislang publizierte kurze biographische Darstellung über ihn ist in einem Sammelband über Schüler von Franz Schreker erschienen. Sie wurde von Werner Grünzweig, dem langjährigen Leiter der Musikabteilung des Archivs der Berliner Akademie der Künste, verfasst.1 „Es gibt Emigranten“, schreibt Grünzweig in seinem 1 Franz Schrekers Schüler in Berlin. Biographische Beiträge und Dokumente, hrsg. v. Rainer Cadenbach, Dietmar Schenk, Markus Böggemann, Berlin 2005, S. 45–49.

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Beitrag, „die erst im letzten Augenblick, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, das nationalsozialistische Deutschland verlassen haben und dennoch in ihrer Karriere nicht gebremst wurden; andere waren sich von Beginn an über die wahre Natur des Regimes im Klaren und haben dennoch, bedingt durch unglückliche Zufälle, fürchterlich unter der politischen Katastrophe gelitten.“1 Es ist ohne Zweifel, dass die vollständige Vernachlässigung von Hellers Schaffen auch noch 50 Jahre nach seinem Tod keineswegs an der Qualität seiner Musik liegt, sondern durch „unglückliche Zufälle“ und vor allem durch die Spätfolgen der „politischen Katastrophe“ bedingt ist. Hans Hermann Heller2 kam am 15. Oktober 1898 im ostthüringischen Greiz zur Welt,3 damals der Hauptstadt des winzigen Fürstentums Reuß älterer Linie, das bis 1918 als selbstständiger Bundesstaat im Deutschen Kaiserreich bestand. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zählte Greiz zusammen mit der Umgebung insbesondere durch die vielen Textilbetriebe zu den am meisten industrialisierten Regionen Deutschlands. Dazu trugen auch jüdische Unternehmer bei, darunter die Familie Schwarz, die ursprünglich aus Böhmen kam und bereits seit etwa 1840 in Greiz ansässig war. Samuel Schwarz (1810–1889) erhielt 1848 die Konzession zum Wollhandel und gründete ein Bankhaus sowie 1876 eine der ersten großen Webereien der Gegend. Die Hellers, die ebenso aus Böhmen stammten, waren in mehreren Generationen eng mit der Familie Schwarz verwandt. So heiratete Samuels älteste Tochter Emilie (1838–1866) Moritz Heller aus Prag, dessen Mutter ebenfalls eine geborene Schwarz war. Der jüngste Sohn des Paares war Hans Hellers Vater, Paul Heller (1866–1931), der in Prag zur Welt kam (die Mutter starb bei seiner Geburt), später sich in Greiz niederließ und dort zum Kaufmann und Fabrikbesitzer wurde. Die Mutter von Hans Heller, Hedwig (Edwige) Heller, geb. Levi, (1874–?) stammte aus Ulm. Hans Heller hatte eine zwei Jahre ältere Schwester Emilie (1896–1944). Offensichtlich gehörten die Hellers – wie die meisten großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familien jener Zeit – zum liberalen Judentum, davon zeugt zumindest die Tatsache, dass beide Eltern Hans Hellers nach ihrem Tod entgegen den jüdischen traditionellen Sitten kremiert wurden.4 1 2

Ebd., S. 45. In einigen amtlichen Unterlagen werden die beiden Vornamen Hellers mit einem Bindestrich geschrie­ ben, er selbst schrieb sie ohne Bindestrich. 3 Ich danke Prof. Dr. Wolfgang Eichwede, dem Neffen von Hans Heller, für zahlreiche Dokumente, Fotos und persönliche Erinnerungen, die eine wesentliche Grundlage für diesen Artikel bilden. Inzwischen befinden sich die meisten Dokumente im Hans-Heller-Bestand im Archiv der Akademie der Künste Berlin, Abteilung Musik (im Folgenden: AdK, Heller): https://archiv.adk.de/bigobjekt/8712, letzter Zugriff: 26.06.2022. Ich danke dem Leiter der Musikabteilung des Archivs der Akademie der Künste, Dr. Werner Grünzweig, für seine vielfältige Unterstützung. 4 Dieser Umstand ist in einem späteren Brief des Rats der Stadt Greiz erwähnt, den Heller 1946 im amerikanischen Exil als Antwort auf seine Anfrage nach der Grabstätte der Eltern bekam: „Nachdem sich viele Jahre niemand um die Erbbegräbnisstelle Heller gekümmert hat und das verwahrloste Grab wiederholt Anstoß erregte, hat sich der Bürgermeister entschlossen, die Urnen der beiden Verstorbenen an einem anderen Ort im Friedhof beizusetzen und die Grabstelle anderweitig zu vergeben. In § 24 der Friedhofsordnung ist vorgesehen, dass das Grabrecht verloren geht, wenn eine Vernachlässigung in der Unterhaltung festgestellt wird. Der neue Erwerber hat die Gruft vergrößert, am Äußeren des Grabes bis auf die Entfernung der Tafel nichts geändert.“ Brief des Rats der Stadt

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Abb. 2: Hans Heller in Greiz im Alter von 10 Jahren (1909), AdK, Heller 215.

Hans Heller erlernte frühzeitig das Geigen- und Klavierspiel und galt durch öffentliche Auftritte in seiner Heimatstadt als Wunderkind. Am 17. Oktober 1916, zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag wurde Heller noch als Primaner zum Militärdienst eingezogen. Er kämpfte dann in einer „Maschinengewehrkompanie“5 und wurde später mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und der Preußischen Verdienstmedaille ausgezeichnet. Ende Januar 1918 bekam er einen vierwöchigen Urlaub, um sich für die Abiturprüfung (sogenanntes Kriegsabitur) vorzubereiten, am 23. Februar legte er am Städtischen Gymnasium in Greiz sein Reifezeugnis ab. Gegen Ende des Krieges, im Mai 1918, wurde Heller schwer am Arm verwundet: Ein Granatensplitter traf den Ellenbogen, sodass er den Arm später nicht mehr ausstrecken konnte.6 Die von ihm erträumte Pianistenkarriere konnte deswegen nicht mehr realisiert werden.7 Greiz an Hans Heller vom 23.12.1946, in: AdK, Heller 240, unfoliiert. Der ganze Bestand von Heller hat keine Seitenangeben. Deswegen werden in weiteren Fußnoten, die sich auf diesen Bestand beziehen, keine Blattangaben gemacht. 5 Entschädigungsbehörde im Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Akte HansHermann Heller, Az. 264 224, B2 (im Folgenden: Entschädigungsakte Heller). 6 Vgl.: ebd. 7 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271.

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Dennoch nahm Heller 1920 ein Musikstudium am Leipziger Konservatorium auf, wo er Klavier (bei Robert Teichmüller und Carl Adolf Martienssen) sowie Musiktheorie und Tonsatz (bei Stephan Krehl und Otto Wittenbecher) studierte. Am Leipziger Konservatorium lernte er die sieben Jahre jüngere Klavierstudentin Ingrid Eichwede (1905–1991) kennen, ebenfalls aus der Klasse von Teichmüller. Sie stammte aus einer großbürgerlichen, protestantischen Familie in Hannover. Beide heirateten 1927, im Jahre 1929 wurde der Sohn Peter geboren. Später sollte Ingrid Eichwede als Pianistin zur wichtigsten Interpretin von Hellers Werken werden.

Abb. 3: Hans Heller und Ingrid Eichwede mit Hellers Eltern (Mitte der 1920er Jahre), AdK, Heller 215.

Bereits 1924 hatte Heller die Entscheidung getroffen, sich vollständig der Komposition zu widmen. Er zog deswegen im August 1924 nach Berlin, wo er dann bis 1930 Kontrapunkt, Instrumentation und Komposition bei Franz Schreker studierte. Sogar vor dem Hintergrund der enormen Kreativität der Neuen Musik in der Weimarer Republik bildete die Berliner Kompositionsklasse von Franz Schreker eine Ausnahmeerscheinung. Mehrere Dutzend bedeutender Musiker gingen damals aus seiner Klasse hervor, darunter etwa Ernst Krenek, Alois Hába, Karol Rathaus, Władysław Szpilman oder Berthold Goldschmidt. Wenn man außerdem Schrekers Schüler aus seiner Wiener Zeit und einige Privatschüler (zu denen Hans Heller gehörte) dazu zählt, wird offensichtlich, wie stark Schrekers päda­ gogische Tätigkeit die Entwicklung der modernen Musik beeinflusste. Dabei war Schreker im Gegensatz zu den beiden anderen berühmten Kompositionslehrern im Berlin jener Zeit, Arnold Schönberg und Paul Hindemith, kein Begründer einer Schule – seine Studenten zeichneten sich gerade durch eine außergewöhnliche Breite ästhetischer Auffassungen, Stile und Kompositionstechniken aus. Nach den Worten Peter Hellers hätte sein Vater von Schreker „wenig, musikalisch gesehen, abgekriegt“, d. h. er versuchte nicht, seinen Lehrer

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zu kopieren. Viel stärker sei der Einfluss der Musik von Gustav Mahler gewesen: „Er hat bis zum Ende das Bild Mahlers auf seinem Schreibtisch gehabt.“ Mit Franz Schreker und dessen Ehefrau, der Sängerin Maria Schreker (1892–1978), verband Heller aber auf alle Fälle bald eine tiefe, lebenslang anhaltende Freundschaft. „Schrekers und Hellers haben sich in den zwanziger Jahren angefreundet. Abends, nach der Arbeit ging man aus, spielte man Karten. Hindemith war dabei, wie auch seine Frau Trude. Das Musikleben war in diesem Zirkel konzentriert. Meine Eltern trafen Schönberg, Berg, Krenek […].“8 Maria Schreker erinnerte sich später:

Abb. 4: Hans Heller am Flügel (Berlin, Ende der 1920er Jahre), AdK, Heller 287.

Ich kann vorbehaltlos versichern, dass mein Mann Herrn Heller für einen hochbegabten Musiker hielt und größtes Vertrauen in seine Laufbahn als Komponist setzte. Während seiner Studienzeit schrieb Herr Heller viele Werke der traditionellen Kompositionsgattungen […]. Herr Heller unterwarf sich der strengen Disziplin des Lehrganges und den hohen Anforderungen, die mein Mann an alle seine Schüler stellte und da er auch großes Vertrauen in Herrn Hellers pädagogische Fähigkeiten setzte, wies er ihm öfters Schüler für Privatunterricht zu. Ich habe keinen Zweifel, dass Herr Heller sowohl als Komponist als auch als Lehrer schon frühzeitig eine erfolgreiche Karriere gemacht hätte, wäre seine Entwicklung nicht durch die politischen Verhältnisse der dreißiger Jahre jäh unterbrochen worden, die ihn aus rassischen Gründen zwangen, Deutschland zu verlassen.9

Hans Heller entwickelte bereits während seines Studiums bei Schreker einen ausgesprochen individuellen Stil, der durch eine expressionistische, frei atonale Musiksprache, durch aus8 Ebd. 9 Maria Schreker, Erklärung vom 05.05.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, E6.

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drucksvolle, an lebendige Sprachintonation angelehnte Melodiegestaltung sowie durch polyphone Elemente unterschiedlicher Art gekennzeichnet ist. Aus dieser Zeit stammen Hellers erste erhaltene Kompositionen, es sind Klavier- und Kammermusikwerke, die zum großen Teil für seine damalige Verlobte Ingrid Eichwede bestimmt waren. Neben einigen eher schülerhaften Werken gehören jedoch erstaunlich reife und originelle Kompositionen dazu, darunter Zwei Scherzi op. 4a (1925) sowie insbesondere die Klaviersonate op. 3 (1926–1927). Die Sonate besteht aus drei Sätzen, die attacca aufeinander folgen und mit rezitativischen Übergängen verbunden sind. Besonders bemerkenswert ist der dritte Satz, dessen Themen sämtlich demselben motivischen Kern entstammen – darunter auch das Thema des Fugato-Teils, dessen markantes Anfangsmotiv die später von Schostakowitsch so häufig verwendete musikalische Signatur d-es-c-h vorwegnimmt (hier einen Ton höher):

Abb. 5: Das Thema des Fugato-Teils aus dem 3. Satz der Klaviersonate, AdK, Heller 110.

An den Stil der Klaviersonate schließen einige kammermusikalische Werke an, die alle im Laufe des Jahres 1928 entstanden: die Sonate für Violine und Klavier, das Streichtrio und das Streichquartett. 1930 komponierte Heller den Liederzyklus Vom kleinen Alltag op. 8 nach Texten Anton Wildgans’. Mit diesem Werk konnte er seinen ersten bedeutsamen öffentlichen Erfolg als Komponist erzielen: Am 8. Juli 1931 wurde der aus vier Liedern bestehende Zyklus im Berliner Rundfunk aufgeführt. Solistin war die Altistin Thea Silten10, sie wurde von Ingrid Eichwede am Klavier begleitet. Anton Wildgans (1881–1932), ein heute weitgehend vergessener österreichischer Dichter und Dramatiker, wurde noch kurz vor seinem Tod als aussichtsreichster Kandidat für den Literatur-Nobelpreis nominiert, er starb jedoch noch vor der Verleihung. Vor allem seine gesellschaftskritischen Werke wurden zu seinen Lebzeiten intensiv rezipiert. Auch der Gedichtzyklus Vom kleinen Alltag von 1911 handelt vom Leben „kleiner“ Leute. Die ersten beiden Gedichte spiegeln einem Zeugnis der Ehefrau 10 Thea Silten (geb. Silbermann, 1905–1965) studierte Gesang an der Berliner Musikhochschule und war zunächst in der Berliner Szene für Neue Musik aktiv, bevor sie 1928 zusammen mit ihrem Mann, dem herausragenden Musikschriftsteller Hans Heinz Stuckenschmidt, nach Prag ging. Nach: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. v. Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und (ab 2014) Sophie Fetthauer, Hamburg seit 2005, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_ lexmperson_00006784, letzter Zugriff: 26.06.2022.

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des Dichters Lilly Wildgans zufolge Erlebnisse innerhalb der eigenen Familie wider; speziell das erste Gedicht Nichts ist so rührend wie die Habseligkeiten der Toten ist nach dem Tod des Vaters von Wildgans entstanden. Hellers Vertonung dieser Texte zeugt nicht nur von seinem Einfühlungsvermögen, sondern auch von seiner tonmalerischen Begabung. Die Musiksprache der Lieder, die viele Elemente von Alltagsgeräuschen beinhaltet, unterscheidet sich beträchtlich von Hellers expressionistischen Werken der 1920er Jahre und ist offensichtlich ein Ergebnis seiner kreativen Auseinandersetzung mit dem Stil der Neuen Sachlichkeit. Die musikalischen Bilder sind außergewöhnlich plastisch und tragen dazu bei, die alltäglichen Begebenheiten und Sorgen armer Menschen als Ausdruck von existenziellen Fragen der Menschlichkeit zu begreifen. In diesen Jahren erteilte Heller inzwischen selbst privat Kompositionsunterricht, zu seinen Schülern, die in der Regel von Schreker vermittelt wurden, gehörte damals Grete von Zieritz (1899–2001). Wie sie später bezeugte, habe sie im Jahre 1928 auf besondere Empfehlung des Komponisten Franz Schreker, seiner Zeit Direktor der Staatlichen Hochschule für Musik, bei seinem ehemaligen Schüler, dem Komponisten Hans Heller, Privatstunden genommen, in denen er mich in einer von Franz Schreker eigens aufgestellten Methode der Lehre des strengen Satzes unterwies. Ich verdanke Herrn Hellers großer Sachkenntnis und seinen pädagogischen Fähigkeiten ausserordentlich viel.11

Offensichtlich erlangte Heller damals zumindest in Musikerkreisen einige Bekanntheit, denn laut einer Information seines Sohnes bekam er 1930 das Angebot, die Musikhochschule in Manila (möglicherweise handelte es sich um die heutige University of Santo Tomas Conservatory of Music) als Direktor zu leiten. Demnach sollen die Hellers das Angebot ausgeschlagen haben, weil die Philippinen zu weit weg wären und weil gute Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere in Deutschland bestünden. „Auf alle Fälle war Geld genug da, um weiterzuarbeiten, ohne arbeiten zu müssen“, so Peter Heller.12 Bereits als Kind hatte Hans Heller Antisemitismus zu spüren bekommen, sein Sohn Peter berichtete später darüber: „Als Junge von acht Jahren […] wurde er regelmäßig als Saujude, Judenkönig u. s. w. angebrüllt. Sein Vater war ein Bulle von einem Mann. Er aber war klein und zart. Er konnte sich nicht verteidigen. Musste also Vater Heller losgehen und den Banditen mündlich die Fresse einschlagen. So fing es an. […]“13 Es ist unbekannt, ob es diese frühen Erfahrungen waren, die Hans Heller gegenüber den politischen Gefahren zu Beginn der 1930er Jahre besonders sensibel machten: In jedem Fall war er frühzeitig von dem drohenden nationalsozialistischen Unheil überzeugt.14 Sofort nach dem Machtantritt Hitlers begann er, die Auswanderung seiner Familie vorzubereiten; bereits 1933 gingen die Hellers nach Paris. Besiegelt wurde die Emigration im nächsten Jahr 1934 mit der Entrichtung der demütigenden „Reichsfluchtsteuer“, die 25 Prozent des Besitzes betrug. 11 Greta von Zieritz, Erklärung vom 28.04.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, E8. 12 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271. 13 Ebd. 14 Franz Schrekers Schüler in Berlin, (wie Anm. 1), S. 45.

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Möglicherweise half bei der Übersiedlung ein Cousin von Hellers Mutter, der bedeutende Kunstsammler und -händler Richard Goetz (1874–1954), der damals eine prominente Gestalt der Pariser Kunstszene war. Goetz war seinerseits mit Albert Einstein verwandt – eine Verbindung, die später für Heller eine wichtige Rolle spielen sollte. Die Hellers fanden eine Wohnung in der Avenue de Versailles im Pariser 16. Arrondissement. Zusätzlich wurde ein Mansardenraum im 5. Stock des Hauses angemietet, den Heller tagsüber als Studio nutzte. Wir hatten eine große Wohnung in Paris,

erinnerte sich Peter Heller. Eine meiner größten Freuden kam oft am Abend. Er [der Vater] kam vom Atelier herunter, hatte einen Cognac mit meiner Mutter und setzte sich ans Klavier, um vorzuspielen, was er am Tag komponiert hatte. Die zweite Symphonie ist nie gespielt worden. Doch kann ich heute noch, 55 Jahre danach, das Thema des ersten Satzes pfeifen. Ich war neun Jahre alt.15

Eine Fortsetzung der gerade begonnenen Komponistenkarriere war für einen jungen, unbekannten ausländischen Musiker aber kaum denkbar.

Abb. 6: Hans Heller in Paris (1930er Jahre), AdK, Heller 279.

Hellers Schwester Emilie flüchtete damals zusammen mit ihrem Ehemann, Hermann Arnstein, und ihren drei Töchtern, Edwige, Irma und Marion, ebenfalls nach Frankreich. Beide Familien verbrachten viel Zeit zusammen. Offensichtlich mussten die Hellers zunächst 15 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271.

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keine materielle Not leiden. Später verschlechterte sich jedoch die Lage, sie waren nicht nur gezwungen, für den Lebensunterhalt Musikunterricht zu geben, sondern auch sogar die familiären Schmuckstücke nach und nach zu verkaufen. Trotz der zunehmend schwierigen materiellen Bedingungen und der unsicheren Zukunft schuf Heller in den Pariser Jahren seine ersten großformatigen Kompositionen: ein Klavierkonzert, zwei Symphonien und den Orchestergesang Les Aveugles nach Charles Baudelaire. Eine Klavierversion von Les Aveugles wurde damals vom russisch-deutschen Komponisten Eugéne (Jewgeni) Gunst (1877–1950) erstellt, der einst vor dem Ersten Weltkrieg als wichtige Gestalt der Moskauer Musikavantgarde-Szene galt und seit 1920 in Paris lebte. Gunst war Ende der 1930er Jahre in akuter materieller Not. Es ist unbekannt, wie die Zusammenarbeit der beiden Musiker zustande gekommen ist. Baudelaires berühmtes Gedicht, in dem eine Gruppe der scheinbar ziellos umherirrenden Blinden zum grotesken Symbol der Moderne erhoben wird, wurde erstmals 1860 veröffentlicht. Anstelle des romantischen verklärenden Klischees eines blinden „Sehers“ bzw. Künstlers oder Denkers (wie etwa in der Gestalt des Homer) zeichnet Baudelaire ein von Hoffnungslosigkeit geprägtes Bild der orientierungslosen und gesichtslosen, gleichsam entmenschlichten Masse. Seine Blinden sind keine besonderen, „höheren“ Wesen, sondern die Ausgestoßenen der Großstadt.16 Auch Hellers Vertonung mit ihren düsteren Harmonien und vielen Dissonanzen kreiert ein hoffnungsloses Bild. Die musikalischen Strukturen enthalten bereits in diesem Werk Elemente der Dodekaphonie, ohne jedoch streng der Reihentechnik zu folgen. Vielmehr basiert diese Musik auf einigen symbolisch verstandenen Intervallen, zu denen vor allem die kleine Sekunde und der Tritonus gehören. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ließ die französische Regierung deutsche Staatsbürger sowie staatenlose deutschstämmige Ausländer, insgesamt mehr als 5000 Menschen, in Internierungslager deportieren. Die meisten von ihnen waren Flüchtlinge, da­runter besonders viele Juden, die zuvor bereits im Nazi-Deutschland verfolgt worden waren. Sie bekamen im Januar 1940 den Status von „prestataires“, d. h. Arbeitssoldaten im Dienst der französischen Armee, und wurden in die Compagnies de travailleurs étrangers (CTE), zu Deutsch: Kompanien aus ausländischen Arbeitern eingegliedert. Auch Hans Heller wurde gleich zu Kriegsbeginn interniert. Die genaue Chronologie seines Leidenswegs hielt er später in einer Erklärung fest, die in seiner Entschädigungsakte aufbewahrt wird.17 Er wurde im September 1939 zunächst ins Internierungs- und Zwangsarbeiterlager in Sables d’Olonne (in Vendee) gebracht, das in einer ehemaligen Sardinenfabrik eingerichtet wurde und mit Stacheldraht umzäunt war. Einen Monat später wurde er ins Gefängnis am gleichen Ort überführt, das ebenfalls wie das Lager von französischen Soldaten bewacht wurde. Heller musste „Zwangsarbeit aller Art“ verrichten, zu der das Fäl16 Das Thema der Blindheit wurde 1890 von Maurice Maeterlinck in seinem gleichnamigen Drama Die Blinden aufgegriffen. Dort werden blinde Menschen dargestellt, die – von ihrem Leiter, einem Priester, aus ihrem Heim geführt – verlassen werden und einer feindlichen Umgebung ausgeliefert sind. 17 Vgl.: „Zusätzliche Erklärung über meine Verschickung nach, resp. meinen Aufenthalt in verschiedenen Zwangs- u. Arbeitslagern und deren Arbeitsbedingungen“ vom 14.03.1959, in: Entschädi­gungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. C11–C12.

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len von Bäumen sowie das Abmontieren und der Transport von Schienen gehörten. Zwischen Februar und Mai 1940 wurde Heller dann in La Roche sur Yon, ebenfalls in Vendee, inhaftiert. Dazu heißt es in seiner Erklärung: „Unterbringung auf dem Dachboden einer Besenfabrik bei 15 Grad unter Null; Essen im Stehen! Arbeit: Planieren des Flugfeldes von Noiron18 mit Pickel und Spaten. Beförderung zum Arbeitsplatz und Bewachung durch frz. Militär.“19 Während der deutschen Offensive in Frankreich im Mai und Juni 1940 musste Heller Zwangsarbeit auf einem englischen Militärflughafen in der Nähe von Nantes leisten. In dieser Zeit versuchte er auch erfolglos, sich dem British Expeditionary Force (BEF) anzuschließen. Im September 1940 wurde Heller schließlich in ein Internierungslager in Langlade in der Nähe von Nîmes in der Provence gebracht, wo er dann bis April 1942 blieb. Das Lager wurde als „Groupement No. 4 des Formations Etrangers, 803e Groupe“ bezeichnet, seine Hauptverwaltung befand sich in Beaucaire. In diesem Lager wurden vor allem jüdische Flüchtlinge aus Deutschland interniert, die bis zum Waffenstillstand in den Prestataire-Kompanien Arbeitsdienst geleistet hatten und nun in die von der Vichy-Regierung kontrollierte Zone in Südfrankreich deportiert wurden. Insgesamt befanden sich dort „mindestens 150 jüdische Flüchtlinge und etwa 20 bis 25 ehemalige spanische Kämpfer deutscher Nationalität“.20 Die Verhältnisse im Lager verschlimmerten sich rapide. Wie ein Leidensgenosse Hellers, der Komponist und ehemalige Schönberg-Schüler Max Deutsch (1892–1982), berichtete: „Das Militärlager verwandelt sich in ein Konzentrationslager.“21 Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit schwerster Art verrichten: Dazu gehörten der Transport von Schienen, das Auf- und Abladen von 50 kg schweren Zementsäcken, Entladen von Kohlewagen etc., aber auch schwere landwirtschaftliche Arbeit.22 Einige der Arbeitssoldaten, darunter Max Deutsch, konnten sich in die französische Fremdenlegion einschreiben und auf solche Weise den schweren Lebensbedingungen im Lager entkommen.23 Ein anderer deutsch-jüdischer Mitgefangener, der einstige Pionier des Westdeutschen Rundfunks Carl Heil (1901–1983), berichtete später, dass er Heller

18 Vermutlich meinte Heller eher den Flughafen im nahegelegenen Niort. 19 Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, C11. 20 Erwin Meck, Brief an das Entschädigungsamt Berlin vom 15.03.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. C21–C22. Als „spanische Kämpfer“ werden die Teilnehmer des spanischen Bürger­ kriegs auf der republikanischen Seite gemeint, die nach Francos Sieg im April 1939 nach Frankreich geflohen waren. 21 Luc Zbinden, Your people will be my people. A journey of memory between the shadows of the Shoah and the light of courage, Transkript eines Vortrags in St-Jean-du-Gard am 19.07.2019, nicht paginiert, Familienarchiv Eichwede, übersetzt von dem Autor. 22 Vgl.: Ärztliches Attest von Dr. med. Gertraud Lemke, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. B6–B7. 23 Max Deutsch blieb bis 1945 in der Fremdenlegion, die im Zweiten Weltkrieg vor allem in Nordafrika und im Nahen Osten auf der Seite der Achsenmächte kämpfte.

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zwischen September 1940 und April 1942 im Lager Langlade bei Nîmes [gesehen und gekannt hatte und dass] dieses Lager zwar Arbeitslager genannt […], von französischen Behörden selbst aber als Konzentrationslager bezeichnet wurde, dass dieses Lager französischen Kommandanten unterstand und nur mit besonderer Genehmigung für kurze Zeit verlassen werden konnte, dass dieses Lager außerdem von der französischen Gendarmerie kontrolliert wurde, dass Versuche, sich aus dem Lager zu entfernen, mit Verschicken an Straflagern wie Argelès24 oder, noch schlimmer, nach Nordafrika bestraft wurden, dass die Begleitmannschaften des Transports nach Langlade Schießbefehl hatten, sollte einer die Gruppe zu verlassen versuchen, […] dass die Unterbringung in einem von Ungeziefer wimmelnden Schafstall menschenunwürdig war, dass einer der französischen Wachthabenden, den ich nach meiner Rückkehr aus der Deportation in Paris wieder sah, mir erklärte, wir seien ja schon in Langlade auf die deutschen KZs vorbereitet worden […].25

Der jüdische Künstler Jacob Barosin26 wurde zwischen Mai 1940 und Mai 1941 ebenfalls in Langlade inhaftiert. Ende 1940 fertigte er eine Kohlezeichnung von Hans Heller, die sich heute im Holocaust-Museum in Washington befindet.27

Abb. 7: Jacob Barosin: Porträt von Hans Heller (1940).

24 Gemeint ist das berüchtigte französische Camp de Concentration in Argelès-sur-Mer. 25 Brief von Carl Heil an Hans Heller, Paris, 10.03.1959, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. C9–C10. 26 Jacob Barosin (1906–2001, bis 1933: Jacob Judey) wurde in Riga geboren und lebte seit seiner Kindheit in Berlin. 1933 floh er nach Frankreich, wo er ab 1939 ebenso wie Heller in verschiedenen Lagern inhaftiert wurde und später in einem Versteck überlebte. Während seiner Haft erstellte er zahlreiche Zeichnungen, die das Lagerleben dokumentieren, darunter viele Porträts seiner Leidensgenossen. Besonders bekannt ist sein Album aus dem Deportationslager Gurs, das heute in Yad Vashem in Jerusalem aufbewahrt wird. 1947 übersiedelte Barosin in die USA. Vgl. dazu die Biographie auf der Homepage Yad Vashem: https://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/last_portrait/barosin.asp, letzter Zugriff: 26.06.2022. 27 https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn50742, letzter Zugriff: 26.06.2022. Mit Dank an das Holocaust-Museum in Washington D.C. für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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Abb. 8: Brief von Albert Einstein an Arthur Marcus vom 05. Februar 1941, Familienarchiv von Wolfgang Eichwede.

Um diese Zeit bemühte sich Albert Einstein um Hellers Freilassung. In einem Brief an einen Dr. Arthur Marcus schrieb Einstein am 5. Februar 1941: Von befreundeter Seite wurde ich auf den Fall des Komponisten Hans Heller aufmerksam gemacht, der in einem südfranzösischen Konzentrations-Lager sitzt. Es ist dringend notwendig, dass er und seine Familie recht bald die notwendigen Affidavits erhält für die Immigration nach USA. Ich wende mich deshalb an Sie als einen Freund von Herrn Heller in der Hoffnung, dass Sie geneigt sein werden, dem in schwerer Bedrängnis befindlichen Manne und seiner Familie durch Ihr Affidavit zur Einwanderung zu verhelfen. Meine eigenen Affidavits werden leider neuerdings nicht mehr angenommen, so dass ich selber keines geben kann. Ich sende aber einen Empfehlungsbrief an den Konsul, was nach meinen Erfahrungen meistens erfolgreich ist.28 28 Brief von Albert Einstein an Arthur Marcus vom 05.02.1941, Kopie im Familienarchiv Eichwede.

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Als „befreundete Seite“ fungierte vermutlich Richard Goez, der kurz zuvor aus Paris geflohen war und in die USA entkommen konnte. Einsteins Bemühungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Einmal konnte Heller nur durch Zufall einer drohenden Deportation nach Osten entrinnen: Sein Name wurde von einem französischen Wächter falsch vorgelesen, es wurde angenommen, er wäre griechischer Abstammung. Einige Tage später konnte Heller aus dem Lager fliehen. Er kam in die Cevennen, seine Frau Ingrid und der Sohn Peter schlossen sich ihm an, nachdem sie für eine kurze Zeit in Châteauneuf-du-Faou in der Bretagne interniert worden waren. Die Menschen in der dünn besiedelten bergigen Region der Cevennen galten seit jeher als freiheitsliebend. Es war daher kein Zufall, dass diese – überwiegend protestantisch geprägte – Gegend zum Zentrum des Widerstands gegen die deutsche Besatzung wurde. Sie diente unter anderem als Rückzugsgebiet für deutsche Nazi-Gegner und für Juden. Schätzungsweise 800 bis 1000 Juden fanden hier in den Jahren 1940–1945 Zuflucht und Schutz. Im Gegensatz zur evangelischen Kirche in Deutschland setzten sich die französischen Protestanten auch öffentlich für verfolgte Juden ein. Der Präsident des Conseil National des Évangéliques de France Marc Boegner schrieb am 29. August 1941 an den damaligen Grand Rabbin de France Isaïe Schwartz: „Unsere Kirche, die in der Vergangenheit den ganzen Schrecken der Verfolgung gekannt hat, empfindet ein intensives Mitgefühl für Ihre Gemeinden. […] Es gibt eine starke Verbindung zwischen Ihrer Religion und der protestantischen Kirche, die die Menschen nicht trennen können.“29 Die tiefe Sympathie für das Judentum war in den protestantischen Kreisen dieser Gegend zudem traditionell begründet. Der Historiker Patrick Cabanel schreibt darüber in seinem Buch Juifs et protestants en France, les affinités électives: XVIe–XXIe siècle: „In den Bergen der Cevennen hat kaum jemand vor der Fluchtbewegung der 1940er Jahre Juden gesehen; aber jeder ‚kannte‘ sie schon und teilte mit ihnen die gleiche Kultur des Buches. Die Gemeinsamkeit ihrer Geschichte scheinen das Schicksal der protestantischen Gemeinschaften der Cevennen und der Juden ebenfalls näher zusammenzubringen: der prägende Einfluss des Alten Testaments, Minderheitenerfahrungen, freiheitsfeindliche Gesetze, spöttische Spitznamen, gewaltsame Verfolgung, Diaspora usw. Für die meisten dieser Hugenotten war es selbstverständlich, den Juden, die zu einer neuen Überquerung der Wüste gezwungen wurden, ihre Hand zu reichen.“30 Die Hellers wurden von dem protestantischen Pfarrer Paul Zbinden (1900–1988), der ursprünglich aus der Schweiz stammte,31 und dessen Familie beschützt. Zbinden war in diesen Jahren Mitglied einer christlichen Widerstandsgruppe, die sich unter anderem der 29 Zitiert nach: https://www.jta.org/1941/08/29/archive/protestant-church-in-france-denounces-vichysanti-jewish-policy, übersetzt von dem Autor, letzter Zugriff: 26.06.2022. 30 Patrick Cabanel, Juifs et protestants en France, les affinités électives: XVIe–XXIe siècle, Paris 2004, zit. nach: Zbinden, Your people will be my people, (wie Anm. 22). 31 Paul Zbinden wurde am 27.  November 1900 in Versoix (Kanton Genf ) geboren und starb am 11. November 1988 in Genf. Informationen von Luc Zbinden aus seiner E-Mail an den Autor vom 05.04.2021.

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Rettung jüdischer Kinder aus dem Großraum Paris widmete. Zusammen mit einem anderen Pfarrer fuhr Zbinden regelmäßig unter dem Vorwand einer medizinischen Behandlung mit dem Zug nach Paris, um auf dem Rückweg unter großem persönlichem Risiko jüdische Kinder mitzunehmen, die später nach Spanien gebracht wurden. Für die Hellers wurde ein Unterschlupf im Dorf St-Jean-du-Gard am südlichen Rand der Cevennen organisiert. Peter Heller besuchte dort zeitweise sogar die örtliche Schule. Im Sommer 1942 waren die Hellers häufig zu Besuch bei Pfarrer Zbinden, der die Ferienzeit zusammen mit seiner Frau und sechs Kindern in einem Bauernhaus etwa 3 km entfernt von St-Jean-du-Gard lebte.

Abb. 9: Paul Zbinden, Familienarchiv von Luc Zbinden.

Sein damaliges Leben beschrieb Heller später folgendermaßen: Im April 1942 wurde ich zu landwirtschaftlicher Arbeit nach St.-Jean-du-Gard abkommandiert. Ich musste zweimal täglich auf eine ca. 200 m hohe Anhöhe steigen und dort Mais und Kartoffelfelder begießen (!), d. h. fortgesetzt Wasser aus einer tiefer gelegenen Zisterne heranschleppen. Im August 42 bekam ich einen schweren Herzanfall; der inzwischen verstorbene Ortsarzt, Dr. Bentkowski, gab mir Morphiumspritzen; ich war mehrere Wochen bettlägerig u. völlig arbeitsunfähig. Eine reguläre Lazarettbehandlung war ausgeschlossen, weil mich dies der Gefahr der Auslieferung an und der damals im Gang befindlichen Deportation durch die Vichy-Behörden ausgesetzt hätte. (Im August 42 fand bekanntlich eine Groß-Razzia der Vichy-Behörden32 statt, die zu der Deportation der Juden nach Auschwitz geführt hat). Diese ständige uns bedrohende Gefahr hat außerdem noch mein Nervensystem völlig erschüttert.“33 32 Im August und September 1942 ließ die Vichy-Regierung über 10.000 Juden in Lagern in Südfrankreich internieren, die meisten von ihnen wurden später in die deutschen Vernichtungslager deportiert. 33 Hans Heller, Zusätzliche Erklärung vom 05.07.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. B13. Nach einem längeren Rechtsstreit mit dem Entschädigungsamt Berlin wurde schließlich ein Vergleich akzeptiert, demnach bekam Hans Heller als Entschädigung für seine gesamte Haftzeit

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Die Arbeit in St.-Jean-du-Gard bezeichnete Heller sogar als „die schwerste während des ganzen Krieges34. Die Situation änderte sich dramatisch nach der Besatzung Südfrankreichs durch die deutsche Wehrmacht im November 1942. Schließlich wurde Hans Heller in den ersten Januartagen 1944 erneut verhaftet und „unter starker Gendarmerie-Bewachung“ in ein Zwangsarbeiterlager in Sanary-sur-Mer bei Toulon deportiert. Ingrid und Peter Heller konnten auf einer Ziegenfarm versteckt werden. Hans Heller wurde zur Schwerstarbeit in der Organisation Todt (deutsche Bauorganisation für militärische Anlagen) eingesetzt. Ende März 1944 hat ihn eine Gestapo-Angestellte über die bevorstehende Deportation in ein Vernichtungslager gewarnt35 und er konnte im letzten Moment fliehen. Die Hellers verbrachten den Rest der Besatzungszeit unter großen Entbehrungen und ständiger Todesgefahr bis zu ihrer Befreiung am 25. August 1944 in einem Waldversteck in der Nähe von Nîmes. „1944 waren wir, mein Vater, meine Mutter und ich in der ‚Garrigue‘, einer Wüste nördlich von Nîmes“,36 erinnerte sich Peter Heller, wo wir uns sechs Monate lang vor den Deutschen versteckt hatten. Da gab es Bomben, nichts zu fressen, Angst – und die deutsche Sprache. Mein Vater, der, obwohl jüdisch, irgendwie doch ein Optimist war, wollte unbedingt, dass ich Deutsch lerne. ‚Wenn wir in Amerika sind, musst du drei Sprachen können.‘ Der arme Kerl hat mehr Angst vor mir gehabt, als von [sic] den Nazis, denn ich habe die grausamsten Fehler gemacht. Er war ästhetisch zu sehr entwickelt, er konnte also meine Sprachenschlächterei nicht vertragen.37

Die Familie von Hellers Schwester, Emilie Arnstein, wurde ebenfalls 1944 festgenommen und zunächst ins Konzentrationslager Drancy gebracht, von wo sie im April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Das Ehepaar Arnstein und ihre Tochter Irma wurden dort ermordet, während die beiden anderen Töchter Edwige und Marion überlebten. Sie schlugen sich nach ihrer Befreiung Richtung Westen durch und kamen schließlich im Mai 1945 nach St-Jean-du-Gard, wo sie die Hellers trafen.38 Nach dem Ende des Krieges nahmen die Hellers Kontakt zu Richard Goetz auf, der sie ermutigte, in die USA zu kommen, und ihnen seine Unterstützung versprach.39 1200 DM: Vergleich vom 30.06.1960, in: ebd., C26. Eine weitere Entschädigung bekam Heller für sein während der NS-Zeit beschlagnahmtes Vermögen bzw. für die erzwungene Reichsfluchtsteuer: ein diesbezüglicher Vergleich in Höhe von 14.000 DM wurde erst 1964 geschlossen. 34 Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. C12. 35 Diese Tatsache wird u. a. in Hellers Autobiographie aus der Entschädigungsakte erwähnt: Vgl.: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. M8. 36 Als garrigue wird der südliche Teil des Cevennengebirges mit seiner charakteristischen Strauchheidenvegetation bezeichnet, aber auch einige andere ähnliche Landschaften im südlichen Europa und Nordafrika, vgl. u. a.: Jean-Michel Renault, La Garrigue – grandeur nature, Barcelona 2000. 37 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271. 38 Vgl.: Brief von Marion Arnstein an Yad Vashem vom 08.01.2013, Kopie im Besitz von Luc Zbinden. 39 Laut Auskunft von Alexandra Heller, der Schwiegertochter Hans Hellers, lebten die Hellers später in New York tatsächlich in der Wohnung von Richard Goetz, E-Mail von Alexandra Heller an Elisabeth Eichwede vom 09.04.2021.

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Abb. 10: Richard Goetz mit seiner Kunstsammlung, New York 1951, AdK, Heller 177.

Am 22. Mai 1946 bestiegen die Hellers in Paris eine Maschine der amerikanischen TWAFluggesellschaft, die sie nach New York brachte.40 Die hohen Kosten für den Flug wurden teilweise durch den Verkauf von seltenen alten Ausgaben von Bachs Werken aus Hellers Besitz finanziert; den Verkauf organisierte Paul Zbinden, der die Noten aufbewahrte und seit dem Winter 1944/45 in der Schweiz lebte.41 Die schnelle Einwanderung in die USA war anscheinend Albert Einstein zu verdanken, der sich erneut für Hans Heller einsetzte. Einstein schrieb an die amerikanische Einwanderungsbehörde: „Ich bürge für seine und seiner Frau persönliche und politische Zuverlässigkeit und bin überzeugt, dass er und seine Familie in hohem Maße verdienen, nach all den Jahren der Leiden und der Entbehrungen in den Vereinigten Staaten aufgenommen zu werden.“42

40 Diese Informationen von Luc Zbinden aus seiner E-Mail an den Autor vom 05.04.2021 basieren auf einem von ihm gefundenen Flugticket. 41 Informationen von Luc Zbinden aus seiner E-Mail an den Autor vom 06.04.2021. 42 Brief von Albert Einstein an die amerikanische Einwanderungsbehörde vom 16.01.1946, übersetzt von dem Autor, Kopie in: AdK, Heller 185.

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Abb. 11: Brief von Albert Einstein an die amerikanische Einwanderungsbehörde vom 16. Januar 1946, AdK, Heller 185.

Trotz der Strapazen und Schicksalsschläge der vorangegangenen Jahre setzte Heller seine schöpferische Tätigkeit bereits 1945 wieder fort. Nach dem Krieg komponierte er unter anderem das Oratorium Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation [Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, Jesaja 2,4] für Bariton solo, gemischten Chor und großes Orchester auf biblische Texte aus dem Buch von Jesaja und aus den Klageliedern von Jeremiah in englischer Übersetzung. Die Widmung der Partitur lautet: „A Madame et Monsieur Gendaud. A Mademoiselle Suzette Duplessy. Avec ma plus profonde gratitude pour leur abnégation et leur courage envers nous pendant les tribulations de la guerre.“ [An Madame und Monsieur Gendaud. An Mademoiselle Suzette Duplessy. Mit meiner tiefsten Dankbarkeit für ihre Selbstlosigkeit und ihren Mut uns gegenüber während der Schwierigkeiten des Krieges. Übersetzt von dem Autor] Mit dem Ehepaar Gendaud und mit Suzette Duplessy aus Nîmes43, die die Hellers offenbar zusammen mit Paul Zbinden 1944 versteckten und versorgten, stand Heller noch lange Zeit in Verbindung, davon zeugen Briefe aus seinem Nachlass.44 Die Partitur des Oratoriums ist als Oratorio II bezeichnet und wurde später unter dieser Bezeichnung uraufgeführt. Es ist jedoch unklar, welches Werk als Oratorio I gelten sollte. Das Oratorio II besteht aus sechs Teilen. Im ersten Teil setzt der Chor mit dem berühmten 43 Suzette Duplessy starb 2010 im Alter von 88 Jahren. 44 Vgl.: AdK, Heller 194 sowie Familienarchiv Eichwede.

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Anfangsvers der Klagelieder Jeremiahs ein, der von Heller leicht verändert wurde: „How lonely lies the city! How has she become like a widow, how has she become like a vassal. Once so crowded with people, so great among the nations, a princess among the cities.“45 Die Bilder der Zerstörung, des Leids und der Verzweiflung in den ersten vier Teilen des Oratoriums, die auf Texten der Klagelieder basieren, werden am Ende des vierten Teils durch Gottes Friedensbotschaft unterbrochen: „I am creating new heavens and a new earth, and the former things will not be remembered, nor brought to mind“.46 Die letzten beiden Teile sind eine Vertonung der Friedensvision Jesajas im messianischen Zeitalter.

Abb. 12: Hans Heller (Ende der 1930er Jahre), AdK, Heller 275.

45 Die Originalversion lautet: „How lonely lies the city that once thronged with people! Once great among the nations, now she is like a widow! Once princess among provinces, she has become a vassal.“ Die lutherische Übersetzung ist: „Ach, wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern, und die eine Königin in den Ländern war, muss nun dienen.“ Die Klagelieder Jeremiahs, Klgl. 1,1, zit. nach der Übersetzung Luther 2017, Deutsche Bibelgesellschaft, digitale Version: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/suche?query=Wie%20 liegt%20die%20Stadt%20so%20verlassen&bibles=LU17¶llels=&content=posts,content_page, resources&sort=canonical&ts=1649009145830&view=, letzter Zugriff: 26.06.2022. 46 Jesaja 65:17 in der lutherischen Übersetzung: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen neh­ men wird.“

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Der Musikwissenschaftler und Musikchef des Deutschlandfunk Kultur, Holger Hettinger, der sich mit Hans Hellers vokalsymphonischen Werken intensiv auseinandersetzte, schrieb zum Oratorium: Es ist eine sehr starke, sehr suggestive Musik; ich war beeindruckt, wie sehr der Textgehalt durch die ausgesprochen lebhafte, fein ausdifferenzierte Instrumentierung gestützt und stellenweise verstärkt wird – insbesondere die Bariton-Solo-Passagen wie ‚All who pass along the road clap their hands‘ sind so ungeheuer präzise und suggestiv nachgezeichnet, wie es mir in diesem Genre kaum je begegnet ist. Interessant ist auch, wenn sich Textgehalt und Stimmungscharakter der Musik bewusst auseinanderbewegen, wie etwa bei ‚Nation shall not lift sword against Nation‘ – das ist musikalisch wie eine zarte Hoffnung inszeniert, so gar nicht pompös. Da interpretiert die Musik den Text ganz sachte – sehr bewegend. Auch musikalisch ist das Oratorium sehr ergiebig – die zahlreichen Motive, die sich über die Orchestergruppen hinweg immer wieder berühren und umspielen: das ist schon sehr, sehr große Instrumentationskunst.47

Zu den in New York vollendeten Kompositionen gehört die Little Suite (1951) für Klavier, die Heller – genauso wie andere Klavierwerke – für seine Frau Ingrid komponierte. Es ist eine Abfolge von sechs Charakterstücken, von denen jedes ein eigenes musikalisches Idiom entfaltet. Während das Eingangsstück Prelude auf einer Zwölftonreihe basiert,

Abb. 13: Beginn des 1. Satzes Prelude, AdK, Heller 117.

finden sich in den anderen Stücken neoklassizistische wie auch expressionistische Elemente und sogar Imitationen von Vogelgezwitscher im Stil eines Olivier Messiaen (Nr. 5 „Like the song of a bird“). Die kurzen rezitativartigen Motive und Quartenharmonien in der Elegie (Nr. 4) erinnern an traditionelle synagogale Musik. Über das New Yorker Leben der Hellers ist wenig bekannt. Sie verbrachten diese Jahre im ruhigen Stadtteil Forest Hills, der zum Bezirk Queens gehört. Trotz der 1952 erfolgten Einbürgerung als nunmehr „John Heller“ gelang es ihm auch in den USA nicht, sich als Komponist und Musiklehrer zu etablieren und eine materielle Existenz aufzubauen. Kein 47 E-Mail von Dr. Holger Hettinger an den Verfasser vom 24.07.2019.

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einziges seiner Werke wurde in seiner amerikanischen Wahlheimat je aufgeführt. Seine zahlreichen Versuche, seine Werke an Dirigenten zu vermitteln, blieben genauso erfolglos wie seine Bewerbungen um musikpädagogische Stellen an Konservatorien.48 Seiner Frau Ingrid, die während des Krieges jahrelang nicht Klavier spielen konnte, gelang es dagegen, ihre pianistische Tätigkeit mit Unterstützung des berühmten deutsch-jüdischen Pianisten Carl Friedberg (1872–1955) wieder aufzunehmen. Neben klassischen Werken schloss sie vermehrt auch modernes Repertoire in ihre Programme ein, die sie anscheinend fast ausschließlich in Europa präsentierte. In ihren Konzerten spielte sie immer wieder Kompositionen ihres Ehemannes, wodurch ein gewisses Interesse für seine Musik entstand.49 „Augenblicklich sind zwei Freunde aus New York hier“, schrieb die Berliner Sängerin und Pädagogin Louise Hartung im April 1954 an ihre Freundin, die berühmte Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, ein Komponist, dessen Oratorium ich im Herbst für das Hauptjugendamt zur Uraufführung bringen will, und seine Frau, eine Pianistin, die am 29. April das Ravel-Konzert für uns spielt. Es sind Deutsche, die 1933 auswandern mussten, inzwischen Amerikaner wurden und im Herbst hier waren, weil Ingrid Heller, so heißt die Klavierspielerin, im Amerika-Haus Debussy spielen sollte. […] Gestern haben wir also den ganzen Tag wechselseitig Musik gemacht und uns gegenseitig bewundert und hellauf darüber gelacht. Sie sind gleich mir befreundet mit der Witwe des Komponisten Schreker. Maria Schreker hat mich während des Krieges auf eine dieser lebensgefährlichen Russlandfahrten begleitet und einen stoischen Mut gezeigt. Für einen Filigranmenschen eine unwahrscheinliche Leistung.50

Louise Hartung (1905–1965) war eine prägende Gestalt in der Berliner Kulturszene der Nachkriegszeit. Sie hat maßgeblich am kulturellen Wiederaufbau mitgewirkt, bevor sie sich der pädagogischen Arbeit im Berliner Hauptjugendamt widmete, dessen Aufgabe es war, Bedingungen für eine demokratische Erziehung und Bildung zu schaffen. Der Kontakt zu den Hellers kam offensichtlich durch Maria Schreker zustande, bei der die Hellers während ihres ersten Besuchs in Berlin 1953 wohnten.51 Maria Schreker war genauso wie Hartung während des Krieges gezwungen worden, Konzerte für die Wehrmacht an der Ostfront zu geben. Beide waren überzeugte Nazi-Gegnerinnen. Diese Verbindung zu einer Protagonistin der Berliner Kultur spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung der Hellers, ihre Zukunft mit Berlin zu verbinden. Die geplante Premiere von Hellers Oratorium im Rahmen der Aktivitäten des Hauptjugendamts fand tatsächlich ein Jahr später statt. Dafür kamen die Hellers 1955 wieder für 48 Vgl. die eidesstattliche Erklärung von Eugene L. Bondy vom 23.06.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. E13. 49 Konzertbesprechungen in der Berliner Zeitung Der Tag vom 03.02.1955 oder in der Londoner The Times vom 10.10.1957 erwähnen ihre Aufführungen der Little Suite von Heller, Belege im Familienarchiv Alexandra Heller (USA). 50 Brief von Louise Hartung an Astrid Lindgren, Berlin, undatiert, April 1954, in: Astrid Lindgren und Louise Hartung. Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft, hrsg. v. Jens Andersen u. Jette Glargaard, Berlin 2016, S. 67. 51 Vgl.: Meldeschein, in: AdK, Heller 219.

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längere Zeit nach Berlin. Im Rahmen eines „Konzerts für die Berliner Jugend“ im Konzertsaal der Berliner Hochschule der Künste erlebte das Oratorium Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation (Oratorio II) am 22. März 1955 mit dem RIAS-Symphonie-Orchester und dem Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale unter Karl Forster (1904–1963) seine Uraufführung. Dieser Chor, den Forster seit 1934 bis zu seinem Tod leitete, galt in der Nachkriegszeit als einer der besten deutschen Chöre und genoss ein hohes internationales Ansehen. In seiner 1960 verfassten Erklärung berichtete Forster über seine Arbeit an Hellers Werk: Herrn Hans (John) Heller habe ich kurz nach seiner Rückkehr aus Amerika im Jahr 1954 kennen gelernt. Der Senator für Jugend und Sport trat damals an mich mit der Anfrage heran, ob ich sein Oratorium Nr. II über Texte aus den Propheten Jeremias und Isaias in den Konzerten für die Jugend aufführen würde. Da ich von der Partitur dieser Komposition, die Herr Heller in Amerika schrieb, einen sehr positiven Eindruck bekam, konnte ich ohne alle Vorbehalte meine Zustimmung geben. Die Uraufführung erfolgte dann schon am 22. März 1955. Die Tonsprache des Werkes ist ausgesprochen fortschrittlich und für den Hörer durchaus nicht in allen Partien leicht aufzunehmen. Um so erstaunlicher, aber auch erfreulicher ist die Feststellung, dass das Werk von der Jugend sehr gut aufgenommen wurde.52

Auch das Presseecho der Aufführung fiel außerordentlich positiv aus. Der bekannte Komponist und Musikschriftsteller Erwin Kroll schrieb etwa in seiner Besprechung unter dem Titel „Musik des Glaubens“ in der Zeitung Der Tag: Heller formte sein Werk unter dem Eindruck der beiden letzten Weltkriege, und zwar nach den Klageliedern des Jeremias. Die Zerstörung Jerusalems nimmt er als Symbol unseres eigenen Zusammenbruches und läßt sein Werk nach den Worten des Propheten Jesaias in der Verkündung einer neuen, besseren, friedvollen Welt gipfeln. Man spürt, dass der Komponist aus innerer Getriebenheit, aus der Eingebung heraus geschaffen hat.

Die Rezensenten des Tagesspiegels und der Musikblätter erwähnten den „bemerkenswert lauten Beifall“: „Der Beifall der jungen Hörer galt nicht nur der ausgezeichneten Wiedergabe, sondern auch dem Geist eines Werkes, das der Auseinandersetzung mit den Fragen und Erlebnissen der Zeit dient.“53 Der Erfolg dieser Aufführung trug jedoch nicht zur erhofften weiteren Verbreitung von Hellers Musik bei. Bislang blieb dieses Konzert, dessen digitalisierter Rundfunkmitschnitt im Archiv der Akademie der Künste in Berlin vorliegt, die einzige Aufführung von Hellers Oratorium. Die Aussicht auf die Wiedergutmachungszahlungen der deutschen Regierung bewegte Heller zur Wiederannahme der deutschen Staatsbürgerschaft (verfolgten Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit stand die Wiedergutmachung damals dagegen nicht zu). 52 Karl Forster, Eidesstattliche Erklärung vom 29.04.1960, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. E9. 53 Pressestimmen zur Aufführung, in: ebd., Bl. E15 und E16.

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Durch die wiederholten längeren Aufenthalte in Deutschland, wo die Hellers seit 1953 die meiste Zeit verbrachten, wurde ihnen die amerikanische Staatsbürgerschaft 1959 aberkannt – ein schwerer Schlag für den Komponisten. Mit einem Brief an das amerikanische Konsulat vom Oktober 1959 versuchte er, das noch zu verhindern: Wir möchten Ihnen sagen, dass uns diese Entscheidung außerordentlich leidtut und Ihnen versichern, dass wir uns sehr bemüht haben, den Verlust der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu vermeiden. Wir gingen nach Deutschland 1953 und 1954 wegen der Uraufführung meines Oratoriums und weil für Frau Heller ein Klavierabend in den Amerikahäusern Berlin und Freiburg organisiert wurde. Viele weitere Konzerte folgten in den kommenden Jahren. Dennoch sind wir zwischen 1953 und 1958 drei Mal in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, hauptsächlich, um nicht den Verlust der Staatsbürgerschaft zu riskieren. Unglücklicherweise war es für uns aus finanziellen Gründen nicht möglich, in diesem Jahr vor dem Auslaufen unserer Pässe in die Staaten zurückzukehren.54

Hans Heller war ein außerordentlich gebildeter und politisch interessierter Mensch, ein Zeugnis davon ist ein umfangreicher Text über die Geschichte des Antisemitismus, den Heller in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen für den Neffen seiner Frau, Wolfgang Eichwede, verfasste. Die Judenverfolgung der NS-Zeit ließ ihn nie mehr los und prägte auch sein musikalisches Schaffen der 1950er und 1960er Jahre. Mein Vater war nicht fähig, den Judenmord objektiv zu analysieren,

schrieb Peter Heller. Er konnte sich davon nie mehr trennen. Deshalb die Werke der Nachkriegszeit: alles musste einen Text haben, mit Ausnahme des Divertimento. Alles musste textbedingt sein, ich meine die biblischen Schriften, die Sprache des traditionellen Requiems, die Gedichte der Nelly Sachs. Drei Tage vor seinem Tod am 9. Dezember 1969 saß er am Schreibtisch und vertonte noch ein solches Gedicht, das mit den Schornsteinen. Meine Mutter wurde verrückt, denn sie musste monatelang sich den Versuch, Rauch in Musik zu übersetzen, täglich anhören. Der Holocaust wurde für ihn zu einer Obsession.55 Abb. 14: Hans Heller in Berlin (1960er Jahre), AdK, Heller 275.

54 Zit. nach: Werner Grünzweig, „Hans Heller“, in: Franz Schrekers Schüler in Berlin, (wie Anm. 1), S. 48. 55 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271.

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In diesem Briefabschnitt bezieht sich Peter Heller auf die Kompositionen seines Vaters, die in dessen letzten Lebensjahren entstanden: das Requiem für den unbekannten Verfolgten (1965) für gemischten Chor und großes Orchester, das Divertimento mit dem Untertitel Variationen über eine Reihe (1959) in zwei Versionen für Klavier solo und für großes Orchester sowie das Triptychon für hohe Sopranstimme und Streichquintett (1969) auf Gedichte aus Nelly Sachs’ Gedichtband In den Wohnungen des Todes, der vom Leiden und Tod des jüdischen Volkes handelt. All diese Werke zeichnen sich durch eine sehr dichte Musiksprache mit vielen polyphonen Elementen aus. Hellers Musikstil knüpfte an die musikalischen Entwicklungen der Moderne an, unter anderem verwendete er in seiner letzten Schaffensperiode häufig Zwölftonreihen, die in der Regel als Grundlage für eine komplexe variationsreiche Entwicklung dienten. Das Divertimento, dessen Klavierfassung Ingrid Heller 1959 in einem Konzert in Hamburg zum ersten Mal aufführte, ist ebenso auf einer Zwölftonreihe aufgebaut. In der hier zugrunde liegenden Reihe stechen drei Intervalle – große Septime, Tritonus und kleine Sekunde – hervor, die die Klangatmosphäre des Werkes bestimmen:

Abb. 15: Beginn des Divertimento, AdK, Heller 258.

Es ist jedoch keine „trockene“, kopflastige Musik, vielmehr kreiert Heller daraus eine sehr ausdrucksvolle und plastische Musiksprache, die zur Grundlage einer Reihe von kontrastbetonten Charaktervariationen wird. So schrieb die Frankfurter Rundschau im November 1959 nach einer der ersten Aufführungen dieser Komposition: „Nach den überaus spröden, abstrakten und bis zu instrumentaler Entfremdung konzentrierten und intellektualisierten Webernachen Variationen erfuhr man in dem Divertimento wieder einmal, dass Reihenund Zwölftontechnik – das Stück ist streng auf der Grundlage einer einzigen Zwölftonreihe gestaltet – nicht gleichbedeutend sind mit reiner Verstandsarbeit und Mathematik, sondern dass auch hier die Integration des Musikantischen, spontan Erfundenen und Empfundenen möglich ist.“ Ein ähnlicher Eindruck wurde einige Tage später in einer Konzertbesprechung in der Kölner Rundschau vermittelt: „Zwischen Webern’s op. 27 und Schoen­ berg’s Klaviersuite stand – im doppelten Sinn56 – als Erstaufführung das Divertimento des 56 Gemeint sind der Programmablauf sowie die stilistischen Eigenschaften.

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Abb. 16: Hans und Ingrid Heller (Ende der 1950er Jahre), AdK, Heller 286.

Schreker-Schülers John Heller, sieben reizvolle Miniaturen, Charakterstücke mit meist vollgriffigem Klaviersatz.“57 Die bedeutendste Komposition Hellers aus jener Zeit, wahrscheinlich sein bedeutendstes Werk überhaupt, ist das Requiem für den unbekannten Verfolgten, das als musikalisches Vermächtnis des Komponisten gelten kann. Heller benutzt hier eine dreifache Orchesterbesetzung samt einem relativ großen Schlagwerk, Celesta und Klavier sowie einen vierstimmigen gemischten Chor. Das Requiem basiert ebenfalls auf einer Zwölftonreihe, die gleich zu Beginn der Komposition vom Klavier im pianissimo vorgetragen wird. Auch in diesem Werk ist Hellers Stil durch eine klar erkennbare individuelle Handschrift geprägt, wie auch und vor allem durch eine enorm starke Ausdruckskraft und Emotionalität, die den Zuhörer ganz unmittelbar mitreißen. In der oben bereits zitierten E-Mail an den Verfasser vermerkte Holger Hettinger über diese Komposition: „Das Requiem lebt von der sehr präzisen Textausdeutung durch die Instrumentierung – hier arbeitet Heller stärker mit Orchesterfarben und Verläufen als im Oratorium, ich habe das Requiem insgesamt ‚expressionistischer‘ wahrgenommen als das Oratorium.“58 Sämtliche Texte des Requiems für den unbekannten Verfolgten sind in lateinischer Sprache, dazu gehört vor allem der kanonische liturgische Text der lateinischen Totenmesse, den der Komponist jedoch teilweise 57 Pressestimmen, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. E17. Die Interpretin war jedes Mal Ingrid Eichwede. 58 E-Mail von Dr. Holger Hettinger an den Verfasser vom 24.07.2019.

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anders gegliedert und mit biblischen Fragmenten aus dem Alten und Neuen Testament (ebenfalls in lateinischer Übersetzung) kombiniert hat. Das Requiem besteht aus sechs Sätzen. Nach einer instrumentalen Einleitung (I. Satz) folgt die zweiteilige Vertonung des Introitus: „Requiem aeternam“ [Ewige Ruhe, II. Satz] und „Te decet hymnus“ [Dir gebührt Lobgesang, III. Satz]. Der umfangreiche IV. Satz „In die illa“ [An jenem Tag] – der gewissermaßen den Platz des traditionellen „Dies irae“ [Der Tag des Zorns] einnimmt – basiert auf einigen apokalyptischen Passagen aus den Büchern der Propheten Jesaja (24,1; 24,18 und 24,20) und Joel (2,3) sowie aus dem neutestamentarischen 2. Brief des Petrus (3,10). Der letztere Abschnitt bildet den gewaltigen Höhe- und Schlusspunkt des ganzen Satzes. Der V. Satz „Kyrie eleison“ [Herr, erbarme dich], der einen denkbaren Kontrast zum vorherigen Satz bildet, beginnt mit der Litanei im Chor pianissimo. Erst nachdem das Flehen des Chores verstummt, beginnt eine dramatische Entwicklung, die vom Orchester allein gestaltet wird. Schließlich setzt der Chor wieder ein, diesmal mit einem ebenfalls resignierten leisen „Miserere“ [Sei gnädig]. Der letzte VI. Satz „Requiem aeternam“ knüpft an das Anfangsmotiv des II. Satzes an, das allerdings einen halben Ton höher und dadurch heller erscheint. Im Mittelpunkt dieses Satzes stehen die Worte vom „ewigen Licht“ (lux perpetua luceat eis), die der Komponist möglicherweise mit seinem eigenen Namen in Verbindung gebracht haben mag. Das Requiem endet mit einem vierfach wiederholten „Amen“. Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten steht in einer Reihe mit weiteren Werken europäischer Komponisten in dieser Gattung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und die Erfahrungen der Kriege und des Totalitarismus thematisieren, darun­ ter das War Requiem von Benjamin Britten (1962), das Requiem für einen jungen Dichter von Bernd Alois Zimmermann (1967–69), das Polnische Requiem von Krzysztof Penderecki (1980/2005) oder das Requiem der Versöhnung (1995, kollektives Werk von 14 Komponisten, darunter Luciano Berio, Penderecki, Wolfgang Rihm, Alfred Schnittke, György Kurtág u. a., zum 50. Jahrestag des Kriegsendes). Diesen Kompositionen ist gemeinsam, dass sie neben dem kanonischen Text der lateinischen Totenmesse weitere biblische und moderne Texte verwenden. Im Gegensatz zu diesen Werken blieb aber Hellers Requiem, das zu den ersten Kompositionen dieser Art gehörte, bis vor Kurzem völlig unbekannt. Seine Uraufführung bedeutete nicht nur eine bemerkenswerte Bereicherung des Konzertrepertoires, sondern sie fügte auch eine wichtige neue Facette in die Geschichte der künstlerischen Verarbeitung der tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ein.59 Heller widmete das Requiem für den unbekannten Verfolgten – wie auch viele andere seiner Werke – seiner Frau Ingrid. Seine Ehe wird als eine sehr glückliche, feste und harmonische, geradezu symbiotische Verbindung beschrieben, die seinem Leben eine notwendige Stabilität trotz der vielen widrigen Umstände vermittelte.

59 Das Requiem für den unbekannten Verfolgten von Hans Heller wurde am 23.09.2021 mit dem MDRRundfunkchor und dem MDR-Sinfonieorchester unter Dennis Russell Davies im Erfurter Dom im Rahmen der ACHAVA-Festspiele Thüringen uraufgeführt.

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Abb. 17: Hans (links) und Ingrid Heller (Ende der 1960er Jahre), AdK, Heller 276.

Ich möchte trotzdem nicht den Eindruck geben, dass er ein verbitterter Mann war,

betonte Peter Heller in seinen Erinnerungen. Im Gegenteil: er hatte Humor, er konnte lieben, er war hoch intelligent und in den letzten 36 Jahren [nach 1933] wurde er traurig. Gott, wie er lachen konnte! Wie meine Mutter lachen konnte! Er hatte auch tief in sich die große Macht der Künstler. Sein Temperament war das eines Vulkans: ruhig und explosiv. Während solcher Ausbrüche sind die Leute geflohen. Ich aber als Kind fand sie großartig, denn die Ausbrüche kamen dann immer wieder in seiner Musik vor.60

Wolfgang Eichwede, der seit Anfang der 1950er Jahre bis zu Hellers Tod eine enge und vertrauliche persönliche Beziehung zum Komponisten pflegte, erinnert sich an dessen Berliner Zeit: Für Hans war die Rückkehr nach Deutschland ein „Wagnis“, wie er einmal sagte. So Schlimmes er und seine Familie erlebt hatten, so fassungslos er dem Land und den Deutschen, die Hitler zugejubelt hatten, gegenüberstand – Hans liebte die Musik von Johann Sebastian Bach, Händel oder Beet­hoven, die deutsche Literatur und Malerei bis in die von den Nationalsozialisten verbotene und verfolgte Moderne. Wenn ich mich richtig an seine Erzählungen erinnere, hatte er immer – selbst auf der Flucht und in seinem südfranzösischen Versteck – Goethes Faust bei sich. Obgleich angewidert von Richard Wagners Antisemitismus, sprach er mir gegenüber von „genialen Momenten“ in T ­ ristan und Isolde. Hans – so mein Eindruck – war geschlagen von Deutschland – und lebte dennoch in seiner Kultur. Dies spürte ich insbesondere Mitte der sechziger Jahre, als ich in Berlin studierte und zeitweise bei den 60 Brief von Peter Heller an Wolfgang Eichwede vom 08.07.1993, AdK, Heller 271.

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Abb. 18: Hans Heller (1960er Jahre), AdK, Heller 244.

Hellers im Grunewald wohnte. Tagsüber wurde gearbeitet, Musch61 übte im großen Wohnzimmer am Flügel (von Debussy über Schönberg bis – Heller), während Hans hinten im kleinen Studio an seinem Requiem komponierte. Ich besuchte ihn dort häufig, er versuchte, mir die Noten zu erklären, er spielte auch einige Töne, ich staunte und ahnte, was in ihm vorgehen mochte. Gegen halb sechs traf man sich vorne zu einem Aperitif – und diskutierte mit großer Leidenschaft. Politik war ein bevorzugtes Thema, Hans Heller bewunderte John F. Kennedy, registrierte den gerade laufenden ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt – „so spät nach dem Krieg“. „Können sich denn die Deutschen ihrer verheerenden Geschichte stellen?“, war seine bange Frage, um mich sogleich auf die kritische französische Literatur der Gegenwart einzuschwören. Danach wurde fast jeden zweiten oder dritten Abend in Konzerte gegangen. Hans konnte außer sich vor Freude sein über eine schöne Aufführung – und doch ganz in sich selbst ruhen. […] Wir gingen oft durch Berlin spazieren. Mitunter erinnerte er sich an die turbulenten zwanziger Jahre, die beide dort verbracht hatten. Einmal waren wir in einem Restaurant. Hans entdeckte am übernächsten Tisch einen Mann, den er erkannte: „Schau, das ist auch einer der wenigen von uns, die überlebt haben …“62

Trotz einiger wichtiger Aufführungen, darunter die Uraufführungen des Divertimento durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSO) unter Francis Travis 1962 sowie des Tripty­ chon 1969 unter der Leitung von Frank Michael Beyer in dessen Konzertreihe Musica nova sacra in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche,63 ist es Hans Heller nach seiner Rückkehr nicht gelungen, eine seinem herausragenden Talent gebührende Stellung im Musikleben einzunehmen. Auch die Unterstützung bedeutender Musiker und Musikwissenschaftler 61 Ingrid Heller wurde im Familienkreis „Musch“ genannt. 62 E-Mail von Wolfgang Eichwede an den Verfasser vom 25.04.2021. 63 Die Solistin war Gisela Evers (1927–2020), das Werk wurde nochmals 1971 in Saarbrücken aufgeführt.

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wie Frank Michael Beyer (1928–2008) oder Hans Heinz Stuckenschmidt (1901–1988)64, die Hellers Musik außerordentlich hoch schätzten, trug nicht dazu bei. Grund dafür waren nicht nur die widrigen biographischen Umstände, sondern auch Hellers Arbeitsweise: Er arbeitete extrem lange an jeder seiner Kompositionen, erstellte immer neue Fassungen und kümmerte sich wenig um die Verbreitung seiner Werke, die Aufführungsmöglichkeiten und Kontakte zu Musikern. Seine Werke, darunter auch sämtliche großformatige, wurden zudem nie gedruckt.65 „Mein Vater hatte mal eine Verabredung mit dem Musikchef vom SFB66“, berichtete Peter Heller in einem Brief. „Er ging in das Büro rein, da saß der Chef und mein Vater sagte: Guten Tag, Herr Schmidt, ich bin Käseverkäufer, wollen Sie von meinem Camembert was kosten? So fördert man seine Karriere nicht, aber er hat die Leute zum Lachen gebracht.“67 Wolfgang Eichwede schrieb dazu: „Ich habe mich oft gefragt, warum er nicht bekannter war als Komponist, bis ich verstanden habe, er konnte oder wollte in diesem Lande niemanden fragen. Er lebte nur seiner Musik (und seiner so unendlich geliebten Frau). In dieser Musik lag sein ganzes Leben in allen Tiefen – und Höhen, die er in ihr fand.“68 Nach Hellers Tod am 9. Dezember 1969 und nach dem Ende der pianistischen Tätigkeit von Ingrid Heller69 verschwand sein Name vollständig aus dem Musikleben. Bislang wurde sein Schaffen auch von der musikwissenschaftlichen Forschung fast gänzlich ignoriert. Hellers gesamter musikalischer Nachlass (inklusive zahlreicher Skizzen) sowie ein Teil der privaten Korrespondenz, einige Konzertmitschnitte aus den 1950er und 1960er Jahren und weitere biographische Materialien werden heute im Archiv der Berliner Akademie der Künste (Abteilung Musik) aufbewahrt. Ein großer Teil der persönlichen Materialien des Komponisten befand sich bis vor Kurzem im Besitz der Witwe Peter Hellers, Alexandra Heller, die in Morrisville im US-amerikanischen Staat Vermont lebt. Motiviert durch das neuerliche Interesse an der Persönlichkeit ihres Schwiegervaters sowie durch die geplanten Aufführungen seiner Werke, schickte Alexandra Heller viele wertvolle Dokumente aus dessen Nachlass, darunter persönliche Papiere, Photographien, Konzertprogramme und Rezensionen, an das Archiv der Akademie der Künste. Außerdem fand sie einige Originalpartituren von Hans Heller, welche sie ebenso nach Berlin übersandte. Nach einer langen Pause ist das Werk von Hans Heller heute durch die vom Autor dieser Zeilen initiierten Konzert- und Aufnahmeprojekte wieder im kulturellen Leben präsent. Durch mehrere begleitende Publikationen in den deutschsprachigen Medien ist Hellers Name den breiten Publikumskreisen erstmals überhaupt bekannt geworden. Einen regen Anteil an der Wiederentdeckung des Komponisten nimmt der bekannte OsteuropaHistoriker Prof. Dr. Wolfgang Eichwede (geb. 1942), der Sohn der Schwester von Ingrid Heller, der Hans Heller persönlich nahestand. 64 In Hellers Nachlass sind positive Rezensionen von Aufführungen seiner Werke erhalten, die Stucken­ schmidt verfasste, vgl.: AdK, Heller 176. 65 Das einzige Werk, das für den Druck vorbereitet wurde, war die Klavierfassung des Divertimento. Es ist jedoch fraglich, ob die Publikation tatsächlich realisiert wurde. 66 Der Sender Freies Berlin. 67 Brief von Peter Heller an Werner Grünzweig vom 24.09.1996. Mit Dank an Dr. Werner Grünzweig. 68 E-Mail von Wolfgang Eichwede an den Verfasser vom 25.04.2021. 69 Anscheinend trat Ingrid Heller bereits seit Anfang der 1960er Jahre nicht mehr öffentlich auf.

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Abb. 19: Wolfgang Eichwede (rechts) mit Hans und Ingrid Heller (1960er Jahre), AdK, Heller 276.

Seine fachlichen und künstlerischen Fähigkeiten qualifizieren ihn nicht nur als einen wichtigen Exponenten der modernen Musik, es würden zweifellos von ihm stärkste Impulse ausgehen, hätte nicht seine Arbeit 1933 verbrecherisch und lebensbedrohend eine radikale Unterbrechung erfahren,

hieß es vor mehr als 60 Jahren in einer Stellungnahme der Internationalen Franz-Schreker-­ Gesellschaft. So ist Hans Heller nicht in dem Maße in der Öffentlichkeit bekannt geworden, wie es seiner künstlerischen Möglichkeit entsprochen hätte, und auch eine Schule bildende Lehrtätigkeit ist ihm durch diese urverschuldeten Umstände versagt geblieben. Wenn ihm der Weltruhm anderer Schreker-Schüler, wie beispielsweise Haba, Krenek, Rosenstock usw., bisher noch nicht zuteil geworden ist, so zeigt doch Rang und Würde seiner Persönlichkeit, dass man von ihm noch bedeutende Einflüsse auf die Entwicklung der neuen Musik erhoffen darf.70 70 Erklärung der Internationalen Franz-Schreker-Gesellschaft vom 03.03.1961, in: Entschädigungsakte Heller, Az. 264 224, Bl. E21.

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Es ist zu hoffen, dass das Schaffen Hans Hellers in naher Zukunft endlich einen gebührenden Platz im deutschen und internationalen Musikleben einnehmen wird. Die Qualität und Originalität seiner Kompositionen wie auch deren humanistische Botschaft und die zeitgeschichtliche Relevanz sind die besten Voraussetzungen dafür.

Werkverzeichnis Alle Manuskripte befinden sich im Archiv der Berliner Akademie der Künste (Abteilung Musik)71 Vokalsymphonische Werke Ȥ Oratorio Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation (1948–1955) Ȥ Requiem für den unbekannten Verfolgten (1963–1965) Ȥ Les Aveugles, Zwei Lieder für Bariton und Orchester (1938–1939) Symphonische Werke Ȥ Ouvertüre für Orchester op. 7 (1929) Ȥ Konzert für Klavier und Orchester in 3 Sätzen: Fassung a (1927–1934). Fassung b (1945–1948) Ȥ Symphonie Nr. 1 (1935–1936) Ȥ Symphonie Nr. 2 (1937–1940/1945–1951) Ȥ Divertimento für kleines Orchester. Variationen über eine Reihe (1959–1962) Vokalwerke Ȥ Vom kleinen Alltag op. 8, Vier Lieder für Mezzosopran oder Tenor mit Klavierbegleitung, Texte von Anton Wildgans (1930) I. „Nichts ist so rührend wie die Habseligkeiten der Toten“ II. „Man muss die Frauen der kleinen Beamten sehn“ III. „Die armen Leute ziehen am Sonntag hinaus ins Grüne“ IV. „Arbeiter reißen die Straße auf“ Ȥ Les Aveugles, Text von Charles Baudelaire, Fassung für mittlere Stimme und Klavier von Eugène Gunst (1938) Ȥ Schlafen, schlafen, nichts als schlafen, Text von Friedrich Hebbel, für Sopran und Klavier (1938) Ȥ Triptychon, Texte von Nelly Sachs, für Sopran und Streichquintett (1965–1969) Fassung für hohen Sopran und Klavier oder Orgel (1968) • „O der weinenden Kinder der Nacht“ • „Diese Nacht“ • „Ein totes Kind spricht“ 71 Vgl. auch: https://archiv.adk.de/bigobjekt/8712, letzter Zugriff: 26.06.2022.

Für den unbekannten Verfolgten

Klavierwerke Ȥ Präludium und Tripelfuge für 2 Klaviere op. 2 (1925) Ȥ Präludium und Doppelfuge für Klavier (1925) Ȥ Zwei Scherzi für Klavier op. 4a (1925) Ȥ Zwölf Variationen über ein Thema von Chopin op. 3 (1926) Ȥ Sonate für Piano solo op. 3 (1926–1927) Ȥ Little Suite für Klavier (1951) Ȥ Divertimento für Klavier. Variationen über eine Reihe (1951–1959) Kammermusik Ȥ Sonate für Violine und Klavier op. 4 (1928) Ȥ Trio für Violine, Bratsche und Cello, op. 5 (1928) Ȥ Quartett für Violine I, Violine II, Bratsche und Violoncello op. 6 (1928)

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Wohlbehütet im Schoß der Familie? Zu Leben, Wirken und Flucht der Sondershäuser Musikerin Alma Leser-Heinrich und der Familie Leser Die jüdische Musikerin Alma Leser-Heinrich entstammte der weit verzweigten Familie Leser, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem kleinen Dorf Immenrode, einer westlichen Exklave der Unterherrschaft des Schwarzburg-Rudolstädter Fürstentums, in die Residenzstadt Sondershausen einwanderte. Immenrode war ab 1721 der bevorzugte Ansiedlungsort des Rudolstädter Fürstentums für Juden gewesen, die damit weitab der Metropole lebten und dennoch Abgaben an das Fürstenhaus zu entrichten hatten.1 In Sondershausen sind Juden erstmals als Schutzjuden Ende des 17. Jahrhunderts erneut fassbar. Zuvor gab es seit den mittelalterlichen Judenpogromen 1349, die auch in Sondershausen die jüdische Gemeinde auslöschten, eine lange Phase, für die keine Zeugnisse dauerhafter jüdischer Ansiedlungen im Stadtgebiet vorliegen.2 Dies änderte sich mit der Erhebung Christian Wilhelms 1697 in den Reichsfürstenstand, da der Fürst angemessen repräsentieren musste und der Mode seiner Zeit und der Praxis vieler seiner Standesgenossen folgte und sich zur Finanzierung seiner aufwendigen Hofhaltung und der Versorgung des Hofes mit Luxusgütern einen Hofjuden, Philipp Abraham Wallich, nahm.3 Seine Nachfolger taten es ihm gleich, was den Beginn einer dauerhaften jüdischen Ansiedlung in Sondershausen ermöglichte.4 Im 19. Jahrhundert war es vor allem die Reformgesetzgebung, unter anderem die Abschaffung des Judenleibzolls, die sukzessive Aufhebung des Schutzgeldes und die Verleihung eines eingeschränkten Bürgerrechtes, die ein weiteres Anwachsen der jüdischen Gemeinde in den kommenden Jahrzehnten begünstigte.5 Die steigende Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder machte es 1825/26 erforderlich eine Synagoge einzurichten. 1834 folgte die Gründung einer israelitischen Schule.6 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war für jüdische Gemeinden in Thüringen eine Blütezeit, dies 1 Vgl.: Stefan Litt, „Die Juden der Schwarzburgischen Territorien im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: Juden in Schwarzburg, Bd. 1: Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs, hrsg. v. Schlossmuseum Sondershausen (= Sondershäuser Kataloge IV), Dresden 2006, S. 8–18, hier S. 14 ff. 2 Vgl.: ebd., S. 9. Bettina Bärnighausen, „Zur Geschichte der Synagogengemeinde Sondershausen“, in: Juden in Schwarzburg, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 35–48, hier S. 35. 3 Vgl.: Litt, „Die Juden der Schwarzburgischen Territorien“, (wie Anm. 1), S. 13. Wallich erscheint in der Stellung des Hofjuden gesichert in einer Akte von 1699 (Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt, Kanzlei Sondershausen, Nr. 2127), er muss zu diesem Zeitpunkt also schon einige Zeit diese Funktion ausgeübt haben. 4 Vgl.: Bärnighausen, „Zur Geschichte der Synagogengemeinde“, (wie Anm. 2), S. 36. 5 Vgl.: ebd., S. 40 ff. 6 Vgl.: ebd., S. 41.

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gilt auch für Sondershausen. Bedeutende Gemeindemitglieder, wie der Rabbiner, Lehrer und Kantor Philipp Heidenheim (1814–1906) und der Hofagent und Gemeindevorsteher Moritz Czarnikow (1795–1870) waren Vertreter des Reformjudentums und setzten sich für die jüdische Emanzipation und Integration in der Stadt ein.7 Dieses Klima mag auch die Familie Leser angeregt haben, nach Sondershausen einzuwandern. Schnell etablierten sich ihre Mitglieder in der Stadt als angesehene Kaufleute, Ladeninhaber, Fabrikanten und sogar als Hoflieferanten. Alma Leser wurde am 16.12.1892 in Sondershausen geboren.8 Ihre Eltern waren der Fleischermeister und Hoflieferant Arthur Leser (1860–1913) und seine Frau Anna (1861– 1906), geborene Stavenhagen aus Angermünde, die 1892 in Berlin geheiratet hatten. Zur Zeit der Geburt der Tochter Alma war die Familie wohnhaft in der Marienstraße 54. Im Haus nebenan wohnte der Vater Arthur Lesers, Moses, der auch als Hauseigentümer der Marienstraße 54 (später in Nummer 69 geändert) geführt wird.9 Der Bruder Alma Lesers, Kurt, wurde 1895 als zweites Kind des Ehepaares Leser geboren.10 Die Mutter Anna verstarb bereits 190611 und hinterließ ihre Kinder noch in jungen Jahren als Halbwaisen; Alma war gerade 14, Kurt 11 Jahre alt. Alma Leser studierte nach abgeschlossener Schulbildung vom 30. September 1909 bis zum 19. März 1912 am Fürstlichen Konservatorium der Musik in Sondershausen Klavier, Gesang und Theorie.12

Exkurs: Fürstliches Konservatorium für Musik Sondershausen Das Konservatorium wurde auf Initiative des Hofkapellmeisters Carl Schroeder (1848– 1935) im April 1883 gegründet.13 Carl Schroeder, der zwischen 1865 und 1866 Mitglied der Hofkapelle war, später u. a. in Leipzig am Gewandhausorchester und am Königlichen Konservatorium wirkte, hatte 1881 die Stelle des Hofkapellmeisters in Sondershausen angetreten. Bei einem Besuch seines Freundes und Leipziger Kollegen Prof. Dr. h. c. Salo  7   8   9 10 11

Vgl.: ebd., S. 42 f. Vgl.: Stadt Archiv Sondershausen (im Folgenden: StA Sondershausen), 1892, A 189. Vgl.: StA Sondershausen, Einwohnermeldebuch, 2.4703. Vgl.: StA Sondershausen, 1895, A 62. Vgl.: Todesanzeige in: Der Deutsche, Amtlicher Anzeiger für das Fürstentum Schwarzburg-Sonders­ hausen. Zeitung für Thüringen und den Harz (im Folgenden: DD), Nr. 182 vom 06.08.1906. 12 Vgl.: Museumsarchiv Schlossmuseum Sondershausen, Jahresbericht des Fürstlichen Konservatoriums für Musik 1909–1911, S. 7 (im Folgenden: JB 1909–1911) sowie 1911–1912 (im Folgenden: JB 1911– 1912), S. 8. 13 Vgl.: Volker Löser, Professor Carl Schroeder- Hofkapellmeister, Konservatoriumsgründer und Lehrer für Dirigenten, Düsseldorf 2008, Zulassungsarbeit zur Diplom-Vorprüfung an der Robert-SchumannHochschule Düsseldorf bei Prof.  Dr.  Manfred Heidler, S. 7; Ilka Filbry, Geschichtlicher Abriss zur Entwicklung des Konservatoriums Sondershausen, Weimar 1993, Diplomarbeit an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, bei Dr. Michael Berg und Dr. Irina Kaminiarz, S. 16. Vgl. auch: Dieter Schwarz, „Zur Geschichte des Konservatoriums“, in: Residenzstadt Sondershausen. Beiträge zur Musikgeschichte, hrsg. v. Karla Neschke u. Helmut Köhler, Erfurt 2004, S. 173–182.

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Abb. 1: Fürstliches Konservatorium für Musik, um 1900, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

mon Jadassohn (1831–1902)14 in Sondershausen legte dieser Schroeder die Gründung eines Konservatoriums nahe, um Nachwuchs für die Fürstliche Hofkapelle zu gewinnen und auszubilden.15 Zwar stand das Fürstenhaus dem Plan wohlwollend gegenüber, es wurde jedoch zur Bedingung gemacht, dass die Lehranstalt die Hofkasse nicht belasten dürfe. Schroeder, der die Lehrstätte leitete, finanzierte sein Projekt aus eigenen Mitteln. Lehrkräfte wurden aus der Fürstlichen Hofkapelle und dem Theater rekrutiert, Schüler mussten zunächst eine Unterrichtsgebühr von 150 RM zahlen, die jedoch schnell anstieg und zu der Zeit, als Alma Leser hier studierte, jährlich etwa 3.000 RM betrug.16 Die Schüler sollten in erster Linie zu Fachmusikern in folgenden Bereichen ausgebildet werden: Klavier, Orgel, Blechblasinstrumente, Streichinstrumente, Dirigieren17, Singen und 14 Jadassohn war jüdischer Musiker, Komponist und Lehrer. Geboren 1831 in Breslau, studierte er zusammen mit Adolf Friedrich Hesse (1809–1863), Ignaz Peter Lüstner (1793–1873) und Moritz Brosig (1815–1887) in Breslau und Leipzig. 1849–52 studierte er Klavier mit Franz Liszt in Weimar. Er kehrte anschließend an das Leipziger Konservatorium zurück, wo er seine Studien abschloss und später selbst Lehrer (Harmonie, Komposition und Kontrapunkt) wurde. Vgl.: Jana Saslaw, Art. „Salomon Jadassohn“, in: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians, hrsg. v. Stanley Sadie, Bd. 9, S. 458 f. 15 Vgl.: Löser, Professor Carl Schroeder, (wie Anm. 13), S. 7. Filbry, Geschichtlicher Abriss, (wie Anm. 13), S. 15. 16 Vgl.: ebd., S. 21. 17 Insbesondere die Dirigierklasse verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, da sie die erste dieser Art im Deutschen Kaiserreich war, vgl.: ebd., S. 18.

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Musikunterricht. Während die Schülerzahl 1883 noch 54 betrug, war sie eineinhalb Jahre später bereits auf 160 angestiegen. Aufgrund des steigenden Platzbedarfs zog das Konservatorium mehrfach um und ließ sich schließlich im ehemaligen Postgebäude dauerhaft nieder, wo bis 1952 unterrichtet wurde.18 Der gute Ruf der Lehrstätte schien sich schnell verbreitet zu haben, da zunehmend nicht nur Schüler aus dem gesamten Reichsgebiet, sondern auch aus der ganzen Welt zum Studieren nach Sondershausen kamen19, u. a. aus Ungarn, England, Schweden Lettland, Polen, Tschechien Russland, Amerika, Brasilien und Neuseeland. Der bekannteste Schüler des Konservatoriums war sicherlich Max Reger (1873–1916).20 Carl Schroeder verließ 1886 Sondershausen, woraufhin Adolf Schulze die Leitung des Konservatoriums übernahm, dann aber 1890 vom wiederkehrenden Schroeder abgelöst wurde. Schroeder leitete das Konservatorium bis 1907. Danach waren der Hofkapellmeister Prof. Traugott Ochs (bis 1910) und Generalmusikdirektor Prof. Rudolph Herfurth (1910) mit der Leitung betraut.21 Seit 1. April 1911 war Prof. Carl Corbach Leiter des Konservatoriums und Hofkapellmeister.22 Zur Zeit als Alma Leser das Konservatorium besuchte, also von 1909–1912, gab es damit zahlreiche Wechsel in der Leitung der Einrichtung. Die Schülerzahlen waren nach wie vor hoch. In den Schuljahren 1909–11 besuchten insgesamt 160 Schüler die Einrichtung: 64 Schülerinnen und 96 Schüler. Im darauffolgenden Jahr gingen die Zahlen etwas zurück; 1911/12 waren es noch 128 Schüler, von denen 47 Schülerinnen und 81 Schüler waren.23 Als Alma Lesers Klavierlehrer sind der Hofpianist Kurt Fischer, Hugo Sočnik aus Leipzig24, der Fürstliche Musikdirektor Prof. Adolph Grabofsky (geb. 1867), Ludwig Franz, der Kammervirtuos Karl Cämmerer und Kammermusikus August Hunrath nachweisbar. Der Kammersänger Prof. Albert Fischer war für die Ausbildung in den Fächern Stimmbildung für Konzertsaal und Bühne sowie Stimmkorrektur zuständig.25

18 Vgl.: Löser, Professor Carl Schroeder, (wie Anm. 13), S. 8. 19 Vgl.: JB 1909–1912 (Schülerlisten). 20 Reger schrieb sich 1890 ein, blieb allerdings nur wenige Monate in Sondershausen, bevor er mit seinem Lehrer Hugo Riemann (1849–1919) an das Konservatorium nach Wiesbaden wechselte, vgl. dazu: Filbry, Geschichtlicher Abriss, (wie Anm. 13), S. 29 f. Vgl. auch: Michael Märker, Wolfgang Marschner, „… Ich denke, der junge Mann hat Talent … Der Riemann-Schüler Max Reger“, in: Residenzstadt Sondershausen, (wie Anm. 13), S. 191–196. Weitere erfolgreiche Schüler des Konservatoriums waren: der Pianist und Komponist Manfred Schmitz (1939–2014), der Operettenkomponist Hans Kollo, der international erfolgreiche Dirigent Olaf Koch, welcher später als Generalmusikdirektor in Halle und Suhl wirkte und Rektor der Hochschule für Musik „Hans Eisler“ in Berlin war, vgl.: Löser, Prof. Carl Schroeder, (wie Anm. 13), S. 16 f. 21 Vgl.: Filbry, Geschichtlicher Abriss, (wie Anm. 13), S. 27, 30, 34, 39. 22 Detaillierter zu Corbachs Biographie und Wirken am Sondershäuser Konservatorium vgl.: ebd., S. 41 ff. 23 JB 1909–1911, S. 6–10 sowie JB 1911–1912, S. 5–8. 24 Anstelle des Hofpianisten Kurt Fischer, der an das Konservatorium in Boston berufen wurde, trat ab 1. Juni 1911 Hugo Sočnik aus Leipzig die Stelle als 1. Klavier- und Theorielehrer an. Im JB 1909–11 (S. 4) heißt es, dass ihm ein Ruf als ausgezeichneter Pianist, Theoretiker und Pädagoge vorauseilte. 25 JB 1911–1912, S. 9.

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Abb. 2: Professor Albert Fischer, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

Abb. 3: Professor Adolf Grabofsky, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

Abb. 4: Professor Carl Schroeder, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

Abb. 5: Professor Carl Corbach, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

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Im Jahresbericht des Fürstlichen Konservatoriums von 1909–1911 wird durch Carl Corbach besonders auf die rege Tätigkeit der Schüler „nach allen Richtungen“ hingewiesen: Bei Opernaufführungen im Fürstlichen Theater wurden Solisten, Dirigenten, Chor und Orchester sämtlich von Schülern des Konservatoriums gestellt. Zudem wirkten die Schüler selbstständig bei Aufführungen des Fürstlichen Theaters und bei den Aufführungen der Fürstlichen Hofkapelle mit. All diese Aktivitäten „tragen dazu bei, die Sicherheit in der Ausübung des Berufs vorzubereiten“, so Corbach.26 *** Auch die Auftritte der Schülerin Alma Leser lassen sich in jenem Jahresbericht beobachten. Bereits nach Erlangung des ersten Ausbildungsgrades nahm Alma Leser an diesen öffentlichen Aufführungen teil. Sechs Monate nach der Einschreibung, am 20. Juli 1910 gab sie ihr Debüt während einer öffentlichen Prüfungsaufführung. Sie bot zwei Gesänge für Mezzosopranstimme dar: ein Rezitativ und eine Arie aus der Oper Xerxes von Georg Friedrich Händel und eine Serenata von Francesco Paolo Tosti. Am 9. Dezember 1910 schloss sich ein Auftritt im Rahmen eines öffentlichen Schüler-Vortragsabends im Konzertsaal des Konservatoriums an. Alma Leser spielte den Walzer E-dur (op. 34 Nr. 1) für Klavier von Moritz Moszkowski. Auch bei Opernaufführungen im Fürstlichen Hoftheater wirkte sie erfolgreich mit. Am 18. Dezember 1910 übernahm Alma Leser im 3. Akt des Lohengrin von Richard Wagner die Partie des dritten Pagen. Im Finale des 4. Aktes der Oper Der Troubadour von Giuseppe Verdi sang sie die Partie der Zigeunerin Azucena.27 Die Tageszeitung Der Deutsche vom 19. Dezember 1910 berichtete über die Leistung der Schülerin: Rein und klar in der Aussprache und von bestrickendem Wohllaut in den jugendlichen Stimmen folgte der Gesang der vier Pagen (Margarethe Grunewald-Nordhausen, Helene König – Osnabrück, Alma Leser und Gertrud Cämmerer – Sondershausen). Er ließ so recht den hohen Wert der Schulung durch Herrn Kammersänger Fischer erkennen, die auch bei den gesamten übrigen gesanglichen Leistungen des Abends hervortrat. Möchten doch alle Sänger und Sängerinnen so deutlich aussprechen lernen; im Konzertsaal und auf der Bühne würde dann nicht so oft die Hauptsache an den gesanglichen Darbietungen, die deutliche Wiedergabe des Textes, fehlen, von der zugleich die genaue charakteristische Färbung der Deklamation und des Tons wesentlich anhängt.“ Und weiter: „Recht gute gesangliche, teilweise auch darstellende Erfolge hatten Fräulein Ludmilla Heinemann – Greußen (Elsa), Fräulein Helene König – Osnabrück, Käthe Hellwig – Halberstadt (Ännchen), und insbesondere Fräulein Alma Leser – Sondershausen (Azucena) und Fräulein Gertrud Kopf – Nordhausen (Agathe).28

Auch am 6. Juli 1911 konnte Alma Leser „mit der vortrefflichen Darbietung der gleich anspruchsvollen Partie des Sextus“ während der Aufführung der Oper La clemenza di Tito von Wolfgang Amadeus Mozart „wieder eine Probe ihres Fleißes und ihrer hohen Begabung“ 26 JB 1909–1911, S. 5. 27 Vgl.: ebd., S. 26, 31. 28 DD, Nr. 297, 19.12.1910.

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liefern. „Wie im Spiel, so weiß Fräulein Leser im Gesang mit ihrer in der Höhe und namentlich auch in der Tiefe ausgiebigen, angenehmen und biegsamen Stimme für jedes Gefühl den rechten Ausdruck zu treffen“, schreibt Der Deutsche.29 An diese ersten erfolgreichen Auftritte reihten sich zahlreiche weitere an.30 Am 28. Juli 1911 spielte Alma Leser sechs Stücke für Klavier: Die Gondoliera von Franz Liszt und fünf Préludes aus dem Opus 28 von Frédéric Chopin.31 Der Deutsche beschrieb die junge Musikerin „als Künstlerin auch auf dem Klavier, mit dem sie zum Herzen zu sprechen weiß“.32 Im darauffolgenden Schuljahr, das am 28. September 1911 begann, wurde unter anderem auch eine große Feier anlässlich des 100. Geburtstages von Franz Liszt am 22. Oktober durchgeführt. Liszt und Sondershausen verband eine langjährige Beziehung. So war er in der Residenzstadt mehrfach ein geschätzter Besucher und ein ausgewiesener Liebhaber des hiesigen Lohorchesters. Dieses lobte er einmal mit den Worten: „Das ist ein großes Wunder, eingesperrt in einer kleinen Stadt.“33 Während die Qualität seiner Werke zu seinen Lebzeiten noch nicht erkannt wurde, nahm sich das Sondershäuser Orchester seinen für damalige Verhältnisse avantgardistischen Kompositionen gern und mit akkurater Ausführung an. Auch nach seinem Tod wurde er hier nicht vergessen. Anlässlich der Feier seines 100. Geburtstages wurden vielerorts Feste ausgerichtet. Im Deutschen vom 22. Oktober 1911 heißt es: Auch Sondershausen wollte darin nicht zurückstehen, zumal es doch seine besonderen lokalen Verpflichtungen hatte, als die Musikstadt, die Liszt besonders geschätzt und öfters aufgesucht hat, um seine Werke hier in den Lohkonzerten und im Theater in würdigster, ihn hochbefriedigender Weise von der Fürstlichen Hofkapelle zu hören.34

Die Feier wurde durch die Aufführung seines Oratoriums Die Legende von der heiligen Elisabeth bereichert, bei der Hofkapelle, Konservatorium und Cäcilienverein zusammenwirkten. Zwar wird Alma Leser nicht namentlich genannt, da Schüler und Schülerinnen 29 DD, Nr. 157, 07.07.1911. 30 Am 17.05.1911 spielte Alma Leser bei einem öffentlichen Schülerauftritt Variationen aus der 1. So­ nate A-dur für Klavier und Violine von Mozart. Am 25.06.1911 sang sie die Arie „Sieh’ mein Herz“ aus Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Vgl.: JB 1909–1911, S. 25, 29. Am 9.11.1911 spielte sie Allegro und Andante aus dem Trio G-dur Nr. 1 für Klavier, Violine und Violoncello von W. A. Mozart. Am 29.11.1911 gab sie zwei Fantasien über Lieder für Klavier dar (Fantasie über Die Forelle von Franz Schubert, komponiert von Stephen Heller, und Fantasie über Die Lerche von Michail Glinka, komponiert von Mili Alexejewitsch Balakirew) und sang am 20.01.1912 zwei Arien für Mezzosopran aus Wagners Tetralogie, vgl.: JB 1909–1911, S. 14 ff. 31 Vgl.: ebd. S. 30. 32 DD, Nr. 176, 29.07.1911. 33 Brief Franz Liszts an Freiherr von Thüna, Rom, 30. Oktober 1871, zitiert nach: Hans Eberhardt, „Franz Liszt in Sondershausen“, in: Das Thüringer Fähnlein, Jena 1938, S. 12; vgl. auch: Filbry, Geschichtlicher Abriss, (wie Anm. 13), S. 1; Axel Schröter, „Neue Musik – Franz Liszt in Sondershausen“, in: Residenzstadt Sondershausen, (wie Anm. 13), S. 153–156. 34 DD, Nr. 249, 23.10.1911.

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Abb. 6: Schülerkonzert im Fürstlichen Konservatorium 1914, Bildarchiv des Schlossmuseums Sondershausen.

des Konservatoriums jedoch in Chor und Orchester mitwirkten, ist von ihrer Beteiligung an der Feier auszugehen. Bei den öffentlichen Prüfungsaufführungen ab Juli 1912 fehlt Alma Leser bereits, ein Hinweis darauf, dass sie das Konservatorium noch vor Ende des laufenden Schuljahres 1911/12 verlassen hat. In der Schülerliste wird sie bis zum 19. März 1912 geführt. Ein Grund für dieses offenbar vorzeitige Ausscheiden konnte nicht recherchiert werden. Der baldige Tod des Vaters am 6. Oktober 1913 legt zwar nahe, dass eine längere Krankheit Arthur Lesers die inzwischen 20-jährige Alma dazu zwang, ihre Ausbildung abzubrechen und den Vater zu pflegen. Diese Vermutung lässt sich jedoch durch die Todesanzeige für Arthur Leser im Deutschen nicht erhärten, wo von einem „kurzen, schweren Leiden“ die Rede ist.35 Der Tod des Vaters 1913 führte dazu, dass die Geschwister Kurt und Alma Leser von ihrer Tante Sophie Brown, der Schwester ihres Vaters, aufgenommen wurden, die eine Villa in der Friedrichstraße 11 in Sondershausen bewohnte.

35 DD, Nr. 234, 06.10.1913.

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Abb. 7: Haus von Sophie Brown in der Friedrichstraße 11, genannt „Villa Zealandia“, 1900.

Als wenig später der Erste Weltkrieg ausbrach, verpflichtete sich Almas Bruder Kurt Leser noch sehr jung als Soldat und diente als Gefreiter des KöniginElisabeth-Garde-Grenadier-­ Regiments Nr.  3. Er kämpfte auch in der verlustreichen Schlacht von Verdun 1916. Hier rettete er einem Kameraden das Leben, wofür er später mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde 36 – diese Begebenheit sollte später für das Schicksal von Alma und Kurt Leser eine große Bedeutung haben, weswegen darauf zurückzukommen sein wird. Nach Kriegsende arbeitete Kurt Leser zunächst in der Firma „Meyerhofter“ seines Großonkels Eduard Leser 37 in Berlin. Einige Jahre später siedelte er wieder nach Sondershausen um, wo er für seinen Onkel Egon Leser Abb. 8: Kurt Leser im Alter von 20 Jah­ ren (1915) als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, Privatbesitz Familie Leser.

36 Vgl.: DD, Nr. 92, 20.04.1917. 37 Die Firma Meyerhofter war ein erfolgreiches Unternehmen, das Seiden- und Wollstoffe für den europäischen Markt produzierte, Vgl.: David Leser, To begin to know. Walking in the Shadows of My Father, Sydney u. a. 2014, S. 6 f.

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arbeitete, der 1913 die Sondershäuser Wollwarenfabrik E. Gers übernommen hatte. Später wurde Kurt Leser Mitinhaber der Firma.38 Für Alma Leser sind für die Zeit zwischen 1913 und 1918 keine genaueren Angaben bekannt. Sie hat zunächst im Haus ihrer gutsituierten Tante gewohnt, deren Mann, Hermann Brown, seinerzeit Konsul in Auckland in Neuseeland war, und war musikalisch offenbar weiterhin aktiv. Am 25. August 1915 trat sie als Mezzosopranistin beim 1. Sinfoniekonzert der Kurkapelle im Kurtheater in Bad Kreuznach auf, worüber sowohl die Bad Kreuznacher Presse als auch das Sondershäuser Nachrichtenblatt Der Deutsche berichteten.

Abb. 9: Kurtheater Bad Kreuznach um 1930.

Im Oeffentlichen Anzeiger Bad Kreuznach vom 24. August 1915 und Dem Deutschen vom 26. August 1915. bzw. 07. September 1915 heißt es: Künstlerischer Erfolg einer Sondershäuserin. Fräulein Alma Leser sang unlängst im 1. Sinfonie-Konzert der Kurkapelle in Bad Kreuznach. Die dortige Zeitung schreibt darüber […]: „Fräulein Alma Leser hatte als Sängerin des Abends starken Anteil an der packenden Wirkung. Die junge Künstlerin sang mit umfangreichem und gut geschultem Mezzosopran Lieder und Balladen mit tiefer Empfindung und vornehmer Kunstauffassung und erntete starken Beifall.

Das Konzert fand zugunsten der Bad Kreuznacher Kriegsfürsorge statt – ein Anliegen, das offenbar auch Alma Leser unterstützte, wie die meisten ihrer Zeitgenossen, zumal ihr Bruder zu dieser Zeit bereits im Krieg kämpfte. Es verwundert, dass Alma Leser in den regionalen Zeitungsberichten Bad Kreuznachs als Berliner Konzertsängerin angekündigt wurde, was darauf hindeutet, dass sich ihr Lebensmittelpunkt spätestens 1915 dorthin ver38 Adressbuch der Stadt Sondershausen, Jg. 1913 und folgende.

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lagert hatte. Leider erbrachten Recherchen in der kriegsbedingt sehr lückenhaften Berliner Einwohnermeldekartei des Landesarchivs Berlin bislang keine weiteren Ergebnisse, sodass unklar ist, wann genau und aus welchem Grund Alma Leser sich in Berlin aufhielt. Dass Alma Lesers Weg sie Mitte der 1910er Jahre nach Berlin führte, ist aus mehreren Gründen naheliegend. Zunächst stammte ihre Mutter, Anna Stavenhagen, aus Berlin, weswegen eine in der Stadt ansässige Verwandtschaft mütterlicherseits wahrscheinlich ist. Gut möglich also, dass Alma Leser bei ihren Angehörigen unterkam. Zum anderen lebte auch ein Teil der weit verzweigten Familie Leser in Berlin, zu erwähnen ist unter anderem Eduard Leser, bei dem auch Almas Bruder Kurt in die Lehre gegangen war. Diese Fragen konnten jedoch nicht abschließend geklärt werden. Erst durch ihre Heirat wird Alma Leser am 16. Mai 1918 erneut aktenkundig. Die Heiratsurkunde39 weist zusätzlich darauf hin, dass Alma sehr wahrscheinlich eine Zeitlang in Berlin lebte, da ihr Ehemann Leopold Heinrich ebenfalls hier gemeldet war und sich beide so hätten kennenlernen können. Ihre Verlobungsanzeige im Deutschen erschien am 7. Januar 1918 und enthält ebenfalls den Hinweis auf den Berliner Wohnort des Bräutigams.40 Der Kaufmann Leopold Heinrich war 1880 in PreußischHolland geboren worden, später wohnhaft in Hof in Bayern und Berlin-­Tiergarten.41 Zur Zeit der Eheschließung am 16. Mai 1918, die in Sondershausen stattfand, war Alma Leser in jedem Fall wieder im Haus ihrer Tante Sophie Brown gemeldet. Sophie und Hermann Brown gaben dementsprechend die Verlobung des Paares bekannt. Anschließend müssen Alma und Leopold Heinrich in Berlin wohnhaft gewesen sein, denn hier kam auch der gemeinsame Sohn Gerhard Arthur Heinrich 1923 zur Welt. Über eine weitere musikalische Tätigkeit in dieser Zeit gibt es bislang keine Hinweise. Vielleicht war die große Karriere als Konzertsängerin auch nicht das erklärte Ziel Alma Lesers, sondern ihre solide musikalische Ausbildung Teil der von ihrer Familie gewünschten Sozialisation.42 Möglicherweise war ihr Leben nach der Heirat von vornehmlich häuslichen Aufgaben bestimmt und die Vorstellung einer nach Anstellungen suchenden Sängerin leitet an dieser Stelle fehl. In vergleichbaren Biographien jüdischer Musikerinnen waren es auch die Ehemänner bzw. ihre Familien, die eine Bühnenkarriere der jungen Frauen nicht wünschten.43 Das eheliche Leben währte hingegen nur kurz. Noch vor dem 19. April 1929 muss Leopold Heinrich verstorben sein − der gemeinsame Sohn Gerhard war zu dieser Zeit noch Kleinkind. In den Akten findet sich nun der bemerkenswerte Eintrag, dass die verwitwete und in Berlin lebende Alma Heinrich von ihrer inzwischen ebenfalls verwitweten Tante Sophie Brown am 19. April 1929 adoptiert wurde – eine durchaus ungewöhnliche 39 Vgl.: StA Sondershausen, 1918, B 22. 40 Vgl.: DD, Nr. 15, 07.01.1918. 41 Vgl.: StA Sondershausen, 1918, B 22. 42 An dieser Stelle sei dem Diskussionsbeitrag von Frau Prof. Dr. Beatrix Borchard im Rahmen der Online-Tagung gedankt. 43 S. dazu die Biographien von Jenny Fleischer-Alt, Florence Singewald-Lewinsky und Josepha BackFreund, die Autorin dankt für diesen Hinweis Maria Stolarzewicz. Vgl.: Maria Stolarzewicz, „Ausstel­ lung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche“, in: Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, hrsg. v. Helen Geyer u. Maria Stolarzewicz (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 16), Wien u. a. 2020, S. 283 ff., 306 f., 334 f.

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Maßnahme, war doch Alma selbst längst eine mündige, erwachsene Frau.44 Es gibt zu diesem Vorgang mehrere Vermutungen. Zunächst ist denkbar, dass die künstlerisch ausgebildete Alma Heinrich nach dem Tod ihres Mannes alleine mit einem Kleinkind in der Großstadt nicht in der Lage war, sich wirtschaftlich über Wasser zu halten, zumal wir von den Lebensverhältnissen der Eheleute Heinrich keine Kenntnis haben. Zum anderen ist denkbar, dass es ihr Wunsch war, in die Heimat ihrer Familie zurückzukehren, wo sie noch viele Angehörige hatte. Schließlich ist ebenso davon auszugehen, dass die gut situierte Konsulswitwe Sophie Brown, die selbst keine Kinder hatte, ihre Ziehtochter Alma Leser adoptieren wollte, um ihr einen Zugang zum Erbe zu verschaffen. Wieder in Sondershausen angekommen sah sich Alma Leser-Heinrich, wie sie sich seit der Adoption durch ihre Tante nannte, zunehmend den antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, die in Thüringen insgesamt und in Sondershausen im Besonderen bereits lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten an der Tagesordnung waren.45

Exkurs: Antisemitismus in Sondershausen vor der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ Beispielhaft lässt sich die Entwicklung der antisemitischen Tendenzen für Sondershausen anhand der Presseberichte des Deutschen in den 1920er Jahren nachvollziehen. In der Ausgabe vom 09. Dezember 1920 erschien ein hämischer Bericht über ein Flugblatt des Vorstands der Synagogengemeinde Sondershausen, das mit Zur Abwehr! überschrieben war.46 Die Vorsteher der jüdischen Gemeinde wandten sich explizit gegen einen antisemitischen Hetzzug, der insbesondere durch die Partizipation des Schriftleiters des Deutschen, Gustav Schüren, befeuert worden sei. In dem Flugblatt heißt es: „Wie ein roter Faden zieht sich durch viele Nummern dieser Zeitung [Der Deutsche, Anm. C. S.] der antisemitische Unterton und der Kampf des Herrn Schüren gegen das Judentum und seine jüdischen Mitbürger“.47 Noch ganz dem Tenor deutscher Vaterlandsliebe verpflichtet, schreibt der Synagogenvorstand weiter, dass es nach der Katastrophe des verlorenen Weltkrieges nur einen Weg geben kann, nämlich „das friedliche, einmütige Zusammenstehen aller Bürger, aller Stände, aller Konfessionen“. In der auf das Flugblatt des Synagogengemeindevorstandes antwortenden Stellungnahme im Deutschen werden alle gegen Schüren erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen. Schüren sehe lediglich diejenigen Juden im Fokus berechtigter Kritik, die „sich zu Führern der radikalgesinnten Arbeiterschaft aufwerfen, in gemeinster Hetze und in unverantwortlicher Weise die niedersten Instinkte aufpeitschen, zu neuer Beunruhigung schüren, den Umsturz predigen“ – keineswegs seien damit diejenigen Juden 44 Handschriftliche Randnotiz auf der Geburtsurkunde Alma Lesers, StA Sondershausen, 1892, A 189. 45 Vgl.: Bärnighausen, „Zur Geschichte der Synagogengemeinde“, (wie Anm. 2), S. 44 f. 46 Der Vorstand der Synagogengemeinde Sondershausen hatte das Flugblatt direkt an die Haushalte verteilen lassen. Im Deutschen wurde das Flugblatt passagenweise wörtlich zitiert, vgl.: DD Nr. 288 vom 09.12.1920. 47 Hier und weiter: DD Nr. 288 vom 09.12.1920.

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gemeint, „die in ihrem ganzen Leben den Beweis einer tadellosen Haltung und Gesinnung gegeben haben“. Mit dieser Charakterisierung eines Teils der städtischen Juden als „jüdische Volksverderber“ ist jedoch der Grundstein zu einer weiteren Radikalisierung gelegt.48 Im Deutschen vom 25. Februar 1924 zeigt sich eine Verschärfung des antisemitischen Tons innerhalb weniger Jahre in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Der jüdische Inhaber der Sondershäuser Firma „Kaiser-Bazar“ hatte an diesem Tag inseriert, dass eine große Lieferung an Geschenkartikeln, darunter vernickelte und versilberte Waren, eingetroffen sei, die zu sehr günstigen Konditionen zu erwerben seien. Wenige Tage später erschien in der Ausgabe des Deutschen vom 03. März 1924 eine Gegendarstellung dieses Inserats, aufgegeben durch die Zwangs-Innungen der Uhrmacher und Goldschmiede und den Landesverband der Juweliere, Gold- und Silberschmiede. Das Inserat des „KaiserBazar“ sei geeignet, „das kaufende Publikum irrezuführen“, denn weder sei die Lieferung der angepriesenen Waren in ihrem Umfang besonders groß gewesen, noch seien die Güter von guter Qualität, da kein namhafter Fabrikant an einen „Bazar“ liefern würde. Zudem seien „die vom Kaiser-Bazar genannten Preise […] nicht sehr billig, sondern teilweise teurer als die von Spezialgeschäften geführten Qualitätswaren“. Damit verbindet sich eine Warnung an die potenziellen Kunden, derartige Angebote „vorsichtig zu prüfen“. Selbst das Werbeinserat eines jüdischen Kaufmannes wurde zu dieser Zeit nicht unbeantwortet gelassen, vielmehr fühlte man sich von Seiten der Mitbewerber zu einer die Waren des Konkurrenten und damit die geschäftliche Ehre des so angesprochenen Kaufmannes diffamierenden Gegendarstellung bemüßigt und förderte somit ein Klima des Misstrauens gegenüber jüdischen Geschäften und Gewerbetreibenden insgesamt. *** Mit dem sich immer weiter verschärfenden, antisemitischen Klima im Zuge der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten und auch der restriktiven Gesetzgebung der 1930er Jahre muss vielen Mitgliedern der Familie Leser zunehmend klar gewesen sein, in welche Richtung sich die Ereignisse entwickelten, auch wenn viele Juden und Jüdinnen bis zuletzt kaum glauben konnten, was ihnen von ihren Mitbürgern drohte. Almas Bruder, Kurt Leser, der inzwischen sowohl geschieden als auch verwitwet war und mit Bernhard, seinem Sohn aus erster Ehe, ebenfalls in Sondershausen lebte, ermöglichte durch sein umsichtiges Handeln die Flucht von Teilen seiner Familie. Die bereits angesprochene Episode seiner heldenhaften Rettung eines Kameraden im Ersten Weltkrieg erlangte 1938 unvermittelte Brisanz, da eben jener Kamerad, Erhard Greifzu, inzwischen SA-Standartenführer, Kurt in einem konspirativen Treffen unmittelbar vor der Pogromnacht dazu drängte, das Land zu verlassen. Kurt hatte bereits in den Jahren zuvor damit begonnen, Geld ins Ausland zu überweisen, was ihm und seiner Familie nun zugutekommen sollte. Es gelang ihm noch im November 1938, vor dem Pogrom, nach London zu kommen. Von dort aus bereitete er die Flucht seiner Angehörigen vor.49 Mit der Hilfe seines bereits lange Jahre in Auck48 Ebd. 49 Vgl.: Leser, To begin to know, (wie Anm. 37), S. 1 ff., 19, 293 ff.

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land lebenden Onkels, Gustav Leser, konnte Kurt Leser neuseeländische Visa für seine Angehörigen erwirken.50 Unter ihnen befanden sich: seine Hausdame und spätere Ehefrau Erna Cheikowsky, sein Sohn Bernhard, seine Schwester Alma und ihr Sohn Gerhard sowie seine betagte Tante Sophie Brown. Während Kurt Leser sich bereits im Ausland befand, waren sein Sohn Bernhard und der wenige Jahre ältere Sohn seiner Schwester Alma, Gerhard Heinrich, gemeinsam in Coburg. Dort besuchten sie das Jüdische Landschulheim, das als eines von deutschlandweit drei jüdischen Landschulheimen von 1933 bis 1938 bestand.51 Das wenige Tage nach der Pogromnacht am 15.11.1938 erlassene, für alle jüdischen Schüler geltende Schulverbot52 betraf selbstredend auch die Cousins Bernhard und Gerhard. Erst nach einem erniedrigenden Marsch der jüdischen Schüler durch die Coburger Innenstadt und einem folgenden zweitägigen Arrest durften die beiden in ihre Heimatstadt Sondershausen zurückkehren. Bernhard traf seinen Vater hier nicht mehr an, lediglich die Angestellte Erna Cheikowsky befand sich noch in seinem Elternhaus.53

Abb. 10: Bernhard Leser (links) und Gerhard Heinrich (rechts) zusammen mit einem Freund, wahrscheinlich in Sondershausen Mitte der 1930er Jahre, Privatbesitz der Familie Leser.

50 Vgl.: Ebd., S. 21. 51 Vgl.: Ebd., S. 297. 52 Vgl.: Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unter­ richtsverwaltungen der Länder, Bd. 4, 1938, S. 520. 53 Vgl.: Leser, To Begin to Know, (wie Anm. 37), S. 19.

Wohlbehütet im Schoß der Familie?

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Am 4. April 1939 verließ die fünfköpfige Gruppe mit dem Flugzeug von Berlin-Tempelhof aus über Amsterdam das Land und stieß in London zu Kurt.54 Hier heiratete er seine Angestellte Erna Cheikowsky55 und die Gruppe schiffte sich nach etwa zweiwöchiger Reise über Australien am 2. Juni 1939 nach Auckland ein.56 Der Erhalt der neuseeländischen Visa war keineswegs selbstverständlich. Die Familie Leser hatte jedoch bereits langjährige Verbindungen in das Land. Sophie Browns Ehemann, Hermann Brown, war von Kaiser Wilhelm II. zum Konsul in Auckland ernannt worden. Das Paar hatte nach der Hochzeit von 1883 bis 1894 in Neuseeland gelebt. Auch zwei Brüder Sophies – Gustav und Max Leser – wurden hier dauerhaft sesshaft. Beide setzten sich bei den neuseeländischen Behörden für ihre Verwandten ein und bürgten für sie, was die Grundlage für die Erteilung der Visa bildete.57 In Neuseeland angekommen, bemühte sich Sophie Brown zunächst vergeblich um die Transferierung ihres Vermögens ins Ausland, verstarb aber ohne das Anliegen zum Erfolg geführt zu haben 1942. Erst ihr Neffe Kurt konnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Wiedergutmachungsansprüche geltend machen, deren Begünstigte Alma Leser war.58 Alma Leser-Heinrich verbrachte den Rest ihres Lebens in Neuseeland. In Auckland bezog sie zusammen mit ihrem Sohn Gerhard ein Haus in der Manukau Road im Vorort Epsom, das vormals Hermann Brown gehört hatte. Hier konnte sie auch ihre musikalische Ausbildung wieder aufgreifen, indem sie als Klavier- und Gesangslehrerin tätig wurde. Am 1. November 1946 wurden Alma und Gerhard neuseeländische Staatsbürger.59 Später lernte sie den ebenfalls aus Deutschland geflohenen Albert Stern kennen, den sie 1953 heiratete und der zwei Kinder aus erster Ehe in die Familie einbrachte. Die Familie lebte weiterhin in dem Haus in der Manukau Road in Epsom, Auckland.60 Almas Sohn Gerhard wurde Juwelier und eröffnete an der Queen Street in Auckland – der Haupteinkaufsstraße – ein eigenes Geschäft.61 Auch ihr Bruder Kurt Leser blieb zusammen mit seiner Ehefrau Erna in Neuseeland. Er baute sich als Buchhändler in Newmarket eine neue Existenz auf, litt aber zeitlebens an den Nachwirkungen der Schrapnellverletzungen aus dem Ersten Weltkrieg.62 Die erstaunlichste Karriere hat sicher sein Sohn Bernhard gemacht. Bereits im Alter von 15 Jahren brach er die Schule ab und fing an, 54 Vgl.: Ebd., S. 22. 55 Vgl.: England &  Wales Marriage Index, 1916–2005, 1.  Quartal 1939, Registration district Pad­ dington, Bd. 1a, S. 116. 56 Vgl.: National Archives London, Passagierliste der „Strathmore“, Abreise von London am 14.04.1939, Nr. 440 C. 57 Vgl.: Leser, To Begin to Know, (wie Anm. 37), S. 20 ff. 58 Vgl.: Landesarchiv Berlin, B Rep. 025 01 Nr. 1199–60, 1200–60, 6053–59, 16490–59, Rückerstat­ tungssache Alma Sterns, geborene Leser, verwitwete Heinrich. 59 Vgl.: Archives New Zealand, Wellington Office, Certificates of Naturalisation R 25227950, AAAC, 959/3 und 959/5. 60 Vgl.: Todesanzeige Alma Sterns, früherer Heinrich, geborener Leser, in: Aufbau. America’s leading German Language Newspaper, Bd. L, Nr. 11, S. 21, 16.03.1984. 61 Auskunft durch Angehörige der Familie Leser (Sheryl Mungall über David Leser) vom 29.02.2020. 62 Vgl.: Leser, To Begin to Know, (wie Anm. 37), S. 6.

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als Schuhverkäufer zu arbeiten. Durch Talent und Ehrgeiz arbeitete er sich schnell hoch, zog nach Sydney und wechselte in die Verlagsbranche. 1959 wurde er zum Begründer des australischen Ablegers der Modezeitschrift Vogue, 1976 wurde er der erste nicht-britische Managing-Director der britischen Abteilung des Verlagsriesen Condé Nast und 1979 half er wesentlich beim Aufbau der deutschen Vogue. Seine Karriere krönte 1987 das Amt als Präsident des Vogue-Mutterkonzerns Condé Nast Publishing Inc.63

Abb. 11: Bernhard, Erna und Kurt Leser, um 1950, Privatbesitz Familie Leser.

Alma Leser und ihr Sohn Gerhard wurden maßgeblich durch die Unterstützung ihrer Tante, ihrer Onkel und ihres Bruders gerettet. Sie konnte sich im Exil ein neues Leben aufbauen, wobei ihr ihre musikalische Ausbildung am Sondershäuser Konservatorium half, einem Erwerb nachzugehen. Sie starb am 15. Januar 1984 im Alter von 92 Jahren in Auckland und hinterließ ihren Mann Albert, Sohn Gerhard und die beiden Stiefkinder.64

63 Vgl.: Nachruf auf Bernard Leser: Leser, David, Newhouse, Jonathan, Remembering Vogue Australia’s founder Bernie Leser, Vogue Australia 12, 2019. 64 Vgl.: Todesanzeige Alma Sterns, in: Aufbau, (wie Anm. 60), S. 21.

Bernhard Post

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen Unternehmergeist, Kunst und Mäzenatentum

In Weimar weiß man um das Schicksal der großherzoglichen Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt, die 1942 von den Nazis in den Selbstmord getrieben worden war.1 Alljährlich gedenkt an ihrem Todestag der Richard-Wagner-Verband Weimar e. V. seiner ehemaligen Vorsitzenden. Schon etwas weniger im Fokus steht ihr Mann, der Maler Fritz Fleischer. Er war Professor an der Großherzoglich Sächsischen Hochschule für bildende Kunst und sollte zum Gegner des Bauhauses werden.2 Heute weitgehend unbekannt sind jedoch die weiteren Mitglieder der Familie Fleischer. An dieser Stelle soll nachfolgend ein erster Eindruck von einer Familie mit jüdischen Wurzeln vermittelt werden, die vom 19. Jahrhundert an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von Schlesien aus mit einem Schwerpunkt in Mitteldeutschland wichtige Beiträge zur Entwicklung von Industrie und Kultur geliefert hat und weitgehend in Vergessenheit geraten ist.3 Dabei handelt es sich allerdings eher noch um eine Art Forschungsbericht. Bisher hatte sich der Verfasser nur mit den Familienmitgliedern intensiver beschäftigt, die in Weimar wirkten. Im Zusammenhang damit begann aber zunehmend der Kosmos der gesamten Familie zu faszinieren. Ausgehend von dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts geborenen Max Fleischer und seiner Frau Pauline werden die Lebenswege ihrer sechs Kinder sowie des einzigen Enkels skizziert. Die Forschungen stehen noch am Anfang. Von den in den thüringischen Archiven vorhandenen Quellen ist derzeit vor allem das Familienarchiv ausgewertet, das dem Hauptstaatsarchiv in Weimar vor einiger Zeit von der Großnichte Fritz Fleischers anvertraut wurde. Da mehrere Mitglieder der Familie in Wiesbaden lebten, finden sich dort im Hessischen Hauptstaatsarchiv und im 1

Bernhard Post, „Weimar – Das kulturelle Herz Deutschlands und die Schicksale von Jenny FleischerAlt und Eduard Rosé“, in: Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, hrsg. v. Helen Geyer u. Maria Stolarzewicz (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 16), Köln u. a. 2020, S. 47–79. 2 Bernhard Post, „Ein Weimarer Kulturkampf bis aufs Messer? Der Maler Fritz Fleischer, die Techniken der alten Meister und das Bauhaus“, in: Thüringische und Rheinische Forschungen. Bonn – Koblenz – Weimar – Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Norbert Moczarski u. Katharina Witter, Leipzig u. a. 2014, S. 370–394. 3 Im Jahr 2012 übergab Adelheid L. Rüter-Ehlermann (geb. 1942), die Urenkelin von Max Fleischer, den gesamten Nachlass der Familie an das Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh-HStA Weimar). Dieser wurde inzwischen nach den Mitgliedern der Familie sowie den jeweiligen Sachthemen geordnet, jedoch noch nicht foliiert. Im folgenden Artikel werden deswegen keine Hinweise auf Blattnummern gegeben und der Familiennachlass Fleischer/Ehlermann als FN Fleischer/Ehlermann geführt.

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Stadtarchiv ebenfalls in den Steuer-, Theater- und dann in den Akten zu Entschädigungsverfahren nach 1945 Informationen zur Familiengeschichte. Vieles aber gilt es noch in Breslau, Posen, Leipzig, Dresden und Dessau zu recherchieren.

Der Vater – Maximilian (Max) Marcus Fleischer (1812–1871)

Abb. 1: Maximilian Marcus Fleischer (1812–1871) um 1865, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 2.

Max Fleischer wurde am 3. August 1814 in Ratibor im preußischen Schlesien geboren.4 Unter den Bedingungen des zwei Jahre zuvor für das Königreich Preußen erlassenen 4

Sein Enkel Helmuth Ehlermann nennt in einer von ihm erarbeiteten Genealogie der Familie als Geburtsdatum den 13.03.1812 (S. 15). Dort auch der Hinweis, die Vorfahren von Max Fleischer seien vermutlich von Siebenbürgen aus nach Schlesien eingewandert. Die genealogischen Forschungen von Helmuth Ehlermann (im Folgenden: Genealogie Ehlermann) sowie dessen Lebenserinnerungen in Form eines nachträglichen Tagebuchs befinden sich in Privatbesitz und liegen als Reproduktion vor im Landesarchiv Thüringen  – Hauptstaatsarchiv Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 11, Mappe 2. Dieses Geburtsjahr findet sich auch im Artikel von Heinz Starkulla zu dessen Sohn Richard Fleischer (1849–1937) in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, S. 233 f, Digitalisat: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116601329.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 26.06.2022.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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Emanzipationsgesetzes sollten er und seine Nachkommen konsequent den Weg der Assimilation gehen.5 Max Fleischer wie auch seine Kinder konvertierten zum Protestantismus.6 Allen Mitgliedern der Familie gelang im Jahrhundert der Emanzipation ein atemberaubender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aufstieg. Max Fleischer hatte in Schwedt an der Oder eine Ausbildung als Zuckertechniker absolviert und beschäftigte sich zeitlebens mit industriellen Verfahren zur Gewinnung und Verarbeitung von Zucker aus Rüben. Was zunächst als ungewöhnliche Berufswahl erscheint, gewinnt vor dem historischen Hintergrund schnell Sinn. Einbürgerungsanträge von Juden wurden nämlich gemäß einer preußischen Ministerialverfügung des Jahres 1816 unter anderem davon abhängig gemacht, dass der Antragsteller eine „der Landes-­Industrie ersprießliche Kunstfertigkeit“ besaß.7 Die erste Fabrik weltweit für die Produktion von Rübenzucker als Ersatz für den bis dahin gebräuchlichen Rohrzucker aus Übersee aber hatte im Jahr 1801 Franz Carl Achard (1753–1821) im preußischen Kunern (Unterschlesien) errichtet.8 Damit eröffnete sich talentierten Menschen ein völlig neues Betätigungsfeld. Die Produktion von Rübenzucker sollte infolge der Napoleonischen Kontinentalsperre von 1806 sowie vor allem in den Jahren der einsetzenden industriellen Revolution in Deutschland wie besonders auch im benachbarten Böhmen und Mähren einen ungeheuren Boom erleben. In den Jahren 1835 bis 1838 erfolgte „die erste Welle des Gründungsfiebers in der Zuckerindustrie“.9 Da Achard mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten lediglich vier Prozent Ausbeute aus den Rüben erzielen konnte, gingen die Bestrebungen nun vor allem dahin, dieses Ergebnis durch die Entwicklung mechanischer und chemischer Verfahren zu verbessern. Max Fleischer bereiste daher als junger Mann 1836 Nordfrankreich, um dort in Ein Ge­­denk­­blatt zum Tode von Max Fleischer am 24.04.1871 in deutscher und hebräischer Sprache nennt 1814 als Geburtsjahr, Familienbesitz. 5 Das Edikt vom 11.03.1812 als Faksimile, Digitalisat: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1. b3094006&view=1up&seq=427, letzter Zugriff: 26.06.2022. Vgl. hierzu: Friedrich Battenberg, „Judenemanzipation im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Europäische Geschichte Online, 2010, http://ieg-ego.eu/ de/threads/europaeische-netzwerke/juedische-netzwerke/friedrich-battenberg-judenemanzipation-im18-und-19-jahrhundert#InsertNoteID_38, letzter Zugriff: 26.06.2022. Eine Zusammenstellung der Literatur der Emanzipationszeit bei: Bernhard Post, Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774–1813 (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 7), Wiesbaden 1985, S. XI–XXXIII. 6 Sein Enkel Helmuth Ehlermann wusste sich 1940 im Besitz einer Urkunde vom 05.04.1838, die Max Fleischer als evangelisch bezeichnete, Schreiben an Alexandrine Kampf vom 11.09.1940, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (im Folgenden: HHSTA Wiesbaden), Abt. 483, Nr. 10127, Bl. 108. 7 Zitiert nach: Margret Heitmann, „Anbruch einer neuen und glücklichen Ära? 200 Jahre Emanzipationsedikt in Preußen“, Kalonymos, Jg. 15, 2012, H. 1, S. 1–5 (mit Faksimiles), hier S. 4, Digitalisat: http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2012_1.pdf#page=1, letzter Zugriff: 26.06.2022. 8 Jakob Baxa, „Franz Karl Achard“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1, Berlin 1953, S. 27–28, Digitalisat: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118643622.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 26.06.2022. 9 Einen Überblick zur wachsenden Bedeutung des Rübenzuckers liefert der Begleitband zur Ausstel­ lung Zucker aus Rüben – Ein „Kraftstoff“ der Moderne, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Dessau, Bd. 28, Dessau 2021.

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mehreren Betrieben Erfahrungen zu sammeln. Die französische Zuckerindustrie war hoch entwickelt, da Napoleon im Zusammenhang mit der Kontinentalsperre im Jahr 1811 den Anbau von Zuckerrüben veranlasst und die Gründung von Fabriken unterstützt hatte.10 Das Ergebnis Fleischers Studien waren verschiedene Erfindungen. Ein Apparat, „Flüßigkeiten zu erwärmen und abzudampfen“ wurde am 14. November 1838 vom preußischen Finanzminister patentiert.11 Am 4. August 1839 folgte die Erteilung eines Patents „für den Zuckerraffinanden H.[errn] M.[aximilian] Fleischer hierselbst auf eine hydrau­lische Presse und auf eine Konstruktion eiserner Zwischenlagen beim Pressen“.12 Ein weiteres „Patent für den Zuckerfabrikanten Herrn Fleischer zu Schwedt auf eine Runkelrüben-Presse mit Ersparnis der Säcke und Horden“ wurde 1841 erteilt.13 Heute würde man ihn als einen erfolgreichen Start-up-Unternehmer bezeichnen.

Abb. 2: Pass von Maximilian Fleischer für seine Geschäftsreisen zum Aufbau von Zuckerbetrieben in Osteuropa, ausgestellt vom preußischen Ministerium für auswärtige Angelegenheit in Berlin am 6. Januar 1856 (Rückseite), LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 1.

10 Anna-Christina Zysset, „Napoleon sei Dank: Zucker aus der Rübe“, in: Zahnmedizin aktuell. Schweizer Monatsschrift für Zahnmedizin, Nr. 112 (04.2002), S. 420, Digitalisat: https://www.swissdentaljournal. org/fileadmin/upload_sso/2_Zahnaerzte/2_SDJ/SMfZ_2002/SMfZ_04_2002/smfz-02-04-aktuell2. pdf, letzter Zugriff: 26.06.2022. 11 Das gesiegelte Patent Nr. 13065 für Max Fleischer, in: Museum für Stadtgeschichte Dessau, Bestand Fleischer, 2003/632. 12 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 1. 13 Patent für den Zuckerfabrikanten Fleischer zu Schwedt vom 16.03.1841, in: Museum für Stadtgeschichte Dessau, Bestand Fleischer, 2003/626.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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Um 1850 hatte die Produktion von Rübenzucker bereits den Import von Rohrzucker um 50 Prozent verdrängt.14 Um 1880 wurden 40 Prozent des europäischen Rübenzuckers im Deutschen Reich produziert und dieser wurde zu einem der Hauptexportgüter.15 Die Entwicklung machte das bisherige Luxusgut Zucker nun auch für breitere soziale Schichten erschwinglich, was die Nachfrage weiter steigerte. Die wachsende Zuckerproduktion führte zur Begründung wohlhabender Unternehmerfamilien.16 Im preußischen Ratibor hatte Max Fleischer im Jahr 1842 Pauline Freund (1822–1905) geheiratet und im Jahr darauf wird der erste Sohn Emil geboren.17 Das Paar zieht bald darauf nach Breslau. Hier kommen weitere fünf Kinder zur Welt. „Damals befand sich die Stadt in einem Industrialisierungsprozess; ein Teil der jüdischen Bevölkerung stieg schnell zur gebildeten mittleren Klasse auf – Bankherren, Kaufleute, Unternehmer und Fabrikanten“ beschreibt Ryszard Różanowski die Situation im Breslau um 1850.18 „Als Maschinenfabricant in Breslau, evang.[elisch]“ baute Max Fleischer Betriebe zur Verarbeitung von Zucker in Russland und in Böhmen auf.19 Weitere Maschinen für die Zuckerverarbeitung bezog er sowohl von Borsig in Berlin als auch aus England.20

14 Vgl.: Zum Siegeszug des Rübenzuckers vgl. Anja Bel, „Vom Luxusgut zum Grundnahrungsmittel“, in: Zucker aus Rüben – ein „Kraftstoff“ der Moderne. Begleitband zur Ausstellung (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Dessau-Roßlau 28), Dessau-Roßlau 2021, S. 17–31. 15 Vgl.: Geschichte des Zuckers, Südzucker AG, https://www.suedzucker.de/de/unternehmen/geschichte/ geschichte-des-zuckers, letzter Zugriff: 26.06.2022. 16 Für den österreichisch-ungarischen Raum sei beispielhaft der Zuckerindustrielle David Bloch (1820– 1892) genannt. Sein Sohn Ferdinand Bloch-Bauer (1864–1945) führte mit seiner Frau Adele (1881– 1925) im Fin de siècle in Wien einen Salon, in dem die führenden Personen aus Kultur, Politik und Wirtschaft verkehrten. Bis heute berühmt ist das Gemälde, das Gustav Klimt (1862–1918) von Adele Bauer anfertigte. Zu Ferdinand Bloch-Bauer vgl. den Eintrag in: Wien Geschichte Wiki, hrsg. v. der Stadt Wien: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ferdinand_Bloch-Bauer, letzter Zugriff: 27.07.2022. 17 Die Trauung fand am 08.06.1842 statt. Bestätigung der Polizei-Verwaltung Ratibor für die Trauung von Max Fleischer mit Pauline Freund vom 13.09.1905, die vermutlich im Zusammenhang mit ihrem Tod angefordert worden war. Die Bestätigung wurde ausgestellt „aufgrund der jüdischen Bevölkerungsliste“, in: Museum für Stadtgeschichte Dessau, Bestand Fleischer, 2003/633. 18 Ryszard Janusz Różanowski, „Hermann Cohen in Breslau. Auf dem Weg zur Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“, in: Kalonymos, 23. Jg., 2020, H. 1, S. 3. 19 Eintrag zum Vater von Emil Fleischer für das Wintersemester 1864, Matrikel der Universität Heidelberg 1386–1920: UAH M11:1858–1872, 1864 Nr. 131 Seite 145r. 20 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 2: Heft mit Notizen von Max Fleischer zu Preisen von verschiedenen Anbieten von Dampfkesseln und Maschinen sowie deren Gewichte zur Kalkulation der Transportkosten (1847–1848). Mappe 3: Kladde mit Kopien von Kalkulationen und Schriftverkehr wegen der Einrichtungen von Fabriken unterschiedlicher Gewerbe für verschiedene Auftraggeber (Maschinen, Transportkosten) u. a.: Zuckerfabrik für Marschall Maurice von Komorowicz (Gouvernement Kiew); Zuckerfabrik für Helperin und Sohn (Rzeszów in Polen); Zuckerfabrik für F. von Furakowski; Dampfbäckerei für Semen Stephanowich Jachnenko in Odessa; Michael Romanwka in Komorszki; Pressen für Leon Swieykowsk (1858).

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Mit verschiedenen Kapitalanlegern wurde schließlich 1871 die „Dessauer Zucker-­ Raffinerie auf Aktien“ gegründet.21 Der Standort Dessau erschien als günstig, da das in Aussicht genommene Grundstück über einen Eisenbahnanschluss verfügte, für den Transport auch die Elbe genutzt werden konnte und die landwirtschaftlichen Flächen in der Magdeburger Börde inzwischen großflächig auf den Rübenanbau umgestellt worden waren.22 Seine Stelle als Mitglied des Aufsichtsrats musste jedoch sein Sohn Emil Fleischer übernehmen, da Max Fleischer im April dieses Jahres überraschend verstorben war. Obwohl er inzwischen der „freireligiösen Gemeinde“ angehörte,23 fand die Beisetzung auf dem jüdischen Friedhof in Görlitz statt.24 Später wurde er vermutlich in das im Jahr 1905 in Jena errichtete Familiengrab umgebettet.25

Abb. 3: Pauline Fleischer, geb. Freund (1822–1905), mit ihrem Sohn Fritz im Ilmpark in Weimar um 1900, Foto: Louis Held, Weimar, Privatbesitz.

21 Vgl.: Frank Kreißler, „Von der Dessauer Zucker-Raffinerie zur Gärungschemie Dessau. Ein kurzer Rückblick auf 150  Jahre Industriegeschichte“, in: Zucker aus Rüben, (wie Anm. 14), S. 127–154. Über die spätere Produktion von Zyklon B in der Zuckerfabrik berichtet Herbert Bode, „Von einer Innovation und ihrem Missbrauch: Zyklon B“, in: Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker, Fachgruppe Geschichte der Chemie, Frankfurt a. M., Bd. 18, 2005, S. 157–175, Digitalisat: https:// www.gdch.de/fileadmin/downloads/Netzwerk_und_Strukturen/Fachgruppen/Geschichte_der_ Chemie/Mitteilungen_Band_18/2005-18-12.pdf, letzter Zugriff: 26.06.2022. 22 Vgl.: Ebd., S. 159 f. 23 Auszug aus dem Kirchenbuch des Evangelisch-Lutherischen Pfarramts der Dreikönigskirche zu Dresden aus dem Jahr 1871, Nr. 599 vom 31.05.1933, eine Elektrokopie in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 1. 24 Vgl.: Jüdische Lebenswege in Jena. Erinnerungen, Fragmente, Spuren, hrsg. v. Stadtarchiv Jena in Zusammenarbeit mit den Jenaer Arbeitskreis Judentum, Jena 2018, S. 242. 25 Vgl.: Liste der Beigesetzten im Erbbegräbnis Nr. IIIb, Feld 4b (Fleischer-Mausoleum) auf dem Nordfriedhof Jena, Friedhofsverwaltung Jena.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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Die Mutter – Pauline Fleischer (1822–1905) Geboren wurde sie am 20. September 1822 in Ratibor als Tochter von Salomon Freund. Der Beruf des Vaters ist im Geburtsregister als „Schankwirth“ vermerkt.26 Weiterhin hatte er umfangreiche Grundpachten als „Ar(r)endator“ in Wendisch Hermsdorf, in Studzienna (heute Stadtteil von Ratibor) sowie im zu Österreich gehörigen Zabrzeg, unweit von Ratibor südöstlich gelegen.27 Da als Arendatoren in der Regel Pächter von Grundbesitz des Staates oder des Fürstenhauses bezeichnet wurden, was zu dieser Zeit noch häufig mit der Ausübung von Verwaltungsaufgaben verbunden gewesen war, wird er vermutlich später auch als preußischer Amtmann bezeichnet. Dies dürfte für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht zugetroffen haben.28 Als Geburtsname der Mutter ist Babette Bruck eingetragen. Auch die Familie Bruck betrieb Gaststätten und Hotels in Ratibor, so das Hotel „Prinz von Preußen“.29 Pauline wurde als Frau beschrieben, die sich nicht auf die damals übliche Rolle als Ehefrau und Mutter beschränken ließ. Sie war Max Fleischer vielmehr „die rechte Gehülfin gewesen, sogar in den Arbeiten des Laboratoriums, bei den Einrichtungen grosser Industrien, in der Fürsorge für Tausende von Arbeiter.“30 Nach dem Tod von Max Fleischer verwaltete sie zusammen mit ihrer Tochter Agnes und mit Unterstützung ihrer Söhne Emil und Fritz das Vermögen der Familie, sofern dies nicht direkt an die Kinder vererbt worden war. Pauline war eine Art Angelpunkt geworden, wurde zur „Vertrauten“ und „Freundin“ nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Schwiegertöchter sowie die Freunde der 26 Archiv Racibórz (Ratibor), Geburtenbuch 1822, pag. 9. 27 Ich danke Herrn Robert Brook für die Zurverfügungstellung seiner Auswertung von Genealogical Records from Ratibor, Germany from The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints (LDS), Microfilm 1184449 Nr. 1. Zur Familiengeschichte der Brucks vgl. auch das Familienblog: https://bruckfamilyblog.com/, letzter Zugriff: 26.06.2022. 28 Zu Freunds Bezeichnung als Amtmann: Starkulla, „Richard Fleischer“, (wie Anm. 4). Zum Begriff „Arendator“ vgl.: Webster’s New International Dictionary of the English Language 1913: „In some provinces of Russia, one who farms the rents or revenues. A person who rents an estate belonging to the crown is called crown arrendator“, Digitalisat: http://www.websters1913.com/words/ Arendator, letzter Zugriff: 26.06.2022. Zu „arrendieren [österr.] = pachten“ vgl. auch: Die Amts­ sprache. Verdeutschung von Fremdwörtern bei Gerichts- und Verwaltungsbehörden, hrsg. v. Alfred Bruns, Münster 21982, S. 13. Für Preußen vgl.: Hans-Joachim Rach, Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadtgebiet von Berlin, Berlin 1990, Digitalisat: http://www.berlinweissensee.de/abfragen/begriffe.php?pid=8, letzter Zugriff: 26.06.2022. Die Ausübung öffentlicher Ämter, zumindest sofern sie nicht mit einer „richterlichen, polizeilichen oder exekutiven Gewalt“ verbunden waren, wurde Juden erst mit dem Gesetz vom 23.07.1847, betreffend die Verhältnisse der Juden in den k.[öniglich] preußischen Staaten gestattet, Digitalisat: https://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10570979_00005.html?zoom=0.7000000000000002, letzter Zugriff: 26.06.2022. Vgl. auch: Battenberg, „Judenemanzipation“, (wie Anm. 5), S. 18. 29 Vgl.: https://bruckfamilyblog.com/post-11-postscript-ratibor-brucks-prinz-von-preusen-hotel/, letzter Zugriff: 26.06.2022. 30 Zitiert wird Prof. Dr. Ernst Nippold (1838–1918), Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte der FSU Jena, in: Trauerreden zum Andenken an Frau Pauline Fleischer (Druck), LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1, S. 7.

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Abb. 4: Geburtstagkarte von Wilhelm Thedy (1886–1957), Sohn des Weimarer Malers Max Thedy (1858–1924), an Pauline Fleischer in Wiesbaden 1902, ­LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1.

Familie.31 Selbst die Söhne des in Weimar lebenden Malers Max Thedy, der mit Fritz Fleischer befreundet war, schickten alljährlich selbstgefertigte Geburtstagskarten an die „Liebe Großmama Fleischer“.32 Ihr Sohn Richard hatte 1889 die verwitwete Gräfin Lucy Adelmann von Adelmannsfelden geheiratet und lebte mit ihr in der Villa Riviera in der Parkstraße 22 in Wiesbaden.33 Pauline und ihre Töchter Agnes und Helene bezogen die benachbarte Villa Nr. 25.34 Ihr Sohn Dr. Emil Fleischer ist für 1890/91 in der Bierstädterstraße 25 gemeldet.35 Die Wiesbadener Stadtverwaltung hatte dieses Villenviertel mit einem fließenden Übergang zum Kurviertel und der Wilhelmstraße mit mondänen Geschäften gezielt attraktiv gestaltet für „Pensionäre und für Rentiers, also Menschen, die von den Erträgen ihres Vermögens leb-

31 Ebd. S. 8. 32 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1. 33 Adressbuch Wiesbaden 1899/90. Aufgrund von Bautätigkeiten in der Parkstraße erfolgte später eine Veränderung der Hausnummern, Auskunft des Stadtarchivs Wiesbaden vom 19.03.2020. 34 Eintrag im Adressbuch der Stadt Wiesbaden 1889/1890: „24. Fleischer, Frau u. Frl., Rentne­rinnen“ sowie für 1890/91. Vgl. auch: Sigrid Russ, Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden II – Die Villengebiete, hrsg. v. Landesamt für Denkmalpflege, Braunschweig u. a. 22014, S. 181–184, Digitalisat: https:// books.google.de/books?id=d27zBgAAQBAJ&pg=PA184&lpg=PA184&dq=wiesbaden+villa+ saint+cyr&source=bl&ots=ti0GMuDs02&sig=ACfU3U3sHus5Xo86u2jZgvPgV-oow9-XuA&hl=d e&sa=X&ved=2ahUKEwiDg4OUlbbpAhVC-6QKHft6APkQ6AEwA3oECAkQAQ#v=onepage& q=wiesbaden%20villa%20saint%20cyr&f=false, letzter Zugriff: 26.06.2022. 35 Vgl.: Stadtarchiv Wiesbaden (im Folgenden: StA Wiesbaden), Jüdische Bürger in Wiesbaden IdentNr. 12103.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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Abb. 5: Nach dem Ableben von Pauline Fleischer 1905 in Wiesbaden und Jena gehaltene Trauereden (Druck), LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1.

ten, das sie ererbt oder in einer früheren, oft relativ kurzen Lebensepoche durch erfolgreiche Geschäftstätigkeit erworben hatten“.36 Wiesbaden wurde für die Familie so zu einem zentralen Ort, an dem sie wie auch einige ihrer Kinder ständig lebten oder nach Lebensabschnitten in Dresden oder München wieder dorthin zurückkehrten.37 Als Pauline 1905 verstarb, vermachte sie ihren Kin36 Wolfgang Jung, „Eine deutsch-jüdische Familienidylle zu Wiesbaden? Gustav Freytag im Villenviertel 1876 bis 1895“, in: Wiesbaden. Vielfalt im Kulturleben, Juni 2016, S. 5, Digitalisat: https://www. wiesbaden.de/medien-zentral/dok/kultur/Dr._Wolfgang_Jung_Eine_deutsch-juedische_Familienidylle_zu_Wiesbaden_Text_des_Vortrags_vom_13._Maerz_2016.pdf, letzter Zugriff: 26.06.2022. 37 Vgl. den Eintrag zu Richard Fleischer in: Wer ist’s?, Leipzig u. a. 61912, S. 418, Digitalisat: https:// archive.org/stream/bub_gb_LdsfAQAAMAAJ#page/n575/mode/2up, letzter Zugriff: 26.06.2022.

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dern neben einem Millionenvermögen zwei Villen in der Parkstraße 25 und 29 (Villa Saint Cyr).38 Ausgestattet worden waren die beiden Häuser im Laufe der Jahre mit Porträts von Familienangehörigen verschiedener Künstler, von den sich heute viele noch in Familienbesitz befinden; so ein Porträt von Richard Fleischer, das Max Thedy gemalt hatte. In diese Reihe gehört vermutlich auch das Porträt von Jenny Fleischer-Alt, welches im Jahr 1887 Fritz Fleischer, ein Freund von Thedy, von seiner späteren Ehefrau malte. Dieses Bild hat nun im Jahr 2019 als Geschenk der Familie seinen Weg zurück an seinen Entstehungsort Weimar gefunden. Als sich das Lebensende von Pauline Fleischer abzeichnete, suchten ihre Kinder nach einem Ort für ein repräsentatives Familienbegräbnis. Es ergab sich schließlich in Jena die Möglichkeit, ein Mausoleum in der Nähe der Leichenhalle zu errichten, auf dessen Entstehung und Geschichte später noch näher eingegangen wird. Die Trauerreden für Pauline Fleischer hielten zunächst am 25. September 1905 in Wiesbaden der Pfarrer der dortigen Bergkirche Emil Veesenmeyer (1857–1944) und einen Tag später der Theologe Prof. Dr. Friedrich Nippold (1838–1918) am Erbbegräbnis der Familie in Jena.39 Neben der Mutter Pauline wurden hier später auch ihre sechs Kinder beigesetzt.

Die Nachkommen Nachfolgend werden die Lebenswege der Kinder von Pauline und Max Fleischer be­­ schrieben. Dies können an dieser Stelle nur Skizzen sein, da letztlich jedes der Schicksale eine ausführliche Untersuchung verdient hätte.

Abb. 6: Dr. Emil Fleischer (1843–1928), Pressefoto angefertigt zur Vorstellung des von ihm entwickelten Hydroantriebs für Schiffe 1886, Foto: Wilhelm Dreesen, Kiel u. Flensburg, Privatbesitz.

38 Vgl.: Testament von Pauline Fleischer vom 28.02.1902, (Beglaubigte Abschrift), HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447 d, Bl. 4. 39 Vgl.: Trauerreden, (wie Anm. 30).

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Dr. Emil Fleischer (1843–1928) Der 1843 in Schwedt geborener Sohn Emil war erfolgreich in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Nach seiner Promotion in Heidelberg hatte sich der Chemiker wie sein Vater mit der Produktion von Zucker beschäftigt und das Strontianverfahren zur Gewinnung des Restzuckers aus der Rübenmelasse entwickelt, die bis dahin weitestgehend ungenutzt geblieben war.40 Das von Emil Fleischer entwickelte Verfahren besteht darin, den Zucker der Melasse an Strontian zu binden und anschließend mit Hilfe von Kohlensäure herauszulösen.41 Nachdem die Zuckerproduktion in Dessau nach Anfangsproblemen gegen Ende der 1870er Jahre erfolgreich im Dauerbetrieb war, stellte sich Emil Fleischer einer ganz anders gearteten Herausforderung und erfand einen Hydromotor für Schiffe. Dieser ermöglichte über ein hydraulisches Verfahren das Fahren und Manövrieren ohne Schiffsschraube allein durch das Ausstoßen von Wassersäulen. Marinefachliche Unterstützung fand Fleischer bei Konteradmiral Reinhold von Werner (1825–1909), der wie die Geschwister von Emil Fleischer in Wiesbaden lebte.42 Da dieser Oberwerftdirektor in Danzig und dann in Wilhelmshaven gewesen war, darf von einer hohen Kompetenz in Fragen des Schiffsbaus ausgegangen werden. Mit der Unterstützung von Finanziers wurde bei der Howaldts-Werft in Kiel ein hochseetüchtiges Versuchsschiff gebaut. Im Jahr 1886 fanden Versuchsfahrten nach Dänemark und England statt und die Erfindung wurde in Kiel von der Marine getestet. Der Hydromotor steigerte nach einhelliger Meinung der Fachleute zwar die Manövriersicherheit der Schiffe erheblich, erforderte aber auch einen höheren Energieverbrauch und dadurch mehr Lagerfläche für Kohle. Obwohl der gesteigerte Energieverbrauch kostenmäßig durch deutlich geringere Wartungskosten des Systems mehr als wettgemacht wurde, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzen.43 Im Jahr 1909 – das Flottenwettrüsten war auf einem Höhepunkt – vermutete Fleischer allerdings, dass eine Weiterentwicklung nun trotz des Kohleverbrauchs Anklang finden würde. Er fühlte sich aber inzwischen zu alt, 40 Vgl.: Bode, „Von einer Innovation“, (wie Anm. 21), S. 158. 41 Eine Darstellung des Strontian-Verfahrens in einem Werbefilm der Dessauer Zuckerfabrik aus dem Jahr 1930, https://www.youtube.com/watch?v=DuzODfwFYzI, letzter Zugriff: 15.04.2020. 42 Da eine Stellungnahme von Reinhold von Werner zum Gutachten zum Untergang der „SMS Großer Kurfürst“ Unmut bei der Marineleitung erregt hatte, nahm er 1878 seinen Abschied, vgl. den Beitrag zu Reinhold von Werner in: Deutschlands Admirale 1849–1945. Die militärischen Werdegänge der See-, Ingenieur-, Sanitäts-, Waffen- und Verwaltungsoffiziere im Admiralsrang, hrsg. v. Dermot Bradley unter Mitw. v. Hans H. Hildebrand u. Ernest Henriot, Bd. 3, Osnabrück 1990, S. 536–537. 43 Vgl.: Bericht über den Vortrag von Dr. Emil Fleischer über den Hydromotor beim Centralverein für Handelsgeografie in der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (später Vossische Zeitung) vom 18.12.1884, S. 7, Digitalisat: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=8&set%5Bzoom%5D=max&set%5Bdebug%5D= 0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin. de%2Fzefys%2FSNP27112366-18841218-0-0-0-0.xml, letzter Zugriff: 29.06.2022. Vgl. auch den Artikel zum Hydromotor Fleischers in: Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig u. a. 41888, Bd. 8, S. 840, Digitalisat: https://peter-hug.ch/Hydromotor, letzter Zugriff: 29.06.2022.

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Abb. 7: Dr. Emil Fleischer bei Versuchen im Labor (undatiert), Museum für Stadtgeschichte Dessau.

„um die Dornenstiche des Erfinder-Loses ruhig ertragen zu können.“44 Ein zusätzlicher Wasserstrahl-Antrieb für das sichere Manövrieren größerer Schiffe besonders im Hafenbereich ist inzwischen schon lange eine Selbstverständlichkeit.45 Emil Fleischer heiratete am 11. Juni 1888 Bertha Katharina Hermann (geb. Geneis), die Witwe des Kaufmanns Richard Gottfried Hermann. Sie brachte drei Kinder mit in die Ehe. Das Paar lebte in einer Villa in der Tiergartenstraße 15 in Dresden. In den 1890er Jahren wandte er sich abermals einem neuen Projekt zu. Emil Fleischer hatte bis dahin bereits mehrere Abhandlungen zur Maßanalyse bei chemischen Verfahren veröffentlicht.46 In diesem Zusammenhang lieferte er auch verschiedene Beiträge zur Titrier44 Rückseitiger Vermerk auf einem Pressefoto, das er anlässlich der Präsentation des Motors 1886 in Kiel anfertigen lassen musste, Privatbesitz. 45 Vgl.: Eine Funktionsbeschreibung des Hydromotors sowie Presseberichte in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 5, Mappe 2. Das Patent für das „Querstrahlruder, insbesondere Bugstrahlruder, für Schiffe“ (EP0306642B1), Digitalisat: https://patents.google.com/patent/EP0306 642B1/de, letzter Zugriff: 29.06.2022. 46 Vgl.: Emil Fleischer, Massanalytische Bestimmung der Thonerde und der Phosphorsäure, Dresden, 1864; Ders., Kurzgefasstes Lehrbuch der Massanalyse nebst Anleitungen zu den geeignetsten ­Trennungsmetho­den

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Abb. 8: Versuchsschiff mit Hydroantrieb, gebaut bei der Howaldts-Werft in Kiel. Auf der Brücke Dr. Emil Fleischer und links Konteradmiral Reinhold von Werner (1825–1909), LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 5, Mappe 2.

methodik und zur Gaszersetzung.47 Diese Beschäftigung ließ ihn wiederum eine wissenschaftliche Begründung für das von Karl Dellwik entwickelte Verfahren zur Erzeugung von Wassergas entwickeln, das bis dahin vor allem zur Stadtbeleuchtung genutzt wurde. „Einen wichtigen Fortschritt in der Wassergasindustrie bilden die Untersuchungen Dellwik-Fleischer’s, welche die Möglichkeit ergeben haben, aus derselben Menge von Brennstoff mehr als doppelt so viel Wassergas zu erzeugen, indem beim Aufblasen der Kohlenstoff nicht zu Kohlenoxyd (Kohlenmonoxyd), sondern zu Kohlensäure (Kohlendioxyd) verbrennt.“48 Damit war die Grundlage für das Dellwik-Fleischer’sche Wassergasverfahren und dessen industrielle Nutzung gelegt, worauf später noch einmal ausführlicher eingegangen werden wird. für massanalytische Bestimmungen und zur quantitativen Untersuchung technisch wichtiger Stoffe, Leipzig 1868. 47 Vgl.: Emil Fleischer, Die Titrir-Methode als selbständige quantitative Analyse, Leipzig 1871, Digitalisat der 3. Auflage (Leipzig 1884): https://archive.org/details/dietitrirmethod00fleigoog/page/n17/mode/ 2up, letzter Zugriff: 29.06.2022. 48 Alfons Bujard, „Dellwik-Fleischer’s Wassergasverfahren und seine Anwendungen“, in: Polytech­nisches Journal, Bd. 314, 1899, S. 65–69, hier S. 65, Digitalisat: http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/ pj314/ar314016, letzter Zugriff: 21.04.2020. Eine Zeichnung des „Dellwik-Fleischer Producer“ als Fig. 21 im Artikel „Gas“ von Vivian Byam Lewes und Georg Lunge in: Encyclopædia Britannica, Cambridge 1911, Bd. 11, S. 481–493, Digitalisat: https://en.wikisource.org/wiki/1911_Encyclop%C3%A6dia_ Britannica/Gas, letzter Zugriff: 29.06.2022.

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Neben seinen Kenntnissen in der Chemie und den Naturwissenschaften war Emil Fleischer auf den unterschiedlichsten Gebieten talentiert: Um seine umfangreiche Schreibtätigkeit ökonomisch gestalten zu können, entwickelte er ein eigenes „Stenographie-System mit zweizeiliger Vocalisation nach dem Stolze-Schrey’schem Prinzip“. Übungshalber fertigte er dabei auch eine Transkription von Schillers Gedicht Der Spaziergang an.49 Und schließlich war Emil Fleischer ein ambitionierter Flötist. Er spielte im Orchester des Orchestervereins Dresden.50 Aber ganz einer wissenschaftlichen Herangehensweise an alle Dinge verpflichtet, verfasste er darüber hinaus eine zehnseitige Untersuchung mit dem Titel Die Erlangung der Tonsicherheit auf der Flöte.51 Er pflegte diese Leidenschaft sein Leben lang und ließ sich noch im Alter von 83 Jahren bei einem Instrumentenbauer in Leipzig eine neue Böhm-Querflöte anfertigen.52

Abb. 9: Dr. Emil Fleischer beim Flötenspiel um 1905, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 2.

Mit weit über 70 Jahren hatte sich Emil Fleischer aus dem operativen Geschäft der Dessauer Zuckerraffinerie zurückgezogen und war 1919 von Dresden nach Heidelberg übersiedelt, wo er einige Zeit studiert hatte.53 Immer noch wissenschaftlich tätig, berechnete er hier die Bahnen der „Cirkumpolar-Sterne am Himmel“ über der Stadt. Er verstarb 49 Mehrere Anleitungen zum Gebrauch der Kurzschrift in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehler­ mann, Karton 4, Mappe 2. 50 Vgl.: Der Bericht über seinen ersten Auftritt am 15.12.1869 im Dresdener Anzeiger vom 17.12.1869, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 2. 51 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 5, Mappe 4. 52 Vgl.: Rechnung des Leipziger Instrumentenbauers Otto Mönning vom 26.03.1926, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 3. 53 Vgl.: Abmeldung von Emil Fleischer bei der 12. Bezirksmeldestelle in Dresden nach Heidelberg am 25.08.1919, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 2.

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dort im Jahr 1928. Sein Leichnam wurde in das Familiengrab nach Jena überführt.54 Die Gedenkworte sprach sein jüngster Bruder Fritz, mit dem er sich zeitlebens eng verbunden gefühlt hatte.55 Von der Zuckerproduktion zum industriellen Massenmord Die nach Anfangsschwierigkeiten erfolgreiche Zuckerfabrik war 1895 in die Dessauer Zuckerraffinerie GmbH umgewandelt und die Zweigniederlassung Strontian- und Potasche-Fabrik Rosslau a. E. gegründet worden.56 Hinzugekommen waren inzwischen Verfahren zur Herstellung von Industriealkohol und zum Herauslösen von Gold aus Erz. Letzteres brachte das Unternehmen in engere Kontakte zur Deutschen Gold- und Silberscheideanstalt (DEGUSSA). In Dessau hatte man 1898 ein Verfahren in Betrieb genommen, durch welches der Gärflüssigkeit („Schlempe“ genannt), die nach dem Abdestillieren des Alkohols übrigblieb, nochmals Zucker entzogen werden konnte. Bei diesem Prozess bildete sich als Nebenprodukt Blausäure.57 Die DEGUSSA wiederum entwickelte um 1900 Verfahren zur Bekämpfung von Schädlingen mit Blausäure, wie dies zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten bei Obstbäumen bereits praktiziert wurde. Über Möglichkeiten zum Schutz von Obstbäumen vor Schädlingen durch chemische Hilfsmittel hatte Dr. Emil Fleischer den Garteninspektor und Geschäftsführer des Landes-Obstbauvereins des Königreichs Sachsen, Otto Laemmerhirt, bereits zehn Jahre zuvor beraten.58 Während des Ersten Weltkriegs stellte sich dann zunehmend das Problem verlauster Massenunterkünfte. Im Februar 1917 wurde unter Beteiligung des Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie (KWI) der Technische Ausschuss für Schädlingsbekämpfung (TASCH) unter Beteiligung der DEGUSSA gegründet. Beteiligt war weiterhin das KWI unter der Leitung von Fritz Haber, der bereits seit 1915 Giftgas für den Einsatz an der Front entwickelt hatte. Nach Kriegsende wurde in der Nachfolge der TASCH im März 1919 die „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH“ (DEGESCH) gegründet. Dabei handelte es sich um ein Wirtschaftsunternehmen zur Schädlingsbekämpfung in Getreidesilos, an dem das Deutsche Reich beteiligt war. 54 Ebd. Der Totenschein, die Bestätigung der Obduktion und Einbalsamierung der Leiche von Dr. Emil Fleischer durch das pathologische Institut der Universität Heidelberg sowie Genehmigung der Überführung nach Jena, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 3, Mappe 2. Die Berechnungen zum Sternenverlauf in: Karton 5, Mappe 1. 55 „Nun 10000 Grüße u.[nd] Küsse … Dein Dich innigliebender Bruder Emil“ ist ein Brief an Fritz Fleischer vom 31.10.1903 unterzeichnet. Aus dem Brief geht hervor, dass sich die Brüder auch in geschäftlichen Dingen sehr vertrauensvoll austauschten, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 7, Mappe 3. 56 Zur Firmengeschichte vgl.: Bode, „Von einer Innovation“, (wie Anm. 21), S. 161. 57 Ebd. 58 Vgl.: Otto Laemmerhirt unter Mitwirkung von Emil Fleischer, Die wichtigsten Obstbaumschädlinge und die Mittel zu ihrer Vertilgung, hrsg. im Auftrage des Landes-Obstbauvereins für das Königreich Sachsen, Dresden 1891, 2. gänzlich umgearbeitete Auflage Dresden 1903.

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Nach seinem Weggang aus Dresden hatte die Dessauer Zuckerraffinerie GmbH ihr Portfolio abermals erweitert und die industrielle Weiterverarbeitung von Blausäure übernommen, die bei der Herstellung von Leuchtgas für Kochherde und Lampen im Gaswerk Dessau der Contigas anfiel. Als Ergebnis dieser Aktivitäten wurden 1921 die Dessauer Werke für Zucker und Chemische Industrie AG gegründet, die mit ihren Zweigwerken rund 1600 Beschäftigte hatte. Da Blausäure aber wiederum wichtig war für die von der DEGESCH entwickelten Schädlingsbekämpfungsmittel, führte sie ab 1922 mit dem Dessauer Betrieb Verhandlungen über die Entwicklung industrieller Produktionsverfahren zur Herstellung von Zyklon B.59 Im Jahr 1924 erfolgte die behördliche Genehmigung für die industrielle Großproduktion. Der Bedarf war so groß, dass 1927 bereits 100.000 kg das monatliche Produktionsziel waren. Es muss hier noch einmal ganz deutlich unterstrichen werden, dass dieses Produkt dafür entwickelt wurde, angesichts einer ohnehin schwierigen Versorgungslage der Bevölkerung, Nahrungsmittel bei der Lagerung vor dem Verlust durch Schädlinge zu schützen. Bereits damals wurde das Produkt allerdings mit und ohne Geruchswarnstoffen produziert, da diese beispielsweise die in Ballen gelagerten Tabakblätter angriffen und verfärbten. Dass der Schutz von Lebensmitteln bis heute eine Herausforderung ist, bewiesen im Sommer 2020 die Vorgänge in einem Betrieb zur Lagerung von Fleisch in Dissen im Landkreis Osnabrück, wo wegen Schädlingsbefall Hunderte Tonnen Fleisch vernichtet werden mussten. Emil Fleischer sollte die Pervertierung seiner chemischen Innovationen durch das NS-Regime nicht mehr erleben. Die von ihm mitbegründete Zuckerfabrik lieferte das Gas für den industriellen Mord an Menschen.60

Agnes Fleischer (1847–1930) Abb. 10: Agnes Fleischer (1847–1930) um 1920, Privatbesitz.

Ebenfalls geschäftstüchtig war Agnes, die älteste Tochter von Max Fleischer. Unter anderem spielte

59 Vgl.: Hans Hunger, Antje Tietz, Zyklon B  – Die Produktion in Dessau und der Missbrauch durch die deutschen Faschisten, Norderstedt 32018 sowie auch den von der „Forschungsgruppe Zyklon B Dessau“ verfassten Artikel „Zyklon B“ bei: Shoa.de Zukunft braucht Erinnerung, https://web.archive. org/web/20090313035331/http://www.shoa.de/holocaust/deportations-und-vernichtungspraxis/ 55.html, letzter Zugriff: 30.06.2022, weiterhin Jana Müller, „Der Tod kam aus Dessau“, in: Zucker aus Rüben, (wie Anm. 9), S. 155–180. 60 Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München 1994.

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„ihre kaufmännische Initiative“ bereits 1871 bei der Gründung der Dessauer Raffinerie eine Rolle, berichtet ihr Neffe Helmuth Ehlermann in seinen genealogischen Aufzeichnungen zur Familie. Eine neue Herausforderung für sie war die wirtschaftliche Nutzung von Wassergas. Etwa seit Beginn des Jahrhunderts war dieses für Heiz- und Leuchtzwecke genutzt worden. Karl Dellwik entwickelte gegen Ende des Jahrhunderts ein Verfahren, das die hohen Produktionskosten senkte. Emil Fleischer lieferte nun hierfür die wissenschaftlichen Grundlagen und optimierte es.61 Ähnlich wie bei der Entwicklung von Verfahren zur Produktion von Zucker erlebten auch die neuen Möglichkeiten zur Beleuchtung von Straßen, Wohnungen und Arbeitsplätzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ungeheuren Boom.62

Abb. 11: Übersicht zu Gasanlagen und Schweißstraßen in Stahlwerken, die weltweit nach dem von Karl Dellwik und Dr. Emil Fleischer entwickelten Gasverfahren arbeiteten (1925), HHSTA Wiesbaden, Abt. 360/258, 2231 (Gasversorgung).

61 Eine zusammenfassende Darstellung der Technik als Firmenangebot mit Preisen wenige Jahre später von Fritz Fleischer, Gasmotoren mittelst Wassergas-Betrieb aus Koks und Kohlen nach System DellwikFleischer verglichen mit Dampfmaschinen- & Dowsongas-Anlagen, Frankfurt a. M. 1901. Deutsches Museum (München), Sig. 1000/1906 B 290. 62 Vgl.: Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19.  Jahr­ hundert, Frankfurt a. M. 2004; Ina Lorenz, „Ambivalenz von Beleuchtung und Dunkelheit in der Geschichte. Eine Literaturanalyse“ (= Verlust der Nacht 6), Berlin 2014, Digitalisat: https://verlag. tu-berlin.de/produkt/978-3-7983-2659-0/ letzter Zugriff: 30.06.2022.

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Dass man bei der industriellen Nutzung von Wassergas einen entscheidenden Schritt vorangekommen war, teilten ihr Dellwik und andere Teilnehmer eines Treffens im Mai 1897 quasi codiert über eine launige Postkarte mit: „Losung 2,6 wonach nichts mehr zu sagen bleibt als beste Grüße“. Die zitierte Tageslosung für den 2. Juni 1897 war: „Es war, als höret man eine Stimme zu loben und zu danken dem Herrn“ (2. Chronik 5, 13).63 Anwesend war bei diesem Treffen neben anderen Dr. Georg Haussdorff, ein Spezialist für die Reinigung des Kesselwassers bei chemischen Großverfahren.64 Auf dieses Ereignis beziehungsweise das Jahr 1897 nimmt vermutlich auch ein Telegramm an Agnes Fleischer aus dem Jahr 1922 Bezug: „zum heutigen 25 wassergas wiegenfeste herzlichste gratulation“.65 Der unermüdliche Emil Fleischer sollte dann den von Dellwik entwickelten Wassergasgenerator noch einmal verbessern.66 Die industrielle Vermarktung des Verfahrens unternahm zunächst das Wasser­Gas-Syndikats-System Dellwik-Fleischer in Frankfurt a. M., später umbenannt in Dellwik-Fleischer-Wassergas-Gesellschaft m. b. H.67 Bald wurde beispielsweise auch bei der Sächsisch-Thüringischen Actien-Gesellschaft für Licht- u. Kraftanlagen in Erfurt (gegr. 1899) bereits um 1900 eine Gasanlage nach dem System Dellwik-Fleischer betrieben.68 Wassergas konnte jetzt neben der Beleuchtung von Straßen vor allem Anwendung in Bereichen finden, die hohe Temperaturen erforderten wie bei der Produktion oder dem Schweißen von Stahl.69 Das Verfahren zur Herstellung von „Tool steel and other high-

63 Die Karte mit einer Abbildung der Bilsteinhöhle bei Warstein vom 21.05.1897, LATh-HStA Wei­ mar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 2. Für die Identifizierung der Losung danke ich für die Unterstützung durch die Evangelische Brüder-Unität in Bad Boll. 64 Die Karte LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 2. Vgl. auch: Johannes Bracht, Georg Hausdorff, Die Reinigung des Kesselspeisewassers (= Schriften des Vereins deutscher Revisions-Ingenieure 1), Berlin 21909. 65 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 2. Zum Absender vermerkt das Telegrafenamt: „Nota: [Absendername] Misch undeutlich auch aehnlich lesbar“. 66 Vgl. den mit einer Zeichnung versehenen Hinweis des Professors für Beleuchtungswesen und Leiter der Versuchsanstalt für Straßenbeleuchtung in Wien, Hugo Strache, Gasbeleuchtung und Gas­ industrie, Wiesbaden 1913, S. 843, Digitalisat: https://books.google.de/books?id=O4uLBwAAQBA J&pg=PA1159&lpg=PA1159&dq=dellwik&source=bl&ots=KJuv7P6LtM&sig=ACfU3U08pF5oo Sj-0rUw-GaW9M0hS3jZ4g&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjq4cCynfnoAhWMy6QKHWcvCpY4 ChDoATABegQIChAB#v=onepage&q&f=false, letzter Zugriff: 30.06.2022. 67 Zur Entwicklung des Unternehmens vgl. den Beitrag seines Chefingenieurs H. Dicke, „Über Wassergas“, in: Stahl und Eisen. Zeitschrift für das deutsche Eisenhüttenwesen, Jg. 27, Nr. 33 (14.08.1907), S. 1–7, weiterhin: Alfons Bujard, „Dellwik-Fleischer’s Wassergasverfahren und seine Anwendungen“, in: Polytechnisches Journal, Bd. 314, 1899, S. 65–69. Zum Tätigkeitsfeld des Unternehmens vgl. auch: HHStA Wiesbaden, Abt. 360/258, 2231 (Gasversorgung). 68 Die Betriebsergebnisse für Erfurt mit Skizze der Anlage von Oktober 1900 bis März 1901 in: G. F. Schaars Kalender für das Gas- und Wasserfach, Bd. 25, 1905, S. 176, Digitalisat: https://archive.org/ stream/bub_gb_ZUswAAAAMAAJ/bub_gb_ZUswAAAAMAAJ_djvu.txt, letzter Zugriff: 30.06.2022. 69 Vgl.: J.[osef ] Gwosdz, „Die neuere Entwicklung der Wassergaserzeuger“, in: Glückauf. Berg- und hüttenmännische Zeitschrift, 51.  Jg., Nr. 27. (03.06.1915), S. 653–659, Digitalisat: http://delibra. bg.polsl.pl/Content/10696/No27.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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grade steels“ wurde 1911 in Deutschland und in den darauffolgenden Jahren international patentiert.70 Die Aktivitäten von Agnes Fleischer gingen bald aber weit darüber hinaus.71 Im Jahr 1913 konnte sie den Legationsrat Carl-Ludwig Diego von Bergen (1872–1944)72 als Geldgeber für die Gründung einer Gesellschaft zur Stahlproduktion gewinnen, die ihren Sitz in Belgien hatte und in mehreren europäischen Ländern Werke besaß. Während das Verfahren bei der Stahlproduktion in Schweden bereits seit vier Jahren Gewinne erzielte, berichtete Dellwik allerdings 1913 über Missmanagement bei Einsatz des Wassergases in den Stahlwerken in Torgau und in Leven (Schottland). Dies führte zu Verlusten, die sich angeblich allein bei Fritz Fleischer als weiterem Teilhaber auf eine halbe Million Mark beliefen. Ungeachtet dessen liefen bereits Kalkulationen über die zu erwartenden Gewinne bei der Vermarktung von Gasmotoren zur Beleuchtung und Beheizung von Städten durch das Gas auch in Amerika. Noch im Oktober 1914 hatte sie erste Pläne zur Gründung einer „Städte-Beheizungsgesellschaft“ in den USA mit einem Stammkapital von 100 Millionen Mark. Der Erste Weltkrieg macht diese zunichte. Da inzwischen unter anderem Krupp, die General-Gas-Direktion von Berlin sowie das Reichsamt des Inneren Interesse an dem Verfahren angemeldet hatten, setzte man Hoffnungen auch auf die perspektivisch in Österreich-Ungarn, den Balkanländern und Russland zu erzielenden Gewinne. „England muss auf die Kniee [sic], denn wir sind ihnen in Allem über, und besonders auch durch die grossartigen technischen Leistungen, die sie nicht haben“, schrieb sie am 5. September 1916 an Legationsrat von Bergen.73 Ihren Bruder Emil, der sich wegen Leiden am Nervensystem mit seiner Frau zur Kur auf dem im Besitz seiner Schwägerin befindlichen Schloss Allner bei Hennef aufhielt, wollte sie mit diesen geschäftlichen Problemen nicht behelligt wissen.74

70 Auflistung von neuen Patententen in Metallurgie und Elektrometallurgie in: The Journal oft the Society of Chemical Industry, Bd. 32, 1913, S. 295, Digitalisat: https://books.google.de/books?id= fhhQAAAAYAAJ&pg=PA295&lpg=PA295&dq=Dellwik-Fleischer-Wassergas+Gesellschaft+ mbH&source=bl&ots=3aZ9 l1jQHV&sig=ACfU3U31lzD2ic3oeauhWs27lzIajcqIHQ&hl=de&s a=X&ved=2ahUKEwiZ2uSgiv7oAhWKwAIHHbO6CxwQ6AEwAnoECAoQAQ#v=onepage&q= Dellwik-Fleischer-Wassergas%20Gesellschaft%20mbH&f=false, letzter Zugriff: 30.06.2022. 71 Die Berichte und Korrespondenz von Agnes Fleischer im Zusammenhang mit dem Dellwik-­Fleischer’­ schen Wassergasverfahren, in: LATh-HstA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 2. 72 Zu Bergen, der von 1920 bis 1943 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl werden sollte, vgl.: Adalbert Erler, „Diego von Bergen“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 78, Digitalisat: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116130113.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 30.06.2022. 73 Die Berichte und Korrespondenz von Agnes Fleischer im Zusammenhang mit dem DellwikFleischer’schen Wassergasverfahren, (wie Anm. 71). 74 Schloss Allner war seit 1883 im Besitz des Industriellen Philipp Heinrich Cockerill (1821–1903). Zunächst bewohnte es dessen Tochter Lucy mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Graf Alfred Adelmann von Adelmannsfelden. Nach dessen Tod 1887 heiratete sie zwei Jahre später Richard Fleischer, den jüngeren Bruder von Emil.

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Abb. 12: Anlage zur Erzeugung von Haushaltsgas der Dellwik-Fleischer Wassergas Gesellschaft Frankfurt a. M. in Bad Langensalza/Thür. 1927, HHSTA Wiesbaden, Abt. 360/258, 2231 (Gasversorgung).

Die Wirtschaftskrise der Weimarer Republik machte auch vor der Wassergas-Gesellschaft nicht halt. Der Anteilsschein von Pauline Fleischer mit einem Nennwert von 16.800 Mark, den sie ihrem Sohn Philipp vererbt hatte, wurde auf Beschluss der Generalversammlung vom 20. Dezember 1924 auf einen Wert von 840 Reichsmark gestellt.75 Insgesamt habe

75 Beschluss der Generalversammlung vom 20.12.1924, in: LATh-HstA Weimar, FN Fleischer/Ehler­ mann, Karton 6, Mappe 2.

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die Familie etwa 2 Millionen Reichsmark „zugesetzt“, vermutet ihr Neffe Helmuth Ehlermann in der von ihm verfassten Familiengeschichte.76 Agnes Fleischer war zeitlebens unverheiratet geblieben und hatte als „im Haus gebliebene Tochter“ ihre Mutter Pauline gepflegt.77 Sie verstarb am 23. Dezember 1930 im Alter von 83 Jahren in Wiesbaden.78

Dr. med. h. c. Richard (Rix) Fleischer (1849–1937)

Abb. 13: Dr. Richard Fleischer (1849–1937) mit seiner Ehefrau Lucy, geb. Cockerill (1860–1913), und deren Tochter Irma Adelmann von Adelmannsfelden (1884–1946) um 1895, Foto: Hoffotograf L. W. Kurz, Wiesbaden, Privatbesitz.

76 Genealogie Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 35. 77 Trauerreden, (wie Anm. 30), S. 3. 78 StA Wiesbaden, Sterberegister des Standesamts Wiesbaden 1930, S. 180, Nr. 1572 sowie das „Verzeichnis Jüdische Bürger in Wiesbaden“, IdentNr. 12102.

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Max Fleischers zweiter Sohn Richard gab von 1877 bis 1922 die Zeitschrift Deutsche Revue – über das gesammte nationale Leben der Gegenwart heraus.79 Die Zeitschrift sollte ein gebildetes Publikum „in allgemein verständlicher Weise“ über aktuelle künstlerische, politische und wissenschaftliche Entwicklungen informieren.80 Sein Anspruch war es dabei, den „Interessen des Friedens, der Kultur, der Aufklärung und Bildung“ zu dienen.81 Für Beiträge konnte er bedeutende Autoren wie Felix Dahn, Karl Emil Franzos, Franz von Lenbach oder Ferdinand Adolf Gregorovius gewinnen. Zu den Themenfeldern gehörten Nationalökonomie und Landwirtschaft genauso wie Geschichte, Medizin, Philosophie und Literatur. Hierzu gehörte natürlich auch die Musik. So wurde beispielsweise über Musikfeste oder die musikalische Feier des Germanischen Nationalmuseums für den verstorbenen Dresdener Generalmusikdirektor Julius Rietz (1812–1877) berichtet. Der Musiktheoretiker und Komponist Emil Naumann (1827–1888) rezensierte die Aufführungen der drei neuen deutschen Opern Armin von Heinrich Hoffmann (1842–1902), Die Hochländer von Franz von Holstein (1826–1878) und Der Landfriede von Ignaz Brüll (1846–1907).82 Mit besonderem Interesse verfolgte Richard Fleischer die Entwicklungen in der Medizin und den Naturwissenschaften. Er korrespondierte mit Physikern vom Range eines Max Planck oder Max von Laue. Besonderen Wert legte Richard Fleischer auf den Abdruck von bisher unveröffentlichten Quellen wie Korrespondenzen oder Tagebücher.83 Politisch setzte sich der Herausgeber zum Ziel, „im Gegensatz zu den extremen Systemen die liberalen Ideen mit conservativer Treue und Beharrlichkeit zu vertheidigen.“84 In diesem Zusammenhang wurde auf zeitpolitische Fragen eingegangen. Der Herausgeber, der eine umfangreiche Korrespondenz mit Künstlern, Politikern und Militärs pflegte, galt als diskret und trat

79 Die Zeitschrift findet sich digitalisiert im Internet, Digitalisat: https://de.wikisource.org/wiki/ Deutsche_Revue, letzter Zugriff: 30.06.2022. Eine positive Rezension in: Die Gartenlaube, H. 43, 1877, S. 732, Digitalisat: https://de.wikisource.org/wiki/Eine_deutsche_Revue, letzter Zugriff: 28.07.2020. Nachdrucke bzw. Reprints verschiedener Ausgaben im Handel, so etwa die Ausgaben des Jahres 1877 Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart, Norderstedt 2016. 80 Starkulla, „Richard Fleischer“, (wie Anm. 4). 81 Ebd. 82 Deutsche Revue, Bd. 2, 1877, S. 333–337, Digitalisat: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht? id=5363&tx_dlf%5Bid%5D=4684&tx_dlf%5Bpage%5D=343, letzter Zugriff: 30.06.2022. 83 Vgl. zur Bitte Fleischers um die Möglichkeit zum Abdruck von Briefen des Chemikers Justus Liebig (1803–1873) das Schreiben von Friedrich Wöhler (1800–1882) vom 08.12.1877, in: The Waller Manuscript Collection, Sig. Waller Ms de-06340, Uppsala University Library, Digitalisat: http:// waller.ub.uu.se/33740.html#dcId=1582821706069&p=1, letzter Zugriff: 30.06.2022. Ein bis dahin ungedruckter Brief von Christian von Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) aus der Festungshaft an seine Frau vom 04.09.1780 in: Deutsche Revue, Bd. 25, 1900, H. ¾, S. 114 f, Digitalisat: https:// digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/4648/127/0/, letzter Zugriff: 30.06.2022. 84 Deutsche Revue, Bd. 1, 1877, H. 1, S. 1, Digitalisat: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/ 4683/13, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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Abb. 14: Das Inhaltsverzeichnis der Deutschen Revue vom Herbst 1896 zeigt das breite Spektrum der Zeitschrift, Bd. 21, 1896, H. 3.

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Abb. 15: Die politische Programmatik der Deutschen Revue in der ersten Ausgabe 1877, Bd. 1, 1877, H. 1, S. 1.

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kaum öffentlich in Erscheinung.85 Gustav Freytag bescheinigte gegenüber Ferdinand von Stosch, General der Infanterie und Admiral (1818–1896), der in Oestrich unweit Wiesbaden lebte: „Sie können sich nach dieser Seite ganz auf ihn [Richard Fleischer] verlassen, er ist ein Gentleman und Verkehr mit Vorsichtigen gewöhnt.86 Doch Freytags Verhältnis zu Fleischer war ambivalent. Zwar lieferte er gerne Beiträge, seinem Patensohn Georg Hirzel berichtete er jedoch am 29. Oktober 1893: „Fleischer gehört zu meinen guten Bekannten hier [in Wiesbaden]; er hat den zweifelhaften Vorzug, sehr wohlhabend zu sein, hat die Revue seither als Amateur ohne Geld-Nutzen für sich, schlecht u. [nd] recht dirigirt [sic]. Das Blatt soll seine Kosten übrigens decken.“87 Aufmerksam verfolgte Richard Fleischer neue Entwicklungen und Ideen in allen Forschungsbereichen, wobei es ihm anscheinend ein Anliegen war, besonders solche Forscher zu fördern und eine Plattform in der Deutschen Revue zu bieten, die mit ihren neuen Ansätzen auf Widerstand stießen. So wurde um das Jahr 1900 der Nutzen der Radiologie für die Medizin heftig diskutiert. An der Universität Heidelberg warb seit 1901 der Krebsforscher Vincenz Czerny (1842–1916) für die Errichtung einer speziellen Heil- und Pflegestätte mit angeschlossenem Forschungsinstitut. Die erste Stiftung in Höhe von 132.000 Goldmark kam vom „RichardFleischer-Fonds“.88 Das Geld wurde zur Errichtung eines „radiologischen Instituts“ verwendet, das der „Erforschung und praktischen Verwertung der neueren Strahlungen“ dienen sollte.89 Am 28. Dezember 1906 dankte ihm Großherzog Friedrich I. von Baden schriftlich für die erfolgte Stiftung und 1909 wurde Richard Fleischer die medizinische Ehrendoktorwürde verliehen.90

85 Zu seiner umfangreichen Korrespondenz vgl. die Übersicht bei Kalliope, http://kalliope-verbund. info/de/query?q=ead.creator.gnd%3D%3D%22116601329 %22, letzter Zugriff: 30.06.2022. 86 Schreiben Freytags an von Stosch vom 28.07.1891. Zit. nach: Jung, „Eine deutsch-jüdische Familienidylle“, (wie Anm. 36), S. 13. Die „Denkwürdigkeiten des Generals und Admirals Albrecht v. Stosch, ersten Chefs der Admiralität. Briefe und Tagebuchblätter“, in Deutsche Revue, Bd. 1, 1903, S. 28–46, S. 168–178, S. 286–295, Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_jCANAAAAYAAJ_2/page/ n179/mode/2up?q=paraphrase, letzter Zugriff: 30.06.2022. 87 Jung, „Eine deutsch-jüdische Familienidylle“, (wie Anm. 36), S. 13. 88 Vgl.: Gustav Wagner, „Vincenz Cerny und Karl Heinrich Baer. Zwei Heidelberger Krebsforscher“, in: 100 Years of Organized Cancer Research – 100 Jahre organisierte Krebsforschung, hrsg. v. Wolfgang U, Eckart, Stuttgart 2000, S. 31–36. Zu der Stiftung vgl. die Akten in: Landesarchiv BadenWürttemberg-Generallandesarchiv Karlsruhe, Best. 233, Nr. 33584, http://www.landesarchiv-bw. de/plink/?f=4-2094712, sowie Errichtung eines Radiologischen Instituts an der Universität Heidelberg durch den Richard-Fleischer-Fonds 1908–1941, Best. 235, Nr. 3823, http://www.landesarchiv-bw.de/ plink/?f=4-3361389, letzter Zugriff: 20.03.2020. 89 Zur Ehrung Fleischers vgl.: Wilhelm Windelband, Der Wille zur Wahrheit. Akademische Rede zur Erinnerung an den zweiten Gründer der Universität Karl Friedrich Großherzog von Baden am 22. November 1909 bei dem Vortrag des Jahresberichts und der Verkündung der akademischen Preise, Heidelberg 1909, S. 29. 90 Vgl.: LATh-HstA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 5. Eine Kopie der Verleihungsurkunde im Archiv der Universität Heidelberg, H-III-152.

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Abb. 16: Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg an Richard Fleischer durch Großherzog Friedrich II. von Baden (1857–1928) im Jahr 1909, U. A. Heidelberg, H-III-152.

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Im sogenannten Babel-Bibel-Streit, der besonders heftig in den Jahren Jahre 1902/03 ausgetragen wurde, stellte er sich an die Seite des Assyrologen Friedrich Delitzsch (1850– 1922), um diesen bei seinem „Kampf um die freie Forschung, um die Wahrheit und um die Aufklärung“ zu unterstützen.91 Delitzsch glaubte, auf der Grundlage von Funden im Orient Parallelen zwischen der babylonischen Kultur und dem Alten Testament feststellen zu können. Da Delitzsch im Zusammenhang mit seinen Forschungen schließlich auch den Nutzen des Alten Testaments für die christliche Gottesoffenbarung infrage stellte, forderte er den Widerspruch der Theologen heraus. Von jüdischer Seite wurde kritisiert, dass er die Eigenständigkeit der israelitischen Religion bestritt. In der Deutschen Revue wurde der Artikel von Delitzsch „Die mosaische Gesetzgebung“ abgedruckt, in dem dieser die auffälligen Ähnlichkeiten des babylonischen Rechts mit den Zehn Geboten nachweisen zu können glaubte.92 Angeheizt wurde die öffentliche Diskussion zusätzlich durch das wohlwollende Interesse Kaiser Wilhelms II. – als König von Preußen immerhin Summus Episcopus der evangelischen Landeskirche – an den Forschungen von Delitzsch.93 Fleischer veröffentlichte ohne Nennung des Verfassers in der Deutschen Revue einen Artikel von Delitzsch unter dem Titel „Babel und Bibel. Eine Paraphrase des Kaiser-Briefes“. Daran direkt anschließend ist allerdings das Vorwort zur neuesten Auflage des zweiten Vortrags von Delitzsch über Babel und Bibel abgedruckt.94 Delitzsch entwickelte sich dann aber zunehmend zum Antisemiten und stellte schließlich sogar die jüdische Abstammung von Jesus infrage. Ein anderer Wissenschaftler, dessen Forschungen zunächst auf teilweise heftigen Widerstand stießen, war Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie. Richard Fleischer bot ihm eine finanzielle Unterstützung für seine Forschungen an, die er jedoch ablehnte. Im Jahr 1919 unterstützte er dann auf den Wunsch von Albert Einstein hin zwei junge Forscher am Physikalischen Institut Bonn bei Untersuchungen zum Einfluss der Gravitation der Sonne auf die Lichtabsorption der in der Sonnen-Atmosphäre befindlichen chemischen Elemente.95 Ein halbes Jahr später lehnte Einstein das Angebot ab, in der Deutschen Revue

91 Schreiben von Fleischer an Delitzsch vom 21.03.1903, abgedruckt bei: Reinhard G. Lehmann, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, Göttingen u. a. 1994, S. 332. 92 Vgl.: Friedrich Delitzsch, „Die mosaische Gesetzgebung“, in: Deutsche Revue, Bd. 1,1903, S. 129– 133, Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_jCANAAAAYAAJ_2/page/n235/mode/2up?q= paraphrase, letzter Zugriff: 30.06.2022. 93 Zum Babel-Bibel-Streit vgl.: Sascha Gebauer, „Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ (2018), in: WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/ details/babel-bibel-streit/ch/f51c036ee21b1d20bf9e97dc6c159822/, letzter Zugriff: 30.06.2022. 94 Zum Verfasser wird in der Fußnote angegeben, „die Paraphrase ging uns von einem hervorragenden österreichisch-ungarischen Diplomaten zu“, in: Deutsche Revue, Bd. 2, 1903, S. 123 f, Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_jCANAAAAYAAJ_2/page/n619/mode/2up?q=paraphrase, letzter Zugriff: 30.06.2022. 95 Vgl.: Schreiben Fleischers an Einstein vom 29.12.1919, in: The Collected Papers of Albert Einstein, hrsg. v. Ann M. Hentschel, Bd. 9, Princeton, New Jersey, S. 201, Nr. 238, Digitalisat: https://einsteinpapers. press.princeton.edu/vol9-trans/223?highlightText=fleischer, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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einen Artikel als Antwort auf Angriffe auf die Relativitätstheorie zu veröffentlichen, mit den Worten: „Wer nicht selbst denken und urteilen kann, an dessen Urteil ist nichts gelegen.“96 Richard Fleischer hatte im Jahr 1889 Lucy (1860–1913), die Witwe des Schriftstellers Alfred Graf Adelmann von Adelmannsfelden (1848–1887), geheiratet. Fleischer und seine Frau tätigten zahlreiche Schenkungen beispielsweise zugunsten eines Altersheims und einer Stiftung für Armenzwecke.97 Seine Frau galt als eine der wohlhabendsten Frauen Deutschlands dieser Zeit.98 Sie war eine Nachfahrin des britischen Unternehmers Cockerill, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Belgien einen bedeutenden Stahl- und Maschinenbaukonzern aufgebaut hatte. Ihre Mutter Thusnelda (1830–1903) stammte aus der Unternehmerfamilie Haniel. Lucy brachte ihre Tochter Irma (1884–1946) mit in die Ehe, die bald ein vertrauensvolles Verhältnis mit ihrem Stiefvater verband. Dieser war offensichtlich auch wenig angetan von den Werbungen um die damals gerade Siebzehnjährige durch den doppelt so alten Rittmeisters Erdmann Friedrich von Levetzow (1868–1948) in den Jahren 1902 bis 1903.99 Der Offizier beim Thüringischen Husaren-Regiment Nr. 12 suchte daher Schützenhilfe bei Pauline und Agnes Fleischer. In seinen Briefen blieb auch seine Tante Ulrike von Levetzow (1804–1899) nicht unerwähnt, in welche sich im gleichen Alter der greise Goethe verliebt hatte. Levetzow ließ Fritz Fleischer am 20. Februar 1903 eine fotografische Reproduktion des Bildes seiner Tante aus dem Goethehaus zukommen. Auf dem Foto vermerkte er: „Erdmann Friedrich von Levetzow sendet dieses Bild dem Maler mit Herz und Gemüth, der noch erfreute Ulrike v.[on] L.[evetzow.] mit einem Goethebild.“100 Gemeint war das Bild Mehr Licht!, das ihr Fleischer auf eine Anregung Großherzog Carl Alexanders hin wohl „dedicirt“ hatte.101 Eine Einladung in das Casino der Husaren, deren Garnison seit 1901 in Torgau war, lehnte der Maler mit knappen Worten ab und schickte das Foto mit Begleitschreiben nach Wiesbaden. Der sieglose Husar heiratete schließlich 1906 Clementine Gräfin Lanthieri von Paraticó (1865–1960) und Irma 1923 den Wiesbadener Augenarzt Dr. Adolf Pagenstecher (1877–1959).102   96 Einstein an Fleischer am 29.07.1920, ebd., Bd. 10, S. 351, Nr. 87, Digitalisat: https://einsteinpapers. press.princeton.edu/vol10-doc/421?highlightText=fleischer, letzter Zugriff: 30.06.2022.   97 StA Wiesbaden, (wie Anm. 78), das „Verzeichnis Jüdische Bürger in Wiesbaden“, IdentNr. 12099.   98 Vgl.: Kurt Pritzkoleit, Wem gehört Deutschland? Eine Chronik von Besitz und Macht, München 1957, S. 65.   99 Zur Familie von Levetzow (Levetzau) vgl.: Genealogisches Taschenbuch der Ritter- u. Adels-Geschlechter, 3. Jg., 1878, S. 421–439, Digitalisat: https://www.digitalniknihovna.cz/mzk/view/uuid:c865ca307dba-11e3-9be6-005056827e52?page=uuid:4b7123f0-883f-11e3-aa9f-5ef3fc9ae867, letzter Zugriff: 30.06.2022. 100 Die Briefe Levetzows an die Angehörigen der Familie Fleischer, in: LATh-HstA Weimar, FN Flei­ scher/Ehlermann, Karton 6, Mappe 3. 101 Vgl.: Post, „Ein Weimarer Kulturkampf“, (wie Anm. 2). 102 Quellen zur Heirat von Levetzows mit Gräfin Lanthieri von Paraticó in Görz in dem von Lucia Pillon erarbeiteten Verzeichnis des Privatarchivs „Archivio storico Levetzow Lantieri, Digitalisat: https://docplayer.it/20018723-Archivio-storico-levetzow-lantieri.html, letzter Zugriff: 18.07.2020. Weiterhin: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Hostenau, hrsg. v. Peter Broucek, (= Veröff. Der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 76), Köln u. a. 1988, S. 224, Anm. 39. Zur Familie Pagenstecher vgl.: Hessian Biography auf LAGIS, https://www.lagis-hessen.de/

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Abb. 17: Todesanzeige für Richard Fleischer durch die Grubenvorstände der Gewerkschaften Neumühl und Rheinpreußen, Wiesbadener Tageblatt vom 10. Juni 1937, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 4.

Ihre Mutter Lucy Fleischer muss sich als in die Familie ihres Mannes aufgenommen gefühlt haben. Denn als sie im Jahr 1913 starb, hinterließ sie den Fleischer-Geschwistern eine jährliche Rente von jeweils 15.000 Mark. Ausgenommen hiervon war Richards jüngerer Bruder Philipp Fleischer, wofür keine Gründe bekannt sind. Im Falle von Fritz Fleischer hingegen war sogar festgelegt, dass die Rente im Falle seines Todes auf seine Frau Jenny Fleischer-Alt überzugehen hatte.103 en/subjects/rsrec/current/1/entry/adelmann+von+adelmannsfelden%252C+irma/sn/bio/register/ person, letzter Zugriff: 30.06.2022. 103 Vgl.: Abschrift des Testaments der am 24.05.1913 verstorbenen Lucy Caroline Adeline Fleischer für Helene Gräfin zu Leiningen-Neudenau durch das Königliche Amtsgericht Wiesbaden vom 20.06.1913, in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5.

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Richard Fleischer verstarb am 7. Juni 1937 in Wiesbaden. Am 12. Juni wurde er kremiert und seine Urne zwei Tage später im Familiengrab in Jena beigesetzt. Im Beerdigungsregister des Nordfriedhofs von Jena wird für den getauften Protestanten als Religionszugehörigkeit „jüdisch“ vermerkt. Neben seiner Arbeit als Herausgeber hatte er auch seit 1904 den Grubenvorständen der Steinkohlewerke Neumühl und Rheinpreußen angehört. Bemerkenswert ist, dass die Vorstandskollegen im fünften Jahr des NS-Regimes und trotz der zwei Jahre zuvor erlassenen diskriminierenden Nürnberger Rassegesetze nicht zögerten, in der unter anderem im Wiesbadener Tagblatt am 16. Juni 1937 veröffentlichten Todesanzeige die Pflichttreue und den hervorragenden Gerechtigkeitssinn sowie weiterhin die Liebenswürdigkeit und Güte des Verstorbenen zu betonen.104

Prof. Ernst Philipp Fleischer (1850–1927) Der dritte Sohn, Philipp Fleischer, studierte zunächst an der Dresdner Kunstakademie bei Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872), einem führenden Vertreter der Nazarenischen Kunst.105 Er setzte sein Studium bei dem Historienmaler Karl von Piloty (1826–1886) an der Königlichen Bayerischen Akademie der Künste in München fort. Schließlich wechselte er zu Karl Gussow (1843–1907) an die Königliche Akademie der Künste zu Berlin. Gussow war an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar ausgebildet worden und dort auch später als Lehrer tätig. Bereits 1878 wurde Philipp Fleischers Gemälde Ein frisches Kleeblatt, das drei jungen Frauen in Tracht bei gemeinsamer Lektüre eines Briefes zeigt, als Holzschnitt in der Garten­ laube mit dem Kommentar abgebildet: Der talentvolle Schüler Gussows, dem wir das Bild verdanken, hat mit dieser Composition einen glücklichen Griff gethan. Ernst Philipp Fleischer ist ein Breslauer Kind; seine Studien hat er in Dresden und Weimar, endlich in Italien gemacht, von wo er Gussow, dem Meister seiner Wahl, nach Berlin folgte. Er zählt hier zu den entschiedenen Jüngern jener Richtung, welche auf treue und genaue Wiedergabe der Natur den Hauptnachdruck legt und dadurch in so hohem Maße befruchtend auf die deutsche Malerkunst der Gegenwart eingewirkt hat.106

Mit zwölf Illustrationen und zahlreichen Vignetten versah er die 1881 in München von Agnes Kayser-Langerhannß (1818–1902) veröffentlichte nordisch-germanische Götter-

104 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 4. 105 Vgl. den Artikel zu Philipp Fleischer bei: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. Ulrich Thieme, Bd. 12, Leipzig 1916, S. 86, Digitalisat: https://www.archive. org/stream/bub_gb_7QMrAAAAYAAJ#page/n91/mode/1up, letzter Zugriff: 30.06.2022. 106 Eine Abbildung von Fleischers Ein frisches Kleeblatt, in: Die Gartenlaube, Jg. 1878, H. 48, S. 797 sowie der Kommentar, S. 800, Digitalisat: https://de.wikisource.org/wiki/Ein_frisches_Kleeblatt, letzter Zugriff: 18.07.2022.

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sage Odin.107 Die Gartenlaube lobte „die Fleischer’schen Illustrationen, welche ein feines künstlerisches Empfinden, viel Phantasie und einen ungewöhnlichen poetischen Duft bekunden.“108 Große Erfolge feierte er aber vor allem als Historienmaler von „imposanten Wimmelbildern“, wie ein Rezensent sein Schaffen charakterisierte.109 In diesem Stil gehalten ist auch sein bekanntestes Bild mit dem Titel Schichtwechsel beim Bau des Gotthard­ tunnels, welches zuerst auf der JubiläumsAusstellung der Akademie der Künste zu Berlin 1886 gezeigt wurde.110 Danach war es zunächst in der Berliner Nationalgalerie und dann im damaligen Kaiser-FriedrichMuseum zu Posen ausgestellt. Heute gehört es zum Bestand des Deutschen Historischen Museums. Ausgestellt wurde es dort vom 25. Oktober 2012 bis zum 21. April 2013 im Rahmen der Ausstellung Im Ate­ lier der Geschichte, die 500 Jahre deutsche Abb. 18: Prof. Ernst Philipp Fleischer (1850–1927), Geschichte in Bildern zeigte, als Beispiel für StA München, DE-1992-FS-PER-F-0165-01. den Aufbruch des 19. Jahrhunderts in das technische Zeitalter. Ab dem Jahr 1888 malte Fleischer dann mehrere Panoramen von bedeutenden Schlachten der britischen Geschichte im Auftrag von Albert Max Thiem (1848–1913), dem aus Deutschland stammenden Eigentümer des noblen Windsor Hotels in Edinburgh.111 Für 107 Nachdruck Augsburg 1999. Zu der auf Schloss Heldrungen in Thüringen geborenen Agnes KayserLangerhannß vgl.: Heinrich Gross, Deutschlands Dichterinnen und Schriftstellerinnen, Wien 21882, S. 158. 108 Eine Rezension von Prachtwerken für den Weihnachtstisch, in: Die Gartenlaube, Jg. 1881, H. 50, S. 839, Digitalisat: https://de.wikisource.org/wiki/Prachtwerke_für_den_Weihnachtstisch, letzter Zugriff: 18.07.2022. 109 Die Charakterisierung des Gotthardt-Gemäldes durch Christian Schröder, „Pulverdampf der Weltgeschichte. 500 Jahre in 100 Bildern: Das Deutsche Historische Museum zeigt Gemälde aus seiner Sammlung“, in: Der Tagesspiegel vom 06.11.2020, https://www.tagesspiegel.de/kultur/pulverdampfder-weltgeschichte/7348160.html, letzter Zugriff: 30.06.2022. 110 Vgl.: Katalog zur Jubiläumsausstellung der Königlichen Akademie der Künste im Landesausstellungs­gebäude zu Berlin, Berlin 1886, S. 62, Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_SglDAAAAIAAJ/page/ n101/mode/2up/search/%22Philipp+Fleischer%22?q=%22Philipp+Fleischer%22, letzter Zugriff: 30.06.2022. 111 Thiem erhielt 1875 die britische Staatsbürgerschaft, vgl.: das Verzeichnis Nationality and Naturalisation der National Archives, https://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C4736104?descriptiontype

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Abb. 19: Das Gebäude für die von Prof. Philipp Fleischer gemalte Hohenzollern-Galerie am Lehrter Bahnhof 1892, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 6, Mappe 8.

eine Ausstellungshalle in der Sauchiehall Street in Glasgow entstand das Great Scottish National Panorama der Battle of Bannockburn (1314), das für einen Eintritt von drei Pence besichtigt werden durfte.112 In einer Halle mit einem Durchmesser von mehr als 36 Metern und einer Höhe von rund 40 Metern gelang es dem „eminent artist, Philipp Fleischer, of Munich“ das Schlachtfeld „life-size, the eye stretching, as it seems, for ten miles in every direction“ abzubilden.113 Als Folgeauftrag malte Fleischer ein Panorama vom Tod Nelsons in der Schlacht von Trafalgar, das in Manchester (1889), Edinburgh (1890) und sogar bei der „Royal Naval Exhibition“ in London (1891) zu sehen war, die unter der Schirmherrschaft von Queen Victoria stand.114 Es folgte 1889 im Auftrag einer Londoner Panorama=Full&ref=HO+45/9378/41762, letzter Zugriff: 30.06.2022. Er ist gemäß der Aufnahme durch das Projekt BillionGraves auf dem Cathcart Cemetery in Glasgow beigesetzt, vgl.: https://billiongraves. de/grave/Albert-Max-Thiem/21575493, letzter Zugriff: 30.06.2022. 112 Vgl.: Guide to the Great Scottish National Panorama „Battle of Bannockburn“ by Philipp Fleischer of Munich, ohne Ort und Jahr, Digitalisat der National Library of Scotland https://digital.nls.uk/earlygaelic-book-collections/archive/79484015?mode=gallery_grid&sn=19, letzter Zugriff: 30.06.2022. 113 Zeitgenössische Beschreibung Panorama der Schlacht von Bannockburn bei: Glasgow West-end Addresses and their Occupants 1836–1915, http://www.glasgowwestaddress.co.uk/1888_Book/Panorama_of_ Battle_of_Bannockburn.htm, letzter Zugriff: 18.07.2022. In einer zweitägigen Schlacht wurde am 23. und 24. Juni 1314 die englische Armee unter König Eduard II. von der schottischen Armee unter Robert the Bruce besiegt, was damals die Unabhängigkeit Schottlands sicherte. Heute schmücken die Schlachtszenen Fleischers den „Bannockburn room“ des Hotels „Peebles Hydro“, Innerleithen Road Peebles, Scotland, EH45 8LX. 114 „The Panorama of the Battle of Trafalgar“, in: The Royal Naval Exhibition. The Illustrated Handbook and Souvenir, London 1891, S. 30–34, Digitalisat: https://archive.org/details/royalnavalexhibi00pallrich/

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Abb. 20: Philipp Fleischers Darstellung der Feier zur Silberhochzeit des österreichischen Kaiserpaares am 27. April 1879 in der Jubiläumsausstellung Kaiser Franz Joseph und seine Zeit 1848–1998 im Wiener Prater. An der Treppe rechts Franz Liszt, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 1.

Gesellschaft eine Darstellung von The Battle of Waterloo, die am Ashley Place unweit Westminster Cathedral ausgestellt wurde. Im Jahr 1890 schuf er mit dem Architekten Ludwig Heim in Berlin nahe dem Lehrter Bahnhof die Hohenzollern-Galerie als Rundgemälde.115 Auf dem 120 Meter langen Gemälde waren über tausend Personen dargestellt. Das Projekt war zwar nicht so erfolgreich wie das bereits 1883 unter Leitung von Anton von Werner (1843–1915) am Alexanderplatz eröffnete Sedan-Panorama, brachte Fleischer aber nach dem bayerischen zusätzlich einen preußischen Professorentitel ein.116 page/30/mode/2up/search/%22Philipp+Fleischer%22?q=%22Philipp+Fleischer%22, letzter Zugriff: 30.06.2022. 115 Vgl.: Philipp Fleischer, Ludwig Heim, Hohenzollern-Galerie zu Berlin am Lehrter Bahnhof, gegenüber der Moltkebrücke ausgeführt, Berlin [1890]. Vgl. auch: Hohenzollern-Galerie 1640–1890: Rundgemälde, photographirt nach dem Originale, Reprint der Sächsischen Landesbibliothek Dresden 2017, Digitalisat: https://digital.slub-dresden.de/data/kitodo/FleiHohe_492418063/FleiHohe_492418063_tif/jpegs/ FleiHohe_492418063.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022. 116 Vgl. den von Franz Schiermeier in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv München herausgegeben Ausstellungskatalog: Illusion und Wirklichkeit. München als Zentrum der Panoramenherstellung, München 2009, S. 66. Zum Sedan-Panorama: Oliver Grau, „Das Sedanpanorama. Einübung soldatischen Gehorsams im Staatsbild durch Präsenz“, in: Medien der Präsenz. Museum, Bildung und

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Im Jahr darauf wurde mit großem Erfolg in München sein Panorama des Golfs von Neapel präsentiert.117 Philipp Fleischer beschäftigte sich daneben wie auch sein Bruder Fritz intensiv mit den Maltechniken der alten Meister. Der Kunsthistoriker Hermann Popp (1871–1943) beschrieb 1895 im Zusammenhang einer Ausstellung in der Münchner Pinakothek Pro­ fessor Ph.[ilipp] Fleischer’s neues Malsystem. Ausgestellt worden waren zwei Gemälde von Rubens, von Fleischer mithilfe seiner Neuentwicklungen gefertigte Kopien „sowie noch eine andere Kopie in gewöhnlicher Oelfarbentechnik“.118 Schließlich erhielt Philipp Fleischer 1894 den Auftrag, für das fünfzigste Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph I. 1898 ein kolossales Rundgemälde zu gestalten. Für das Gemälde mit dem Titel Kaiser Franz Joseph und seine Zeit wurde eigens ein Rundbau im Prater entworfen.119 An dem Panorama kritisierte die Presse, dass bei den wohl unter diplomatischen Gesichtspunkten ausgewählten „Jubelgenossen“ des Kaisers „Mancher fehlt“. Aber „die treffliche Totalwirkung des Kunstwerks bleibt unbestreitbar.“120 Der Kaiser besichtigte das Rundgemälde am 18. April 1898 und der Künstler wurde ihm vorgestellt.121 Die Presse prognostizierte, „dass das Rundgemälde sowol [sic] in künstlerischer Beziehung, wie vom historischen wie politischen Standpunkte aus das lebhafteste Interesse beim Publicum erregen wird“.122

Wissenschaft im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Fohrmann, Andreas Schütte u. Wilhelm Voßkamp, Köln 2001, S. 143–169. 117 Vgl.: Die Kunst für alle: Malerei. Plastik, Graphik, Architektur, 6. Jg., 1891, H. 18, S. 286 f, Digitalisat: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kfa1890_1891/0368, letzter Zugriff: 30.06.2022. 118 Hermann Popp, Professor Ph. Fleischer’s neues Malsystem. München [ca. 1895], S. 8; ein Exemplar im Deutschen Museum, Sig. 1000/1925 A 2793. 119 Vgl. zur damaligen Einrichtung des Themenparks im Prater unter dem Titel Venedig in Wien, in: https://www.wikiwand.com/de/Venedig_in_Wien, letzter Zugriff: 30.06.2022. Ignaz Schnitzer, Wiener Rundgemälde-Gesellschaft. Das Kaiser-Jubiläums-Bild. Nach den Grundmotiven und Angaben des J[gnaz] Schnitzer entworfen und gemalt von Prof. E[rnst] Ph[ilipp] Fleischer, Wien 1898. Die Bilder wurden wiederum in München gefertigt, vgl. die Münchner Zeitsprünge, http://www.hartbrunner. de/fakten/d_fakten.php?id=824, letzter Zugriff: 30.06.2022. 120 Besprechung des Wiener Panorama-Bildes in: Die Kunst für alle. Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, 13 Jg., 1897–1898, H. 19, S. 300, Digitalisat: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kfa1897_1898/ 0380, letzter Zugriff: 30.06.2022. 121 Meldung in: Neue Freie Presse (Wien) vom 19.04.1898, S. 5, Digitalisat: http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=nfp&datum=18980419&seite=5&zoom=33, letzter Zugriff: 30.06.2022. Eine Beschreibung des Panoramas in: Neue Freie Presse (Wien) vom 12.05.1898, S. 5, Digitalisat: http:// anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=nfp&datum=18980512&seite=05, letzter Zugriff: 30.06.2022. 122 Art. „Das Kaiser-Jubiläumsbild“, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 12. Mai 1898, S. 5–6. Digitalisat: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=18980512&seite=5&zoom=33, letzter Zu­griff: 18.07.2022.

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Abb. 21: Philipp Fleischer in seinem Münchner Panoramaatelier bei der Arbeit an dem Rundgemälde Die Seeschlacht bei Trafalgar, Die Woche Nr. 44/1904, S. 1949, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 2.

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Im Jahre 1905 kam dann noch ein neues Panorama für London zum Centenary of Trafal­ gar hinzu. Gegen einen Eintritt von 1 Mark – Soldaten und Kinder die Hälfte – war dieses Panorama anschließend auch in Frankfurt am Main zu bestaunen.123 Hergestellt wurden die Bildsequenzen der Panoramen in einem hierfür spezialisierten Atelier an der Schwabinger Straße in München. Die Wirkung auf den Betrachter und damit der Erfolg von Fleischers monumentalen Darstellungen lässt sich vielleicht mit den heutigen 3-D-Kinos vergleichen. Nachempfinden kann man dies heute beispielsweise an dem von Werner Tübke (1929–2004) geschaffenen Bauerkriegspanorama in Bad Frankenhausen oder den in den letzten Jahren von Yadegar Asisis beispielsweise in Leipzig und Dresden geschaffenen Panoramen.124 Sollte ein unbestätigter Hinweis von Karl Mays (1842–1912) Witwe Klara (1864– 1944) zutreffen, hatten die Arbeiten Philipp Fleischers neben Wilhelm II., Franz Joseph I. und der „Empress of India“ auch noch bei einem vierten kaiserlichen Herrscher Aufmerksamkeit gefunden. Sie behauptete, dass „der berühmte Maler Philipp Fleischer in Begeisterung meinen Vater [Johann Ludwig Heinrich Beibler (1789–1880)], in dem Stuhl sitzend, lebensgroß malte. Dieses Bild kaufte der russische Zar, und es soll noch heute in Moskau vorhanden sein.“125 Noch während Fleischers Bilder das Publikum begeisterten, entwickelte fast zeitgleich die Firma von Thomas Alva Edison das Kinetoscope (1891). Die Brüder Lumière zeigten vier Jahre später die ersten Filme. Im Jahr 1902 erlebt das Filmpublikum bereits Die Reise zum Mond von Méliès. Und spätestens die ersten Monumentalfilme wie „Cabiria“ (1913), der den Kampf der Römer gegen Hannibal in bewegten Bildern zeigte, entzogen den Panoramen die zahlenden Besucher. Offensichtlich erkannte der erfolgsverwöhnte Künstler nicht, dass sein Stern an der Schwelle zum 20. Jahrhundert im Sinken begriffen war und glaubte vielmehr, sich in München einen angemessenen Wohnsitz schaffen zu müssen, was dann aber letztlich seine finanziellen Möglichkeiten weit überstieg.126 Um 1900 erwarb er Schloss Steppberg an der Ismaninger Straße mit einem 2,38 ha großen Grundstück. Das Schloss, in dem bis zu seinem Tode 1838 Freiherr Maximilian von Montgelas (geb. 1759) gelebt hatte, war in einem rui123 Das Plakat von Adolph Friedländer zur Ausstellung des Panoramas von Fleischer in: Historisches Museum Frankfurt a. M., Inventar-Nr. 11 4 8, Digitalisat: https://www.bildindex.de/document/obj 20590632?part=0&medium=fmlac3080_40, letzter Zugriff: 30.06.2022. 124 Die Entstehung des Gemäldes beschreibt der Maler Ernst Tübke, „Zur Arbeit am Panoramabild in Bad Frankenhausen (DDR)“, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 42, 1985, H. 4, Digitalisat: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=zak-003:1985:42::319#319, letzter Zugriff: 30.06.2022. Über Panoramen weltweit informiert: PANORAMA. International Panorama Council, https://panoramacouncil.org/, letzter Zugriff: 30.06.2022. Die Arbeiten von Yadegar Asisis auf seiner Homepage: https://www.asisi.de/yadegar-asisi/news, letzter Zugriff: 30.06.2022. 125 Zit. nach: Jenny Florstedt, „Ernst Philipp Fleischer. Biographische Notizen zu einer Randfigur“, in: Karl May in Leipzig, 23. Jg., Nr. 8, Juni 2012, S. 5 sowie die Seite zu Philipp Fleischer auf dem KarlMay-Wiki, https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Philipp_Fleischer, letzter Zugriff: 30.06.2022. 126 Er wohnte in München in der Leopoldstraße 7, vgl.: Wer ist’s?, Leipzig 1905, S. 218, Digitalisat: http://pbc.gda.pl/dlibra/docmetadata?id=15217, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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nösen Zustand. Fleischer ließ es abreißen und ab 1909 einen barockisierenden Schlossbau errichten. Beauftragt war damit die Firma Heilmann & Littmann, die etwa zur gleichen Zeit in Weimar für den Neubau des Großherzoglichen Hoftheaters (1906–1908) sowie wenig später für den neuen Südflügel des Residenzschlosses (1912–1914) verantwortlich war. Die sogenannte „Fleischer-Villa“ in München sollte den Anspruch des Künstlers vermitteln, „an der Spitze der gesellschaftlichen Rangfolge zu stehen.“127 Als bereits im Jahr 1910 die Bauarbeiten wegen Geldschwierigkeiten Fleischers eingestellt werden mussten, war von der Villa mit ihrer aufwendigen Sandsteinfassade noch nicht einmal der Rohbau fertiggestellt. „Antiquitäten, Kunst- und Einrichtungsgegenstände, orientalische Teppiche, Ölgemälde alter und moderner Meister“ aus dem Besitze Fleischers wurden zwei Jahre später vom Amtsgericht München zwangsversteigert.128 Die Immobilie wurde 1919 vom Deutschen Reich zur Unterbringung des neu geschaffenen Reichsfinanzhofs erworben. Heute ist darin der Bundesfinanzhof untergebracht. Für seine Mutter Pauline Fleischer war Philipp neben seiner Schwester Helene offensichtlichen eines der Sorgenkinder, die ihre finanziellen Möglichkeiten überschätzten. Während die anderen vier Kinder zwei Drittel ihres Erbteils zur freien Verwaltung erhielten, war dieses im Falle von Philipp und Helene Fleischer durch den Testamentsvollstrecker zu verwalten.129 Auch persönliche Krisen hatte Philipp Fleischer in dieser Zeit zu bewältigen. Seine Ehe mit Else Fleischer, geb. Bartels (1857–1908)130 wurde am 28. Februar 1908 wegen „Ehebruchs mit der früheren Modellsteherin Maria Reitmaier“ geschieden.131 Bereits am 29. April 1908 heiratete er in Wiesbaden Amalie Agnes Elise Baerwinkel (geb. 1874), die Tochter des Fabrikbesitzers Karl Friedrich Lene. Sie brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Im Jahr 1921 wurde auch diese Ehe geschieden.132 Philipp Fleischer verstarb am 14. November 1927 nach längerer Krankheit in Wiesbaden.133 Nach seinem Tod versuchte seine Schwester Helene, englische Stellen einschließlich der Nachkommen von Lord Nelson für die Übernahme des seit dem Kriegsausbruch 1914 in München eingelagerten Panoramas von Trafalgar zu interessieren. Dort hatte man kein Interesse, gab es inzwischen doch ohnehin ein Panorama der Schlacht von dem englischen 127 Die Baugeschichte mit Quellenhinweisen bei NordOstKultur München – Verein für Stadtteilkultur im Münchner Nordosten e. V., http://www.nordostkultur-muenchen.de/architektur/bundesfinanzhof_2. htm, letzter Zugriff: 30.06.2022. 128 Auktion im Auftrage des Königlichen Amtsgerichts München unter Leitung von Hugo Helbing, Kunsthandlung (München) am 10. und 11. Dezember 1912, ein Digitalisat des Katalogs: https:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/helbing1912_12_10, letzter Zugriff: 20.02.2022. 129 Testament von Pauline Fleischer, (wie Anm. 38), Bl. 2 f. 130 Else Fleischer starb wenige Monate nach der Scheidung am 12.11.1908, Stadtarchiv München, Sterberegister 1908, Nr. 3108. 131 Stadtarchiv München, Vermerk für Philipp Fleischer in der Hauptliste für Bürger aus Reichsländern der Städtischen Civilconscription (Meldebogen) als laufende Nummer 187022, S. 3. 132 StA Wiesbaden, Heiratsregister 1908, Bl. 211, Nr. 211 mit Beischreibung der Scheidung 1921. 133 Vgl. die Meldung zum Tode von Philipp Fleischer in der Wiesbadener Zeitung vom 19.11.1927 sowie in Wahrheit und Licht (Hannover) vom 31.12.1927.

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Marinemaler William Lionel Wyllie (1851–1931).134 Schließlich wurden die Leinwände 1935 zerschnitten und den Studierenden der Akademie der bildenden Künste kostenlos zur Verfügung gestellt.135

Prof. Friedrich Martin (Fritz) Fleischer (1861–1938)136 Fritz Fleischer folgte den Interessen seines älteren Bruders Philipp und wurde Maler. Wie dieser hielt er sich längere Zeit in München auf und hatte dort als Autodidakt Kontakt zur „Münchner Schule“.137 Er war Mitglied der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft.138 In München hatte er den fast gleichaltrigen Maler Max Thedy (1858–1924) kennengelernt. Fleischer folgte Thedy nach Weimar, nachdem dieser 1883 als Professor für Figurenmalerei an die Großherzoglich Sächsische Kunstschule berufen worden war und erhielt von diesem wohl auch zwischen 1884 und 1887 privaten Unterricht. Zwischen den beiden Malern sollte sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln. Fleischers Neffe Helmuth Ehlermann freundete sich bei seinen Besuchen in Weimar wiederum mit den Söhnen Thedys an. Bei der internationalen Kunstausstellung des „Vereins Berliner Künstler“ (VBK) des Jahres 1891 war Fritz Fleischer mit den Bildern Andacht und die Die Hundehexe vertreten.139 Für seine Teilnahme an der Ausstellung zum 200­jährigen Jubiläum der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin im Jahr 1896 wurde er von Kaiser Wilhelm II. mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.140 Die 1898 fertiggestellte Darstellung von Goethes Tod Mehr Licht! ließ Großherzog Carl Alexander im Goethe-Haus aufhängen und verlieh Fleischer als Anerkennung den Professorentitel.

134 Eine Beschreibung auf der Homepage des Royal Navy Museum, https://www.royalnavalmuseum. org/WylliePanorama.html, letzter Zugriff: 30.06.2022. 135 Der Vorgang in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 1. 136 Post, „Ein Weimarer Kulturkampf“, (wie Anm. 2), S. 370–394. 137 Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. Ulrich Thieme u. Felix Becker, Bd. 12. Leipzig 1916, S. 85, Digitalisat: https://www.archive.org/stream/bub_gb_7QMr AAAAYAAJ#page/n90/mode/1up, letzter Zugriff: 30.06.2022. 138 Vgl.: Dresslers Kunstjahrbuch. Ein Nachschlagebuch für deutsche bildende und angewandte Kunst, 02.1907, S. 58, Digitalisat: https://www.digishelf.de/objekt/PPN487768884/81/, letzter Zugriff: 30.06.2022. 139 Vgl. den Katalog: Internationale Kunst-Ausstellung veranstaltet vom Verein Berliner Künstler anläss­ lich seines fünfzigjährigen Bestehens 1841–1891, Berlin 21891, S. 23, Digitalisat: https://archive.org/ details/bub_gb_bphAAAAAYAAJ/page/n1/mode/2up/search/%22Fritz+Fleischer%22?q=%22Fritz +Fleischer%22, letzter Zugriff: 30.06.2022. 140 Am 14.05.1890 übersandte Fleischer der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin eine Fotografie des Bildes für einen Katalog, vgl.: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Protokolle 365, Bl. 144. Die Liste der ausgezeichneten Künstler befindet sich im Archiv der Akademie der Künste Berlin, Protokolle 279, Bl. 318.

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Abb. 22: Der Maler Prof. Fritz Fleischer (1861–1938) um 1890, Privatbesitz.

Neben seinem Schaffen als Maler entwickelte Fritz Fleischer, der von Hause aus Kenntnis in Chemie mitbrachte,141 Farben und Malutensilien für die Rekonstruktion der Maltechniken des 16. und 17. Jahrhunderts, die ab 1920 als „Zet-Farbe“ von der Firma Günther Wagner („Pelikan“) vertrieben wurden.142 Quasi nebenbei betätigte er sich als Produkt-Designer. Seiner Mutter beschrieb er im Jahr 1904 zwei Gestaltungsentwürfe, für die er Musterschutz zu beantragen beabsichtigte: Ein „Zündholzkasten mit Aschenbecher ist sehr fein“ sowie „einen grossartigen Taschenventilator für die Reise (pro Stück 1 M[ar]K). Er ist zusammengelegt nicht dicker nur grö-

141 Mathilde von Freytag-Loringhoven, die selbst Malerin war, bezeichnet ihn in dem Artikel „Professor Fritz Fleischer zum 70. Geburtstag“ als ehemaligen Chemiker, vgl.: Allgemeine Landeszeitung Deutschland, 02.03.1931, S. 6. Zu ihrer Person vgl.: Antje Neumann-Golle, Jens Riederer unter Mitwirkung von Uta Junglas, Mathilde von Freytag-Loringhoven (1860–1941). Malerin  – Schrift­ stellerin – Tierpsychologin und Kritikerin des Bauhauses, Begleitheft zur Sonderausstellung des Stadtmuseums Weimar, Weimar 2019. 142 Vgl. hierzu die Masterarbeit von Christiane Adolf, Die ZET-Farben von Günther Wagner – Harz- und ölhaltige Retuschierfarben im Kontext der „Goldenen Tafel“ am damaligen Provinzialmuseum Hannover, Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim/Holzminden/Göttingen,  MA Studiengang: Konservierung und Restaurierung 2015.

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ßer wie ein Notizbuch und fächelt ununterbrochen ganz sanft Kühlung. Er ist an jedem Coupéfenster sofort aufzusetzen und stört keinen Reisenden.“143 Zum 1. April 1917 erfolgte seine Berufung zum Dozenten für Farbenlehre und Maltechnik an der Großherzoglichen Hochschule für bildende Kunst in Weimar. Zum Ende des Sommersemesters 1919 bat er dann jedoch bereits wieder um seine Entlassung wegen der Unvereinbarkeit seines Malstils mit den Zielen des gerade gegründeten Bauhauses.144 Die Bauhausgegnerin und Journalistin Mathilde von Freytag-Loringhoven (1860–1941) würdigte ihn in einem Artikel zu seinem 70. Geburtstag 1931 als Kämpfer „gegen den Bolschewismus in der Kunst, den uns das Bauhaus brachte.“145 Sie schreibt seinem Wirken den Erhalt beziehungsweise die Wiedergründung der Kunstschule neben dem Bauhaus im Jahr 1921 zu.146 Gemeinsam war ihnen auch der Kampf für den Tierschutz. So war Fleischer Mitbegründer des Weimarer Tierschutzvereins, dem er über 30 Jahre angehörte. Dabei richtete sich sein Kampf vor allem „gegen das Schächten und andere Auswüchse konzessionierter menschlicher Grausamkeit.“147 Als Fritz Fleischer am Nachmittag des 1. Januar 1938 verstarb, war sein Neffe Helmuth Ehlermann anwesend.148 Die Witwe telegrafierte ihrer Schwägerin Helene nach Wiesbaden: „Wir beide haben alles auf Erden verloren. Wollen uns liebbehalten im Geiste unseres teuren Engels. Deine Jenny.“149 Helene sprach Jenny Fleischer-Alt von Wiesbaden aus daraufhin in mehreren Briefen Trost zu.150 Die in Pressburg (Bratislava) geborene Sopranistin Jenny Alt (1863–1942) hatte Fritz Fleischer im Jahr 1891 geheiratet.151 Obwohl diese 1890 von Großherzog Carl Alexander von Sachsen­Weimar­Eisenach sogar zur Kammersängerin ernannt worden war, ließen es die 143 In dem gleichen, undatierten Schreiben teilte er seiner Mutter mit, dass der Anstellungsvertrag des Malers Carl Frithjof Smith (1859–1917) nicht verlängert worden sei und dieser Oktober [1904] aus der Großherzoglich-Sächsische Kunstschule Weimar ausscheiden müsse, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1. 144 Vgl.: Das Kündigungsschreiben vom 18.05.1919, LATH-HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 111, Bl. 16, Digitalisat: https://archive.thulb.uni-jena.de/staatsarchive/rsc/viewer/ThHStAW_derivate_ 00000298/BH_Weimar_07_0024.jpg, letzter Zugriff: 30.06.2022. 145 Ebd. 146 Zum Weggang Thedys vom Bauhaus und der Neugründung der Hochschule vgl.: Silke Opitz, „Die Staatliche Hochschule für bildende Kunst und ihre Professoren in der Zeit der Weimarer Republik“, in: „Aber wir sind! wir wollen! und wir schaffen!“Von der Großherzoglichen Kunstschule zur BauhausUniversität Weimar 1860–2010, hrsg. v. Frank Simon-Ritz, Klaus-Jürgen Winkler, Gerd Zimmermann, Weimar 2010, Bd. 1, S. 305–319. 147 Freytag-Loringhoven, „Professor Fritz Fleischer“, (wie Anm. 141). Zur Geschichte des Tierschutzes vgl. auch: Martin H. Jung, „Die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte, Nr. 56, 1997, S. 205–239. 148 Eintrag in das Sterberegister beim Standesamt Weimar als lfd. Nr. 1 für 1938 mit Unterschrift von Helmuth Ehlermann. 149 Telegramm von Jenny Fleischer-Alt an Gräfin Helene zu Leiningen-Neudenau vom 02.01.1938, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5. 150 Vgl.: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 4. 151 Die biographischen Daten bei: Post, „Weimar“, (wie Anm. 1), passim.

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damals für eine großbürgerliche Familie geltenden gesellschaftlichen Konventionen nicht zu, dass die bis dahin international als Opernstar gefeierte Schwiegertochter weiter vor Theaterpublikum auftrat und sie zog sich von der Bühne zurück. Die Ehe sollte kinderlos bleiben.

Abb. 23: Fritz Fleischer, Porträt seiner späteren Ehefrau, der Sopranistin Jenny Alt (1863– 1942) 1887, Privatbesitz.

Jenny Fleischer-Alt war ab 1919 als Dozentin für Operngesang an der Staatlichen Musikschule zu Weimar (heute Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar) tätig. Da ihr 1927 von der rechtsbürgerlichen Regierung der Professorentitel vermutlich aus antisemitischen Gründen verwehrt wurde, beendete sie ihre Lehrtätigkeit. Jenny Fleischer-Alt gehörte dem am 11. Januar 1912 unter der Schirmherrschaft der Großherzogin Feodora gegründeten „RichardWagner­Verband Deutscher Frauen – Ortsgruppe Weimar“ an. Sie wirkte von 1919 als Schatzmeisterin und war von 1930 bis zur Machtübernahme der Nazis dessen Vorsitzende.152 152 Bernhard Post, „Jenny Fleischer-Alt. Einer Künstlerin zwischen Wagner-Verehrung und rassischer Verfolgung“, in: Festschrift 25 Jahre Richard-Wagner-Verband Weimar 1990–2015, hrsg. v. Eberhard Lüdde u. Wolfgang Müller, Weimar 2015, S. 84–94.

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Abb. 24: Jenny FleischerAlt um 1925, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 2.

Im Jahr 1939 wurde ihr wegen ihrer jüdischen Abstammung durch das NS-Regime die Verfügungsberechtigung für ihre privaten Konten entzogen. Die Gestapo bestimmte 1940 die Villa der Fleischers (Weimar, Belvederer Allee 6) zu einem „Juden­und Ghettohaus“. Eine Emigration war für Jenny Fleischer­Alt schon aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, aber auch wegen ihrer starken Verwurzelung im deutschen Kulturkreis undenkbar gewesen. Wegen der zunehmenden Verfolgung von Juden in Wien waren inzwischen ihre Schwester Ilka Gál und deren Tochter Edith zu ihr in das zu dieser Zeit vermeintlich noch etwas sicherere Weimar geflüchtet. Ilka Gál verstarb im Frühjahr 1942 an den Folgen eines Unfalls. Da Jenny Fleischer­Alt tagtäglich mit ihrer Deportation rechnen musste, vergiftete sie sich gemeinsam mit ihrer Nichte am 7. April 1942.153

153 Vgl.: Standesamt Weimar, Sterberegister 1942, Nr. 303. Als Todesursache ist Leuchtgas angegeben.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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Helene Fleischer (1865–1942)

Abb. 25: Helene Ehlermann, geb. Fleischer (1865–1942), in einer Loge des Wiesbadener Theaters um 1900, Foto: Hoffotograf L. W. Kurtz, Wiesbaden, Privatbesitz.

Der Lebensweg von Helene Fleischer, dem jüngsten Kind von Pauline und Max Fleischer, war ebenfalls außergewöhnlich. Die gute Quellenlage erlaubt eine ausführlichere Darstellung. Ebenfalls in Breslau geboren, ließ sie sich am 23. Oktober 1884 beim Evangelischen Pfarramt Neustadt-Dresden taufen.154 Helene Fleischer, die inzwischen mit ihrer Mutter in Wiesbaden lebte, heiratete am 21. Mai 1890 den Verlagsbuchhändler und Königlich Sächsischen Hofrat Dr. Erich Ehlermann (1857–1937), den sie sicherlich bereits aus Dresden kannte.155 Standesgemäß wurde die Hochzeit in Wiesbaden als Wohnort der Braut im Hotel Nassauer Hof als dem ersten Haus am Platze gefeiert. Im Jahr 1891 wurde ihr Sohn 154 Vgl.: Abstammungsbescheid des Leiters der Reichstelle für Sippenforschung für ihren Sohn Helmuth Ehlermann vom 20.01.1938 (Abschrift), HHSTA Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 82139, Bl. 13. 155 Dieser wirkte später als Vorstandsmitglied des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler bei der Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig mit, heute Teil der Deutschen Nationalbibliothek, vgl.: Hans Lülfing, „Erich Ehlermann“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1959, S. 345 f, Digitalisat: https://www.deutsche-biographie.de/pnd101587538.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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Helmuth Ehlermann in Dresden-Lochwitz geboren. Die Ehe verlief jedoch nicht glücklich. Mit den Worten „in meinen einsamen Stunden habe ich in dieses Buch geschrieben u.[nd] geblättert“ wird ein Notizbuch mit Sprüchen und Gedichten eingeleitet, welches das Monogramm H[elene] E[hlermann] trägt.156 Sie zeigte früh Interesse an der Arbeit als Bühnenschriftstellerin. Vor der von ihr erwarteten Beschränkung auf die Rolle als Hausfrau und Mutter flüchtete sie häufig zu Kuraufenthalten, wo sie eher ihren schriftstellerischen Neigungen folgen konnte. Muße zur Arbeit an den Stücken bot neben anderen Kurorten besonders das beschauliche Friedrichroda in Thüringen, das über viele Jahre hinweg ein beliebter Ferienort für alle Mitglieder der Familie Fleischer sein sollte. Dieser lag zudem unweit von Fritz Fleischers Wohnort Weimar. Im Jahr 1892 war sie allerdings im Seebad Heiligendamm und begleitete hier Eugen Robert (1863–1933), zu dieser Zeit Opernsänger am Großherzoglichen Theater in Weimar, bei einer Benefizveranstaltung für die Hinterbliebenen ertrunkener Seeleute am Klavier.157 In Schlangenbad bei Wiesbaden begleitete sie am 28. Juli 1897 ihre Schwägerin, die Sopranistin Jenny Fleischer-Alt, bei einem „Wohltätigkeits-Concert“ zur Errichtung eines Hospitals und eines Asyls für Bedürftige158 (s. Abb. 26). Beide Frauen sollten ein Leben lang eng verbunden bleiben, vielleicht schon wegen der ihnen gemeinsamen Leidenschaft für das Musik- und das Sprechtheater. Ab 1899 kehrte sie nicht mehr nach Dresden zurück und die Ehe wurde schließlich 1902 geschieden.159 Zu dieser Zeit war bereits eine Verheiratung mit dem Sprachforscher Graf Albrecht Conon von der Schulenburg (1865–1902) geplant.160 Wegen einer plötzlich aufgetretenen, unheilbaren und kurz darauf tödlichen verlaufenden Erkrankung des Bräutigams wurde das Aufgebot beim Standesamt München am 17. April 1902 aufgehoben.161 Am 13. Dezember 1902 hei156 Handschriftliches Vorwort auf Vorsatzblatt des Notizbuchs, in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 7, Nr. 5. 157 Vgl.: Güstrower Zeitung vom 24.08.1892. Eugen W. Robert war der Künstlername von Eugen Robert Weiß, vgl.: Bayerisches Musiker-Lexikon online, http://bmlo.de/w0385, letzter Zugriff: 30.06.2022. 158 Ankündigung eines Wohltätigkeitskonzerts im Kurort Schlangenbad unter Teilnahme von Jenny Fleischer-Alt und Helene Ehlermann am 28. Juli 1897. Irrtümlich wird Helene Ehlermann als So­ pra­nistin genannt. Sie wird vermutlich die Klavierbegleitung ihrer Schwägerin übernommen haben, die ja auch im nahen Wiesbaden als Opernsängerin engagiert gewesen war. Vgl.: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 10. 159 Vgl.: Das Scheidungsurteil vom 26.03.1902, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5. 160 Er war von 1901 bis 1902 außerordentlicher Professor für Chinesisch und Malaiisch an der Universität Göttingen, vgl.: Catalogus Professorum Gottingensium 1834–1962, bearb. u. hrsg. v. Wilhelm Ebel, Göttingen 1962, Abschn. Phil. Fak, S. 127, Nr. 174. Noch im Jahr 1901 hatte Schulenburg das Hauptwerk seines Lehrers Georg von der Gabelentz aus dem Jahr 1891 in einer überarbeiteten und erweiterten Ausgabe herausgegeben: Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bis­ herigen Ergebnisse, Leipzig 1901, Nachdruck, hrsg. v. Manfred Ringmacher, James McElvenny, Berlin 2016, Digitalisat: https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/17885/97-3-4131-10-20160412.pdf?sequence=1, letzter Zugriff: 30.06.2022. 161 Vgl.: Mitteilung des Magistrats der Stadt München an den Rechtsanwalt Dr. Max Gänssler (München) als Vertreter von Helene Annette Ellermann [irrtüml. für Ehlermann] über die Gestat­ tung der Aufhebung des Aufgebots für München und Wiesbaden wegen der unheilbaren Krank-

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ratete sie schließlich Graf Karl Theodor Ernst August zu Leiningen-Neudenau (1844–1910) und lebte mit ihm in der Villa Saint Cyr in der Parkstraße, die ihrer Mutter gehörte.162 Ihr Sohn Helmuth Ehlermann urteilte rückblickend: „Ihr Schönheitssinn, vermischt mit ihrem persönlichen Ehrgeiz, ließ sie als einziges unter ihren demokratischen Geschwistern an den Hof und nach dem Adel streben, was auch Grund zu ihrer zweiten Ehe bildete.“163 Durch die Heirat mit dem Grafen zu Leiningen war sie nun in adlige Kreise aufgestiegen. In den folgenden Jahren korrespondierte sie häufig mit königlichen und fürstlichen Häusern. Dem für seine Begeisterung für die Literatur bekannten König Oskar II. von Schweden (1829–1907) mit engen familiären Verbindungen zu Wiesbaden164 widmete sie als „dem hohen Förderer der Künste“ einen aufwendig gestalteten Sonderdruck ihres Stückes Im Vorzimmer des Kaisers.165 Dieser revanchierte sich mit am 18. August 1904 mit einem unprätentiösen Telegramm „Dank für Glückwünsche. Oscar [sic]“.166 Persönlich begegnet war sie ihm vermutlich während seines Besuchs in Wiesbaden im Jahr 1902.167

heit (Gehirngeschwulst) des Grafen Dr. Albrecht von der Schulenburg, Universitätsprofessor in Göttingen vom 17.04.1902, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5. 162 Zur Heirat des Grafen mit Helene Ehlermann vgl.: Michael Stolleis, „Magdalena Nold als Gräfin zu Leiningen-Neudenau“, in: Heinrich Zoepfl (1807–1877). Heidelberger Universitätsprofessor und Rechtsgutachter, hrsg. v. Dorothee Mußgnug u. Michael Stolleis, Heidelberg 2019, S. 157, Digitalisat: https://heiup.uni-heidelberg.de/reader/download/487/487-69-86523-1-10-20190925.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022. An die Villa Saint Cyr wurde 1902 der Vertrag zur Erwerbung der Aufführungsrechte von Im Vorzimmer des Kaisers durch das Königliche Schauspiel in Wiesbaden gesendet, vgl.: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 8. Zu der 1884 im Stil von „Renaissance und niederländischem Manierismus“ erbauten Villa vgl.: Russ, „Kulturdenkmäler in Hessen“, (wie Anm. 34), S. 184. 163 Tagebuch von Helmuth Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 32–33. 164 Er hatte 1857 im Schloss in Wiesbaden-Biebrich Prinzessin Sophia von Nassau (1836–1913), die Tochter von Herzog Wilhelm I. (1792–1839), geheiratet. 165 Eine Dublette LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 8. Unter dem Titel Im Vor­ zimmer des Kaisers zeigte das Residenz-Theater in Köln das Stück 1910. Bei der Übersendung des Programms hatte die Theaterleitung offensichtlich Schwierigkeiten, die Autorin eindeutig zu identifizieren. Geschickt wurde dieses an „Ihre hochgeborene Frau Gräfin Ehlermann (Helmuth) in Wiesbaden Parkstr.[aße]“, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 8. 166 Ebd. 167 Als er 1902 gemeinsam mit ihr Wiesbaden besuchte, trug er sich in das Goldene Buch der Stadt ein, vgl.: https://www.wiesbaden.de/kultur/stadtgeschichte/goldenes-buch/eintraege/1902-1945/141010100 000149547.php, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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Abb. 26: Ankündigung eines Wohltätigkeitskonzerts im Kurort Schlangenbad unter Teilnahme von Jenny Fleischer-Alt und Helene Ehlermann am 28. Juli 1897, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 7, Mappe 10.

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Die Bühnenschriftstellerin Im Neuen Deutschen Theater in Prag hatte am 20. Mai 1889 die Komödie Das Relief – Ein schwieriger Fall der vierundzwanzigjährigen Helen Fleischer Premiere. Ab 1893 wurde das Stück auch wiederholt im Residenz-Theater in Berlin und auf anderen Bühnen gezeigt.168 In der Komödie, inhaltlich angelehnt an Molières Le Bourgeois gentilhomme, geht es um einen bürgerlichen Kommerzienrat, der seine Tochter mit einem Grafen verheiraten will. In diesem Zusammenhang erfindet er eine eigene adlige Verwandtschaft, was einige Verwirrungen auslöst. Möglicherweise war die Heirat der Industriellentochter Lucy Cockerill mit Alfred Graf Adelmann von Adelmannsfelden, die dann nach dessen Tod Helene Fleischers Bruder Richard geheiratet hatte, eine Anregung für die Auswahl des Sujets gewesen. Sicherlich hatte Helene Fleischer als Tochter aus einem großbürgerlichen Haus in einem Alter von gut zwanzig Jahren noch nicht ahnen können, dass sie selbst einmal diesen Weg gehen würde, was nicht ohne Ironie ist. Veröffentlicht worden war diese Komödie unter dem Pseudonym „Harry“. Sie benutzte für ihre Stücke und Artikel weiterhin die Pseudonyme „Frithjof Holm“ sowie „Helmuth“, vermutlich angelehnt an den Namen ihres Sohnes.169 Weitere Werke waren die Einakter Salonpoeten und Der Landesfürst 170, die Pantomime Die Hochzeit der Mumie und der Schwank Das Corps der Rache. Unter dem Titel Water­ loo, ein historisches Zeitbild waren vier Einakter zusammengefasst, die den Aufstieg und Fall Napoleons thematisierten (Königin Luise, Erfurt, Marschall Vorwärts, Sanct Helena). Gemeinsam mit dem Wiesbadener Komödienautor Curt Kraatz (1856–1925)171 schrieb sie Mozart. Ein Lebensbild in 3 Aufzügen. Dieses Stück diente dann Richard Franz und Werner Wemheuer (1899–1977) im Jahr 1934 als Vorlage für deren in Berlin erfolgreiches Mozart-Singspiel D’Webermädel.172 Während sie sich eigentlich bevorzugt auf historische Stoffe konzentrierte, wurde das Stück Sonnenwende von einem Rezensenten 1911 als ein 168 Vgl.: Ankündigung im Prager Tagblatt, Nr. 137 (19.05.1889) S. 14. Helene Fleischer hatte die Ankündigungen und Rezensionen ihrer Stücke ausgeschnitten und gesammelt. Vermerkt sind allerdings meist nur der Titel der Zeitung und das Erscheinungsdatum, nicht aber die Seitenangabe. Diese finden sich, sofern nicht anders vermerkt in: LATh-HStAW, FN Fleischer/Ehlermann, Karton  7, Mappe 10. 169 So vermerkt in: Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1904, S. 520, Digitalisat: https:// books.google.de/books?id=5VMPAAAAIAAJ&pg=PA88-IA15&lpg=PA88-IA15&dq=helene+zu+l einingen%22&source=bl&ots=K8A_ifxPMV&sig=ACfU3U1qdPjgTxDJ2x-NcaWCYM-zQzOH Og&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjJiM2PzMfpAhUB_aQKHRKrDpkQ6AEwB3oECAgQAQ#v= snippet&q=leiningen&f=false, letzter Zugriff: 30.06.2022. 170 Das Stück weist eindeutige Bezüge zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach auf, vgl.: LAThHStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 8, Mappe 2. 171 Zu dem Autor vgl.: Otto Renkhoff, Nassauische Biographie. Kurzbiographien aus 13 Jahrhunderten, Historische Kommission für Nassau, Wiesbaden 21992, S. 420. 172 Widmung im Druckexemplar von 1934: „Dein ‚Mozart‘ war der Quell, aus dem wir schöpften bei Fassung dieses heiteren Liederspiels. Drum sei der Weisen allererster Druck voll Dank gelangt in Deine lieben Hände. Ihrer Erlaucht, Frau Gräfin zu Leiningen als kleine Weihnachtsvorfreude 1934 gewidmet von Werner Wemheuer und Richard Franz“, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 9.

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sich in „Ibsenschen Bahnen“ bewegendes Drama erkannt.173 In Wiesbaden freute man sich 1919, die Verfasserin, die bisher „der Historie treu geblieben“ war, nun „als moderne Dichterin kennen zu lernen“, deren Stück in einem „düstere[n] Milieu“ in Norwegen zur Zeit der Sonnenwende angesiedelt war.174 Im Jahr 1919 wurde dann das Schauspiel Sonnen­ wende in Wiesbaden als Uraufführung angekündigt. Diese war aber eigentlich bereits 1907 im Kurtheater von Friedrichroda erfolgt. Ein weiteres Erfolgsstück war Seiner Zeit vor­ aus, welches das Leben des Reformkaisers Josephs II. thematisierte. Wilhelm II. besuchte 1911 eine Aufführung im Wiesbadener Residenz-Theater, wobei in einem anschließenden Gespräch „der Kaiser der Verfasserin seine Anerkennung aussprach.“175 Obwohl dies ebenfalls ein „Kassenmagnet“ war, bemängelte ein Rezensent auch hier: „Daß dabei der Historiker aber allzu sehr in den Hintergrund treten mußte vor den dichterischen Effekten, bleibt nicht nur zu bedauern, sondern nimmt auch dem neuen Werk gar zu viel von seinem inneren Werte.“176 Ein anderer prophezeite dem Stück einen bedeutenden Erfolg, da es „in den Tagen der Modernistenkämpfe und der religiösen Evolutionen“ vielfach als „ein Tendenzstück gegen den Ultramontanismus, Jesuitismus und Orthodoxie empfunden“ würde.177 Wie die Friedrichrodaer Zeitung am 20. April 1911 berichtete, verursachte die „antiultramontane Tendenz“ des Stückes hingegen bei der Uraufführung im katholischen Köln „von gewisser Seite lebhafte Mißfallensäußerungen, die aber zum Schluß gegenüber dem starken Beifall sich nicht mehr hervorwagten.“ Die Zeitung sah sich insgesamt veranlasst, „unserer hochgeschätzten Frau Gräfin zu Leiningen“ als langjährigem Kurgast in Friedrichsroda angesichts des großen Publikumsinteresses „die herzlichsten Glückwünsche zum Ausdruck zu bringen.“178 Auch nach dem Ersten Weltkrieg wurden Stücke von ihr noch einige Jahre eingesetzt, um den durch die Kriegsniederlage angeschlagenen Patriotismus neu zu beleben. Nachdem der Einakter Königin Luise bereits 1922 vom Deutschen Offiziersbundes (D.O.B.) in Dessau aufgeführt worden war, bat Generalmajor a. D. Woldemar Freiherr von Grote als Vorsitzender des D.O.B. Landesverband Groß-Berlin im Herbst 1932 die Autorin um die Genehmigung zur Aufführung des Stückes.179 Die Finanzierung einer Aufführung ihres Stückes Graf in Schwaben hingegen, für die sich sogar Kronprinz Wilhelm von Preußen (1882–1951) eingesetzt hatte, musste die Deutschnationale Volksparte (DNVP) im Dezember 1929 ablehnen. Einen Grund hierfür mutmaßte gut ein Jahr später Theodor Duesterberg (1975–1950), Führer des Stahlhelm-Verbandes Mitteldeutschland, gegenüber der Autorin. Seiner Beobachtung nach fielen die fürstlichen Großgrundbesitzer inzwischen als

173 Vgl.: Tony Canstatt, „Wiesbadener Korrespondenz“ von Mitte April 1911 in der Zeitschrift: Der Musiksalon, Nr. 9/10 (April 1911), S. 100 f. 174 Wiesbadener Badeblatt vom 19.02.1919 zur Aufführung im Residenz-Theater. 175 Meldung der Wiesbadener Zeitung vom 13.05.1911 sowie Berliner Lokal-Anzeiger vom 28.05.1911. 176 Wiesbadener Generalanzeiger Nr. 79 vom 03.04.1911. 177 Mainzer Anzeiger vom 03.04.1911, S. 12. 178 Friedrichrodaer Zeitung vom 20.04.1911. 179 Der Schriftwechsel in: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 8.

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Finanziers aus. Diese Vermögen seien „nach einer Seite abgewandert, die mehr Interesse für Piscator als für die Gräfin zu Leiningen haben“.180 Ihr wohl größter Erfolg war Der Philosoph von Sans-Souci [sic], der mit Unterstützung des Schauspielers, Drehbuchautors und Filmregisseurs Walter Schmidthässler (1864– 1923) entstanden war.181 In Wiesbaden wurde die Aufführung am 29. Januar 1908 durch den Polizeipräsidenten „auf allerhöchste Ordre“ von Wilhelm II. als König von Preußen genehmigt.182 Anlässlich des Geburtstags von Wilhelm II. hatte das Stück am 27. Januar 1910 im Neuen Theater am Schiffbauer Damm in Berlin Premiere und im März bereits seine 50. Aufführung; es sollten etwa 75 werden. Max Meyerfeld (1875–1940), der Theaterkritiker der Neuen Zürcher Zeitung, kommentierte, im Neuen Theater sei „das patriotische Schaukelpferd geritten“ worden. Süffisant fuhr er fort: „Sämtliche Regimenter der Garnison Berlin müßten diesen patriotischen Anschauungsunterricht genießen. Alle Schüler und Schülerinnen der höhern Lehranstalten bis zum Alter von fünfzehn Jahren (die Volksschüler zählen nicht, weil sie nicht zahlen) müßten hingeführt werden.“183 Der Philosoph wurde auf zahlreichen deutschen Bühnen gezeigt, so in Köln und Wiesbaden anlässlich der Gedächtnisfeier für Friedrich II. im Jahre 1912 einschließlich einer Sondervorstellung für die Schulen; oder in Posen 1913 und in Köln und Braunschweig 1915, wo das Stück jeweils zum Geburtstag Kaiser Wilhelms II. am 27. Januar gegeben wurde. In Köln wurde im sechsten Kriegsmonat im Januar 1915 ein Besuch des Stückes, das die „Einkreisungspolitik“ (organisiert von der Pompadour) und die „Spionage“ (Voltaire) Frankreichs in der Zeit Friedrichs II. zeigte, als „Untertanenpflicht“ angesehen. Trotz der „historischen Zweifelhaftigkeit“ war das Publikum begeistert und es „tobet alsbald ein Beyfallsturm durch das Haus“. Einen „dramatischen Ingenio“ wollte der Rezensent der „hochadligen Verfasserin“, die sich nach der Vorstellung auf der Bühne zeigte, allerdings nicht zubilligen.184 In Wiesbaden hingegen entschloss man sich im August 1914, das Stück aus dem Repertoire zu nehmen. Die darin thematisierten Intrigen des österreichischen Staatskanzlers Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg (1711–1794) mit der Pompadur (1721– 180 Schreiben vom 04.02.1931, ebd. Erwin Piscator (1893–1966) feierte zu dieser Zeit in seinem Theater Piscator-Bühne am Nollendorfplatz in Berlin Erfolge mit Avantgarde-Stücken u. a. von Bertolt Brecht. Geldgeber waren allerdings nicht adlige Großgrundbesitzer, sondern der Berliner Großindustrielle Ludwig Katzenellenbogen (1877–1944), der Ehemann der Schauspielerin Tilla Durieux (1880–1971). 181 Schmidthässler spielte bei den Berliner Aufführungen Voltaire. Zu dem Künstler vgl.: Ludwig Eisenberg, Großes biographisches Lexikon der Deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 897, vgl. auch den Eintrag bei WIKIPEDIA, https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Schmidth%C3%A4ssler, letzter Zugriff: 30.06.2022. 182 Special-Akte der Intendantur des Königlichen Theaters Wiesbaden zum Stück Der Philosoph von SansSouci, HHSTA Wiesbaden, Abt. 428, Nr. 1108, Bl. 43 sowie LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 7, Mappe 8. 183 Rezension im Feuilleton zum „Berliner Theater“ und F. Holm [Helene Gräfin zu Leiningen], Der Philosoph von Sanssouci (Neues Theater, 28.01.10) in: Neue Züricher Zeitung vom 01.02.1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 31, S. 1, Digitalisat: http://horst-schroeder.com/krit10-18.htm, letzter Zugriff: 19.07.2022. 184 Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 07.01.1915.

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Abb. 27: Ankündigung der 50. Vorstellung des Stückes Der Philosoph von Sans-Souci von Gräfin Helene zu Leiningen-Neudenau im Neuen Theater am Schiffbauer Damm in Berlin am 14. März 1910, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 10.

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1764) gegen Preußen erschienen der Intendanz hier trotz Änderungsvorschlägen der Autorin nach dem Kriegseintritt an der Seite Österreichs als zu gewagt für die Bühne.185 Zwischen 1921 und 1923 liefen in den Kinos mit viel Erfolg die vier Teile des Films Fredericus Rex mit Otto Gebühr (1877–1954) in der Titelrolle.186 In Wiesbaden berichtete zudem die Zeitung 1924 über das große Gemälde Mitternacht auf Sanssouci der Malerin Olga Hasselmann-Kurtz (1864–1938), das dort in einem Schaufenster ausgestellt wurde und wie ein „Erinnerungsausschnitt an das ‚Sanssouci‘ der Gräfin Leiningen“ wirke.187 Diese sah daher die Zeit für gekommen, auch ihren Philosophen wieder in das Theaterrepertoire nehmen zu lassen. Wiesbaden war damals allerdings von den Franzosen besetzt. Sie schlug daher vor: „Einige drastische Worte (Act 3) [,] die der König über Voltaire sagt, könnte ich (wegen der Franzosen)“ abändern.188 Möglich wurde eine Wiederaufführung aber erst, als am 30. Dezember 1925 Frankreich von Großbritannien als Besatzungsmacht abgelöst worden war. Ihre Tantiemen stellte die Autorin der Wohlfahrtskasse des Theaters zur Verfügung. Dass die Premiere der Neuinszenierung dann im Juni 1926 nur wenige Tage vor dem Volksentscheid zur Fürstenenteignung stattfand, kritisierte die Berliner Presse allerdings unter der Überschrift „Ein merkwürdiges Staatstheater der Republik“. Vor allem das internationale Publikum in der Bäderstadt habe „diese beabsichtigte oder unfreiwillige monarchistische Kundgebung mit sichtlichem Erstaunen“ wahrgenommen.189 Eine Aufführung von Waterloo musste der Intendant des Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker (1882–1937) dann 1929 ablehnen, da ihm dies Stück selbst bei Streichung einiger Szenen „in Hinblick auf die englische Besatzung politisch bedenklich“ erschien.190 Begeistert von dem Philosophen war offensichtlich Otto Gebühr und war vielleicht sogar von dem Stück als Filmschauspieler inspiriert worden. Er spielte den Preußenkönig ab 1921 in insgesamt zwölf Filmen, zuletzt 1942 in dem von Joseph Goebbels (1897–1945) in Auftrag gegeben monumentalen Propagandafilm Der große König unter der Regie von Veith Harlan (1899–1964). Ein Porträtfoto in der Uniform Friedrichs II. im Format DIN A4 wurde von dem Schauspieler bei einem Besuch in Wiesbaden „der verehrten Gräfin zu Leiningen-Neudenau herzlichst gewidmet“.191 Überraschend ist, dass diese Widmung im Jahr 1936 erfolgte. Ein Jahr zuvor war der Gräfin wegen ihrer jüdischen Abstammung die Aufnahme in die Reichskulturkammer verweigert und praktisch Berufsverbot erteilt wor-

185 Vgl.: Schreiben der Theaterintendanz an die Gräfin zu Leiningen vom 28.08.1914, Special-Akte der Intendantur, (wie Anm. 182), Bl. 49b. 186 Zu Otto Gebühr vgl.: Lebendiges Museum Online bei der Stiftung Deutsches Historisches Museum, https://www.dhm.de/lemo/biografie/otto-gebuehr.html, letzter Zugriff: 19.07.2022. 187 Neue Wiesbadener Zeitung vom 21.12.1924, S. 3. 188 Schreiben der Theaterintendanz an die Gräfin zu Leiningen vom 05.10.1925, Special-Akte der Intendantur, (wie Anm. 182), Bl. 53. 189 Vossische Zeitung, Morgenausgabe vom 16.06.1926. 190 Schreiben des Intendanten an die Gräfin zu Leiningen vom 05.04.1929, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 8. 191 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Mappe mit großformatigen Fotos.

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den, worauf noch einzugehen sein wird. Dies dürfte sich in den Künstlerkreisen damals schnell herumgesprochen haben und auch Otto Gebühr bekannt gewesen sein.192 Während ihr Bruder Richard Fleischer als Herausgeber Kontakt zu nahezu allen politischen und kulturellen Strömungen seiner Zeit suchte, hatte die Autorin Helene ihr Schaffen insgesamt unzweideutig alleine in den Dienst der Nationalkonservativen gestellt, die ihr dies auch lange durch tatkräftige Förderung dankten. Unabhängig von der an der Qualität der Stücke geäußerten Kritik hatte Helene Gräfin zu Leiningen zweifelsohne mit ihnen über viele Jahre einen großen Erfolg beim Publikum. Umso mehr verwundert es, dass sie trotz dieses Publikumserfolges und vor allem des damit einhergehenden aus heutiger Sicht problematischen kulturpolitischen Einflusses in den gängigen Theater- und LiteraturLexika vergleichsweise wenig Berücksichtigung findet (S. Abb. 28). In seiner kommentierten Übersicht der nassauischen Literatur vor dem Ersten Weltkrieg stellte Leo Sternberg (1876–1937) zu den „Dramen“ der Gräfin knapp fest: Den „unterhaltenden Szenen verhalf ihre theatralische Wirksamkeit zur Aufführung“.193 Max Geißler (1868–1945) beschreibt in seinem 1913 in Weimar erschienen Führer durch die deutsche Literatur des zwanzigs­ ten Jahrhunderts die Gräfin als den typischen Fall für Frauen, die Dramen dichten: „ihre dichterische Kraft ist nicht etwa zu schwach fürs Drama; … Aber die Art der weiblichen Befähigung ist eine andere und scheitert am Drama aus immer den gleichen Gründen; sie vermischt die Stile.“194 Angesichts solch gängiger Vorurteile hatte sich die Autorin vermutlich auch anfangs männlicher Namen als Pseudonyme bedient. Nachdem ihre Stücke aber erfolgreich geworden waren, ersuchte sie im Jahr 1912 telefonisch die Theaterleitung in Wiesbaden, anstelle des Pseudonyms Fritjof Holm auf den Theaterzetteln künftig „ihren richtigen Namen anzugeben“.195 Äußerst knapp sind allerdings auch die Informationen über sie in dem von Elisabeth Friedrichs (1910–1990) im Jahr 1981 herausgegeben Lexikon Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Außer einigen biographischen Angaben findet sich ungeachtet der zahlreichen in Archiven erhaltenen Akten nur der knappe Hinweis: „Sie lebte 1913 in Wiesbaden. Dort sind alle Unterlagen vernichtet. Sie war Dramatikerin.“196

192 Eine Durchsicht des Nachlasses von Otto Gebühr im Archiv der Akademie der Künste in Berlin lieferte hier leider keine weiteren Hinweise. 193 Leo Sternberg, Die nassauische Literatur. Eine Darstellung ihres gegenwärtigen Standes auf der Grund­ lage des älteren Schrifttums, Wiesbaden 1913, S. 84–85. 194 Max Geißler, Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 320. 195 Aktenvermerk vom 19.10.1912 in: Special-Akte der Intendantur, (wie Anm. 182), Bl. 44. 196 Elisabeth Friedrichs, Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Lexi­ kon, Stuttgart 1981, S. 181.

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Abb. 28: Aufführung des Stückes Königin Luise von Helene Gräfin zu Leiningen auf dem Wohltätigkeits-Fest des Deutschen Offizier-Bundes im Kaisersaal des Zoologischen Gartens in Berlin am 10. November 1932, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 10.

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Kämpferin für den Tierschutz Aber es gilt noch eine ganz andere Seite der jüngsten Tochter von Max Fleischer zu be­­ leuchten: Helene war eine engagierte Tierschützerin. Immer wieder machte sie öffentlich auf das schreckliche Schicksal von Zugpferden und Kettenhunden aufmerksam. Seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten sich wie in London 1824 auch in Deutschland örtliche Tierschutzvereine gebildet (1831: Berlin, Frankfurt a. M., Hamburg).197 Die Gräfin zu Leiningen rief dann im Jahr 1904 gemeinsam mit dem Prinzen Emil von SchönaichCarolath (1852–1908) und dem Grafen Cäsar von Wartensleben (1872–1930), einem Nachbarn in Wiesbaden, eine deutsche Abteilung für „Das Komitee des Internationalen Vereins zur Herbeiführung schärferer gesetzlicher Bestimmungen zum Schutz der Tiere“ ins Leben.198 Ihr Ziel war zunächst eine Verschärfung der im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 in Paragraf 360 nur sehr unspezifisch festgelegten Bestimmungen zum Tierschutz (S. Abb. 29). Eine entsprechende Petition für eine Spezifizierung und Strafverschärfung wurde beim Reichstag eingereicht, die Abgeordneten aller Fraktionen angeschrieben und mit Informationsmaterial versehen. Verzichtet hatte man bei dieser Petition bewusst auf die Punkte des Schächtens und der Vivisektionen, „um nichts Erschwerendes hineinzubringen“. Sie war allerdings „selbstredend ganz und gar gegen das rituelle Schächten, ebenso gegen die abscheulichen Frevel der Vivisektion“ eingestellt.199 Zwar wurde die Petition 1909 einstimmig vom Reichstag angenommen, doch scheiterte das Gesetzesvorhaben in letzter Stunde an dem Zentrumsabgeordneten Adolf Gröber (1854–1919).200 Dieser warf dem Entwurf wegen der Schächtfrage einen Knüppel in den Weg, sodass die Vorlage durch den Schluss der Reichstagssession nicht mehr zur Beratung kommen konnte.201 Eine mehrjährige Verzögerung trat danach durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein. Im Jahr 1919 erfolgte eine Eingabe des Verbandes der Tierschutzvereine des Deutschen Rei-

197 Eine Auflistung der Vereinsgründung im Zusammenhang mit dem Bericht „Der Alte Dresdener Tierschutzverein“, in: Zeitschrift des Verbandes Rheinisch-Westfälischer Tierschutzvereine, N. F., 18 Jg., Nr. 1, 01.01.1920, S.  8, Digitalisat: http://dfg-viewer.de/show/cache.off?tx_dlf%5Bpage%5D=7&tx_dlf%5 Bid%5D=http%3A%2F%2Fwww.ub.uni-koeln.de%2Fcdm4 %2Fmets_gateway.php% 3FCISOROOT%3D%2F_RHPER%26CISOPTR%3D370133&tx_dlf%5Bdouble%5D=0&cH ash=992029233a8f1335d0abedd6d44bd0c3, letzter Zugriff: 30.06.2022. 198 Vgl.: Bestätigung des von Dr. jur. J. Cäsar Graf von Wartensleben (Parkstraße 29) angemeldeten „Internationalen Verein zur Herbeiführung schärferer gesetzlicher Bestimmungen zum Schutze der Tiere“ durch den Polizeipräsidenten von Wiesbaden am 16.02.1904, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 9. Dort auch ein Bericht über die Gründung und seine Mitglieder mit Fotos in: Der Salon. Oesterreichisches Adelsblatt, 15. Jg., Nr. 9, (20.03.1907), S. 1–2. 199 Bericht von Gräfin Helene zu Leiningen an Verband der Tierschutzvereine des Deutschen Reiches e. V. (Geschäftsstelle Meißen) vom 01.05.1930, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 1. 200 Ernst Deuerlein, „Adolf Gröber“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 107 f, Digitalisat: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118718924.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 30.06.2022. 201 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 1. Protokolle von Sitzungen des Reichstags und des Reichsrats, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 6.

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ches an das Reichsjustizministerium.202 Auch in der Weimarer Republik wurde die Frage des Schächtens im Reichstag immer wieder kontrovers diskutiert, ohne dass es zu einem entsprechenden Gesetz gekommen wäre.203 Ein wiederkehrender Diskussionspunkt war dabei die Frage, ob die Regelung des Tierschutzes nicht eigentlich Ländersache sei.204 Die Gräfin war inzwischen nicht untätig. Sie verteilte Flugblätter oder verfasste sie in einigen Fällen sogar selbst. Sie korrespondierte mit Ministern, Abgeordneten und Vorständen von Tierschutzvereinen. Im Jahr 1931 veranlasste sie ein Schreiben an die Botschaft der Sowjetunion, in dem auf die in ihren Augen „himmelschreiende Rohheit“ der rituellen Opferung eines heiligen Schimmels durch die Schamanen der Oiraten im Altei aufmerksam gemacht wurde.205 Aber auch ein benachbarter Villenbesitzer musste sich ihren Vorwurf gefallen lassen, seine beiden Hunde in zu engen Zwingern zu halten. Angesichts ihrer Verdienste ernannte sie schließlich der Tierschutz-Verein zu Wiesbaden (e. V.) anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 50-jährigen Jubiläum am 11. Juni 1925 zum Ehrenmitglied. Unterstützt wurde sie bei ihrem Engagement für den Tierschutz von ihrem Bruder Fritz in Weimar, der ebenfalls ausdrücklich gegen das Schächten eintrat.206

202 Die Eingabe von Otto Hartmann als dem Vorsitzenden des Verbandes der Tierschutzvereine des Deutschen Reiches e. V. abgedruckt in: Zeitschrift des Verbandes Rheinisch-­Westfälischer Tierschutz­ vereine, N. F., 18 Jg., Nr. 2, 01.04.1920, S. 1–3, Digitalisat: http://dfg-viewer.de/show/cache.off?tx_ dlf%5Bpage%5D=9&tx_dlf%5Bid%5D=http%3A%2F%2Fwww.ub.uni-koeln.de%2Fcdm4 % 2Fmets_gateway.php%3FCISOROOT%3D%2F_RHPER%26CISOPTR%3D370133&tx_dlf% 5Bdouble%5D=0&cHash=85e86b381dca62f9d90fd7e78c66877e, letzter Zugriff: 30.06.2022. 203 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist eine im Rahmen des „Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten 2001“ entstandene Arbeit von Daniel Jütte, Die Entstehung und die Auswirkungen des nationalsozialistischen Reichstierschutzgesetzes von 1933. Zur Ent­ wicklung im Reichstag von 1870–1933, S. 167–184, hier S. 168–170, Digitalisat: https://web.archive. org/web/20131227112911/http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-608/ juette.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022. 204 Zur Diskussion des § 360 StGB im Reichstag 1929 vgl.: Werner Schubert, Jürgen Regge, Peter Rieß, Werner Schmid, Quellen zur Reform des Straf- und Prozessrechts (= Abt. 1, Bd. 3), Berlin u. a. 1997, S. 410–424. 205 Mitteilung vom „Weltbund zum Schutz der Tiere und gegen die Vivisektion, Abteilung Berlin e. V.“ an Gräfin Leiningen vom 22.06.1931, dass auf ihre Anregung hin die russische Botschaft angeschrieben worden sein und das Schreiben des Vereins vom 27.04.1931 von der Botschaft „an die zuständige Stelle in der UdSSR übermittelt wurde.“ Vgl.: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/ Ehlermann, Karton 10, Mappe 1, S. 1. 206 Vgl.: Anm. 146.

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Abb. 29: Ablehnung des Gesuchs der Gräfin Helene zu Leiningen um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer durch deren Geschäftsführer Richard Suchenwirth am 21. Februar 1935, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5.

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Schließlich wurde am 24. November 1933 ein Reichstierschutzgesetz unter den Vorzeichen des NS-Regimes verabschiedet.207 Zuvor hatte bereits am 21. April 1933 ein Gesetz festgelegt, dass warmblütige Tiere beim Schlachten vor Beginn der Blutentziehung betäubt werden mussten. Dies war letztlich ein Verbot des rituellen Schächtens. Tierversuche blieben hingegen weiterhin erlaubt.208 Am 1. Januar 1934 – noch vor Inkrafttreten des Reichstierschutzgesetzes – drückte sie in einem Schreiben an Veterinärmedizinalrat Weber in München als Leiter (Reichsführer) des Reichsverbandes der Deutschen Tierärzte ihre Freude über das Gesetz aus. Weiterhin unterbreitete sie Vorschläge, den Tierschutz in den Schulunterricht aufzunehmen und zeichnete „Mit deutschem Gruss“.209 Der Tierschutzverein im preußischen Wiesbaden sah sich im Juni 1935 veranlasst, die Verdienste Hermann Görings um den Tierschutz in seinem Amt als preußischer Ministerpräsident zu würdigen und ernannte ihn im Rahmen des 60-jährigen Vereinsjubiläums nun ebenfalls zum Ehrenmitglied.210 Ausgeblendet wurde dabei, dass er seit 1934 auch Reichsjägermeister war und es liebte, sich mit der Strecke der bei seinen Jagden getöteten Tiere oder seinen Trophäen zu präsentieren. Es ist unklar, wie weit der Gräfin die antisemitischen Implikationen des Tierschutzgesetzes des NS-Regimes bewusst waren. Am 4. Juni 1935 beantragte sie allerdings die Löschung des „Internationalen Vereins zur Herbeiführung schärferer gesetzlicher Bestimmungen zum Schutze der Tiere“ wegen der Erfüllung des Vereinszwecks.211 Vermutlich kam sie damit einem Verbot des Vereins zuvor. Als Jüdin verfolgt Ob sie sich durch die Taufe sowie ihr lebenslanges Engagement in rechtskonservativen Kreisen inzwischen als völlig von ihren jüdischen Wurzeln entkoppelt fühlte und auch nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 deshalb für sich persönlich immer noch keine Gefahr sah, ist aus den Quellen nicht zu klären. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihre jüdische Abstammung vermutlich nicht allgemein bekannt gewesen, da sie in dem von den Nationalsozialisten für Wiesbaden herausgegebenen Jüdischen Adressbuch auch für das 2. Halbjahr 1935 nicht erfasst ist.212 Auf ihren Antrag auf Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller und damit in die Reichsschrifttumskammer war ihr allerdings von dessen 207 Vgl.: Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 987, Digitalisat: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutsches_ Reichsgesetzblatt_33T1_132_0987.jpg#/media/File:Deutsches_Reichsgesetzblatt_33T1_132_0987. jpg, letzter Zugriff: 30.06.2022. Vgl. hierzu auch: Jan Mohnhaupt, Tiere im Nationalsozialismus, Mün­ chen 2020. 208 Vgl.: Reichsgesetzblatt I, 1933 S. 203, Digitalisat: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid =dra&datum=19330004&zoom=2&seite=00000203&x=15&y=9, letzter Zugriff: 30.06.2022. 209 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 1. 210 Ebd. 211 Vgl.: Ebd. 212 Vgl.: Anschriften- und Branchenverzeichnis der Angehörigen des jüdischen Volkes in Wiesbaden und seiner Vororte (2. Halbjahr 1935), hrsg. v. Kreisobmann für Judenfragen bei der Kreisleitung der NSDAP Wiesbaden.

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Abb. 30: Bericht über die Gründung eines Tierschutzvereins durch Gräfin Helene zu Leiningen-Neudenau, Graf Cäsar von Wartensleben und Prinz Emil von SchönaichCarolath, Der Salon, Österreichisches Adelsblatt, XV. Jg., Nr. 9 vom 20. März 1907, LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 10, Mappe 9.

Geschäftsführer Richard Suchenwirth (1896–1965) bereits am 21. Februar 1935 unmissverständlich mitgeteilt worden, dass sie aufgrund ihrer „Eigenschaft als Nichtarier“ nicht geeignet sei, durch eine „so tiefgreifende Arbeit, wie sie das geistige und kulturelle Schaffen darstellt, einen Einfluss auf das innere Leben der Nation auszuüben.“ Die Veröffentlichung schriftstellerischer Arbeiten wurde ihr untersagt.213 Ab dem 9. Mai 1939 hatte die Gräfin Helene zu Leiningen-Neudenau zusätzlich den Zwangsnamen „Sara“ zu führen.214 213 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 5. 214 Vgl.: Beischrift vom 26.09.1939, StAWiesbaden, Heiratsregister 1902, Bl. 142. Diese Beischrift wurde am 10.05.1949 wieder gelöscht.

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Bereits ein Jahr zuvor war ihr Vermögen zur Erhebung der „Reichsfluchtsteuer“ auf mehr als eine halbe Million Reichsmark festgesetzt und am 10. Oktober 1938 schließlich gemäß Paragraf 7 der Verordnung vom 18. Mai 1934 ein Betrag von 140.000 Reichsmark als Sicherheitsleistung erhoben worden.215 Hinzu kamen 1939 weitere 105.200 Reichsmark, die sie im Rahmen der perfider Weise im Gefolge der „Reichskristallnacht“ erhobenen „Judenvermögensabgabe“ zu leisten hatte.216 Um diese Beträge aufbringen zu können, verpfändete sie Wertpapiere und verkaufte am 14. Januar 1939 die Villa in der Parkstraße 25 an ihren Sohn, dem sie zuvor bereits den größten Teil ihres Vermögens übertragen hatte.217 Ausdrücklich stellte der Kaufvertrag in § 7 fest: „Frau Gräfin zu Leiningen ist Nichtarierin. Durch diesen Vertrag kommt das Grundstück in arischen Besitz.“ Geplant war, das große Haus umzubauen und in Mietwohnungen aufzuteilen. Ein angrenzendes Grundstück der Familie Pagenstecher sollte erworben und darauf ein neues, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Haus gebaut werden.218 Diplomatisch formulierte sie später gegenüber dem Finanzamt Wiesbaden, dass sie „kriegswirtschaftliche Gründe“ gezwungen hätten, vorübergehend in der „Pension am Kurpark“ in Wiesbaden zu wohnen, die in der Parkstraße 22 von Alexan­ drine Kampf (1870–1947), der Witwe eines Justizrats, betrieben wurde.219 Bei ihr lebten ihre Gesellschaftsdame Hedwig Lohr. Weiterhin wohnte dort Carmen Nordmann sowie deren jüdische Mutter. Auf der Grundlage des Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 begann nun auch die NSDAP in Wiesbaden verstärkt damit, jüdische Bürgerinnen und Bürger aus ihren Wohnungen und Häusern zu vertreiben und in sogenannten 215 Gesetz über die Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer vom 18.05.1934, HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447a, Bl. 13, Digitalisat: http://www.ns-quellen.at/gesetz_anzeigen_detail. php?gesetz_id=51610&action=B_Read, letzter Zugriff: 30.06.2022. Vgl. auch die Ausstellung des Fritz Bauer Instituts: Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen und Berlin 1933–1945, Digitalisat: https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/legalisierter-raub/glossar. html, letzter Zugriff: 30.06.2022. Dazu ein Katalog von Bettina Hindemith u. a. mit gleichem Titel (2002). Für Thüringen: „Arisierung“ in Thüringen. Ausgegrenzt. Ausgeplündert. Ausgelöscht. Ausstellung einer Projektgruppe am Historischen Institut der Universität Jena, Die Ausstellung sowie weitere Informationen im Schulportal Thüringen, https://www.schulportal-thueringen.de/gewi_ unterricht/faecheruebergreifende_angebote/arisierung_in_thueringen, letzter Zugriff: 30.06.2022. 216 Vgl.: Schreiben des Finanzamts Wiesbaden an den Oberfinanzpräsidenten in Kassel vom 24.03.1939, HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447c, Bl. 17. Die Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit vom 12.11.1938, Digitalisat: http://www.ns-quellen.at/gesetz_anzeigen_detail.php?gesetz_id=22710&action=B_Read, letzter Zugriff: 30.06.2022. 217 Schreiben des Finanzamts Wiesbaden an den Oberfinanzpräsidenten in Kassel vom 24.03.1939, HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447c, ebd., Bl. 12. Miterbe des Hauses war ihr Bruder Fritz gewesen, der 1938 verstorben war. Dessen Witwe, die Kammersängerin Jenny Fleischer-Alt, hatte auf ihren Erbanspruch verzichtet. Vgl.: Notarielle Niederschrift (Beglaubigte Abschrift) vom 14.01.1939, § 1, HHSTA Wiesbaden, Abt. 519/3 Nr. 3683, Bl. 25. 218 Kaufvertrag zwischen Gräfin Helene zu Leiningen und ihrem Sohn Helmuth Ehlermann (beglau­ bigte Anschrift) vom 14.01.1939, § 3, HHSTA Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 82139, Bl. 48v. 219 Schreiben von Gräfin Helene zu Leiningen an das Finanzamt Wiesbaden vom 27.02.1942, HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447b, Bl. 46. Vgl. auch die Gestapo-Kartei HHSTA Wiesbaden, Digitalisat der Mikroverfilmung bei Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org/archive/1-2-310/?p=1&doc_id=12301312, letzter Zugriff: 22.07.2022.

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„Judenhäusern“ zu ghettoisieren.220 Die Pensionsinhaberin wurde im August 1940 von der NSDAP zu mehreren Gesprächen vorgeladen, die zum Ziel hatten, sie zur Kündigung des Mietverhältnisses zu bewegen. Diese reagierte hinhaltend und verwies dabei auch auf ihren nicht unerheblichen Verlust an Mieteinnahmen in Höhe von 825 Reichsmark monatlich. In einem Schreiben des in Wiesbaden zuständigen Ortgruppenleiters Leuthaus an den „Sachbearbeiter für Judenfragen“ bei der Kreisleitung vom 25. September 1940 machte dieser bei der vorgesetzten Stelle entschuldigen geltend, bei der Gräfin habe zudem hinsichtlich der Verordnung vom 30. April 1939 in Betracht gezogen werden müssen, „dass dieselbe zweimal mit einem Arier verheiratet war und aus der ersten Ehe Kinder hervorgegangen sind“ [nur der Sohn Helmuth]. Die Regelungen für „privilegierte Mischehen“, die dem jüdischen Ehepartner zumindest bis kurz vor Kriegsende eine gewisse Schonung vor Repressalien gewährte, wurde in ihrem Fall also herangezogen, obwohl beide Ehemänner bereits verstorben waren. Auch „Fr[äu]l.[ein] Nordmann entstammt einer Mischehe; der Vater war Arier“. Deren Mutter war aber andererseits gemäß der NS-Rassegesetze wie die Gräfin „Volljüdin“. Da die Wirtin Mitglied der NSDAP war, wurde ihr vor Augen geführt, dass „es sich für eine Parteigenossin nicht geziemt, diesen Unterkunft zu bieten.“221 In einem Schreiben an die Vermieterin Kampf legte Helmuth Ehlermann am 11. September 1940 Widerspruch gegen die von dieser inzwischen ausgesprochenen Kündigung des Zimmers seiner Mutter ein.222 Mit einer Vielzahl von Argumenten versuchte er, die drohende Einweisung seiner Mutter in eines der Wiesbadener „Judenhäuser“ zu verhindern. Er verwies auf ihren Gesundheitszustand, ihre evangelische Religionszugehörigkeit und vor allem auf die „nationale Gesinnung“, die sie „ebenso wie ihre Familie an den Tag gelegt und praktisch vorgelebt“ hätte. Sie habe „niemals im Leben sich irgendwie mit der jüdischen Rasse verbunden“ gefühlt, sondern vielmehr „in scharfer Front hiergegen Stellung genommen.“ Diese Einlassungen des Sohnes wurden an die NSDAP weitergeleitet und lapidar handschriftlich mit der Frage „Monarchisten?“ kommentiert. Zwar teilte der Ortsgruppenleiter der NSDAP der Vermieterin am 29. Oktober 1940 mit, dass eine Kündigung aus rechtlichen Gründen schwierig sei, wiederholte aber, dass „es für [sie als] eine Parteigenossin unschicklich ist, bei sich Jüdinnen oder Halbjüdinnen zu beherbergen.“223 Wann genau die Gräfin schließlich aus der Pension vertrieben wurde, ist noch zu klären. Spätestens ab Mai 1941 lebte sie jedoch im chirurgisch-orthopädischen Sanatorium Guradze in der Mainzer Straße 3.224 Aus einer Aufstellung ihrer Lebenshaltungskosten in Höhe von monatlich 991,00 Reichsmark, die sie im Mai 1942 für die Devisenstelle Frankfurt a. M. des Oberfinanzpräsidenten in Kassel zu fertigen hatte, geht hervor, dass sie unter „absoluter Unfähig220 Vgl.: Klaus Flick, Judenhäuser in Wiesbaden (1939–1942). Das Schicksal ihrer Eigentümer und Be­ wohner. 2019, erarbeitet mit Unterstützung der Initiative Stadtteil-Historiker Wiesbaden und der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden, Digitalisat: https://moebus-flick.de/, letzter Zugriff: 30.06.2022. 221 Vgl.: HHStA Wiesbaden, Abt. 483, Nr. 10127, Bl. 107 ff. 222 Ebd. 223 Der Vorgang mit Quellenhinweisen dokumentiert bei: Flick, Judenhäuser in Wiesbaden, (wie Anm. 220), im Abschnitt „Die Umsiedlung“. 224 Vgl.: Das Heilbad Wiesbaden. Den heilungsuchenden Kranken, den Freunden und Gästen des Bades, hrsg. v. Magistrat der Stadt Wiesbaden, München u. a. 1922, S. 36.

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keit alleine gehen zu können“ litt.225 In diesem Sanatorium verstirbt sie am 19. Oktober 1942. Als Todesursache ist Arteriosklerose angegeben. Gemeldet hatte den Tod ihr Sohn Helmuth Ehlermann am Tag darauf, der allerdings nicht persönlich erschienen sein dürfte, da seine Unterschrift im Sterberegister fehlt.226 Beigesetzt wurde ihr Sarg am 26. Oktober 1942 im Familiengrab in Jena.227 Ungeklärt ist, was sie davor bewahrt hatte, wie die meisten jüdischen Bürgerinnen und Bürger Wiesbadens zwischen Mai und September 1942 deportiert zu werden.228 Ein Aktenvermerk des Finanzamts Wiesbaden vom 24. April 1943 lässt die Frage offen, ob sie als zu Deportierende bereits vorgemerkt und dann möglicherweise wegen ihrer schweren Erkrankung zunächst davon Abstand genommen worden war, oder nur ein Verwaltungsversehen vorlag und bei Menschen jüdischer Abstammung, die nach 1942 nicht mehr polizeilich gemeldet waren, automatisch von einer Deportation ausgegangen wurde. „Leiningen Helene Sara ist ab 01.01.1943 in der V.[eranlagten]-Liste zu löschen. Grund: nach den Ostgebieten abgeschoben.“229 Anzumerken ist, dass das Haus Mainzerstraße 2 direkt neben dem Sanatorium Guradze vom NS-Regime als „Judenhaus“ genutzt worden war.230

Der Enkel – Helmuth Ehlermann (1891–1972) Als der einzige leibliche Nachkomme der Familie Fleischer trug Helmuth Ehlermann wesentlich zur Dokumentation der Familiengeschichte bei. Neben der Sicherung zahlreicher Dokumente der Mitglieder der Familie Fleischer beschäftigte er sich mit Genealogie und verfasste Lebenserinnerungen.231 Weitere Dokumente zur Familiengeschichte finden sich im Zusammenhang mit den von ihm nach 1945 angestrengten Entschädigungsverfahren. Bei diesen sich über mehrere Jahre hinziehenden Verfahren wurde er teilweise von seinem Schwager Freiherrn Gerhard von Preuschen (1903–1978) vertreten. Preuschen wurde dem Umfeld der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 zugerechnet und nicht zuletzt deshalb von der Bundesregierung im Jahr 1961 als offizieller Beobachter des Prozesses gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem entsandt.232 225 HHSTA Wiesbaden, 519/3, Nr. 3685, Bl. 55v. Die Kartei der Gestapo, (wie Anm. 219), verzeichnet als ihren Wohnsitz ab dem 20.05.1941 die Adresse Mainzerstraße 3 in Wiesbaden. 226 Vgl.: StA Wiesbaden, Sterberegister 1942, Nr. 2193. 227 Liste der Beigesetzten im Erbbegräbnis, (wie Anm. 25), Liste der im Familiengrab Fleischer Bestatte­ ten. 228 Vgl. den Eintrag zu Wiesbaden in: Die Deportation der Juden aus Deutschland in den Osten, hrsg. v. der Gedenkstätte Yad Vashem, Digitalisat: https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/deportations/ wiesbaden.asp, letzter Zugriff: 30.06.2022. 229 HHSTA Wiesbaden, Abt. 685, Nr. 447e, [unfoliiert]. 230 Vgl.: Flick, Judenhäuser in Wiesbaden, (wie Anm. 220), die Liste der Judenhäuser, vgl.: https:// moebus-flick.de/liste-der-judenhaeuser/, letzter Zugriff: 19.07.2022. 231 Vgl.: Anm. 3. 232 Dominique Trimbur, Eine deutsche Präsenz in Israel. Die bundesdeutsche Beobachtermission anläss­ lich des Eichmann-Prozesses in Jerusalem. Deutsche(s) in Palästina und Israel: Alltag, Kultur, Politik,

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Abb. 31: Helmuth Ehlermann (1891–1972) mit dem Afghanen seiner Mutter, aufgenommen an deren Kurort Bad Friedrichroda/Thüringen um 1905, Foto: Hoffotograf L. Thalacker, Bad Friedrichroda, ­LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 2.

Helmuth Ehlermann war aus der Ehe Helene Fleischers mit dem Verleger Dr. Erich Ehlermann hervorgegangen. Der unglückliche Verlauf der Ehe seiner Schwester war dem ebenfalls in Dresden wohnenden Bruder Emil bekannt, und er hatte der Mutter Pauline im Vorfeld der sich abzeichnenden Trennung besorgt über die Konsequenzen einer Scheidung berichtet.233 Nach dem sächsischen Familienrecht fiel das Sorgerecht durchweg dem Vater zu. Tatsächlich sollte Helmuth Ehlermann seine Mutter Helene infolge der Trennung der Eltern 1899 und schließlich der Scheidung 1902 mehrere Jahre lang nicht sehen dürfen.234 Auch seine Großmutter Pauline konnte er bis zu deren Tod 1905 nicht mehr besuchen. Dies verzieh sie ihrem ehemaligen Schwiegersohn nicht und schloss ihn in ihrem Testament im Gegensatz zu den anderen Ehepartnern ihrer Kinder ausdrücklich von jeglichen Göttingen 2013, S. 229–252, Digitalisat: https://www.academia.edu/13103449/Eine_deutsche_ Präsenz_in_Israel_Die_bundesdeutsche_Beobachtermission_anlässlich_des_Eichmann-Prozesses_ in_Jerusalem, letzter Zugriff: 19.07.2022. 233 Schreiben von Emil Fleischer an seine Mutter Pauline vom 22.05.1895. Er hatte auf Bitten seiner Schwester Helene wegen der sich abzeichnenden Scheidung einen Rechtsanwalt vor allem hinsichtlich des Sorgerechts für den Sohn konsultiert. Vgl.: LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 4, Mappe 1. 234 Vgl.: Tagebuch von Helmuth Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 28.

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Erbansprüchen aus.235 In seinen Lebenserinnerungen berichtet Helmuth Ehlermann über das schwierige Verhältnis zu seinem Vater und besonders zu dessen zweiten Frau Hilda, der Tochter des Oberpräsidenten der Rheinprovinz Berthold von Nasse (1831–1906). Der Junge vermisste allerdings weniger die Mutter, die angesichts der sich abzeichnenden Trennung ohnehin schon lange einen Großteil des Jahres auf Reisen verbracht hatte, sondern vielmehr deren beiden Brüder Emil und Fritz, „die mir in ihrer geistig hochbedeutenden Art und gleichzeitigen tiefen Herzensgüte schon damals einen bedeutenden Eindruck gemacht“ hatten.236 Im Jahr 1904 durfte er dann nach Weimar zu seinem Onkel Fritz und besuchte auf dem Weg dorthin erstmals wieder seine Mutter, die im nahen Friedrichroda mit einer Studie zu Friedrich dem Großen als Vorarbeit für das Theaterstück Der Philo­ sophen von Sans-Souci beschäftigt war. Während er sein Vaterhaus mit einer „kleinlichen Atmosphäre“ in Erinnerung behielt, geriet er in Weimar in ein „Heim, in dem Menschen von einem Frohsinn und einer Herzenswärme“ wohnten.237 Jenny und Fritz Fleischer wurden während der Ferienaufenthalte zu einer Ersatzfamilie. Ehlermann studierte Maschinenbau in Dresden und Darmstadt. Als Freiwilliger nahm er kurzzeitig am Ersten Weltkrieg teil. Im weiteren Kriegsverlauf war er bei der Motorenfabrik Oberursel bei der Weiterentwicklung und Produktion der „Oberurseler Umlaufmotoren“ für Doppeldecker-Flugzeuge eingesetzt. Nach dem Krieg nahm er seine Studien wieder auf und war danach beim Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin sowie bei der Metallgesellschaft in Frankfurt a. M. tätig. Wegen gesundheitlicher Probleme nahm er später bei seinem Onkel Dr. med. h. c. Richard (Rix) Fleischer in Wiesbaden vorübergehend eine Stelle als Privatsekretär an.238 Daneben beschäftigte er sich mit der der Weiterentwicklung eines Verfahrens von Dr. Emil Fleischer zur Verhüttung von Eisenerz, was allerdings nicht zur Patenreife gelangte.239 Er konvertierte in den 1930er Jahren zum Katholizismus. Seinen Nachfahrinnen, die trotz ihrer protestantischen Mutter katholisch erzogen wurden, sind seine Beweggründe nicht bekannt. Helmuth Ehlermann galt nach den Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetze von 1935 im NS-Regime als „jüdischer Mischling“ und unterlag den entsprechenden Restriktionen. Da deshalb in Deutschland eine Heirat mit Annemarie (1907–1987), der in Darmstadt geborenen Tochter des Generalmajors Maximilian Freiherr von Preuschen (1867–1932), kaum möglich gewesen wäre, ließen sich die beiden mit Unterstützung eng-

235 Vgl.: Testament von Pauline Fleischer, (wie Anm. 38), S. 3. 236 Tagebuch von Helmuth Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 27. 237 Ebd. S. 22 f. 238 Der Ausbildungsgang und Berufsweg gemäß der Schilderung seiner Tochter Adelheid Rüter-Ehler­ mann. 239 Verfahren zur Verhüttung von Eisenerz nach Dr. Emil Fleischer von Dipl. Ing. [Helmuth] Ehlermann (50 S. handschriftliches Manuskript, ausgeführt teilweise auf den Rückseiten von Schreiben sowie Forschungsberichten Dr. Emil Fleischers; o. J.), LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 11, Mappe 2.

Maximilian Fleischer (1812–1871) und seine Nachkommen

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lischer Freunde im Jahr 1938 in Bedford (Bedfordshire) trauen.240 Sie erwarben in Hohentengen am Hochrhein das Schloss Rötteln und zogen sich nun hierhin zurück. Von hier aus wurde Helmuth Ehlermann in einer Verwendung als Ingenieur zum Wehrersatzdienst bei der Firma Helwig und Söhne in Ziegenhain bei Kassel eingezogen.241 Die eigentlich auf landwirtschaftliche Geräte spezialisierte Firma war während des Krieges auf Rüstungsproduktion umgestellt worden.242 In Tiengen bei Waldshut wurden die Töchter Adelheid (1942) und Helene (1946– 2006) geboren.

Das Familiengrab in Jena

Abb. 32: Das Familiengrab der Familie Fleischer auf dem Nordfriedhof in Jena 2020, Foto: Bernhard Post.

Pauline Fleischer, ihre sechs Kinder sowie ihre Schwiegertochter Jenny wurden in der Grabstätte auf dem Nordfriedhof in Jena beigesetzt. Vorgesehen war von ihr zunächst ein Familienbegräbnis in Görlitz, wo bereits Max Fleischer bestattet worden war. Als Verantwortlichen für die Durchführung des Projekts hatte sie eigentlich ihren Sohn Emil als 240 Eine Abschrift der Heiratsurkunde des Distrikts Bedford vom 26.02.1938, HHSTA Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 82139, Bl. 9. Das Familienarchiv von Preuschen mit Hinterlegungen von Adelheid Rüter-Ehlermann im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, Bestand O 15, Digitalisat: https://arcinsys. hessen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=b7519, letzter Zugriff: 30.06.2022. 241 Vgl.: Schreiben der Deutschen Bank an Helmuth Ehlermann in Ziegenhain am 03.03.1942, HHSTA Wiesbaden, Abt. 5128, Nr. 82139, Bl. 70. 242 Vgl.: Klaus Dreyer, Historische Landtechnik von A bis Z, ein Onlinelexikon, http://www.landtechnikhistorisch.de/historische-landmaschinen/helwig-ziegenhain/, letzter Zugriff: 30.06.2022.

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Testamentsvollstrecker bestimmt.243 Schließlich besorgte dies jedoch dessen Bruder Fritz im Jahr 1904. Warum Jena als Ort gewählt wurde, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise ließ dort die Friedhofssatzung anders als in Görlitz die Errichtung des gewünschten repräsentativen Baus zu. Nach Vorgaben von Fritz Fleischer stammte der Entwurf mit dem „Eingangsbogen, der sich an den des Titus in Rom anlehnt“, von dem in Jena tätigen Architekten Johannes Schreiter (1872–1957).244 Dort ließ Fleischer aus Schillers Das Lied von der Glocke die Verse 240–244 einmeißeln: 245 Noch köstlicheren Samen bergen Wir trauernd in der Erde Schoß Und hoffen, dass er aus den Särgen Erblühen soll zu schönerm Los.

Eine bei der Friedhofsverwaltung vorhandene Liste der Bestatteten wirft jedoch Fragen auf.246 Gemäß dieser Liste wurde die Urne von Max Fleischer nach Jena überführt. Ungeklärt ist allerdings, wann und warum Fritz Fleischer angeblich zeitweise in Hummelshain beigesetzt worden war und seine Urne dann am 5. September 1967 wieder nach Jena überführt wurde. In der Liste im Familiengrab Beigesetzten ist er nicht aufgeführt, obwohl doch seine Frau Jenny Fleischer-Alt in der gedruckten Traueranzeige im Januar 1938 mitteilte, „die Beisetzung hat in der Stille in der Familiengruft in Jena stattgefunden.“247 Dies bestätigt auch ein Foto, vermutlich von der Beisetzung Jenny Fleischer-Alts, das einen Grabstein mit ihrem und dem Namen ihres Mannes zeigt.248 Die Überführung der Urnen seiner Tante Jenny sowie seiner Mutter Helene, die beide 1942 starben, hatte vermutlich Helmuth Ehlermann veranlassen können. Und schließlich: Wer war Karl Apel, der gemäß einer Liste der Friedhofsverwaltung angeblich auch hier im Familiengrab beigesetzt worden war?249 Da der 1904 geschlossene Vertrag eine 60-jährige Dauer vorsah, wurde die Gruft im Jahr 1967 aufgelöst, alle in Särgen beigesetzten Verstorbenen eingeäschert und diese in einen Urnen-Hain umgebettet. Die Grabstelle selbst war lange dem Verfall preisgegeben und wurde erst vor wenigen Jahren zumindest durch ein Notdach und eine Regenwasserführung 243 Vgl.: Testament Pauline Fleischer, (wie Anm. 38), S. 6. 244 Tagebuch von Helmuth Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 24. Zur Grabstelle vgl. den Beitrag von Constanze Mann, „Familie Fleischer, Erbbegräbnis“, in: Jüdische Lebenswege in Jena, (wie Anm. 24), S. 241–244. 245 Friedrich Schiller, Musen-Almanach für das Jahr 1800, S. 251–272, Digitalisat: https://de.wikisource. org/wiki/Das_Lied_von_der_Glocke_(1800), letzter Zugriff: 30.06.2022. Vgl. auch: Tagebuch Helmuth Ehlermann, (wie Anm. 4), S. 42–43. 246 Liste der Beigesetzten im Erbbegräbnis, (wie Anm. 25). Dort auch die Baupläne. 247 LATh-HStA Weimar, FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 3. 248 Vgl.: LATh-HStA Weimar FN Fleischer/Ehlermann, Karton 7, Mappe 4. 249 Ein „Carl Abel“ unterzeichnete auch die Karte an Agnes Fleischer vom 21.05.1897, (wie Anm. 63). Möglicherweise handelte sich um den Altphilologen, Journalisten und Übersetzer Carl Abel (geb. 1837 in Berlin), der etwa seit 1880 in Wiesbaden lebte und dort 1906 verstarb, vgl. den Eintrag bei WIKIPEDIA, https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Abel_(Philologe), letzter Zugriff: 30.06.2022.

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gesichert. Die Familiengruft der Familie Fleischer zählt heute zu den aus kulturhistorischen Gründen schützenswerten Grabstätten der Stadt Jena.250 Hinweise auf die Geschichte der bereits beim Betreten des Friedhofs ins Auge fallenden Grabstelle beziehungsweise zu den Schicksalen der Angehörigen der Familie Fleischer finden sich dort leider (bisher) nicht.

„Superdeutsche“? Bei der Skizzierung der Mitglieder der Familie Fleischer konnten lediglich Facetten aufgezeigt werden. Vielleicht wird dadurch aber ein Interesse geweckt, sich mit einzelnen Personen und Fragestellungen näher zu beschäftigen, so beispielsweise mit Aspekten der Technik- und Wirtschaftsgeschichte oder der Bedeutung der Zuckerindustrie für Deutschland im 19. Jahrhundert. Im Rahmen der Genderforschung wäre es interessant zu prüfen, welche Handlungsspielräume Frauen wie Pauline oder Agnes Fleischer hinter den Kulissen großer Industrieunternehmen und bei erheblichen Finanztransaktionen hatten. Bei Helene Fleischer wäre der Frage nachzugehen, welche Wirkung auf das Publikum ihre nationalkonservativ geprägten Stücke tatsächlich hatten. Auch das Wirken von Richard Fleischer als Herausgeber der Deutsche Revue hätte eine umfassende Analyse verdient. Leider liefert der Familiennachlass keine Selbstzeugnisse im Zusammenhang mit der Abkehr der Familie vom Judentum. Eine Bewertung in Form der für Henryk Broder typischen Zuspitzung wäre wohl vorschnell. Seiner Meinung nach sei die „Emanzipationsbewegung aufgeklärter, liberaler und gebildeter Juden“ im 19. Jahrhundert „gegen diese seltsamen, schwarz gekleideten jüdischen Untermenschen in Europa“ schlichtweg als „jüdischen Antisemitismus“, als „Selbsthass“ zu werten.251 Die Mitglieder der Familie Fleischer hatten sich assimiliert und in ihrer Zeit wichtige Beiträge zu technischen Verfahren, zur Wirtschaft und zur Kultur Deutschlands geliefert. Ungeachtet dessen mussten diejenigen, die den Nationalsozialismus noch erlebten, ständig zunehmende Repressalien ertragen und wurden zumindest in einem Fall sogar in den Freitod getrieben. Die Fleischer-Geschwister waren liberal-konservativ und demokratisch eingestellt mit Ausnahme von Helene Fleischer. Auffällig ist, wie sehr diese die Nähe des Adels und rechtskonservativer Kreise suchte. Bei ihr scheint das Bemühen stark ausgeprägt gewesen zu sein, sich den Forderungen von Antisemiten wie Heinrich von Treitschke (1834–1896)252 oder 250 Vgl.: Ehrengräbersatzung der Stadt Jena vom 25.09.1996, Digitalisat: https://ksj.jena.de/fm/41/ Ehrengr%C3%A4ber%202015 %20A09.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022. 251 Henryk Broder über jüdischen Antisemitismus, Selbsthass und Judenfragen in dem Interview: „Wir sind traumatisiert“, in: tacheles vom 14.07.2006, Digitalisat: haGalil.com-Jüdisches Leben online, https://www.hagalil.com/archiv/2006/07/selbsthass.htm, letzter Zugriff: 19.07.2022. 252 „Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns alle ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folgt“, Heinrich von Treitschke, „Unsere Aussichten“, in: Preußische Jahrbücher 44, 1879, S. 559–576, hier 573.

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Ernst Haeckel (1834–1919)253 folgend von ihren jüdischen Wurzeln zu lösen. Ihr Lebensweg erinnert an die Mutter von Thomas Mann. Mit ihrer brasilianisch-portugiesisch-­ indianischen Abstammung reagierte diese auf den „enormen Rassismus im Kaiserreich“ indem sie sich zu einer „Superdeutschen“ entwickelte und beispielsweise intensiv mit Goethe beschäftigte.254 In Thomas Manns Roman Königliche Hoheit flossen dann Wesenszüge seiner Mutter und seiner jüdischen Ehefrau Katja Pringsheim in die Figur der Imma Spoelmann ein, die wegen ihrer indianischen Abstammung von der vornehmen amerikanischen Gesellschaft gemieden wurde, mit ihrem Vater nach Deutschland ging und hier schließlich sogar einen fürstlichen Landesherrn heiratete.255 Mit „größter Zurückhaltung“ nahmen sowohl die Presse als auch die Forschung den Roman auf.256 Und Thomas Mann beschloss, sich zu „hüten, je wieder ein Lustspiel zu schreiben, an dessen Ende sie sich kriegen“.257 Helene Fleischer hatte mit dem Leininger 1902 zumindest einen tatsächlichen Grafen geheiratet.

253 Haeckel stelle die jüdische Abkunft von Jesus in seinem weltweiten Bestseller zu den Welträtseln in Frage. Alleine schon seine Charakterzüge seien „entschieden nicht semitisch; vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen Rasse und vor Allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen“, in: Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1899, S. 379, Digitalisat: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/haeckel_weltraethsel_1899/?hl=H ellenen&p=395, letzter Zugriff: 30.06.2022. 254 Vgl. den Bericht von Susanne Lenz zu den Forschungen der Germanistin Veronika Fuechtner, „Die brasilianische Mutter von Thomas Mann. Wie Julia Bruhns da Silva mit ihrer Einwanderung nach Lübeck zur Superdeutschen wurde und als Julia Mann das Werk ihres Schriftsteller-Sohnes beeinflusste“, in: Berliner Zeitung vom 25.05.2020, https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ die-brasilianische-mutter-thomas-manns-li.84281, letzter Zugriff: 30.06.2022. 255 Vgl.: Bernhard Post, „Thomas Manns Königliche Hoheit. Spiegelungen Thüringer Geschichte und Geschichten im Roman“, in: Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Geisteswissenschaft­ liche Klasse Sitzungsberichte, 10, 2016–2017, S. 53–88, hier S. 68 f. 256 Franziska Schößler, „Aneignungsgeschäfte: Zu Thomas Manns Umgang mit Quellen in dem Roman Königliche Hoheit“, in: Thomas Mann Jahrbuch, 14 (2002), S. 249–267, hier S. 249. 257 Schreiben an Hedwig Fischer vom 14.10.1912, abgedruckt in: Thomas Mann. Selbstkommentare: „König­ liche Hoheit“ und „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, hrsg. v. Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1989, S. 31.

Carsten Liesenberg

Vom Klang des Schabbats in der Gemeinde der Laien Vorbeter und Kantoren als Stützen der gesungenen Liturgie. Einblicke in Lebenswege aus Thüringen

Vorbemerkungen In der ersten Feriensaison nach dem Mauerfall in Europa machte sich Meir (Heinz) Friedmann (1919–2006) aus Israel im Spätsommer 1990 auf den Weg in den Süden Thüringens, unter anderem nach Meiningen. Er berichtete in seinen privaten Reiseeindrücken für Freunde und Bekannte anschließend: Das Haus, in dem ich einige meiner Schuljahre verbrachte, steht‚ wie gehabt, sogar das alte Nummernschild ist vorhanden, allerdings wird es jetzt von vier Parteien bewohnt. Daneben, statt der Synagoge[,] die wie so viele andere in der Pogromnacht vernichtet wurde, ein Schild zum Gedenken. Es war die zweite Synagoge, in der ich jahrelang jeden Freitagabend das ‚Lecho Dodi‘ in meiner besten Sängerstimme sang.1

Lecha Dodi, die Hymne „Auf, mein Freund, der Braut entgegen, Königin Sabbat wollen wir empfangen!“, ist einer der markantesten Bestandteile des Gottesdienstes am Vorabend des Schabbat. : ‫ פני שבת נקבלה‬.‫לכה דודי לקראת כלה‬ Lecha dodi l’ krat kala. pnei schabbat n‘ kabela2

Heinz Friedmann aus Römhild hatte bis zum „freiwillig-erzwungenen“, vorzeitigen Verlassen bis in die Anfangsjahre der NS-Diktatur von 1929 bis 1934 das Meininger Gymnasium besucht und wohnte seinerzeit wochentags im beschriebenen Meininger Haus bei der Familie des Kantors Josef Grünstein. So nahm der junge Friedmann Freitag abends am Gottesdienst in der Synagoge nebenan teil, der dort von der Orgel begleitet wurde3,

1 Handvervielfältigtes Typoskript von Meir H. Friedmann, Bat Yam (Israel), Herbst 1990. 2 Zitat und Übersetzung nach Gebetbuch Sidur Sefat Emet, mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger, Basel 1987, S. 84. 3 Instrumentale Musik kennzeichnet jüngere Entwicklungen in einzelnen Strömungen des liberalen Judentums. Generell ist ihr Gebrauch im Synagogengottesdienst bis in die Gegenwart umstritten (vgl. auch folgende Ausführungen).

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und das damalige Erleben war ihm über 52 Jahre später auch als ästhetischer Eindruck noch sehr präsent. Wie nähert man sich dieser regionalen historischen Dimension des Phänomens des Vorbeters und Kantors, der in vielen Strömungen im Judentum bis heute vielleicht wichtigsten Stütze des Synagogengottesdienstes? Im Folgenden wird unter anderem versucht, Konturen eines Gesamtbildes der Situation zumindest zum Zeitschnitt 1930, das heißt unmittelbar vor dem Menschheitsverbrechen der Schoa zu umreißen. Dieses Minimum an Systematik ist bei allen inhaltlichen Lücken vor jeder biographischen Betrachtung als notwendige Grundlage erforderlich. Manches von diesem unvollständigen Mosaik aus Quellensplittern mag bekannt sein.4 Andererseits ist zu befürchten, dass dabei nicht jede verdienstvolle aktuelle regionale Studie entdeckt wurde. Manche Details stützen sich auf Erinnerungsberichte von Überlebenden der Schoa aus den späten 1980er und den 1990er Jahren. Wie so oft bei Zeitzeugen (aber vielleicht hier noch etwas mehr), bedauert man heute, dass man damals nicht noch viel mehr erfragt hat. Andererseits ließ die erstmalige Konfrontation der Überlebenden mit den unverändert präsenten, konkreten historischen Orten ihrer persönlichen Erniedrigung und Verfolgung auch nach über 50 Jahren wie bei Meir (Heinz) Friedmann nur ein sehr behutsames Nachfragen zu.

Laien und ausgebildete Vorbeter im Synagogengottesdienst Woran denkt man, wenn man sich jüdische Kantoren vorstellt? Oft geht es dann allein um den professionellen Liturgen des Synagogengottesdienstes, den souveränen Vorsänger- und -beter mit geübter Bariton-Stimme, die Person, die diese religiöse Feier leitet. In einigen liberalen Gemeinden gibt es seit einigen Jahrzehnten auch Kantorinnen. Wenn es sich um einen professionell für diese Aufgabe ausgebildeten Menschen handelt, trägt er oder sie hierzulande gewöhnlich einen Talar unter dem Gebetsschal (Tallit) und singt mit der kräftigen Stimme eines ausgebildeten Solisten. Nicht zufällig gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts solche Gesänge von virtuoser Qualität, oft exklusiv von prominenten Interpreten als Einspielungen auf Tonträgern oder als Stream. Allein durch die Präsenz des Gesangs, ihrem zentralen Platz im Synagogenraum und die Kleidung stehen auch Kantoren als eines der pauschalen Bilder für „Juden“ und damit im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung – selbst bei Antisemiten. Schon allein wenn man dieses idealisierte Bild von solcher Art virtuosen Kantoren aus Synagogengottesdiensten vornehmlich des neuzeitlichen Mitteleuropas auf den kleinen Raum Thüringens vor 1933 einzuschränken versucht, wird es unübersichtlich: Auf dem 4 Vgl. bspw.: Carsten Liesenberg, „Vom Hauslehrer zum Kantoren (Chasan) und Rabbiner – Kultusbeamte jüdischer Gemeinden im 19. Jahrhundert am Beispiel Mühlhausen/Thüringen (Forschungsbericht)“, in: Festschrift Philipp Heidenheim. Beiträge zum Kolloquium „Jüdisches Leben in Thüringen“ aus Anlass des 200. Geburtstages des Sondershäuser Rabbiners Prof. Philipp Heidenheim (1814–1906), hrsg. v. Schlossmuseum Sondershausen (= Sondershäuser Kataloge XII), Sondershausen 2016, S. 29–45.

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Gebiet des heutigen Freistaates, das heißt im damaligen Land Thüringen und den preußischen Landesteilen lebten 1925 5.453 Juden (Mitglieder jüdischer Gemeinden). 1930 existierten hier laut dem offiziellen Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland noch 35 jüdische Gemeinden (häusliche Gebetsstuben in privaten Räumlichkeiten nicht mitgezählt). In etwa fünf Orten waren die jüdischen Gemeinden der Neuzeit schon damals nicht mehr existent, weitere bereits seit etwa dem Ende des Ersten Weltkriegs durch den Wegzug ihrer Mitglieder in Auflösung begriffen – zum Beispiel Bauerbach und Heiligenstadt bildeten mit jeweils unter zehn Mitgliedern streng genommen keine religiös eigenständigen Gemeinschaften mehr.5 An einigen Orten lebten und arbeiteten wenige jüdische Einwohner, die Mitglieder einer der benachbarten jüdischen Gemeinden waren. Der Inhalt des erwähnten Verzeichnisses mit dem Stand von 1930 entspricht den Angaben, die die Gemeinden auf eine standardisierte Anfrage selbst gemacht haben.6 Demnach hatten 22 von ihnen keine eigenen Angestellten für religiösgottesdienstliche Funktionen – oder sie hatten solche Mitarbeiter nicht mehr. Sie wurden von Lehrern, Kantoren und Rabbinern aus anderen jüdischen Gemeinden mit betreut. Rabbiner gab es zu diesem Zeitpunkt drei in Thüringen. Zusätzlich ist die Betreuung der Gemeinde Barchfeld durch das Rabbinat in Fulda dokumentiert.7 Ähnliche Zuständigkeiten durch benachbarte auswärtige, hier Leipziger Rabbinatsbezirke für Altenburg oder das Rabbinat in Göttingen für Heiligenstadt sind entweder in Zeitzeugenberichten mündlich überliefert oder anzunehmen. Bei sechs der 14 verzeichneten jüdischen Religionslehrer in Thüringen ist bei dieser Momentaufnahme zusätzlich ihre Funktion als „Kantor“ angegeben.8 Man kann hier also von qualifizierten Kantoren ausgehen. Andererseits ist Max Rosenau in Mühlhausen 1930 allein als Lehrer notiert worden, obwohl er nachweislich als Kantor ausgebildet war und dort auch ständig als solcher tätig war. Dies traf wohl noch bei weiteren der 14 jüdischen Religionslehrer zu, jedoch nicht bei allen. Eindeutig zeigt diese Situation um 1930, dass in der Mehrzahl der jüdischen Gemeinden die Gottesdienste in den Synagogen oder im häuslichen Rahmen (regelmäßig, an Festtagen oder auch nur sporadisch) gewöhnlich durch ihre Mitglieder, Laien, gestaltet wurden, selbstverständlich einschließlich des Vorbetens der größtenteils gesungenen Liturgie.9 Im Thüringer-Wald-Dorf Schwarza, seit dem frühen 19. Jahrhundert zum preußischen Kreis Schleusingen gehörig, lebten 1840 276 Juden, fast ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Hier war der jüdische Lehrer laut einem Bericht von 1842 fest angestellt, während der Vorsänger (Vorbeter, nach modernem Verständnis: Kantor) nur für drei Jahre gewählt wurde und gleichzeitig Schächter (ritueller Schlachter) war. Mit 30 Gulden jährlich erhielt er nur weniger als ein Fünftel des Festgehalts seines Lehrerkollegen, bekam aber 5 Vgl.: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932/33, hrsg. v. Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Berlin 1933, S. 117–119, 181, 185, 371–376. 6 So findet sich entsprechender Schriftverkehr in den Unterlagen zur Synagogengemeinde Mühlhausen (Thüringen) in: Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Gesamt­ archiv der deutschen Juden, 75 A Mü 1. 7 Vgl.: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung, (wie Anm. 5), S. 181. 8 Vgl.: Anm. 6. 9 Ebd.

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mietfreies Wohnrecht, acht Pfennige für jedes geschächtete Stück Vieh und einen Groschen plus zehn Pfennige (der Groschen zählte damals noch zwölf Pfennige) von jedem Mann, der am Sabbat zur Thoralesung aufgerufen wurde und diese unter seiner Anleitung vollzog.10 Leider sind detailliertere Schilderungen der für das hiesige Judentum vor 1933 so fundamental wichtigen und charakteristischen Laiengottesdienste in kleinerem Rahmen nur äußerst selten erhalten geblieben. So sei hier auf eine Mitte der 1980er Jahre verfasste Schilderung des Pianisten und Musikpädagogen Ludwig Rothschild (1916–1992) zu seiner Heimatgemeinde im hessischen Netra in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zurückgegriffen. Die Netraer Juden hatten vielfältige private und geschäftliche Verbindungen ins nur fünf Kilometer entfernte Thüringen, vor allem in weite Teile des Werratals und besonders nach Eisenach. Rothschild schreibt zur Netraer Gemeinde: Am Schabbes [Schabbat – Anm. hier und im Folgenden: C. L.] wurde der lange Morgengottesdienst abgehalten. Hauptvorbeter war der alte Simon Goldschmidt [der Schuhmacher, nicht der jüdische Religionslehrer des Ortes]. Er sang immer mit ausgedehnten Nigunim [improvisierte Melodieteile zwischen den obligatorischen Gebeten] mit vielen Verzierungen. Er dehnte die Gesänge aus, und wenn dann die Gemeinde einstimmte, gab es immer Krakeeler, die es besser machen wollten und veränderte Melodien einbrachten. Das war dann im wahrsten Sinne ein „neues Lied“ […] Die Gebetsordnung war festgelegt. Nach dem „Schma Israel“ kam das 18er Gebet mit 19 Segenssprüchen – das wurde zunächst leise gebetet, stehend in Richtung Klagemauer. Ich beobachtete meinen Vater, wie schnell sich seine Lippen auf und ab bewegten […]. Der Höhepunkt des Schabbes Morgen-Gottesdienstes war das Vorlesen aus der Thora-Rolle. Hierzu wurden die einzelnen Mitglieder aufgerufen, jeden Abschnitt mit einem Segensspruch zu begleiten: Zuerst einer aus dem Priesterstamm, dann ein Levit, den Rest bildeten die einfachen Israeliten. Simon Goldschmidt sang in traditionellen Melodien, die von den Vätern übernommen waren, das machte die Stimme und die Stimmung so angenehm. […] Die traditionellen Melodien waren fest verankert im Gemeindeleben, so dass jede Änderung Befremden ausgelöst hätte. An einem Schabbes Ausgang-Gottesdienst passierte es, daß die jungen Leute eine neue Melodie ausprobieren wollten von dem Psalm „Le Dovid Boruch …“ [David – gelobt sei der Ewige]. Nach einer halben Strophe sprang Levi Goldschmidt [der Sohn des Vorbeters] aufgeregt von seinem Platz hoch und rief auf Deutsch „Is kei Mode hier!“ Damit war der Spaß zu Ende. Wir schwiegen, und es wurde in der alten gewohnten Weise weitergesungen.11

So oder ähnlich kann man sich Laien-Synagogengottesdienste im Raum Thüringens vor der Herausbildung von Kantoren-Persönlichkeiten als Gesangssolisten im eingangs geschilderten Sinne vorstellen. Wie erwähnt blieb diese Grundlage in kleineren Gemeinden bis zu den Verbrechen des Nationalsozialismus weiter gelebte Praxis. Aber Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts kamen unterschiedliche Einflüsse zusammen, die Gottesdienste in vielen jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum musikalisch veränderten, wenn 10 Vgl.: Hans Nothnagel, Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokal­ chroniken in sechs Bänden, Bd. 1, Suhl 1998, S. 184 f. 11 Jüdisches Leben in einem hessischen Dorf. Aus den Lebenserinnerungen Ludwig Rothschilds (1916–1992), hrsg. v. Erich Schwerdtfeger, Norderstedt 2006, S. 57 f.

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man so will: „professionalisierten“ und ästhetisch „verbesserten“. In seinem zwischen 1913 und 1931 mehrfach verlegten und überarbeiteten Standardwerk Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung bewertet Ismar Elbogen (1874–1943) diese Entwicklung mit nicht weniger als einer „Regeneration“, also einer „Neubelebung“. Er schreibt: Die wirkliche Regeneration des Synagogengesangs verdanken wir Salomon Sulzer (1804–1890), in dessen Person sich alle dafür erforderlichen Gaben harmonisch vereinigten, musikalisches Genie, eine phänomenale Stimme und tiefste Vertrautheit mit den traditionellen Gesängen. Das Schicksal stellte ihn an einen günstigen Platz, beschied ihm eine Wirksamkeit in dem Wien Beethovens und Schuberts.12

Ismar Elbogen war Rabbiner, ausgebildet am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, später Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und schließlich nach seiner Emigration 1938 an verschiedenen jüdisch-theologischen Hochschulen in New York tätig.13 Wien, Beethoven und Schubert also für die Synagoge statt Stetl und traditionelle, oft ostjüdisch geprägte Weisen. Elbogens Ansichten waren seinerzeit im deutschsprachigen Raum sicher kein Einzelfall. Er steigerte sein negatives Urteil über den gottesdienstlichen Gesang in der Synagoge bis ins 19. Jahrhundert noch weiter, in dem er das bis dahin über lange Zeiträume verbreitete Engagement von Chorknaben, die die Gesänge des Vorbeters mit je einer hohen und einer tiefen Stimme begleiteten, als „schändlichsten Einfluss“ und „höchste Steigerung der Unordnung und Geschmacklosigkeit“ kritisierte.14 Elbogens Verweis auf die Komponisten der Klassik spiegelt die Ideale der zumeist städtischen bildungsbürgerlich-kulturellen Milieus, zu denen sich viele Juden mehr und mehr zugehörig fühlten. Diese Teilnahme an der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Gesellschaft ist genauso nachvollziehbar wie bemerkenswert, weil gleichzeitig die rechtliche und Alltagsemanzipation der Juden nur schrittweise vorankam und von Landesherren wie manchen örtlichen christlichen Nachbarn noch immer nach Kräften behindert wurde. Im Übrigen fanden beispielsweise auch in einigen protestantischen Kirchen deutscher Kleinstaaten um 1800 umfangreiche Reformen der Liturgie-Agenden statt, etwa in Preußen zwischen 1817 und 1821. Auch bei diesen waren neben christlich-theologischen Fragen Verbesserungen des musikalischen Ausdrucks in der Absicht der entsprechenden Initiative des Königs Friedrich Wilhelms III. Es ist wohl nicht falsch festzustellen, dass das Ideal einer Bariton-Stimme für den Liturgen und die entsprechende Anpassung der Orgelund Chorsätze in diesem Zusammenhang einen wichtigen Impuls erfuhren. Schon wenige Jahre zuvor, 1811, hatte sich der König sogar mit Fragen der Textilgestaltung der Talare für 12 Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1913, Reprint Hildesheim u. a. 1995, S. 509. Zu Sulzer vgl. auch: Tina Frühauf, Salomon Sulzer. Reformer, Kantor, Kultfigur, Berlin 2012. 13 Zu Ismar Elbogen vgl. u. a. den Artikel in der Deutschen Digitalen Bibliothek: https://www. deutsche-digitale-bibliothek.de/person/gnd/116446706, letzte Nutzung: 30.06.2022. 14 Elbogen, Der jüdische Gottesdienst, (wie Anm. 12), S. 507 f.

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Geistliche und Liturgen aller christlichen und der jüdischen Konfession in seinem Kleinstaat befasst.15 Diese herrschaftlichen Wunschvorstellungen mögen in der Vielfalt der jüdischen Gemeinden wohl nicht vollständig umgesetzt worden sein, aber die Abbildungen von vielen Kantoren und Rabbinern seither lassen annehmen, dass solche Diskussionen wiederum auch nicht gänzlich folgenlos geblieben sind. Auch bei solchen äußeren Details ging es um die Hebung der ästhetischen Qualität der Andacht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Hier wird nicht die Ansicht vertreten, dass die beschriebenen Entwicklungen der synagogalen Liturgie und Musik ein bloßes „Nachahmen“ von Impulsen aus christlichen Konfessionen waren. Gerade auch auf diesem Gebiet haben Juden auch in dieser Zeit eigenständige kreative Beiträge geleistet. Dass es Einflüsse aus der nichtjüdischen Umwelt gab, ist naheliegend und schmälert diese Beiträge nicht. Die vielen Neuerungen im jüdischen Kultus, die sich auch in den landesherrlichen und lokalen Vorschriften des 19. Jahrhunderts spiegelten, umfassten häufig sowohl echte Fortschritte in Richtung der rechtlichen Gleichstellung der Juden, als auch unverändert diskriminierende Elemente. Letzteres zeigt beispielsweise das beabsichtigte Verbot bestimmter Ernährungsweisen, also einer koscheren Lebensweise, im Alt-Meiningischen Judenpatent vom 5. Januar 1811.16 Die Übergänge von echten Fortschritten bei der Gleichstellung, über eine nur vordergründig kaschierte, pädagogisch-aufklärerische Attitüde hin zum offenen Antisemitismus waren bereits damals fließend. Für den Bereich des Gottesdienstes und damit der Tätigkeit von Kantoren nahm die Diskussion um den Gebrauch der deutschen Sprache breiten Raum ein, innerhalb und außerhalb der eigentlich betroffenen jüdischen Gemeinschaft. Beispielsweise mag man in der Judenordnung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach von 1823, die letztlich im Zuständigkeitsbereich eines Geheimen Rats Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ausgearbeitet wurde, in der Forderung des ausschließlichen Gebrauchs der deutschen Sprache im Synagogengottesdienst zurecht eine Diskriminierung der jüdischen Tradition erkennen.17 Andererseits sah der Landrabbiner des Großherzogtums, Dr. Mendel Heß (1807–1871), offenbar gerade in dieser radikalen Hinwendung zur deutschen Sprache ein Zeichen des Fortschritts. Ismar Elbogen kommentierte dies noch rund 100 Jahre später mit scharfen Worten:

15 Eine hinreichende Würdigung dieser Prozesse ist an dieser Stelle auch angesichts der umfangreichen Quellenlage zur Kirchengeschichte nicht möglich. Zur Person Friedrich Wilhelms III. vgl. bspw.: Hans Haussherr, Art. „Friedrich Wilhelm III.“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, S. 560–563, Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/sfz56984.html, letzte Nutzung: 30.06.2022. 16 Abgedruckt in: Schriften des Vereins für Sachsen Meiningische Geschichte und Landeskunde, Jg. 30, 1898, S. 129–136. 17 Vgl. bspw.: Gabriele Olbrisch, Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie. Landrabbinate in Thüringen 1811–1871, Hamburg 2001; Eva Schmidt, Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik und ihr Friedhof, Tradition und Gegenwart, (= Weimarer Schriften 8), Weimar 1984, S. 6.

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Der Landrabbiner Heß war von einem derart fanatischen Hasse gegen das überlieferte Judentum erfüllt, dass er die Regierung zu ihrem Vorgehen [dem Verbot des Hebräischen im Gottesdienst] ermutigte, obwohl sie gleichzeitig die rechtliche Stellung der Juden verschlechterte …18

Ein anderer, gleichsam gegenteiliger Fall trat ebenfalls 1823 in Preußen ein, als das königliche Kabinett jede Änderung jüdischer Gottesdienste verbot, einschließlich von Sabbatansprachen in deutscher Sprache (Predigten).19 Allerdings wurde diese Vorschrift nicht allzu streng sanktioniert und Ende 1839 berichtete die Allgemeine Zeitung des Judentums, dass in drei Gemeinden der preußischen Provinz Sachsen (nicht zu verwechseln mit dem Königreich dieses Namens) im Synagogengottesdienst deutsche Predigten gehalten würden: nämlich in Magdeburg, Nordhausen und Mühlhausen20 – die letzteren im heutigen Thüringen. Bei der Sanierung der Mühlhäuser Synagoge im Jahr 1998 fand man schließlich ein Exemplar des Buches Predigten in dem neuen Tempel in Hamburg gehalten von Dr. ­E[duard] Kley, Erste Sammlung aus dem Jahr 1819.21 Der erst zwei Jahre zuvor, 1817, gegründete Neue Israelitische Tempelverein mit dem Prediger Dr. Eduard Kley (1789–1867) in Hamburg gilt als eine der wichtigsten Reforminitiativen für den Synagogengottesdienst in dieser Hochzeit für solche Veränderungen oder „Regenerationen“.22 Freilich wäre es auch für den Thüringer Raum zu einfach, ab etwa 1800 pauschal von eher reformorientierten jüdischen Stadtgemeinden und von im konservativen Ritus verharrenden Landgemeinden zu sprechen. Beispielsweise wären in kleineren Orten der bereits erwähnte Rabbiner Hess in Stadtlengsfeld als eifriger, vielleicht sogar etwas übereifriger Gottesdienst-Reformer zu nennen, in anderen Fragen auch sein Rabbiner-Kollege Josef Hofmann (1806–1845) aus Walldorf23, nicht zuletzt der Kantor und Lehrer Hermann Aaron Ehrlich (1815–1879) aus Berkach. Auch ist der Einfluss auf die ländlichen Gemeinden und Privatsynagogen durch die Personen nicht zu unterschätzen, die wie der eingangs erwähnte Heinz Friedmann ihre Eindrücke aus der Meininger „Orgelsynagoge“ in die elterliche Privatsynagoge in Römhild mitbrachten. An hohen Feiertagen kamen dort außerdem Freunde aus den großen Städten hinzu, die zu den dortigen Synagogen mit liberalem Ritus gehörten.

18 Elbogen, Der jüdische Gottesdienst, (wie Anm. 12), S. 411. 19 Vgl.: ebd., S. 402. 20 Vgl.: Allgemeine Zeitung des Judentums, 3. Jg., 1839, 28.12.1839, S. 687. 21 Vgl.: Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen und die Mühl­ häuser Synagoge (= Mühlhäuser Beiträge, Sonderheft 11), Mühlhausen 1998, S. 65. 22 Elbogen, Der jüdische Gottesdienst, (wie Anm. 12), S. 402–410. 23 Vgl.: Bericht von Faibel Siegel aus Walldorf in: Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780–1945, hrsg. v. Monika Richarz, München 1989, S. 154–161.

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Zur Ausbildung und Tätigkeit jüdischer Kantoren bis in die 1930er Jahre Die nur grob umrissenen Entwicklungen der Rahmenbedingungen des Synagogengottesdienstes und die gestiegenen musikalischen Ansprüche der Mehrzahl seiner Teilnehmer machten in vielen Gemeinden qualifizierte Kantoren (Chasanim – wörtlich eigentlich „Aufseher“ der Synagoge) erforderlich. Nicht zuletzt blieb die reale Möglichkeit zu ihrer Anstellung (wie kann es anders sein) auch eine finanzielle Frage. Gemeinden, deren religiöses Leben bisher ausschließlich ehrenamtlich oder mithilfe von privaten Hauslehrern in den einflussreichsten Familien aufrechterhalten wurde, brauchten entsprechend qualifizierte Angestellte. Tatsächlich verschwand in ganz Preußen bis um 1870 der Beruf des jüdischen Privatlehrers fast völlig, den 1825 noch 5.700 Personen ausgeübt hatten.24 Währenddessen richteten selbst kleinere Gemeinden jüdische Elementarschulen oder zumindest regelmäßige Lehrstunden für den Religionsunterricht ein. Das Gesetz über die Verhältnisse der Juden im größten deutschen Kleinstaat, dem Königreich Preußen, vom 23. Juli 1847 gab auch den Rahmen für das Schulwesen und den Kultus vor. Oft konnte hierzulande in der jeweiligen religiösen Gemeinschaft nur eine einzige Anstellung finanziert werden. Nur zu häufig wurde diese dann zu einem großen Anteil mit kostenlosem Wohnrecht und Naturalien entlohnt.25 Zur Lehrtätigkeit kamen die hohen Erwartungen an die musikalischen Fähigkeiten dieses Wochentags-Pädagogen als Kantor am Schabbat und den Feiertagen hinzu. Beispielsweise fanden sich in den Ausschreibungen der Mühlhäuser Synagogengemeinde für die Stelle eines Lehrers und Kantors regelmäßig die Hinweise „besonders [auf ] die für einen geordneten Gottesdienst nöthige musikalische Bildung“ (1862) oder „Vorbeter (musikal[isch] gebildet)“ (1888).26 Dies waren ganz typische Erwartungen. Schon 1833 gab man in Mühlhausen beispielsweise eine negative Erinnerung zu Protokoll, dass der bis 1831 angestellte Kantor und Lehrer „nicht den mindesten Begriff von Musik“ gehabt hätte – der Unmut ist noch zwei Jahre später spürbar.27 Von den selten erfüllbaren Erwartungen schreibt auch 1882 Lion Wolff in seinen Kulturbildern vom jüdischen Lehrer: Der fähigste Schulmann ist oft ein recht schlechter Kantor, der unfähigste aber ein guter Sänger. […] Beiden wäre geholfen, wenn jeder ausschließlich in seinem Fache wirken könnte. So lange aber die kleinen und mittleren Gemeinden die Funktionen nicht trennen können, so lange müssen wir in beiden Fächern gutes zu leisten suchen. Der Beamte muß ein guter Lehrer sein, er muß aber auch mindestens ein besserer Chasan [Vorsänger] sein, als etwa ein Gemeindeglied, das sich zufällig darin versucht hat, sonst ist es mit der allgemeinen Liebe und Achtung geschehen.28

24 Vgl.: Andreas Brämer, Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Elementar- und Religions­ lehrer in Preußen 1823/24 bis 1871, Göttingen 2006, S. 134. 25 Ebd., S. 293, 296. 26 Allgemeine Zeitung des Judentums, 26. Jg., 1862, (08.07.1862), S. 384 und 52. Jg., 1888, (29.11.1888), S. 768. 27 Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen, (wie Anm. 21), S. 65. 28 Lion Wolff, Der jüdische Lehrer, sein Wirken und Leben: Kulturbilder aus der Gemeinde, Rostock 1882, S. 13, zitiert nach: Brämer, Leistung und Gegenleistung, (wie Anm. 24), S. 307 f.

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Aber eine abgestimmte Form der Ausbildung für jüdische Kantoren gab es in den deutschen Staaten bis zum beginnenden 21. Jahrhundert nicht. Bernhard Jacobsohn (1846–1925), ab 1874 Kantor an der Leipziger Hauptsynagoge, beschrieb 1912 in der Rückschau seine Ausbildung in Berlin wie folgt: „[…] zu meiner Zeit [war] die Vorbildung hierfür [für das Kantorat] noch nicht als besondere Disziplin im Lehrplan der Anstalt [Lehrerbildungsanstalt der jüdischen Gemeinde29] aufgenommen und schulmäßig behandelt worden, obgleich ein so gründlicher Kenner des Synagogengesanges wie [der Komponist und Chordirigent Louis] Lewandowski den Musikunterricht leitete. Nur höchst selten wurden diejenigen Zöglinge, die neben den erforderlichen Vorbedingungen auch Lust und Liebe zum Kantorfach zeigten, von ihm im Vortrage einzelner Synagogenweisen angeleitet und unterwiesen. Immer wieder wies er auf das Hören guter Kantoren und geschulter Sänger hin, wovon man am meisten lernen könne. Aber zu der notwendigen Schulung und Uebung kam es nicht, oder doch nur ganz vereinzelt. Die nur zu berechtigt gewesene Mahnung an die sich selbst überlassenen Zöglinge des Seminars zum ‚Hören‘, hieß aber nichts anderes, als den Gottesdienst der damaligen einzigen Gemeindesynagoge in der Heidereutergasse fleißig zu besuchen […] Es waren nur wenige, die sich in das Studium der Harmonie und klassischer Klavierwerke mit Eifer versenkten und etwas Tüchtiges leisteten. Aber diese Jünglinge konnten dies nur auf Kosten anderer Lehrfächer tun, was sie beim Abschluß der Seminarbildung bitter empfanden. – Dieser Schaden hätte leicht ausgeglichen, oder doch wesentlich verringert werden können, wenn solche Kandidaten des Lehramts zugleich eine einigermaßen praktische Vorbildung für das Kantoramt genossen hätten. Das war jedoch, wie bereits angedeutet, bedauerlicherweise nicht der Fall gewesen. Wer die erste Absicht hatte sich neben dem Lehrerberuf auch dem Kantorat zu widmen, der mußte durch fleißiges Studium, nach Beendigung der Seminarbildung, sich primitiv forthelfen.“30

Wohlgemerkt: Jacobsohn spricht bei seinem Lehrer nicht von irgendeinem Synagogenmusiker unter vielen, sondern vom berühmten Louis Lewandowski (1821–1894)31, dessen Kompositionen (darunter viele Chorsätze für Psalmen) schon zu Lebzeiten in vielen liberalen Gottesdiensten zu den Standards gehörten und bis heute in solchen Synagogen in Europa, Nordamerika, Südafrika oder Australien oft erklingen. Wie viele Kantoren, Religionslehrer und Rabbiner, darunter auch Lewandowski oder Elbogen, kam der Kantor Moritz Schoenlank (1830–1920) aus der Provinz Posen, die polnische Region Großpolen. Dort hatte Schoenlank ab dem Alter von vier Jahren den Cheder, die jüdische Elementarschule und traditionelle rabbinische Schulen besucht und in Gottesdiensten praktische Erfahrungen gesammelt. Nach Stationen in den Gemeinden 29 Offizielle Bezeichnung dieser Einrichtung: „Jüdische Lehrerbildungsanstalt in Berlin“; vgl.: Michael Holzmann, Geschichte der Jüdischen Lehrerbildungsanstalt in Berlin, Berlin 1909. 30 Bernhard Jacobsohn, Fünfzig Jahre Erinnerungen aus Amt und Leben, Berlin 1912, S. 19–21, zitiert nach: Brämer, Leistung und Gegenleistung, (wie Anm. 24), S. 239 f. 31 Vgl.: Jascha Nemtsov, Hermann Simon, Louis Lewandowski. „Liebe macht das Lied unsterblich!“, Berlin 2011.

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Landsberg an der Warthe und Mühlhausen kam er mit 34 Jahren an die Sondershäuser Synagoge, die schon 1826 mit Chormusik geweiht und bereits 1850 mit einem Harmonium ausgestattet worden war.32 Schoenlank arrangierte sich mit diesen Neuerungen, galt aber bis zuletzt in der Gemeinde als „ein Lehrer der alt-jüdischen Schule […], der es mit den religiösen Vorschriften sehr ernst nahm.“33 Auch der Ausbildungsweg des Berkacher Kantors Hermann Aaron Ehrlich (1815– 1879), von Dr. Mötsch in Meiningen und den Engagierten um die Berkacher Synagoge erforscht34, zeigt dieses teilweise improvisierte „Lernen in der Praxis“. Der junge Mann aus Gleicherwiesen erhielt dort vom christlich-protestantischen Dorfschullehrer zusätzlich Musikunterricht. Ehrlich konnte dann als einer der ersten Juden am ebenfalls noch jungen Lehrerseminar in Hildburghausen studieren. Als jüdischer Lehrer und Kantor arbeitete er in Bibra und später in Berkach. Von dort aus, weitab auch der jüdischen Zentren, aber mit weitem persönlichen Horizont, hielt er Kontakte zu Synagogenmusikern in entfernten Orten, er komponierte und gab von 1848 bis 1862 die Liturgische Zeitschrift zur Veredelung des Synagogengesangs mit Berücksichtigung des ganzen Synagogenwesens 35 heraus. Schließlich zeigt der Weg des Kantors und später auch als Rabbiner bezeichneten Michael Fackenheim (1828–1896), von 1861 an in der Mühlhäuser Gemeinde tätig36, die Bedeutung von Einrichtungen wie dem 1825 gegründeten Israelitischen Lehrerseminar in Kassel. Neben Fackenheim hatte es beispielsweise auch Rabbiner Dr. Josef Wiesen (1866– 1942), später in Eisenach, absolviert.37 Andere jüdische Lehrerbildungsanstalten gab es in unterschiedlichen Institutionsformen ab 1825 in Berlin und Münster, in Bad Ems ab 1847, in Hannover ab 1848, als Lehrerabteilung am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau ab 1856 oder als Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg ab 1864.38 Die landsmannschaftliche Herkunft der Bewerber auf Lehrer- und Kantorenstellen in Thüringen zeigt vergleichsweise zahlreiche Kandidaten aus den Provinzen Posen und Schlesien, aus dem bayerischen Franken und dem bis 1866 noch selbstständigen Kurhessen. Dies war insofern von Bedeutung, weil selbst die kleinen thüringischen Fürstentümer höchst seltene Bewerbungen von Landeskindern zu bevorzugen suchten. Das Abschlusszeugnis 32 Vgl.: Carsten Liesenberg, „Synagogenbau in den schwarzburgischen Fürstentümern von der Mitte des 18. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Sondershäuser Synagoge von 1826“, in: Juden in Schwarzburg, Bd. 1: Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs, hrsg. v. Schlossmuseum Sondershausen (= Sondershäuser Kataloge IV), Dresden 2006, 75–86, hier S. 82. 33 Rudolf David, Geschichte der Synagogengemeinde Sondershausen, Sondershausen 1926, S. 36 f; Carsten Liesenberg, „Jüdische Tradition und Ideale des deutschen Bürgertums. Der Kantor Moritz Schoenlank und seine Familie“, in: ebd., S. 165–174; Ders., Familie Schoenlank. Juden, Bürger und Sozialdemokraten aus Thüringen, hrsg. v. Schlossmuseum Sonderhausen (= Sondershäuser Kataloge X), Sondershausen 2013, S. 21–26. 34 Vgl.: Juden als Nachbarn in den Dörfern des Grabfelds, hrsg. v. Johannes Mötsch, Berkach 2009. 35 Vgl. das Digitalisat der Zeitschrift: https://archive.org/details/liturgischezeitschrift, letzte Nutzung: 30.06.2022. 36 Vgl.: Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen, (wie Anm. 21), S. 65. 37 Art. Dr. „Josef Wiesen“, in: Das biographische Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, hrsg. v. Michael Brocke u. Julius Carlebach München 2009, S. 655 f. 38 Vgl.: Brämer, Leistung und Gegenleistung, (wie Anm. 24), S. 169–225.

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des 20-jährigen Isaak Baumgart von der Bildungsanstalt für jüdische Lehrer Hannover vom Februar 1854 bestätigt den Eindruck, dass dort zwar auch Kenntnisse zu jüdischen Gebeten vermittelt worden waren, aber andere Fächer wie Religionskunde, hebräische Sprache oder auch Deutsch, Mathematik und Naturkunde wesentlich breiteren Raum einnahmen als die Anleitung zum Vorbeten in der Synagoge. Baumgart stammte aus Stadtlengsfeld, war also Untertan des Großherzogs in Weimar.39 Ab Anfang des 20. Jahrhunderts wichen gezwungenermaßen stark an den Grenzen der Kleinstaaten orientierte Gemeindeund Rabbinatsbezirke eher praktischen Aspekten wie der tatsächlichen räumlichen Nachbarschaft von Gemeinden.

Aspekte der synagogalen Musik im Thüringischen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Welche Entwicklungen der Synagogenmusik spiegelten sich ab dem 19. Jahrhundert in der lokalen Presse oder jüdischen Zeitungen? Von Interesse waren dabei natürlich Weihen von neuen oder umgebauten Synagogengebäuden. In der Kleinstadt Geisa in der Rhön wurde nach einem Stadtbrand am 7. September 1862 ein repräsentativer Synagogen-Neubau vom Landrabbiner Heß geweiht. Ein in den gedruckten Quellen nicht namentlich genannter Vorbeter sang die Liturgie. Am Anfang erklang das „Mah towu“ – „Wie schön sind deine Zelte Jaakov“, ein bekanntes Gebet mit Versen aus der Thora und verschiedenen Psalmen. Heute ist hiervon ein Chorsatz von Louis Lewandowski besonders bekannt. Vor dem Einstellen der Thora in den Schrein brachte 1862 der allgemeine Gesangverein des katholisch geprägten Rhön-Ortes im Wechsel mit der jüdischen Gemeinde Chorsätze zu den Psalmen 84, 150 und 24 zum Vortrag.40 Im Jahr 1875 beschloss der Vorstand der jüdischen Gemeinde in Nordhausen gegen das Votum des Rabbiners die Einführung verschiedener Neuerungen im Synagogengottesdienst, darunter die Einführung von Orgelbegleitung (vermutlich mit einem Harmonium, weil keinerlei bauliche Veränderungen erwähnt werden). Auch angesichts dieser aus seiner Sicht „unsinnigen Reformsucht“ verließ Rabbiner Dr. Samuel Auerbach (1827–1884) daraufhin die Gemeinde nach fast 20 Jahren.41 Nach dem aktuellen Forschungsstand waren alle frühen, architektonisch in Teilen bereits repräsentativen Neubauten, die gestalterisch schon äußerlich den Typus der Synagoge verkörperten, noch nicht mit Orgeln ausgestattet. Dazu sind die Gebäude in Sondershausen (1826), Erfurt (1840), Mühlhausen (1841), Aschenhausen (1843), Nordhausen (1845) 39 Vgl.: Hans Nothnagel, Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokal­ chroniken in sechs Bänden, Bd. 5, Suhl 1999, S. 38 f. 40 Programm abgebildet in: Festschrift 1175 Jahre Geisa, hrsg. v. Stadtverwaltung Geisa, Fulda 1992, S. 89. 41 Heinrich Stern, Geschichte der Juden in Nordhausen, Nordhausen 1927, S. 71; Art. „Dr. Samuel Auer­­bach“, in: Das biographische Handbuch der Rabbiner, Bd. 1, hrsg. v. Michael Brocke u. Julius Carlebach, München 2004, S. 159. Der Israelit, H. 34 (25.08.1875), S. 761 f.

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oder Berkach (1854) zu zählen. Sie erhielten im Einzelfall nachträglich ein Harmonium (in Sondershausen bereits 1850). Dieses fand oft hinter dem oberen Abschluss des Prospektes vom Thoraschrein, also abgeschirmt und auf Höhe der Emporen, oder auf einem Podest in der Männersynagoge seinen Platz. Bei den gründerzeitlichen Solitärbauten, von denen die teilweise bis heute gängigen Klischees von repräsentativen Synagogen mit Kuppeln, maurischen oder zumindest neuromanischen Stilelementen herrühren, können ebenfalls nicht in jedem Fall Orgeln nachgewiesen werden. In den meisten Fällen dürfte dann nachträglich ein Harmonium ergänzt worden sein. Zu dieser Gruppe sind insgesamt die Gebäude in Geisa (1862), Bleicherode (1882), Meiningen (1883, hier mit einer Orgel der Würzburger Werkstatt Schimmbach und Sohn), Erfurt (1884, mit Orgel), Eisenach (1885), Gotha (1904), Suhl (1906) und Arnstadt (1913, mit „Orgelklang“, vermutlich Harmonium) und eingeschränkt auch der umfassende Um- und Erweiterungsbau 1930 in Schmalkalden zu zählen. Orgel und Chor erforderten ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch im Judentum in sehr großen Gemeinden einen zweiten Typ des Kantors, ganz ähnlich dem Kantor und dem Organisten in christlichen Gemeinden. Hinweise auf solche Anstellungen in der Region Thüringen sind sehr selten.42 In der Regel übernahmen Mitglieder der Gemeinde solche Dienste am Instrument oder als Chorleiter. In Mühlhausen beispielsweise spielte die Frau des Kantors (Chasan bzw. Vorbeters) das Harmonium. Zu den Hohen Feiertagen wurden zusätzliche Vorbeter engagiert, oft Laien mit musikalischem Talent und guter Singstimme. Der Eindruck verfestigt sich, dass sich die Chormusik in liberalen Gottesdiensten in Thüringen zunehmender Beliebtheit erfreute. Die Synagogenweihe in Eisenach im Januar 1885 wurde vom neugegründeten gemischten Synagogenchor unter Kantor Jakob Heidungsfeld (1830–1897) mit dem Satz „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ aus dem 1803 erschienenen Liederzyklus Beethovens beendet.43 Psalm 30 erklang zur Weihe in Gotha 190444, in Suhl 1906 die Chorgesänge: „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ (Psalm 84), „Gesegnet sei wer da kommt, im Namen des Herrn“ und „Harre meiner Seele“. Die Arnstädter Synagoge wurde 1913 mit „Orgelklang“ (wohl Harmonium) und Gesangs­vorträgen der Psalmen 100 und 150 geweiht.45 Vom Chor erfährt man tragischer Weise im Zusammenhang mit einem Anschlag auf die Synagoge, den Ort der Probe für das Ensemble, nur ein Jahr später, im Juli 1914.46 Neben den populären liturgischen Gesängen von Sulzer, Lewandowski und anderen zeigen Kantoren wie Hermann Aaron Ehrlich in Berkach (1815–1879) oder der Rabbi42 Vgl. auch den Beitrag von Maria Stolarzewicz in diesem Band, S. 215–231. 43 Der Israelit, 26. Jg., 1885, Beilage Nr. 7, S. 118 f. 44 Vgl.: Allgemeine Zeitung des Judentums, 68. Jg. 1904, (27.05.1904); Fred Heilbrun, Gerhard Theis, „Geschichte der Eisenacher Juden“, Teil 1, in: Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von GroßBerlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, September 1970, S. 4 f. 45 Vgl.: Beilage „Der Gemeindebote“, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 77. Jg., 1913, (22.10.1913), S. 2. 46 Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 17. Jg., 1914, (10.07.1914), S. 3.

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ner Dr. Philipp Schoenberger (1856–1908) in Nordhausen47, dass auch in thüringischen Gemeinden Werke für die Synagogenmusik komponiert wurden. Ob das Schaffen von bekannten Kantoren des beginnenden 20. Jahrhunderts, etwa von Heinrich Fabisch (1866– 1941) im nahen Göttingen (Gesänge der Andacht. Deutsche Lieder für Synagoge und Schule, Frankfurt a. M. 1901) hier auf Resonanz stieß, wäre trotz wohl spärlicher Überlieferung zu überprüfen. Da es keine regionalen Reformgemeinden gab, ist davon auszugehen, dass deren 1928 bis 1930 aufgenommene Grammophon-Schallplatten zur Unterstützung der Synagogenmusik in kleineren Gemeinden im Thüringischen nicht verwendet wurden.48 Wie Überlebende der Schoa berichteten, erklangen bei der Trauerfeier für den 1936 verstorbenen Erfurter Rabbiner Dr. Max Schüftan Kompositionen Georg Friedrich Händels. Dies kann fast als ein Symbol für eine zu Ende gehende liberale jüdische Kultur unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelten.

Biographische Skizzen Den skizzenartigen, einordnenden Angaben zur Situation vor allem um 1930 und einiger ihrer Hintergründe folgt an dieser Stelle der Versuch, biographische Aspekte der 15 bekannten Angestellten jüdischer Gemeinden im Raum Thüringen aus dem gleichen Zeitraum in alphabetischer Reihenfolge kurz vorzustellen. Sie wurden entweder als Kantoren bzw. Chasanim explizit genannt oder es liegen für eine entsprechende Tätigkeit als Vorbeter Hinweise vor. Angaben zu ihren Vorgängern in den jeweiligen Gemeinden werden hier nur im Einzelfall bei entsprechenden inhaltlichen Bezügen angeführt. Gustav Frühauf (1884–1944) stammte aus Walldorf bei Meiningen und war Lehrer in der jüdischen Gemeinde in Bleicherode im Norden Thüringens. Nach allen Indizien wirkte er dort auch als Kantor in der 1882 fertiggestellten, vom jüdischen Architekten Edwin Oppler (1831–1880) entworfenen Synagoge. Frühauf gehörte 1938 zu den im Zusammenhang mit dem Pogrom in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppten Juden. Er verzog später nach Leipzig und Berlin, von wo aus er mit seiner Frau Ida, geborene Blum, 1943 nach Theresienstadt und anschließend im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Die konkreten Todesumstände dort sind nicht bekannt.49 Josef Grünstein, geboren 1866, arbeitete zunächst in Walldorf und Meiningen als Religionslehrer und Kantor, später bis Mitte der 1930er Jahre nur noch in Meiningen, wo er (wie oben erwähnt) neben der Synagoge wohnte. Nach der Deportation in das Konzentrationslager Buchenwald im Zuge des Pogroms 1938 gelang ihm und seiner Frau 47 Art. „Dr. Philipp Schönberger“, in: Das biographische Handbuch der Rabbiner, (wie Anm. 37), S. 553. 48 Vgl.: Die Musiktradition der jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, hrsg. v. Beth Hatefutsoth, Booklet und zwei CDs, Tel Aviv o. J. 49 Das Bundesarchiv, Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewalt­ herrschaft in Deutschland 1933–1945, https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, letzte Nutzung: 30.06.2022 (zzgl. Abgleich mit der Datenbank zu den Opfern der Schoa der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem).

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Meta, geborene Grünspecht, die Emigration in die USA, wohin auch die Söhne Herbert und Dieter kommen konnten. Josef Grünstein arbeitete dort nicht mehr als Kantor.50 Der Lehrer Abraham Heilbrunn, geboren 1874, wird in Arnstadt ab 1908 als Lehrer genannt, im Zusammenhang mit der Synagogenweihe 1913 auch als Kantor. Sein Geburtsort Spangenberg in Nordhessen lässt eine Ausbildung am jüdischen Lehrerseminar in Kassel vermuten. Die Angaben seiner zusätzlichen Zuständigkeit für die Ilmenauer jüdische Gemeinschaft nennen auch eine Qualifikation als Schächter. Im Alter von über 60 Jahren konnte er mit seiner Frau Lina, geborene Spangenthal, nach Erez Israel auswandern.51 Salomon Heilbrunn (1867–1948) wurde wohl nach der Schließung der jüdischen Volksschule in Barchfeld 1926 und dem Weggang ihres letzten Lehrers Leopold Weinberg nach 23 Jahren52 um 1930 in diesem Dorf an der Werra angestellt. Für die Gemeinde, die dem Provinzialrabbinat im hessischen Fulda zugeordnet war und spätestens seit den 1920er Jahren auch die Juden mit Wohnsitz in Bad Salzungen und Bad Liebenstein aufnahm, versah Heilbrunn den Dienst als Kantor und Religionslehrer. Mit seiner Frau Johanna, geborene Goldschmidt, lebte er Anfang 1948 in Lissabon.53 Der Lehrer Aaron Höxter (1892–1945) in Bibra wird nicht als Kantor oder Vorbeter genannt. Er lebte und arbeitete schon vor dem Ersten Weltkrieg und bis in die späten 1930er Jahre in der jüdischen Gemeinde dieses Dorfes. Als ehemaliger Frontsoldat stand er vor 1933 dem örtlichen Kriegerverein vor. Wegen der nur noch bescheidenen Größe der jüdischen Gemeinde in Bibra unterrichtete er auch jüdische Kinder aus der Umgebung, arbeitete als Schächter und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch als Vorbeter. Nach dem Wegzug nach Marburg/Lahn und Dresden wurde er mit seiner Frau Paula, geborene Sachs, in das Ghetto Riga und anschließend in das Konzentrationslager Stutthof deportiert, wo sie beide starben. Ihr in Bibra geborener Sohn Günther wurde aus seinem niederländischen Exil nach Auschwitz deportiert, wo er 1942 im Alter von 17 Jahren umkam.54 Vor 1933 sind ähnliche Bedingungen wie in Bibra bei den israelitischen Oberlehrern Siegmund Kahn (1877–1943) in Gehaus und Willy Katz (um 1860–1935) in Aschenhausen in der Rhön anzunehmen. Beide hätten sich wohl nicht als Kantoren verstanden, aber Vorbeter dürften sie zumindest zeitweise mit Sicherheit auch gewesen sein. Kahn in Gehaus stammte wiederum aus Aschenhausen. Seine Frau Selma, geborene Hofmann, aus dem benachbarten fränkischen Rhönort Kleinbardorf, und er wurden im Alter von 66 bzw. 42 Jahren im Frühjahr 1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert. Die Toch50 Vgl.: Blanka Weber, „Es gibt keinen Planeten B“, in: Jüdische Allgemeine, 75. Jg., 2020, (04.05.2020); Siegfried Wolf (wiss. Betreuung), Juden in Thüringen 1933–1945, biographische Daten, hrsg. v. Euro­­päi­­schen Kulturzentrum in Thüringen, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, Bd. 1 u. 2, Erfurt 1996, hier Bd. 1, S. 91. 51 Vgl.: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung, (wie Anm. 5), S. 374; Andrea Kirchschlager, „Die jüdischen Gemeinden in Arnstadt und Plaue“, in: Juden in Schwarzburg, (wie Anm. 31), S. 19– 34, hier S. 22; Wolfgang Tittelbach-Helmrich, Arnstadts jüdische Mitbürger, Arnstadt 1995, S. 59. 52 Vgl.: Der Israelit, 67. Jg., 1926, (18.11.1926), S. 6; Tausend Jahre Barchfeld (Werra), o. O. (Barchfeld), o. J. (1933), S. 86 u. 119. 53 Vgl.: Aufbau, 15. Jg., 1948, (06.02.1948), S. 35. 54 Vgl.: Das Bundesarchiv, Gedenkbuch, (wie Anm. 49).

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ter Edith veröffentlichte am 16. November 1945 eine Suchanzeige nach ihren Eltern. Sie lebte damals in einem Stadtviertel von Boston.55 Willy Katz lehrte seit 1889 an der 1876 eingerichteten, zweiklassigen, simultanen evangelisch-jüdischen Volksschule von Aschenhausen bis zu deren Auflösung. Seit 1926 im Ruhestand in Stadtlengsfeld, starb er 1935 in Frankfurt am Main.56 Der Oberlehrer Moritz (Moses) Levinstein (1884–1938) im thüringischen Themar war als Religionslehrer und Vorbeter auch für die Gemeinde mit 77 Mitgliedern und sieben Schulkindern in Schmalkalden zuständig, die administrativ eigentlich zur Provinz Hessen-­ Nassau und religiös dem Vorsteheramt der Israeliten zu Kassel zugeordnet war. Levin­ stein, der aus dem nordhessischen Sontra stammte und im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer gewesen war, nahm sich unmittelbar nach der Verschleppung nach Buchenwald infolge des Novemberpogroms 1938 das Leben. Sein Frau Nanette, geb. Mayer, die aus der Umgebung von Nürnberg stammte, konnte Deutschland noch 1941 verlassen und lebte bis 1990 im Staat New York in der Region am Ontariosee, wo sie im Alter von 101 Jahren verstarb.57 Der Vorbeter und Lehrer Abraham Levi (1857–1940), geboren in Braunschweig, aufgewachsen in Hannover, lebte spätestens seit Mitte der 1880er Jahre in Suhl. Eine pädago­ gische Ausbildung kann angenommen werden, auch der Sohn Max wurde später Mittelschullehrer. Weil Abraham Levi 1937 in den Ruhestand ging, blieb er wohl der einzige Liturg, der im zwischen 1906 und 1938 existierenden, repräsentativen Synagogenbau der Stadt im Thüringer Wald regelmäßig vorbetete. Während er noch vor den Deportationen in einem Ghettohaus in Suhl verstarb, kam seine aus Gleicherwiesen stammende Ehefrau Deborah, geborene Ehrlich, 1943 im Alter von 79 Jahren im Theresienstädter Ghetto ums Leben.58 Die Indizien lassen sich beim 1930 in Gotha genannten Kantor und Lehrer Joseph Liberles (1903–nach 1961) mittlerweile so weit verdichten, dass sich dieser mit einem Absolventen der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg identifizieren lässt. 1903 in der Nähe von Karlsruhe geboren, trat er erst kurz vor dem Jahr 1930 seine wohl erste Kantorenstelle in Gotha an. Warum er bereits zum 1. Oktober 1931 von dort als Oberkantor nach Ludwigshafen am Rhein wechselte, ist nicht bekannt. Eventuell spielten dabei auch die in der Gothaer Gemeinde seinerzeit besonders heftigen Konflikte zwischen den Mitgliedern aus länger ortsansässigen Familien und solchen mit osteuropäischem Hintergrund eine Rolle. Liberles’ Stimmlage wird als „wohlklingender Tenor“ beschrieben, die 55 Ebd.; Aufbau, 12. Jg., 1945, (16.11.1945), S. 27. 56 Vgl.: Willy Katz, „Entstehen und Vergehen einer jüdischen Landgemeinde“, in: Jüdische Wochen­ zeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck, 6. Jg., 1929, (19.04.1929), S. 254–256; Willy Katz, Person Nr. 19515, in: Kultur- und Geschichtsverein Stadtlengsfeld, https://www.kgv-stadtlengsfeld.com/ images/ortspersonenbuch/html/k.html, letzte Nutzung: 15.05.2020. 57 Vgl.: Das Bundesarchiv, Gedenkbuch, (wie Anm. 49); Sharon Meen, Stadt Themar, Juden in Themar, https://judeninthemar.org/de/nachkommenliste-von-meier-u-karoline-geb-eisenfresser-mayer, letzte Nutzung: 30.06.2022; Wolf, Juden in Thüringen 1933–1945, (wie Anm. 50), Bd. 2, S. 162 f. 58 Vgl.: Jüdisches Leben, hrsg. v. Stadtverwaltung Suhl, Suhl 2008, S. 51–54; Gedenkbuch, (wie Anm. 49); Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942 (= Quellen zur Geschichte Thüringens 39), hrsg. v. Carsten Liesenberg u. Harry Stein, Erfurt 2012, S. 218.

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Rezitation von Lewandowski-Kompositionen ist dokumentiert.59 Schon bald nach 1933 wurde Liberles kurzzeitig im Konzentrationslager Kislau bei Karlsruhe inhaftiert, im Sommer 1936 wanderte er mit seiner Familie in die USA aus. Die Anstellung als Kantor und Lehrer in den zumeist jungen liberalen jüdischen Gemeinden im Osten der USA gelang: Liberles wirkte bis um 1950 in Lynn bei Boston, anschließend in verschiedenen anderen Gemeinden in Massachusetts. Er studierte und promovierte an der Universität Boston. Seine Arbeit „Der ewige Geist“, eine Interpretation der Worte des Propheten Jeremia erschien 1946. Liberles wurde als Rabbiner ordiniert und wirkte unter anderem längere Zeit in Chicago.60 Der Eisenacher Kantor und Lehrer Robert Loewenthal (geboren 1898) stammte aus Berlin, wo er auch am Seminar der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studiert hatte. Wohl schon während der Weimarer Republik war er Kantor und Lehrer in der Eisenacher Gemeinde unter Rabbiner Dr. Josef Wiesen. Die liturgischen Formen des Gottesdienstes in der dortigen Synagoge wurden von Überlebenden als sehr liberal geschildert. Loewenthal verwitwete im Jahr 1932 und war später mit der in Leipzig geborenen Suse Loewenthal, geborene Katz, verheiratet. Seine Emigration in die USA gelang, wogegen seine gerade elfjährige Tochter Opfer der Schoa wurde.61 Ein Kommilitone Loewenthals am Berliner Seminar und auch persönlicher Freund, trotz gravierender Unterschiede in zentralen Fragen, vor allem der Einstellung zum Zionismus, war der Lehrer und Kantor Max Rosenau (1896–1963) in Mühlhausen. Er wirkte dort von 1924 bis 1938 auch als Prediger und (zumindest zeitweise) als Rabbinatsvertreter. Rosenau stammte aus dem niederschlesischen Striegau (heute Strzegom in Polen). Er studierte am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau und später an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, zum Teil berufsbegleitend, längerfristig unterbrochen vom Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg. Nach diesem entwickelte er sich bald zu einem, vor 1933 in Deutschland seltenen, überzeugten und leidenschaftlichen Zionisten. Vor allem diese Haltung und das daraus resultierende, starke Engagement unterschied ihn grundsätzlich vom erwähnten Freund Robert Loewenthal. Rosenaus Weg hatte ihn über Anstellungen an den niederschlesischen Gemeinden in Haynau und Görlitz nach Thüringen geführt. In der liberalen Liturgie fanden in Mühlhausen Sulzers und Lewandowskis Kompositionen Anwendung. Man achtete auf eine exakte, würdevolle Gestaltung des Gottesdienstes. Ehefrau Hertha Rosenau, geborene Schlesinger (1893–1980), spielte das Harmonium und zu Feiertagen gab es den Gesang eines kleinen Gemeindechors.62 Die Musikalität der Rosenaus zeigt auch der Einsatz von Schallplatten mit zionistischen Liedern im Hebräisch-Unterricht und das Musizieren im Familienkreis. Ostjüdische Klänge wie Klezmer tat man dagegen 59 Vgl.: Bayerisch Israelitische Gemeindezeitung, 11. Jg. (1935), München, (15.06.1935), S. 265. 60 Vgl.: Adreßbuch der Stadt Gotha, 65. Ausgabe 1930/31, Gotha 1930; S. 84 (Liberles ist nur in diesem Jahrgang als Einwohner verzeichnet); Der Israelit, 72. Jg., 1931, (05.11.1931); Bayerisch Israelitische Gemeindezeitung, 12. Jg., 1936, (15.08.1936); The Lafayette Journal Courier, Lafayette Indiana, USA, 42. Jg., 1961, (08.09.1961). 61 Vgl.: Das Bundesarchiv, Gedenkbuch, (wie Anm. 49); Wolf, Juden in Thüringen 1933–1945, (wie Anm. 50), Bd. 1, S. 360; Heilbrun, Theis, „Geschichte der Eisenacher Juden“, Teil 3, (wie Anm. 44), S. 3 f. 62 Vgl.: Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen, (wie Anm. 21), S. 66, 83.

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wie in vielen jüdischen Haushalten in Deutschland eher abfällig als „Katzengejammer“ ab. Max Rosenau wurde in der Pogromnacht 1938 durch einen Pistolenschuss lebensgefährlich verletzt. An den daraus resultierenden gesundheitlichen Beschwerden litt er bis an sein Lebensende. 1939 mit seiner Familie nach Erez Israel ausgewandert gelang ihm dort eine Anstellung als Kantor oder Rabbiner nicht. Liberale Gemeinden, vergleichbar mit jenen in Mitteleuropa vor 1933, sind dort bis heute sehr selten anzutreffen. In Erfurt wird für die große liberale Mehrheit der Gemeinde 1930 der Kantor und Lehrer Hermann Georg Schacher (1887–1943) genannt.63 Er stammte aus Berlin und war Vorsitzender der Ortsgruppe des Reichsverbandes jüdischer Frontkämpfer und Vorstandsmitglied in Gremien des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde er nach Buchenwald verschleppt. Außerdem erfüllte er zeitweise die undankbare Aufgabe des Sekretärs der Außenstelle der Bezirksstelle Sachsen-­ Thüringen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland in der Erfurter Johannesstraße, die die bedrängten Juden mit äußerst eingeschränkten Mitteln zu unterstützen suchte und zudem die staatlichen Repressalien bis hin zu den Deportationen organisatorisch vorzubereiten hatte. Hermann Schacher und seine Frau Hildegard, geborene Steinberg, aus Sondershausen stammend, wurden im März 1943 von Erfurt über Paderborn aus nach Auschwitz deportiert.64 Der Nordhäuser Kantor und Rabbinatsvertreter Kurt Michael Singer (1911–1938) starb im Alter von 27 Jahren nach dem Novemberpogrom in Buchenwald. Am 14. November 2020, das heißt am Tag unmittelbar nach Abschluss dieser Tagung, jährt sich sein Todestag zum 82. Mal. Die Überlieferung zu den Todesumständen Singers in Buchenwald unterscheidet sich in wenigen Details. Ein Mitgefangener aus der Nordhäuser Gemeinde schilderte eindrücklich die Verzweiflung des Häftlings Singer, die sich auch in religiösen Aspekten ausdrückt. Demnach „nahm sich [Singer] mit der Tefille [Gebetsriemen] in der Hand das Leben.“65 Er hatte erst 1936 das Nordhäuser Kantoren- und Lehreramt vom pensionierten Samuel Seelig übernommen, der es seit 1900 geführt hatte. Seeligs Schwiegervater David Warenheim wiederum war zuvor seit 1869 Kantor in Nordhausen gewesen. Schließlich befand sich Kurt Singer, der diese Kontinuität ortsverbundener Kantoren und Prediger in der Stadt am Harz fortsetzen wollte, auch im weiterführenden Studium zur Ordination zum Rabbiner. Dieses seit 1925 in Nordhausen nur noch kurzzeitig besetzte Amt nahm er in Vertretung bereits wahr. Auch Singers Vater starb 1938 in Buchenwald, seine Mutter wurde am 10. Mai 1942 mit der ersten zentralen Deportation aus Sachsen und Thüringen in den Distrikt Lublin im besetzten Polen verschleppt.66 63 Vgl. auch den Beitrag von Maria Stolarzewicz in diesem Band, S. 215–231, hier S. 216–223. 64 Vgl.: Das Bundesarchiv, Gedenkbuch, (wie Anm. 49); Wolf, Juden in Thüringen 1933–1945, (wie Anm. 50), Bd. 2, S. 108. 65 Das Bundesarchiv, Gedenkbuch, (wie Anm. 49); Manfred Schröter, Die Verfolgung der Nordhäuser Juden 1933 bis 1945, Bad Lauterberg im Harz 1992, S. 81, Augenzeugenbericht von Julius Feist. 66 Vgl.: Das biographische Handbuch der Rabbiner, (wie Anm. 37), S. 375, 380; Allgemeine Zeitung des Judentums, 37. Jg., 1873 (04.02.1873); Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942, (wie Anm. 46), S. 208; Heinrich Stern, Geschichte der Juden in Nordhausen, Nordhausen 1927, S. 71.

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Schließlich sei beim Skizzieren der Situation um 1930 der Kantor Israel Waldmann (um 1890 bis nach 1938) in Altenburg erwähnt. Die dortige Gemeinde bestand vor allem aus Familien mit osteuropäischem Hintergrund, somit gab es deutliche Unterschiede zum deutschsprachig-liberalen Ritus des Synagogengottesdienstes andernorts in Thüringen. Waldmann war im österreichischen Galizien, in Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk in der Ukraine) geboren und hatte auch in Stryj gelebt. Zusammen mit 51 Juden des Altenburger Landes wurde er am 28. Oktober 1938 nach Polen abgeschoben, wo seine Heimatregion damals lag. Der Überlebende Ingolf Strassmann beschrieb die Atmosphäre in der Altenburger Hinterhaussynagoge seiner Kindheit: So wurde im Betsaal gemäß ostjüdischem Brauch und der orthodoxen Tradition nachempfunden am Sabbat (Sonnabend) und an den jüdischen Feiertagen gebetet. […] Der eigentliche Kantor, genannt Chazan, war an den hohen Feiertagen Israel Waldmann aus Stryi. Seine sanfte, warme und ergreifende Stimme wurde gern gehört und geschätzt. Das Beisammensein im Betsaal frischte, wenn auch wehmütig, Erinnerungen an das Elternhaus und an die Jugendzeit auf. Es vermittelte den anwesenden jüdischen Kindern in Altenburg eine gewisse prägende Stimmung.67

Ausblick und Ausklang Der Eindruck von den Opfern und der Verfolgung ist auch beim Blick auf die kleine Gruppe der jüdischen Kantoren und Vorbeter in Thüringen stark, zumal bei einem Zeitschnitt Anfang der 1930er Jahre. Aufgrund der Analyse spärlich vorhandener Dokumente und Überlieferungen können allerdings einige Einblicke in die synagogale Musik und die ausübenden Musiker in Thüringen ermöglicht werden. Die Namen der jüdischen Kantoren und ihre zum Teil schwer rekonstruierbaren Lebensgeschichten und Aktivitäten werden dadurch wieder präsent. Aber auch in diesem Fall ist die Gefahr groß, von Juden nur in der Vergangenheit zu reden, statt echte Fragen zu stellen, unbeabsichtigt mit guter Absicht nur Bilder und Stereotypen zu bedienen. Darüber hinaus sollte man unbedingt anmerken, dass seit unmittelbar nach der Be­­ freiung 1945 auch in Thüringen jüdische Andachten mit gesungener Liturgie durch engagierte Vorbeter, Ausgebildete und Laien, stattfinden, und das trotz der zeitweise drohenden Auflösung der Gemeinde vor 1990. Hinter dem halbrunden oberen Abschluss des Thoraschrein-­Projektes der 1952 errichteten Erfurter Synagoge (einziger derartiger Neubau in der DDR) steht ein Harmonium. Es stammt aus der historischen Mühlhäuser Synagoge. In jüdischen Gemeinden gibt es heute vielfältige musikalische und andere künstlerische Aktivitäten. Die aktuelle Berichterstattung zur gegenwärtigen, zähen Pandemie seit 2020 thematisiert auch die Vermeidung des Singens der Liturgie in den Synagogen. Auch hier fehlt Menschen diese spezielle Form des gemeinsamen Ausdrucks und der Begegnung in der Musik. Kantoren, Kantorinnen und andere Vorbeter, ob Laien oder auch wenn Rab67 Ingolf Strassmann, Die Juden in Altenburg. Stadt und Land, Altenburg u. a. 2004, S. 17.

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biner diese Funktion übernehmen, erfüllen eine wichtige Mittlerfunktion. Die synagogale Musik bildet dabei ein zentrales Medium, auch für die Gemeindemitglieder, die größtenteils über keine musikalische Ausbildung verfügen. Zur Artikulation der religiösen Inhalte treten die emotionale Anteilnahme und ästhetische, nicht zuletzt musikalische Ansprüche. James A. Michener lässt in seinem 1965 erschienen Roman Die Quelle, der die Geschichte des Volkes Israel von den Anfängen bis in das erste Jahrzehnt des modernen Israel darstellt, einen israelischen Protagonisten die am Anfang dieses Beitrags erwähnte Schabbathymne Lecha dodi mit den Worten kommentieren: „Jeder Kantor hat seine eigene Version, und das ist auch ganz richtig so, denn es handelt hier um einen ganz persönlichen Ausdruck der Freude.“68 Diese Vielfalt in der Gegenwart sollte von Interesse sein, wenn man die historische Synagogenmusik hört.

68 James A. Michener, Die Quelle, München 1990, S. 522.

Maria Stolarzewicz

Lebenswege jüdischer Religionsbeamter aus Erfurt und Eisenach und ihre Aktivitäten im Bereich der Musik

Die Schicksale des letzten Kantors der Synagogengemeinde in Erfurt, Hermann Georg Schacher, des letzten Rabbiners der Israelitischen Religionsgemeinde zu Eisenach, Dr. Josef Wiesen, und ihre Verdienste um das musikalische Leben der Thüringer Gemeinden werden in diesem Aufsatz erörtert. Beide wirkten in den größten jüdischen Gemeinden Thüringens: Schacher in Erfurt (mit 815 jüdischen Einwohnern) und Wiesen in Eisenach (mit 350 jüdischen Einwohnern).1 Beide agierten als vollständig assimilierte Juden, welche nach den Novemberpogromen Deutschland nicht verließen und dann ermordet wurden. Ergänzt sollen diese Ausführungen um Anmerkungen zu den Biographien des letzten Erfurter Rabbiners, Peter Freund, und dessen Vater Ismar Freund, die nach der Internierung im KZ Buchenwald (1938) aus Deutschland flohen und später in Palästina Erinnerungen an Erfurt und Buchenwald verfassten, welche bisher unbekannt blieben. Die Recherchen zu diesem Aufsatz entstanden in der zweiten Phase des Forschungsprojektes Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche (2019– 2021). Diese hatte vor, die in der ersten Phase (2018–2019)2 angefangenen Forschungen über Lebenswege und Aktivitäten der mit Thüringen verbundenen verfolgten Musikerinnen und Musiker zu vertiefen und zu ergänzen. Die Forschungen umfassten grundsätzlich drei Gruppen von Künstlern: jüdische Berufsmusiker, Mitglieder der Lagerkapelle im Konzentrationslager Buchenwald und Repräsentanten des musikalischen Lebens der jüdischen Gemeinden in Thüringen mit besonderer Berücksichtigung von Kantoren und Rabbinern. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind in einer Wanderausstellung und einem Ausstellungskatalog dokumentiert.3 Auch Schacher und Wiesen werden in dieser Ausstellung vorgestellt. Aus strategischen Gründen – die Inhalte der Ausstellung werden in einer komprimierten Form zum Ausdruck gebracht – konnten das Leben und die Aktivitäten dieser wichtigen Persönlichkeiten nicht in angemessenem Umfang dargestellt werden.4 1

Vgl. dazu: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932/33, hrsg. v. Zentralwohlfahrtstelle der deutschen Juden, Berlin 1933, S. 117 f und 373. 2 Vgl.: Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, hrsg. v. Helen Geyer u. Maria Stolarzewicz (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 16), Köln u. a. 2020. 3 Maria Stolarzewicz, Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II. Be­ gleitheft zur Ausstellung, Weimar 2022. 4 Der vorliegende Text basiert auf folgendem Aufsatz: Maria Stolarzewicz, „Musik, Kultur, Gelehrsamkeit und Vernichtung – Verfolgte jüdische Kultusbeamte im nationalsozialistischen Thüringen“, im Band der Tagung: Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt. Kultur  – Musik  – Gelehrsamkeit, 18.– 19. November 2021 in Halle (Saale), i. Dr.

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Hermann Georg Schacher – der letzte Kantor und Religionslehrer der Synagogengemeinde zu Erfurt Hermann Georg Schacher5 wurde in Berlin geboren, wo er auch seinen Bildungsweg bestritt. Er absolvierte ein Lehrerseminar und eine Dolmetscher-Schule, in der er sich auf Französisch und Türkisch spezialisierte. 1907–1909 besuchte er die liberale Jüdische Lehrerbildungsanstalt Berlin, eine Einrichtung der Berliner Jüdischen Gemeinde. Sie vermittelte ihm die Grundlagen für seine spätere Tätigkeit als Kantor und Religionslehrer und wird hier deswegen näher dargestellt. Die Lehrerbildungsanstalt6 wurde im Oktober 1859 mit dem Ziel eröffnet, die Qualität des jüdischen Schulwesens in Deutschland zu verbessern. Sie bildete jüdische Elementarlehrer, Religionslehrer und Vorbeter aus. In ihrem vielfältigen Curriculum bot sie neben Hebräisch, Deutsch, Pädagogik und Turnen auch musikalische Fächer, wie etwa Gesang, allgemeine Musiklehre, Klavier, Violine und Synagogengesang an. Ihrem Lehrkörper gehörte eine im Bereich der jüdischen liturgischen Musik durchaus ausschlaggebende Persönlichkeit an: Der berühmte Reformer der synagogalen Musik Louis Lewandowski (1821–1894)7 unterrichtete dort seit der Entstehung der Schule bis zu seinem Tod. Hermann Schacher begann sein Studium an der Lehrerbildungsanstalt mehrere Jahre nach Lewandowskis Tod. Sein Musiklehrer war Kantor und Pianist William Wolf (1838– 1913).8 Schacher kannte aber Lewandowskis Kompositionen und führte sie in der Erfurter Synagoge auf, worüber die Zeitschrift das Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt mehrmals berichtete (s. u.). Bis zu Schachers Anstellung in Erfurt im Jahre 1927 ist über ihn nichts überliefert. Am 28. Juni 1927 kam er in die Stadt,9 um am 1. Juli seine Tätigkeit als „Kantor, Vorbeter, Religionslehrer der Synagogen-Gemeinde zu Erfuhrt“ aufzunehmen.10   5 Hermann Georg Schacher, 30.07.1887, Berlin – 02.03.1943, Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz. Auch seine Frau Hildegard (geb. Steinberg, 16.07.1905, Sondershausen) wurde am gleichen Tag deportiert. Vgl. dazu: Art. „Schacher Hermann“, in: Siegfried Wolf (wiss. Betreuung), Juden in Thü­­ ringen 1933–1945, biographische Daten, hrsg. v. Europäischen Kulturzentrum in Thüringen, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, 2 Bde., Erfurt 2002, hier Bd. 2, nicht paginiert; Jutta Hoschek, Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945. Biographische Dokumentation, Erfurt 2013, S. 386 ff; Olaf Zucht, Geschichte der Juden in Erfurt, Erfurt 2001, S. 247 f.   6 Michael Holzmann, Geschichte der Jüdischen Lehrerbildungsanstalt in Berlin, Berlin 1909, S. 169.   7 Zu Lewandowski vgl. die Anm. 23.   8 William Wolf, 02.04.1838, Breslau – 08.01.1913, Berlin, war als Kantor an der Alten Synagoge in der Heidereutergasse und als Chordirektor an der Kaiserstraßen-Synagoge in Berlin tätig. Er war auch Pianist, Klavierlehrer und Schüler des Berliner Klavierpädagogen Theodor Kullak (1818–1882). Ab 1894 unterrichtete er Musik und musikalische Liturgie an der Berliner Lehrerbildungsanstalt. Er verfasste auch zahlreiche musikwissenschaftliche und musikästhetische Beiträge. Vgl. dazu die Internetpublikation des Verlags Merseburger Berlin GmbH: https://merseburger.de/autor/wolf-william/, letzter Zugriff: 30.06.2022.   9 Vgl.: Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt, Nr. 136, 20.05.1927, (im Folgenden: Wochenblatt). 10 Gemeindenachrichten, in: Wochenblatt, Nr. 142, 01.07.1927, S. 328.

Lebenswege jüdischer Religionsbeamter aus Erfurt und Eisenach

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Schacher war in mehreren Bereichen des Gemeindelebens aktiv. Er war als Religionslehrer tätig, regelte organisatorische Fragen des Unterrichts und wirkte auch in vielen jüdischen Organisationen und Vereinen mit. 1929 ernannte man ihn zum Vorsitzenden der Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Im April 1930 wurde er stellvertretender Vorsitzender des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur in Erfurt,11 1931 Vorstandsmitglied des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e. V., Ortsgruppe Erfurt. Schacher war auch einer der Initiatoren des 1930 gegründeten Schachklubs Dr. Lasker. Im August 1933 begann er, Fremdsprachkurse in der Gemeinde zu organisieren, im Jahr 1938 übernahm er die Verantwortung für das jüdische Beerdigungswesen in Erfurt. Schacher war auch Mitglied im Bezirksverband Südsachsen-Thüringen für jüdische Wohlfahrtspflege und Wanderfürsorge.12 Schachers Mitgliedschaft im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und im Central-­ Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens lassen sich als Zeugnis seiner politischen und patriotischen Gesinnung begreifen. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten wurde am 8. Februar 1919 von jüdischen Veteranen ins Leben gerufen. Das Ziel seiner Mitglieder war es, der antisemitischen Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg entgegenzuwirken und den patriotischen Einsatz der Juden während des Krieges publik zu machen. Dass Schacher sich in diesem Verein engagierte, lässt vermuten, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens13 wurde 1893 mit dem Ziel gegründet, den erstarkenden Antisemitismus im Kaiserreich zu bekämpfen sowie die Rechte und die gesellschaftliche Gleichberechtigung der jüdischen Bürger zu fördern. Es war die größte und bedeutendste politische Organisation der Juden im Deutschen Reich. Im Verein versammelten sich assimilierte Juden, die eine bürgerlichliberale Position einnahmen. Sie lehnten den Zionismus ab, befürworteten hingegen die Teilnahme der Juden am Ersten Weltkrieg.14 Weder seine Beteiligung am Ersten Weltkrieg noch seine Assimilation konnten Hermann Schacher vor der Verfolgung und Ermordung im 3. Reich retten. Wie die meisten jüdischen Männer in Erfurt wurde er am 9. November 1938 verhaftet und am 10. Novem-

11 Dieser Verein wurde in Erfurt 1898 gegründet. Weiteres darüber vgl.: Das Schreiben des Rabbiners Moritz Salzberger zur Gründungsgeschichte des Vereins, in: Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum (im Folgenden: CJA), 1 A Er 1–14: Satzungen des Vereins für Geschichte und Literatur des Judentums in Erfurt von 1898. 12 Der Verband wurde 1928 gegründet und dessen Zentrale befand sich in Erfurt, nach: Hoschek, Aus­ gelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 504. 13 Vgl.: Rebeka Denz u. Tilmann Gempp-Friedrich, „Einführung in den Themenschwerpunkt: Deutschjüdische Geschichte im Spiegel des Centralvereins“, in: Medaon 13 (2019), 25, Online-Ausgabe: http://www. medaon.de/pdf/medaon_25_denz_gempp-friedrich_einfuehrung.pdf, letzter Zugriff: 30.06.2022; Avraham Barkai, Wehr Dich. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002. 14 Vgl. auch: Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, S. 570; Ders: „Jüdische Akkulturation in Deutschland?“, in: Verfolgte Musiker im national­ sozialistischen Thüringen, (wie Anm. 2), S. 21–46.

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ber 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert. Am 2. Dezember 1938 wurde er entlassen und kam nach Erfurt zurück.15 Dort wirkte er vom 11. März bis Juli 1939 als Sekretär der Synagogengemeinde Erfurt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er damals mit Blondina Schüftan (1887–1942)16, der Frau des 1936 verstorbenen Erfurter Rabbiners Max Schüftan17, eng zusammengearbeitet hat. Nach der Brandzerstörung der Großen Synagoge am 9. November 1938 wurde nämlich ihre Wohnung (in der Friedrichstraße 13) zum Sitz des Gemeindebüros, zum Treffpunkt der Gemeindemitglieder und zur provisorischen Synagoge. Von Juli 1939 bis zu seiner Deportation nach Auschwitz im März 1943 war Schacher bei der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland als Sekretär der Verwaltungsstelle Erfurt der Bezirksstelle Sachsen/Thüringen tätig.18 Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland wurde infolge der Zehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939 gegründet. Alle jüdischen Gemeinden und Organisationen wurden kraft dieser Verordnung aufgelöst. Die Reichsvereinigung war dem NSStaat untergeordnet und die Mitgliedschaft in ihr war für alle obligatorisch, die laut den Nürnberger Gesetzten als Juden galten. Für den NS-Staat bildete die Reichsvereinigung eine Hilfsorganisation, welche die antijüdische Politik und die bürokratische Kontrolle der jüdischen Bevölkerung erleichterte. Nach Beginn der Deportationen im Oktober 1941 war die Reichsvereinigung dazu gezwungen, diese Maßnahmen organisatorisch zu unterstützen. Hermann Schacher versuchte gemeinsam mit seiner Frau, im September 1939 in die USA zu fliehen, was ihnen nicht gelang. Die Gründe dafür sind nicht dokumentiert. Er musste dagegen seine Aufgaben für die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland erfüllen und auch die ersten beiden Deportationen der Juden aus Thüringen mitorganisieren. Die erste Deportation fand am 9. und 10. Mai 1944 statt. 513 Menschen aus verschiedenen Orten Thüringens wurden in das Ghetto Bełżyce verschleppt. Die zweite Deportation mit 363 Menschen ging nach Theresienstadt. Hermann Schacher und seine Frau wurden Opfer der dritten Deportation, die am 2. März 1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager 15 Vgl.: Veränderungsmeldungen zu Gefangenen im KZ Buchenwald, Männer 1938/1.1.5.1/5278099 und 5278188/ITS Digital Archive, Arolsen Archives. 16 Blondina Schüftan wurde Opfer des gleichen Transports wie Schacher und dessen Frau. Vgl. auch: Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 403–406; Artikel über Blondina Schüftan auf der Internetseite Jüdisches Leben Erfurt, https://juedisches-leben.erfurt.de/jl/de/heute/erfurter_gedenken/orte/index.html; Hörstolpersteine, https://hoerstolpersteine.net/blondina-schuftan-erfurt/, letzter Zugriff: 30.06.2022. 17 Dr. phil. Max Schueftan (Schüftan), 27.03.1887, Königstein bei Namslau/Namysłów, (heute Polen) – 26.03.1936, Erfurt. Ab 1907 studierte Schüftan am Jüdisch-theologischen Seminar und an der Universität Breslau. In Erlangen wurde er 1913 mit der Arbeit Die Begriffe ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ in Kants Inauguraldissertation und der Kritik der reinen Vernunft promoviert, im Januar 1917 bekam er das Rabbinerdiplom. 1917–1918 war er als Assistenzrabbiner in Düsseldorf, 1918–1924 als Rabbiner in Görlitz tätig. Von 1923 bis zu seinem Tod wirkte er als Rabbiner in Erfurt. Vgl.: Art. „Dr. Max Schüftan“, in: Biographisches Handbuch der Rabbiner, hrsg. v. Michael Brocke u. Julius Carlebach, T. 2, München 2009, S. 556; Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 2, nicht paginiert. 18 Vgl. dazu auch Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 521.

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Auschwitz führte.19 Schachers Deportation hing sicherlich mit dem Umstand zusammen, dass im März 1943 alle volljüdischen Angestellten der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland durch „in privilegierter Mischehe“ Lebende ersetzt wurden. Da auch Schachers Frau eine „Volljüdin“ war, konnten beide einer Deportation nicht entkommen.

Hermann Schachers musikalische Aktivitäten in Erfurt, rekonstruiert aufgrund der Analyse der Zeitung Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt 20 Hermann Georg Schacher war ein Kantor, dem die jüdischen Reformbestrebungen und der von Louis Lewandowski modernisierte Gottesdienst bekannt waren. Auch in der Synagogengemeinde zu Erfurt wurde ein reformierter Gottesdienst ausgeübt. Dessen Einführungsgeschichte soll hier kurz dargestellt werden, weil sie als Beispiel für Reformbestrebungen im Bereich des jüdischen Gottesdienstes im 19. Jahrhundert gelten kann und einen wichtigen Kontext für das musikalische Leben jüdischer Gemeinden in Thüringen am Anfang des 20. Jahrhundert bildet.21 Die ersten Spuren des Reformwillens in der Erfurter Synagogengemeinde machen sich schon kurz nach ihrer Formierung am Anfang des 19. Jahrhunderts bemerkbar, als die erste neuzeitliche Synagoge in Erfurt (heute die Kleine Synagoge, Standort: An der Stadtmünze 5) gebaut wurde.22 Der Magdeburger Reformrabbiner und Herausgeber der All­ gemeinen Zeitung des Judentums, Ludwig Philippson (1811–1889), wurde damals gebeten, diese Synagoge einzuweihen. Bei der Zeremonie verwendete er moderne Elemente: Die Festpredigt hielt er in der deutschen Sprache und der musikalische Teil der Feier bestand u. a. aus einem Duett und einem Chor. Im Dezember 1883 richteten die Erfurter Gemeindegremien eine außerordentliche Kultuskommission ein. Diese beschloss am 28. Juli 1884 eine reformierte Gottesdienstordnung. Neben den hebräischen Elementen in der Liturgie schrieb sie als neue Elemente eine deutsche Predigt, die Begleitung des kantoralen Gesangs durch eine Orgel sowie einen 19 Vgl.: Deportation und Ermordung der Thüringer Juden 1942–1945, hrsg. u. erarbeitet v. Landeshauptstadt Erfurt, Annegret Schüle u. dem Ausstellungsteam, Erfurt 2013. 20 Das Periodikum erschien zwischen 1925 und 1933 in der Regel freitags. Herausgeber der Zeitschrift war Leo Kamnitzer (1880–1935), Mitinhaber der Gutenberg Druckerei in Erfurt. 21 Über die Reformen des jüdischen Gottesdienstes vgl. etwa: Caesar Seligmann, Geschichte der jüdi­ schen Reformbewegung von Mendelssohn bis zur Gegenwart, Frankfurt  a. M. 1922; Ismar Ellbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 21924; Abraham Zvi Idelsohn, Jewish Music. Its Historical Development, New York 1929; Heinz Mosche Graupe, Die Ent­ stehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden, Hamburg 21977; Michael A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, New York u. a. 1988 (dt. Übersetzung: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Köln u. a. 2000); Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918, (= Enzyklopädie der deutschen Geschichte 16) München 1994; Tina Frühauf, Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur, Hildesheim 2005. 22 Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Erfurt vgl.: Zucht, Geschichte der Juden in Erfurt, (wie Anm. 5).

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gemischten Chor vor. Die Erfurter Synagoge wurde daher mit einer Orgel ausgestattet und ein Organist sowie ein Chordirigent wurden eingestellt. Der damalige Erfurter Kantor Joseph Rothschild (1842–1924) wurde nach Berlin gesandt, um den Gottesdienst des berühmten Louis Lewandowski (1821–1894)23 in der Neuen Synagoge (Oranienburgerstraße) zu visitieren und dessen Neuerungen, wie etwa den Einsatz des gemischten Chors und die Begleitung durch die Orgel, nach Erfurt zu bringen.24 Die von den Erfurter Gemeindegremien damals beschlossene Reform des Gottesdienstes bestand bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. *** Schacher nahm seine Tätigkeit in Erfurt am 1. Juli 1927 auf.25 Wenige Tage später heißt es im Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt, dass Schacher „einen neuzeitlichen Synagogenchor zusammenstellen“ wolle.26 Zwei Wochen später berichtet die Zeitung, wie sich Schacher die Arbeit des Chores vorstellte: „1. Beschäftigung nicht nur mit synagogaler, sondern auch mit modern-jüdischer und allgemein-weltlicher Musik. 2. Veranstaltung musika­ lischer Abende. 3. Mitwirkung bei Festen und Veranstaltungen jüdischer Körperschaften Erfurts.“27 Die gleiche Ausgabe des Wochenblatts informiert auch darüber, dass Schacher eine Arbeitsgemeinschaft zur Pflege jüdischer Musik gründete.28 Ob der Verein diese Idee später wirklich in die Tat umsetzte, ist nicht überliefert. Aus weiteren Zeitungsberichten erfährt man aber, dass sich Schachers musikalische Aktivitäten auf die bereits genannten Bereiche konzentrierten. Hermann Schacher wirkte auch bei „Festen und Veranstaltungen jüdischer Körperschaften Erfurts“.29 1928 etwa organisierte er gemeinsam mit dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten das Chanukafest.30 Das Wochenblatt berichtet darüber: Ein wohlgelungenes Chanukafest veranstaltete […] der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten […]. Dank den Bemühungen des Vorstandes und des Vergnügungsausschusses nahm der Abend einen

23 Zu Lewandowskis Erneuerungen auf dem Gebiet der jüdischen liturgischen Musik vgl.: Aron Fried­ man, Lebensbilder berühmter Kantoren, T. 1, Berlin 1918, S. 111–130; Jascha Nemtsov, Hermann Simon, Louis Lewandowski. Liebe macht das Lied unsterblich, Berlin 2011; Martha Stellmacher, Orgel ad libitum. Einblicke in die Musik der Reformsynagogen am Beispiel der Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki, Hannover 2015. 24 Entsprechende Dokumente befinden sich in: CJA, 1 A Er 1, Nr. 9: Kultuskommission. 25 Vgl.: Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 142, 01.07.1927, S. 328. 26 Gemeindenachrichten, in: Wochenblatt, Nr. 143, 08.07.1927, S. 328. 27 Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 144, 15.07.1927, S. 342. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 „Chanukka (hebr. Weihung), achttägiges Fest, an dem die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem durch die Makkabäer im Jahr 167 v. u. Z. (und damit auch das Überleben des jüdischen Glaubens) gefeiert wird“, nach: Andreas Nachama, Walter Homolka u. Hartmut Bomhoff, Basis­ wissen Judentum, Wien 2015, S. 624.

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schönen Verlauf. Frau Seller31, Fräulein Arkusch32 und Fräulein Tuch33, sowie Herr Kantor Schacher erfreuten die Anwesenden durch musikalische Darbietungen. Tanz und Überraschungen hielten die Gäste bis früh in guter Stimmung beisammen. […] Der wochenlangen mühevollen Arbeit von Frau Dr. Schüftan34 und Herrn Schacher war das volle Gelingen des Festes zu danken.35

Im Juni 1932 wurde das 75-jährige Jubiläumsfest des Chewra kadischa (hebr.-aram. ḥevra kaddisha; heilige Bruderschaft, heilige Gesellschaft)36 gefeiert. Aus dem Bericht des Wochen­ blatts erfährt man: Das 75jährige Jubiläumsfest der Chewra kadischa und des Israelitischen Frauenvereins,37 das am letzten Sonntag in der Synagoge stattfand, gestaltete sich zu einer erhebenden Feier. Nach einem Chorgesang aus dem Oratorium „Judas Makkabäus“ von Händel würdigte der Vorsitzende der Gemeinde, Herr Siegfried Pinthus, die Verdienste der Chewra kadischa und des Israelitischen Frauenvereins und brachte den beiden Vereinen die besten Wünsche für die Zukunft dar. Darauf sang der Chor mit einem Solo des Herrn Kantor Schacher das Heje im pifijaus von L. Lewandowsky38. Es folgte die Festrede des Herrn Dr. Schüftan. […] Nach einem Sopransolo von Bach, das von Fräulein Melitta Baumgardt39 andachtsvoll gesungen wurde, dankte der Vorsitzende der Chewra, Herr Dr. Oppenheim, 31 Gertud Seller, geb. David, 20.09.1906, Erfurt – Sterbedatum unbekannt. Am 10.01.1939 meldete sie gemeinsam mit ihrem Mann Siegfried (1899 – Sterbedatum unbekannt) die Auswanderung nach Panama an. Nach: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 2, nicht paginiert. 32 Wahrscheinlich Hertha Berg, 30.09.1904, Dirschau – Sterbedatum unbekannt, ist nach Lettland ausgewandert, nach: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 12. 33 Susanne Tuch, geb. Cohn, 09.05.1900, Frankfurt Oder – 01.03.1943 Transport in das Konzentra­ tions- und Vernichtungslager Auschwitz, Sterbedatum unbekannt. Susanne Tuch wohnte in den 30er Jahren in Erfurt, dann in Dresden, ihr letzter Wohnsitz war Berlin-Charlottenburg. Nach: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 2, nicht paginiert. 34 Vgl.: Anm. 16. 35 Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 218, 1928, S. 108. 36 Israelitischer Wohltätigkeitsverein Chewra Kadischa Erfurt wurde in Erfurt am 21.12.1856 als Begräbnisverein gegründet. Später wirkte er aber auch im Bereich der Wohltätigkeit. Dem Verein gehörten fast alle männlichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde an. Nach: Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 509. 37 Der Israelitische Frauenverein Erfurt wurde 1856 gegründet. Von Anfang an arbeitete er mit dem Verein Chewra Kadischa zusammen und befasste sich vor allem mit wohltätigen Aktivitäten sowie mit der Organisation von kulturellen und Bildungsveranstaltungen, vgl.: Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 509. 38 Wahrscheinlich aus Lewandowskis Sammlung Kol Rinnah u T’fillah. In der zweiten Auflage dieser Sammlung von 1882 ist es die Komposition Nr. 190. Heye im pifiyot sheluḥe amekha bet Yisra’el (hebr.: [Gott,] bewahre den Mund der Abgesandten Deines Volkes Israel) ist ein Piyut, der zu den Festen Rosch ha-Schana und Jom Kippur gesungen wird. Er ist ein Flehen des Kantors an Gott, ihn als Repräsentanten der Gemeinde anzuerkennen, vgl.: Joseph B. Soloveitchik, Festival of Freedom. Essays on Pesah and the Haggadah, New York 2006, S. 152. 39 Melitta Baumgardt, 13.08.1891, Erfurt – 1979 oder 1980, Haifa. Melitta Baumgart war eine Sängerin, 1934 ist sie nach Palästina ausgewandert, am 01.01.1941 wurde sie ausgebürgert, nach: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 27. Ihr Bruder, Prof. Dr. David Baumgardt (1890–1963), war

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im Namen beider Vereine für die Würdigungen und Glückwünsche. Das Hallalujah (Psalm 150)40 schloss die festliche Feier.41

Schacher war gemäß seiner Funktion und Ausbildung als Lehrer tätig, allerdings nicht nur in der Schule. Er erteilte Gesangsunterricht, was eine Anzeige im Wochenblatt vom 11. November 1927 belegt. Am 28. Januar 1931 hielt er einen Vortrag über die religiöse Musik. Das Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt berichtet darüber wie folgt: Herr Kantor Schacher verstand es in hervorragender Weise in knapper Form den Begriff der religiösen Musik im Gegensatz zu Synagogalem herauszuschälen. Durch Vortrag verschiedener Arien und Lieder von Händel, Haydn, Mendelssohn, Lewandowsky und Schumann gelang ihm dies vortrefflich, und durch seine herrliche Stimme begeisterte er die Zuhörer, die ihren Dank durch lebhaften Beifall kundtaten. Frau Gertrud Grünwald, die als besonders gute Pianistin bekannt ist, hatte die schwierige Begleitung übernommen. Sie wurde dieser Aufgabe in vollem Maße gerecht, es wäre zu wünschen gewesen, daß ihr für diese bedeutende Leistung ein besseres Klavier zur Verfügung gestanden hätte. – Da Frau Dr. Grünwald42 die Veranstaltung selbst leitete, blieb der offizielle Dank, der den Künstlern gebührte, fort. Wir glauben, daß wir im Sinne aller Anwesenden handeln, wenn wir ihn hier nachholen und Herrn Kantor Schacher und Frau Gertrud Grünwald für diesen genußreichen Nachmittag recht herzlich danken.43

Hermann Schacher nahm auch an Konzerten teil, die einen weltlichen Charakter hatten. Am 25. März 1931 etwa fand ein musikalischer Nachmittag statt, dessen Programm Arien aus unterschiedlichen Opern enthielt. Ein Wohltätigkeitskonzert, das Schacher gemeinsam mit Melitta Baumgardt, Gertrud Grünwald, Manfred Malsch44 und Erich Markowitz45

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ein Philosoph, vgl. dazu: die David Baumgardt Collection auf der Internetseite von Center for Jewish History: https://archives.cjh.org/repositories/5/resources/11080, letzter Zugriff: 31.07.2022. Wahrscheinlich von Louis Lewandowski. Lewandowskis Psalm 150 für einen vierstimmigen Chor und die Orgel erklang 1866 bei der Einweihung der Synagoge in der Oranienburgerstraße in Berlin. Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 401, 17.06.1932, S. 262. Gertrud Grünwald, geb. Peiser, 04.03.1872, Posen (heute Polen) – 18.02.1936, Erfurt, wirkte in vielen jüdischen Organisationen mit. 1933–1936 wohnte sie mit ihrem Mann, dem angesehen Arzt Jakob Grünwald (1858–1942), in der damaligen Kasinostraße 4. Nach: Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 173 ff; Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 190. Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 329, 30.01.1931, S. 142. Manfred Malsch, 17.09.1902, Erfurt – Sterbedatum unbekannt, war Mitglied des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und seit 1930 Inhaber der Ersten Erfurter Arbeitskleiderfabrik Feodor Malsch. Nach einer Internierung im KZ Buchenwald wanderte er in die USA aus. Nach: Hoschek, Ausgelöschtes Leben, (wie Anm. 5), S. 297 f; Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 2, nicht paginiert. Erich Markowitz, 16.06.1884, Strelnow – Sterbedatum unbekannt, wohnte seit Oktober 1924 in Erfurt und war als Kaufmann und Prokurist tätig. Am10.11.1938 wurde er in das KZ Buchenwald deportiert, am 22.12.1938 meldete er seine Auswanderung in die USA an. Nach: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 2, nicht paginiert.

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gestaltete, war für den 29. November 1931 geplant. Das Wochenblatt vom 27. November 1931 kündigt dieses Konzert folgendermaßen an: Das Wohltätigkeitskonzert bei Frau Gertrud Grünwald findet am Sonntag vormittag 11 Uhr statt. Es ist erfreulich, daß sich die besten musikalischen Kräfte unserer Gemeinde für diesen guten Zweck zur Verfügung gestellt haben. Das Programm ist auserlesen. Wir wünschen einen vollen Erfolg.46

Hermann Schacher, ein assimilierter Jude und engagierter Kantor, musste am Ende seiner beruflichen Laufbahn antijüdische Maßnahmen des NS-Staates mitgestalten. Er wurde im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Dr. Josef Wiesen – der letzte Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Eisenach Dr. Josef Wiesen47 war ein Sohn des Schriftstellers, Verlegers und Lehrers Israel Wiesen (1835– Sterbedatum unbekannt)48. Nach dem Besuch des Israelitischen Lehrerseminars in Kassel war er zwischen 1885 und 1887 als Lehrer und Prediger in Moringen und gleichzeitig als Kantor und Gefängnisgeistlicher in Hannover tätig. Danach studierte er an mehreren Universitäten. Am 27. Januar 1891 hat er sein Rigorosum an der Universität Erlangen abgelegt. 1892 erschien seine Dissertation Geschichte und Methodik des Schul­ wesens im Talmudischen Altertume (Straßburg) und er erlangte dadurch das Rabbinatsdiplom des I. Grades. Wiesens erster Wirkungsort als Landrabbiner war zwischen 1892 und 1898 BöhmischLeipa (Česká Lípa) in Böhmen. 1898 wurde er durch die Jüdische Gemeinde des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach zum Landrabbiner berufen.49 Sein Amt trat er aber erst am 1. November 1902 an. Er lebte zunächst in Stadtlengsfeld, einer Kleinstadt 46 Nachrichten aus Erfurt, in: Wochenblatt, Nr. 372, 27.11.1931, S. 80. 47 Dr. Josef Wiesen, 25.02.1866, Itebe/Novi Itebej, Österreich-Ungarn (heute Serbien) – 15.11.1942, Theresienstadt. Vgl. dazu: Friedrich Hennig, „Dr. Josef Wiesen“, in: Wartburgland, Mitteilungen des Heimatkreises Eisenach der Bundeslandsmannschaft Thüringen e. V., H. 19 (1988), S. 27–29; Jüdische Spurensuche in unserer Region. Die Lebensgeschichte der Familie Wiesen. Seminararbeit der Klasse 10EF des Martin-Luther-Gymnasiums Eisenach (MS) 1996, Stadtarchiv Eisenach, S. 94–103; Reinhold Brunner, Art. „Josef Wiesen“, in: Lebenswege in Thüringen, Sammlung 1, hrsg. v. Felicitas Marwinski, Weimar 2002, S, 267 f; Reinhold Brunner, Von der Judengasse zur Karlstraße. Jüdisches Leben in Eisenach, Weimar 2003; Art. „Dr. Josef Wiesen“, in: Biographisches Handbuch der Rabbiner, (wie Anm. 17), T. 2, München 2009, S. 655. An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Dr. Reinhold Brunner und Christopher Launert aus dem Stadtarchiv Eisenach für das Zur-VerfügungStellen zahlreicher Dokumente über Josef Wiesen und die jüdische Gemeinde in Eisenach ganz herzlich bedanken. 48 Vgl.: Biographische Daten über Israel Wiesen, Stadtarchiv Eisenach (im Folgenden: StadtAE), Samm­­ lung Judaica. 49 Über die Landrabbinate in Thüringen vgl.: Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811– 1871. Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie, Köln, u. a. 2003.

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im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, und übersiedelte 1911 mit seiner Familie nach Eisenach. Eisenach war von 1844 bis 1872 und dann von 1911 bis 1918 der Sitz des Landrabbinates des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. In den Jahren 1824–1844 und 1876–1911 residierte der Landrabbiner in Stadtlengsfeld. Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war ein Landrabbiner ein öffentlicher Beamter, ein Vorsteher der Gemeinde, der u. a. gemeinsam mit einem herzoglichen Inspektor eine staatlich unterhaltene jüdische Schule überwachte. Wiesen befasste sich auch mit Wissenschaft und war bewandert in der Redekunst. Als ein guter Redner reiste er mit seinen Vorträgen durch ganz Deutschland. Mit dem Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach Wilhelm Ernst (1876–1923) soll ihn eine gewisse Sympathie verbunden haben. Laut Familienerinnerungen war er ein Schachspielpartner des Herzogs. Zu seinem 10. Dienstjubiläum 1912 erhielt er als Anerkennung für seine Arbeit das Ritterkreuz des Weimarer Ordens vom weißen Falken.50 Während des Ersten Weltkrieges unterstützte Wiesen Juden aus Russland und Polen, die in Arbeitslagern gefangen gehalten wurden.51 In der Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Israelitischen Religionsgemeinde zu Eisenach thematisierte er die Teilnahme der Eisenacher Juden an jenem Krieg mit folgenden Worten: Dann kam der Weltkrieg, der auch die Israelitische Gemeinde aufforderte zum todesmutigen Abwehrkampf für das Vaterland. Auf die 400 Seelen zählige Gemeinde entfielen 85 Kriegsteilnehmer. Von diesen sind 23 Männer und Jünglinge gefallen.52

Nach 1918 veränderten sich der rechtliche Status der jüdischen Gemeinden und die Position des Rabbiners. Kraft der im Grundgesetz der Weimarer Republik verankerten Trennung von Staat und Kirche wurde auch den Rabbinern der Staatsbeamtenstatus entzogen. Wiesen stritt mit dem Land Thüringen vor Gericht um seine Position. Das Oberlandesgericht in Jena verlieh ihm schließlich den Status des „Staatsbeamten im Wartestand“ – ein Zugeständnis, das ihm nach dem Übergang in den Ruhestand eine staatliche Rente sicherte. Für die staatlichen Behörden indes galt er nicht länger als Staatsbeamter. Die Israelitische Religionsgemeinde zu Eisenach legitimierte aber in kirchlicher Hinsicht seine Befugnisse und so konnte Wiesen die Interessen der Thüringer Juden bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Jahre 1942 vertreten.53 In der Zwischenkriegszeit versuchte Wiesen, die jüdische Minderheit vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Stellvertretend für seine Bemühungen soll das folgende Beispiel stehen. Am 15. Januar 1919 organisierten die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und 50 Vgl.: Jüdische Spurensuche in unserer Region, (wie Anm. 47), S. 98 f. 51 Ebd., S. 99. 52 Josef Wiesen, Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Israelitischen Religionsgemeinde zu Eisenach, Eisenach 1927, S. 12. 53 Das Rabbinat des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach umfasste neben Eisenach weitere Orte: Apolda, Aschenhausen, Gehaus, Geisa, Jena, Ilmenau, Stadtlengsfeld, Vacha und Weimar. Für diese war Wiesen auch in der Weimarer Republik verantwortlich.

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die Deutsche Volkspartei (DVP) eine gemeinsame Veranstaltung, in der der antisemitische Schriftsteller und völkische Politiker Dr. Artur Dinter (1876–1948)54 einen Vortrag unter dem Titel „Politik, Religion und Rasse“ hielt. In dieser Rede griff Dinter die jüdische Religion an. Josef Wiesen reagierte darauf mit einem öffentlichen Brief an Dinter, den er in zwei Zeitungen veröffentlichte: in der Eisenacher Tagespost (vom 21. Januar 1919) und in der Eisenacher Zeitung (vom 22. Januar 1919). Wiesen schrieb: Ich fordere diesen Redner und dessen Beauftragten auf, mir die betreffenden Quellen im Talmud, im Kolnidregebet oder in anderen Religionsschriften des Judentums namhaft zu machen, welche die vom Redner vorgebrachten Schmähungen und Verdächtigungen der jüdischen Religion und ihrer Bekenner rechtfertigen.55

Die Auseinandersetzung zwischen Wiesen und Dinter kam vor Gericht und wurde zugunsten von Wiesen entschieden, da sich Dinters Hebräischkenntnisse als zu schwach erwiesen haben, um die zahlreichen Stellen aus dem von ihm kritisierten Talmud zu übersetzten.56 Wiesens Aktivitäten in Eisenach bezogen sich nicht nur auf das religiöse Leben der Juden, sondern auch auf ihre soziale Lage. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Elsa (geb. Doernberg) betreute er bis zu ihrem Tod (1942) männliche jüdische geistig behinderte Personen. Sein Haus galt als ein „Heim“ oder eine „Pension“ für behinderte Jugendliche. Nach 1933 konnte Wiesen zunächst andere Juden aus Eisenach unterstützen. Er stellte etwa sein großes Haus am Schloßberg 10 solchen jüdischen Familien zur Verfügung, die ihre Wohnungen verlassen oder verkaufen mussten, beziehungsweise auf ihre Auswanderung warteten. Nach der Zerstörung der Eisenacher Synagoge während der Novemberpogrome 1938 hielt er insgeheim den Gottesdienst im Speisezimmer seines Hauses ab. Kleinere jüdische Gemeinden vertrauten Wiesen ihre Torarollen zur Aufbewahrung an. Wiesen blieb vor der nationalsozialistischen Verfolgung allerdings nicht verschont. Im November 1938 wurde er, wie die meisten jüdischen Männer, verhaftet und nach Weimar gebracht. In das Konzentrationslager Buchenwald wurde er aber nicht weiter transportiert und konnte nach Eisenach zurückkehren. Mit weiteren direkten Benachteiligungen wurde Wiesen 1942 konfrontiert. Im Februar jenes Jahres musste er sein Haus innerhalb von zwei Tagen verlassen. Es wurde von der Wehrmacht beschlagnahmt und in ein Lazarett verwandelt. Im Juli 1942 wurde Wiesen zum Verkauf des Hauses gezwungen. Seine letzte Adresse in Eisenach war das „Judenhaus“ in der Goethestraße 48. Am 11. September 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er am 15. November des gleichen Jahres starb. Der Pappkarton mit seiner Asche wurde 1944 in die Eger geworfen.

54 1924–1927 wirkte Dr. Artur Dinter dank Hitlers Ernennung als Gauleiter Thüringens. Durch seinen Erfolgsroman Die Sünde wider das Blut (Leipzig 1918, 13.  Auflage 1920), der den ersten Band der Trilogie Die Sünden der Zeit bildet, wurde Dinter berühmt. 55 Nach: Artur Dinter, Lichtstrahlen aus dem Talmud. Offener Brief an den Landesrabbiner von SachsenWeimar-Eisenach, Berlin 1919, S. 1. 56 Zit. nach: Brunner, Von der Judengasse, (wie Anm. 47), S. 100.

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In den biographischen Darstellungen wird Wiesens Tätigkeit als Rabbiner durchweg positiv bewertet.57 Eine wichtige historische Quelle benennt aber ihre Mängel. Der vorletzte Erfurter Rabbiner Max Schüftan (1887–1936)58 wurde 1931 vom Mitteldeutschen Rabbinerverband dazu beauftragt, die Lage des Judentums in Thüringen zu überprüfen. In seinem Bericht vom 7. Juni 1931 kritisiert er die Tätigkeit von Wiesen scharf: Die Lage des Judentums in Thüringen kann nur als traurig bezeichnet werden. Gerade Thüringen ist wohl der deutsche Landesteil, in dem das jüdische Leben und die moralische Verantwortung für eine gedeihliche Entwicklung des Judentums einen seltenen Tiefstand erreicht hat. Aus den eingegangenen Antworten geht hervor [An die Thüringer Juden wurde eine Umfrage verteilt, M.S.], dass die Schuld an diesem Zustand von den Gemeinden dem letzten Landrabbiner, Herrn Dr. Wiesen in Eisenach, zugeschoben wird. Es wird ihm vorgeworfen, dass er sich in keiner Weise um die religiösen, unterrichtlichen und sonstigen Bedürfnisse der ihm unterstehenden Gemeinden gekümmert habe. […] Die Tatsache, dass einige Gemeinden des Landrabbinates einen Prozess gegen ihren Landrabbiner Dr. W. geführt haben, den sie freilich verloren, beleuchtet blitzartig die ganze Sachlage.59

Inwieweit das Urteil von Schüftan angemessen war, lässt sich nicht mehr überprüfen. Als Bürger der Provinz Sachsen aber vertrat Schüftan die Interessen des Freistaates Preußen, was auch am Ende seines Aufsatzes unvermittelt zum Ausdruck kommt: Nach meiner Ansicht kann die Thüringer Judenheit nicht allein vorwärts kommen. Nur eine Verbindung mit dem Preußischen Landesverband und eine Zusammenfassung mit den angrenzenden preußischen Gebietsteilen kann hier Besserung schaffen.60

Dr. Josef Wiesen und die Musik in der Eisenacher Synagoge Die Synagoge in Eisenach wurde 1885 durch Wiesens Vorgänger, den Landrabbiner Dr. Moses Salzer (1841–1902), eingeweiht. Bei dieser Angelegenheit kam es zu einem Streit zwischen dem eher konservativen Rabbiner und der reformorientierten Gemeinde. Die Gemeinde wünschte sich einen erneuerten Gottesdienst, an dem ein gemischter Chor mit Begleitung eines Instruments beteiligt sein sollten, was für Salzer viel zu fortschrittlich war.61 Schließlich verzichtete die Gemeinde auf eine instrumentale Begleitung. Die Verwendung eines gemischten Chors wurde aber durchgesetzt.62 Bei der Einweihung der Synagoge 1885 hatte die jüdische Gemeinde in Eisenach eine ganz andere Einstellung zur 57 Vgl. dazu Anm. 47. 58 Vgl. dazu Anm. 17. 59 Vgl.: Max Schüftan, Exposé über die Lage des Judentums in Thüringen, 07.06.1931, Typoskript, CJA, 1, 75 C Ra 17, Bl.: 101–105, hier Bl. 102. 60 Ebd., Bl. 105. 61 Allgemein zum Streit um die Verwendung der Instrumente während des Gottesdienstes in der Synagoge, vgl.: Frühauf, Orgel und Orgelmusik, (wie Anm. 21). 62 Vgl.: Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen, (wie Anm. 49), S. 452.

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Gottesdienstreform als 1833. In jenem Jahr führte das Großherzogtum Sachsen-WeimarEisenach eine Modernisierung des Gottesdienstes per Gesetz ein, welches fast alle traditionellen Elemente und die hebräische Sprache in der Liturgie tilgte. Die Eisenacher Juden waren mit dieser Reform nicht einverstanden. 50 Jahre später, zur Einweihung der Synagoge, waren die reformatorischen Tendenzen in ganz Deutschland so verbreitet, dass auch die Gemeinde in Eisenach jene übernommen hat. Dr. Wiesen berichtete in der Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Israelitischen Religionsgemeinde zu Eisenach über dieses Ereignis: Um die Weihe feierlich und erhebend zu gestalten, vereinigten sich alsbald stimmbegabte Männer und Frauen im Hause des Lehrers [Jakob, M.S.] Heidungsfeld und gründeten unter seiner Leitung einen Synagogenchor. Ohne Unterschied machten sie sich eine Ehre daraus, demselben anzugehören und ihm durch gute Leistungen Anerkennung zu verschaffen, die eine ganze Generation als frommes Erbgut aus jener Zeit in dankbarem Herzen treu bewahrt hat.63 […] Der Synagogenchor beschloß die erhebende Feier mit dem Gesang Die Himmel rühmen die Ehre Gottes.64

Bei der Besetzung der Rabbinatsstelle 1902 „hatte sich Eisenach die Einstellung der Bewerber zum gemischten Chor und zum Chor vorab zusenden lassen“.65 1906 veranlasste die jüdische Gemeinde die Beschaffung einer Orgel66, die bis zur Zerstörung der Synagoge 1938 in Benutzung gewesen sein soll.67 In den Überlieferungen der Zeitzeugen wird allerdings als gespieltes Instrument nicht eine Orgel, sondern ein Harmonium genannt. Dr. Fred Heilbrunn berichtet etwa über den Eisenacher Chor und die instrumentale Begleitung der Gottesdienste: Bis zu seinem Tode im Jahre 1918 war Herr Ferdinand Stiebel,68 […] selbst ein leidenschaftlicher Sänger, derjenige, der tief in die eigene Tasche griff, um den Synagogenchor auf ein derart hohes Niveau zu bringen, daß er als der beste Chor Eisenachs galt. Am Harmonium war stets ein führender (christlicher) Eisenacher Musiker. Der Chor bestand aus 25 Sängerinnen und Sängern. Unter den Damen waren immer sehr gute Stimmen. […] Von den jüdischen seien ganz besonders die beiden Damen Irma Malsch und Hilda Lind69 ihrer wunderbaren Stimmen wegen hervorgehoben. Hilda Lind, die 63 Wiesen, Festschrift, (wie Anm. 52), S. 8. 64 Ebd., S. 9. Die Himmel rühmen die Ehre Gottes ist eine Komposition Ludwig van Beethovens (Op. 48, 1803) zum Text von Christian Fürchtegott Gellert. 65 Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen, (wie Anm. 49), S. 452. 66 Ebd. 67 Vgl.: Hans-Wolfgang Theobald, Der Orgelbauer Johann Georg Markert, Tutzing 1990, S. 204 ff. 68 Ferdinand Stiebel, 30.01.1852, Fulda – 01.09.1918, Eisenach, war Kultusdeputierter und von 1910 bis 1918 wirkte er als Kultusvorsteher der israelitischen Gemeinde, vgl.: biographische Daten über Ferdinand Stiebel, StadtAE, Sammlung Judaica. 69 Hilde (Hilda) Aronson, geb. Lind, 18.12.1899, Arnstadt  – Sterbedatum unbekannt, war zunächst Mitglied des Eisenacher Synagogenchors, dann wirkte sie als Opernsängerin in Berlin. Am 18.03.1943 wurde sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie das musikalische Leben mitgestaltete. Aronson überlebte die Internierung in Theresienstadt und nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus. Vgl.  dazu: Maria Stolarzewicz, „Ausstellung Verfolgte Musiker im

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Maria Stolarzewicz

später in Berlin lebte, bot durch ihren Gesang, wenn sie zu den Jomim Tauwim nach Eisenach kam, stets einen außergewöhnlichen Genuß für die Zuhörenden. Nach Ferdinands Stiebels Tod führte Herr Julius Heidungsfeld70 in gleicher, guter Weise den Chor weiter.71

Der Synagogenchor genoss in Eisenach ein hohes Ansehen. Er beteiligte sich deswegen nicht nur an den Gottesdiensten in der Synagoge, sondern gab auch Konzerte.72 Josef Wiesen galt zwar als ein konservativer Rabbiner, war aber in seiner Einstellung zur musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes liberal. So waren unter seiner Ägide nicht nur ein gemischter Chor und eine instrumentale Begleitung, sondern auch die Mitwirkung vieler christlicher Musiker in der Synagoge möglich. Im Chor etwa wurden die fehlenden Sopranstimmen durch christliche Sängerinnen besetzt.73 Ilse Haspel74 erinnert sich: Wir hatten in unserer Synagoge einen Synagogenchor, in dem mein Vater als Tenor mitsang […] Herr Heidungsfeld war unser Dirigent. Ich erinnere mich noch an Frau Schulze, eine christliche Sängerin. Als dieselbe Dame nicht mehr für die Juden singen durfte und auch einige jüdische Mitglieder des Chores schon Deutschland verlassen mussten, haben auch Friedeliese Knorringa, Gretel Silberstein, Susi Ochs und ich unsere jugendlichen Stimmchen hören lassen (beinahe so gut wie die „Wiener Sängerknaben!!!“).75

Der Nichtjude Hugo Karl Müller, der als Musikdirektor und Musiklehrer in Eisenach wirkte, spielte in der Synagoge Harmonium. Einer seiner Schüler, Heini Wollnermann,76 beschreibt seine Kontakte mit dem Musiker:

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­ ationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche“, in: Verfolgte Musiker im nationalsozialisti­ n schen Thüringen, (wie Anm. 2), S. 291. Julius Heidungsfeld, 27.07.1869, Eisenach – 28.07.1943, Theresienstadt, war ein Kaufmann und Sohn von Jakob Heidungsfeld (07.07.1830, Grebenau – 07.05.1897, Eisenach), der in Eisenach als israelitischer Lehrer und Vorbeter tätig war (1878–1896), vgl.: biographische Daten über Julius und Jakob Heidungsfeld, StadtAE, Sammlung Judaica. Fred Heilbrunn, Gerhard Theis, „Geschichte der Eisenacher Juden“, in: Nachrichtenblatt der Jüdi­ schen Gemeinde von Groß-Berlin des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, H. 9 (1970), S. 4 f, H 12 (1970), S. 6 ff, H. 3 (1971), S. 3 f, Kopie nicht paginiert. Vgl.: Brunner, Von der Judengasse, (wie Anm. 47), S. 125. Genauere Informationen über diese Tätigkeit konnten nicht ermittelt werden. Ebd., S. 123. Ilse Haspel, geb. Nußbaum, 16.07.1920, Fulda – Sterbedatum unbekannt, kam mit ihren Eltern 1921 nach Eisenach. 1935 emigrierte sie nach Palästina, vgl.: biographische Daten über Ilse Haspel, StadtAE, Sammlung Judaica. Ilse Haspel an Reinhold Brunner am 28.11.1994, nach: Brunner, Von der Judengasse, (wie Anm. 47), S. 81, FN 175. Heini (Heinrich, Chaim) Wollnermann, 19.06.1915, Eisenach – 22.12.1993, Haifa. Seit 1935 lernte er in einer jüdischen Gartenbauschule in Hannover. Am 05.09.1936 wanderte er nach Palästina aus. Von 1953 bis 1977 war er Direktor der belgischen Luftfahrtgesellschaft Sabena, Bereich Nordisrael. Am 10.01.1989 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Haifa ernannt, vgl.: biographische Daten über Heini Wollnermann, StadtAE, Sammlung Judaica.

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Ich verblieb bei unserem Musikdirektor geraume Zeit, denn ich erinnere mich, daß ich bei ihm einen gewissen Standard erreichte, sodaß ich mit ihm Duett spielen konnte, er auf Geige und ich Klavier. Unser Lehrer war Musiker mit Leib und Seele und anscheinend war er mit meinen Fortschritten zufrieden. […] Ich kam zu ihm, weil er bei uns in der Synagoge als Organist mitwirkte und ich im Synagogenchor mitsang unter der Leitung von Herrn Heidungsfeld. […]77

In Eisenach wurde 1921 ein Collegium Musicum78 gegründet, in dem jüdische Bürger mitwirkten. Dr. Edgar Grünbaum79 spielte Bratsche, der Schulrat Alfred Fröhlich80 Geige, Hildegard Cohn81 sang Alt. Unter den passiven, also nicht selbst musizierenden Mitgliedern finden sich solche Namen wie Martha Weinstein, Annemarie Fackenheim und Elise Grünbaum.82 Es ist auch bekannt, dass die Juden in christlichen Chören gesungen haben. Heini Wollnermann schreibt weiter: Außerdem, wohl zu anderer Zeit, sang ich im Bachchor unter Leitung von Herrn Mauersberger mit. Wir Eisenacher sind ja gewissermaßen mit Bach aufgewachsen und die Bachmusik ist mir bis heute noch besonders nahe. Das ging so weit, daß ich zur Zeit des Passahfestes in die Kirche ging, wo die Matthäuspassion aufgeführt wurde, anstatt in die Synagoge zu gehen und mein Vater war damit garnicht [sic] einverstanden.83

Obwohl antisemitische Tendenzen bereits vor 1933 in Eisenach zu bemerken waren, scheint es während der Tätigkeit von Dr. Josef Wiesen eine produktive Zusammenarbeit im Bereich des musikalischen Lebens unter den jüdischen und christlichen Bürgern gegeben zu haben.

77 Heini Wollnermann, „Erinnerungen eines Eisenachers in Haifa“, in: Wartburgland, Mitteilungen des Heimatkreises Eisenach der Bundeslandsmannschaft Thüringen e. V., H. 22 (1991), S. 35–40, hier S. 38. 78 Stadtarchiv Eisenach – 31.2-0084 – Programme des Eisenacher Collegium musicum. – Aufstellung der Mitglieder des Vereins. 79 Dr. med. Edgar Grünbaum, 24.10.1889, Eisenach – 01.03.1943 Deportation nach Auschwitz, war Facharzt für Nervenkrankheiten und Inneres, vgl.: biographische Daten über Dr. med. Edgar Grünbaum, StadtAE, Sammlung Judaica. 80 Dipl. Ing. Alfred Fröhlich, 03.01.1874, Damboritz, Tschechoslowakei – Sterbedatum unbekannt, Schulrat, vgl.: biographische Daten über Dipl. Ing. Alfred Fröhlich, StadtAE, Sammlung Judaica. 81 Hildegard Cohn, 22.01.1896, Eisenach – Sterbedatum unbekannt, vgl.: Wolf, Juden in Thüringen, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 77. 82 Weitere Informationen über die Tätigkeit des Eisenacher Collegium Musikums konnten nicht ermittelt werden. 83 Wollnermann, „Erinnerungen eines Eisenachers“, (wie Anm. 77), S. 39.

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Maria Stolarzewicz

Ergänzung: Anmerkungen zum Schicksal des letzten Erfurter Rabbiners Dr. Peter Freund und dessen Vater Ismar Freund Der letzte Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Erfurt hieß Dr. Peter Freund.84 Er war ein Sohn von Dr. Ismar Freund, der als Jurist, Gemeindepolitiker der jüdischen Gemeinde Berlin und Historiker der jüdischen Emanzipation in Deutschland unbestreitbare Verdienste für die Forschung am jüdischen Leben in Deutschland hervorbrachte.85 Peter Freund studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Berlin (1925–1934) und an der Universität Berlin (1925–1933), wo er promoviert wurde. Nach Stationen in Berlin-Grünewald und Trautenau in Böhmen als Prediger und Religionslehrer kam er nach Erfurt. Von der Repräsentantenversammlung der Synagogengemeinde zu Erfurt wurde er einstimmig zum liberalen Rabbiner und Religionslehrer gewählt.86 Sein Amt übte er aber in einem sehr kurzen Zeitraum aus: vom 1. September 1937 bis zum 29. Dezember 1938.87 Über seine Aktivitäten als Rabbiner in Erfurt ist nichts bekannt. Erst seine Internierung im KZ Buchenwald nach der Reichspogromnacht (10.–27. November 1938) ist in den Lagerdokumenten verzeichnet.88 Sein Vater, der 1938 ebenfalls im KZ Buchenwald etwa zwei Wochen gefangen gehalten wurde, hinterließ Erinnerungen an die im KZ Buchenwald verbrachte Zeit. Im unveröffentlichten Bericht „Rettungs­versuche.

84 Dr. Peter Freund, 09.04.1906, Berlin – 1982, Jerusalem, vgl. dazu: Art. „Dr. Peter Freund“, in: Bio­­ graphisches Handbuch der Rabbiner, (wie Anm. 17), T. 1, S. 203; Joachim Rott, Ismar Freund, RabbinerJurist, Gemeindepolitiker, Berlin 2018, S. 41 f; Josef Walk, Kurzbiographien zur Geschichte der Juden, München u. a. 1988, S. 101. 85 Dr. Ismar Freund, 11.04.1876, Breslau – 21.02 1956, Jerusalem, wirkte vor seiner Emigration nach Palästina in Berlin. 1902–1938 war er Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Berlin sowie in führender Position in deren Verwaltung. Er war Gründer des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden und des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes (DIGB). Seit 1905 wirkte er als Dozent für jüdisches Staatskirchenrecht an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Seine wichtigste Publikation ist Die Emanzipation der Juden in Preußen. Unter besonderer Berück­ sichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, Berlin 1912 (Nachdruck Hildesheim 2014). Nach einer zweiwöchigen Internierung im KZ Buchenwald flüchtete er im März 1939 mit seiner Frau Elise nach Palästina. Seinen umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass, der zahlreiche, heute nicht mehr auffindbare Dokumente zur jüdischen Geschichte in Deutschland enthält, übergab er an die Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Heute wird sein Nachlass „Privatsammlung Dr. Ismar Freund  – P2“ genannt, (im Folgenden: CAHJP, P2). Freunds Biographie und Erfassung der Sammlung sind online zu finden unter: http://cahjp.nli.org.il/webfm_send/1036, letzter Zugriff: 04.07.2022. Vgl. auch: Rott, Ismar Freund, (wie Anm. 84). 86 Brief des Vorstands der Synagogen-Gemeinde in Erfurt an Peter Freund vom 11.05.1937, nach: Peter Freund Collection (im Folgenden: PF Collection), Leo Baeck Institute, LBIJER 443, 1917–1996, Folder 7: Correspondence and migration documents, 1928–1996, Bl. 72, Online-Quelle: https:// digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE10175666, letzter Zugriff: 04.07.2022. 87 Ebd., Bl. 73. 88 Vgl.: Veränderungsmeldungen zu Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald (Männer), 1938, 1.1.5.1/5278099 und 1.1.5.1/5278157/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

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Buchenwald“ beschreibt er die damalige Lage seines Sohns und bestimmt die von Hermann Schacher: Man hatte den Menschen in Erfurt fürchterlich mitgespielt. Die Mitglieder der Gemeinde, des Vorstandes und der Repräsentantenversammlung, sowie der Rabbiner waren in der Turnhalle einer Schule zusammengetrieben worden. Dort hatten die Nazis sie wie in einer Zirkusarena mit Knüppeln im Kreise herumgejagt. Wer fiel, auf den hatte man blutig eingeschlagen.89

An einer anderen Stelle macht sich Ismar Freund Gedanken darüber, was für ihn die Internierung im KZ Buchenwald bedeutete: Das scheinbare Unglück meiner Verbringung in das Konzentrationslager gestaltete sich zu meinem Glück. Sie hat mir und meiner Frau das Leben gerettet. Denn niemals hätte ich ohne dieses Erlebnis freiwillig Deutschland verlassen. Ein Kapitän verlässt als Letzter das Schiff, und ich hätte, trotzdem ich in Deutschland selbst den Juden kaum noch etwas hätte helfen können, da mir der amtliche Auftrag fehlte, niemals mein Schicksal von der Allgemeinheit getrennt, wenn ich nicht das Intermezzo von Buchenwald als Fingerzeig des Gottes empfunden hätte“90

Auch Peter Freund verließ kurz nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald gemeinsam mit seiner Familie Deutschland. Sie flohen nach Palästina. Er lebte dann bis zu seinem Tod in Jerusalem und betätigte sich als Verleger.91 In einem Brief vom 7. Oktober 1939 reflektierte er über seine Zeit in Erfurt: An ein solches Ende habe auch ich nicht gedacht, obgleich ja bald nach meinem Amtsantritt alle Annehmlichkeiten des 3. Reiches sich mir offenbarten. Wenn ich rückblickend an die Erfurter Zeit denke, so vermag ich sie nicht in rosigem Lichte zu sehen. Zwar bin ich vielen lieben Menschen begegnet, es hat sich auch in dem durch die politischen Verhältnisse gezogenen Rahmen eine gewisse Wirkungsmöglichkeit geboten, im Grunde war aber doch alles überschattet durch das Bewusstsein der endlichen Auflösung, des nur sehr beschränkt[en] Helfenkönnens. […] Letzten Endes ist aber nun alles zum Guten ausgegangen, und nachdem ich unversehrt, oder besser gesagt lebend Buchenwald verlassen habe, bin ich dafür dankbar, mit unseren Menschen zusammen das Leid und den letzten Schmerz erfahren haben zu dürfen. Wollen wir hoffen, dass in diesem oder den folgenden Jahren die Stunde der gerechten Vergeltung zuschlagen möge.92

89 Ismar Freund, Kap. „Rettungsversuche. Buchenwald“, in: Memoiren, CAHJP, P2/301, S. 11. An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Inka Arroyo Antezana vom German Department von The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem für das kostenlose Zur-VerfügungStellen der Digitalisate des Buchenwaldberichts von Ismar Freund ganz herzlich bedanken. 90 CAHJP, P2/301, S. 15 f. 91 Vgl.: Andreas Kicher, Eva Edelmann-Ohler, Deutsche Sprachkultur in Palästina/Israel. Geschichte und Bibliographie, Berlin u. a. 2017, S. 40, 49, 53, 81 f.; Bibliographie der Schriften der Edition Dr. Peter Freund Jerusalem, hrsg. v. Felix Daniel Pinczower, Tel Aviv 1974. 92 PF Collection, Folder 7, Bl. 70.

Inna Klause

Unter fremdem Himmel Notenmanuskripte aus der Buchenwaldsammlung des Hochschularchivs | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIVS in Weimar

Die in der DDR realisierte Erforschung der Musik in Konzentrationslagern vor dem Hintergrund der Ideologie des Antifaschismus Wie allgemein bekannt, rückte das Thema „Musik in Konzentrationslagern“ in der BRD erst in den 1980er-Jahren ins Blickfeld der Forschung. In der DDR hingegen begann die Aufarbeitung sehr früh, schon in den 1950er-Jahren. Am Institut für Volksmusikforschung (IfVMF), welches an der Hochschule für Musik Weimar in den Jahren 1951/52 gegründet1 und von Günther Kraft geleitet wurde, standen Musikaktivitäten kommunistischer Häftlinge im nahe gelegenen ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald im Mittelpunkt. Diese Schwerpunktsetzung lässt sich auch in der übrigen musikwissenschaftlichen Forschung der DDR zur Musik in Konzentrationslagern beobachten und ist auf die Ideologie des Antifaschismus zurückzuführen, die in der DDR als Grundlage des Staates galt. So schrieb rückblickend der DDR-Historiker Olaf Groehler: Über fast ein halbes Jahrhundert gab es für die Zeitgeschichtsforschung der DDR kein wichtigeres Thema als das des Antifaschismus. Es stellte hinsichtlich der jüngsten Geschichte das Kernstück ihres inneren und äußeren Selbstverständnisses dar.2

Ideologen und Historiker der DDR definierten ihren Staat als antifaschistisch, als eine auf den Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung hinarbeitende Gemeinschaft, in der die Grundlagen des Nationalsozialismus bereits überwunden waren, denn

1 1951 wird angegeben in: Günther Kraft, Die musikalisch-künstlerische Arbeit in den ehemaligen fa­ schis­­tischen Konzentrationslagern und ihre schöpferische Reflektion im zeitgenössischen Musikschaffen, Manuskript zu einem Vortrag, um den 11.04.1966, S. 5, Hochschularchiv | THÜRINGISCHES LANDESMUSIKARCHIV Weimar (im Folgenden: HSA | ThLMA), Signatur 1021–001b; 1952 wird genannt in: Ders., „Dem Morgenrot entgegen  …! Zur Ausstellung des Institutes für Volksmusikforschung“, in: Doch stärker als der Tod sind wir. Sonderdruck des Weimarer Kulturspiegels zur Einweihung der Gedenkstätte Buchenwald, hrsg. v. Harry Kath u. Claus Ritter, Weimar 1958, S. 23– 28, hier S. 23 (Signatur 1021–043). 2 Olaf Groehler, „Antifaschismus – Vom Umgang mit einem Begriff“, in: Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, hrsg. v. Ulrich Herbert u. Olaf Groehler, Hamburg 1992, S. 29–40, hier S. 29.

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Inna Klause

der Nationalsozialismus galt als vom Kapitalismus verursacht. So heißt es in einem Artikel über die Einweihung des Mahnmals auf dem Ettersberg bei Weimar aus dem Jahr 1958: Die Tatsache, dass der Schwur [der Überlebenden von Buchenwald], den Faschismus mit der Wurzel auszurotten, in einem Teil Deutschlands, in der Deutschen Demokratischen Republik, bereits verwirklicht wurde, beeindruckte vor allem die vielen hunderte [sic] Besucher aus Westdeutschland und dem westlichen Ausland.3

Ein wichtiger Grundsatz lautete, dass der kommunistische Widerstand in den Konzentrationslagern und insbesondere die „Selbstbefreiung“ Buchenwalds4 auf den neuen Staat, die DDR, hingearbeitet habe.5 Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 fällten viele Historiker sowohl im Westen als auch im Osten ein negatives Urteil über den ostdeutschen Antifaschismus. Er sei „schon in den Anfangsjahren [der DDR] politisch funktionalisiert [worden] und verkam im Laufe der Jahre immer mehr zu einer formelhaft erstarrten Staatsdoktrin.“6 Es wurde geschildert, dass die antifaschistische Ideologie in der DDR dazu geführt habe, Opfer des Nationalsozialismus selektiv wahrzunehmen. Dass nur die politische und ökonomische Verfolgung im „Dritten Reich“ in der DDR thematisiert, die rassische aber totgeschwiegen worden sei. Konzentrationslager seien als Orte interpretiert worden, in denen Kriegsgegner und Antifaschisten isoliert und vernichtet werden sollten. Die ehemaligen kommunis­ tischen Häftlinge seien die am stärksten wahrgenommene Häftlingsgruppe gewesen. Das Erinnern an ihren Widerstand durch Symbole und Rituale wurde als Kern einer Art Staatsreligion dargestellt.7 „Opfer des Faschismus“ seien in der DDR in verschiedene Gruppen eingeteilt und unterschiedlich behandelt worden, darunter die Kommunisten als „die ersten und wichtigsten Opfer des faschistischen Terrors“. Als „Kämpfer gegen den Faschismus“ seien sie materiell besser gestellt gewesen als andere Opfergruppen, darunter auch Juden, die als passiv angesehen worden und in ihrer Opferrolle umstritten gewesen seien. Die Massenvernichtung sei aus dem Gedenken an den Nationalsozialismus fast vollständig ausgeklammert 3 Eberhard Rebling, „Der Glaube an die eigene Kraft. Lehren einer bedeutenden Ausstellung“, in: Musik und Gesellschaft, 8, 1958, H. 10, S. 4–7, hier S. 4. 4 Der Mythos von der „Selbstbefreiung“ wurde auch in der sowjetischen Forschung übernommen. Vgl.: Stanislav Palivoda, Tragedija i podvig Buchenval’da [Tragödie und Heldentat in Buchenwald], Lwiw 1990. Aber nicht nur im sozialistischen Lager wurde dieser Mythos erzählt, auch die Österreicher Fein und Flanner sprechen in ihrem Buch von „Selbstbefreiung“: Erich Fein, Karl Flanner, Rot-weiß-rot in Buchenwald. Die österreichischen politischen Häftlinge im Konzentrationslager am Ettersberg bei Weimar 1938–1945, Wien 1987. Allerdings war Fein ein Kommunist und Flanner ein Gewerkschafter. 5 Vgl. zur Selbstlegitimation der DDR und der Rolle Buchenwalds: Manfred Overesch, Buchenwald und die DDR oder die Suche nach Selbstlegitimation, Göttingen 1995. 6 Ulrich Herbert, „Zweierlei Bewältigung“, in: Zweierlei Bewältigung, (wie Anm. 2), S. 7–27, hier S. 20. 7 Vgl. z. B.: Dan Diner, „Antifaschistische Weltanschauung. Ein Nachruf“, in: Ders.: Kreisläufe. Natio­ nal­­sozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995, S. 77–94; Groehler, „Antifaschismus – Vom Umgang mit einem Begriff“, (wie Anm. 2), S. 29–40.

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gewesen.8 Auf diese Weise sei die „Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus politisch instrumentalisiert und auf diejenigen Bereiche reduziert worden, die mit dem politischen Legitimationsbedürfnis der DDR und der SED in Einklang standen“.9 Olaf Groehler schrieb aus der Innensicht auf die Geschichtsschreibung unter diesen Umständen: Schließlich war es kaum mehr möglich, Themen aus dem Bereich der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 darzustellen, ohne dem antifaschistischen Widerstand entsprechend umfangreiche Passagen und Abschnitte zu widmen. Nicht wissenschaftliche Notwendigkeit oder Sinnfälligkeit war dabei gefragt, sondern ein formelreiches Unterwerfungsdogma.

Er bezeichnete diese Praxis als „lippenbekennende Geste“ und wusste davon zu berichten, dass in der DDR schließlich sogar gefordert worden sei, „bei übergreifenden Darstellungen jeglicher Art der Behandlung des Antifaschismus so und so viel Prozent des Gesamttextes einzuräumen“. Dabei sei als Widerstand fast ausschließlich der von kommunistischen Arbeitern ausgehende anerkannt worden, andere widerständische Bewegungen seien als Opposition oder sogar Machtgerangel diskreditiert worden.10 Zwar lassen sich mit zeitlichem Abstand Bereiche erkennen, auf die diese Beobachtungen nicht zutreffen, z. B. die Filmindustrie, in der auch rassische Opfer des Nationalsozialismus thematisiert wurden.11 Jedoch kann das für die Erforschung der Musik in Konzentrationslagern nicht gelten, wovon zahlreiche Publikationen aus der DDR und auch der Bestand des IfVMF sowie seine Rezeption Zeugnis ablegen. Wie Anne-Katrin Bobran feststellte, war die Musikwissenschaft in der DDR an politischen Anforderungen orientiert und „parteilich“.12 Sie stellte Aktivitäten der deutschen kommunistischen Häftlinge in den Mittelpunkt und vernachlässigte andere Häftlingsgruppen. Musik wurde dementsprechend als eine Form des Widerstands in den Lagern interpretiert.13 Die Voreingenommenheit der DDR-Forschung kommt beispielhaft in Zitaten von Inge Lammel zum Ausdruck, die selbst als Jüdin Verfolgung erfahren hatte und von 1954 bis 1985 Leiterin des Arbeiterliedarchivs an der Akademie der Künste der DDR war.14 Als Ziel des Arbeiterliedarchivs benannte sie noch 1988:   8 Vgl.: Antonia Grunenberg, Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 183.   9 Olaf Groehler, „Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR“, in: Zweierlei Bewältigung, (wie Anm. 2), S. 41–66, hier S. 45, 52, 63. 10 Vgl.: Groehler, „Antifaschismus – Vom Umgang mit einem Begriff“, (wie Anm. 2), S. 36–38. 11 Vgl.: Elke Schieber, Tangenten. Holocaust und jüdisches Leben im Spiegel audiovisueller Medien der SBZ und der DDR 1946 bis 1990 – Eine Dokumentation, Berlin 2016. 12 Vgl.: Anne-Katrin Bobran, „Die Gedanken sind frei“ oder „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“? Theoretische Ansätze der Volksliedforschung in der DDR, Dissertation, Freiburg im Breisgau, Univ., Manuskript, 1991, S. 146. 13 Vgl.: Shirli Gilbert, Music in the Holocaust. Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps, New York 2006, S. 141. 14 Als Jüdin wurde Inge Lammel in ihrer Kindheit in Berlin Opfer von Anfeindungen und Gewalt. Es gelang ihren Eltern, sie 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien ausreisen zu lassen,

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Inna Klause

Gilt es doch nachzuweisen, dass trotz Repression und brutaler Gewalt die Arbeiterklasse und Antifaschisten jeglicher Gesinnung – unter den schweren Bedingungen der Illegalität – proletarische und humanistische Traditionen fortgesetzt haben. […] Vor einigen Jahren führte das Arbeiterliedarchiv mit ehemaligen politischen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen Gespräche und zeichnete Interviews auf, um konkret zu erkunden, auf welche Weise Kultur und Kunst den antifaschistischen Widerstand zu unterstützen vermochten.15

Es ging darum, eine Antwort auf die Frage zu finden, auf welche Weise Lieder „Kameraden physisch und moralisch […] stärken“ konnten,16 wobei mit Kameraden kommunistische Häftlinge gemeint waren. Andere Funktionen von Musik wurden entweder übergangen oder nur beiläufig erwähnt. Die vielen unterschiedlichen und auch ambivalenten Funktionen von Musik in Lagerhaft wie Darstellung der Unterdrückung, Ablenkung, Unterhaltung, Zeitvertreib, Machtmissbrauch oder Genuss wurden größtenteils ignoriert. Damit wurde die Interpretation der Musik im Konzentrationslager vollständig in den Dienst der Ideologie gestellt. Musik galt als „wirksame Waffe des illegalen Kampfes“.17 Die Prämisse der DDR-Forschung spricht z. B. aus folgenden Sätzen von Sonja Seidel, die sich als Leiterin der Kunstsammlung in der Gedenkstätte Buchenwald stark um die Erforschung von Kunst und Kultur im Lager verdient gemacht hat: Letzten Endes ist die Beschäftigung mit der Thematik [gemeint ist Kunst und Kultur in Lagerhaft] kein Selbstzweck. Sie ist die Verwirklichung eines Grundanliegens unserer sozialistischen Gesellschaft, das darin besteht, die Geschichte des antifaschistischen Widerstandskampfes in aller seiner Größe und Vielschichtigkeit zu erforschen.18

Eine andere Interpretation der Rolle von Kunst und Kultur in Lagerhaft war demnach nicht vorgesehen. Eine weitere wichtige Veröffentlichung, anhand derer sich die angedeutete Tendenz bestätigen lässt, stellt das mehrfach wiederaufgelegte Buch Buchenwald. Mah­ nung und Verpflichtung dar.19 Hinter den hier geäußerten Beobachtungen steht keineswegs das Bedürfnis, die DDR und ihre Musikwissenschaft zu diskreditieren, sondern die Frage danach, wie es dazu kommen konnte, dass dort Aktivitäten kommunistischer KZ-­Häftlinge derart im Mittelpunkt standen.

15 16 17 18 19

weshalb sie den Holocaust überlebte. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Vgl.: Abini Zöllner, Interview mit Inge Lammel (veröffentlicht am 04.07.2014), online auf: https://www.berlinerzeitung.de/mensch-metropole/interview-mit-zeitzeugin-und-aktivistin-inge-lammel-fluechtlingebereichern-berlin-li.24764, letzter Zugriff: 04.07.2022. Inge Lammel, „Lieder im faschistischen Konzentrationslager. Aus der Tätigkeit des Arbeiterliedarchivs der Akademie der Künste der DDR“, in: Musik und Gesellschaft, 33, 1983, S. 16–20, hier S. 16. Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern, hrsg. v. Inge Lammel u. Günter Hofmeyer (= Das Lied – im Kampf geboren 7), Leipzig 1962, S. 6. Kraft, „Dem Morgenrot entgegen …!“, (wie Anm. 1), S. 24. Sonja Seidel, „Kultur und Kunst im antifaschistischen Widerstandskampf im Konzentrationslager Buchenwald“, in: Buchenwald-Hefte, 1983, H. 18, Weimar-Buchenwald 1983, S. 8 f. Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung, hrsg. v. Walter Bartel, Berlin 1960.

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Bezeichnend dafür ist die Sammlung Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern von Inge Lammel und Günter Hofmeyer aus dem Jahr 1962. Thematisiert wird darin durchgehend das heroische Durchhalten der Häftlinge bei der Arbeit, ihre Kameradschaft und die Zuversicht, in die Freiheit zurückkehren zu können. Lieder über Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und andere negative Emotionen werden vermieden.20 Bei den meisten hier versammelten Stücken handelt es sich um Märsche. Nur in wenigen Liedtexten begegnet ein Ich-Erzähler, die meisten sind im Namen eines Kollektivs gedichtet und können als „Gruppen- oder Wir-Lieder“, die Solidarität erzeugen sollten, charakterisiert werden.21 Anne-Katrin Bobran kritisierte an der Sammlung zu Recht, dass sie keinen Überblick über das tatsächliche Liedrepertoire in den Konzentrationslagern vermittelt. Politische Lieder hätten mitnichten den größten Platz in den Liederbüchern der Häftlinge eingenommen, sondern eher einen geringen.22 Darüber hinaus muss angemerkt werden, dass in der Sammlung nur Lieder deutscher Häftlinge vertreten sind. Die Interpretation der selbstbestimmten Musikausübung in Konzentrationslagern als Form des politischen Widerstands ist bereits 1995 von Günter Morsch kritisiert worden. Sie werde „der Vielschichtigkeit der Motive, der Komplexität der Entstehungszusammenhänge und der großen Bandbreite verfolgter Absichten für die Entstehung und Verbreitung von Musik in Konzentrationslagern“ nicht gerecht.23 Eine reflexionslose Übernahme der Beurteilung von Musik als Medium des Widerstands kommunistischer Häftlinge scheint angesichts der ideologischen Grundlagen der DDR unangemessen. Damit soll jedoch keinesfalls die wichtige Leistung ostdeutscher Forscher geschmälert werden, die viele Zeugnisse der Musikausübung in Konzentrationslagern zusammengetragen haben. Ohne sie wäre die Forschung zur Musik in Konzentrationslagern um sehr viele Zeugnisse ärmer. Diese Zeugnisse bedürfen aber einer eingehenden Neuinterpretation, um den Topos vom Widerstand kommunistischer Häftlinge durch Musik nicht unhinterfragt weiterzutragen. 20 Einzige Ausnahme bildet das auf die Melodie des russischen Volkslieds Sten’ka Razin 1933 in den Emslandlagern gedichtete Lied Fern verbannt nach Emslands Norden, das neben einem von Traurigkeit zeugenden Text auch eine melancholische Melodie aufweist. Vgl.: Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern, (wie Anm. 16), S. 39 f. Bezogen auf die Melodie ist dies nur noch bei einem weiteren Lied dieser Sammlung der Fall, welches aus Sachsenhausen stammt (ebd., S. 60 f.) und bei dem der Ursprung der Melodie ebenfalls in Russland vermutet wird. Die Herausgeber erwähnen, dass es wegen seiner melancholischen Stimmung wenig Verbreitung gefunden haben soll. Die Melodie zu Sten’ka Razin fand bei zwei weiteren Liedern aus frühen Konzentrationslagern Verwendung. Vgl.: Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrations­ lagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Medio­ graphie, hrsg. v. Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager, Bremen 2000, S. 284. 21 Diese Begriffe verwendete Hans-Ludger Kreuzheck in Bezug auf das Moorsoldatenlied in seinem Aufsatz: „Von den Moorsoldaten zu den lebenden Steinen – zur Erforschung der Musik in den NSKonzentrationslagern“, in: Musikalische Volkskultur und die politische Macht. Tagungsbericht Weimar 1992 der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V., hrsg. v. Günther Noll, Essen 1994, S. 502–527, hier S. 513. 22 Vgl.: Bobran, „Die Gedanken sind frei“, (wie Anm. 12), S. 146. 23 Sachsenhausen-Liederbuch. Originalwiedergabe eines illegalen Häftlingsliederbuches aus dem Konzentra­ tions­lager Sachsenhausen, hrsg. v. Günter Morsch, Berlin 1995, S. 8.

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Damit soll nicht ausgesagt werden, dass Musik keine Form des Widerstandes in Konzentrationslagern sein konnte. Ganz im Gegenteil: Es gibt viele starke Zeugnisse darü­ ber, dass Musik zur geistigen Selbstbehauptung der Häftlinge gegenüber Lagerfunktionären beitrug, die aber keineswegs nur kommunistische Häftlinge betreffen. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen Aspekt der Musikrezeption in Konzentrationslagern, denn Musik eignete sich ebenso gut zur Machtdemonstration (nicht nur der Lagerfunktionäre gegenüber Häftlingen, sondern auch der Häftlinge gegenüber Mithäftlingen), zur Ablenkung, Verschleierung oder aber zur Identitätsstiftung, die sich wiederum teilweise mit Widerstand überschnitt.24

Quellen zur Musikausübung im KZ Buchenwald aus dem Bestand des IfVMF Anlässlich der Einweihung des Buchenwald-Mahnmals am 14. September 1958 bereitete das Weimarer Institut für Volksmusikforschung eine Ausstellung mit dem Titel Dem Morgenrot entgegen. Eine Ausstellung von Dokumenten und Zeugnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung in Lied und Musik vor, die vom 12. bis 16. September 1958 in den Räumen der damaligen Philipp-Müller-Schule in Weimar gezeigt wurde. Anschließend wurde sie bis 1960 in verschiedenen Städten der DDR präsentiert, wofür sie erweitert und angepasst wurde. Die Ausstellung bewirkte, dass ehemalige Häftlinge und ihre Angehörige dem IfVMF weitere Zeugnisse über dieses Thema zukommen ließen. Es wurden auch viele Personen im In- und Ausland angeschrieben und um Zeugnisse zur Musikausübung in Buchenwald gebeten.25 Im Anschluss an die Ausstellung wurde am IfVMF die Abteilung Buchenwaldsammlungen der kulturellen Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung gegründet.26 Die Sammlung des IfVMF wird heute im Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDESARCHIV aufbewahrt (Bestand 1021, Buchenwaldsammlungen). Sie umfasst u. a. Abschriften von Häftlingsgedichten, Liedtexten, veröffentlichten und unveröffentlichten Häftlingserinnerungen, Kopien von Musikstücken, wovon frühe Drucke von KZ-Liedern den größten Teil ausmachen, sowie Sekundärquellen. Abschriften aus Häftlingserinnerungen haben nicht durchgehend Musik zum Thema, sondern erzählen häufig von verschiedenen Überlebensstrategien der Häftlinge, wobei der Schwerpunkt auf der kommunistischen Gesinnung liegt. Einen ebenfalls großen Teil des Bestands machen Materialien der soeben erwähnten Ausstellung Dem Morgenrot entgegen aus, wobei es sich um Ausstellungsplakate und auf Pappen aufgezogene Fotos, die in Vitrinen präsentiert wurden, handelt. Darüber 24 Zu den vielfältigen Funktionen der Musik in Konzentrationslagern vgl.: Inna Klause, „Und alles mit Musikbegleitung“. Musikausübung im Gulag und in den nationalsozialistischen KZ im Vergleich (= Jüdische Musik. Studien und Quellen zur jüdischen Musikkultur 19), Wiesbaden 2021, S. 401–506. 25 Vgl.: Günther Kraft, „Die künstlerisch-musikalische Arbeit im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald“, in: Thüringer Heimat. Wissenschaftliche Heimatzeitschrift für die Bezirke Erfurt, Gera, Suhl, 4, 1959, H. 1, S. 1–9, hier S. 2. 26 HSA | ThLMA, Bestand IfVMF 83 (in einer Mappe, unfoliiert). Zur Arbeit des IfVMF vgl. auch die in einigen Angaben abweichende Darstellung in: Fackler, „Des Lagers Stimme“, (wie Anm. 20), S. 473 f.

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hinaus enthält die Sammlung einige Musikstücke aus der Nachkriegszeit, die Buchenwald zum Thema haben.27 Interessant ist auch der vom IfVMF gedrehte Amateurfilm Lied hinter Stacheldraht.28 Darin wird die Geschichte des KZ Buchenwald im Kontrast zu Weimars geistigem Erbe gezeichnet, und es werden Einblicke in die Arbeit der Studierenden der Weimarer Hochschule mit den Quellen des IfVMF sowie Eindrücke von der Ausstellung Dem Morgenrot entgegen vermittelt. Darüber hinaus sind einige eigens auf Anfrage des IfVMF verfasste Häftlingserinnerungen vorhanden, die bislang wenig Eingang in die Forschungsliteratur gefunden haben. Dazu gehört ein Bericht über Musik im KZ Buchenwald von Ondřej Volráb in einem Brief vom 9. Juni 1959 an das IfVMF (Signatur 1021–004b), auf den noch einzugehen sein wird. Volráb war als Notenschreiber und Arrangeur für die Lagerkapelle in Buchenwald tätig und komponierte dort auch einige Musikstücke.29 Die Sammlung des IfVMF umfasst außerdem eine Reihe von Notenmanuskripten, wovon einige im Original vorhanden sind und direkt aus dem KZ Buchenwald stammen. Sie bilden das Herzstück der Sammlung. Das interessanteste Originalmanuskript ist auf Anschussbögen der Wilhelm Gustloff Werke notiert, eines Rüstungsbetriebs, der auch im KZ Buchenwald eine Fabrik unterhielt, in der Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Es handelt sich dabei um einen vollständig erhaltenen sinfonischen Walzer von Ondřej Volráb mit dem Titel Pod cizím nebem [Unter fremdem Himmel, 1021–017a], in dem laut der aus DDR-Zeiten stammenden Beschriftung der Archivalie tschechische Motive verwendet werden. Nach der Angabe im Manuskript entstand dieser Walzer in der Zeit vom 24. August bis 4. September 1944. Im Kommentar des IfVMF dazu heißt es, dass das Stück vom Lagerorchester gespielt wurde (1021–017ab). 27 Dazu gehört die musikalische Bearbeitung und deutsche Nachdichtung von fünf Gedichten aus Buchenwaldský zpěvník [Buchenwald-Liederbuch], die von dem an der Weimarer Musikhochschule lehrenden Komponisten Theodor Hlouschek realisiert wurde. Das Original stammt von Jaroslav Bartl, der in Buchenwald Häftlingspfleger war, und Jiří Žák (Signatur 1021–008a und -008b, unter -008c Tonaufnahme mit Mitgliedern der Staatskapelle Weimar). Ebenfalls darunter zu finden ist Vano Muradelis Buchenval’dskij nabat [Das Sturmgeläut von Buchenwald, 1021–002] mit einer Übersetzung des Liedtextes ins Deutsche. 28 Der Film wurde im Juni 1960 beim I. Internationalen Amateurfilmfestival der ČSSR im böhmischen Mariánské Lázně mit dem Preis des Ministeriums für Kultur und Erziehung der Tschechoslowakei ausgezeichnet. Der Preis wurde vom Rat der tschechoslowakischen Filmamateure am Zentralhaus des Volksschaffens in Prag verliehen. Vgl.: HSA | ThLMA, Signatur 1021–027e und -029a. Darüber hinaus wurde der Film 1961 auf dem Internationalen Amateurfilmfestival Jugoslawiens in Belgrad mit einem Diplom ausgezeichnet sowie mit dem zweiten Preis beim Amateurfilmwettbewerb der DDR. Vgl.: Günther Kraft, „Das Lied hinter Stacheldraht. Ein Amateurfilm über kulturelle Zeugnisse des antifaschistischen Widerstandskampfes“, in: Musik und Gesellschaft, 12, 1962, H. 2, S. 80–85, hier S. 84. 29 Sein Bericht ist bislang lediglich in der Publikation von Elisabeth Brinkmann abgedruckt: Elisabeth Brinkmann, „Musik im Konzentrationslager Buchenwald“, in: „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz. Ein Projekt der HfM Franz Liszt Weimar zum Kulturstadtjahr 1999. Teil 2, hrsg. v. Hanns-Werner Heister, Saarbrücken 2001, S. 779–797, hier S. 788 f.

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Abb. 1: Fragment aus dem Manuskript Pod cizím nebem von Ondřej Volráb, HSA | ThLMA, Signatur 1021–017a.

Es sind nur wenige publizierte Informationen über Ondřej Volráb greifbar. Bei Milan Kuna, der sich auf böhmische Musiker in Konzentrationslagern spezialisierte, ist lediglich zu lesen, dass Volráb „ein routinierter Komponist populärer Musikstücke“ war.30 Der Datenbank der tschechischen Nationalbibliothek lassen sich seine Lebensdaten und -orte entnehmen – 10. März 1879 in Příchovice bis 21. Mai 1970 in Olomouc.31 Der Datenbank der Gedenkstätte Theresienstadt zufolge war Volráb ab dem 8. Mai 1943 in der Kleinen Festung Theresienstadt inhaftiert und wurde am 22. Juli 1943 auf Transport nach Buchenwald geschickt.32 Demnach war er bei seiner Ankunft in Buchenwald 64 Jahre alt, und es 30 Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt a. M. 1993, S. 57. 31 Databáze Národní knihovny ČR, https://aleph.nkp.cz/F/?func=direct&doc_number=000594863& local_base=AUT, letzter Zugriff: 04.07.2022. 32 Vgl.: Památník Terezín (Terezín Memorial), https://www.pamatnik-terezin.cz/prisoner/mp-volrabondrej, letzter Zugriff: 04.07.2022.

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ist zu vermuten, dass seine Arbeit als Notenschreiber großen Anteil daran hatte, dass er Buchenwald trotz fortgeschrittenen Alters überlebte. Die Häftlings-Personal-Karte Volrábs aus Buchenwald gibt zusätzlich Auskunft darüber, dass er verheiratet war und zwei Kinder hatte, von der Stapo Prag verhaftet worden war und zur Häftlingsgruppe der politischen Tschechen gezählt wurde,33 weil er linker Gesinnung war. Dem Urenkel Volrábs, Jan Obručník, ist zu verdanken, dass einige darüber hinausgehende Materialien über den Komponisten verfügbar sind, die Obručník der Gedenkstätte Buchenwald in elektronischer Form zur Verfügung gestellt hat. Diese Materialien enthalten drei Fotografien Volrábs, einen 1952 eigenhändig verfassten Lebenslauf, einen undatierten ebenfalls handschriftlichen Bericht über Buchenwald und einen Brief eines Mithäftlings aus dem Jahr 1960 über den Todesmarsch aus Buchenwald, alles in tschechischer Sprache. Aus Obručníks Materialien ist u. a. bekannt, dass Volráb von Beruf Lehrer war und 1899 der Tschechischen National-Sozialen Partei (ČSNS) beitrat. Er engagierte sich in der Sokol-Bewegung, in einem Theater in Merklín als Regisseur und Komponist und leitete darüber hinaus einen Chor. Von Juli 1914 bis November 1918 kämpfte er in der österreichisch-ungarischen Armee und kehrte als Leutnant mit einem Eisernen Kreuz nach Hause zurück. Bis zu seiner Pensionierung 1939 arbeitete er als Lehrer und Schulleiter. Während des Zweiten Weltkriegs war er im Widerstand tätig, weswegen er verhaftet und schließlich nach Buchenwald deportiert wurde. In seinem bereits erwähnten Brief vom 9. Juli 1959 an das IfVMF beschrieb Ondřej Volráb, wie es dazu kam, dass er für die Buchenwalder Häftlingskapelle komponierte bzw. Stücke dafür bearbeitete. Nachdem er am 22. Juli 1943 mit einem Transport tschechischer Häftlinge aus Plzeň nach Buchenwald gebracht worden war, kam er nach der erniedrigenden Aufnahmeprozedur zur Quarantäne ins Kleine Lager. Gleich am ersten Nachmittag kam Vlastimil Louda (1900–1971), der letzte Leiter und Kapo der Lagerkapelle, in der Kapellen-­Uniform in Volrábs Block, wodurch er im Elend des Kleinen Lagers auffallen musste. Die Kapellenmusiker trugen seit 1941 Uniformen, um, so Eugen Kogon, Eindruck bei Besuchern zu schinden. Es handelte sich dabei um gestohlene Uniformen der jugoslawischen königlichen Garde. Ein Exemplar davon kann in der aktuellen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald im Realienkabinett I Einkleidung neben der Arbeitskleidung für Handwerker, Sanitäter u. a. angeschaut werden und ist auch im Ausstellungskatalog34 abgebildet. Kogon kommentiert:

33 Vgl.: Památník Terezín (Terezín Memorial), http://archive.pamatnik-terezin.cz/vyhledavani/img/ buchenwald/5665_01.JPG, letzter Zugriff: 04.07.2022. 34 Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945. Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenk­ stätte Buchenwald, hrsg. v. Volkhard Knigge u. a., Göttingen 2016, S. 81.

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Abb. 2: Ondřej Volráb (ca. 1910), Privatarchiv, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Urenkels Jan Obručník.

Mit ihren Markierungen und dem ganzen übrigen Lagertamtam sahen die Mitglieder der Musikkapelle von da an wie die Zirkusdirektoren aus.35

Er war mit dieser Assoziation nicht allein. Auch Aimé Bonifas beschrieb das Spiel der Kapelle nach dem Morgenappell als „lächerliches Schauspiel“: Ein Zirkusorchester, zusammengestellt aus Häftlingen, kostümiert mit roten Hosen und blauen, goldverschnürten Jacken, spielt zum Abmarsch der Sträflinge eine Musik, zu der man Bären tanzen lassen könnte.

Er nennt die von der Kapelle gespielte Musik auch „Trompetengeschmetter“.36 Als „zirkusmäßig“ empfand die Kapelle auch Fritz Lettow, der ihre Kleidung als „Operettenuniformen“ bezeichnete.37 Die 1938 von der Lagerführung ins Leben gerufene Kapelle hatte in erster Linie die Aufgabe, den morgendlichen Ausmarsch der Häftlinge zu den Arbeitsstätten und die abendliche Rückkehr ins Lager mit Märschen zu begleiten. Darüber, warum Lagerkapellen in den Konzentrationslagern gegründet wurden, kann nur spekuliert werden, weil keine offiziellen 35 Eugen Kogon, Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946, S. 101. 36 Zit. nach: Sonja Staar, „Kunst, Widerstand und Lagerkultur. Eine Dokumentation“, Buchenwald­ heft 27, Weimar-Buchenwald 1987, S. 12. 37 Fritz Lettow, Arzt in den Höllen. Erinnerungen an vier Konzentrationslager, Berlin 1997, S. 85.

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Dokumente erhalten geblieben sind, die darüber Auskunft geben. Sowohl ehemalige Häftlinge als auch Wissenschaftler haben eine ganze Reihe von möglichen Gründen zusammengetragen, z. B. Anregung der Häftlinge zu besserer Arbeit und Disziplin, Ablenkung und Entspannung für die SS, Vorbeugung von Unruhen, Aushängeschild für das Lager gegenüber Außenstehenden oder Mittel, Schreie von Gefolterten und Erschießungen zu übertönen.38 Bei ihrem ersten Treffen stellte sich Louda auf Nachfrage Volrábs als Kapellmeister der Häftlingskapelle vor. Weiter schreibt Volráb: Auf meine Frage, ob er einige tschechische Märsche hätte, antwortete er, dass er nur 3 „Kmochy“39 und einige österreichische Militärmärsche hätte. Ich antwortete ihm darauf: „Schade, dass ich kein Notenpapier habe! Ich hätte Dir etwas geschrieben.“ Er drehte sich um und ehe eine Viertelstunde verging, brachte er Papier, Feder, Tinte und Lineal. Er gab die Sache dem Blockältesten bekannt. Dieser besorgte mir einen Tisch und Stuhl und wies die anderen an, mich nicht zu stören, da ich Noten schriebe. Das war am 22. Juli. Ich begann mit der Arbeit und am 26.7. wurde mein erster Marsch mit dem Titel „Erinnerung an Buchenwald“ gespielt. So begann meine komponistische Tätigkeit im Konzentrationslager Buchenwald. Der Kapellmeister Louda ermöglichte vom Lagerleiter, dass ich als Notenschreiber für die Lagerkapelle geführt wurde. Arbeit hatte ich genug. In den Noten, die die Lagerkapelle hatte, fehlten verschiedene Stimmen, die ich ergänzte.40

Abb. 3: Ondřej Volráb bei seiner Ankunft im KZ Buchenwald (1943), Privatarchiv, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Urenkels Jan Obručník.

38 Z. B. Simon Laks, Musik in Auschwitz, Berlin 2014, S. 25 f; Fackler, „Des Lagers Stimme“, (wie Anm. 20), S. 410; Sonja Staar, „Gefoltert, wo sonntags Filme liefen“, in: Thüringische Landeszeitung, Einleger Weimar, 28. November 2012, HSA | ThLMA, Signatur 1021–113; Hanns Berke, Buchenwald. Eine Erinnerung an Mörder, Salzburg 1946, S. 51 f, zit. nach einer Abschrift von Zitaten in: HSA | ThLMA, Signatur 1021–037c; Juliane Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 25), Berlin 2009, S. 53; Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996, S. 192. 39 Damit gemeint waren Stücke von František Kmoch (1848–1912), einem tschechischen Komponisten und Dirigenten von Blasmusik. 40 Brief von Ondřej Volráb an das IfVMF vom 09.06.1959, HSA | ThLMA, Signatur 1021–004b, S. 1.

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Außer am Lagertor spielte die Lagerkapelle seit August 1943 bis Dezember 1944 in von Häftlingen organisierten und von der Lagerleitung geduldeten Konzerten mit.41 Das im Museum Auschwitz-Birkenau aufbewahrte Manuskript des Künstlerischen Albums von Kazimierz Tymiński (Signatur PMO-I-1-433) enthält das Programm des ersten Konzerts in der Kinohalle am 1. August 1943: 1. [Wolfgang Amadeus] Mozart: Ouvertüre zu La clemenza di Tito 2. [Bedřich] Smetana: Vorspiel zu Dalibor 3. [Eugen] d’Albert: Vorspiel zu Tiefland 4. [Wolfgang Amadeus] Mozart: Eine kleine Nachtmusik 5. [Charles Auguste de] Bériot: Scène de Ballet 6. [Frédéric] Chopin: Polonaise A-Dur 7. [Julius] Fučík: Florentiner Marsch 8. [Vincenzo] Bellini: Vorspiel zu Norma 9. [Ondřej] Volráb: Erinnerungen an Buchenwald.42 Es wurde ein bunt gemischtes, aber doch eher klassisches Konzertprogramm präsentiert, Ondřej Volrábs Marsch Erinnerung an Buchenwald erklang als einzige Neukomposition zum Abschluss. Es spielte das Streichorchester unter der Leitung von Vlastimil Louda (Programmpunkte 1 bis 3), ein doppelt besetztes Streichquartett (4), Louda als Sologeiger (5), Kazimierz Tymiński am Klavier (6) und zum Schluss die Lagerkapelle (7–9). Das Konzert hatte sowohl bei Häftlingen als auch bei der SS so großen Erfolg, dass ihm weitere folgten und wegen des großen Menschenandrangs, auch von Seiten der SS, mehrfach gespielt werden mussten.43 Als Volráb für die Kapelle zu arbeiten begann, soll sie, seiner Erinnerung nach, aus 14 Musikern bestanden haben. Sie mussten nicht zur Arbeit ausrücken, sondern verrichteten Stubendienst, so auch Volráb. Über Louda schreibt er: Louda selbst war ein ausgezeichneter Geigenspieler mit einem feinen Gehör und daher ließ er bei den Musikübungen auch das Kleinste nicht durchgehen. Die Kapelle spielte daher auch ausgezeichnet.44

Volráb überliefert, dass mit dem tschechischen Transport im Juli 1943 viele gute Musiker nach Buchenwald deportiert worden seien, sodass die Blaskapelle erheblich vergrößert werden konnte. Er schreibt von 70 Musikern sowie zusätzlich 42 Streichern in einem neu eingerichteten Streichorchester, in dem ebenfalls Louda Kapellmeister war. In ebendiesem 41 Genaue Daten einzelner Konzerte sind zu finden in: Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung. Doku­ mente und Berichte, hrsg. v. Walter Bartel u. a., vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin 1983, S. 208 f. 42 Vgl.: Andreas Lehmann, Musik in Buchenwald – Józef Kropińskis Kompositionen als Spiegel kultureller Aktivitäten im Lager, Masterarbeit, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, 2014, (unveröffentlicht), S. 25–27. 43 Vgl.: Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 30), S. 57–59. 44 Brief von Ondřej Volráb an das IfVMF, (wie Anm. 40), S. 1.

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Orchester spielte Volráb den Kontrabass, welchen die Häftlinge von der SS-Kapelle geliehen bekommen haben. Volráb überliefert: „Auch noch andere erforderliche Geräte hatten wir von der SS-Kapelle ausgeliehen.“45 Der Marsch Erinnerung(en) an Buchenwald ist zusammen mit sieben weiteren Märschen, die Volráb in Buchenwald komponiert haben soll, unter dem Gesamttitel Za ostnatým drátem [Hinter Stacheldraht] ohne Jahresangabe in Plzeň in Einzelstimmen für großes Blasorchester publiziert worden (1021–017e). Ein Marsch dieser Sammlung, Zahynul mi Kamarád [Wie mein Kamerad umkam], wurde auch in der Reihe Neue Musik für Blasorchester vom Zentralhaus für Volkskunst in Leipzig 1961 herausgegeben, allerdings unter dem geänderten Titel Die Toten mahnen. Trauermarsch aus dem KZ Buchenwald (1021–017f ).46 Am Ende seines Briefs nannte Volráb den Dirigenten Louda „die Seele des gesamten Musiklebens im Lager“ und schrieb, dass er für die Programmgestaltung aller Konzerte in der Kinohalle verantwortlich war. Dies verweist darauf, dass es sich auch bei Louda um einen kommunistisch gesinnten Häftling handeln musste, denn die „Selbstverwaltung“ der Häftlinge in Buchenwald lag in den Händen kommunistischer Insassen, die keinen Andersdenkenden zur Programmgestaltung zugelassen hätten. Das Manuskript des bereits angesprochenen sinfonischen Walzers Pod cizím nebem [Unter fremdem Himmel] wird im Briefwechsel zwischen dem IfVMF und dem Komponisten thematisiert. Daraus erfährt man, dass es von Volráb selbst 1959 aus der Tschechoslowakei an das IfVMF geschickt wurde. In einem Brief vom 24. November 1959 fragte Günther Kraft Ondřej Volráb, ob die Überschrift „Walzer“ „aus didaktischen Gründen“ ersetzt werden könne „durch eine, von Ihnen zu bestimmende allgemeine Bezeichnung“, um die „Situation dieser natürlich lebensverbundenen, aber doch aus ihrer Umwelt heraus geschaffenen Arbeit zu akzentuieren. Vielleicht ließe sich eine Überschrift ‚Der Heimat verbunden‘ oder ähnlich finden.“47 Diese Anfrage demonstriert deutlich, dass in der DDR aus ideologischen Überlegungen Änderungen an originalen Überlieferungen vorgenommen wurden. Offenbar gab es Pläne zur Veröffentlichung des Manuskripts, denn in einem Brief vom 15. Februar 1962 fragte Volráb an, ob sein Walzer schon herausgegeben oder ob dieser Plan fallengelassen worden sei. Er schrieb: „Zu einer Abänderung des Titels gab ich bereits die Bewilligung.“ In seiner Antwort vom 13. März 1962 erläuterte Kraft, der Walzer sei noch nicht an einen Verlag gegeben, aber von der Weimarer Staatskapelle anlässlich eines Buchenwald-Gedenk-Konzerts im Weimarer Nationaltheater im Herbst 1961 aufgeführt und in einer Aufnahme mitgeschnitten worden. Kraft äußerte sich dahingehend, dass Pod cizím nebem nicht als gewöhnliche Unterhaltungsmusik veröffentlicht werden sollte, sondern als Dokument. Vielleicht schwebte ihm ein Faksimile-Druck vor, der jedoch nicht realisiert 45 Ebd., S. 2. 46 Über die Archivalie 1021–017e schrieb der am IfVMF tätige Kurt Thomas in einem Brief vom 14.05.1958, dass es sich um Märsche für Blasmusik handele, die in Buchenwald geschrieben worden seien (HSA | ThLMA, Bestand IfVMF 93, Mappe 3, unfoliiert). 47 Kopie des Briefs von Günther Kraft an Ondřej Volráb vom 24. November 1959, HSA | ThLMA, Bestand IfVMF 83 (in einer Mappe, unfoliiert).

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Abb. 4: Fragment aus dem Manuskript Pod cizím nebem von Ondřej Volráb, HSA | ThLMA, Signatur 1021–017a.

werden konnte, wofür möglicherweise finanzielle Gründe verantwortlich waren. Dazu ist aber nichts überliefert. Was Kraft Volráb nicht schrieb, ist, dass der Walzer im Herbst 1961 unter dem Titel Freundschaft in Buchenwald. Sinfonische Skizze aufgeführt wurde, sodass der ursprüngliche Titel nicht mehr erkennbar war. Kraft bemühte sich, Aufführungen der in Buchenwald entstandenen Musik zu initiieren, und hatte damit Erfolg. Bereits 1959 existierte eine Tonbandaufnahme des oben erwähnten Trauermarsches von Volráb, interpretiert vom Orchester der Volkspolizei zu Erfurt. Kraft wünschte sich, dass Musik aus Buchenwald bei nationalen Feierlichkeiten erklingen, von Betriebsblasorchestern gespielt werden und in der schulischen sowie außerschulischen Bildungsarbeit verwendet werden sollte.48 Das von Kraft erwähnte Buchenwald-Gedenk-Konzert fand am 9. September 1961 im Deutschen Nationaltheater in Weimar statt und wurde vom Sender Weimar, dem Deutschen Kulturbund, dem Nationaltheater, der Hochschule für Musik Franz Liszt, dem 48 Vgl.: Kraft, „Die künstlerisch-musikalische Arbeit im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald“, (wie Anm. 25), S. 3 f.

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Buchenwald-Komitee und dem Rat der Stadt Weimar veranstaltet. Anlass zu dem Konzert war die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Weimar an den Schriftsteller und ehemaligen Buchenwald-Häftling Bruno Apitz, der den Ehrenbürgerbrief während des Konzerts erhielt. Als Ausführende am Konzert beteiligt waren die Staatskapelle Weimar, das Zentrale Orchester der Deutschen Grenzpolizei, der Männerchor Sängerfreunde aus Erfurt, Chor und Orchester der Hochschule für Musik Franz Liszt und Solisten. Zur Aufführung kamen neben drei Stücken von Carl-Heinz Dieckmann und Ottmar Gerster ganze zwölf Kompositionen, die in Buchenwald entstanden waren, und zwar neben dem berühmten Buchenwaldlied Stücke von Ondřej Volráb, Jiří Žák (1917–1986), Jaroslav Bartl (1911–unbekannt) und Marco Marcovich (1908–1944).49 Von Volráb wurden drei Märsche und der sinfonische Walzer aufgeführt. Obwohl das IfVMF über jüdische Lieder aus Konzentrationslagern verfügte,50 wurde keines gespielt, was die These von der selektiven und voreingenommenen Wahrnehmung der KZ-Opfer erhärtet. Mit der Aufführung von Musikstücken, die in Konzentrationslagern entstanden waren, war die DDR der BRD zeitlich weit voraus. In der BRD begann erst in den 1980er-Jahren die Entdeckung der Musik, die als Folge des Nationalsozialismus entweder vergessen wurde oder unbekannt geblieben war. Bis heute werden Musikstücke aus Konzentrationslagern nur selten und meist in explizit dafür veranstalteten Konzerten aufgeführt.51 Im Hochschularchiv sind weitere Notenmanuskripte, die Ondřej Volráb in Buchenwald komponierte, in Kopie vorhanden. Sie sind für kleine Besetzungen komponiert und zollen der Heimat des Komponisten Tribut. So stellt das Stück Vězňova touha [Die Sehn­ sucht des Gefangenen] eine Meditation über das Lied „Čechy krásné“ [Schönes Böhmen] für Geige, Cello, Gesang und Klavier dar (1021–017b). Eine Fassung ohne Gesang wurde am 19. September 1943 in Buchenwald von den tschechischen Häftlingen Vlastimil Louda und Dr. František Polák sowie dem Polen Kazimierz Tymiński uraufgeführt.52 Am 2. November 1943 vollendete Volráb drei dreistimmig ausgesetzte Lieder, darunter die tschechische Nationalhymne Kde domov můj? [Wo ist meine Heimat?] mit dem Untertitel „Erinnerungen an das gemeinsame Leben in Buchenwald, für den Freund Dr. Alois Neuman“ (1021– 017c), einen tschechoslowakischen Politiker und Widerstandskämpfer. Am 19. April 1944 widmete Volráb ihm das Klavierstück Domů! Pochod [Nach Hause! Abmarsch, 1021–017d]. 49 Im Zuge der Recherchen für diese Untersuchung wurde im Hochschularchiv ein Mitschnitt dieses Konzerts mit dem dazugehörigen Programm entdeckt (HSA | ThLMA, Signatur TB 0636 sowie ein Schreiben dazu in NGK 318). Von dem Textdichter Jaroslav Bartl stammt die Melodie zum Lied Unser Weg. 50 Vgl.: Leo Rosenblüth, Mir lebn ejbig, Stockholm 1946, HSA | ThLMA, Signatur 1021–075. 51 Ein Überblick über die Rezeption von im Nationalsozialismus und Stalinismus verfolgten Kompo­ nisten ist enthalten in: Jascha Nemtsov, „Markant, jüdisch, verkannt. Gründe für Mieczysław Weinbergs ‚Nicht-Rezeption‘“, in: „Die Macht der Musik. Mieczysław Weinberg: Eine Chronik in Tönen“, Osteuropa, 2010, H. 7, S. 25–40. 52 Aus dem Manuskript geht ebenso hervor, dass Volráb die Häftlingsnummer 261 trug, obwohl er erst am 22. Juli 1943 nach Buchenwald deportiert wurde, was von der Eintragung in seiner HäftlingsPersonal-Karte bestätigt wird. Das Original der ursprünglichen Fassung ohne Gesangsstimme wird im Collection Department Terezín Memorial aufbewahrt (Signatur 11158).

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Abb. 5: Von Ondřej Volráb in Buchenwald dreistimmig ausgesetzte tschechische Lieder, HSA | ThLMA, Signatur 1021–017c.

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Es ist Ondřej Volráb gelungen, unter den Bedingungen des KZ kompositorisch produktiv zu sein. Außer den bislang genannten Stücken komponierte er auch für den tschechischen Chor, der sich zu Beginn des Jahres 1944 zusammengefunden hatte und ca. 60 Mitglieder zählte. Volráb bearbeitete für ihn mehrere tschechische Lieder und arrangierte einen „großen Zyklus von nationalen Liedern mit Streichorchesterbegleitung“. Dieser Zyklus soll an fünf aufeinanderfolgenden Abenden unter der Leitung Vlastimil Loudas im Rahmen eines internationalen Konzertprogramms mit Beteiligung von Deutschen, Tschechen, Polen, Russen und Jugoslawen aufgeführt worden sein.53 Die konventionell komponierten Stücke Volrábs demonstrieren die starke Verbundenheit des Komponisten mit seiner Heimat und die Zuversicht, dorthin zurückkehren zu können. Der Optimismus seiner am 9. September 1961 aufgeführten Stücke, auch derjenigen, die eine negative Überschrift tragen, lässt nicht ahnen, unter welchen lebensfeindlichen Bedingungen sie entstanden sind. Dies kann zum einen ein Zeichen dafür sein, dass diese Musik ihrem Urheber und den Zuhörern als Ventil im Lageralltag diente bzw. als Mittel, sich dem Lageralltag zu entziehen. Auf der anderen Seite ist denkbar, dass die Märsche derart optimistisch klingen, um den Lagerfunktionären zu gefallen und die Stellung als Musiker nicht zu verlieren, die überlebenswichtig war. Eine Interpretation dieser Musik als widerständisch ist zumindest nicht die einzig mögliche. Dass gerade sie für Aufführungen in der DDR ausgewählt wurde, fügt sich widerspruchslos in die Interpretation der Musik als Mittel des Widerstands kommunistischer Häftlinge ein. Ein weiteres in Weimar im Original vorhandenes Notenmanuskript, worauf das Gesagte ebenfalls zutrifft, trägt den Titel Gloire à nos Fusillés! Marche lente [Ruhm unseren Erschossenen! Langsamer Marsch] und stammt vom französischen Saxofonisten, Klarinettisten, Flötisten, Sänger und Orchesterleiter Marco Marcovitch, der sowohl die Musik als auch den Text dazu verfasste (1021–018). Es handelt sich um einen von ihm aus Paris an das IfVMF geschickten Klavierauszug mit Singstimme.54 Marcovitch, der im August 1944 nach Buchenwald deportiert wurde, spielte dort im Jazzorchester mit, welches Rhythmus hieß, wurde zu seinem Ideengeber und arrangierte dafür Lieder. Auch dieses Stück wurde, in der Orchestrierung des damals an der Weimarer Musikhochschule lehrenden Komponisten Theodor Hlouschek, am 9. September 1961 aufgeführt und aufgenommen.

53 Brief von Ondřej Volráb an das IfVMF, (wie Anm. 40), S. 2; vgl. dazu auch: Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, (wie Anm. 30), S. 139. 54 Aus dem Manuskript geht hervor, dass Marcovitch die Häftlingsnummer 81.104 trug und in Buchenwald im Block 40d leben musste.

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Abb. 6: Gloire á nos fusillés von Marco Marcovitch, HSA | ThLMA, Signatur 1021–018, S. 1.

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Abb. 7: Gloire á nos fusillés von Marco Marcovitch, HSA | ThLMA, Signatur 1021–018, S. 2.

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Über die erwähnten Musikstücke hinaus werden in der Buchenwaldsammlung sogenannte „Skizzenblätter zu einem Requiem eines unbekannten französischen Häftlings“ aufbewahrt (1021–019). Die Information, sie stammten direkt aus dem KZ Buchenwald, ist dem Katalog des IfVMF entnommen. Es gibt in den überlieferten Unterlagen des IfVMF jedoch leider keinerlei Hinweise darauf, wie diese Blätter an das Institut gekommen sein könnten. In seinem Artikel über den Film Das Lied hinter Stacheldraht schreibt Günther Kraft über den Urheber dieser Skizzenblätter: „jener unbekannte französische Häftling, der uns aus Paris die Skizzenblätter zu seinem im ‚Buchenwald‘ entworfenen ‚Requiem‘ zusandte“.55 Warum er unbekannt bleiben wollte, obwohl er mit dem Institut korrespondierte, bleibt unklar. Es ist jedoch denkbar, dass der Zeuge vielleicht Anfeindungen befürchtete, weil er zu einer Häftlingsgruppe gehört hatte, die auch nach dem Weltkrieg stigmatisiert wurde. Das Manuskript ist mit blauer Tinte auf sieben sehr dünnen Notizblockzetteln im DIN A5-­ Format notiert und quasi unlesbar. Die beidseitige Beschriftung macht die Entzifferung noch schwieriger. Viele Notenhälse haben keine Köpfe, sodass die Tonhöhen völlig unklar sind. Die einzigen erkennbaren Titel sind „Lacrymosa – Andante – flute“ und „Resurrectio Mortuorum – Allegro“. Die Buchenwaldsammlung im Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIV spiegelt die DDR-Forschung über Musik in Konzentrationslagern anschaulich wieder. Sie enthält Manuskripte von unschätzbarem Wert, die ohne das IfVMF vermutlich hierzulande unbekannt wären. Sie ist aber – und das muss bedacht werden, wenn damit gearbeitet wird – einseitig darauf ausgerichtet, die kommunistischen Häftlinge in den Mittelpunkt zu rücken. Gefördert durch die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar im Rahmen des Thüringer Programms zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchskünstlerinnen. Ich bedanke mich ganz herzlich beim Freistaat Thüringen, bei der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hochschularchivs | THÜRIN­ GISCHEN LANDESMUSIKARCHIVS für die Unterstützung.

55 Kraft, „Das Lied hinter Stacheldraht“, (wie Anm. 28), hier S. 82.

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Dieser bescheidene Mensch von kleiner Statur, mit einer Brille auf der kleinen Nase, widmete jede freie Minute, um Noten zu schreiben, obwohl er nicht in der Kapelle mitspielte. Er komponierte die Musik zu im Lager entstandenen Texten, stellte neue Märsche für unser Ensemble zusammen, spielte im Geigenquartett des Lagers, brachte mir bei, Musikstücke zu harmonisieren und zu arrangieren, und er verbreitete einen ehrlichen Optimismus. Ich sehe ihn noch heute, wie er ganze Tage am Tisch brütete und kleine Punkte auf geschickt angefertigtes Notenpapier schrieb.1

In den Erinnerungen an seine Gefangenschaft im Konzentrationslager Buchenwald zeichnet Kazimierz Tymiński hier ein eindrückliches Bild des „Lagerkomponisten“ Józef Kropiński, der vom 12. März 1943 bis zum 10. April 1945 in Buchenwald inhaftiert war. Auf der Spurensuche nach verfolgten Musikern2 im nationalsozialistischen Thüringen lassen sich die Lebenswege zahlreicher internationaler Berufs- und Laienmusiker im Konzentrationslager Buchenwald nachvollziehen. Es sind einige wenige Gefangene, die wiederholt in den Berichten von Zeitzeugen erwähnt werden und das heutige Bild der Musikgeschichte Buchenwalds geprägt haben.3 Guido Fackler verwendet für diese herausragenden Künst1

Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau, Archivum, Wspomnienia, Tom 198, Nr. inw. 174844, Be­­ richt Kazimierz Tymiński, Okruchy wspomnień obozowych [Bruchstücke von Erinnerungen aus dem Lager] 1981, übers. aus dem Polnischen von Dr. Dieter Rudolf, Weimar (unveröffentlicht) 2008, S. 91, in: Handakten Kunstsammlung Buchenwald, Slg. A, Bd. 28. 2 Zur sprachlichen Vereinfachung wird in der vorliegenden Darstellung das generische Maskulinum verwendet. Die Untersuchung beschränkt sich auf das Stammlager Buchenwald, in dem vorwiegend männliche Häftlinge inhaftiert waren. Frauen wurden hier nur vereinzelt gefangen gehalten, etwa im Bordell. S.  hierzu: Harry Stein, Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, hrsg. v. der Gedenkstätte Buchenwald, Göttingen 1999, S. 145. Außerdem wurden vereinzelt prominente Persönlichkeiten wie die Prinzessin Mafalda in der Isolierbaracke untergebracht. Insgesamt waren 10  Prozent aller Buchenwaldhäftlinge Frauen, darunter 30  Prozent in den Außenkommandos. Die meisten weiblichen Häftlinge befanden sich in den 27 Frauen-Außenkommandos von Buchenwald. S. hierzu: Irmgard Seidel, „Jüdische Frauen in den Außenkommandos des Konzentrationslagers Buchenwald“, in: Genozid und Geschlecht: jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, hrsg. v. Gisela Bock, Frankfurt a. M. 2005, S. 149–168; Die Frauen des KZ Buchenwald, hrsg. v. der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. 22019. 3 An welche Musiker erinnert wird, ist jedoch nicht nur abhängig von der Erzählung der Überleben­ den, sondern auch der Rezeptionsgeschichte der überlieferten KZ-Kompositionen und autobiographischen Schriften. Inna Klause befasst sich in ihrem Beitrag [auf Seiten 233–252 dieses Bandes] anhand der „Buchenwaldsammlung“ aus dem Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDES-

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ler den Begriff der „Initiativpersönlichkeiten“.4 Zu ihnen gehört auch Józef Kropiński, der während seiner Gefangenschaft in Auschwitz und Buchenwald etwa 500 Arrangements sowie Lied- und Instrumentalkompositionen schuf. Doch neben so zentralen Persönlichkeiten wie Kropiński gab es viele Laienmusiker, die trotz der lebensbedrohlichen Lagerhaft in der arbeitsfreien Zeit auf eigene Initiative sangen oder musizierten. Wer waren diese Gefangenen und unter welchen Voraussetzungen war es ihnen möglich, im Konzentrationslager Buchenwald künstlerisch aktiv zu werden? Heute geben verschiedene Quellen Auskunft über die Akteure selbstbestimmter musikalischer Aktivitäten im Konzentrationslager Buchenwald. Neben einer Vielzahl von Erinnerungsberichten wie der eingangs zitierten Aussage zu Kropiński sind es v. a. handschriftlich geführte Liedsammlungen, die heute einen Zugang zu den Lagerkünstlern und ihrem Wirken ermöglichen.5 Einige der Sammlungen entstanden als Kollektivschöpfungen und bieten einen Einblick in ein Gefangenennetzwerk, das im Lager künstlerisch aktiv war. Die Netzwerkanalyse dieses Personenkreises ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis für Bedingungen künstlerischer Tätigkeiten im Lagerkontext, denn erst anhand der Betrachtung aller Akteure und ihrer Aktionsräume werden soziale, räumliche und zeitliche Voraussetzungen für selbstbestimmtes Musizieren nachvollziehbar. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das Netzwerk, dass sich in den Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald dokumentiert, zu erschließen, darzustellen und in seinem historischen Kontext zu beschreiben. Anhand der Vernetzung der Häftlinge dieser spezifischen Personengruppe lassen sich Bedingungen künstlerischer Aktivitäten im Konzentrationslager beschreiben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf soziologischen Erklärungsmodellen. Wenngleich von einer Netzwerkanalyse mittels Maßzahlen abgesehen wird, so findet eine Annäherung an die Methode im Lagerkontext statt. Abschließend wird der Ansatz reflektiert, um weitere Möglichkeiten der Netzwerkanalyse für das Verständnis künstlerischer Tätigkeiten im Konzentrationslager aufzuzeigen.

MUSIKARCHIV in Weimar mit dem Einfluss der DDR-Geschichte auf die Rezeption des künstlerischen Lebens im Konzentrationslager Buchenwald. 4 Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrations­ lagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/ Mediografie, hrsg. v. Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager, Bremen 2000, S. 17. 5 Die Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald sind Gegenstand eines Disserta­ tions­­projektes von Christine Oeser. Bereits in ihrer Masterarbeit befasste sie sich eingehend mit der Liedsammlung von Kazimierz Tymiński: Christine Oeser, Die Musikalien im Künstlerischen Album von Kazimierz Tymiński – Ein Spiegel der kulturellen Tätigkeiten im Konzentrationslager Buchenwald?, Weimar (unveröffentlicht) 2013. Eine Einführung in die Methode ihrer Arbeit bietet der Artikel: Christine Oeser, „‚Ein Lied erklingt, das die Heimat sang‘. Liederbücher aus dem Konzentrationslager Buchenwald  – Annäherung an eine Quellengattung“, in: Musik in Konfrontation und Ver­ mittlung. Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2018 in Osnabrück, hrsg. v. Dietrich Helms u. Stefan Hanheide, Osnabrück 2020, S. 211–222.

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1. Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald als Quelle für eine Netzwerkanalyse Bei den Liedsammlungen aus Buchenwald handelt es sich um ein Konvolut handschriftlich geführter Liederhefte, die während der Gefangenschaft von den Häftlingen im Geheimen angefertigt wurden. Heute sind acht Sammlungen überliefert,6 die von Gefangenen deutscher und polnischer Nationalität hinterlassen wurden. Zu den deutschen Autoren7 gehören Max Göhrmann (1882–1965), Willy Jentsch (1892–1966) und Willy Settner (1904–unbekannt). Sie wurden aufgrund politischer Aktivitäten verhaftet und gelangten über verschiedene Haftstationen ins Konzentrationslager Buchenwald, wo sie über einen verhältnismäßig langen Zeitraum von 1938 bzw. 1939 bis 1945 gefangen gehalten wurden. Als Buchbinder (Göhrmann), ausgebildeter Fleischer (Jentsch) und Metallschleifer (Settner) hatten diese drei Autoren weder beruflich mit Musik zu tun, noch konnten besondere musikalische Betätigungen nachgewiesen werden. Die polnischen Autoren Wacław Czarnecki (1902–1990), Edmund Polak (1915–1980), Józef Pribula (1919–1984), Kazimierz Tymiński (1914–1989) und Kazimierz Wójtowicz (1919–2006) kamen mit Ausnahme von Pribula erst 1943 bzw. 1944 nach Buchenwald. Auch hier führten politische Aktivitäten – in diesem Falle in polnischen Untergrundorganisationen gegen die deutsche Besatzung – zur Verhaftung. Von Beruf Journalist (Czarnecki), Publizist und Lyriker (Polak), Redakteur (Wójtowicz) und Bergbauingenieur (Tymiński) sowie Bergmann und Schlosser (Pribula) handelte es sich bei diesen Gefangenen um einen Kreis vorwiegend Intellektueller, die keiner musikalischen Berufung nachgingen. Nur Kazimierz Tymiński, der in seiner Jugend eine Musikerlaufbahn angestrebt hatte, verfügte über eine grundlegende musikalische Ausbildung. Im Vergleich der Liedsammlungen zeigen sich deutliche Unterschiede sowohl im Inhalt als auch in der Gestaltung. Die im Folgenden vorgenommene Gegenüberstellung dieser beiden Quellengruppen soll jedoch keine qualitative Bewertung implizieren, sondern die unterschiedlichen Inhalte und Gestaltungsweisen benennen. Bei den Liedsammlungen der deutschen Gefangenen handelt es sich um schlichte Liederhefte, die überwiegend Liedtexte enthalten und nur vereinzelt Notenfragmente aufweisen. Weitere Inhalte wie eingeklebte Zeitungsausschnitte im Liederbuch von Max Göhrmann (s. Abb. 1: Max Göhrmann), Zitate aus der Weltliteratur bei Willy Jentsch oder Angaben

6 Die Liedsammlungen aus Buchenwald werden heute in verschiedenen Archiven aufbewahrt: den Sammlungen der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, im Folgenden kurz SGB (Max Göhrmann, Józef Pribula, Kazimierz Wójtowicz), dem Deutschen Historischen Museum Berlin (Willy Jentsch), der Akademie der Künste Berlin (Willy Settner), den Kunstsammlungen des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau (Kazimierz Tymiński) und dem Muzeum Niepodległośći Warszawa (Edmund Polak). 7 Der Begriff „Autor“ wird im Folgenden für die Personen verwendet, die die Liedsammlungen besaßen und Eintragungen sammelten, wenngleich im Falle einiger Sammlungen mehrere Gefangene beteiligt waren. Synonym ist von „Liedsammlern“ die Rede. Alternative Begriffe wie „Besitzer“ oder „Tagebuchführer“ erwiesen sich in diesem Zusammenhang als zu sperrig oder ungeeignet.

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Abb. 1: Auszug aus dem Liederheft von Max Göhrmann, SGB V 1166 L.

zur Haft bei Willy Settner ergänzen die Eintragungen und verleihen den Sammlungen individuelle Züge. Demgegenüber handelt es sich bei den Liedsammlungen der polnischen Gefangenen um aufwendig gestaltete Kollektivschöpfungen, die von insgesamt ca. 200 Häftlingen aus 14 Nationen aufgezeichnet wurden. Auch in den Sammlungen der polnischen Gefangenen liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf dem Liedgut. Allein die musikalische Darstellung ist jedoch vielfältiger: Mehrstimmige Notensätze und vereinzelte Instrumentalkompositionen legen musikalische Grundkenntnisse nahe. Darüber hinaus enthalten die Sammlungen weitere Eintragsformen wie Unterschriften, Adressen und Widmungen von Mitgefangenen, tagebuchartige Einträge und Haftnotizen, Gedichte und Programme von künstlerischen Veranstaltungen im Lager. Die aufgezeichneten Lieder wurden teilweise durch Bleistiftund Tuschezeichnungen, Aquarelle oder eingeklebte Fotografien illustriert (s. Abb. 2: Illustration des Liedes Moorsoldaten bei Kazimierz Tymiński). Der Begriff Liedsammlung greift hier zu kurz, weshalb Tymińskis Sammlung im Archiv des Staatlichen Museum AuschwitzBirkenau als „Künstlerisches Album“ bezeichnet wird. Im Folgenden wird dieser Begriff übernommen. Synonym findet in Anlehnung an das Erinnerungsalbum der Begriff „Liederalbum“ Verwendung, da der inhaltliche Schwerpunkt auf dem Liedgut liegt. Das Album von Kazimierz Wójtowicz fällt aus dieser Quellengruppe heraus, da es hauptsächlich Eintragungen von Mitgefangenen enthält. Aufgrund der persönlichen Nähe zu den polnischen Liedsammlern sowie zahlreicher Übereinstimmungen im Bekanntenkreis wurde es jedoch in die Netzwerkuntersuchung einbezogen.

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Abb. 2: Illustration des Liedes Moorsoldaten im Künstlerischen Album von Kazimierz Tymiński, S. 10, Sammlungen des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, PMO-I-1-0433.

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Es sind v. a. die Kollektivschöpfungen, die einen Zugang zu künstlerischen Personennetzwerken im Konzentrationslager Buchenwald ermöglichen, weshalb im Folgenden eine Einschränkung auf diesen Sammlungstyp erfolgt. Hinweise auf Personen sind verschiedenen Eintragsformen zu entnehmen. Anmerkungen zu den Lagerkompositionen führen Dichter und Komponisten auf, die im Konzentrationslager schöpferisch tätig waren. Notizen zur Aufführungspraxis nennen Personen, die das aufgezeichnete Liedgut und andere Beiträge vortrugen. Programme zu Konzerten und anderen Veranstaltungen im Lager dokumentieren ebenfalls mitwirkende Künstler. Teilweise sind Besetzungslisten von Ensembles überliefert, wie die namentliche Aufstellung der Mitglieder der Lagerkapelle im Liederalbum von Tymiński (s. Abb. 3: Die Lagerkapelle). Einige Personen wurden von bildenden Künstlern im Lager porträtiert (s. Abb. 4: Porträt von Józef Pribula). Besonders aufschlussreich für lagerinterne Personennetzwerke sind jedoch die mit zahlreichen Unterschriften versehenen Seiten, die nicht nur Namen von Musikern, sondern auch anderer bildender und darstellender Künstler wie Dichter, Maler, Schauspieler, Artisten, Tänzer und Organisatoren der polnischen Szene überliefern. Außerdem unterzeichneten einige Personen, die demselben Bekanntenkreis angehörten, aber nicht künstlerisch tätig waren. Über den Lagerkontext hinaus verweisen eingeklebte Fotografien von Familienmitgliedern Pribulas in seinem Album.

Abb. 3: Lagerkapelle Buchenwald im Künstlerischen Album von Kazimierz Tymiński, S. 88, Sammlungen des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, PMO-I-1-0433.

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Abb. 4: Valentin Jermakowicz, Porträtzeichnung von Józef Pribula im Künstlerischen Album von Pribula, S. 53 links, SGB V 1347 L.

Um die fünf polnischen Chronisten gruppiert sich ein dichtes Netzwerk von Akteuren, die das künstlerische Leben der späten Kriegsjahre aktiv mitgestalteten.

2. Im Kontext: Bedingungen und Formen künstlerischen Lebens im Konzentrationslager Buchenwald 1943–1945 Die Beschäftigung mit künstlerischen Tätigkeiten im Konzentrationslager erfordert eine Einordnung in den Kontext, denn das Musikleben im Lager stand stets im Spannungsfeld von fremdbestimmtem Musizieren auf Befehl der SS und selbstbestimmten künstlerischen Aktivitäten der Gefangenen. Einerseits wurde Musik von den Machthabenden zur Unterdrückung und Folter der Häftlinge missbraucht; andererseits musizierten die Gefangenen in eigenem Interesse, um das Erlebte zu verarbeiten, gemeinsam an bessere Zeiten zu erinnern oder sich kurzzeitig Ablenkung vom Lageralltag zu verschaffen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf den Bereich der selbstbestimmten Tätigkeiten, wobei der Fokus auf der kollektiven kulturellen Praxis liegt.

Soziologische Erklärungsmodelle für Handlungsbedingungen im Konzentrationslager Inwieweit die Gefangenen in eigenem Interesse künstlerisch aktiv werden konnten, war abhängig von verschiedenen Faktoren. Entscheidenden Einfluss auf die Haftbedingungen und damit die Möglichkeiten für eigeninitiierte Aktivitäten hatten die Lagerform und die Phase der Einlieferung. Doch auch die sozialen Strukturen innerhalb der sogenannten „Häftlingsgesellschaft“8 wirkten sich auf Spielräume selbstbestimmten Handelns aus. 8 Der Begriff der „Häftlingsgesellschaft“ wird eingehend betrachtet in: Uwe Bader, Wolfgang Benz u. Barbara Distel, Häftlingsgesellschaft, Dachau 2005, S. 1.

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Nur die wenigsten waren während ihrer Gefangenschaft physisch und psychisch dazu in der Lage, selbstbestimmt künstlerisch tätig zu werden. Grundvoraussetzung für organisierte künstlerische Tätigkeiten, wie sie sich in den Liederalben aus Buchenwald dokumentieren, war das Erlangen einer verhältnismäßig sicheren Position im Lager und der Anschluss an eine stabile Gemeinschaft. Die Gefangenen wurden durch das sogenannte Winkelsystem verschiedenen Häftlingskategorien zugeordnet, die den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen steuerten. Ein kleiner Teil der Gefangenen war außerdem in die Strukturen der sogenannten „Selbstverwaltung“ eingebunden und übernahm Aufgaben zur Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs. Die Position eines solchen „Funktionshäftlings“ war mit gewissen Freiheiten verbunden und bildete den Nährboden für selbstbestimmtes künstlerisches Leben. Mit Hilfe soziologischer Ansätze können Handlungsbedingungen künstlerischer Tätigkeiten im Konzentrationslager beschrieben werden. In ihrer Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Soziologie und Nationalsozialismus stellen die Soziologinnen Michaela Christ und Maja Suderland 2014 fest, dass der Nationalsozialismus in der deutschen Soziologie noch immer ein randständiges Thema darstelle, das inhaltlich und institutionell stärker verankert werden müsse. Die Aufgabe bestehe darin, sich insbesondere den sozialen Akteuren zuzuwenden, „um zu rekonstruieren, welche Verhältnisse welches Handeln ermöglichten oder gar beförderten“.9 Aufgrund der Organisationsstruktur der Konzentrationslager liegt es nahe, die Häftlings­ gesellschaft als eine hierarchisch angelegte Gesellschaft zu beschreiben, die auf der Ungleichbehandlung einzelner Häftlingsgruppen basierte. Dieses Modell bietet einen Erklärungsansatz für den Zugang zu den begrenzten Ressourcen, sodass nur ein ausgewählter Gefangenenkreis an den selbstbestimmten künstlerischen Tätigkeiten teilhatte. Der Soziologe Wolfgang Sofsky führt den Gedanken noch weiter und beschreibt das Lager als extremes Machtsystem, das inmitten der Gesellschaft einen in sich abgeschlossenen Kosmos darstellte und sich „an der Grenze jeder Sozialität“ bewegte.10 Damit verortet er das Lager zugleich außerhalb der bestehenden Gesellschaft. Maja Suderland hingegen überträgt Pierre Bourdieus Modell des „sozialen Raums“ auf die Lagergesellschaft und hebt die strikte Grenzziehung zwischen der Lagergesellschaft und der Gesellschaft außerhalb des Stacheldrahts auf.11 Auch im Lager sei die Position des Einzelnen abhängig von der Verfügbarkeit „ökonomischen“, „kulturellen“ und „sozialen Kapitals“. In Bezug auf die vorliegende Untersuchung sind insbesondere das „kulturelle“ und „soziale Kapital“ von Interesse. Letzteres beruht laut Bourdieu auf Gruppenzugehörigkeit und hilft, ein „Netz von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“ aufzubauen.12 Netzwerke können demnach im Lager als sozia  9 Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven, hrsg. v. Michaela Christ u. Maja Suderland, Berlin 2014, S. 20. 10 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors, Frankfurt a. M. 21993, S. 18. 11 Maja Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Kon­zen­trationslager, Frankfurt a. M. u. a. 2004. 12 Pierre Bourdieu zitiert nach: Suderland, Territorien des Selbst, (wie Anm. 11), S. 37.

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les Kapital nutzbar gemacht werden.13 Der kollektive Vorteil liegt dabei im solidarischen Verhalten, der Selbstorganisationsfähigkeit und dem Vertrauen in gemeinsame Normen; der individuelle Nutzen zeigt sich im sozialen Einfluss und Zugang zu Informationen. Die Übertragung von Bourdieus Konzept des sozialen Raums auf die Lagergesellschaft betont die Bedeutung von Bildung und sozialen Kontakten für die Positionierung des Einzelnen innerhalb der hierarchischen Lagergesellschaft. Soziales Kapital begünstigt breitere Handlungsmöglichkeiten und nicht zuletzt den Zugang zu selbstbestimmten künstlerischen Tätigkeiten. Umgekehrt kann der Rückgriff auf gemeinsame kulturelle Erfahrungen und die kollektive künstlerische Praxis den Anschluss an eine Gruppe beeinflussen. Die folgende Darstellung orientiert sich an dem Ansatz von Maja Suderland, denn die Übertragung verschiedener Formen der Handlungskoordination wie Hierarchie, Markt und Netzwerk auf das Konzentrationslager bietet Erklärungsansätze für soziale Bedingungen selbstbestimmter künstlerischer Tätigkeiten. Künstlerisches Leben im Konzentrationslager Buchenwald 1943–1945 Die heute überlieferten Liederalben der polnischen Autoren entstanden nach 1943 im Konzentrationslager Buchenwald. In dieser Zeit wurde die Häftlingsgesellschaft zunehmend internationaler, was sich auch in den Eintragungen in den Liedsammlungen abzeichnet. Massendeportationen nahmen zu und Einlieferungen erfolgten nicht mehr ausschließlich im Zuge politischer oder antijüdischer Verfolgung, sondern v. a. aus den besetzten Gebieten Europas und den geräumten Lagern an der Front. Seit 1943 bildeten sowjetische und polnische Zwangsarbeiter sowie politische Häftlinge aus dem besetzten Europa die beiden größten Häftlingsgruppen, Mitte 1944 kamen ungarische und polnische Juden als drittgrößte Gruppe hinzu. Einen Überblick über die zahlenmäßig am stärksten vertretenen Nationen in diesen Jahren zeigt eine tabellarische Übersicht von Harry Stein.14 Häftlinge nach Herkunft Datum

Gesamt

Russen

Polen

Franzosen

Juden

„Reichsdeutsche“

Tschechen

29.08.1942

9.881

3.688 12 %

1.155 12 %

10 0,1 %

694 7%

ca. 3.050 31 %

568 6%

25.12.1943

37.221

14.451 39 %

7.569 20 %

4.689 13 %

352 1%

ca. 4.760 13 %

2.831 8%

15.10.1944

88.231

23.934 27 %

17.964 20 %

13.437 15 %

13.437 12 %

6.666 8%

4.960 6%

13 Vgl.: Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, hrsg. v. Johannes Weyer, München 32014, S. 74. 14 Stein, Konzentrationslager Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 155.

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Trotz der Überfüllung des Lagers und den sich verschlechternden Haftbedingungen entwickelte sich seit dem Sommer 1943 im Konzentrationslager Buchenwald ein auffallend reges Kulturleben. Ausgangspunkt für selbstbestimmte Tätigkeiten war das Musizieren auf dem Block, denn in den gewaltberuhigten Wohnbaracken waren die Gefangenen zumeist unter sich. Hier wurde in der knapp bemessenen Freizeit musiziert, sei es in Form von Solovorträgen, Auftritten kleiner Ensembles oder sogenannter „Bunter Abende“ – organisierten Blockkonzerten mit kurzen Beiträgen verschiedener Künstler. Musiziert wurde zur Unterhaltung und Ablenkung, aber auch zu konkreten privaten Anlässen wie den Geburtstagen von Mitgefangenen oder Festtagen im Jahreskreis. Zwischen den Blocks kam es dabei zu einem intensiven Austausch. Eine weitere Form des künstlerischen Lebens bildeten politisch motivierte Feiern anlässlich von Nationalfeiertagen, revolutionären Ereignissen oder zum Gedenken an verstorbene Mitgefangene. Da derlei Veranstaltungen streng bestraft wurden, bemühten sich die Häftlinge um besondere Geheimhaltung, indem Wachen aufgestellt und Alternativprogramme einstudiert wurden. Außerdem wählten die Gefangenen Orte wie die Pathologiebaracke oder den Krankenbau, zu denen auch die SS nur begrenzten Zugang hatte oder die aus Angst vor Ansteckung gemieden wurden.15 In den späteren Kriegsjahren nahm das künstlerische Leben zunehmend organisierte Formen an. Schon im Sommer 1941 war am Fuße des Lagers gegenüber des Häftlingskrankenbaus eine große Holzscheune aufgestellt worden, die zuvor von der SS außerhalb des Lagers als Turnhalle und Munitionslager genutzt worden war.16 Hier wurden den Gefangenen nun regelmäßig Heimatfilme und nationalsozialistische Propagandafilme gezeigt. Der Schriftsteller und ehemalige Buchenwaldhäftling Bruno Apitz (1900–1979) erinnert sich, dass vor den Filmen gelegentlich musiziert wurde: „Unsere Lagerkapelle spielte vor dem Film ein Musikstück. Da haben wir gar nicht erst gefragt.“17 Einen Wendepunkt des künstlerischen Lebens brachte der Sommer 1943, als die Gefangenen von der Lagerleitung die Erlaubnis erhielten, in der Scheune Konzerte veranstalten zu dürfen. Das erste Konzert in der Kinohalle fand am 1. August 1943 statt. Es folgten weitere Vorführungen im Rhythmus von 6–8 Wochen. Insgesamt sollen hier zwischen August 1943 und Frühjahr 1945 27 Konzerte stattgefunden haben.18 Auf diese Weise lösten die selbstorganisierten Veranstaltungen 15 Józef Pribula, Tylko raz w życiu [Nur einmal im Leben], Ostrava 1977, auszugsweise übers. aus dem Polnischen von Dr. Dieter Rudolf, Weimar (unveröffentlicht) 2010, S. 2 f, in: Handakten Kunstsammlung Buchenwald Slg. F, Bd. 4. 16 Bericht Gerhard Harig, zitiert in: Sonja Staar, „‚Großer Einfluss auf den Lebenswillen der Häftlinge‘ Kunsthistorikerin stellt Bezug zum Benefizkonzert ‚Ernst und heiter‘ her“, in: Thüringer Allgemeine, 28.11.2012, online: https://www.thueringer-allgemeine.de/leben/vermischtes/kunsthistorikerin-stelltbezug-zum-benefizkonzert-ernst-und-heiter-her-id218971031.html, letzter Zugriff: 04.07.2022. 17 Gespräche mit Bruno Apitz, in: Archiv der Akademie der Künste Berlin, AdK-Apitz, Bruno AVM 147, S. 19, zitiert nach: Andreas Lehmann, Musik in Buchenwald – Józef Kropińskis Kompositionen als Spiegel kultureller Aktivitäten im Lager, Hochschule für Musik Franz Liszt, 2014, (unveröffentlicht) S. 24. 18 Vgl.: Bruno Apitz, „Kunst im KL Buchenwald“, in: David A. Hackett, Der Buchenwaldreport, München 1996, S. 301–303, hier S. 301. Außerdem: Czesław Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg

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1943 allmählich die Filmvorführungen ab.19 Die Kinohalle blieb aber weiterhin eine „Stätte geteilter Heiterkeit“,20 denn die SS nutzte den Ort zur Sammlung von Transporten und der Durchführung von Strafen.21 Nach den ersten Erfolgen wurden die Konzerte in der Kinohalle im Winter 1943/44 neu konzipiert und programmatisch erweitert: Außer der Lagerkapelle traten nun weitere Ensembles aus verschiedenen Nationen auf und neben musikalischen Beiträgen wurden weitere künstlerische Darbietungen gezeigt, wobei die Programmpunkte eine ungewöhnliche Vielfalt aufwiesen. Es gab Rezitationen, Kabarett, Schauspiel, Tanz, Pantomime, Artistik und einen Clown. Die „Bunten Abende“ wurden unter ein politisch motiviertes Motto gestellt, wie die Titel der Konzertprogramme Kopf hoch (16. Konzert) und Ernst und heiter (18. Konzert) verdeutlichen.22 Themen des Lageralltags wurden in den im Lager entstandenen Szenen aufgegriffen und vermittelten Regeln des Zusammenlebens. Für diese umfassenden selbstbestimmten künstlerischen Tätigkeiten der Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald nach 1943 gibt es verschiedene Erklärungen. Mit den steigenden Häftlingszahlen wuchs der Bedarf von Häftlingen in Lagerfunktionen. Auf diese Weise gewannen die „Funktionshäftlinge“ an Einfluss23 und es taten sich neue Handlungsspielräume auf. Freizeitaktivitäten wurden möglicherweise auch geduldet, da man Unruhen unter den Gefangenen vermeiden wollte. In den späteren Kriegsjahren wurden die Gefangenen vermehrt in die Kriegsproduktion einbezogen. Verschiedene „Hafterleichterungen“ wie Filmvorführungen oder Konzerte wurden genehmigt, um die Arbeitskraft der Häftlinge zu schonen. Verschiedene politische Häftlinge betonen außerdem den Einfluss der im Lager bestehenden Widerstandsorganisation.24 1943 bildete sich ein Internationales Illegales Lagerkomitee (ILK), das sich unter anderem gezielt für die Entwicklung künstlerischer Aktivitäten einsetzte, etwa indem Künstler von Transporten zurückgehalten wurden. Die Stabilisierung in manchen Häftlingsgruppen durch das lange Bestehen des Lagers begünstigte zusätzlich das Entstehen von Musiziergemeinschaften. Ausgangspunkt für Vergemeinschaftungsprozesse waren ähnliche Hafterfahrungen wie die Unterbringung im selben Block oder die Arbeit in einem Kommando. Eine gemeinsame nationale und regionale Herkunft konnte ebenfalls kollektive künstlerische Tätigkeiten anregen, da auf ähnliche kulturelle Prägungen und eine gemeinsame Sprache zurückgegriffen werden konnte. Wei-

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[Schrecklicher Ettersberg], Łódź 1986, auszugsweise übers. aus dem Polnischen von Dr. Dieter Rudolf, Weimar (unveröffentlicht) 2010, S. 8, in: Handakten Kunstsammlung Buchenwald Slg. F, Bd. 11; Otto Halle, Bericht, Buchenwald-Archiv (im Folgenden BwA) 9–94–3, S. 2. S. auch das Filmprogramm in den Aufzeichnungen des Filmvorführers Edo Leitner, BwA 93–1. Rudi Jahn, Das war Buchenwald: Ein Tatsachenbericht, Niederstetten 1999, S. 11. Vgl.: Stein, Konzentrationslager Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 98. Einige Konzertprogramme sind in den Liederalben selbst überliefert. Das Programm zum 16. Konzert findet sich im Tymiński-Album, S. 80, das Programm zum 18. Konzert ist im Pribula-Album, S. 32 rechts, aufgezeichnet. Robert Leibbrand, Buchenwald. Ein Tatsachenbericht zur Geschichte der deutschen Widerstandsbewe­ gung, Stuttgart 1945, S. 46. Vgl.: Wolfgang Schneider, Kunst hinter Stacheldraht, Leipzig 1976, S. 72–76.

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tere Voraussetzungen für das Entstehen einer Gruppenidentität waren gleiche ideelle Vorstellungen und politische Gesinnungen. Nicht zuletzt förderten die künstlerischen Aktivitäten selbst die Vernetzung unter den Häftlingen. Die Liederalben sind eng verknüpft mit dem organisierten künstlerischen Leben der späteren Kriegsjahre und den Konzerten in der Kinohalle.25 Sie dokumentieren ein breites Netzwerk von Gefangenen, die künstlerisch und organisatorisch an den Aufführungen beteiligt waren. Die Ankunft eines Transportes vom 12. März 1943 Eine Gruppe polnischer Gefangener, die das künstlerische Leben in Buchenwald nach 1943 besonders prägte, traf mit einem Transport von 1.000 polnischen Auschwitz-Häftlingen am 12. März 1943 in Buchenwald ein.26 Zwischen den Gefangenen dieses Transportes und den Liederalben lassen sich weitere Zusammenhänge herstellen. Edmund Polak notierte in seiner Buchenwald-Chronik für den 12. März 1943: In das KL Buchenwald ist aus dem KL Auschwitz ein Transport von 998 Häftlingen angekommen. Dieser Transport bestand aus polnischen Fachkräften und angelernten Handwerkern. Sie erhielten die Nummer 10601–11596. Dieser Transport änderte die illegale Tätigkeit der Polen in Buchenwald.27

Anfänglich sollen die kommunistischen Buchenwaldgefangenen den ehemaligen Auschwitzhäftlingen Misstrauen entgegengebracht haben, da sie annahmen, es handle sich um polnische Nationalisten. Czesław Ostańkowicz, der selbst Teil des Transportes war, beschreibt diese Ressentiments: Uns, die Auschwitzer, umgab von den ersten Stunden an eine schlechte Aura. Man traute uns nicht. Das rührte von den unglaublichen, weit von der Wahrheit entfernten „Sensationen“ her, die von den „Grünen“ […], die mit uns zusammen gekommen waren, verbreitet wurden. Wir waren als „Nationalisten“ und „rechtsgerichtete Offizierskader“ hingestellt worden, deren Aufgabe es sei, die Häftlingsherrschaft in Buchenwald unter ihre Kontrolle zu bringen, sie den Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Splittergruppen der internationalen Linken abzuringen, die hier die Lagerverwaltung beherrschten und in vielen Stellen der Selbstverwaltung dominierten. Es waren jede Menge Geschichten über uns im Umlauf. […] Daraus war eine berechtigte, aber ungerechte Abneigung entstanden. […] Mein Transport bestand zu fast hundert Prozent aus politischen Häftlingen. Unter uns waren

25 Eine Darstellung dieser Zusammenhänge erfolgt in dem Dissertationsprojekt, s. Anm. 5. 26 Eine Zusammenstellung verschiedener Berichte zum Polentransport vom 12.03.1943 findet sich in der Masterarbeit von Andreas Lehmann, Musik in Buchenwald, (wie Anm. 17), S. 16 f. 27 Edmund Polak, Dziennik Buchenwaldzki [Tagebuch von Buchenwald], Warszawa 1983, auszugsweise übers. aus dem Polnischen von Krystyna Rudolf, in: BwA, o. S.

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ein halbes Hundert Funktionäre der Auschwitzer Widerstandsbewegung. Fast der komplette Stab, der das Pogrom in Birkenau überlebte.28

Wie die Aussage von Ostańkowicz zeigt, entschieden bereits bei der Ankunft im Lager politische Gesinnungen über Assimilations- bzw. Ausgrenzungsmechanismen. Doch schließlich gelang es den „Neuzugängen“ die Vorurteile zu widerlegen. Anlass für den Transport der 1.000 Häftlinge von Auschwitz nach Buchenwald waren laut Ostańkowicz Bestrebungen der SS, eine in Auschwitz-Birkenau bestehende Widerstandsorganisation zu zerschlagen, die u. a. an der Sprengung eines der dortigen Krematorien beteiligt gewesen war.29 Viele der politischen Aktivisten gelangten auf diese Weise nach Buchenwald. Doch die Gefangenen des Transportes waren nicht nur durch die gemeinsamen politischen, sondern auch künstlerische Tätigkeiten miteinander verbunden, die sie in Buchenwald fortsetzten. In verschiedenen Berichten Überlebender wird die besondere Bedeutung des März-Transportes für das künstlerische Leben der polnischen Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald betont. Die ehemaligen Buchenwaldhäftlinge Wacław Czarnecki und Zygmunt Zonik (1916–unbekannt) berichten: In der Zwischenzeit ereignete sich eine wichtige Begebenheit, die sich auf das gesamte Leben im Lager und auf die Kulturarbeit auswirkte. Im März 1943 kam der erste Transport von Polen aus Auschwitz an, unter dem sich eine große Gruppe verschiedener Künstler befand. Nach diesem Transport verstärkten ebenso andere die polnische kulturelle Gruppe von Künstlern und Darstellern.30

Auch Ostańkowicz betont, dass die Gefangenen dieses Transportes die künstlerischen Aktivitäten der polnischen Gruppe intensivierten: Wir stützten uns vor allem auf Kameraden vom Transport aus dem KL Auschwitz. Trotz der Bedrohung durch Bunker und Tod, trotz des uns bekannten Schicksals der Teilnehmer des Abends im Zugangsblock, haben die Sänger Witold Myszkowski, Nogajski, Andrzej Lisowski, Chomentowski aus Lódź (ein Bruder des bekannten Schauspielers), die Musiker Kazimierz Tymiński, Józef Kropiński und Czesław Grabowski, die Rezitatoren Kazimierz Wójtowicz, der Volks(schul)lehrer Stanisław Kisiel, der von einer Schauspielerkarriere träumende Student Leszek Kranc, der Tänzer Targalski und andere nicht abgelehnt. Trumpfass der Truppe wurde der Lagerpoet, der Autor satirischer Refrains und „Charakterdarsteller“, der bei jeder Arbeit unersetzbare Edmund Polak.31

28 Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18), S. 1. 29 Ebd., S. 2. 30 Wacław Czarnecki, Zygmunt Zonik, Walczący obóz Buchenwald [Das kämpfende Lager Buchenwald], Warszawa 1969, auszugsweise übers. aus dem Polnischen, Teil 1, S. 12, in: BwA, o. S. 31 Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18), S. 5.

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Interessant ist auch die Überlieferung zahlreicher Namen von Künstlern in den Berichten der polnischen Buchenwaldhäftlinge. Die genannten Personen finden sich teilweise in den Liederalben der polnischen Autoren wieder und sind Teil eines noch größeren internationalen Netzwerks. Dieses spezifische Netzwerk ist in besonderer Weise dazu geeignet, die oben erwähnten Faktoren zur Begünstigung von Vergemeinschaftungsprozessen zu veranschaulichen. Zusammenfassend handelte es sich bei den „Auschwitzern“ um Zugehörige einer Nationa­ lität, die bereits über gemeinsame Hafterfahrungen in einem anderen Lager verfügten. Laut Czarnecki und Zonik war „ein halbes Hundert“ von ihnen bereits in Auschwitz in einer Widerstandsorganisation aktiv gewesen und verfügte teilweise über gemeinsame künstlerische Erfahrungen. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Erlebnisse und Interessen konnten die Gefangenen des Transportes vom 12. März 1943 nach der Überwindung erster Assimilationsschwierigkeiten in Buchenwald an ihre politischen und künstlerischen Aktivitäten anknüpfen.

3. Künstlerische Netzwerke im Konzentrationslager Der Begriff des Netzwerks taucht in Untersuchungen zum Konzentrationslager bisher nur marginal auf, etwa in Stefan Hördlers Beschäftigung mit den Systemstrukturen der SS32 oder in einer Abschlussarbeit zu solidarischem Verhalten unter Gefangenen.33 Dabei könnte eine Netzwerkuntersuchung auf Seiten der Gefangenen Ausprägungen künstlerischer Tätigkeiten neu verorten. Erst im Zusammenspiel aller Formen der Handlungskoordination ergibt sich ein umfassendes Verständnis der Handlungsbedingungen – auch für den künstlerischen Bereich. Das Netzwerk wird hier im soziologischen Sinn als eine eigenständige Form der Handlungskoordination verstanden, bei der die gleichberechtigte Kooperation von verschiedenen autonomen Personen (Akteuren) im Mittelpunkt steht.34 Johannes Weyers Beschreibung des Netzwerks als „Modus der Handlungskoordination […], der sich besonders eignet, um in turbulenten Umwelten zu bestehen“35 deutet auf die besonderen Möglichkeiten von Netzwerken in Extremsituationen hin. Netzwerke verschaffen ihren Akteuren Vorteile und ermöglichen grenzüberschreitende Kooperationen, wie etwa die Kommunikation über nationale und politische Grenzen hinweg. Auf diese Weise können sie zur Überbrückung kultureller Barrieren beitragen und Vergemeinschaftungs- und Solidaritätsprozesse fördern. Im Konzentrationslager eröffnen sie Handlungsspielräume auch über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. 32 Vgl.: Stefan Hördler, Ordnung und Inferno: Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015, S. 20–23. 33 Vgl.: Mandy Schmeißer, „Jeder ist sich selbst der Nächste“  – Soziale Unterstützung in national­ sozialistischen Konzentrationslagern, BoD–Books on Demand, 2007. 34 Vgl.: Soziale Netzwerke, (wie Anm. 13), S. 48 u. 52. 35 Ebd., S. 4.

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Mit Hilfe der Netzwerkanalyse lassen sich sowohl allgemeine Strukturen als auch spezifische Interaktionen zwischen einzelnen Akteuren beschreiben, die sich in verschiedenartigen Verbindungen und Interdependenzen äußern.36 Die formale Untersuchung kann Auskunft über Art und Inhalt von Beziehungen geben, aber auch latente Strukturen menschlichen Handelns sichtbar machen, die nicht intentional konstruiert sind, sondern kontextgebunden entstehen.37 Beispielsweise lassen sich anhand der Einbettung einzelner Individuen in ein Netzwerk Schlüsse über deren Handlungsfähigkeit ziehen. Besonders deutlich wird dies im Konzentrationslager anhand der eingangs erwähnten „Initiativpersönlichkeiten“, die im künstlerischen Leben eine Schlüsselposition einnahmen. Die in den Netzwerken ablaufenden sozialen Prozesse zeigen somit Faktoren auf, welche die künstlerische Aktivität beeinflussen bzw. bedingen. Dabei sind im Lagerkontext Aspekte wie räumliche Nähe, geteilte Interessen sowie politische und ideologische Vorstellungen Ausgangspunkte für Netzwerkbildung.

Netzwerkdarstellung anhand von Personaldaten in Liederalben Die Beschäftigung mit den sich in den Liederalben abzeichnenden Netzwerken zielt darauf ab, Handlungsbedingungen selbstbestimmter künstlerischer Tätigkeit im Konzentrationslager Buchenwald näher zu bestimmen und eine weiterführende Beschäftigung mit diesem noch randständigen Ansatz anzuregen. Bei den Autoren handelt es sich um einen ausgewählten Kreis polnischer Gefangener, die sich selbst aktiv am organisierten künstlerischen Leben beteiligten und ihre Tätigkeiten dokumentierten. Die Netzwerkdarstellung stellt Zusammenhänge zwischen den Autoren und den Personen dar, die Eintragungen in den Alben hinterließen. Auf diese Weise werden Positionen einzelner Akteure im Netzwerk sichtbar. Aus der Beschränkung auf die Eintragungen in den Liederalben ergibt sich eine genau definierte Menge von Akteuren,38 die jedoch auch mit Auslassungen verbunden ist, denn die dokumentierten Personen können kein vollständiges Abbild des Netzwerks wiedergeben, in dem sich die Autoren bewegten, da die Quellen nur einen Teil der Kontakte zu Künstlern oder anderen Mitgefangenen abbilden. Diese Lücken könnten zumindest teilweise durch die flächendeckende Auswertung von Erinnerungsberichten geschlossen wer-

36 Markus Gamper weist darauf hin, dass im Gegensatz zu klassischen sozialwissenschaftlichen Verfahren zwar die relationalen Attribute in die Analyse einbezogen werden, die persönlichen Eigenschaften deswegen nicht ausgeklammert werden müssen, sondern sich beide Bereiche vielmehr wechselseitig bedingen. S. auch: Markus Gamper, „Netzwerkanalyse – eine methodische Annäherung“, in: Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten. Eine neue Perspektive für die Forschung, hrsg. v. Andreas Klärner, Markus Gamper, Sylvia Keim-Klärner, Irene Moor, Holger von der Lippe, Nico Vonneilich, 2019, Onlinequelle: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-21659-7_6, S. 109–133, letzter Zugriff: 05.01.2021. 37 Vgl.: Soziale Netzwerke, (wie Anm. 13), S. 71. 38 Vgl.: Mark Trappmann, Wolfgang Hummell, Strukturanalyse sozialer Netzwerke. Konzepte, Modelle, Methoden, Wiesbaden 22011, S. 15.

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den, wovon im Zuge der vorliegenden Untersuchung aufgrund des immensen Aufwandes jedoch abgesehen wurde. Grundlage des Netzwerkes bilden die Namen, die den verschiedenen Eintragsformen in den Liederalben entnommen werden konnten. Hierbei wurde teilweise auf Transkripte des Tymiński-Albums aus der Akademie der Künste39 zurückgegriffen. Ein Großteil der Namen wurde zudem durch Eigentranskription erschlossen.40 In manchen Fällen war die handschriftliche Eintragung schwer lesbar, sodass eine eindeutige Zuordnung nur anhand der eingetragenen Häftlingsnummer unter Zuhilfenahme der Häftlingsnummernkartei41 möglich war. Nicht in die Übersicht aufgenommen wurden achtzehn Namen aus dem Pribula-­Album, die wegen schlechter Lesbarkeit nicht identifiziert werden konnten, darun­ ter neun russische und zwei tschechische Gefangene. Leerstellen bleiben auch bei der Netzwerkdarstellung des Czarnecki-Albums aufgrund der unvollständigen Überlieferung.42 Die teils genaue Datierung von Eintragungen gibt Aufschluss darüber, dass der Großteil der unterzeichnenden Personen sich zur Zeit der Aufzeichnung im Stammlager Buchenwald befand. Es gibt jedoch auch einige Personen, die erst in späteren Haftstationen und nach der Befreiung in den Alben von Tymiński und Pribula unterzeichneten. Diese wurden der Vollständigkeit halber in der Darstellung berücksichtigt, wenn es sich um ehemalige Buchenwaldgefangene handelte.43 Insgesamt konnten 200 Personen namentlich zugeordnet werden. Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der eingetragenen Personen in den Liederalben, wobei Tymińskis Album mit 129 die meisten und Polaks Liedsammlung mit acht Personen die wenigsten Einträge verschiedener Gefangener enthält. Insgesamt dreißig Personen wurden aufgrund von Transkriptionsschwierigkeiten nicht in die Untersuchung aufgenommen.

39 Akademie der Künste Berlin, Archiv Sammlung KZ-Lieder, Signatur 87. 40 An dieser Stelle sei den zahlreichen Übersetzern und Übersetzerinnen gedankt, die bei der Zuord­ nung der Namen halfen. 41 Die Häftlingsnummernkartei befindet sich heute mit über 139.000 Karten zum Großteil im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar unter der Signatur NS 4 Bu und ist zudem im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald einsehbar. Weitere ca. 1.000 Originalkarten befinden sich in den Arolsen Archives. 42 Czarnecki notierte in seinem Album außerdem – vermutlich zu dokumentarischen Zwecken – die Namen von zwölf Funktionshäftlingen, darunter Lagerälteste, Kapos und Blockälteste. Da nicht geklärt ist, ob Czarnecki direkten Kontakt zu diesen Personen pflegte, wurden sie in die vorliegende Untersuchung nicht einbezogen. 43 Im Tymiński-Album finden sich auf den S. 201–202 Namenseintragungen aus seiner Zeit im DPCamp Bergen-Belsen, darunter auch die Namen von sechs weiblichen Häftlingen. Nach der Befreiung unterzeichneten bei einem Ehemaligentreffen am 14./15.09.1958 in Weimar zwanzig ehemalige Buchenwaldhäftlinge auf den S. 251–254. Drei Jahre später trug sich am 12.07.1961 ein weiterer Überlebender auf S. 159 des Tymiński-Albums ein. Auch im Pribula-Album findet sich eine Unterschrift vom 30.05.1945. Da es sich hier ausschließlich um Buchenwaldgefangene handelte, wurden diese Namen in die Untersuchung aufgenommen.

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Liederalbum

Czarnecki

Polak

Pribula

Tymiński

Wójtowicz

erwähnte Namen

34 (+12)

8

39 (+18)

129

16

Angesichts des Persönlichkeitsrechtes erfordert die Netzwerkdarstellung einen sensiblen Umgang mit den gewonnenen Daten. Aus diesem Grund wurden die Namen der Gefangenen in der Netzwerkdarstellung größtenteils anonymisiert. Eine Ausnahme bilden diejenigen, die in Autobiographien oder Erinnerungsberichten namentlich genannt werden und im künstlerischen Leben eine zentrale Rolle spielten. Eine derart vereinfachte Netzwerkdarstellung hat zugleich eine bessere Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zur Folge. Das Analyseverfahren beschränkt sich auf eine graphische Netzwerkdarstellung. Von einer Operationalisierung mittels Maßzahlen wurde aufgrund des begrenzten Datensatzes, der die Gerichtetheit der Beziehungen unberücksichtigt lässt, abgesehen. Die Netzwerkdarstellung erfolgt mit Hilfe des yEd Graph Editor 44 auf der Basis einer Soziomatrix. Dabei werden die Akteure als Knoten und die Beziehungen als Linien dargestellt. Die Kanten bilden ab, in welcher Liedsammlung eine Person auftaucht bzw. zu welchem Autor einer Sammlung ein Kontakt bestand. Entsprechend der üblichen Praxis schleifenfreier Graphen werden Rückbezüge der Autoren auf sich selbst nicht dargestellt.45 Die graphentheoretische Interpretation der sozialen Netzwerke wird durch die graphische Kennzeichnung einzelner Attribute wie künstlerischer Aktivität, Mitgliedschaft in einem Ensemble oder Teil des Transports vom 12. März 1943 erleichtert. Eine Legende ist den Abbildungen beigefügt. Anhand der graphischen Darstellung lassen sich die verschiedenen Ebenen Gesamtnetzwerk, Cluster und Akteur untersuchen, wobei Wechselwirkungen zwischen diesen nachzuvollziehen sind. Der Schwerpunkt liegt im Folgenden auf den Akteuren, die umfassende Beziehungen zu anderen Personen des Netzwerks pflegten und somit als zentral im künstlerischen Netzwerk charakterisierbar sind. Des Weiteren finden Cluster Beachtung, die sich aus der künstlerischen Tätigkeit in einem Ensemble ergeben.

Das künstlerische Netzwerk Das künstlerische Netzwerk wird ausgehend von den Autoren betrachtet, die in ihren Liedsammlungen sowohl das selbstbestimmte künstlerische Leben der Gefangenen als auch die Personen, die daran beteiligt waren, dokumentierten. Die Netzwerkdarstellung 1 veranschaulicht den direkten Kontakt der Autoren zueinander, wobei die gerichtete Darstellung zeigt, wer welche Eintragung vornahm. Im Zentrum der Darstellung steht Kazi44 Der Java-Diagrammzeichner yEd Graph Editor dient dazu, Diagramme und schematische Zeich­ nungen zu erstellen. Datengrundlage bildete eine binäre Soziomatrix, wobei ausgehende Kontakte in Zeilen und eingehende Kontakte in Spalten dargestellt wurden. Eine besondere Stärke des Pro­ gramms liegt in der automatischen Layoutgestaltung individueller Ausprägungen. An dieser Stelle sei Fabian Oeser für seinen technischen Support bei der Umsetzung dieses Projektes gedankt. 45 Mark Trappmann betont, dass in der Regel „bei der Analyse sozialer Beziehungsnetze nur sogenannte schleifenfreie Graphen.“ Anwendung finden, die Beziehung eines Akteurs zu sich selbst also keine Rolle spielt. S. hierzu: Trappmann, Hummel, Strukturanalyse sozialer Netzwerke, (wie Anm. 38), S. 18.

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mierz Tymiński, der die meisten Kontakte pflegte. Czarneckis vergleichsweise randständige Position ist auf die unvollständige Überlieferung der von ihm geführten Sammlung zurückzuführen.

Abb. 5: Netzwerkdarstellung 1: Autoren.

Ausgehend von den Autoren entfaltet sich ein breites Netzwerk, das zahlreiche Künstler aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen umfasst. Die Art der künstlerischen Betätigung lässt sich für viele Gefangene anhand der Aufzeichnungsform bestimmen. So verweisen beispielsweise Besetzungslisten auf die Mitwirkung in einem Ensemble, Liedeintragungen belegen kompositorische oder dichterische Tätigkeiten und Anmerkungen geben Auskunft über die Mitwirkung bei Aufführungen des eingetragenen Liedguts. Ergänzend wurden ausgewählte polnische Erinnerungsberichte hinzugezogen, um weitere künstlerische Aktivitäten der Gefangenen zu belegen.46 Insgesamt konnten für immerhin 81 von 200 Personen künstlerische Tätigkeiten im Konzentrationslager Buchenwald nachgewiesen werden, wobei es sich bei den Künstlern zumeist um Laien handelte. Es ergibt sich das Bild eines internationalen Netzwerkes, in dem künstlerisch aktive Personen mit besonderer Häufigkeit vertreten sind (s. Abb. 6: Netzwerkdarstellung 2).

46 Czarnecki, Zonik, Walczący obóz Buchenwald, (wie Anm. 30); Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18); Pribula, Tylko raz w życiu, (wie Anm. 15); Kazimierz Tymiński, To calm my dreams. Surviving Auschwitz, Sydney 2011.

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Abb. 6: Netzwerkdarstellung 2: Künstler und Ensembles.

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Bei den polnischen Künstlern in den Liederalben handelt es sich vermutlich um Mitglieder einer Künstlergruppe, die sich im Herbst 1943 unter Leitung von Zygmunt Zonik herausbildete: Bei Gesprächen zwischen Zonik und Zarzycki kristallisiert sich die Idee heraus, eine Künstlerwandergruppe zu bilden, die nacheinander in allen polnischen Blocks des Großen und Kleinen Lagers auftreten sollten. Die Idee erhielt den Zuspruch der PPR.47 So hat die unermüdliche Wanderung der polnischen Szene angefangen und sie spielten jeden Sonntag Nachmittag. Mit der Zeit ist die Gruppe der Künstler richtig groß geworden. In Stoßzeiten zählte sie etwa 100 Dichter und Darsteller.48

Das in den Liedsammlungen dokumentierte Personennetzwerk liest sich gleichsam wie ein „Who is Who“ der polnischen „Künstlerszene“ Buchenwalds der letzten Kriegsjahre. Doch auch Künstler anderer Nationalitäten werden erwähnt. Zu den Komponisten zählen neben Józef Kropiński unter anderem Stanisław Więckowski, Stanisław Nowacki und die Tschechen Zdeněk Hradec und Ondřej Volráb. Daneben finden sich Dichter wie Edmund Polak, Kazimierz Wójtowicz, Czesław Ostańkowicz, Edward Stankiewicz und Ryszard Stankowski. Letzterer war zudem als Rezitator bekannt, wie auch Stanisław Kisiel. Nicht nur die Sänger Władysław Nogajski und Witold Myszkowski tauchen mehrfach in polnischen Erinnerungsberichten auf, auch die herausragenden Violinisten Maurice Héwitt und László Nadelstecher haben die künstlerische Szene entscheidend geprägt. Unter den Dirigenten findet sich der tschechische Leiter der Lagerkapelle Vlastimil Louda. Mit Czesław Ostańkowicz, Zygmunt Zonik und Józef Pribula sind zudem Organisatoren der künstlerischen Szene vertreten, die ihre Tätigkeiten in autobiographischen Schriften dokumentierten.49 Neben den überwiegend polnischen Künstlern, sind auch deutsche Gefangene vertreten, wie der Schriftsteller und Bildhauer Bruno Apitz oder Otto Halle, der im Lager verschiedene Szenen schrieb. Und dann wären da noch die Tänzer Jerzy Chomen­towski und Władyslaw Targalski, Ballettmeister aus Lwów, die im Lager über einen großen Bekanntheitsgrad verfügten. Nicht zuletzt sei der Clown Jakow Goftman erwähnt, der in Buchenwald unter dem Pseudonym Jakov Nikiforov50 lebte und eine Artistengruppe leitete. Neben diesen häufig genannten Künstlern sind in den Liederalben die Namen zahlreicher weiterer Laienkünstler auszumachen, die mit Gesangsbeiträgen oder szenischen Darbietungen vor den Mitgefangenen auftraten. Anhand der Besetzungslisten in den Liederalben lassen sich verschiedene Künstler einzelnen Ensembles zuordnen und weitere Verbindungen zwischen den Akteuren des Netzwerkes herstellen. In der Netzwerkabbildung 2 sind die Ensemblemitglieder graphisch 47 Die Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei oder kurz PPR) wurde am 05.01.1942 im Warschauer Untergrund gegründet. Sie war die Nachfolgepartei der Komunistyczna Partia Robotnicza Polski (Kommunistische Arbeiterpartei Polens). 48 Czarnecki, Zonik, Walczący obóz Buchenwald, (wie Anm. 30), Teil 2, S. 9. 49 Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18); Czarnecki, Zonik, Walczący obóz Buchenwald, (wie Anm. 30). 50 Vgl.: Thomas Hofmann, Hanno Loewy u. Harry Stein, Pogromnacht und Holocaust: Frankfurt, Weimar, Buchenwald – die schwierige Erinnerung an Stationen der Vernichtung, Weimar 1994, S. 171.

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durch eine gestrichelte Linie (Streichquartett), gepunktete Linie („Siódemka“) sowie graue Hinterlegung (Lagerkapelle) gekennzeichnet. Tymiński, der selbst Mitglied der Lagerkapelle war, notierte in seinem Album die Besetzung des Klangkörpers. Sowohl bei Tymiński als auch bei Pribula finden sich außerdem Besetzungslisten für das polnische Ensemble „Siódemka“ – „Die Sieben“. Hierbei handelte es sich um ein Septett, bestehend aus vier Sängern und einer Instrumentalbegleitung durch Violine, Akkordeon und Schlagzeug. Zwischen den Besetzungslisten sind leichte Abweichungen festzustellen, was auf eine personelle Veränderung im ­Ensemble hindeutet. Schließlich finden sich in den Liederalben auch Hinweise auf die Mitglieder des sogenannten „französischen Streichquartetts“, das seinen Namen dem 1. Geiger des Ensembles, dem französischen Violinisten Maurice Héwitt verdankte, obgleich die weiteren Mitglieder des Quartetts polnischer Herkunft waren. Häufig wirkten Musiker in mehreren Ensembles mit, sodass es zu Überschneidungen in der Darstellung kommt. Die gleichzeitige Mitwirkung in der „Siódemka“ und dem Streichquartett ist durch eine Umrandung mit Punkten und Strichen gekennzeichnet.

Verbindungen Nachdem anhand der Erinnerungsberichte und der Inhalte der Liederalben zunächst künstlerische Aktivitäten für einen Großteil der Gefangenen nachgewiesen werden konnten, gilt es in einem zweiten Schritt, Aspekte zu visualisieren, die die künstlerische Aktivität im Lager begünstigten. Wenden wir uns zunächst dem Transport der 1.000 Polen zu, der am 12. März 1943 aus Auschwitz nach Buchenwald kam. Es liegt die Vermutung nahe, dass ein Großteil der polnischen Künstler im untersuchten Netzwerk diesem Transport angehörte. Um Übereinstimmungen zwischen dem in den Liederalben überlieferten Netzwerk und dem Transport zu bestimmen, wurde die Liste der 1.000 Gefangenen des Transportes mit den 200 identifizierten Personen abgeglichen.51 Mit 22 Gefangenen gehörten immerhin 11 Prozent des Netzwerkes dem Märztransport an, von ihnen waren nachweislich 16 Personen in Buchenwald künstlerisch aktiv. Die Zusammenhänge zwischen dem Transport und der künstlerischen Aktivität sowie der Anordnung und Clusterbildung sind in der Netzwerkdarstellung 3 visualisiert, welche die künstlerisch aktiven Personen und Angehörigen des Transportes graphisch hervorhebt.

51 Nachtrag zur Veränderungsmeldung vom 04.04.1943, Nr. 5281645#1, ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

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Abb. 7: Netzwerkdarstellung 3: Künstler und Transport vom 12. März 1943.

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Bisher wurde das Augenmerk vorwiegend auf den polnischen Kreis gelenkt, doch in den Liederalben der polnischen Autoren finden sich Eintragungen von Gefangenen aus 14 Nationen. Angesichts der polnischen Herkunft der fünf Autoren liegt es nahe, dass die polnischen Häftlinge die mit Abstand größte Gruppe in diesem Netzwerk bilden (83). Es folgen Franzosen (21), Tschechen (19), sowjetische Gefangene (15), Deutsche (12) sowie Norweger (6), Jugoslawen (5), Niederländer (3), Österreicher (2) und jeweils ein Ungar, Kroate, Grieche, Däne und Belgier. Mangels Nummernkartei konnte für 29 Häftlinge die Nationalität nicht abschließend geklärt werden, die meisten dieser Namen lassen jedoch eine polnische Herkunft vermuten. Selbstverständlich kann die Netzwerkdarstellung keine Auskunft über tatsächliche Zusammenhänge von nationaler Zugehörigkeit und künstlerischer Aktivität geben; sie vermittelt vielmehr das Bild einer polnischen Künstlerszene, die Kontakte zu anderen Nationa­litäten pflegte. In den Alben verweisen die Konzertprogramme der Kinohalle auf Beteiligte verschiedener nationaler Künstlergruppen. Auch im Rahmen inoffizieller Konzerte fand in den späteren Kriegsjahren ein reger Austausch zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen statt. Hierbei treten die polnischen, französischen, tschechischen, sowjetischen und deutschen Gefangenen besonders häufig in Erscheinung, wobei diese Verteilung in direktem Zusammenhang mit der nationalen Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft zu stehen scheint.52 Welche Ausmaße und individuelle Ausprägungen die künstlerischen Aktivitäten einzelner Nationen annahmen, ist bisher nicht vollständig geklärt. Die Netzwerk­darstellung belegt den regen Austausch der polnischen Häftlinge mit Gefangenen anderer Nationalitäten, was ein nationenübergreifendes Künstlernetzwerk erahnen lässt. Eine weitere Bedingung für kollektive künstlerische Aktivitäten, insbesondere die Durchführung konspirativer Veranstaltungen, zeigt sich in einer gemeinsamen politischen Gesinnung. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde davon abgesehen, den politischen Hintergrund aller 200 Personen zu recherchieren. Die Darstellung der Unterschriften, die in den meisten Fällen mit einem roten Winkel versehen sind, legt jedoch nahe, dass es sich bei einem großen Teil der Gefangenen um „politische Häftlinge“ handelte.53 Des Weiteren wäre zu untersuchen, wie viele Personen im Internationalen Illegalen Lagerkomitee aktiv waren. Für drei polnische Liedsammler ist eine solche Verbindung belegt: Józef Pribula war als Läufer der Pathologie in die Arbeit des ILK eingebunden, Wacław Czarnecki war in der Militärorganisation aktiv und Kazimierz Tymiński gehörte der Polnischen Arbeiterpartei PPR an. 52 S. hierzu die Tabelle zur Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft nach Harry Stein auf S. 261 (Anm. 14). 53 „Politische Häftlinge“ wurden im Lager mit einem roten Stoffdreieck gekennzeichnet und bildeten eine heterogene Häftlingsgruppe. Ausschlaggebend für die Einstufung war die Identifikation als „staats- oder volksfeindlich“. Es handelte sich jedoch nicht nur um politische Gegner des Nationalsozialismus, sondern auch um Denunzierte oder ehemalige NSDAP-Mitglieder, die wegen Parteivergehen eingeliefert wurden. Nach Kriegsbeginn wurden alle Nichtdeutschen als „Politische“ erfasst, vgl. dazu: Stein, Konzentrationslager Buchenwald, (wie Anm. 2), S. 64 f.

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Zahlreiche weitere Einflussfaktoren künstlerischer Aktivität ließen sich in ähnlicher Weise darstellen und untersuchen – genannt seien beispielsweise das Erlangen eines Funk­ tionspostens, die gemeinsame Unterbringung in einem Block oder die Arbeit in einem geschützten Kommando. Von Interesse könnte auch das Verhältnis von Berufsmusikern zu Laienmusikern sein. Zwar war im Lagerkontext eine künstlerische Ausbildung keine Voraussetzung für das Mitwirken in Konzerten, doch konnte sich ein professioneller musikalischer oder anderer künstlerischer Hintergrund durchaus positiv auf die Position innerhalb des Netzwerkes auswirken, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Positionen In dem untersuchten Netzwerk nehmen einige Personen eine zentrale Stellung ein. Strukturell bedingt stehen die Autoren der Liederalben im Mittelpunkt, denn ihre Sammlungen bilden das Ausgangsmaterial für die Netzwerkdarstellung. Interessanterweise verfügen manche der Autoren über eine vergleichsweise hohe Zahl an Verbindungen zu anderen Mitgliedern des Netzwerkes. Der Autor mit der größten Zentralität ist Kazimierz Tymiński, da er als einziger Gefangener in allen Liederalben erscheint. Dies ist möglicherweise auf die Vielfältigkeit seiner künstlerischen Tätigkeiten zurückzuführen. Im Konzentrationslager Buchenwald war er als Komponist, Dirigent und Musiker in der Lagerkapelle sowie in verschiedenen Ensembles tätig. Die Netzwerkdarstellung 2 legt nahe, dass vor allem die Mitwirkung in der Lagerkapelle Tymińskis zentrale Position begründet. Zudem beteiligte er sich an der Organisation von Veranstaltungen und der Akquise neuer Künstler für die polnische Szene. Auch die anderen Autoren der Liederalben waren künstlerisch aktiv, doch beschränkten ihre Tätigkeiten sich zumeist auf einen Schaffensbereich. Für drei von ihnen liegt dieser nicht im Musischen, sondern im Literarischen: Der Redakteur Kazimierz Wójtowicz verfasste Liedtexte, die im Lager große Verbreitung fanden; der Journalist Wacław Czarnecki trat durch schriftstellerische Tätigkeiten und Dichtkunst in Erscheinung und der Publizist und Lyriker Edmund Polak war aufgrund seiner besonderen Schaffensfreude als „Lagerpoet“ bekannt. Nur Józef Pribula war neben seinen Aktivitäten als Sänger zeitweise stärker in die Organisation von Veranstaltungen eingebunden.54 Neben den Autoren nehmen weitere Künstler durch Mehrfacheintragung in den Liederalben eine wichtige Stellung im Netzwerk ein. Hier sind insbesondere der Maler Karol Konieczny (1919–1981) und der Komponist Józef Kropiński zu nennen. Karol Konieczny arbeitete im Konzentrationslager Buchenwald an einer „Lagergeschichte in Bildern“, um die Hafterfahrung in Aquarellen und Zeichnungen zu dokumentieren. Es entstanden die Zyklen Herrenvolk (1944), Die Kunst in Buchenwald (1944) und O Buchen­ wald, ich kann dich nicht vergessen (1945).55 Um die Überlieferung dieser Bilddokumente 54 Vgl.: Pribula, Tylko raz w życiu, (wie Anm. 15). 55 Eine Kurzbiographie von Karol Konieczny findet sich in: Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch, hrsg. v. Holm Kirsten u. Wulf Kirsten, Göttingen 2002, S. 311. Auszüge aus den Zyklen sind u. a. abgedruckt ebd., S. 224 und in: Schneider, Kunst hinter Stacheldraht, (wie Anm. 24), S. 55 sowie

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zu sichern, fertigte Konieczny manche Abbildungen mehrfach an. Einige Illustrationen in den Künstlerischen Alben stellen Auszüge aus diesen Bildserien dar, was Koniecznys besondere Stellung im Netzwerk erklärt. Außerdem beteiligte er sich durch das Entwerfen von Bühnenbildern und Kostümen am organisierten Kulturleben.56 Auf die umfassenden kompositorischen Tätigkeiten Józef Kropińskis wurde eingangs bereits hingewiesen. Nachdem Kropiński am 12. März 1943 mit dem Transport aus Auschwitz gekommen war, wurde sein musikalisches Talent in Buchenwald schnell bekannt. Anfänglich schrieb er Stücke für kleine Besetzungen, bis er im Dezember 1943 in das Arbeitskommando „Pathologische Abteilung“ in Block 2 versetzt wurde. In der Abgeschiedenheit der Pathologieräume konnte Kropiński seine kompositorischen Tätigkeiten ausbauen. Hier entstand in einem abgetrennten Raum von ca. 2 × 3 m der Großteil seiner Liedkompositionen. Die letzten elf Monate in Buchenwald waren seine produktivsten. Kropiński schrieb für Gesang und Klavier, aber auch für andere Genres und Ensembles wie die Lagerkapelle, einen Chor, die „Siódemka“ und ein Streichquartett. Als ausgebildeter Musiker wirkte er zudem selbst in verschiedenen Ensembles mit, er spielte u. a. in der „Siódemka“ Violine und übernahm im „französischen“ Streichquartett die Violastimme. Außerdem dirigierte er ein inoffizielles Orchester und leitete einen polnischen Chor.57 Angesichts dieser umfassenden Tätigkeiten erklärt sich seine zentrale Stellung im künstlerischen Netzwerk in Buchenwald. Eine weitere Erklärung für die zentrale Position von Konieczny und Kropiński bietet eine Aussage von Czesław Ostańkowicz, derzufolge beide sich aktiv an der Dokumentation des künstlerischen Lebens beteiligten: Einige von uns nahmen sich vor, alles aufzuschreiben, was in Buchenwald entstand. Mir sind zwei Chronisten von Buchenwald bekannt, Polen, Kazik Tymiński und Józef Pribula sowie der Sammler von im Lager entstandenen Melodien Józef Kropiński. Ich habe ihnen nach Kräften beim Zusammentragen dieser Sammlungen geholfen. Ich schrieb die Texte dafür auf. Józef Kropiński – der Komponist des großartigen Lagerliedes Kopf hoch – suchte für beide Chroniken die Musiker heraus, und Karol Konieczny („der Maler von Buchenwald“), der selbst viele Werke illustrierte, die bildenden Künstler. Ich identifizierte die chiffrierten Autoren der Aufzeichnungen, die nach der Befreiung von Buchenwald ausgegraben wurden. Um diese Sammlungen haben wir jahrelang gezittert in der Furcht, dass sie in die Hände der SS fallen, dass sie verloren gehen könnten.58

In dem hier dargestellten Netzwerk nahmen demnach Personen eine zentrale Position ein, die sich nicht nur durch intensive künstlerische Aktivitäten hervortaten, sondern auch gezielt an der Dokumentation der künstlerischen Szene beteiligten. Eine weitere ÜbereinS. 186–189. Eine weitere Kurzbiographie ist nachzulesen unter https://www.buchenwald.de/829/, letzter Zugriff: 01.07.2022. 56 Vgl.: Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18), S. 7–8. 57 Vgl.: Pribula, Tylko raz w życiu, (wie Anm. 15) und Czarnecki, Zonik, Walczący obóz Buchenwald, (wie Anm. 30). 58 Ostańkowicz, Straszna góra Ettersberg, (wie Anm. 18), S. 10.

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stimmung betrifft die Zugehörigkeit zum Transport vom 12. März 1943. Inwieweit die politische Aktivität den Zugang zum Netzwerk begünstigte, konnte bisher nicht abschließend geklärt werden, doch liegt die Vermutung nahe, dass auch dieser Faktor eine entscheidende Rolle für die Partizipation an diesem Netzwerk spielte.

Ausblicke Anhand der vorliegenden Untersuchung wurde der Versuch unternommen, die Netzwerktheorie auf das Feld künstlerischer Betätigung im Konzentrationslager Buchenwald zu übertragen. Dabei wurden die Möglichkeiten der Methode keineswegs ausgeschöpft, vielmehr sollte eine weiterführende Beschäftigung mit diesem Forschungsbereich angeregt werden. Hierfür liegt in Bezug auf die polnische Künstlerszene Buchenwalds eine besonders günstige Quellenlage vor. Um weitere Erkenntnisse zu den Handlungsbedingungen künstlerischer Tätigkeiten im Konzentrationslager Buchenwald zu gewinnen, ist eine Erweiterung der Datenlage notwendig. Vor dem Hintergrund gemeinsamer Tätigkeiten in einem Ensemble könnten zusätzliche Verbindungen zwischen einzelnen Akteuren eines Netzwerkes ergänzt werden, da als gesichert gelten kann, dass alle Ensemblemitglieder einander bekannt waren. Die flächendeckende Lektüre von Berichten und Autobiographien könnte des Weiteren Auskunft über die Gegenseitigkeit von Kontakten geben und das Netzwerk verdichten. Auf diese Weise wäre es möglich, die Gerichtetheit der Beziehungen zu untersuchen. Eine zweite interessante Fragestellung betrifft die Mittlerposition einzelner Häftlinge. Auf einer derart verbesserten Datengrundlage könnte das Netzwerk aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Durch die Arbeit mit Maßzahlen wären genauere Ergebnisse zu erzielen. Bezogen auf das gesamte Netzwerk sind Aspekte wie die Heterogenität in Bezug auf verschiedene Eigenschaften von Interesse. Auch das Solidaritäts- und Koordinationspotenzial der Sozialstrukturen und die Netzwerkdichte als Hinweis auf die Aktivitäten des Netzwerks versprechen grundlegende Erkenntnisse über Handlungsbedingungen. Mittels Selektivität können die Grenzen des Netzwerks erfasst werden. Ein engerer Fokus auf Interorganisations-Netzwerke ermöglicht es, Clusterbildungen und Vermittlerpositionen im Netzwerk zu identifizieren. Die Untersuchung akteurbezogener Maßzahlen schließlich könnte über die reine Identifikation zentraler Personen hinaus Auskunft über soziales Kapital (degree); Zentralität, Informations- und Maklereigenschaften (outdegree); Prestige und Wertschätzung (indegree) sowie Effizienz, Erreichbarkeit und Nähe seiner Akteure geben. Auf diese Weise ließe sich das Verständnis der Funktionsweise und der Leistung künstlerischer Netzwerke im Konzentrationslager Buchenwald vertiefen. Auf der Spurensuche nach verfolgten Musikern im nationalsozialistischen Thüringen wurde ein besonders dichtes Künstlernetzwerk im Konzentrationslager Buchenwald untersucht, in dessen Zentrum fünf polnische Gefangene stehen, die das künstlerische Leben der späteren Kriegsjahre dokumentierten. Anhand der Netzwerkdarstellungen ließen sich Bedingungen künstlerischer Tätigkeiten nachvollziehen und einige zentrale Akteure im künstlerischen Leben Buchenwalds der Jahre 1943–45 benennen. Im Falle dieser künstlerisch besonders aktiven und gut vernetzten Personen findet der Begriff der „Initiativpersön-

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lichkeit“ seine Entsprechung. Wie anhand von Einzelbeispielen gezeigt wurde, handelt es sich hierbei um Personen, die im Lager eine verhältnismäßig sichere Position innehatten und über den notwendigen Zugang zu überlebenswichtigen und kulturellen Ressourcen verfügten. Auf der Grundlage geteilter Hafterfahrungen oder gleicher kultureller, nationaler und politischer Hintergründe konnten diese Gefangenen Kontakte zu anderen Häftlingen aufbauen. Im künstlerischen Netzwerk fungierten sie teilweise als Organisatoren und Multiplikatoren. Mit den Liederalben liegt demnach eine Quelle vor, die soziale Netzwerke sichtbar und Handlungsbedingungen selbstbestimmter künstlerischer Tätigkeit im Konzentrationslager Buchenwald verstehbar macht.

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Deutsch-jüdische Kulturgemeinschaft – Vergangenheit ohne Zukunft?

Lange Zeit schien es, daß die deutsch-jüdische Kulturgemeinschaft Mitteldeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten würde, zumal viele der Juden, die sie besonders geprägt hatten, emigriert oder umgebracht worden waren, so daß denjenigen unter den Deutschen, die sich dieser Kulturgemeinschaft entsannen, die Partner fehlten. Die Vergangenheitsbewältigung wiederum fokussierte sich auf den Holocaust, nicht aber auf die Jahrzehnte und Jahrhunderte vor dem „Dritten Reich“, in denen Juden und Deutsche zu einer Kulturgemeinschaft fanden, die zwar teilweise kompliziert, zugleich aber ungewöhnlich produktiv war. Hinsichtlich der Musik fehlte es in Mitteldeutschland nach den Zweiten Weltkrieg zudem lange Zeit an Initiativen zur wissenschaftlichen Aufbereitung dieser Kulturgemeinschaft, so daß es schien, daß die wichtigste Grundlage für eine Erneuerung – nämlich Musikalien – ungenutzt bleiben würde. Doch vereinzelte Impulse, welche der deutsch-jüdischen Kulturgemeinschaft durch wissenschaftliche Recherche eine erneute Zukunft eröffnen könnten, entstanden dann doch und ergeben mittlerweile erste Steinchen eines facettenreichen Mosaiks. Einen Auftakt wissenschaftlicher Aufbereitung in Thüringen bot die Dissertation „Der hebräische Kunstgeschmack“ – Lüge und Wahrhaftigkeit in der deutsch-jüdischen Musikkultur, welche von meiner Promovendin Melanie Kleinschmidt am Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Franz Liszt und der Friedrich-Schiller Universität Jena eingereicht und 2015 als Band 12 der von mir begründeten, betreuten und zusammen mit Kollegen herausgegebenen Schriftenreihe KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft veröffentlicht wurde. In Bielefeld und in Leipzig wurde bereits mehrfach die Oper Der Sturz des Antichrist (1934/35) von Viktor Ullmann (1898–1944) aufgeführt, in Bielefeld bereits 1995, in Leipzig 2019 und dann wieder 2021. Ullmann kam aus Schlesien und lebte dann in Wien, Prag, Stuttgart und dann auf der Flucht vor den Nationalsozialisten wieder in Prag. Als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, in welchem er es bis zum Leutnant brachte, sah er sich als selbstverständlichen Teil der deutsch-jüdischen Kulturgemeinschaft. Er stand in engem Kontakt zur Zweiten Wiener Schule. Über ein Thema aus Arnold Schönbergs Klavierstück op. 19, 4 komponierte er 1925 die Variationen und Doppelfuge. Unter Alexander v. Zemlinsky (1871–1942) war er Chordirektor und Korrepetitor am Neuen Deutschen Theater (1888–1938) in Prag. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht verlor er aber auch in Prag seine Berufsmöglichkeiten und kam in das Konzentrationslager Theresienstadt; dort entstanden weitere Kompositionen. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ull-

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manns Oper ging aus geistigen Strömungen – vor allem aus der Anthroposophie – hervor, in denen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg besonders in den Ländern, die den Krieg verloren hatten, neue Orientierungen gesucht wurden, und zwar fernab einer einseitig materiellen und politisch-ideologischen Auslegung des Lebens. Das Libretto von Albert Steffen, welches der Oper Der Sturz des Antichrist zugrunde liegt, ist über weite Strecken eine poetisch-philosophische Sprachhandlung, aus der die übrige Handlung hervorgeht. Ullmanns Musik entwickelt die Wagnersche Spätromantik zu einer freien Tonalität oder freien Atonalität weiter. Im September 2021 fand am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Leipzig ein Symposion zu dieser Oper statt. Der gemeinsamen Initiative der Politiker Christine Lieberknecht (CDU, 2009–2014 Ministerpräsidentin von Thüringen) und Bodo Ramelow (Die Linke) sowie des Präsidenten der bereits genannten Musikhochschule in Weimar Christoph Stölzl verdankte sich die Einrichtung einer Professur für die Geschichte der jüdischen Musik – der einzigen ihrer Art in Deutschland – am bereits genannten Institut für Musikwissenschaft in Weimar; diese Professur wurde in Kooperation mit dem Abraham-Geiger-Kolleg (Potsdam) 2013 mit dem Pianisten und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov besetzt, der bereits bis dahin und seither weiterhin als Pianist und Autor sowie Herausgeber mit zahlreichen Konzerten, CDs und Publikationen an die Öffentlichkeit trat und zudem die Überführung verschiedener Nachlässe von jüdischen Musikern bzw. Komponisten ins Hochschularchiv | ­THÜRINGISCHE LANDESMUSIKARCHIV an der Weimarer Musikhochschule veranlaßte. Im Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIV befinden sich zudem schon aus dem 19. Jahrhundert Partituren von Schauspielmusiken des dänischjüdischen Komponisten Eduard Lassen (1830–1904), darunter auch zwei zu Faust I und Faust II von Goethe. Lassen war von Liszt nach Weimar geholt worden und wurde dort 1858 Direktor der Hofmusik. Als Mitglied der Goethe-Gesellschaft wie auch der ShakespeareGesellschaft trug er im 19. Jahrhundert mit seinen Schauspielmusiken zur Verbreitung der Bühnenwerke beider Dichter in Deutschland bei. Bei diesen Schauspielmusiken handelt es sich um umfangreiche Werke, deren akribisch ausgearbeitete Partituren viele kompositorische Facetten des 19. Jahrhunderts zur Charakterisierung der Protagonisten und Wirkkräfte dieser Bühnenwerke in sich vereinen. Die Schauspielmusik zu Faust I wurde 2015/16 von den Thüringer Symphonikern Rudolstadt unter Oliver Weder und dem Kammerchor der Weimarer Musikhochschule – einstudiert von Jürgen Puschbeck – mehrfach aufgeführt und auch überregional ausgesprochen positiv aufgenommen. In den Hauptrollen spielten Steffen Mensching (Faust), Matthias Winde (Mephisto) und Lisa Klabunde (Gretchen). Detlef Altenburg und seine Absolventin Hannah Lütkenhöner begleiteten dieses Projekt seitens des Instituts für Musikwissenschaft in Weimar. Zudem gab es eine ebenso beeindruckende zeitgenössische Variante dieser Aufführung, und zwar mit Schauspielmusik von Alfred Schnittke und Hannes Pohlit. Im Jahr 2019 veranstalteten Maria Stolarzewicz – Mitarbeiterin von weim | art e. V. – und Helen Geyer – Professorin am Institut für Musikwissenschaft in Weimar – im Rahmen des Forschungsprojekts Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spuren­ suche die gleichnamige Ausstellung im Stadtmuseum in Weimar im Auftrag der Thüringer Staatskanzlei (Benjamin-Immanuel Hoff, Die Linke) und in Zusammenarbeit mit der

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Musikhochschule bzw. dem an ihr befindlichen Hochschularchiv | THÜRINGISCHEN LANDESMUSIKARCHIV. Begleitet wurde diese Ausstellung durch eine Tagung mit Vorträgen und Konzerten. Im Rahmen der Konzerte erklangen kaum bekannte Werke der Thüringer Komponisten Günter Raphael (1903–1960) und Gustav Lewin (1869–1938). Teile dieser Ausstellung wurden dann auch im Hörsaal des Instituts für Musikwissenschaft gezeigt. Später wurde die Ausstellung zudem in Eisenach und in Sondershausen präsentiert. Die Vorträge und Inhalte der Ausstellung wurden später unter dem Titel des Forschungsprojekts bzw. der Ausstellung als Band 16 der KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Daran an schloß sich im Jahr 2020 die wissenschaftliche Tagung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II, erneut konzipiert und organisiert von Maria Stolarzewicz, gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei und die Deutsche Bank Stiftung. In einem begleitenden Konzert boten Tehila Nini Goldstein (Gesang) und Jascha Nemtsov (Klavier und Moderation) Werke von Gustav Lewin, Joachim S­ tutschewski (1991–1982) und Hans Heller (1898–1969): Gustav Lewin Caprice für Klavier Drei Lieder Waldesstille – Waldesdunkel Kukuk Volksweise (der Kammersängerin Frau Jenny Fleischer-Alt in Verehrung) Joachim Stutschewsky Vier jüdische Tanzstücke für Klavier Semplice ma espressivo Vivo Allegro commodo Allegro assai Hans Heller Vom kleinen Alltag, Vier Lieder op. 8 Nichts ist so rührend wie die Habseligkeiten der Toten Man muss die Frauen der kleinen Beamten sehen Die armen Leute ziehen am Sonntag hinaus Die Arbeiter reißen die Straße auf Hans Heller Klaviersonate op. 3 Molto allegro Lento Presto

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Gustav Lewin Zwei Lieder Kraftlos Weckruf Dieses Konzert unterstrich nachdrücklich, welche Schätze an Musikalien zu heben und nun erneut oder gar zum ersten Mal zu präsentieren sind. Die Lieder von Lewin, der zusammen mit der Koloratursopranistin Jenny Fleischer-Alt (1863–1942) viele Jahre an der Weimarer Musikhochschule tätig war, stehen in einer spätromantischen Tradition, ebenso wie beispielsweise Werke von Max von Schillings oder Richard Wetz, und es gehört zu den signifikanten Merkmalen Mitteldeutschlands, daß Persönlichkeiten wie die beiden letztgenannten durch ihre Hinwendung zu rechtem Gedankengut zur Spaltung einer Musikkultur beitrugen, die ästhetisch in einer gemeinsamen Tradition wurzelte. Auch ­Stutschewskys Musik ging aus dieser Tradition hervor, öffnete sie gleichwohl zur Musikalischen Moderne hin, von der her er auch Elemente ostjüdischer Musikkultur einbezog. Vollends eine avancierte Musikalische Moderne entwickelte sich in Mitteldeutschland unter anderem mit Hellers Werken. Während die Lieder eine Verknüpfung zwischen musikalischer und gesellschaftlicher Modernität bieten – letztere durch die Abkehr des Textdichters Anton Wildgans von romantischen oder heroischen Sujets –, gewährt die Klaviersonate fulminante Modernisierungen einer reinen Instrumentalmusik. Beides – Tagung und Konzert – waren Teil des im Herbst 2020 eröffneten Themenjahrs 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen, welches eine beeindruckende Horizonterweiterung bot. Unter anderem machte die Eröffnung des Themenjahrs – beginnend mit westjiddischen Liedern aus der Zeit um 1400 – bekannt mit Musik aus verschiedenen Jahrhunderten, so auch mit dem musikalischen Wirken von Hermann Ehrlich in Berkach (Südthüringen), wie es von Elena Rauch beschrieben wird, und zwar anhand von Berichten Otto Neuberts, „der 2006 fast hundertjährig starb“ und der Gundela Bach, einer Ortsführerin in Berkach, davon erzählte, wie alltäglich das Zusammenleben der Berkacher gewesen war, nur dass die einen am Shabat ihre besten Kleider anzogen, die anderen am Sonntag; wie selbstverständlich sie einander Nachbarn waren, bis die Nazis an die Macht kamen. Mit solchen Gesprächen, mit der Lektüre von Chroniken und Archiveinträgen wuchs sie in das Thema. 30 Jahre ist das her, in der Gemeindeverwaltung sitzt sie nicht mehr, aber Besucher führt sie bis heute zu den jüdischen Stätten von Berkach. Die einen sind Schulklassen oder Menschen, die von diesem seltenen Ensemble [an jüdischen Stätten] gelesen haben, manche kommen von weit her. Ihnen erzählt sie dann von der Geschichte. Von einem gewissen Baron von Stein, der im 17. Jahrhundert Juden gegen die Zahlung von Schutzgeld nach Berkach holte, die mit Vieh, Wolle und Kurzwaren handelten. Von einer wachsenden Gemeinde, Anfang des 19. Jahrhunderts lebten 19 jüdische Familien in dem kleinen Ort. Von der jüdischen Schule und der Synagoge, die sie vor fast 170 Jahren bauten.

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Von Menschen wie Hermann Ehrlich, die ihre Spuren hinterließen. Mitte des 19. Jahrhunderts war er Kantor und Lehrer an der jüdischen Schule, begeisterter Anhänger moderner Pädagogik und außerdem Komponist. Er leitete den Dorfchor, zu dem Juden und Christen gehörten, mit dem evangelischen Pfarrer verband ihn eine enge Freundschaft. Ein jüdisch-christlicher Brückenschlag, den damals niemand so genannt hätte, der aus der Selbstverständlichkeit des Alltags entstand. Lothar Goldschmidt, einer der Berkacher Juden, hat bei seiner Emigration 1938 in die USA die Torarolle mitgenommen. Seine Familie hatte sie einst gestiftet, er wollte sie nicht den Nazis überlassen.1

Bei der Eröffnung des Themenjahrs erklangen auch Synagogal-Gesänge Ehrlichs, die mit Orgel oder Klavier aufgeführt werden können. Sie wurzeln in jüdischen Musiküberlieferungen, integriert in die abendländische Tonalität mit ihren Fortentwicklungen im 19. Jahrhundert. In derselben Eröffnung erklangen auch zwei Sätze der bereits erwähnten Klaviersonate (1927) von Heller, der in Thüringen geboren wurde und dort aufwuchs. Später studierte er unter anderem bei Franz Schreker in Berlin. Seiner Deportation im Nationalsozialismus entkam er durch Flucht. Die Klaviersonate, die von Jascha Nemtsov gespielt wurde, ist als frei-atonales Werk mit fugierenden Abschnitten im letzten Satz – worin man eine Bach-Rezeption vermuten kann – ein bedeutender Beitrag zur Musikalischen Moderne in Mitteldeutschland. Eine weitere Ausstellung – wieder im Stadtmuseum in Weimar und wieder kuratiert durch Maria Stolarzewicz – bot im Jahr 2021 weitere Dokumente und Artefakte zur wissenschaftlichen Tagung Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spuren­ suche II des Jahres 2020, deren Beiträge nun als weiterer Band der KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft vorliegen. Zur Ausstellungseröffnung 2021 fand erneut ein Konzert von Tehila Nini Goldstein (Gesang) und Jascha Nemtsov (Klavier und Moderation) statt, und zwar mit Werken von Raphael, Heller und Bernhard Sekles (1972–1934): Günter Raphael Drei geistliche Gesänge op. 31 Morgengebet Gebet Ein geistliches Lied Hans Heller Schlafen, schlafen für Gesang und Klavier Little Suite für Klavier Prelude Meditation Scherzino Elegie 1 Thüringer Allgemeine vom 01.10.2020.

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Like the song of a bird Molto vivace Les Aveugles für Gesang und Klavier (Uraufführung) Bernhard Sekles Fantasietten, 23 kleine Stücke für Klavier Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King Wasserstille Vergebliche Beschwörung Begegnung Alle diese Werke bieten weitere Facetten der Musikalischen Moderne in Mitteldeutschland. Raphaels Lieder wurzeln in einer spätromantischen Tradition, die allerdings in tonaler Hinsicht durch eine ungemein flexible Kleingliedrigkeit erweitert wird. Heller erkannte in dem Gedicht Schlafen, schlafen von Friedrich Hebbel offenbar ähnliche Potentiale wie Alban Berg, der dieses Gedicht ebenfalls vertonte, wie überhaupt ein Vergleich gerade dieser beiden Komponisten – etwa auch hinsichtlich ihrer Klaviersonaten, ihres Komponierens musikalischer Kürze oder ihres Orchesterstils – das Wissen von der Musikalischen Moderne insgesamt signifikant erweitern würde. Ebenso wie Hellers Little Suite wären die Fantasietten von Sekles in der 2008 erschienenen profunden Studie Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Simon Obert aufzunehmen gewesen, wenn man denn von ihnen gewußt hätte. Aufnahmen beider Konzerte von Tehila Nini Goldstein und Jascha Nemtsov sind dem vorliegenden Band Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II beigegeben. Natürlich stand auch über dem Konzert weiterhin der Schatten der jüngeren Vergangenheit; aber immer deutlicher trat zugleich anhand der aufgeführten Werke die deutschjüdische Kulturgemeinschaft in ihrer Produktivität vor dem Nationalsozialismus zutage. Zudem eröffnete dies im Falle der Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King von Sekles interkulturelle Dimensionen, indem nämlich die Texte dieser Lieder zurückgehen auf Friedrich Rückerts Nachdichtung altchinesischer Dichtung, die wiederum in lateinischen und französischen Ausgaben vorlagen. Als Kooperationspartner der zweiten Ausstellung kamen zusätzlich zu den Unterstützern der ersten Tagung im Jahre 2019 nun 2020 noch die Klassik Stiftung Weimar sowie die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora hinzu. Der Internationale Verein Kahla sowie der Demokratieladen ebendort brachten die zweite Ausstellung in das Stadtmuseum Kahla. Als weiterer Ausstellungsort wurde Trier ins Auge gefaßt. Am 23. September 2021 wurde im Dom zu Erfurt im Rahmen der Achava Festspiele Thüringen von Hans Heller das Requiem für den unbekannten Verfolgten uraufgeführt, welches nach seiner Rückkehr aus der Emigration in den 1960er Jahren in Berlin entstand. Als weitere Werke standen die Uraufführung der 2021 entstandenen Heller-Suite für Orgel von Sylvius von Kessel sowie Jeremiah (1942) – die 1. Symphonie von Leonard Bernstein – auf dem Programm. Mitwirkende waren Sylvius von Kessel (Orgel), Solenn’ Lavanant-Linke (Gesang) sowie das MDR-Sinfonieorchester und der MDR-Rundfunkchor unter der Leitung von Dennis Russell Davies.

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Die Aufbereitung eines jüdischen Erbes als Beitrag zur mitteldeutschen Kultur muß aber keineswegs nur der Vergangenheit gelten. So wurden im Zuge der von der Komponistin Sarah Nemtsov organisierten Konzerttour Orte – Mekomot in den Jahren 2015 und 2016 in ehemaligen Synagogen in Deutschland und Polen – so auch in der Synagoge in Erfurt – zeitgenössische Werke zusammen mit traditionellen jüdischen Gesängen aufgeführt. Wenn man daher auch Mitteldeutschlands Zukunft in einer reichen und vielfältigen Kultur sieht, die zahlreiche Interessierte aus aller Welt anzuziehen vermag, dann kann dies einhergehen mit heutigen Potentialen einer erneuerten deutsch-jüdischen Kulturgemeinschaft. Somit steht schon jetzt fest, daß – wer immer zukünftig der Thüringer Landesregierung sowie der Weimarer Musikhochschule präsidiert – in jedem Falle die Professur für die Geschichte der jüdischen Musik, ferner ihr korrespondierende Forschungsprojekte sowie die Achava Festspiele fortführen und unterstützen sollte.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Benz (Berlin), geb. 1941, Historiker, bis März 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Gastprofessuren u. a. in Australien, Bolivien, Nordirland, Österreich und Mexiko. Herausgeber und Mitherausgeber von Buchreihen und Zeitschriften, Mitglied des PEN. Zuletzt erschienen: Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen (Hrsg.), Berlin 2020; Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart, Freiburg 2020; Deutsche Herrschaft. Nationalsozialistische Herrschaft in Europa und die Fol­ gen (Hrsg.), Freiburg 2022. Dr. Albrecht Dümling (Berlin), geb. 1949 in Wuppertal, Musikwissenschaftler. Promotion über Arnold Schönbergs Liedzyklus op. 15. 1978–1998 Musikkritiker des Tagesspiegel, Kurator der weltweit gezeigten Ausstellung Entartete Musik. Eine kommentierte Rekonstruk­ tion. Seit 1990 Vorsitzender von „musica reanimata“, Förderverein für NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke. Buchpublikationen u. a. zu Arnold Schönberg, Bertolt Brecht, Urheberrecht, Musikerexil Australien, Artur Schnabel und Gideon Klein. Dr. Inna Klause (Hannover) promovierte an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover mit einer Arbeit über Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangs­ arbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre, für die sie mit dem Georg R. Schroubek-­ Dissertationspreis ausgezeichnet wurde. Sie organisierte drei internationale Tagungen. Ihre letzte Publikation ist: „Und alles mit Musikbegleitung“. Musikausübung im Gulag und in den nationalsozialistischen KZ im Vergleich, Wiesbaden 2021. Seit April 2022 hat sie eine Vertretungsprofessur für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover inne. Dr.-Ing. Carsten Liesenberg (Bonn und Erfurt), geb. 1968, Stadtplaner und Denkmalpfleger, bisher freiberuflich, an Hochschulen und in Behörden in Brandenburg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen tätig, seit 2013 am Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie. Langjährige Forschungen zu Synagogen, jüdischen und israelischen Architekten, zum Bauwesen in Preußen im 18. Jahrhundert bis zum Siedlungsbau im 20. Jahrhundert, darunter in Polen. Mitglied der Heinrich-­ Tessenow-Gesellschaft (Hamburg). Prof. Dr. Jascha Nemtsov (Weimar-Jena/Potsdam), Pianist und Musikwissenschaftler, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und Akademischer Direktor der Kantorenausbildung des Abraham-Geiger-­Kollegs

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an der Universität Potsdam. Zahlreiche Publikationen zu jüdischer Musik und jüdischen Komponisten im 19. und 20. Jahrhundert sowie Themen wie „Nationalismus und Musik“, „Religion und Musik“ oder „Totalitarismus und Musik“. Weltweite Konzerttätigkeit und mehr als 40 CDs, darunter zahlreiche Ersteinspielungen von Werken jüdischer Komponisten. Christine Oeser (M. A.) (Osnabrück) studierte Musikwissenschaften und Humanities an der Technischen Universität Dresden und schloss ihren Master an der Universität Osnabrück mit Auszeichnung ab. Während ihres Studiums spezialisierte sie sich auf Musik im Konzentrationslager. Für ihre Masterarbeit über ein Künstlerisches Album aus dem Konzentrationslager Buchenwald erhielt sie den Hans-Mühlenhoff-Förderpreis für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der Musikwissenschaft 2013. Zwischenzeitlich arbeitete sie vier Jahre im Orchestermanagement und begleitete dramaturgisch und wissenschaftlich verschiedene Konzert- und Theaterprojekte. Aktuell promoviert sie über Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto (Weimar-Jena/São Paulo), 1990 Promotion an der Freien Universität Berlin in Musikwissenschaft und Kulturanthropologie. 2001–2006 hatte er eine Professur am Institut für Sozial-Anthropologie der Universidade de São Paulo (USP) inne, wo er weiterhin der Postgraduierten Kommission dieser Universität angehört. 2006– 2008 lehrte er an der Universität Hamburg. Zahlreiche Feldforschungen in verschiedene Regionen der Welt sind in den Publikationen von Prof. Pinto dokumentiert. Seit den 1990er Jahren wirkt er auch als Kurator von Kultur- und Kunstausstellungen und hat zahlreiche Musikproduktionen und Klanginstallationen konzipiert. Seit 2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Transcultural Music Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, seit 2016 Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Transkulturelle Musikforschung an der gleichen Institution und seit 2017 Direktor des Institutes für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Dr. Bernhard Post (Weimar), geb. 1953 in Mainz; 1975–1980 Studium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Geschichte, Germanistik, Pädagogik – 1. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien); 1981–1984 Promotionsstudium (Diss.: Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774–1813); 1984–1987 Referendariat Landeshauptarchiv Koblenz/21. Wissenschaftlicher Kurs der Archivschule Marburg (2. Staatsexamen für den höheren Archivdienst); 1987–1993 Referent am Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden; 1993 Leiter der Abteilung für neuere Bestände am Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar; 2008 Leiter des Archivs; 2016–2019 Leiter des neugegründeten Landesarchivs Thüringen. Dr. Carolin Schäfer (Sondershausen), geb. 1987 in Sondershausen, studierte von 2006 bis 2013 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Geschichte und Medien- und Kommunikationswissenschaften. Es folgte die Promotion zum Thema Authority in Ordnung und Aufruhr. Der Autoritätsdiskurs während der Englischen Revolution und des Interregnums, die sie 2021 abschloss. Promotionsbegleitend war sie an den Franckeschen Stiftungen zu

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Halle und dem Panoramamuseum Bad Frankenhausen tätig. Im Februar 2020 übernahm sie die Leitung des Schlossmuseums Sondershausen. Dr. Maria Stolarzewicz (Weimar) studierte an der Universität Warschau, der Humboldt Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin Musikwissenschaft und Germanistik. Sie promovierte über das Operntheater Christoph Martin Wielands (Karol Sauerland, Helen Geyer). Zu ihren wissenschaftlichen Interessen gehören die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, polnisch-deutsche Kulturkontakte und die Geschichte des Holocaust. 2017–2021 kuratierte sie drei Ausstellungen über Nationalsozialismus und Musik, konzipierte und organisierte zwei wissenschaftliche Tagungen und war als Herausgeberin tätig. Im Moment arbeitet sie als ifa-Kulturmanagerin im Dokumenations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen. Prof. Dr. Albrecht v. Massow (Weimar-Jena), geb. 1960, Musikwissenschaftler, Promotion über Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs „Lulu“, Habilitation über Musikalisches Subjekt – Idee und Erscheinung in der Moderne, lehrt am Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Forschungsschwerpunkte: Musik des 18.–21. Jahrhunderts, Eurasischer Kulturraum, Musikterminologie, Musikphilosophie, Ästhetik und Analyse; Gründer und Mitherausgeber der Schriftenreihe KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Präsident der Deutschen Liszt-Gesellschaft; neuere Publikation: Die unterschätzte Kunst – Musik seit der Ersten Aufklärung (2019). Prof. Dr. Jens-Christian Wagner (Weimar), geb. 1966, leitet seit 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Nach dem Studium der Geschichte und der Romanischen Philologie und der Promotion an der Universität Göttingen war er von 2001 bis 2014 Leiter der KZ-Gedenkstätte MittelbauDora und von 2014 bis 2020 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Ausstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus und ihren Folgen nach 1945.

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Helen Geyer | Maria Stolarzewicz (Hg.) Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen Eine Spurensuche 2020. 347 Seiten, mit 129 s/w-Abb., Paperback € 50,00 D | € 52,00 A ISBN 978-3-412-51753-3 Auch als eBook erhältlich! KlangZeiten, Band 16

Die Spurensuche widmet sich Künstlern, die als Musikerinnen und Musiker, seien sie Mitglieder Thüringer Musikinstitutionen oder freischaffende Tonkünstler, die deutsche Musikkultur zum Teil über Jahrzehnte mitgestalteten. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden sie als Juden stigmatisiert und erlitten zum Teil tragische Schicksale, nicht wenige von ihnen wurden verfolgt oder ermordet. Namhafte Wissenschaftlerinnen und Forscher aus ganz Deutschland beleuchten neben Einzelschicksalen die NS-Kulturpolitik, die Auswanderung und Remigration, die Musik in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern sowie die künstlerische Verarbeitung der Holocausterfahrung. Darüber hinaus treten die Lebensläufe konkreter Menschen in den Fokus: die Schicksale von jüdischen Musikerinnen und Musikern während der nationalsozialistischen Diktatur in Thüringen werden erstmals umfassend darstellt und somit dem Vergessen entrissen. Damit ermöglicht der Band zum ersten Mal einen umfassenden Überblick über die Akteure und historische Umstände der Verfolgung der jüdischen Musikschaffenden in sogenannten »Mustergau Thüringen« während der NS-Zeit.